URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Dezember 2014 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 98/44/EG — Art. 6 Abs. 2 Buchst. c — Rechtlicher Schutz biotechnologischer Erfindungen — Parthenogenetische Aktivierung von Oozyten — Bildung von menschlichen embryonalen Stammzellen — Patentierbarkeit — Ausschluss der ‚Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken‘ — Begriffe ‚menschlicher Embryo‘ und ‚Organismus, der geeignet ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen‘“

In der Rechtssache C‑364/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 17. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2013, in dem Verfahren

International Stem Cell Corporation

gegen

Comptroller General of Patents, Designs and Trade Marks

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und C. Vajda, der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet und J. Malenovský, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), D. Šváby und F. Biltgen,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. April 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der International Stem Cell Corporation, vertreten durch P. Acland, QC, und A. Cooke, Solicitor,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brighouse als Bevollmächtigte im Beistand von T. Mitcheson, Barrister,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und R. Solnado Cruz als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, L. Swedenborg und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. W. Bulst, J. Samnadda und T. van Rijn als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. L 213, S. 13).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der International Stem Cell Corporation (im Folgenden: ISCO) und dem Comptroller General of Patents, Designs and Trade Marks (im Folgenden: Comptroller) wegen der Zurückweisung der Anmeldung nationaler Patente mit der Begründung, dass die mit der parthenogenetischen Aktivierung von Oozyten zusammenhängenden Anmeldungen die Verwendung von „menschlichen Embryonen“ im Sinne der Richtlinie 98/44 beträfen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1 bis 3, 16, 37 bis 39, 42 und 43 der Richtlinie 98/44 lauten:

„(1)

Biotechnologie und Gentechnik spielen in den verschiedenen Industriezweigen eine immer wichtigere Rolle, und dem Schutz biotechnologischer Erfindungen kommt grundlegende Bedeutung für die industrielle Entwicklung der Gemeinschaft zu.

(2)

Die erforderlichen Investitionen zur Forschung und Entwicklung sind insbesondere im Bereich der Gentechnik hoch und risikoreich und können nur bei angemessenem Rechtsschutz rentabel sein.

(3)

Ein wirksamer und harmonisierter Schutz in allen Mitgliedstaaten ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie fortgeführt und gefördert werden.

(16)

Das Patentrecht muss unter Wahrung der Grundprinzipien ausgeübt werden, die die Würde und die Unversehrtheit des Menschen gewährleisten. Es ist wichtig, den Grundsatz zu bekräftigen, wonach der menschliche Körper in allen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung, einschließlich der Keimzellen, sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile oder seiner Produkte, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines menschlichen Gens, nicht patentierbar sind. Diese Prinzipien stehen im Einklang mit den im Patentrecht vorgesehenen Patentierbarkeitskriterien, wonach eine bloße Entdeckung nicht Gegenstand eines Patents sein kann.

(37)

Der Grundsatz, wonach Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, von der Patentierbarkeit auszuschließen sind, ist auch in dieser Richtlinie hervorzuheben.

(38)

Ferner ist es wichtig, in die Vorschriften der vorliegenden Richtlinie eine informatorische Aufzählung der von der Patentierbarkeit ausgenommenen Erfindungen aufzunehmen, um so den nationalen Gerichten und Patentämtern allgemeine Leitlinien für die Auslegung der Bezugnahme auf die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten zu geben. Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht erschöpfend. Verfahren, deren Anwendung gegen die Menschenwürde verstößt, wie etwa Verfahren zur Herstellung von hybriden Lebewesen, die aus Keimzellen oder totipotenten Zellen von Mensch und Tier entstehen, sind natürlich ebenfalls von der Patentierbarkeit auszunehmen.

(39)

Die öffentliche Ordnung und die guten Sitten entsprechen insbesondere den in den Mitgliedstaaten anerkannten ethischen oder moralischen Grundsätzen, deren Beachtung ganz besonders auf dem Gebiet der Biotechnologie wegen der potenziellen Tragweite der Erfindungen in diesem Bereich und deren inhärenter Beziehung zur lebenden Materie geboten ist. Diese ethischen oder moralischen Grundsätze ergänzen die übliche patentrechtliche Prüfung, unabhängig vom technischen Gebiet der Erfindung.

(42)

Ferner ist auch die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken von der Patentierbarkeit auszuschließen. Dies gilt jedoch auf keinen Fall für Erfindungen, die therapeutische oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewandt werden.

(43)

Nach Artikel F Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. …“

4

Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten schützen biotechnologische Erfindungen durch das nationale Patentrecht. Sie passen ihr nationales Patentrecht erforderlichenfalls an, um den Bestimmungen dieser Richtlinie Rechnung zu tragen.

(2)   Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus internationalen Übereinkommen, insbesondere aus dem TRIPS-Übereinkommen [über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums] und dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt, werden von dieser Richtlinie nicht berührt.“

5

Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Im Sinne dieser Richtlinie können Erfindungen, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind, auch dann patentiert werden, wenn sie ein Erzeugnis, das aus biologischem Material besteht oder dieses enthält, oder ein Verfahren, mit dem biologisches Material hergestellt, bearbeitet oder verwendet wird, zum Gegenstand haben.

(2)   Biologisches Material, das mit Hilfe eines technischen Verfahrens aus seiner natürlichen Umgebung isoliert oder hergestellt wird, kann auch dann Gegenstand einer Erfindung sein, wenn es in der Natur schon vorhanden war.“

6

Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, können keine patentierbaren Erfindungen darstellen.

(2)   Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers oder ein auf andere Weise durch ein technisches Verfahren gewonnener Bestandteil, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, kann eine patentierbare Erfindung sein, selbst wenn der Aufbau dieses Bestandteils mit dem Aufbau eines natürlichen Bestandteils identisch ist.“

7

In Art. 6 der Richtlinie 98/44 heißt es:

„(1)   Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, sind von der Patentierbarkeit ausgenommen[;] dieser Verstoß kann nicht allein daraus hergeleitet werden, dass die Verwertung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften verboten ist.

(2)   Im Sinne von Absatz 1 gelten unter anderem als nicht patentierbar:

c)

die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken;

…“

Recht des Vereinigten Königreichs

8

In Paragraph 3(d) von Schedule A2 des Patents Act 1977 (Patentgesetz des Vereinigten Königreichs von 1977), mit dem Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 umgesetzt wird, heißt es:

„Nicht patentierbare Erfindungen sind

d)

die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass ISCO beim United Kingdom Intellectual Property Office (Amt für geistiges Eigentum des Vereinigten Königreichs) zwei Anmeldungen nationaler Patente (im Folgenden: Anmeldungen) eingereicht hat.

10

Es handelt sich um folgende Anmeldungen:

Die Anmeldung GB0621068.6 mit der Überschrift „Parthenogenetische Aktivierung von Oozyten zur Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellen“ beansprucht Methoden zur Herstellung von Linien pluripotenter menschlicher Stammzellen aus parthenogenetisch aktivierten Oozyten und Stammzelllinien, die nach den beanspruchten Methoden hergestellt werden.

Die Anmeldung GB0621069.4 mit der Überschrift „Synthetische Kornea aus retinalen Stammzellen“ beansprucht Methoden zur Herstellung von synthetischer Hornhaut oder synthetischem Hornhautgewebe unter Isolierung pluripotenter Stammzellen aus parthenogenetisch aktivierten Oozyten sowie Product-by-Process-Ansprüche bezüglich unter Verwendung dieser Methoden hergestellter synthetischer Hornhaut oder synthetischen Hornhautgewebes.

11

Mit Entscheidung vom 16. August 2012 wies der Hearing Officer (Anhörungsbeauftragte) des United Kingdom Intellectual Property Office im Namen des Comptroller die genannten Anmeldungen zurück.

12

Der Hearing Officer war insoweit der Ansicht, dass die in den Anmeldungen beschriebenen Erfindungen unbefruchtete menschliche Eizellen beträfen, die parthenogenetisch zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden seien, und dass diese Eizellen im Sinne von Rn. 36 des Urteils Brüstle (C‑34/10, EU:C:2011:669) „geeignet [sind], wie der durch Befruchtung einer Eizelle entstandene Embryo den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“.

13

Da diese Erfindungen eine „Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“ im Sinne des zur Umsetzung von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 dienenden Paragraph 3(d) von Schedule A2 des Patents Act 1977 darstellten, seien sie von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.

14

ISCO hat gegen diese Entscheidung des Hearing Officer Klage beim High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court), erhoben.

15

Im Rahmen dieser Klage hat ISCO geltend gemacht, im Urteil Brüstle (EU:C:2011:669) habe der Gerichtshof lediglich Organismen, die geeignet seien, den zur Entstehung eines Menschen führenden Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, von der Patentierbarkeit ausschließen wollen. Die den Gegenstand der Anmeldungen bildenden Organismen könnten jedoch keinen solchen Entwicklungsprozess durchlaufen. Folglich müssten sie auf der Grundlage der Richtlinie 98/44 patentierbar sein.

16

Der Comptroller führt aus, entscheidend sei, was der Gerichtshof im Urteil Brüstle (EU:C:2011:669) unter dem Begriff „Organismus, der geeignet ist, wie der durch Befruchtung einer Eizelle entstandene Embryo den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“ verstanden habe. Möglicherweise hätten die in dieser Rechtssache beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen den wissenschaftlichen und technischen Hintergrund der Parthenogenese ungenau dargestellt.

17

Das vorlegende Gericht führt aus, die Parthenogenese bestehe aus der durch einen Komplex chemischer und elektrischer Techniken eingeleiteten Aktivierung einer Oozyte ohne Spermien. Diese Oozyte, die als „Parthenote“ bezeichnet werde, könne sich teilen und weiterentwickeln. Nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten sich Säugetier-Parthenoten jedoch nicht vollständig entwickeln, weil sie im Gegensatz zu einer befruchteten Eizelle keine väterliche DNA enthielten, die für die Entwicklung von extraembryonalem Gewebe erforderlich sei. Für menschliche Parthenoten sei lediglich eine Entwicklung bis zum Blastozystenstadium über einen Zeitraum von etwa fünf Tagen nachgewiesen.

18

ISCO habe vor dem Hearing Officer ihre Anmeldungen geändert, um die Möglichkeit des Einsatzes von Methoden auszuschließen, die durch zusätzliche genetische Eingriffe dem Umstand abzuhelfen versuchten, dass sich eine Parthenote nicht zu einem Menschen entwickeln könne.

19

Der Ausschluss der Parthenoten von der Patentierbarkeit stelle keineswegs einen Ausgleich zwischen der mit Hilfe des Patentrechts zu fördernden biotechnologischen Forschung auf der einen und der Wahrung der die Würde und die Unversehrtheit des Menschen gewährleistenden und insbesondere in den Erwägungsgründen 2 und 16 der Richtlinie 98/44 als Ziele genannten Grundprinzipien auf der anderen Seite sicher.

20

Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind unbefruchtete menschliche Eizellen, die im Wege der Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden sind und die im Unterschied zu befruchteten Eizellen lediglich pluripotente Zellen enthalten und nicht fähig sind, sich zu einem Menschen zu entwickeln, vom Begriff „menschliche Embryonen“ in Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 umfasst?

Zur Vorlagefrage

21

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 dahin auszulegen ist, dass eine unbefruchtete menschliche Eizelle, die im Wege der Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung bis zu einem bestimmten Stadium angeregt worden ist, ein „menschlicher Embryo“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

22

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 98/44 nicht die Verwendung menschlicher Embryonen im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen regeln soll. Ihr Gegenstand beschränkt sich auf die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen (vgl. Urteil Brüstle, EU:C:2011:669, Rn. 40).

23

Im Übrigen ist der Ausdruck „menschlicher Embryo“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen, der im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist (vgl. Urteil Brüstle, EU:C:2011:669, Rn. 26).

24

Zu dieser Auslegung hat der Gerichtshof in Rn. 34 des Urteils Brüstle (EU:C:2011:669) ausgeführt, dass der Unionsgesetzgeber, wie sich aus dem Zusammenhang und dem Ziel der Richtlinie 98/44 ergibt, jede Möglichkeit der Patentierung ausschließen wollte, sobald dadurch die der Menschenwürde geschuldete Achtung beeinträchtigt werden könnte, und dass der Begriff des menschlichen Embryos im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie infolgedessen weit auszulegen ist.

25

Insofern ist nach den Feststellungen des Gerichtshofs in Rn. 35 dieses Urteils jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an als „menschlicher Embryo“ im Sinne und für die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie anzusehen, da die Befruchtung geeignet ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen.

26

In Rn. 36 des Urteils hat der Gerichtshof hinzugefügt, dass das Gleiche für die unbefruchtete menschliche Eizelle gilt, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist oder die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist. Selbst wenn diese Organismen, genau genommen, nicht befruchtet worden sind, sind sie, wie aus den beim Gerichtshof in der dem Urteil Brüstle (EU:C:2011:669) zugrunde liegenden Rechtssache eingereichten schriftlichen Erklärungen hervorgeht, infolge der zu ihrer Gewinnung verwendeten Technik geeignet, wie der durch Befruchtung einer Eizelle entstandene Embryo den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen.

27

Somit geht aus dem Urteil Brüstle (EU:C:2011:669) hervor, dass eine unbefruchtete menschliche Eizelle als „menschlicher Embryo“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 einzustufen ist, sofern dieser Organismus „geeignet ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“.

28

Wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge in der vorliegenden Rechtssache im Wesentlichen ausgeführt hat, ist diese Wendung so zu verstehen, dass eine unbefruchtete menschliche Eizelle, um als „menschlicher Embryo“ eingestuft werden zu können, zwingend die inhärente Fähigkeit haben muss, sich zu einem Menschen zu entwickeln.

29

Erfüllt eine unbefruchtete menschliche Eizelle diese Voraussetzung nicht, genügt es folglich nicht, dass dieser Organismus einen Entwicklungsprozess beginnt, um ihn als „menschlichen Embryo“ im Sinne und für die Anwendung der Richtlinie 98/44 betrachten zu können.

30

Hätte eine solche Eizelle hingegen die inhärente Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln, müsste sie im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 in jedem Stadium ihrer Entwicklung ebenso behandelt werden wie eine befruchtete menschliche Eizelle.

31

In der dem Urteil Brüstle (EU:C:2011:669) zugrunde liegenden Rechtssache ging aus den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen hervor, dass eine durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregte unbefruchtete menschliche Eizelle die Fähigkeit hat, sich zu einem Menschen zu entwickeln.

32

Infolgedessen kam der Gerichtshof auf der Grundlage dieser Erklärungen im genannten Urteil zu dem Ergebnis, dass für die Definition des Begriffs „menschlicher Embryo“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 eine durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregte unbefruchtete menschliche Eizelle einer befruchteten Eizelle gleichzustellen und folglich als „Embryo“ einzustufen ist.

33

In der hier in Rede stehenden Rechtssache hat das vorlegende Gericht, wie aus Rn. 17 des vorliegenden Urteils hervorgeht, jedoch im Wesentlichen ausgeführt, dass nach den ihm zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen eine menschliche Parthenote infolge der zu ihrer Gewinnung verwendeten Technik als solche nicht geeignet sei, den Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, der zur Entstehung eines Menschen führe. Diese Einschätzung wird von allen Beteiligten geteilt, die beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht haben.

34

Überdies hat ISCO nach den in Rn. 18 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Angaben im Ausgangsverfahren ihre Anmeldungen geändert, um die Möglichkeit der Vornahme zusätzlicher genetischer Eingriffe auszuschließen.

35

Daher betrifft das Ausgangsverfahren ausschließlich die im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 vorzunehmende Einstufung einer menschlichen Parthenote als solcher und nicht einer Parthenote, an der zusätzliche gentechnische Eingriffe vorgenommen wurden.

36

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Licht der von der internationalen medizinischen Wissenschaft als hinreichend erprobt und anerkannt angesehenen Kenntnisse (vgl. entsprechend Urteil Smits und Peerbooms, C‑157/99, EU:C:2001:404, Rn. 94) menschliche Parthenoten, wie sie Gegenstand der Anmeldungen des Ausgangsverfahrens sind, die inhärente Fähigkeit haben, sich zu einem Menschen zu entwickeln.

37

Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass diese Parthenoten keine solche Fähigkeit haben, müsste es daraus den Schluss ziehen, dass sie keine „menschlichen Embryonen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 sind.

38

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 dahin auszulegen ist, dass eine unbefruchtete menschliche Eizelle, die im Wege der Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, kein „menschlicher Embryo“ im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn sie als solche im Licht der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht die inhärente Fähigkeit hat, sich zu einem Menschen zu entwickeln; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.

Kosten

39

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen ist dahin auszulegen, dass eine unbefruchtete menschliche Eizelle, die im Wege der Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, kein „menschlicher Embryo“ im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn sie als solche im Licht der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht die inhärente Fähigkeit hat, sich zu einem Menschen zu entwickeln; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.