URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
11. April 2013 ( *1 )
„Sozialpolitik — Richtlinie 1999/70/EG — EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge — Paragraf 2 — Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung — Leiharbeitsunternehmen — Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen — Aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge“
In der Rechtssache C-290/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Napoli (Italien) mit Entscheidung vom 29. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2012, in dem Verfahren
Oreste Della Rocca
gegen
Poste Italiane SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Jarašiūnas sowie der Richter A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und G. C. Fernlund,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der Poste Italiane SpA, vertreten durch R. De Luca Tamajo, avvocato, |
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der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato, |
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der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und B. Majczyna als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. van Beek als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Paragrafen 2 und 5 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Della Rocca und der Poste Italiane SpA (im Folgenden: Poste Italiane) über das mit diesem Unternehmen begründete Arbeitsverhältnis. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 1999/70
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Aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 1999/70, die auf Art. 139 Abs. 2 EG gestützt ist, geht hervor, dass die Unterzeichnerparteien der Rahmenvereinbarung mit deren Abschluss die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung verbessern und einen Rahmen schaffen wollten, der den Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse verhindert. |
4 |
Nach Art. 1 der Richtlinie 1999/70 soll mit dieser „die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (EGB, UNICE und CEEP) geschlossene Rahmenvereinbarung …, die im Anhang enthalten ist, durchgeführt werden“. |
5 |
Der vierte Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung lautet: „Die Vereinbarung gilt für Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen mit Ausnahme derer, die einem Unternehmen von einer Leiharbeitsagentur zur Verfügung gestellt werden. Es ist die Absicht der Parteien, den Abschluss einer ähnlichen Vereinbarung über Leiharbeit in Erwägung zu ziehen.“ |
6 |
Paragraf 2 („Anwendungsbereich“) der Rahmenvereinbarung bestimmt:
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7 |
In Paragraf 3 („Definitionen“) der Rahmenvereinbarung heißt es: „Im Sinne dieser Vereinbarung ist:
…“ |
8 |
Paragraf 5 („Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch“) der Rahmenvereinbarung sieht vor:
…“ |
Richtlinie 2008/104/EG
9 |
In den Erwägungsgründen 5 bis 7 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. L 327, S. 9) heißt es:
…
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Italienisches Recht
Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 368/01
10 |
Art. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 368 vom 6. September 2001 zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (decreto legislativo n. 368, attuazione della direttiva 1999/70/CE relativa all’accordo quadro sul lavoro a tempo determinato concluso dall’UNICE, dal CEEP e dal CES) (GURI Nr. 235 vom 9. Oktober 2001, S. 4, im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 368/01) sieht vor: „(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrags ist aus technischen Gründen sowie aus Gründen der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung von Arbeitnehmern zulässig. (2) Die Befristung ist unwirksam, wenn sie nicht unmittelbar oder mittelbar in einem Schriftstück niedergelegt ist, in dem die Gründe im Sinne von Absatz 1 angegeben sind. (3) Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer innerhalb von fünf Werktagen nach Aufnahme der Arbeit eine Kopie des Schriftstücks auszuhändigen. (4) Die Schriftform ist jedoch nicht erforderlich, wenn die Dauer des Arbeitsverhältnisses bei reiner Gelegenheitsarbeit zwölf Tage nicht übersteigt.“ |
11 |
Art. 4 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 368/01, der die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge regelt, lautet: „(1) Die einvernehmliche Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags ist nur möglich, wenn die ursprüngliche Vertragslaufzeit weniger als drei Jahre beträgt. Zulässig ist dann eine einmalige Verlängerung, sofern sie aus sachlichen Gründen geboten ist und dieselbe Arbeitstätigkeit betrifft, für die der befristete Vertrag geschlossen wurde. Allein in diesem Fall darf die Gesamtdauer des befristeten Verhältnisses drei Jahre nicht übersteigen. (2) Der Arbeitgeber trägt die Beweislast für das objektive Vorliegen der Gründe, die die etwaige Verlängerung der Befristung rechtfertigen.“ |
12 |
Art. 5 („Fristablauf und Sanktionen; aufeinanderfolgende Verträge“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 368/01 bestimmt: „(1) Wird das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der ursprünglich festgesetzten Frist fortgesetzt oder später gemäß Artikel 4 verlängert, ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer das Entgelt für jeden Tag der Fortsetzung des Verhältnisses bis zum zehnten aufeinanderfolgenden Tag um 20 vom Hundert und für jeden weiteren Tag um 40 vom Hundert zu erhöhen. (2) Wird das Arbeitsverhältnis bei Verträgen mit einer Laufzeit von weniger als sechs Monaten über den zwanzigsten Tag hinaus oder in den anderen Fällen über den dreißigsten Tag hinaus fortgesetzt, so gilt der Vertrag mit Ablauf der genannten Fristen als unbefristet. (3) Wird der Arbeitnehmer binnen zehn Tagen nach Ablauf eines Vertrages mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten oder binnen zwanzig Tagen nach Ablauf eines Vertrages mit einer Laufzeit von mehr als sechs Monaten wieder gemäß Artikel 1 befristet eingestellt, so gilt der zweite Vertrag als unbefristet. (4) Bei zwei aufeinanderfolgenden befristeten Einstellungen, worunter solche zu verstehen sind, die ohne jede Unterbrechung zusammenhängen, gilt das Arbeitsverhältnis vom Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Vertrages an als unbefristet.“ |
Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 276/03
13 |
Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass das Gesetzesvertretende Dekret Nr. 276 vom 10. September 2003 zur Umsetzung der Ermächtigungen gemäß dem Gesetz Nr. 30 vom 14. Februar 2003 in den Bereichen Beschäftigung und Arbeitsmarkt (decreto legislativo n. 276, attuazione delle deleghe in materia di occupazione e mercato del lavoro, di cui alla legge 14 febbraio 2003, n. 30) (Ordentliche Beilage zur GURI Nr. 235 vom 9. Oktober 2003, S. 5, im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 276/03) in Bezug auf mit einer Leiharbeitsagentur geschlossene befristete Arbeitsverträge von dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 368/01 insoweit abweicht, als es vorsieht, dass diese Arbeitsverträge nach einer Regelung, die nur mittelbar zum gemeinen Recht gehört, ohne Rechtfertigung befristet und verlängert werden können. |
14 |
Das Gesetzesvertretende Dekret Nr. 276/03 definiert den Arbeitnehmerüberlassungsvertrag („somministrazione di lavoro“) als Vertrag, dessen Gegenstand die gewerbliche Bereitstellung von Arbeitskräften auf unbestimmte oder bestimmte Zeit ist und in dessen Rahmen die Arbeitnehmer ihre Tätigkeit für den Entleiher nach seiner Weisung und unter seiner Aufsicht ausüben. Es handelt sich daher um einen Vertrag zwischen zwei Personen, dem Verleiher („somministratore“) und dem Entleiher („utilizzatore“), mit dem der Erstgenannte Arbeitnehmer, die er selbst eingestellt hat, dem Letztgenannten gegen Zahlung überlässt. Hinzu tritt ein zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer geschlossener Arbeitsvertrag. |
15 |
Nach Art. 20 Abs. 4 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 ist die Arbeitnehmerüberlassung auf bestimmte Zeit aus technischen Gründen sowie aus Gründen der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung von Arbeitnehmern zulässig, selbst wenn die Gründe auf die gewöhnliche Tätigkeit des Entleihers zurückgehen. In den nationalen Tarifverträgen kann vorgesehen werden, dass der Inanspruchnahme von Arbeitnehmerüberlassung auf bestimmte Zeit quantitative Grenzen – auch in nicht einheitlichem Maß – gesetzt werden. |
16 |
Gemäß Art. 21 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 bedarf der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag der Schriftform und muss u. a. den Falltypus und den technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Grund im Sinne des Art. 20 Abs. 3 und 4 enthalten. Diese Information muss dem Arbeitnehmer vom Verleiher bei Abschluss des Arbeitsvertrags oder anlässlich der Entsendung zum Entleiher schriftlich mitgeteilt werden. |
17 |
Art. 22 Abs. 2 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 sieht vor, dass bei einer Arbeitnehmerüberlassung auf bestimmte Zeit für das Arbeitsverhältnis zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer die Bestimmungen des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 368/01 mit Ausnahme von dessen Art. 5 Abs. 3 und 4 entsprechend gelten. Die ursprüngliche Befristung des Arbeitsvertrags kann auf jeden Fall in den Situationen und für die Dauer, wie sie in dem für den Verleiher geltenden Tarifvertrag vorgesehen sind, im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer und unter Einhaltung der Schriftform verlängert werden. |
18 |
Art. 27 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 eröffnet dem Arbeitnehmer für den Fall, dass die Arbeitnehmerüberlassung außerhalb der in den Art. 20 und 21 dieses Dekrets vorgesehenen Grenzen und Bedingungen erfolgt, den Rechtsweg, um mittels einer Klage, die auch nur dem Entleiher zugestellt wird, das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit Letzterem mit Wirkung ab dem Beginn der Überlassung feststellen zu lassen. |
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
19 |
Herr Della Rocca schloss mit der Obiettivo Lavoro SpA (im Folgenden: Obiettivo Lavoro), einer Leiharbeitsgesellschaft, drei aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge, aufgrund deren er Poste Italiane als Postbote zur Verfügung gestellt wurde. Diese Verträge liefen vom 2. November 2005 bis 31. Januar 2006, vom 2. Februar bis 30. September 2006 und vom 2. Oktober 2006 bis 31. Januar 2007. Geschlossen wurden sie auf der Grundlage eines befristeten Arbeitnehmerüberlassungsvertrags, den Poste Italiane mit Obiettivo Lavoro geschlossen hatte, um fehlendes Personal des Postzustelldiensts in der Region Kampanien zu ersetzen. Es steht fest, dass nur der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag die objektiven Gründe zur Rechtfertigung des Abschlusses und der Verlängerung der befristeten Arbeitsverträge enthielt, nicht aber diese Verträge selbst. |
20 |
Herr Della Rocca, der die Ansicht vertrat, dass die Gründe für den Rückgriff auf die befristete Arbeitnehmerüberlassung „allgemein und haltlos“ seien und die Verlängerung der Überlassung nicht begründet worden sei, begehrte beim Tribunale di Napoli die Feststellung, dass zwischen ihm und Poste Italiane ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bestehe, weil die Überlassung in Ansehung der Art. 20, 21 und 27 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 unrechtmäßig gewesen sei. |
21 |
Poste Italiane ist der Auffassung, dass die Gründe, die den Rückgriff auf den Arbeitnehmerüberlassungsvertrag rechtfertigten, hinreichend angegeben worden seien und tatsächlich bestanden hätten. Außerdem habe die Verlängerung der Arbeitsverträge zwischen Obiettivo Lavoro und Herrn Della Rocca keiner normativen Beschränkung unterlegen, weil Art. 22 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 die Anwendung von Art. 5 Abs. 3 und 4 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 368/01 auf diese Art von Verträgen ausschließe. |
22 |
In der Vorlageentscheidung führt das Tribunale di Napoli aus, dass sich aus diesem Art. 22 ergebe, dass das nationale Recht in Abweichung von den allgemeinen Bestimmungen über befristete Arbeitsverträge den Leiharbeitsunternehmen keinerlei Schranken für die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge setze. Während nämlich nach dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 368/01 der Grund für den Vertrag und seine Verlängerung die Erfordernisse des Arbeitgebers betreffe, erlaube das Gesetzesvertretende Dekret Nr. 276/03 den Abschluss befristeter Arbeitsverträge, wenn auch der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag auf bestimmte Zeit geschlossen worden sei. Nur dieser müsse nach den Art. 20 Abs. 4 und 27 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03 mit technischen, organisatorischen oder produktionsbedingten Erfordernissen gerechtfertigt werden. |
23 |
Das Tribunale di Napoli äußert jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelung mit Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung. |
24 |
Seiner Ansicht nach stellt sich insoweit zunächst die Frage, ob das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer oder dasjenige zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fällt. Obwohl nämlich deren Präambel nahelege, dass die Rahmenvereinbarung nicht anwendbar sei, spreche Randnr. 36 des Beschlusses vom 15. September 2010, Briot (C-386/09, Slg. 2010, I-8471), dafür, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer der Rahmenvereinbarung unterliege, da die Richtlinie 2008/104 nur das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen betreffe. |
25 |
Weiter stellt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Rahmenvereinbarung anwendbar sein sollte, die Frage, ob es in Ermangelung sonstiger Präventivmaßnahmen mit Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung in Einklang stehe, dass die auf technische, organisatorische oder produktionsbedingte Erfordernisse gestützten Gründe, mit denen der Abschluss eines befristeten Arbeitnehmerüberlassungsvertrags gerechtfertigt worden sei, die aber nicht für das Leiharbeitsunternehmen, sondern für das entleihende Unternehmen gälten und in keinem Zusammenhang mit dem konkreten Arbeitsverhältnis stünden, ausreichten, um den Abschluss und die Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Leiharbeitsunternehmen zu rechtfertigen. |
26 |
Schließlich wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob dieser Paragraf es zulässt, die Folgen des missbräuchlichen Rückgriffs auf befristete Arbeitsverträge auf einen Dritten, hier das entleihende Unternehmen, abzuwälzen. Da nämlich die Leiharbeitsunternehmen nur eine Mittlertätigkeit ausübten und in der Lage seien, kein Betriebsrisiko einzugehen, stützten die Arbeitnehmer ihre Klagen systematisch auf Art. 27 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 276/03, so dass die Sanktion nicht den Arbeitgeber treffe. |
27 |
Das Tribunale di Napoli hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
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Poste Italiane bringt vor, die Vorlagefragen seien nicht entscheidungserheblich, da sie die Anwendung der Rahmenvereinbarung auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Leiharbeitsunternehmen beträfen, während Herr Della Rocca im Ausgangsrechtsstreit lediglich die Rechtswidrigkeit des Arbeitnehmerüberlassungsvertrags zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem entleihenden Unternehmen geltend mache. |
29 |
Dazu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
30 |
Die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen betreffen aber die Auslegung der Rahmenvereinbarung in einem realen Rechtsstreit, in dem sich Herr Della Rocca, wie sich aus den vorstehenden Randnrn. 20 und 21 ergibt, nicht nur gegen die Arbeitnehmerüberlassung, sondern auch gegen die Verlängerung seiner Arbeitsverträge mit dem Leiharbeitsunternehmen wendet, während Poste Italiane behauptet, dass diese Verlängerungen im Einklang mit den Anforderungen des nationalen Rechts stünden, was das vorlegende Gericht dazu veranlasst, sich die Frage zu stellen, ob das nationale Recht mit der Rahmenvereinbarung vereinbar ist. |
31 |
Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig. |
Zur ersten Frage
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Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 1999/70 und die Rahmenvereinbarung dahin auszulegen sind, dass sie auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Leiharbeitsunternehmen oder auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem entleihenden Unternehmen anwendbar sind. |
33 |
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass für einen Leiharbeitnehmer wie Herrn Della Rocca der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 eröffnet ist. Es steht jedoch fest, dass diese Richtlinie, die bis spätestens 5. Dezember 2011 in nationales Recht umgesetzt werden musste, zeitlich auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist, da die dort in Rede stehenden Leiharbeitsabschnitte den Zeitraum vom 2. November 2005 bis 31. Januar 2007 betreffen. Unter diesen Umständen stellt sich das vorlegende Gericht zu Recht nur die Frage nach der Anwendbarkeit der Rahmenvereinbarung auf einen solchen Arbeitnehmer. |
34 |
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, lässt sich schon dem Wortlaut des Paragrafen 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung entnehmen, dass deren Anwendungsbereich weit gefasst ist, da sie allgemein auf „befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder -verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition“ abstellt. Auch die Definition des Begriffs „befristet beschäftigter Arbeitnehmer“ im Sinne der Rahmenvereinbarung, die in deren Paragraf 3 Nr. 1 enthalten ist, erfasst alle Arbeitnehmer, ohne danach zu unterscheiden, ob sie an einen öffentlichen oder an einen privaten Arbeitgeber gebunden sind (Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Randnr. 56). |
35 |
Allerdings ist der Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung nicht unbegrenzt. So geht aus dem besagten Wortlaut von Paragraf 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung hervor, dass sich die Definition der Arbeitsverträge und -verhältnisse, für die diese Rahmenvereinbarung gilt, nicht nach der Vereinbarung selbst oder dem Unionsrecht, sondern nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten richtet. Außerdem verleiht Paragraf 2 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich der Anwendung der Rahmenvereinbarung auf bestimmte Kategorien von Arbeitsverträgen oder -verhältnissen. Er eröffnet den Mitgliedstaaten und/oder den Sozialpartnern nämlich die Möglichkeit, die „Berufsausbildungsverhältnisse und Auszubildendensysteme/ Lehrlingsausbildungssysteme“ sowie die „Arbeitsverträge und -verhältnisse, die im Rahmen eines besonderen öffentlichen oder von der öffentlichen Hand unterstützten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungs- oder Umschulungsprogramms abgeschlossen wurden“, vom Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung auszunehmen (vgl. Urteil vom 15. März 2012, Sibilio, C-157/11, Randnrn. 42, 52 und 53). |
36 |
In gleicher Weise ergibt sich aber aus dem vierten Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung ausdrücklich, dass diese nicht für Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen gilt, die einem entleihenden Unternehmen von einem Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt werden, da es die Absicht der Parteien der Rahmenvereinbarung war, eine ähnliche Vereinbarung über Leiharbeit zu schließen. Die Regelung genau Letzterer ist Gegenstand der Richtlinie 2008/104, die, wie ihren Erwägungsgründen 5 und 7 zu entnehmen ist, vom Unionsgesetzgeber erlassen wurde, nachdem die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern über den Abschluss einer solchen Vereinbarung gescheitert waren. |
37 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die in der Präambel der Rahmenvereinbarung vorgesehene Ausnahme auf die Leiharbeitnehmer als solche bezieht und nicht auf das eine oder das andere ihrer Arbeitsverhältnisse, so dass weder ihr Arbeitsverhältnis mit dem Leiharbeitsunternehmen noch das mit dem entleihenden Unternehmen in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fallen. |
38 |
Zwar ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Präambel eines Rechtsakts der Union rechtlich nicht verbindlich und kann weder herangezogen werden, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich zuwiderläuft (vgl. u. a. Urteile vom 25. November 1998, Manfredi, C-308/97, Slg. 1998, I-7685, Randnr. 30, vom 24. November 2005, Deutsches Milch-Kontor, C-136/04, Slg. 2005, I-10095, Randnr. 32, vom 2. April 2009, Tyson Parketthandel, C-134/08, Slg. 2009, I-2875, Randnr. 16, und vom 28. Juni 2012, Caronna, C-7/11, Randnr. 40). |
39 |
Hier findet jedoch die in der Präambel der Rahmenvereinbarung enthaltene Ausnahme in Paragraf 3 Nr. 1 der Vereinbarung Niederschlag, wonach nur ein „direkt“ mit dem Arbeitgeber geschlossenes Arbeitsverhältnis unter diese Vereinbarung fällt. |
40 |
Außerdem ist die Überlassung von Leiharbeitnehmern ein komplexes und spezifisches arbeitsrechtliches Konstrukt, das, wie sich aus den vorstehenden Randnrn. 32 und 37 ergibt, ein doppeltes Arbeitsverhältnis zwischen einerseits dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer und andererseits dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen sowie ein Überlassungsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem entleihenden Unternehmen einschließt. Die Rahmenvereinbarung enthält aber keine Bestimmung, die diese spezifischen Aspekte behandelt. |
41 |
Umgekehrt bestimmt Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) ausdrücklich, dass diese Richtlinie auf die Entsendung eines Arbeitnehmers in ein entleihendes Unternehmen durch ein Leiharbeitsunternehmen Anwendung findet, wenn für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer besteht. Genauso stellt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 91/383/EWG des Rates vom 25. Juni 1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis (ABl. L 206, S. 19) ausdrücklich klar, dass diese Richtlinie für Leiharbeitsverhältnisse zwischen einem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer gilt. |
42 |
Daraus folgt, dass die befristeten Arbeitsverhältnisse eines Leiharbeitnehmers, der einem entleihenden Unternehmen durch ein Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt wird, nicht in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung und damit auch nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 1999/70 fallen. |
43 |
Dies widerspricht auch in keiner Weise dem, was der Gerichtshof im Beschluss Briot befunden hat. Der Gerichtshof hat nämlich in jener Rechtssache nach der Feststellung, dass die Nichterneuerung eines befristeten Arbeitsvertrags eines Leiharbeitnehmers, der wegen des Endes seiner Laufzeit vor dem Übergang der Tätigkeit, der dieser Arbeitnehmer zugewiesen war, beendet wurde, nicht gegen die Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82, S. 16) verstößt, in Randnr. 36 des genannten Beschlusses lediglich klargestellt, dass diese Lösung den Schutz, den ein Leiharbeitnehmer gegebenenfalls gegen die missbräuchliche Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge aufgrund anderer Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere der Richtlinie 1999/70, genießt, unberührt lässt und deren Auslegung durch den Gerichtshof nicht vorgreift. |
44 |
Aus der Auslegung der Richtlinie 1999/70 und der Rahmenvereinbarung, wie sie aus den vorstehenden Randnrn. 34 bis 42 hervorgeht, ergibt sich aber gerade, dass die befristeten Arbeitsverhältnisse eines Leiharbeitnehmers, der einem entleihenden Unternehmen durch ein Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt wird, nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und der Rahmenvereinbarung fallen. |
45 |
Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 1999/70 und die Rahmenvereinbarung dahin auszulegen sind, dass sie weder auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Leiharbeitsunternehmen noch auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem entleihenden Unternehmen anwendbar sind. |
Zur zweiten und zur dritten Frage
46 |
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten. |
Kosten
47 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt: |
Die Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge und die am 18. März 1999 geschlossene Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang dieser Richtlinie sind dahin auszulegen, dass sie weder auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Leiharbeitsunternehmen noch auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem entleihenden Unternehmen anwendbar sind. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.