URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

26. September 2013 ( *1 )

„Rechtsmittel — Europäische Agentur für chemische Stoffe (ECHA) — Registrierung, Bewertung und Zulassung chemischer Stoffe — Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH-Verordnung) — Art. 57 und 59 — Zulassungspflichtige Stoffe — Ermittlung von Acrylamid als besonders besorgniserregender Stoff — Aufnahme in die Kandidatenliste — Veröffentlichung der Liste auf der Website der ECHA — Vor dieser Veröffentlichung eingereichte Nichtigkeitsklage — Zulässigkeit“

In der Rechtssache C‑626/11 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 30. November 2011,

Polyelectrolyte Producers Group GEIE (PPG) mit Sitz in Brüssel (Belgien),

SNF SAS mit Sitz in Andrézieux-Bouthéon (Frankreich),

Prozessbevollmächtigte: R. Cana und K. Van Maldegem, avocats,

Rechtsmittelführerinnen,

andere Verfahrensbeteiligte:

Europäische Agentur für chemische Stoffe (ECHA), vertreten durch M. Heikkilä und W. Broere als Bevollmächtigte im Beistand von J. Stuyck, advocaat,

Beklagte im ersten Rechtszug,

Königreich der Niederlande, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,

Europäische Kommission, vertreten durch P. Oliver und E. Manhaeve als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelfer im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský, U. Lõhmus (Berichterstatter) und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2012,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. März 2013

folgendes

Urteil

1

Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Polyelectrolyte Producers Group GEIE (PPG) (im Folgenden: PPG) und die SNF SAS (im Folgenden: SNF) die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 21. September 2011, PPG und SNF/ECHA (T-1/10, Slg. 2011, II-6576, im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Europäischen Agentur für chemische Stoffe (ECHA), mit der Acrylamid (EG Nr. 201‑173‑7) gemäß Art. 59 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. L 396, S. 1, und Berichtigung ABl. 2007, L 136, S. 3, im Folgenden: REACH-Verordnung) als Stoff ermittelt wurde, der die Kriterien des Art. 57 dieser Verordnung erfüllt (im Folgenden: streitige Entscheidung), als unzulässig abgewiesen hat.

Rechtlicher Rahmen

REACH-Verordnung

2

Art. 57 der REACH-Verordnung zählt die Stoffe auf, die in den Anhang XIV („Zulassungspflichtige Stoffe“) dieser Verordnung aufgenommen werden können. Art. 57 Buchst. a und b dieser Verordnung nennt die zu bestimmten Kategorien gehörenden Stoffe, die die Kriterien für die Einstufung als krebserzeugend und erbgutverändernd erfüllen.

3

Art. 59 („Ermittlung von in Artikel 57 genannten Stoffen“) dieser Verordnung lautet:

„(1)   Das Verfahren der Absätze 2 bis 10 des vorliegenden Artikels gilt für die Ermittlung von Stoffen, die die Kriterien des Artikels 57 erfüllen, und für die Festlegung einer Liste der für eine Aufnahme in Anhang XIV in Frage kommenden Stoffe [im Folgenden: Kandidatenliste].

(3)   Jeder Mitgliedstaat kann ein Dossier nach Anhang XV für Stoffe ausarbeiten, die seiner Auffassung nach die Kriterien des Artikels 57 erfüllen, und dieses der [ECHA] übermitteln. … Die [ECHA] stellt das Dossier den anderen Mitgliedstaaten innerhalb von 30 Tagen nach Eingang zur Verfügung.

(4)   Die [ECHA] veröffentlicht auf ihrer Website einen Hinweis, dass ein Dossier nach Anhang XV für einen Stoff ausgearbeitet worden ist. Die [ECHA] fordert alle interessierten Kreise auf, der [ECHA] innerhalb einer bestimmten Frist Bemerkungen vorzulegen.

(5)   Innerhalb von 60 Tagen nach der Übermittlung können die anderen Mitgliedstaaten oder die [ECHA] zur Ermittlung des Stoffes nach den Kriterien des Artikels 57 in dem der [ECHA] übermittelten Dossier Bemerkungen abgeben.

(6)   Gehen keine Bemerkungen bei der [ECHA] ein bzw. gibt sie keine Bemerkungen ab, so nimmt sie diesen Stoff in die in Absatz 1 genannte Liste auf. …

(7)   Gehen Bemerkungen ein bzw. gibt die [ECHA] selbst Bemerkungen ab, so überweist sie das Dossier innerhalb von 15 Tagen nach Ablauf der 60-Tage-Frist nach Absatz 5 an den Ausschuss der Mitgliedstaaten.

(8)   Erzielt der Ausschuss der Mitgliedstaaten innerhalb von 30 Tagen nach der Überweisung einstimmig eine Einigung über die Ermittlung, so nimmt die [ECHA] den Stoff in die in Absatz 1 genannte Liste auf. …

(10)   Die [ECHA] veröffentlicht und aktualisiert die Liste nach Absatz 1 unverzüglich auf ihrer Website, nachdem über die Aufnahme eines Stoffes entschieden wurde.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung

4

PPG ist eine Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung, die die Interessen von Unternehmen vertritt, die Polyelektrolyte, Polyacrylamid und/oder andere acrylamidhaltige Polymere erzeugen und/oder einführen. SNF zählt zu ihren Mitgliedern.

5

Am 25. August 2009 übermittelte das Königreich der Niederlande der ECHA ein von ihm ausgearbeitetes Dossier betreffend die Ermittlung von Acrylamid als Stoff, der die Kriterien des Art. 57 Buchst. a und b der REACH-Verordnung erfüllt.

6

Am 31. August 2009 veröffentlichte die ECHA auf ihrer Website einen Hinweis und forderte die interessierten Kreise auf, Bemerkungen zu dem Dossier vorzulegen, das zu Acrylamid zusammengestellt worden war. Sie forderte auch die zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten auf, Bemerkungen zu diesem Thema abzugeben.

7

Nachdem sie Bemerkungen zu diesem Dossier u. a. von PPG und die Antworten des Königreichs der Niederlande auf diese Bemerkungen erhalten hatte, überwies die ECHA dieses Dossier an den Ausschuss der Mitgliedstaaten, der am 27. November 2009 einstimmig zu einer Einigung kam, der zufolge Acrylamid als besonders besorgniserregender Stoff ermittelt wurde, da er die Kriterien des Art. 57 Buchst. a und b der REACH-Verordnung erfülle.

8

Am 7. Dezember 2009 veröffentlichte die ECHA eine Pressemitteilung, in der sie verkündete, dass der Ausschuss der Mitgliedstaaten einstimmig zu einer Einigung über die Ermittlung von Acrylamid und 14 anderer Stoffe als besonders besorgniserregender Stoff gekommen sei, da diese die Kriterien des Art. 57 der REACH-Verordnung erfüllten, und dass die Kandidatenliste formell im Laufe des Monats Januar 2010 aktualisiert werde.

9

Am 22. Dezember 2009 erließ der Direktor der ECHA die Entscheidung ED/68/2009, deren Inkrafttreten für den 13. Januar 2010 vorgesehen war, diese 15 Stoffe zu diesem Zeitpunkt in die Kandidatenliste aufzunehmen.

10

Am 30. März 2010 veröffentlichte die ECHA auf ihrer Website diese Liste, in der Acrylamid aufgeführt war.

Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

11

Aus dem angefochtenen Beschluss geht hervor, dass PPG und SNF mit am 4. Januar 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung erhoben.

12

Am 17. März 2010 erhob die ECHA mit bei der Kanzlei des Gerichts eingereichtem besonderen Schriftsatz eine Einrede der Unzulässigkeit gegen diese Klage. Sie machte drei Unzulässigkeitsgründe geltend, mit denen die Rechtsnatur der streitigen Entscheidung, die mangelnde unmittelbare Betroffenheit der Klägerinnen sowie die Tatsache gerügt wurde, dass die angefochtene Entscheidung, die kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV sei, die Rechtsmittelführerinnen nicht individuell betreffe.

13

Was den aus der Rechtsnatur der streitigen Entscheidung hergeleiteten Unzulässigkeitsgrund anbelangt, machte die ECHA im Wesentlichen geltend, dass die Rechtsmittelführerinnen mit ihrer Bezugnahme auf die am 27. November 2009 erfolgte einstimmige Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten der ECHA eine Vorbereitungshandlung ohne Rechtswirkungen gegenüber Dritten im Sinne von Art. 263 Abs. 1 Satz 2 AEUV angegriffen hätten.

14

Das Königreich der Niederlande, das als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der ECHA zugelassen worden war, unterstützte die von der ECHA vorgebrachten Unzulässigkeitsgründe.

15

Die Europäische Kommission, die ebenfalls als Streithelferin zugelassen worden war, unterstützte das Vorbringen der ECHA hinsichtlich der Rechtsnatur der streitigen Entscheidung und der mangelnden unmittelbaren Betroffenheit der Rechtsmittelführerinnen. Außerdem machte sie geltend, dass die Klage nicht die in Art. 44 Abs. 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichts genannten Voraussetzungen erfülle, da es ihr an Klarheit mangele.

16

Das Gericht hat zunächst diesen letztgenannten Unzulässigkeitsgrund geprüft. Es hat zwar darauf hingewiesen, dass ein Streithelfer keinen Unzulässigkeitsgrund vorbringen könne, den die von ihm unterstützte Partei nicht geltend gemacht habe, aber gleichwohl festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Klage und der mit ihr erhobenen Rügen zwingendes Recht seien, so dass sie das Gericht von Amts wegen prüfen könne.

17

Das Gericht hat diesen Unzulässigkeitsgrund zurückgewiesen und in Randnr. 34 des angefochtenen Beschlusses dazu ausgeführt, dass sich aus der Klageschrift rechtlich hinreichend ergebe, dass der Streitgegenstand der Rechtsakt der ECHA sei, der in dem Verfahren nach Art. 59 der Verordnung Nr. 1907/2006 ergangen sei, mit dem Acrylamid als Stoff ermittelt worden sei, der die Kriterien nach Art. 57 dieser Verordnung erfülle, dessen Inhalt am 27. November 2009 durch die einstimmige Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten bestimmt worden sei und der durch die Aufnahme von Acrylamid in die auf der Website der ECHA veröffentlichte Kandidatenliste, die für den 13. Januar 2010 vorgesehen gewesen sei und schließlich am 30. März 2010 erfolgt sei, vollzogen worden sei.

18

Sodann hat das Gericht in Bezug auf den von der ECHA vorgebrachten Unzulässigkeitsgrund hinsichtlich der Rechtsnatur der streitigen Entscheidung in Randnr. 41 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass es nicht auf das Vorbringen zum behaupteten vorbereitenden Charakter dieser einstimmigen Einigung habe eingehen müssen, da die streitige Entscheidung zum Zeitpunkt, zu dem die Zulässigkeit der Klage zu beurteilen gewesen sei, d. h. zum Zeitpunkt des Eingangs der Klageschrift, keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfaltet habe.

19

Hierzu hat das Gericht in Randnr. 45 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Klageschrift nach der einstimmigen Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten über die Ermittlung von Acrylamid als besonders besorgniserregender Stoff und nach der Entscheidung des Direktors der ECHA, diesen Stoff in die Kandidatenliste aufzunehmen, aber vor dem 13. Januar 2010, dem für das Inkrafttreten dieser Entscheidung und für die Aufnahme von Acrylamid in diese Liste vorgesehenen Datum, eingegangen sei.

20

In Randnr. 49 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht zum einen ausgeführt, dass der Rechtsakt zur Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend vor der Aufnahme dieses Stoffes in die Kandidatenliste keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeuge und dass die rechtlichen Pflichten, die sich aus diesem Akt ergäben, die betroffenen Personen erst ab der Veröffentlichung und Aktualisierung der diesen Stoff enthaltenden Liste auf der Website der ECHA gemäß Art. 59 Abs. 10 der REACH-Verordnung treffen könnten. Zum anderen hat das Gericht entschieden, dass die Frist für die Erhebung einer Klage gegen diesen Rechtsakt nach Art. 263 Abs. 6 AEUV erst ab dieser Veröffentlichung laufen könne.

21

Demzufolge hat das Gericht die Klage, mit der es befasst war, als unzulässig abgewiesen, ohne die anderen von der ECHA vorgebrachten Unzulässigkeitsgründe zu prüfen.

Anträge der Parteien

22

Die Rechtsmittelführerinnen beantragen, den angefochtenen Beschluss sowie die streitige Entscheidung aufzuheben oder, hilfsweise, die Sache zur Entscheidung über ihre Nichtigkeitsklage an das Gericht zurückzuverweisen und der ECHA die Kosten der beiden Rechtszüge aufzuerlegen.

23

Die ECHA sowie das Königreich der Niederlande und die Kommission, die die ECHA im ersten Rechtszug als Streithelfer unterstützt haben, beantragen, das Rechtsmittel für unbegründet zu erklären und den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.

Zum Rechtsmittel

Vorbringen der Parteien

24

Die Rechtsmittelführerinnen machen als einzigen Rechtsmittelgrund einen Rechtsfehler geltend, den das Gericht bei der Auslegung und Anwendung der REACH-Verordnung begangen habe, da es entschieden habe, dass die Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend durch den Ausschuss der Mitgliedstaaten gemäß Art. 59 Abs. 8 dieser Verordnung keine Entscheidung darstelle, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten vor der Veröffentlichung der diesen Stoff aufführenden Kandidatenliste erzeugen solle.

25

Entgegen dem, was das Gericht in Randnr. 47 des angefochtenen Beschlusses festgestellt habe, gehe aus den verschiedenen Verweisen auf die „Ermittlung“ und die „Aufnahme“ in den Bestimmungen der REACH-Verordnung, die die Informationspflichten präzisierten, hervor, dass der Unionsgesetzgeber solche Verpflichtungen, die sich aus der Ermittlung eines Stoffes ergäben, in einem Stadium vor der Aufnahme dieses Stoffes in die Kandidatenliste habe schaffen wollen.

26

Die ECHA, unterstützt vom Königreich der Niederlande, erinnert daran, dass im Fall von Rechtsakten, die im Laufe eines mehrere Etappen umfassenden Verfahrens erlassen würden, lediglich die Maßnahmen, die endgültig die Position des betreffenden Organs oder der betreffenden Einrichtung am Ende dieses Verfahrens festlegten, Rechtsakte darstellten, die angegriffen werden könnten. Im vorliegenden Fall stelle die Aufnahme von Acrylamid in die Kandidatenliste, wie sie am 30. März 2010 veröffentlicht worden sei, die Handlung dar, die Rechtswirkungen erzeugen könne, wohingegen die Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten eine Vorbereitungshandlung sei, die selbst keine rechtliche Verpflichtung schaffe.

27

Nach Ansicht der Kommission bedeutet die Tatsache, dass die einstimmige Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Aufnahme eines Stoffes in die Kandidatenliste keinen Beurteilungsspielraum lasse, nicht, dass diese Einigung den endgültigen, mit einer Klage anfechtbaren Rechtsakt darstelle oder dass er die von der ECHA nach Art. 59 Abs. 8 der REACH-Verordnung erlassene Entscheidung ersetzen könne.

28

Keine Bestimmung dieser Verordnung weise darauf hin, dass ein Unterschied zwischen der Ermittlung eines Stoffes und seiner Aufnahme in die Kandidatenliste bestehe. Vielmehr gehe aus Art. 59 dieser Verordnung hervor, dass die Stoffe nur zum Zweck ihrer Aufnahme in diese Liste als besonders besorgniserregend ermittelt würden.

Würdigung durch den Gerichtshof

29

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gegenstand der von PPG und SNF erhobenen Klage unstreitig der vom Gericht in Randnr. 34 des angefochtenen Beschlusses beschriebene Rechtsakt ist, und zwar der im Verfahren nach Art. 59 der REACH-Verordnung ergangene, mit dem Acrylamid als besonders besorgniserregender Stoff, der die Kriterien in Art. 57 dieser Verordnung erfüllt, ermittelt wurde.

30

Wie das Gericht im angefochtenen Beschluss ausgeführt hat, kann ein solcher Rechtsakt Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 1 Satz 2 AEUV sein, da er von einer Einrichtung der Europäischen Union, im vorliegenden Fall der ECHA, erlassen wurde und er Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen soll. Mehrere Bestimmungen der REACH-Verordnung wie die u. a. in Randnr. 42 dieses Beschlusses angeführten sehen nämlich Informationspflichten vor, die sich aus dem Rechtsakt der Ermittlung ergeben, der in dem Verfahren gemäß Art. 59 der Verordnung ergeht.

31

Ebenfalls zu Recht hat das Gericht in Randnr. 49 des angefochtenen Beschlusses entschieden, dass die rechtlichen Pflichten, die sich aus dem im Verfahren gemäß Art. 59 der Verordnung ergehenden Rechtsakt zur Ermittlung eines Stoffes als besonders besorgniserregend ergeben, die betroffenen Personen erst ab der Veröffentlichung der diesen Stoff enthaltenden Kandidatenliste treffen können, wobei eine solche Veröffentlichung in Abs. 10 dieses Artikels vorgesehen ist.

32

Wenn nämlich in den Unionsvorschriften die Veröffentlichung eines Rechtsakts vorgesehen ist, können diese Personen erst ab dieser Veröffentlichung ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2009, Heinrich, C-345/06, Slg. 2009, I-1659, Randnr. 44).

33

Um den betroffenen Personen einen ausreichenden Zeitraum zur Anfechtung eines veröffentlichten Unionsrechtsakts in Kenntnis aller Umstände zu gewähren, fängt folglich die Frist zur Erhebung einer Klage gegen diese Handlung gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV erst ab ihrer Veröffentlichung an zu laufen.

34

Anders als das Gericht in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt hat, folgt daraus jedoch nicht, dass ein Kläger einen von der Union erlassenen Rechtsakt nicht anfechten kann, bevor dieser veröffentlicht wird.

35

Hierzu hat der Gerichtshof bereits in Randnr. 8 des Urteils vom 19. September 1985, Hoogovens Groep/Kommission (172/83 und 226/83, Slg. 1985, 2831), entschieden, dass die Bestimmungen von Art. 33 Abs. 3 des EGKS-Vertrags, die die Formalitäten – Bekanntgabe und Veröffentlichung – präzisierten, von denen an die Frist für Nichtigkeitsklagen lief, einen Kläger nicht daran hinderten, beim Gerichtshof Klage zu erheben, sobald die streitige Entscheidung ergangen war, ohne ihre Bekanntgabe oder ihre Veröffentlichung abzuwarten, so dass der einen der beiden Klagen, auf die dieses Urteil zurückging, nicht deswegen Unzulässigkeit entgegengehalten werden konnte, weil sie vor der Veröffentlichung dieser Entscheidung bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht worden war.

36

Nichts in den Bestimmungen von Art. 263 Abs. 6 AEUV, der Art. 33 Abs. 3 des EGKS-Vertrags entspricht, hindert daran, diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall zu übertragen.

37

Vielmehr geht aus einer ständigen Rechtsprechung zwar hervor, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung beeinträchtigen können, Handlungen oder Entscheidungen sind, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV sein können (vgl. Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch heißt es in diesem Artikel nicht, dass die Erhebung einer solchen Klage von der Veröffentlichung oder der Bekanntgabe dieser Maßnahmen abhängt.

38

Außerdem beeinträchtigt die Erhebung einer Klage gegen einen Unionsrechtsakt vor seiner Veröffentlichung und ab Erlass dieses Rechtsakts in keiner Weise den Zweck einer Klagefrist, der nach ständiger Rechtsprechung darin besteht, der Wahrung der Rechtssicherheit zu dienen, indem sie verhindert, dass Handlungen der Union, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden können (vgl. Urteile vom 22. Oktober 2002, National Farmers’ Union, C-241/01, Slg. 2002, I-9079, Randnr. 34, sowie vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, Randnr. 62).

39

Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, löst folglich die Veröffentlichung einer Handlung zwar die Klagefristen aus, nach deren Ablauf diese Handlung unanfechtbar wird, doch stellt sie keine Bedingung für die Eröffnung des Klagerechts gegen diese Handlung dar.

40

Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Randnr. 45 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Klageschrift sowohl nach der einstimmigen Einigung des Ausschusses der Mitgliedstaaten über diese Ermittlung als auch nach dem Beschluss des Direktors der ECHA vom 22. Dezember 2009, der eine Entscheidung darstellt, eingegangen ist. Daraus folgt, dass zum Zeitpunkt des Eingangs dieser Klageschrift, nämlich am 4. Januar 2010, die streitige Entscheidung endgültig erlassen worden war.

41

Das Gericht ist daher zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Klage unzulässig sei, weil sie vor dem Tag der Veröffentlichung der streitigen Entscheidung im Wege der Aufnahme von Acrylamid in die Kandidatenliste auf der Website der ECHA, die zunächst für den 13. Januar 2010 vorgesehen gewesen sei, aber schließlich am 30. März 2010 erfolgt sei, erhoben worden sei.

42

Daher ist dem von den Rechtsmittelführerinnen geltend gemachten einzigen Rechtsmittelgrund und damit ihrem Rechtsmittel stattzugeben und der angefochtene Beschluss aufzuheben.

43

Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann dieser im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

44

Da der Rechtsstreit im vorliegenden Fall nicht zur Entscheidung reif ist, ist die Sache an das Gericht zurückzuverweisen und die Kostenentscheidung vorzubehalten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Der Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 21. September 2011, PPG und SNF/ECHA (T‑1/10), wird aufgehoben.

 

2.

Die vorliegende Sache wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

 

3.

Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.