SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
VERICA TRSTENJAK
vom 22. September 2011(1)
Rechtssache C‑411/10
N. S.
gegen
Secretary of State for the Home Department
(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal of England and Wales [Vereinigtes Königreich])
„Verordnung Nr. 343/2003 – Überstellung von Asylbewerbern an den für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat –Verpflichtung des überstellenden Mitgliedstaats zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 – Vereinbarkeit der Überstellung eines Asylbewerbers mit der Grundrechtecharta, der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention – Anwendungsbereich der Grundrechtecharta – Verhältnis zwischen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“
Inhaltsverzeichnis
I – Einleitung
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
1. Grundrechtecharta
2. Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich
3. Sekundärrecht
a) Verordnung Nr. 343/2003
b) Richtlinie 2001/55
c) Richtlinie 2003/9
d) Richtlinie 2004/83
e) Richtlinie 2005/85
B – Völkerrecht
1. Genfer Flüchtlingskonvention
2. Europäische Menschenrechtskonvention
III – Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
V – Vorbringen der Parteien
VI – Rechtliche Würdigung
A – Erste Vorlagefrage
B – Zweite, dritte und vierte Vorlagefrage
1. Die sekundärrechtlichen Asylmaßnahmen und deren Verhältnis zur Grundrechtecharta, zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur EMRK
a) Primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage
b) Richtlinien 2001/55, 2003/9, 2004/83 und 2005/85
c) Verordnung Nr. 343/2003
d) Zwischenergebnis
2. Die Überlastung des griechischen Asylsystems
3. Zur Berücksichtigung der Überlastung mitgliedstaatlicher Asylsysteme im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003
a) Vierte Vorlagefrage: die Pflicht zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 im Fall einer ernsthaft drohenden Grundrechtsverletzung bei der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat
i) Zur Problematik ernsthaft drohender Grundrechtsverletzungen bei der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat
ii) Zur Pflicht des Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
iii) Zwischenergebnis
b) Zweite und dritte Vorlagefrage: der Rückgriff auf unwiderlegbare Vermutungen im Kontext der Ausübung des Selbsteintrittrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
C – Fünfte Vorlagefrage: Verhältnis zwischen dem Schutz von Asylbewerbern unter der Grundrechtecharta und ihrem Schutz unter der EMRK
D – Sechste Vorlagefrage: gerichtliche Überprüfung der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK in dem gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat
1. Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta und die Gefahr einer Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der EMRK nach der Überstellung eines Asylbewerbers gemäß der Verordnung Nr. 343/2003
2. Unvereinbarkeit mit Art. 47 der Grundrechtecharta der unwiderlegbaren gerichtlichen Vermutung, dass dem Asylbewerber in dem primär zuständigen Mitgliedstaat keine mit der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. mit der EMRK unvereinbare Ausweisung in einen anderen Staat droht
E – Siebte Vorlagefrage
VII – Ergebnis
I – Einleitung
1. Eine der größten Herausforderungen beim Aufbau des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist die gerechte, aber zugleich auch wirksame Verteilung der mit der Immigration einhergehenden Belastung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, mit dem das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Aufklärung darüber ersucht, in welcher Weise sich die Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems auf die Unionsregelung zur Bestimmung der für in der Union eingereichten Asylanträge zuständigen Mitgliedstaaten auswirkt.
2. Die Kriterien zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für einen in der Union eingereichten Asylantrag zuständig ist, ergeben sich aus der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist(2). Ein wesentliches Merkmal des mit dieser Verordnung eingeführten Systems zur Verteilung der Zuständigkeiten in Asylsachen ist, dass für jeden in der Union eingereichten Asylantrag grundsätzlich nur ein Mitgliedstaat zuständig ist. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, der nach der Verordnung Nr. 343/2003 für die Prüfung dieses Antrags nicht primär zuständig ist, sieht diese Verordnung Verfahren für die Überstellung des Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat vor.
3. Im Licht der aktuellen Krise, in der sich das griechische Asylsystem befindet, stellt sich für die übrigen Mitgliedstaaten allerdings die Frage, ob Asylbewerber gemäß den Vorgaben der Verordnung Nr. 343/2003 zwecks Prüfung ihrer Asylanträge nach Griechenland überstellt werden dürfen, wenn eine der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta) und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entsprechende Behandlung dieser Asylbewerber und Prüfung ihrer Anträge in Griechenland nicht gewährleistet werden können. Weil Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 den Mitgliedstaaten das Recht gewährt, in Abweichung von den normalen Zuständigkeitsregeln die Prüfung eines in ihrem Hoheitsgebiet eingereichten Asylantrags anstelle des primär zuständigen Mitgliedstaats zu übernehmen, stellt sich zudem die Frage, ob sich dieses sogenannte „Selbsteintrittrecht“ der Mitgliedstaaten zu einer „Selbsteintrittpflicht“ verdichten kann, wenn dem Asylbewerber im Fall seiner Überstellung zu dem primär zuständigen Mitgliedstaat die Verletzung seiner Grund- und Menschenrechte droht.
4. Über diese Fragen hat das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu befinden, in dem sich ein afghanischer Asylbewerber gegen eine Rückführung aus dem Vereinigten Königreich nach Griechenland zur Wehr setzt. Vor diesem Hintergrund fragt das vorlegende Gericht im Wesentlichen, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen das Vereinigte Königreich in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens unionsrechtlich gehalten sein kann, selbst in die Prüfung von Asylanträgen einzutreten, obwohl gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 für diese Prüfung Griechenland primär zuständig ist.
5. Weil der Grundrechtecharta in diesem Zusammenhang eine besondere Relevanz zukommt, ersucht das vorlegende Gericht ebenfalls um Aufklärung über Inhalt und Reichweite des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich.
6. Bei der Beantwortung der Vorlagefragen ist zudem das – nach Einreichung des Vorabentscheidungsurteils ergangene – Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland(3), des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu berücksichtigen, in dem der EGMR die Überstellung eines afghanischen Asylbewerbers von Belgien nach Griechenland als einen Verstoß Belgiens gegen Art. 3 und Art. 13 EGMR gewertet hat.
7. Darüber hinaus weist die vorliegende Rechtssache einen engen Zusammenhang mit der Rechtssache C-493/10, M. E. u. a., auf, in der ich meine Schlussanträge am selben Tag wie die in der vorliegenden Rechtssache verlese. In der Rechtssache M. E. u. a. steht die Problematik der Überstellung von Asylbewerbern von Irland nach Griechenland gemäß den Vorgaben der Verordnung Nr. 343/2003 im Mittelpunkt, und diese Rechtssache ist mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs mit der vorliegenden Rechtssache zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit lege ich in der vorliegenden Rechtssache und in der Rechtssache M. E. u. a. jedoch getrennte Schlussanträge vor.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
1. Grundrechtecharta
8. Art. 1 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Würde des Menschen“:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“
9. Art. 4 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
10. Art. 18 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Asylrecht“:
„Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistet.“
11. Art. 19 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung“:
„(1) Kollektivausweisungen sind nicht zulässig.
(2) Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“
12. Art. 47 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“
13. Art. 51 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Anwendungsbereich“:
„(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.
(2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“
14. Art. 52 der Grundrechtecharta bestimmt unter der Überschrift „Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“:
„(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
(2) Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, erfolgt im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen.
(3) Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.
…
(7) Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“
2. Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich
15. Das Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt ist (im Folgenden: Protokoll Nr. 30), zählt zwei Artikel, die wie folgt lauten:
„Artikel 1
(1) Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.
(2) Insbesondere – und um jeden Zweifel auszuräumen – werden mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat.
Artikel 2
Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, so findet diese Bestimmung auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw. des Vereinigten Königreichs anerkannt sind.“
3. Sekundärrecht
16. Auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere ist der Europäische Rat übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) stützt, wodurch der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und sichergestellt wird, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er der Verfolgung ausgesetzt ist. Auf dieser Sondertagung hat der Europäische Rat zudem bekräftigt, dass in der Frage des vorübergehenden Schutzes für Vertriebene auf der Grundlage der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten Einvernehmen erzielt werden muss.
17. Zur Umsetzung der Schlussfolgerungen von Tampere wurden u. a. folgende Verordnung und folgende Richtlinien erlassen(4):
– Verordnung Nr. 343/2003,
– Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten(5),
– Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten(6),
– Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(7),
– Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft(8).
18. Im Einzelnen sehen diese Verordnung und diese Richtlinien Folgendes vor.
a) Verordnung Nr. 343/2003
19. In ihrem Art. 1 legt die Verordnung Nr. 343/2003 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen.
20. Art. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.
(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Asylbewerber nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften unter Wahrung der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention in einen Drittstaat zurück- oder auszuweisen.
(4) Der Asylbewerber wird schriftlich und in einer ihm hinreichend bekannten Sprache über die Anwendung dieser Verordnung, ihre Fristen und ihre Wirkung unterrichtet.“
21. Art. 4 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:
„(1) Das Verfahren zur Bestimmung des gemäß dieser Verordnung zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald ein Asylantrag erstmals in einem Mitgliedstaat gestellt wurde.
(2) Ein Asylantrag gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Asylbewerber eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Asylantrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.
…“
22. Art. 5 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:
„(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.
(2) Bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.“
23. Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:
„(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.
(2) Ist ein Mitgliedstaat nicht oder gemäß Absatz 1 nicht länger zuständig und wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen festgestellt, dass der Asylbewerber – der illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist oder bei dem die Umstände der Einreise nicht festgestellt werden können – sich zum Zeitpunkt der Antragstellung zuvor während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig.
Hat der Asylbewerber sich für Zeiträume von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo dies zuletzt der Fall war, für die Prüfung des Asylantrags zuständig.“
24. Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:
„Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“
25. Art. 16 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:
„(1) Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:
a) einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 17 bis 19 aufzunehmen;
b) die Prüfung des Asylantrags abzuschließen;
…
(3) Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels.
…“
26. Art. 17 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:
„(1) Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen.
Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der Frist von drei Monaten unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung des Asylantrags zuständig.
…“
27. Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:
„(1) Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten, nachdem er mit dem Gesuch befasst wurde.
…
(7) Wird innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Absatz 1 bzw. der Frist von einem Monat gemäß Absatz 6 keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.“
28. Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:
„(1) Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.
(2) Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.
(3) Die Überstellung des Antragstellers von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat.
…
(4) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist.
…“
b) Richtlinie 2001/55
29. Nach ihrem Art. 1 ist es das Ziel der Richtlinie 2001/55, Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, festzulegen und eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten zu fördern.
30. Laut Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/55 bezeichnet der Ausdruck „vorübergehender Schutz“ ein ausnahmehalber durchzuführendes Verfahren, das im Fall eines Massenzustroms oder eines bevorstehenden Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, diesen Personen sofortigen, vorübergehenden Schutz garantiert, insbesondere wenn auch die Gefahr besteht, dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht ohne Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die betroffenen Personen oder andere um Schutz nachsuchende Personen auffangen kann.
31. Kapitel II der Richtlinie 2001/55 enthält Regelungen zur Dauer und Durchführung des vorübergehenden Schutzes. Kapitel III betrifft die Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Personen, die vorübergehenden Schutz genießen. Kapitel IV der Richtlinie regelt den Zugang zum Asylverfahren der Personen, die vorübergehenden Schutz genießen. Kapitel V der Richtlinie betrifft die Rückkehr der betroffenen Personen sowie die Maßnamen nach Ablauf des vorübergehenden Schutzes. Kapitel VI betrifft die Verteilung der Lasten und der Aufgaben zwischen den Mitgliedstaaten, die im Zeichen der Unionssolidarität steht.
c) Richtlinie 2003/9
32. Nach ihrem Art. 1 bezweckt die Richtlinie 2003/9 die Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten.
33. Die in der Richtlinie 2003/9 festgesetzten Mindestnormen betreffen Informationspflichten der Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den Asylbewerbern (Art. 5), die Ausstattung von Asylbewerbern mit Dokumenten (Art. 6), den Wohnsitz und die Bewegungsfreiheit der Asylbewerber (Art. 7), die Wahrung der Einheit der Familie der Asylbewerber (Art. 8), die Grundschulerziehung und die weiterführende Bildung Minderjähriger (Art. 10), den Zugang der Asylbewerber zum Arbeitsmarkt (Art. 11) und deren berufliche Bildung (Art. 12) sowie die materiellen Aufnahmebedingungen und die Gesundheitsversorgung der Asylbewerber (Art. 13 ff.).
34. Art. 21 der Richtlinie 2003/9 bestimmt unter der Überschrift „Rechtsmittel“:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass gegen abschlägige Entscheidungen im Zusammenhang mit der Gewährung von Zuwendungen gemäß dieser Richtlinie oder gegen Entscheidungen gemäß Artikel 7, die Asylbewerber individuell betreffen, Rechtsmittel nach den in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren eingelegt werden können. Zumindest in der letzten Instanz ist die Möglichkeit einer Berufung oder einer Revision vor einem Gericht zu gewähren.
(2) Die Verfahren für den Zugang zu Rechtsbeistand in solchen Fällen werden im einzelstaatlichen Recht vorgesehen.“
35. Gemäß Art. 23 der Richtlinie 2003/9 gewährleisten die Mitgliedstaaten unter gebührender Wahrung ihrer verfassungsrechtlichen Struktur eine geeignete Lenkung, Überwachung und Steuerung des Niveaus der Aufnahmebedingungen. Gemäß Art. 24 Abs. 2 stellen sie zudem die Ressourcen bereit, die im Zusammenhang mit den nationalen Durchführungsvorschriften zu dieser Richtlinie erforderlich sind.
d) Richtlinie 2004/83
36. Nach Art. 1 der Richtlinie 2004/83 ist das Ziel dieser Richtlinie die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie des Inhalts des zu gewährenden Schutzes.
37. Kapitel II, III und V der Richtlinie 2004/83 enthalten eine Reihe von Vorgaben und Kriterien hinsichtlich der Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Gewährung von subsidiärem Schutz sowie hinsichtlich der Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen als Flüchtling oder als Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz. Kapitel IV enthält einerseits die Feststellung, dass die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen (Art. 13). Andererseits bestimmt dieses Kapitel die Modalitäten für die Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 14). Kapitel VI enthält die entsprechenden Vorgaben zur Zuerkennung (Art. 18) sowie zur Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung des subsidiären Schutzstatus (Art. 19). Kapitel VII bestimmt den Inhalt des internationalen Schutzes, der u. a. den Schutz vor Zurückweisung (Art. 21) enthält. Kapitel VIII regelt Fragen der Verwaltungszusammenarbeit. Nach Art. 36 tragen die Mitgliedstaaten u. a. dafür Sorge, dass die Behörden und Organisationen, die diese Richtlinie durchführen, die nötige Ausbildung erhalten haben.
e) Richtlinie 2005/85
38. Nach Art. 1 der Richtlinie 2005/85 legt diese Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft fest.
39. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 gilt diese für alle Asylanträge, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Laut Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 benennen die Mitgliedstaaten für alle Verfahren eine Asylbehörde, die für eine angemessene Prüfung der Anträge gemäß dieser Richtlinie zuständig ist.
40. Die Grundsätze, die diese Verfahren prägen, sowie die Garantien, die den Asylbewerbern in diesem Zusammenhang zu gewähren sind, werden in Kapitel II der Richtlinie 2005/85 festgelegt. Konkrete Vorgaben für die Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft enthält Kapitel III der Richtlinie, in dem auch das Konzept des sicheren Drittstaats (Art. 27) bzw. des sicheren Herkunftsstaats (Art. 31) eingeführt wird. In Kapitel V wird das Recht des Asylbewerbers auf einen wirksamen Rechtsbehelf normiert (Art. 39).
B – Völkerrecht
1. Genfer Flüchtlingskonvention
41. Laut Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention wird keiner der vertragsschließenden Staaten einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht wäre.
2. Europäische Menschenrechtskonvention
42. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
43. Nach Art. 13 EMRK hat jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
III – Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen
44. Im Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht über ein Rechtsmittel zu entscheiden, das ein afghanischer Asylbewerber (im Folgenden: Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens) gegen eine Entscheidung des High Court (England and Wales), Queen’s Bench Division, Administrative Court (im Folgenden: Administrative Court) eingelegt hat, mit dem sich der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens gegen seine Überstellung durch das Vereinigte Königreich nach Griechenland zur Wehr setzt. Der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens, der Secretary of State for Home Department, ist der Minister, der im Vereinigten Königreich für Einwanderung und Asyl zuständig ist.
45. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens hat auf seiner Reise von Afghanistan in das Vereinigte Königreich u. a. Griechenland durchquert, wo er am 24. September 2008 verhaftet wurde und von ihm Fingerabdrücke genommen wurden. Er stellte in Griechenland keinen Asylantrag. Nach seiner Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat wurde er zur Ausreise aus Griechenland innerhalb von 30 Tagen aufgefordert und nachfolgend in die Türkei abgeschoben. Nachdem er aus der Haft in der Türkei geflohen war, reiste er in das Vereinigte Königreich, wo er am 12. Januar 2009 eintraf und am selben Tag einen Asylantrag stellte.
46. Am 1. April 2009 ersuchte der Secretary of State gemäß den Vorgaben der Verordnung Nr. 343/2003 Griechenland um Aufnahme des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens. Da die griechischen Behörden hierauf nicht innerhalb der in der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmten Frist geantwortet hatten, war davon auszugehen, dass Griechenland seine Zuständigkeit nach der Verordnung für die Prüfung des Asylantrags anerkannt hatte.
47. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens wurde am 30. Juli 2009 darüber informiert, dass er am 6. August 2009 nach Griechenland überstellt werde. Am 31. Juli 2009 teilte der Secretary of State dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens in einer Entscheidung nach dem Asylum and Immigration (Treatment of Claimants, etc.) Act 2004 mit, dass seine Beschwerde wegen Verletzung seiner Rechte nach der EMRK durch die Überstellung nach Griechenland offensichtlich unbegründet sei. Folge dieser Entscheidung war, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nach nationalem Recht keine Möglichkeit hatte, gegen die Entscheidung seiner Überstellung nach Griechenland Rechtsmittel einzulegen, wozu er andernfalls berechtigt gewesen wäre.
48. Nach einem erfolglosen Antrag an den Secretary of State auf Übernahme der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, der u. a. damit begründet wurde, dass eine Rückführung nach Griechenland seine Grundrechte nach Unionsrecht verletzen würde, wurde dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens am 4. August 2009 mitgeteilt, dass der Secretary of State die Entscheidung über die Überstellung nach Griechenland aufrechterhalte.
49. Am 6. August 2009 beantragte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die Zulassung der Klage auf gerichtliche Überprüfung zum einen der Entscheidung, mit der seine auf die EMRK gestützte Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen worden war, und zum anderen der Entscheidung seiner Überstellung nach Griechenland. Auf diesen Antrag hin wurden die zu seiner Überstellung nach Griechenland ergangenen Verfügungen vom Secretary of State aufgehoben.
50. Aufgrund der Bedeutung der streitgegenständlichen Fragen wurde der Antrag des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens auf gerichtliche Überprüfung durch den Administrative Court mit Entscheidung vom 14. Oktober 2009 zugelassen und das Verfahren zum Musterverfahren in England und Wales für Rückführungen nach Griechenland nach der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt.
51. Mit Urteil vom 31. März 2010 wurde die Klage des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens vom Administrative Court abgewiesen, jedoch wegen der allgemeinen Bedeutung der Sache ein Rechtsmittel zum vorlegenden Gericht zugelassen.
52. Das vorlegende Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Behandlung des Rechtsmittels grundlegende Fragen zum Anwendungsbereich von Art. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 sowie zu den Auswirkungen aufwirft, die auf diese Vorschrift von den Rechten ausgehen, die vom Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nach der Grundrechtecharta und nach internationalen Übereinkommen wie der EMRK geltend gemacht werden.
53. Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht das Ausgangsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Fällt die Entscheidung eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates (im Folgenden: Verordnung) darüber, ob er einen Asylanspruch prüft, der nach den in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt, in den Anwendungsbereich des EU‑Rechts im Sinne von Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union und/oder Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union?
Wenn Frage 1 zu bejahen ist:
2. Ist die Verpflichtung eines Mitgliedstaats zur Beachtung der Grundrechte der EU (einschließlich der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta festgelegten Rechte) erfüllt, wenn dieser Staat den Asylbewerber dem Mitgliedstaat überstellt, der nach Art. 3 Abs. 1 gemäß den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmt worden ist (im Folgenden: zuständiger Mitgliedstaat), ohne dass es auf die in dem zuständigen Mitgliedstaat herrschenden Verhältnisse ankommt?
3. Schließt insbesondere die Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte der EU die Anwendung der unwiderlegbaren Vermutung dafür aus, dass der zuständige Mitgliedstaat die (i) Grundrechte des Antragstellers nach dem EU-Recht und/oder (ii) die Mindestnormen beachten wird, die nach den Richtlinien 2003/9/EG (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), 2004/83/EG (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) und/oder 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie) (im Folgenden zusammen: Richtlinien) einzuhalten sind?
4. Ist, hilfsweise, ein Mitgliedstaat nach EU-Recht verpflichtet – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen –, von seiner Befugnis nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung, einen Asylantrag zu prüfen und in seine Zuständigkeit zu übernehmen, Gebrauch zu machen, wenn der Rechtsmittelführer im Fall seiner Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer Verletzung seiner Grundrechte, insbesondere der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und/oder 47 der Charta festgelegten Rechte, und/oder der Gefahr ausgesetzt wäre, dass die Mindestnormen nach den Richtlinien auf ihn keine Anwendung finden?
5. Reicht der Schutz, der einer Person, auf die die Verordnung anwendbar ist, aufgrund der allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts und insbesondere der Rechte nach den Art. 1, 18 und 47 der Charta zuteil wird, weiter als der Schutz nach Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention)?
6. Ist es mit den Rechten nach Art. 47 der Charta vereinbar, wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts die Gerichte bei der Prüfung, ob eine Person einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig nach der Verordnung überstellt werden kann, verpflichtet, diesen Mitgliedstaat als einen Staat zu behandeln, aus dem die Person nicht unter Verletzung ihrer Rechte nach der Konvention oder nach dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in einen anderen Staat überstellt werden wird?
7. Ist, soweit die vorstehenden Fragen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs betreffen, bei der Beantwortung der Fragen 2 bis 6 das Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich zu berücksichtigen?
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
54. Die Vorlageentscheidung mit Datum vom 12. Juli 2010 ist am 18. August 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. In seiner Vorlageentscheidung hat das vorlegende Gericht gemäß Art. 104b Abs. 1 der Verfahrensordnung beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen. Mit einem Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 1. Oktober 2010 wurde dieser Antrag abgelehnt.
55. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. November 2010 sind die Rechtssachen C-411/10 und C‑493/10 zu gemeinsamem schriftlichen Verfahren und mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. Mai 2011 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
56. Im schriftlichen Verfahren haben der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, Amnesty International Limited und das AIRE (Advice on Individual Rights in Europe) Centre, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge und die Equality and Human Rights Commission als Streithelfer des Ausgangsverfahrens, das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Finnland, die Französische Republik, die Hellenische Republik, die Republik Irland, die Italienische Republik, das Königreich der Niederlande, die Republik Österreich, die Republik Polen, das Vereinigte Königreich, die Tschechische Republik, die Schweizerische Eidgenossenschaft sowie die Europäische Kommission Erklärungen eingereicht. An der Sitzung vom 28. Juni 2011 haben die Vertreter des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens, von Amnesty International Limited und dem AIRE (Advice on Individual Rights in Europe) Centre, des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge und der Equality and Human Rights Commission, der Republik Slowenien, der Republik Frankreich, der Republik Griechenland, der Republik Irland, des Königreichs der Niederlande, der Republik Polen, des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission teilgenommen.
V – Vorbringen der Parteien
57. Die erste Vorlagefrage, die dahin geht, ob die Entscheidung eines Mitgliedstaats, gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 einen Asylantrag zu prüfen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist nach Auffassung der Kommission, der finnischen, der französischen und der niederländischen Regierung, des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens, des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, von Amnesty International Limited und dem AIRE Centre sowie der Equality and Human Rights Commission zu bejahen. Auch nach Auffassung der österreichischen Regierung sind die Unionsgrundrechte auf die Entscheidung eines Mitgliedstaates, ob er sein Selbsteintrittrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ausübt, anwendbar.
58. Nach Auffassung der irischen und der italienischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der belgischen Regierung fällt die Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 hingegen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die belgische Regierung nuanciert ihre Aussage jedoch erheblich, indem sie darauf hinweist, dass die Überstellung eines Asylbewerbers nach dem gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat sehr wohl in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle.
59. Die tschechische Regierung unterscheidet bei der Beantwortung der ersten Frage zwischen dem Fall, dass ein Mitgliedstaat das Selbsteintrittrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ausübt, und dem Fall, in dem er dies nicht tut. Nur die Entscheidung, das Selbsteintrittrecht nach Art. 3 Abs. 2 auszuüben, falle dabei in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Nichtausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 falle hingegen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.
60. Die deutsche Regierung äußert sich nicht ausdrücklich zur ersten Vorlagefrage und beantwortet die weiteren Vorlagefragen für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Ausübung des Ermessens in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Grundrechtecharta anzusehen sei.
61. Bei der Beantwortung der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage stehen die Kommission, die finnische, die französische, die deutsche und die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs(9) sowie die belgische Regierung, der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens und der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge im Wesentlichen auf dem Standpunkt, dass im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der widerlegbaren Vermutung ausgegangen werden dürfe, dass der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Mitgliedstaat unions- und völkerrechtskonform handele. Soweit in einem konkreten Fall jedoch feststehen sollte, dass die Überstellung des Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat bzw. die Behandlung des Asylbewerbers in diesem Mitgliedstaat gegen die in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte des Asylbewerbers verstoßen würden, ist der überstellende Mitgliedstaat nach Auffassung der Kommission, der finnischen, der französischen und der belgischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs, des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens, des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Amnesty International Limited und des AIRE Centre zur Ausübung seines Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet. Nach Auffassung der deutschen und der niederländischen Regierung darf ein Asylbewerber in einem solchen Fall nicht mehr in den primär zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden.
62. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hebt zudem hervor, dass eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nur unter außergewöhnlichen Umständen entstehen könne, nämlich wenn die Vermutung des menschenrechts- und unionsrechtskonformen Handelns des zuständigen Mitgliedstaats hinsichtlich einer bestimmten Kategorie von Asylbewerbern eindeutig widerlegt worden sei und der Asylbewerber dieser Kategorie unterfalle.
63. Nach Auffassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft(10) enthält die Verordnung Nr. 343/2003 systemimmanent eine widerlegbare Vermutung, dass die daran beteiligten Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention und die EMRK einhalten. Wenn diese Vermutung jedoch in einem konkreten Fall widerlegt sei und eine völkerrechtskonforme Behandlung des Asylbewerbers in dem zuständigen Staat nicht garantiert sei, sei eine Überstellung an diesen Staat ausgeschlossen und werde das Selbsteintrittrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ausnahmsweise zur Pflicht.
64. Nach Auffassung der italienischen, der irischen, der polnischen, der slowenischen und der griechischen Regierung lässt sich hingegen aus Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 keine Pflicht zur Ausübung des Selbsteintrittrechts folgern. Nach Auffassung der griechischen, der slowenischen und der polnischen Regierung ist es darüber hinaus unionsrechtlich ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat die Unionsrechtskonformität des Handelns eines anderen Mitgliedstaats überprüfen würde.
65. In Beantwortung der fünften Frage tragen die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die italienische und die niederländische Regierung vor, dass der Schutz, der einer Person, auf die die Verordnung Nr. 343/2003 anwendbar sei, aufgrund der Rechte nach den Art. 1, 18 und 47 der Grundrechtecharta zuteil werde, nicht weiter sei als der Schutz nach Art. 3 EMRK. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, die Equality and Human Rights Commission, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Amnesty International Limited und das AIRE Centre tragen hingegen vor, dass der Schutz eines zu überstellenden Asylbewerbers aufgrund der Grundrechtecharta und der allgemeinen Unionsrechtsgrundsätze über den durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Schutz hinausgehe.
66. Nach Auffassung der deutschen Regierung entsprechen die Unionsgrundrechte aus den Art. 4 und 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta dem Grundrecht aus Art. 3 EMRK. Art. 18 der Grundrechtecharta enthalte einen Anspruch nicht auf Asylgewährleistung, sondern auf Abschiebungsschutz entsprechend Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Art. 47 der Grundrechtecharta habe insofern einen weiteren Anwendungsbereich als die Art. 6 und 13 EMRK, als Abs. 1 einen gerichtlichen Rechtsbehelf erfordere und Abs. 2 sich nicht auf zivil- und strafrechtliche Verfahren beschränke.
67. In Beantwortung der sechsten Frage tragen die Kommission, die niederländische Regierung, der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Amnesty International Limited und das AIRE Centre vor, dass eine nationale Regelung, nach der unwiderlegbar vermutet werde, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Staat sei, aus dem Asylbewerber nicht unter Verletzung ihrer Rechte nach der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention an einen anderen Staat überstellt würden, mit Art. 47 der Grundrechtecharta unvereinbar sei. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hebt hervor, dass diese Vermutung nur im Fall von offensichtlichen Verstößen gegen die Grund- und Menschenrechte als widerlegt gelten dürfe. Die italienische Regierung ist hingegen der Auffassung, dass eine im nationalen Recht geltende unwiderlegbare Vermutung, nach der die anderen Mitgliedstaaten sichere Staaten seien, mit Art. 47 der Grundrechtecharta vereinbar sei.
68. In Beantwortung der siebten Frage tragen die Kommission, die polnische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs, der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, die Equality and Human Rights Commission, Amnesty International Limited und das AIRE Centre vor, dass sich die Bestimmungen des Protokolls Nr. 30 nicht auf die von ihnen vorgeschlagene Beantwortung der Vorlagefragen auswirkten.
VI – Rechtliche Würdigung
A – Erste Vorlagefrage
69. Mit seiner ersten Frage, ob die Entscheidung eines Mitgliedstaats, in Ausübung seines in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Selbsteintrittrechts anstelle des primär zuständigen Mitgliedstaats einen Asylantrag zu prüfen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Grundrechtecharta fällt, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Ausübung ihres Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 die Bestimmungen der Grundrechtecharta zu beachten haben(11).
70. Für die Beantwortung dieser Frage ist von Art. 6 Abs. 1 EUV auszugehen, der die Grundrechtecharta als primäres Unionsrecht einordnet (Unterabs. 1) und zugleich feststellt, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Grundrechtecharta in keiner Weise erweitert werden (Unterabs. 2). Für die konkrete Auslegung und Anwendung der Grundrechtecharta verweist Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV auf Titel VII (Art. 51 bis 54) der Grundrechtecharta.
71. Art. 51 der Grundrechtecharta legt den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta fest. In dieser Bestimmung wird einerseits bestätigt, dass die Grundrechtecharta sowohl für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union als auch für die Mitgliedstaaten gilt. Andererseits wird sichergestellt, dass die Grundrechtsbindung der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten weder zu einer Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten noch zu einer Ausdehnung des Geltungsbereichs des Unionsrechts über die in den Verträgen festgelegten Unionszuständigkeiten hinaus führt(12).
72. Um eine Zuständigkeitserweiterung der Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten auszuschließen, sieht Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta insbesondere vor, dass
– die Anwendung der Grundrechtecharta das Subsidiaritätsprinzip nicht einschränkt (Art. 51 Abs. 1 Satz 1),
– die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Charta gebunden sind (Art. 51 Abs. 1 Satz 1),
– die Beachtung und Anwendung der Charta unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten erfolgt, die der Union in den Verträgen übertragen werden (Art. 51 Abs. 1 Satz 2).
73. Zusätzlich enthält Art. 51 Abs. 2 der Grundrechtecharta die allgemeine Feststellung, dass die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt und weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet noch die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben ändert.
74. Vor diesem Hintergrund knüpft das vorlegende Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage bei der in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Grundrechtecharta festgelegten Voraussetzung an, dass die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Grundrechtecharta gebunden sind. Dabei fragt es, ob die Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung „Unionsrecht durchführen“, wenn sie in Ausübung des ihnen nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zustehenden Ermessens darüber entscheiden, ob sie einen Asylantrag anstelle des primär zuständigen Mitgliedstaats prüfen oder nicht.
75. Meiner Auffassung nach ist diese Frage zu bejahen.
76. Wie aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (im Folgenden: GRC‑Erläuterungen)(13) hervorgeht, ist die Regel des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Grundrechtecharta, nach der die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Grundrechtecharta gebunden sind, als eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte durch die Mitgliedstaaten zu verstehen. In den GRC-Erläuterungen wird dabei ausdrücklich auf die Grundsatzentscheidungen Wachauf(14) und ERT(15) sowie auf das Urteil Karlsson verwiesen(16).
77. Im Urteil Wachauf hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Unionsrechtsordnung bei der Durchführung von unionsrechtlichen Regelungen zu beachten haben und diese deshalb, soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden müssen(17). Im Urteil ERT hat der Gerichtshof darüber hinaus festgestellt, dass auch die von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Einschränkungen der Grundfreiheiten die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Unionsrechtsordnung erfüllen müssen(18).
78. Unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass in den GRC‑Erläuterungen sowohl auf die Wachauf-Rechtsprechungslinie als auch auf die ERT-Rechtsprechungslinie Bezug genommen wird, ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta sowohl im Rahmen der Durchführung unionsrechtlicher Regelungen als auch im Kontext nationaler Einschränkungen der Grundfreiheiten an die Grundrechtecharta gebunden sind(19).
79. Vorliegend stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Entscheidung eines Mitgliedstaats darüber, gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 einen Asylantrag zu prüfen, für die Zwecke des Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta und unter Berücksichtigung der Wachauf‑Rechtsprechungslinie als eine mitgliedstaatliche Durchführungshandlung der Verordnung Nr. 343/2003 einzuordnen ist.
80. Meiner Auffassung nach ist diese Frage zu bejahen. Der Ermessensspielraum, der dem Mitgliedstaat bei dieser Entscheidung zusteht, steht einer solchen Einordnung nicht entgegen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Verordnung Nr. 343/2003 eine abschließende Regelung zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats vorsieht. Die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, Asylanträge gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu prüfen, ist integraler Bestandteil dieser Regelung, was u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass die Verordnung die Rechtsfolgen einer solchen Entscheidung umfassend regelt(20). Demnach sind auch die Entscheidungen, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 treffen, trotz des ihnen zustehenden Ermessens als Durchführungshandlungen zu dieser Verordnung zu werten.
81. Bestätigung findet diese Analyse im Urteil Wachauf(21), in dem der Gerichtshof u. a. die Vereinbarkeit einzelner Bestimmungen der Verordnung Nr. 1371/84(22) mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes in der Unionsrechtsordnung geprüft hat. Die Verordnung Nr. 1371/84 ermächtigte die Mitgliedstaaten dazu, dem Pächter eines milcherzeugenden Betriebs nach Ablauf des Pachtverhältnisses unter bestimmten Umständen eine Vergütung für die endgültige Aufgabe der Milcherzeugung zukommen zu lassen. Im Ausgangsverfahren klagte ein Pächter, weil ihm eine solche Vergütung verweigert worden war, obwohl er den von ihm aufgebauten Milcherzeugungsbetrieb endgültig eingestellt hatte. Vor diesem Hintergrund hatte der Gerichtshof u. a. darüber zu urteilen, ob sich diese Weigerung zur Gewährung einer Vergütung zwingend aus der Verordnung Nr. 1371/84 ergab und ob sie mit den – als allgemeinen Rechtsgrundsätzen anerkannten – Unionsgrundrechten im Einklang stand. In seinem Urteil hob der Gerichtshof einerseits hervor, dass die Weigerung zur Gewährung der in Rede stehenden Vergütung an einen ausscheidenden Pächter als eine Verletzung der Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Unionsrechtsordnung zu werten wäre, wenn er dadurch entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm in dem verpachteten Betrieb vorgenommenen Investitionen gebracht würde(23). Weil die Verordnung Nr. 1371/84 den Mitgliedstaaten jedoch ein ausreichendes Ermessen ließ, um den Pächtern gerade in solchen Fällen eine mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes im Einklang stehende angemessene Vergütung zu gewähren, war die in der Verordnung enthaltene Regelung nach Auffassung des Gerichtshofs im Ergebnis als grundrechtskonform zu werten(24).
82. Wenngleich sich der Gerichtshof im Urteil Wachauf an erster Stelle mit der Grundrechtskonformität der in Rede stehenden Verordnung befasst, hat er zumindest implizit bestätigt, dass auch die mitgliedstaatlichen Entscheidungen über die Gewährung einer Vergütung an ausscheidende Pächter, die von den nationalen Behörden in Ausübung des durch die Verordnung Nr. 1371/84 gewährten Ermessens getroffen werden, soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes stehen müssen. Damit hat der Gerichtshof zugleich bestätigt, dass auch Entscheidungen, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des ihnen im Rahmen einer Unionsregelung zustehenden Ermessens treffen, für die Zwecke des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes als Durchführungshandlungen dieser Unionsregelung zu werten sind(25).
83. Nach alledem ist die erste Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 darüber, ob er einen Asylanspruch prüft, der nach den in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt, eine Handlung zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta darstellt.
B – Zweite, dritte und vierte Vorlagefrage
84. Aus meinen obigen Überlegungen geht hervor, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Entscheidung, gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 einen Asylantrag zu prüfen, für den nach den in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien primär ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, die Grundrechtecharta zu beachten haben. Mit der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht im Wesentlichen, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen die Mitgliedstaaten im Licht dieses Gebots der Beachtung der Grundrechtecharta dazu verpflichtet sein können, ihr Selbsteintrittrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben, wenn feststehen sollte, dass der Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an den primär zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer Verletzung seiner Grundrechte bzw. der Gefahr ausgesetzt wäre, dass dieser Mitgliedstaat seine Verpflichtungen gemäß den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 nicht einhalten würde.
85. Das vorlegende Gericht stellt diese Fragen, weil ihm deutliche Hinweise darauf vorliegen, dass die unionsrechtlichen Vorgaben für Griechenland hinsichtlich der Ausgestaltung seines Asylsystems einerseits und die konkrete Behandlung von Asylbewerbern in Griechenland andererseits weit auseinander klaffen, wobei im Fall einer Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland sogar eine Verletzung ihrer Grund- und Menschenrechte drohen könnte.
86. Für ein besseres Verständnis dieser Fragen werde ich zunächst auf die vorliegend relevanten sekundärrechtlichen Asylmaßnahmen sowie auf das Verhältnis dieser Maßnahmen zur Grundrechtecharta, zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur EMRK eingehen. Anschließend werde ich die Probleme erörtern, mit denen sich das griechische Asylsystem aktuell konfrontiert sieht. Sodann werde ich mich der Frage zuwenden, in welcher Weise die Überlastung des griechischen Asylsystems von den anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 berücksichtigt werden muss.
1. Die sekundärrechtlichen Asylmaßnahmen und deren Verhältnis zur Grundrechtecharta, zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur EMRK
a) Primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage
87. Die Ausweitung der Unionszuständigkeiten auf Asyl- und Flüchtlingsfragen erfolgte im Amsterdamer Vertrag von 1997, mit dem Rechtsetzungsbefugnisse in Bezug auf Asyl, Flüchtlinge, Einwanderung und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen auf die Union übertragen wurden. Als primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage wurde dazu ein neuer Art. 73k in den EG-Vertrag eingefügt, der anschließend zu Art. 63 EG umnummeriert wurde.
88. Im Bereich des Asylrechts erfolgte die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Union unter dem in Art. 63 Abs. 1 EG festgeschriebenen Vorbehalt, dass die vom Unionsgesetzgeber zu beschließenden Asylmaßnahmen in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie mit den einschlägigen anderen Verträgen stehen müssen. Zu den „einschlägigen anderen Verträgen“ ist auch die EMRK zu rechnen(26). Darüber hinaus wurde in Art. 63 Abs. 1 EG ausdrücklich vorgegeben, dass sich die Harmonisierungsbefugnis im Asylrecht auf die Feststellung von Mindestnormen beschränkt(27).
b) Richtlinien 2001/55, 2003/9, 2004/83 und 2005/85
89. Auf der Grundlage dieser primärrechtlichen Ermächtigungsgrundlage hat der Unionsgesetzgeber vier Richtlinien mit Mindestnormen hinsichtlich verschiedener Aspekte der nationalen Asylsysteme erlassen. Als erste wurde die Richtlinie 2001/55 beschlossen, die u. a. Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Fall von Massenfluchtbewegungen vorsieht. Mit drei weiteren Richtlinien wurden gemeinsame Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern (Richtlinie 2003/9), für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Richtlinie 2004/83) und für die mitgliedstaatlichen Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Richtlinie 2005/85) in nahezu allen Mitgliedstaaten(28) eingeführt.
90. Entsprechend den primärrechtlichen Vorgaben des Art. 63 Abs. 1 EG, nach denen die auf dieser Grundlage erlassenen Sekundärrechtsakte die Genfer Flüchtlingskonvention achten müssen, wird in den Erwägungsgründen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 einhellig auf die Schlussfolgerung des Europäischen Rats von Tampere verwiesen, nach der das zu entwickelnde Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention gestützt sein soll(29). In den Erwägungsgründen dieser Richtlinien wird zudem hervorgehoben, dass diese die in der Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte und Grundsätze achten(30) und dass die Mitgliedstaaten bei der Behandlung der Personen, die unter den Geltungsbereich dieser Richtlinien fallen, durch die völkerrechtlichen Instrumente gebunden sind, deren Vertragsparteien sie sind(31).
91. Dementsprechend enthalten die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 erhebliche Mindeststandards bezüglich der Behandlung von Asylbewerbern und der Prüfung ihrer Anträge. Darüber hinaus sieht Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2003/9 ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten die Ressourcen bereitstellen müssen, die zur Erreichung der darin festgesetzten Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern erforderlich sind. In ähnlicher Weise sieht Art. 36 der Richtlinie 2004/83 vor, dass die Mitgliedstaaten Sorge dafür zu tragen haben, dass die Behörden und Organisationen, die diese Richtlinie durchführen, die nötige Ausbildung erhalten haben.
92. Vor diesem Hintergrund ist rechtlich sichergestellt, dass die Behandlung von Asylbewerbern sowie die Prüfung ihrer Anträge in den Mitgliedstaaten, die die Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 einhalten müssen, im Prinzip zugleich die Vorgaben der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der EMRK erfüllen(32).
c) Verordnung Nr. 343/2003
93. Ziel der – auf der Grundlage des Art. 63 Abs. 1 EG erlassenen – Verordnung Nr. 343/2003 ist laut ihrem dritten Erwägungsgrund die Einführung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines im Unionsgebiet(33) gestellten Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats. Diese Formel sollte laut dem vierten Erwägungsgrund auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren und eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Asylverfahren und eine zügige Bearbeitung der Asylanträge sicherzustellen.
94. Zur Verwirklichung dieser Zielsetzungen, mit denen ebenfalls ein forum shopping durch Asylbewerber vermieden werden sollte, sieht die Verordnung Nr. 343/2003 eine Regelung vor, nach der für die Prüfung eines in der Union gestellten Asylantrags nur ein Mitgliedstaat zuständig ist, der auf der Grundlage objektiver Kriterien ermittelt wird. Zu diesen objektiven Kriterien gehören beispielsweise das Bestehen einer asyl- oder ausländerrechtlichen Beziehung zwischen dem Asylbewerber oder einem Familienmitglied und einem Mitgliedstaat(34). Im Fall einer illegalen Einreise in das Unionsgebiet ist gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 der Mitgliedstaat der ersten Einreise für die Prüfung des Asylantrags zuständig(35). Der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Mitgliedstaat ist gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 343/2003 gehalten, den unter seiner Zuständigkeit fallenden Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, aufzunehmen und die Prüfung des Asylantrags abzuschließen(36). Das Verfahren für die Überstellung der Asylbewerber ist in den Art. 17 bis 19 der Verordnung Nr. 343/2003 festgesetzt.
95. Das in der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegte System zur Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats und zur Überstellung des Asylbewerbers an diesen Mitgliedstaat berücksichtigt eventuelle Unterschiede in der Ausgestaltung und in der Handhabung der Asylsysteme und Asylverfahren in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich. Weder im Kontext der Festsetzung der Kriterien zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats noch im Rahmen des Verfahrens für die Überstellung der Asylbewerber zwischen den Mitgliedstaaten wird auf die – zu erwartende – Behandlung des Asylbewerbers in dem für seinen Asylantrag primär zuständigen Mitgliedstaat konkret Bezug genommen.
96. Dieses Fehlen einer konkreten Bezugnahme auf die Behandlung des Asylbewerbers in dem primär zuständigen Mitgliedstaat erklärt sich aus dem Zusammenspiel der Verordnung Nr. 343/2003 mit den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 sowie aus dem Zusammenspiel dieser Verordnung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Weil die Behandlung von Asylbewerbern und die Prüfung ihrer Asylanträge gemäß diesen Richtlinien in jedem Mitgliedstaat beträchtlichen Mindeststandards genügen müssen und weil alle Mitgliedstaaten der EMRK sowie der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sind, ist rechtlich sichergestellt, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat die Vorgaben der Grundrechtecharta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK erfüllen muss(37).
97. Aus dieser Perspektive betrachtet stehen weder die Grundrechtecharta noch die Genfer Flüchtlingskonvention oder die EMRK dem System der Verordnung Nr. 343/2003 entgegen, die die Regeln zur Ermittlung des Mitgliedstaats, in dem Asylbewerber zwecks Prüfung ihrer Asylanträge aufzunehmen sind, sowie zur Überstellung der Asylbewerber an diesen Mitgliedstaat ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die konkrete Ausgestaltung und Handhabung des dortigen Asylsystems und der dortigen Asylverfahren festlegt(38).
d) Zwischenergebnis
98. Zusammenfassend ist nach alledem festzuhalten, dass die sekundärrechtlichen Vorgaben zur Behandlung von Asylbewerbern und zur Prüfung von Asylanträgen, die sich aus dem Zusammenspiel der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 und der Verordnung Nr. 343/2003 ergeben, sowohl in ihrer Zielsetzung als auch in ihrer rechtlichen Ausgestaltung grundsätzlich mit den Bestimmungen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK im Einklang stehen.
2. Die Überlastung des griechischen Asylsystems
99. Die Verordnung Nr. 343/2003 enthält keine ausdrückliche Regelung für den Fall, dass Mitgliedstaaten – z. B. aufgrund ihrer geografischen Lage – mit einer Zahl an Asylbewerbern konfrontiert sind, die die Kapazitäten ihres Asylsystems übersteigt, so dass sie eine den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 bzw. ihren grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen entsprechende Behandlung dieser Asylbewerber und Überprüfung ihrer Asylanträge rein faktisch nicht mehr gewährleisten können(39).
100. Eine solche Notsituation scheint in Griechenland eingetreten zu sein.
101. Einen deutlichen Hinweis darauf liefert das EGMR-Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland(40), in dem sich der EGMR mit dem Fall eines afghanischen Staatsangehörigen auseinandergesetzt hat, der illegal aus der Türkei über Griechenland in die Union eingereist war und anschließend in Griechenland verhaftet worden war. Ohne dort einen Asylantrag gestellt zu haben, verließ er nach seiner Freilassung Griechenland und beantragte letztlich in Belgien Asyl. Weil die belgische Ausländerbehörde nach Prüfung der Daten des afghanischen Asylbewerbers zu dem Ergebnis gekommen war, dass Griechenland aufgrund der illegalen Ersteinreise des Asylbewerbers gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 für die Prüfung seines Asylantrags zuständig war, leitete Belgien das Verfahren zur Überstellung des Asylbewerbers nach Griechenland gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 ein und überstellte ihn nach Abschluss dieses Verfahrens nach Griechenland. Vor seiner Überstellung hatte der afghanische Asylbewerber allerdings Beschwerde beim EGMR eingelegt.
102. In seinem Urteil stellte der EGMR fest, dass die Haft- und Lebensbedingungen des afghanischen Asylbewerbers in Griechenland als ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu werten seien. Unter Verweisung auf die Mängel bei der Prüfung des Asylantrags des Asylbewerbers, auf das Risiko einer direkten oder indirekten Zurückschiebung in sein Heimatland ohne ernsthafte Prüfung der Begründetheit seines Asylantrags und auf das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs stellte der EGMR zudem einen Verstoß Griechenlands gegen Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK fest. Darüber hinaus stellte er fest, dass auch Belgien gegen Art. 3 EGMR verstoßen habe, weil es den afghanischen Asylbewerber durch die Überstellung nach Griechenland den Risiken, die mit den festgestellten Mängeln des griechischen Asylsystems einhergingen, sowie den Art. 3 EMRK verletzenden Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt habe. Schließlich stellte der EGMR ebenfalls einen Verstoß Belgiens gegen Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK fest.
103. Auch die nationalen Gerichte einzelner Mitgliedstaaten haben sich im Kontext der Verordnung Nr. 343/2003 und der Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland bereits kritisch mit dem griechischen Asylsystem sowie mit den Haft- und Lebensbedingungen von Asylbewerbern in Griechenland auseinandergesetzt. So kam der österreichische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 7. Oktober 2010(41) im Kontext der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Überstellung gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 von einer alleinstehenden afghanischen Frau mit drei Kindern nach Griechenland zu dem Ergebnis, dass es bei Rücküberstellung schutzwürdiger Personen nach Griechenland zur Durchführung der Asylverfahren grundsätzlich zwar die Möglichkeit staatlicher Versorgung gebe, jedoch ohne fallbezogene individuelle Zusicherung der zuständigen Behörden davon nicht automatisch ausgegangen werden könne.
104. Aus der Sachverhaltsdarstellung des vorinstanzlichen Gerichts, die vom vorlegenden Gericht als Rechtsmittelgericht im Vorabentscheidungsersuchen gegeben wird, ergibt sich ein ähnliches Bild(42). Darüber hinaus hat die Kommission in ihrer schriftlichen Stellungnahme im vorliegenden Verfahren darauf hingewiesen, dass sie am 3. November 2009 ein Mahnschreiben gemäß Art. 226 EG und am 24. Juni 2010 ein ergänzendes Mahnschreiben an Griechenland gerichtet hat, in denen Griechenland u. a. Verstöße gegen verschiedene Vorgaben der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 vorgeworfen wurden(43).
105. Aus diesen Feststellungen geht hervor, dass das griechische Asylsystem infolge einer Überlastung unter hohem Druck steht, wodurch eine Behandlung der Asylbewerber und eine Überprüfung ihrer Anträge gemäß den Vorgaben der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 nicht mehr stets gewährleistet werden können. Unter diesen Bedingungen lässt sich nicht ausschließen, dass Asylbewerber, die gemäß den Vorgaben und Verfahren der Verordnung Nr. 343/2003 von einem anderen Mitgliedstaat nach Griechenland überstellt werden, nach ihrer Überstellung eine Behandlung widerfahren, die mit den Bestimmungen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK unvereinbar ist.
3. Zur Berücksichtigung der Überlastung mitgliedstaatlicher Asylsysteme im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003
106. Vor dem Hintergrund der Überlastung des griechischen Asylsystems und der Auswirkungen dieser Überlastung auf die Behandlung von Asylbewerbern sowie auf die Prüfung ihrer Anträge, sieht sich das vorlegende Gericht vor die Frage gestellt, ob ein Mitgliedstaat einen Asylbewerber unter Einhaltung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 auch dann nach Griechenland überstellen darf, wenn feststehen sollte, dass dieser im Fall einer solchen Überstellung der Gefahr einer Verletzung seiner Grund- und Menschenrechte ausgesetzt wäre. Diese Grundsatzfrage arbeitet das vorlegende Gericht in der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage weiter aus.
107. Mit der zweiten und der dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Aufklärung darüber, ob die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der unwiderlegbaren Vermutung ausgehen dürfen, dass der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Mitgliedstaat nach der Überstellung des Asylbewerbers sowohl die Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 als auch die Grundrechte des Asylbewerbers beachten wird (dritte Vorlagefrage), so dass eine Überstellung von Asylbewerbern gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 stets als mit den Unionsgrundrechten vereinbar zu betrachten ist, und zwar ungeachtet der in dem zuständigen Mitgliedstaat herrschenden Verhältnisse (zweite Vorlagefrage).
108. Für den Fall, dass diese Fragen zu verneinen sein sollten, möchte das vorlegende Gericht mit seiner vierten Vorlagefrage wissen, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat bei der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 gehalten ist, die Überprüfung eines Asylantrags gemäß Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung zu übernehmen, wenn der Asylbewerber bei einer Überstellung nach dem primär zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer Verletzung seiner Grundrechte und/oder der Gefahr ausgesetzt wäre, dass die Mindestnormen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 auf ihn keine Anwendung fänden.
109. Im Folgenden werde ich zunächst auf die vierte Vorlagefrage eingehen. Anschließend werde ich mich der zweiten und der dritten Vorlagefrage zuwenden.
a) Vierte Vorlagefrage: die Pflicht zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 im Fall einer ernsthaft drohenden Grundrechtsverletzung bei der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat
i) Zur Problematik ernsthaft drohender Grundrechtsverletzungen bei der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat
110. Falls ein Mitgliedstaat aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, bei der Behandlung der Asylbewerber bzw. bei der Prüfung ihrer Asylanträge die Vorgaben der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 bzw. ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten, entsteht de facto die Gefahr, dass Asylbewerber im Fall ihrer Überstellung an diesen Mitgliedstaat einer ihre Grund- und Menschenrechte verletzenden Behandlung ausgesetzt werden.
111. In diesem Zusammenhang könnten z. B. Verletzungen des in Art. 1 der Grundrechtecharta verbürgten Rechts auf Achtung und Schutz der Menschenwürde bzw. des in Art. 4 der Grundrechtecharta enthaltenen Verbots der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem primär zuständigen Mitgliedstaat zu befürchten sein(44).
112. Wenn in einem Mitgliedstaat ernsthaft eine Verletzung der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 der Grundrechtecharta bzw. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta von dorthin überstellten Asylbewerbern drohen sollte, wäre auch die Überstellung von Asylbewerbern an diesen Mitgliedstaat mit Art. 1 bzw. Art 4 der Grundrechtecharta unvereinbar. Denn gemäß Art. 1 der Grundrechtecharta ist die Würde des Menschen nicht nur „zu achten“, sondern auch „zu schützen“. Eine solche positive Schutzfunktion wohnt auch Art. 4 der Grundrechtecharta inne(45). Zudem sieht Art. 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor, dass niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht(46).
113. Die völlige Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems kann unter bestimmten Umständen ebenfalls dazu führen, dass die Vereinbarkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an diesen Mitgliedstaat mit Art. 18 der Grundrechtecharta zu prüfen ist.
114. Nach Art. 18 der Grundrechtecharta wird das Recht auf Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention sowie nach Maßgabe des EUV und des AEUV gewährleistet(47). Eines der Kernelemente der Genfer Flüchtlingskonvention ist das in Art. 33 dieser Konvention formulierte Verbot der direkten oder indirekten Ausweisung oder Zurückweisung eines Flüchtlings in einen Verfolgungsstaat – der sogenannte Grundsatz des Non‑refoulement. Wenngleich die genaue Reichweite dieses Zurückweisungsverbots umstritten ist, ist davon auszugehen, dass es den Flüchtlingen(48) nicht nur Schutz vor einer unmittelbaren Abschiebung in den Verfolgungsstaat, sondern ebenfalls Schutz vor einer sogenannten Kettenabschiebung gewährt, bei der eine Überstellung an einen Staat erfolgt, in dem die Gefahr einer Abschiebung in einen Verfolgungsstaat besteht(49).
115. Wenn die Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems dazu führen sollte, dass den Flüchtlingen in diesem Mitgliedstaat eine direkte oder indirekte Zurückweisung in einen Verfolgungsstaat droht, verbietet Art. 18 der Grundrechtecharta es den anderen Mitgliedstaaten folglich, Flüchtlinge an diesen Mitgliedstaat zu überstellen.
ii) Zur Pflicht des Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
116. Aus meinen obigen Überlegungen geht einerseits hervor, dass die Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems zum Entstehen eines Umfelds führen kann, in dem eines oder mehrere der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte der Asylbewerber verletzt werden können. Andererseits bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Überstellung von Asylbewerbern an einen Mitgliedstaat, in dem eine Verletzung der Grundrechte der Asylbewerber ernsthaft droht, mit der Grundrechtecharta unvereinbar ist.
117. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Verordnung Nr. 343/2003 einer Auslegung zugängig ist, mit der grundrechtswidrige Überstellungen von Asylbewerbern ausgeschlossen werden können.
118. Dass die Verordnung Nr. 343/2003, so weit wie möglich, grundrechtskonform auszulegen ist, ergibt sich einerseits aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die Mitgliedstaaten darauf zu achten haben, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert(50). Eine grundrechtskonforme Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 ist andererseits umso mehr geboten, als in Art. 63 Abs. 1 EG, der als primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage dieser Verordnung dient, ausdrücklich festgelegt wird, dass die unionsrechtlichen Asylmaßnahmen in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie mit den einschlägigen anderen Verträgen stehen müssen(51). Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 wird zudem ausdrücklich bestätigt, dass diese Verordnung mit den in der Grundrechtecharta anerkannten Grundrechten und Grundsätzen im Einklang steht(52).
119. Meiner Auffassung nach lässt Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum, der weit genug ist, um ihnen eine mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes vereinbare Anwendung dieser Verordnung zu ermöglichen, wenn bei der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat ernsthaft eine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte des Asylbewerbers drohen würde.
120. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 räumt den Mitgliedstaaten nämlich das Recht ein, den von einem Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat eingereichten Asylantrag auch dann zu prüfen, wenn nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit den Bestimmungen des Kapitels III der Verordnung ein anderer Mitgliedstaat primär zuständig ist. Wenn ein Mitgliedstaat dieses Selbsteintrittrecht ausübt, wird er gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zum zuständigen Mitgliedstaat, der alle mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen zu übernehmen hat.
121. Soweit im Fall der Überstellung eines Asylbewerbers an den primär zuständigen Mitgliedstaat das Risiko einer Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte des Asylbewerbers ernsthaft drohen sollte, kann der Mitgliedstaat, in dem der Asylbewerber einen Asylantrag eingereicht hat, diese Drohung folglich durch Ausübung seines Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vollständig beseitigen.
122. Unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass die Mitgliedstaaten zu einer grundrechtskonformen Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet sind und dass auch eine Überstellung von Asylbewerbern an einen Mitgliedstaat, in dem ernsthaft die Verletzung einer oder mehrerer Grundrechte dieser Asylbewerber droht, in aller Regel als eine Verletzung der Grundrechtecharta durch den überstellenden Mitgliedstaat zu werten ist, sind die Mitgliedstaaten meines Erachtens zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet, wenn in dem primär zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte des zu überstellenden Asylbewerbers droht.
123. Ernsthaft drohende Verletzungen einzelner Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 im primär zuständigen Mitgliedstaat, die nicht zugleich eine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte der zu überstellenden Asylbewerber darstellen, reichen hingegen nicht aus, um eine Verpflichtung des überstellenden Mitgliedstaats zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu begründen.
124. In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle hervorzuheben, dass eine grundrechtskonforme Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 die Ausübung des Selbsteintrittrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 nicht gebieten kann, wenn der Aufnahmemitgliedstaat gegen einzelne Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 verstößt, ohne jedoch die Grundrechtecharta zu verletzen. Darüber hinaus führt die Überstellung eines Asylbewerbers an einen Mitgliedstaat, in dem keine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte dieses Asylbewerbers droht, im Normalfall auch nicht zu einem Verstoß des überstellenden Mitgliedstaats gegen die Grundrechtecharta.
125. Des Weiteren wäre es mit den Zielen der Verordnung Nr. 343/2003 nur schwer vereinbar, wenn jede Nichtbeachtung der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 ausreichen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers nach dem primär zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln(53). Mit der Verordnung Nr. 343/2003 soll nämlich eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgelegt werden, die zudem eine rasche Bestimmung dieses Mitgliedstaats ermöglicht(54). Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung sieht die Verordnung Nr. 343/2003 eine Regelung vor, nach der für jeden in der Union gestellten Asylantrag nur ein Mitgliedstaat zuständig ist, der auf der Grundlage objektiver Kriterien ermittelt wird. Im Fall einer illegalen Einreise in das Unionsgebiet ist gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 der Mitgliedstaat der ersten Einreise für die Prüfung des Asylantrags zuständig(55).
126. Wenn nunmehr jede Nichtbeachtung einzelner Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 seitens des Mitgliedstaats der illegalen Ersteinreise dazu führen sollte, dass der Mitgliedstaat, in dem der Asylbewerber einen Asylantrag eingereicht hat, gehalten wäre, sein Selbsteintrittrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben, würde neben den in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen objektiven Kriterien zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats ein neues, weitreichendes Ausschlusskriterium geschaffen, nach dem auch geringfügige Verstöße gegen die Vorgaben der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 in einzelnen Mitgliedstaaten dazu führen könnten, dass diese Mitgliedstaaten von ihren in der Verordnung Nr. 343/2003 festgesetzten Zuständigkeiten und den damit verbundenen Aufgaben freigestellt wären. Dies könnte nicht nur zu einer vollständigen Aushebelung der in der Verordnung Nr. 343/2003 ausgearbeiteten Zuständigkeitsregelung führen, sondern auch das mit ihr verfolgte Ziel gefährden, die für die Prüfung von in der Union gestellten Asylanträgen zuständigen Mitgliedstaaten rasch zu ermitteln.
iii) Zwischenergebnis
127. Nach alledem ist die vierte Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts in dem Sinne zu beantworten, dass ein Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht worden ist, dazu verpflichtet ist, sein Recht zur Prüfung dieses Asylantrags gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben, wenn der Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an den nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit den Bestimmungen des dritten Kapitels der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat der ernsthaften Gefahr einer Verletzung seiner in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte ausgesetzt wäre. Ernsthaft drohende Verletzungen einzelner Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 im primär zuständigen Mitgliedstaat, die nicht zugleich eine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte der zu überstellenden Asylbewerber darstellen, reichen hingegen nicht aus, um eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu begründen.
b) Zweite und dritte Vorlagefrage: der Rückgriff auf unwiderlegbare Vermutungen im Kontext der Ausübung des Selbsteintrittrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003
128. Mit der zweiten und der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der unwiderlegbaren Vermutung ausgehen dürfen, dass der für die Prüfung eines Asylantrags primär zuständige Mitgliedstaat nach der Überstellung des Asylbewerbers die Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 bzw. die Grundrechte des Asylbewerbers beachten wird (dritte Vorlagefrage), so dass eine Überstellung von Asylbewerbern gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 stets als mit den Unionsgrundrechten vereinbar zu betrachten ist, und zwar ungeachtet der in dem zuständigen Mitgliedstaat herrschenden Verhältnisse (zweite Vorlagefrage).
129. Meiner Auffassung nach sind diese Fragen zu verneinen.
130. Wie ich oben bereits erörtert habe, lässt sich die Gefahr, dass Asylbewerber bei einer Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat zwecks Prüfung ihrer Asylanträge de facto einer ihre Grund- und Menschenrechte verletzenden Behandlung ausgesetzt werden, nie vollständig ausschließen. Wenn in dem für die Prüfung eines Asylantrags primär zuständigen Mitgliedstaat ernsthaft die Gefahr einer Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte des Asylbewerbers drohen sollte, ist der Mitgliedstaat, in dem dieser Asylbewerber seinen Asylantrag eingereicht hat, zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet.
131. Aus diesen Feststellungen ergibt sich unmittelbar, dass eine Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auf der Grundlage der unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für seinen Antrag primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden, mit der mitgliedstaatlichen Pflicht zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003(56) unvereinbar ist. Denn in diesem Fall wäre der Mitgliedstaat, in dem der Asylbewerber seinen Asylantrag eingereicht hat, nie zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet, und es ließe sich folglich nicht ausschließen, dass Asylbewerber trotz ernsthaft drohender Verletzung ihrer in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte an einen anderen Mitgliedstaat überstellt würden.
132. Aus dem gleichen Grund ist auch eine Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auf der Grundlage der unwiderlegbaren Vermutung, dass alle Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 in dem Aufnahmemitgliedstaat eingehalten werden, als unionsrechtswidrig zu verwerfen. Denn die unwiderlegbare Vermutung, dass alle Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 eingehalten werden, unterscheidet sich de facto nicht von der unwiderlegbaren Vermutung, dass die in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte der Asylbewerber in dem primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden.
133. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt ist, im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der widerlegbaren Vermutung auszugehen, dass die Menschenrechte und auch die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für seinen Antrag primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Behandlung von Asylbewerbern und die Prüfung ihrer Anträge gemäß den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 in jedem Mitgliedstaat beträchtlichen Mindeststandards genügen müssen und dass alle Mitgliedstaaten die Grundrechtecharta(57) sowie – als Vertragsstaaten – die EMRK und die Genfer Flüchtlingskonvention zu beachten haben. Unter Berücksichtigung des dadurch – rechtlich – sichergestellten hohen Schutzniveaus liegt es sogar nahe, im Rahmen der Überstellung von Asylbewerbern von der widerlegbaren Vermutung auszugehen, dass diese Asylbewerber in dem primär zuständigen Mitgliedstaat menschen- und grundrechtskonform behandelt werden(58). In diesem Sinne wird im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 ausdrücklich hervorgehoben, dass die Mitgliedstaaten, die alle den Grundsatz der Nichtzurückweisung achten, als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige gelten(59).
134. Wenn sich die Mitgliedstaaten für die Anwendung einer solchen widerlegbaren Vermutung entscheiden sollten, haben sie allerdings den Effektivitätsgrundsatz zu beachten, nach dem die Verwirklichung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden darf(60).
135. Soweit sich die Mitgliedstaaten somit für die Einführung der widerlegbaren Vermutung entscheiden, dass die Menschenrechte sowie auch die Grundrechte des Asylbewerbers in dem primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden, muss den Asylbewerbern verfahrensrechtlich die Möglichkeit eingeräumt werden, diese Vermutung auch tatsächlich zu widerlegen. Die konkrete Ausgestaltung der dafür zur Verfügung stehenden Beweismittel sowie die Feststellung der Regeln und Prinzipien der Beweiswürdigung sind, unter Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes, wiederum Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten.
136. Nach alledem sind die zweite und die dritte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass die Verpflichtung zur grundrechtskonformen Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 der Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, nach der der für die Prüfung eines Asylantrags primär zuständige Mitgliedstaat die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grundrechte des Asylbewerbers bzw. alle Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 beachtet. Den Mitgliedstaaten ist es hingegen nicht verwehrt, bei der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der widerlegbaren Vermutung auszugehen, dass die Menschenrechte sowie auch die Grundrechte eines Asylbewerbers in dem für dessen Asylantrag primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden.
C – Fünfte Vorlagefrage: Verhältnis zwischen dem Schutz von Asylbewerbern unter der Grundrechtecharta und ihrem Schutz unter der EMRK
137. Mit seiner fünften Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 1, 18 und 47 der Grundrechtecharta den Asylbewerbern, die gemäß den Vorgaben der Verordnung Nr. 343/2003 an einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden sollen, einen weiter gehenden Schutz gewähren als Art. 3 der EMRK.
138. Wenngleich das vorlegende Gericht den rechtlichen Hintergrund dieser Frage nicht ausdrücklich erörtert hat, scheint die EGMR‑Entscheidung vom 2. Dezember 2008, K.R.S./Vereinigtes Königreich(61), für deren Vorlage eine besondere Rolle gespielt zu haben. In dieser Entscheidung hatte der EGMR über die Menschenrechtsbeschwerde eines iranischen Staatsangehörigen zu befinden, der gemäß den Vorgaben der Verordnung Nr. 343/2003 vom Vereinigten Königreich nach Griechenland überstellt werden sollte. Nach Auffassung des iranischen Asylbewerbers würde die Abschiebung nach Griechenland Art. 3 EMRK verletzen. In seiner Entscheidung vom 2. Dezember 2008 hat der EGMR diese Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
139. Zum Zeitpunkt der Formulierung des Vorlagebeschlusses sah sich das vorlegende Gericht folglich vor die Frage gestellt, in welcher Weise es die EGMR‑Entscheidung K.R.S./Vereinigtes Königreich zu berücksichtigen hatte. Dabei galt es zu klären, ob die Analyse des EGMR, dass die Überstellung eines iranischen Asylbewerbers nach Griechenland nicht gegen Art. 3 EMRK verstoße, der Feststellung einer Verletzung der Art. 1, 18 und 47 der Grundrechtecharta in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens entgegenstünde.
140. Wie ich bereits dargetan habe, hat der EGMR in seinem Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland(62), und somit nach Eingang des Vorlagebeschlusses seine Rechtsprechung weiterentwickelt und die Überstellung eines Asylbewerbers gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 von Belgien nach Griechenland als ein Verstoß Belgiens gegen Art. 3 EMRK sowie gegen Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK gewertet.
141. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung in der EGMR‑Rechtsprechung dürfte sich das vorlegende Gericht nunmehr nicht mehr primär mit der Frage zu befassen haben, unter welchen Voraussetzungen die Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland trotz der EGMR-Entscheidung K.R.S./Vereinigtes Königreich zur Feststellung eines Verstoßes gegen die in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte dieser Asylbewerber führen könnte, sondern vielmehr mit der Frage, ob unter Beachtung des EGMR-Urteils M.S.S./Belgien und Griechenland eine Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland überhaupt noch für mit der Grundrechtecharta vereinbar erklärt werden kann.
142. Vor diesem Hintergrund ist die fünfte Vorlagefrage im Ergebnis so zu verstehen, dass der Gerichtshof um eine Klärung der Fragen ersucht wird, in welchem Verhältnis die Art. 3 und 13 EMRK zu den entsprechenden Bestimmungen der Grundrechtecharta stehen(63) und in welcher Weise sich die EGMR‑Rechtsprechung zu der (Un‑)Vereinbarkeit mit der EMRK von Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland auf die gerichtliche Überprüfung der Vereinbarkeit solcher Überstellungen mit der Grundrechtecharta auswirkt.
143. Für die Beantwortung dieser Fragen ist von Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta auszugehen. Danach haben die Rechte der Grundrechtecharta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. In Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta wird darüber hinaus ausdrücklich klargestellt, dass diese Bestimmung dem nicht entgegensteht, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.
144. In den GRC‑Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta wird hervorgehoben, dass mit dieser Bestimmung die notwendige Kohärenz zwischen der Grundrechtecharta und der EMRK geschaffen werden sollte. Dieser Verweis versteht sich laut den GRC‑Erläuterungen nicht nur als ein Verweis auf den Wortlaut der EMRK und ihrer Protokolle, sondern auch auf die Konkretisierung der Bedeutung und der Tragweite der darin garantierten Rechte durch die Rechtsprechung des EGMR. Die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs sollten dadurch allerdings nicht berührt werden.
145. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta ist demnach sicherzustellen, dass der durch die Grundrechtecharta gewährleistete Schutz in den Bereichen, in denen sich die Bestimmungen der Grundrechtecharta mit den Gewährleistungen der EMRK überschneiden, nicht hinter dem durch die EMRK gewährten Schutz zurückbleibt. Weil sich der durch die EMRK gewährte Schutz im Licht ihrer Auslegung durch den EGMR ständig weiterentwickelt(64), ist auch die in Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta enthaltene Verweisung auf die EMRK als eine im Wesen dynamische Verweisung zu verstehen, der die EGMR‑Rechtsprechung grundsätzlich umfasst(65).
146. In diesem Zusammenhang ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Urteile des EGMR ihrem Wesen nach stets einzelfallbezogene Gerichtsentscheidungen darstellen und nicht die EMRK‑Normen selbst, so dass es verfehlt wäre, im Rahmen der Anwendung der Grundrechtecharta die Rechtsprechung des EGMR als Auslegungsquelle mit uneingeschränkter Geltung zu betrachten(66). Diese Feststellung darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Grundrechtecharta besondere Bedeutung und hohes Gewicht zukommen, so dass ihre Berücksichtigung bei der Auslegung der Grundrechtecharta unverzichtbar ist(67).
147. Bestätigung findet diese Analyse in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der im Kontext der Auslegung der Bestimmungen der Grundrechtecharta systematisch die Rechtsprechung des EGMR zu den entsprechenden EMRK‑Bestimmungen berücksichtigt(68).
148. Nach alledem ist die fünfte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta sicherzustellen ist, dass der durch die Grundrechtecharta gewährleistete Schutz in den Bereichen, in denen sich die Bestimmungen der Grundrechtecharta mit den Bestimmungen der EMRK überschneiden, nicht hinter dem durch die EMRK gewährten Schutz zurückbleibt. Da Umfang und Reichweite des durch die EMRK gewährten Schutzes in der Rechtsprechung des EGMR präzisiert worden sind, kommen dieser Rechtsprechung bei der Auslegung der entsprechenden Bestimmungen der Grundrechtecharta durch den Gerichtshof besondere Bedeutung und hohes Gewicht zu.
D – Sechste Vorlagefrage: gerichtliche Überprüfung der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK in dem gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat
149. Mit seiner sechsten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Regelung, nach der die Gerichte im Rahmen ihrer Überprüfung der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der unwiderlegbaren Vermutung auszugehen haben, dass der für die Prüfung des Asylantrags primär zuständige Mitgliedstaat ein sicherer Staat ist, in dem den Asylbewerbern keine mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder mit der EMRK unvereinbare Ausweisung in einen Verfolgungsstaat droht, mit Art. 47 der Grundrechtecharta vereinbar ist.
150. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst auf das Verhältnis zwischen den Rechten der Asylbewerber gemäß Art. 47 der Grundrechtecharta und der Gefahr einer mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder mit der EMRK unvereinbaren Ausweisung in einen Verfolgungsstaat eingehen, die im Fall einer Überstellung von Asylbewerbern an den primär zuständigen Mitgliedstaat droht. Auf der Grundlage dieser Überlegungen werde ich anschließend die sechste Frage des vorlegenden Gerichts beantworten.
1. Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta und die Gefahr einer Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der EMRK nach der Überstellung eines Asylbewerbers gemäß der Verordnung Nr. 343/2003
151. Laut Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
152. Grundvoraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 47 der Grundrechtecharta ist demnach, dass unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind. Vor diesem Hintergrund kann ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder gegen die EMRK nur dann zum Entstehen eines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta führen, wenn dieser Verstoß zugleich als eine Verletzung unionsrechtlich garantierter Rechte oder Freiheiten zu werten ist.
153. Wenngleich ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder gegen die EMRK im Rahmen der Überstellung eines Asylbewerbers an einen Mitgliedstaat, in dem ernsthaft dessen Ausweisung in einen Verfolgungsstaat droht, de iure von einem eventuell damit einhergehenden Unionsrechtsverstoß strikt zu unterscheiden ist, ist in einem solchen Fall die Parallelität zwischen der Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der EMRK und dem Verstoß gegen Unionsrecht de facto in aller Regel gegeben.
154. Für die Beurteilung, ob die Überstellung eines Asylbewerbers nach einem Mitgliedstaat, in dem ernsthaft seine Ausweisung in einen anderen Staat unter Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention droht, nach Unionsrecht rechtmäßig ist, ist von Art. 18 der Grundrechtecharta auszugehen, wonach das Recht auf Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet wird(69). Infolge dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf die Genfer Flüchtlingskonvention gewährt Art. 18 der Grundrechtecharta den Flüchtlingen, die einen Asylantrag gestellt haben, Schutz vor mit der Genfer Flüchtlingskonvention unvereinbaren Überstellungen(70). Vor diesem Hintergrund ist die Überstellung eines Flüchtlings nach dem für seinen Asylantrag primär zuständigen Mitgliedstaat mit der Grundrechtecharta unvereinbar, wenn in diesem Mitgliedstaat eine mit der Genfer Flüchtlingskonvention unvereinbare direkte oder indirekte Ausweisung in einen Verfolgungsstaat ernsthaft droht.
155. Für die Beurteilung, ob die Überstellung eines Asylbewerbers nach einem Mitgliedstaat, in dem ernsthaft seine Ausweisung in einen Drittstaat unter Verstoß gegen die EMRK droht, nach Unionsrecht rechtmäßig ist, ist vom Grundsatz des Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta auszugehen, wonach der Schutzumfang der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte nicht hinter den Gewährleistungen der EMRK zurückbleiben darf(71).
156. In diesem Zusammenhang hat der EGMR die Gewährleistungen der EMRK hinsichtlich der Überstellung von Asylbewerbern zwischen Mitgliedstaaten zuletzt in seinem Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland klargestellt. Dabei hat er hervorgehoben, dass die Überstellung eines Asylbewerbers nach einem Zwischenstaat, der auch Konventionsstaat ist, die Verantwortlichkeit des ausweisenden Staats unberührt lässt, der gemäß Art. 3 EMRK verpflichtet ist, eine Abschiebung zu unterlassen, wenn es erwiesenermaßen ernsthafte Gründe gibt für die Annahme, dass der Betroffene im Fall seiner Überstellung an den Zwischenstaat dort wirklich der Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Überstellung in einen anderen Staat ausgesetzt wird(72).
157. Unter Beachtung der Vorgaben von Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta liegt in dem Fall, dass die Überstellung eines Asylbewerbers nach dem gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat wegen der Gefahr des indirekten Refoulement gegen Art. 3 EMRK verstoßen sollte, in aller Regel auch ein Verstoß gegen die Grundrechtecharta vor. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere eine Verletzung der in den Art. 1, 4 und 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte der Asylbewerber in Betracht(73).
158. Zusammenfassend ist nach alledem festzuhalten, dass die Überstellung eines Asylbewerbers an den gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat in aller Regel mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, wenn dem Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthaft eine mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder mit der EMRK unvereinbare Ausweisung in einen Verfolgungsstaat droht. Soweit die Überstellung des Asylbewerbers das Unionsrecht verletzt, ist der Anwendungsbereich des Art. 47 der Grundrechtecharta eröffnet.
2. Unvereinbarkeit mit Art. 47 der Grundrechtecharta der unwiderlegbaren gerichtlichen Vermutung, dass dem Asylbewerber in dem primär zuständigen Mitgliedstaat keine mit der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. mit der EMRK unvereinbare Ausweisung in einen anderen Staat droht
159. Gemäß Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta ist jede Person, deren unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Überprüfung dieser Verletzung zu gewähren. Da mit diesem Rechtsbehelf geklärt werden soll, ob tatsächlich unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, entsteht dieses Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bereits ab dem Zeitpunkt, dass diese Rechtsverletzung in vertretbarer Weise behauptet wird(74).
160. Die konkrete verfahrensrechtliche Ausgestaltung des wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne von Art. 47 der Grundrechtecharta ist den Mitgliedstaaten weitgehend überlassen. Seine Grenzen findet dieser mitgliedstaatliche Ausgestaltungsspielraum allerdings in der Vorgabe, dass die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs stets gewährleistet sein muss. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu beachten, dass gemäß Art. 52 Abs. 1 der Grundrechtecharta jede Einschränkung der Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gesetzlich vorgesehen sein muss(75) und den Wesensgehalt dieses Rechts sowie auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz achten muss.
161. Zum Mindestgehalt des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gehört, dass der dem Anspruchsberechtigten zu gewährende Rechtsbehelf dem Effektivitätsgrundsatz genügen muss(76). Nach diesem Grundsatz darf die Verwirklichung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden(77).
162. Aus diesen Überlegungen zum Wesen und zum Mindestinhalt des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Grundrechtecharta ergibt sich meines Erachtens unmittelbar, dass eine nationale Regelung, nach der die Gerichte im Rahmen ihrer Überprüfung der Überstellung eines Asylbewerbers nach dem gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat von der unwiderlegbaren Vermutung auszugehen haben, dass dieser Mitgliedstaat den Asylbewerber nicht unter Verletzung der EMRK oder der Genfer Flüchtlingskonvention in einen anderen Staat ausweisen wird, mit Art. 47 der Grundrechtecharta unvereinbar ist.
163. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang, dass eine solche Vermutung die gerichtliche Überprüfung der Gefahr einer mit der Grundrechtecharta unvereinbaren Kettenabschiebung in einen Verfolgungsstaat übermäßig erschwert oder sogar de facto ausschließt. Denn es wäre logisch nur schwer nachvollziehbar, wenn ein nationales Gericht die Drohung einer Kettenabschiebung in einen Verfolgungsstaat aus der Perspektive der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention verneinen, die inhaltsgleiche Drohung einer Kettenabschiebung in einen Verfolgungsstaat aus der Perspektive der Grundrechtecharta hingegen bejahen würde. Aus diesem Grund ist die in Rede stehende unwiderlegbare Vermutung, dass der primär zuständige Mitgliedstaat den Asylbewerber nicht unter Verletzung der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention in einen Verfolgungsstaat abschieben wird, mit Art. 47 der Grundrechtecharta unvereinbar.
164. Nach alledem ist die sechste Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass eine nationale Regelung, nach der die Gerichte bei der Prüfung, ob ein Asylbewerber rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 an einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden kann, von der unwiderlegbaren Vermutung ausgehen müssen, dass dieser Mitgliedstaat ein sicherer Staat ist, in dem den Asylbewerbern keine mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder mit der EMRK unvereinbaren Ausweisung in einen Verfolgungsstaat droht, mit Art. 47 der Grundrechtecharta unvereinbar ist.
E – Siebte Vorlagefrage
165. Mit seiner siebten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Aufklärung über Inhalt und Tragweite des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt ist. Dabei fragt es im Wesentlichen, ob die für das vorliegende Verfahren relevanten Bestimmungen der Grundrechtecharta unter Berücksichtigung dieses Protokolls in der Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs ihre Rechtswirkung uneingeschränkt entfalten können.
166. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht somit wissen, ob und, wenn ja, in welchem Umfang das Protokoll Nr. 30 als ein „Opt-out“ des Vereinigten Königreichs und der Republik Polen von der Grundrechtecharta einzuordnen ist.
167. Meiner Auffassung nach lässt sich die Frage, ob das Protokoll Nr. 30 als ein genereller Opt-out des Vereinigten Königreichs und der Republik Polen von der Grundrechtecharta zu werten ist, ohne Weiteres verneinen(78). Zu diesem Ergebnis führt mich eine Wortlautanalyse des Protokolls Nr. 30, unter besonderer Berücksichtigung seiner Erwägungsgründe.
168. Laut Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.
169. Seinem Wortlaut nach stellt Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 folglich klar, dass die Grundrechtecharta weder zu einer Kompetenzverschiebung zulasten des Vereinigten Königreichs oder Polens noch zu einer Ausdehnung des Geltungsbereichs des Unionsrechts über die in den Verträgen festgelegten Unionszuständigkeiten hinaus führen darf. Damit bestätigt Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 allerdings lediglich den normativen Inhalt von Art. 51 der Grundrechtecharta, der eben eine solche Ausdehnung der Unionskompetenzen bzw. des unionsrechtlichen Geltungsbereichs auszuschließen bezweckt(79). Die Geltung der Grundrechtecharta für das Vereinigte Königreich und für Polen stellt Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 folglich nicht grundsätzlich in Frage(80).
170. Bestätigung findet diese Analyse in den Erwägungsgründen des Protokolls, in denen die prinzipielle Geltung der Grundrechtecharta in der polnischen sowie in der englischen Rechtsordnung mehrfach bestätigt wird(81). So wird im dritten Erwägungsgrund hervorgehoben, dass die Charta laut Art. 6 EUV von den Gerichten Polens und des Vereinigten Königreichs streng im Einklang mit den in jenem Artikel erwähnten Erläuterungen anzuwenden und auszulegen ist. Im achten und im neunten Erwägungsgrund wird auf den Wunsch Polens und des Vereinigten Königreichs hingewiesen, bestimmte Aspekte der Anwendung der Charta sowie auch die Anwendung der Charta in Bezug auf die Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen Polens und des Vereinigten Königreichs zu klären.
171. Während Art.1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 die Geltung der Grundrechtecharta nicht in Frage stellt, sondern lediglich als eine ausdrückliche Bestätigung des normativen Inhalts von Art. 51 der Grundrechtecharta zu werten ist, scheint Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 eine Präzisierung der Geltung einzelner Chartabestimmungen in den Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs und Polens zu bezwecken. Denn nach Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 werden mit Titel IV der Grundrechtecharta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit solche Rechte in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen nicht vorgesehen sind.
172. Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 stellt auf die in Titel IV der Grundrechtecharta (Art. 27 bis 38) gebündelten sozialen Grundrechte und Grundsätze ab. Dieser mit „Solidarität“ überschriebene Titel gilt als einer der umstrittensten Themenbereiche in der Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta. Streitig war nicht nur die Grundsatzfrage, ob soziale Rechte und Grundsätze in die Grundrechtecharta aufgenommen werden sollten, sondern auch, wie viele soziale Rechte aufzunehmen seien, wie sie im Einzelnen auszugestalten seien, welche Bindungswirkung sie entfalten sollten und ob sie als Grundrechte oder vielmehr als Grundsätze einzuordnen seien(82).
173. Mit der Feststellung, dass mit Titel IV der Grundrechtecharta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen werden, bestätigt Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 zunächst den in Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta zum Ausdruck gebrachten Grundsatz, dass die Grundrechtecharta keine einklagbaren Rechte zwischen Privatpersonen schafft. Darüber hinaus scheint Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 jedoch auch auszuschließen, dass aus den Art. 27 bis 38 der Grundrechtecharta neue Unionsrechte und Unionsansprüche gefolgert werden könnten, auf die sich die Anspruchsberechtigten gegen das Vereinigte Königreich oder gegen Polen berufen könnten(83).
174. Weil die im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden Grundrechte nicht zu den in Titel IV der Grundrechtecharta aufgeführten sozialen Grundrechten und Grundsätzen gehören, braucht die Frage nach der genauen Geltung und Tragweite von Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 an dieser Stelle allerdings nicht weiter vertieft zu werden. Insoweit genügt der Hinweis auf den zehnten Erwägungsgrund des Protokolls Nr. 30, nach dem die in diesem Protokoll enthaltenen Bezugnahmen auf die Wirkungsweise spezifischer Bestimmungen der Charta auf keinen Fall die Wirkungsweise anderer Bestimmungen der Charta berühren.
175. Art. 2 des Protokolls Nr. 30 sieht schließlich vor, dass, wenn in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen wird, diese Bestimmung auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung findet, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw. des Vereinigten Königreichs anerkannt sind.
176. Im Licht der bereits erwähnten Erwägungsgründe lässt sich auch aus Art. 2 des Protokolls Nr. 30 kein genereller Opt-out des Vereinigten Königreichs und der Republik Polen von der Grundrechtecharta folgern. Darüber hinaus bezieht sich Art. 2 des Protokolls Nr. 30 ausschließlich auf Bestimmungen der Grundrechtecharta, die auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen(84). Dies ist bei den für das vorliegende Verfahren relevanten Bestimmungen der Grundrechtecharta nicht der Fall.
177. Nach alledem ist die siebte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass die Auslegung des Protokolls Nr. 30 nichts ergeben hat, was geeignet wäre, die Geltung der für das vorliegende Verfahren relevanten Bestimmungen der Grundrechtecharta für das Vereinigte Königreich in Frage zu stellen.
VII – Ergebnis
178. Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Court of Appeal of England and Wales wie folgt zu antworten:
1. Die Entscheidung eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, darüber, ob er einen Asylanspruch prüft, der nach den in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt, stellt eine Handlung zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta dar.
2. Ein Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht worden ist, ist dazu verpflichtet, sein Recht zur Prüfung dieses Asylantrags gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben, wenn der Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an den nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit den Bestimmungen des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 primär zuständigen Mitgliedstaat der ernsthaften Gefahr einer Verletzung seiner in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte ausgesetzt wäre. Ernsthaft drohende Verletzungen einzelner Bestimmungen der Richtlinie 2003/9 des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes oder der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, im primär zuständigen Mitgliedstaat, die nicht zugleich eine Verletzung der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte der zu überstellenden Asylbewerber darstellen, reichen hingegen nicht aus, um eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu begründen.
3. Die Verpflichtung zur grundrechtskonformen Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 steht der Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, nach der der für die Prüfung eines Asylantrags primär zuständige Mitgliedstaat die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grundrechte des Asylbewerbers bzw. alle Mindeststandards der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 beachtet. Den Mitgliedstaaten ist es hingegen nicht verwehrt, bei der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 von der widerlegbaren Vermutung auszugehen, dass die Menschenrechte sowie auch die Grundrechte eines Asylbewerbers in dem für dessen Asylantrag primär zuständigen Mitgliedstaat eingehalten werden.
4. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta ist sicherzustellen, dass der durch die Grundrechtecharta gewährleistete Schutz in den Bereichen, in denen sich die Bestimmungen der Grundrechtecharta mit den Bestimmungen der EMRK überschneiden, nicht hinter dem durch die EMRK gewährten Schutz zurückbleibt. Da Umfang und Reichweite des durch die EMRK gewährten Schutzes in der Rechtsprechung des EGMR präzisiert worden sind, kommen dieser Rechtsprechung bei der Auslegung der entsprechenden Bestimmungen der Grundrechtecharta durch den Gerichtshof besondere Bedeutung und hohes Gewicht zu.
5. Eine nationale Regelung, nach der die Gerichte bei der Prüfung, ob ein Asylbewerber rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 an einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden kann, von der unwiderlegbaren Vermutung ausgehen müssen, dass dieser Mitgliedstaat ein sicherer Staat ist, in dem den Asylbewerbern keine mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder mit der EMRK unvereinbaren Ausweisung in einen Verfolgungsstaat droht, ist mit Art. 47 der Grundrechtecharta unvereinbar.
6. Die Auslegung des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich hat nichts ergeben, was geeignet wäre, die Geltung der für das vorliegende Verfahren relevanten Bestimmungen der Grundrechtecharta für das Vereinigte Königreich in Frage zu stellen.
1 – Originalsprache der Schlussanträge: Deutsch. Verfahrenssprache: Englisch.
2 – ABl. L 50, S. 1.
3 – Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (Beschwerde Nr. 30696/09).
4 – Neben der hier erwähnten Verordnung und den hier erwähnten Richtlinien gibt es eine Vielzahl weiterer Sekundärrechtsakte, die die Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems, die Politik der legalen Einwanderung und die Bekämpfung der illegalen Einwanderung betreffen, so beispielsweise die Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (ABl. L 132, S. 11) oder die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
5 – ABl. L 212, S. 12.
6 – ABl. L 31, S. 18.
7 – ABl. L 304, S. 12.
8 – ABl. L 326, S. 13.
9 – Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat die weiteren Vorlagefragen für den Fall beantwortet, dass der Gerichtshof, anders als von ihr vorgeschlagen, zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
10 – Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich auf der Grundlage des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (ABl. 2008, L 53, S. 5) an dem unionsrechtlichen System zur Bestimmung der für Asylanträge zuständigen Staaten beteiligt. Gemäß Art. 5 Abs. 2 dieses Abkommens kann die Schweizerische Eidgenossenschaft in Fällen, in denen ein Gericht eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof eine Frage in Bezug auf die Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, beim Gerichtshof schriftliche Stellungnahmen abgeben.
11 – Das vorlegende Gericht sieht sich im Ausgangsverfahren vor diese Frage gestellt, weil der Secretary of State vorgetragen hatte, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung des ihnen nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 eingeräumten Ermessens die Unionsgrundrechte nicht beachten müssten, da die Ausübung dieses Ermessens nicht unter Unionsrecht falle.
12 – Vgl. dazu auch die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. 2007, C 303, S. 32).
13 – ABl. 2007, C 303, S. 32. Laut Art. 52 Abs. 7 der Grundrechtecharta sind diese Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Grundrechtecharta verfasst wurden, von den Gerichten der Union und den Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen. In Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV wird die Bedeutung der GRC‑Erläuterungen für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen der Grundrechtecharta ebenfalls ausdrücklich bestätigt.
14 – Urteil vom 13. Juli 1989, Wachauf (5/88, Slg. 1989, 2609).
15 – Urteil vom 18. Juni 1991, ERT (C-260/89, Slg. 1991, I-2925).
16 – Urteil vom 13. April 2000, Karlsson u. a. (C‑292/97, Slg. 2000, I‑2737). Dieses Urteil ist der „Wachauf“‑Rechtsprechungslinie zuzurechnen.
17 – Urteil Wachauf (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 19). Bestätigt wurde dieses Urteil u. a. im Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnrn. 104 f.).
18 – Urteil ERT (oben in Fn. 15 angeführt, Randnrn. 41 ff.).
19 – In diesem Sinne auch Ladenburger, C., Art. 51, in Europäische Grundrechtecharta (Hrsg.: Tettinger, P./Stern, K.), München 2006, Randnrn. 22 f.; Nowak, C., in Handbuch der Europäischen Grundrechte (Hrsg.: Heselhaus/Nowak), München 2006, § 6, Randnrn. 44 ff.
20 – Gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 wird der Mitgliedstaat, der sich freiwillig für eine Prüfung des Asylantrags entscheidet, zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt er die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.
21 – Urteil Wachauf (oben in Fn. 14 angeführt).
22 – Verordnung (EWG) Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 mit den Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68, ABl. L 132, S. 11.
23 – Urteil Wachauf (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 19).
24 – Ebd. (Randnrn. 22 f.).
25 – Vgl. in diesem Sinne auch Urteil Parlament/Rat (oben in Fn. 17 angeführt, Randnr. 104).
26 – Zutreffend Graßhof, M., in EU‑Kommentar (Hrsg. Schwarze), 2. Aufl., Baden-Baden 2009, Art. 63 EGV, Randnr. 4.
27 – Art. 63 Nr. 1 Buchst. b, c und d EG.
28 – Gemäß Art. 1 f. des Protokolls (Nr. 5) über die Position Dänemarks, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, hat sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinien beteiligt, so dass diese Richtlinien für Dänemark nicht bindend oder anwendbar sind (vgl. Erwägungsgründe 21 der Richtlinie 2003/9, 40 der Richtlinie 2004/83 und 34 der Richtlinie 2005/85). Während Irland sich gemäß Art. 3 des Protokolls (Nr. 4) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, an der Annahme der Richtlinien 2004/83 und 2005/85 beteiligt hat (vgl. Erwägungsgründe 39 bzw. 33 dieser Richtlinien), hat es sich gemäß Art. 1 des genannten Protokolls nicht an der Annahme der Richtlinie 2003/9 beteiligt (vgl. Erwägungsgrund 20 dieser Richtlinie). Das Vereinigte Königreich hat sich gemäß Art. 3 des vorgenannten Protokolls an den drei Richtlinien beteiligt (vgl. Erwägungsgründe 19 der Richtlinie 2003/9, 38 der Richtlinie 2004/83 und 32 der Richtlinie 2005/85).
29 – Vgl. den zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/9, der Richtlinie 2004/83 und der Richtlinie 2005/85.
30 – Vgl. die Erwägungsgründe 5 der Richtlinie 2003/9, 10 der Richtlinie 2004/83 und 8 der Richtlinie 2005/85.
31 – Vgl. die Erwägungsgründe 6 der Richtlinie 2003/9, 11 der Richtlinie 2004/83 und 9 der Richtlinie 2005/85.
32 – Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls die Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 51 ff.), und vom 9. November 2010, B (C‑57/09 und C‑101/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 77 f.), in denen der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung der Richtlinie 2004/83 einerseits hervorgehoben hat, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Voraussetzungen der Anerkennung als Flüchtling und über den Inhalt des Flüchtlingen zu gewährenden Schutzes erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten, und andererseits festgestellt hat, dass die Auslegung dieser Richtlinie die Achtung der Grundrechte und insbesondere die Befolgung der in der Charta anerkannten Grundsätze gewährleisten muss. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Urteil vom 17. Juni 2010, Bolbol (C‑31/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38).
33 – Gemäß den Art. 1 f. des Protokolls (Nr. 5) über die Position Dänemarks, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, hat sich Dänemark nicht an der Annahme der Verordnung Nr. 343/2003 beteiligt, so dass diese für Dänemark zunächst nicht bindend oder anwendbar war. Damit blieb zwischen Dänemark und den anderen Mitgliedstaaten zunächst das Dubliner Übereinkommen in Kraft (vgl. Erwägungsgründe 18 f. der Verordnung Nr. 343/2003). Mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Staates, der für die Prüfung eines in Dänemark oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellten Asylantrags zuständig ist, sowie über Eurodac für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens (ABl. L 66 vom 8. März 2006, S. 38), wurde der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 343/2003 auf die Beziehungen zwischen der Union und Dänemark ausgeweitet. Irland und das Vereinigte Königreich haben sich gemäß Art. 3 des Protokolls (Nr. 4) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, an der Annahme und der Anwendung dieser Verordnung beteiligt (vgl. Erwägungsgrund 17 der Verordnung Nr. 343/2003). Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich einige Nicht-EU-Mitgliedstaaten kraft völkerrechtlicher Verträge an dem unionsrechtlichen System zur Bestimmung des für Asylanträge zuständigen Staats beteiligt haben, wie beispielsweise die Schweizerische Eidgenossenschaft; vgl. dazu Fn. 10 dieser Schlussanträge.
34 – Vgl. die Art. 6 Abs. 1, 7, 8 und 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 343/2003.
35 – Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003. Diese Zuständigkeit erlischt allerdings nach Ablauf von zwölf Monaten nach dem illegalen Grenzübertritt.
36 – Dementsprechend sieht Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 vor, dass die Mitgliedstaaten nicht prüfen müssen, ob ein Asylbewerber als Flüchtling im Sinne der Richtlinie 2004/83 anzuerkennen ist, wenn sie dazu nach Maßgabe der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet sind.
37 – Siehe Nr. 92 der vorliegenden Schlussanträge.
38 – Vor diesem Hintergrund wird in den Erwägungsgründen der Verordnung Nr. 343/2003 ebenfalls auf die Schlussfolgerung des Europäischen Rats von Tampere verwiesen, nach der das zu entwickelnde Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention gestützt sein soll (vgl. den zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003). Es wird zudem hervorgehoben, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Behandlung der Personen, die unter den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, die Verpflichtungen der völkerrechtlichen Instrumente einzuhalten haben, bei denen sie Vertragsparteien sind (vgl. den zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003), und dass diese Verordnung mit den in der Grundrechtecharta anerkannten Grundrechten und Grundsätzen im Einklang steht (vgl. den 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003).
39 – Der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (KOM[2008] 820 endg.), mit der die Verordnung Nr. 343/2003 neu gefasst werden sollte, sieht hingegen einen Mechanismus zur vorläufigen Aussetzung von Überstellungen von Asylbewerbern an Mitgliedstaaten vor, die mit einer Notsituation konfrontiert sind, die ihre Aufnahmekapazitäten, ihre Asylsysteme oder ihre Infrastruktur außergewöhnlich schwer belastet (Art. 31). Aus der Begründung der Kommission geht hervor, dass damit Abhilfe in Situationen geschaffen werden sollte, in denen die Asylsysteme und Aufnahmekapazitäten der Mitgliedstaaten unter besonderem Druck stehen.
40 – Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland (oben in Fn. 3 angeführt).
41 – Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2010, Geschäftszahl U694/10, im Internet abrufbar im Rechtsinformationssystem des Bundes (http://www.ris.bka.gv.at).
42 – Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2010, Randnrn. 13 ff.
43 – Diese Mahnschreiben sind der schriftlichen Stellungnahme der Kommission als Anlage 1 und 2 beigefügt.
44 – Die Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen Art. 1 der Grundrechtecharta neben Art. 4 der Grundrechtecharta selbständig zum Tragen kommen kann, braucht für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens nicht weiter vertieft zu werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nach überwiegender Auffassung der deutschen Lehre zuerst eine Prüfung des Art. 4 der Grundrechtecharta vorzunehmen ist. Soweit ein Eingriff in den Schutzbereich dieses spezifischen Grundrechts anzunehmen sein sollte, gehe dieses spezifische Grundrecht vor und scheide Art. 1 der Grundrechtecharta als isolierter oder zusätzlicher Prüfungsmaßstab aus; vgl. in diesem Sinne Jarass, D., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, München 2010, Art. 1 Randnr. 4; Borowsky, D., in Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Hrsg.: Meyer, J.), 3. Aufl., Baden‑Baden 2011, Art. 1, Randnr. 33; Höfling, W., in Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta (Hrsg.: Tettinger, J./Stern, K.), München 2006, Art. 1, Randnr. 18.
45 – Vgl. dazu Höfling, W., a. a. O. (Fn. 44), Art. 4, Randnr. 3; Borowsky, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 4, Randnr. 20.
46 – Die Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen Art. 1 und/oder Art. 4 der Grundrechtecharta neben Art. 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta selbständig zum Tragen kommen kann, braucht für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens nicht weiter vertieft zu werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nach überwiegender Auffassung der deutschen Lehre Art. 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta im Fall einer Überschneidung mit Art. 1 und/oder Art. 4 der Grundrechtecharta als spezifische Bestimmung prüfungstechnisch vorgeht. Vgl. dazu Jarass, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 19, Randnr. 4.
47 – Mit der Feststellung, dass das Recht auf Asyl nach Maßgabe des EUV und des AEUV gewährleistet wird, wird u. a. auf das Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, das dem EUV und dem AEUV beigefügt ist, verwiesen. Weil sich das Vereinigte Königreich allerdings gemäß Art. 3 des Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, an den Richtlinien 2003/9, 2004/85 und 2005/85 sowie an der Verordnung Nr. 343/2003 beteiligt hat, stellt sich im Ausgangsverfahren die Frage nach der Wirkkraft des Art. 18 der Grundrechtecharta gegenüber dem Vereinigten Königreich in dieser Hinsicht nicht.
48 – Weil sich das Zurückweisungsverbot nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention auf Flüchtlinge bezieht, ist der Schutzbereich von Art. 18 der Grundrechtecharta in dieser Hinsicht durch den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention geprägt (in diesem Sinne: Jarass, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 18, Randnr. 5). Im Kontext des Zurückweisungsverbots nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen. Vgl. in diesem Sinne Lauterpacht, E./Bethlehem, D., „The scope and content of the principle of non-refoulement: Opinion“, in Refugee Protection in International Law (Hrsg.: Feller, E./Türk, V./Nicholson, F.), Cambridge 2003, S. 87, 116 ff.
49 – Vgl. in diesem Sinne Lauterpacht, E./Bethlehem, D., a. a. O. (Fn. 48), S. 122; Hailbronner, K., Asyl- und Ausländerrecht, 2. Aufl., Stuttgart 2008, Randnr. 655.
50 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček (C-403/09 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 34); vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C-305/05, Slg. 2007, I-5305, Randnr. 28), und vom 6. November 2003, Lindqvist (C-101/01, Slg. 2003, I-12971, Randnr. 87).
51 – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lenaerts, K., „The Contribution of the European Court of Justice to the Area of Freedom, Security and Justice“, ICLQ 2010, S. 255, 298, der nach eingehender Analyse der neuesten Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich des europäischen Asylsystems zu dem Ergebnis kommt, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung darauf bedacht ist, die Grundrechtsdimension des europäischen Asylsystems zu achten.
52 – Vgl. dazu auch die Urteile Salahadin Abdulla (oben in Fn. 32 angeführt, Randnr. 54) und Bolbol (oben in Fn. 32 angeführt, Randnr. 38) zu dem ähnlich lautenden zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 und der daraus folgenden Pflicht der grundrechtskonformen Auslegung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen.
53 – Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden; vgl. nur Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian u. a. (C‑19/08, Slg. 2009, I‑495, Randnr. 34).
54 – Vgl. Erwägungsgründe 3 f. der Verordnung Nr. 343/2003.
55 – Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003.
56 – Siehe Nr. 118 der vorliegenden Schlussanträge.
57 – Zu Inhalt und Tragweite des Protokolls Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, siehe Nrn. 165 ff. der vorliegenden Schlussanträge.
58 – So ist beispielsweise auch der EGMR in seiner Entscheidung vom 2. Dezember 2008, K.R.S./Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 32733/08) von der Prämisse ausgegangen, es müsse vermutet werden, dass Griechenland die Verpflichtungen nach den Richtlinien 2005/85 und 2003/9 erfülle.
59 – Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Protokoll (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt ist. Dieses Protokoll weist zunächst darauf hin, dass, in Anbetracht des Niveaus des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Mitgliedstaaten füreinander für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten als sichere Herkunftsländer gelten. Vor diesem Hintergrund stellt das Protokoll anschließend fest, dass ein Asylantrag eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats von einem anderen Mitgliedstaat nur unter den im Protokoll aufgezählten, sehr restriktiven Voraussetzungen berücksichtigt oder zur Bearbeitung zugelassen werden darf.
60 – Zum Effektivitätsgrundsatz vgl. Urteile vom 8. Juli 2010, Bulicke (C-246/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25), vom 12. Februar 2008, Kempter (C-2/06, Slg. 2008, I-411, Randnr. 57), vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Randnr. 28), und vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnr. 43).
61 – Urteil K.R.S./Vereinigtes Königreich (oben in Fn. 58 angeführt).
62 – Oben in Fn. 3 angeführt.
63 – Die Art. 3 und 13 der EMRK finden ihr Pendant in den Art. 4 und 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta. In den GRC‑Erläuterungen zu Art. 4 heißt es dazu, dass das Recht nach Art. 4 dem Recht entspricht, das durch den gleichlautenden Art. 3 EMRK garantiert ist, so dass nach Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta Art. 4 die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK hat. In den GRC‑Erläuterungen zu Art. 47 Abs. 1 wird hervorgehoben, dass sich diese Bestimmung zwar auf Art. 13 EMRK stützt, aber dennoch einen umfassenderen Schutz gewährt, da ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht garantiert wird.
64 – Der EGMR bestätigt in ständiger Rechtsprechung, dass die EMRK als ein „lebendiges Instrument“ zu verstehen ist; vgl. nur EGMR‑Urteile vom 25. April 1978, Tyler/Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 5856/72, Randnr. 31), und vom 16. Dezember 1999, v./Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 24888/94, Randnr. 72).
65 – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Rengeling, H.‑W./Szczekalla, P., Grundrechte in der Europäischen Union, Köln 2004, Randnr. 468, die darauf hinweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta eine große Dynamik in die Fortschreibung der Unionsgrundrechte gelange. Naumann, K., „Art. 52 Abs. 3 GrCh zwischen Kohärenz des europäischen Grundrechtsschutzes und Autonomie des Unionsrechts“, EuR 2008, S. 424, weist darauf hin, dass es sich ohne die Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR ohnehin nicht feststellen ließe, welche Bedeutung und Tragweite den Rechten der EMRK zukomme, und dass nur eine dynamische Verweisung ein Auseinanderdriften der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR verhindern könne.
66 – Vgl. dazu auch Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 9. September 2008 in der Rechtssache Elgafaji (C-465/07, Urteil vom 17. Februar 2009, Slg. 2009, I‑921, Randnr. 23).
67 – Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls von Danwitz, T., „Art. 52“, in Europäische Grundrechtecharta (Hrsg.: Tettinger, P./Stern, K.), München 2006, Randnrn. 57 f., der einerseits hervorhebt, dass die Grundrechtecharta dem EGMR natürlich nicht die ausschließliche Auslegungshoheit über die entsprechenden Rechte gewähre, andererseits jedoch einräumt, dass der Gerichtshof insoweit an die Auslegung der Konventionsrechte durch die Rechtsprechung des EGMR gebunden sei, als er das vom EGMR gewährleistete Schutzniveau nicht unterschreiten dürfe. Vgl. ferner Lenaerts, K./de Smijter, E., „The Charter and the Role of the European Courts“, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2001, S. 90, 99, die eine Verpflichtung des Gerichtshofs zur Beachtung und Übernahme der relevanten EGMR‑Rechtsprechung anzunehmen scheinen.
68 – Vgl. zuletzt Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke (C‑92/09 und C‑93/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 43 ff.). Vgl. ebenfalls das Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, Slg. 2009, I‑921, Randnr. 44), in dem der Gerichtshof als obiter dictum hervorhob, dass die in diesem Urteil ermittelte Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 in vollem Umfang mit der EMRK vereinbar war, einschließlich der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK. Im Urteil vom 5. Oktober 2010, McB (C‑400/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 53), hat der Gerichtshof hinsichtlich Art. 7 der Grundrechtecharta ausdrücklich festgestellt, dass dieser Bestimmung die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen sind wie Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR.
69 – Siehe Nrn. 114 f. der vorliegenden Schlussanträge.
70 – Zu der Verweisung auf die Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 18 der Grundrechtecharta vgl. Bernsdorff, N., in Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Hrsg.: Meyer, J.), 3. Aufl., Baden‑Baden 2011, Art. 18, Randnr. 10; Wollenschläger, M., in Handbuch der Europäischen Grundrechte (Hrsg.: Heselhaus/Nowak), München 2006, § 16, Randnr. 32; Jochum, G., in Europäische Grundrechtecharta (Hrsg.: Tettinger, P./Stern, K.), München 2006, Art. 18, Randnr. 6.
71 – Siehe Nrn. 143 ff. der vorliegenden Schlussanträge.
72 – Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 342).
73 – Zu der Frage, ob die Art. 1, 4 und 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta im Fall einer mit diesen Bestimmungen unvereinbaren Überstellung eines Asylbewerbers an einen Mitgliedstaat selbständig nebeneinander zum Tragen kommen können, siehe oben, Fn. 44 und 46.
74 – Vgl. Jarass, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 47, Randnr. 11; Alber, S., in Europäische Grundrechtecharta (Hrsg.: Tettinger, P./Stern, K.), München 2006, Art. 47, Randnr. 25; Nowak, C., a. a. O. (Fn. 19), § 51, Randnr. 32. Vgl. in dem Sinne auch die ständige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK, nach der das darin verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde bereits zum Tragen kommt, wenn eine Konventionsverletzung in vertretbarer Weise behauptet wird – die sogenannte „arguable complaint“. Vgl. nur Urteile M.S.S./Belgien und Griechenland (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 288), und vom 26. Oktober 2000, Kudła/Polen (Beschwerde Nr. 30210/96, Randnr. 157).
75 – Infolge dieses Gesetzesvorbehalts für Grundrechtseinschränkungen müssen Einschränkungen der in der Grundrechtecharta verbürgten Rechte entweder durch den Unionsgesetzgeber oder durch die nationalen Gesetzgeber vorgesehen sein. Wenn die Grundrechtseinschränkung auf der Ebene der nationalen Rechtsordnung erfolgt, ist dieser Gesetzesvorbehalt allerdings weit auszulegen, so dass er – unter besonderer Berücksichtigung der unterschiedlichen Gesetzestraditionen der Mitgliedstaaten – auch Gewohnheitsrecht oder Richterrecht einschließen kann; vgl. Jarass, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 52, Randnr. 28; Borowsky, D., a. a. O. (Fn. 44), Art. 52, Randnr. 20.
76 – Zur Rolle des Effektivitätsgrundsatzes für die Anwendung des Art. 47 der Grundrechtecharta vgl Alber, S., a. a. O. (Fn. 74), Art. 47, Randnr. 34; Jarass, D., „Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nationale und EU-Gerichte“, NJW 2011, S. 1393, 1395. Vgl auch die ständige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK, nach der das darin verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde in dem Sinne zu deuten ist, dass der Rechtsbehelf dem Anspruchsberechtigten sowohl de facto als auch de iure zur Verfügung stehen muss, wobei die zuständigen nationalen Behörden sowohl die behauptete Konventionsverletzung inhaltlich überprüfen als auch angemessene Abhilfe schaffen können müssen. Vgl. nur Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland (oben in Fn. 3 angeführt, Randnrn. 290 f).
77 – Vgl. die in Fn. 60 angeführte Rechtsprechung.
78 – In diesem Sinne auch: House of Lords – European Union Committee, The Treaty of Lisbon: an impact assessment. Volume I: Report (10th Report of Session 2007-08), http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/ld200708/ldselect/ldeucom/62/62.pdf , Randnrn. 5.87 und 5.103. So auch Pernice, I., „The Treaty of Lisbon and Fundamental Rights“, in Griller, S./Ziller, J. (Hrsg.), The Lisbon Treaty. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty?, Wien 2008, S. 235, 245.
79 – Siehe Nrn. 71 ff. der vorliegenden Schlussanträge. In diesem Sinne auch Craig, P., The Lisbon Treaty, Oxford 2010, S. 239; Pernice, I., a. a. O. (Fn. 78), S. 246 f.
80 – So auch House of Lords – European Union Committee, a. a. O. (Fn. 78), Randnr. 5.103, Buchst. a.; Dougan, M., „The Treaty of Lisbon 2007: winning minds, not hearts“, CMLR 2008, S. 617, 669. Vgl. ferner Craig, P., a. a. O. (Fn. 79), S. 239, der in diesem Zusammenhang zutreffend hervorhebt, dass Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 sinnlos wäre, wenn Art. 1 Abs. 1 dieses Protokolls einen generellen Opt-out enthalten würde.
81 – Vgl. dazu House of Lords – European Union Committee, a. a. O. (Fn. 78), Randnr. 5.102.
82 – Vgl. dazu Riedel, E., in Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Hrsg.: Meyer, J.), 3. Aufl., Baden‑Baden 2011, vor Titel IV, Randnrn. 7 ff.
83 – Vgl. dazu House of Lords – European Union Committee, a. a. O. (Fn. 78), Randnr. 5.103, Buchst. b, nach dessen Auffassung Art. 1 Abs. 2 des Protokolls ausschließt, dass der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung einzelner „Rechte“ des Titels IV zu dem Ergebnis kommen könnte, dass sich aus diesen „Rechten“ gerichtlich einklagbare Ansprüche gegen das Vereinigte Königreich ergeben könnten.
84 – Vgl. ebenfalls Dougan, M., a. a. O. (Fn. 80), S. 670; House of Lords – European Union Committee, a. a. O. (Fn. 78), Randnr. 5.103, Buchst. C; Pernice, I., a. a. O. (Fn. 78), S. 248 f.