Verbundene Rechtssachen C‑483/09 und C‑1/10

Strafverfahren

gegen

Magatte Gueye

und

Valentín Salmerón Sánchez

(Vorabentscheidungsersuchen der

Audiencia provincial de Tarragona)

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2001/220/JI – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Im familiären Bereich begangene Straftaten – Verpflichtung, als Nebenstrafe ein Näherungsverbot anzuordnen, mit dem dem Verurteilten untersagt wird, sich seinem Opfer zu nähern – Entscheidung über Art und Maß der Strafen – Vereinbarkeit mit den Art. 2, 3 und 8 des genannten Rahmenbeschlusses – Nationale Vorschrift, die die strafrechtliche Schlichtung ausschließt – Vereinbarkeit mit Art. 10 des Rahmenbeschlusses“

Leitsätze des Urteils

1.        Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Rahmenbeschluss 2001/220 – Rolle des Opfers im Verfahren

(Rahmenbeschluss 2001/220 des Rates, Art. 2, 3 und 8)

2.        Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Rahmenbeschluss 2001/220 – Pflicht zur Förderung der Schlichtung – Umfang

(Rahmenbeschluss 2001/220 des Rates, Art. 10 Abs. 1)

1.        Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220 des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend als Nebenstrafe vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.

Zum einen soll nämlich durch die in Art. 2 Abs. 1 des genannten Rahmenbeschlusses aufgeführten Verpflichtungen gewährleistet werden, dass das Opfer sich am Strafprozess tatsächlich angemessen beteiligen kann, was nicht ausschließt, dass ein obligatorisches Näherungsverbot auch entgegen der vom Opfer vertretenen Ansicht angeordnet werden kann. Zum anderen verleiht das verfahrensmäßige Recht auf Anhörung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses dem Opfer keine Rechte hinsichtlich der Entscheidung über Art oder Höhe der Strafen. Der strafrechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt soll nicht nur die Interessen des Opfers sondern auch andere, allgemeinere Interessen der Gesellschaft schützen. Schließlich lässt sich der Schutz nach Art. 8, der einen angemessenen Schutz des Opfers gegen den Straftäter während des Strafverfahrens sicherstellen soll, nicht in dem Sinne verstehen, dass die Mitgliedstaaten die Opfer auch gegen die mittelbaren Auswirkungen schützen müssten, die in einem späteren Stadium aus den Strafen resultieren, die der nationale Richter verhängt hat.

Außerdem fällt die Verpflichtung, ein Näherungsverbot nach dem in Rede stehenden materiellen Recht anzuordnen, nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses.

(vgl. Randnrn. 56, 60-61, 66-67, 69-70, Tenor 1)

2.        Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich gestattet, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.

Hierzu ist festzustellen, dass – neben dem Umstand, dass Art. 34 Abs. 2 EU den nationalen Stellen die Zuständigkeit hinsichtlich der Form und der Mittel lässt, die zur Erreichung des mit den Rahmenbeschlüssen bezweckten Ergebnisses erforderlich sind – Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses den Mitgliedstaaten lediglich aufgibt, dafür Sorge zu tragen, dass die Schlichtung im Fall von Straftaten, die sie für geeignet halten, gefördert wird, so dass die Entscheidung darüber, bei welchen Straftaten die Möglichkeit der Schlichtung besteht, in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist.

(vgl. Randnrn. 72, 76, Tenor 2)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

15. September 2011(*)

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2001/220/JI – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Im familiären Bereich begangene Straftaten – Verpflichtung, als Nebenstrafe ein Näherungsverbot anzuordnen, mit dem dem Verurteilten untersagt wird, sich seinem Opfer zu nähern – Entscheidung über Art und Maß der Strafen – Vereinbarkeit mit den Art. 2, 3 und 8 des genannten Rahmenbeschlusses – Nationale Vorschrift, die die strafrechtliche Schlichtung ausschließt – Vereinbarkeit mit Art. 10 des Rahmenbeschlusses“

In den verbundenen Rechtssachen C‑483/09 und C‑1/10

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht von der Audiencia Provincial de Tarragona (Spanien) mit Entscheidung vom 15. September 2009 – abgeändert durch Beschluss vom 8. Oktober 2009 – und Entscheidung vom 18. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2009 bzw. am 4. Januar 2010, in den Strafverfahren gegen

Magatte Gueye (C‑483/09),

Beteiligte:

X,

und

Valentín Salmerón Sánchez (C‑1/10),

Beteiligte:

Y,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und S. Unzeitig als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili und L. Ventrella, avvocati dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Ree als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz und S. Johannesson als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker und J. Stratford als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Pardo Quintillán als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Mai 2011

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 2, 8 und 10 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen Herrn Gueye und Herrn Salmerón Sánchez wegen Verstößen gegen das als Nebenstrafe verhängte Verbot, sich ihrem jeweiligen weiblichen Opfer zu nähern, das von ihnen im familiären Bereich misshandelt worden war. Die Hauptstrafen waren wegen dieser Misshandlungen gegen beide verhängt worden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der Rahmenbeschluss wurde insbesondere auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 EU erlassen, nach dessen Buchst. c das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen u. a. die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, soweit dies zur Verbesserung dieser Zusammenarbeit erforderlich ist, einschließt.

4        Aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses geht hervor, dass der Europäische Rat von Tampere (Finnland) bei seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 die Ausarbeitung von Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich ihres Zugangs zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche – beschloss.

5        Der vierte, der achte und der neunte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lauten:

„(4)      Die Mitgliedstaaten sollten ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, soweit dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, um Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau zu bieten.

(8)      Es bedarf einer Angleichung der die Stellung und die wichtigsten Rechte des Opfers betreffenden Vorschriften und Praktiken, darunter insbesondere das Recht auf eine Behandlung unter Achtung der Würde des Opfers, das Recht, Informationen zu erteilen und zu erhalten, das Recht, zu verstehen und verstanden zu werden, das Recht, in den verschiedenen Phasen des Verfahrens geschützt zu werden …

(9)      Die Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses erlegen den Mitgliedstaaten jedoch nicht die Verpflichtung auf, zu gewährleisten, dass Opfer den Prozessparteien gleichgestellt werden.“

6        Nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses bezeichnet im Sinne dieses Beschlusses der Ausdruck

„a)      ‚Opfer‘: eine natürliche Person, die einen Schaden … als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen;

c)      ‚Strafverfahren‘: das strafrechtliche Verfahren im Sinne des geltenden einzelstaatlichen Rechts;

e)      ‚Schlichtung in Strafsachen‘: die vor oder im Verlauf des Strafverfahrens unternommenen Bemühungen um eine durch Vermittlung einer sachkundigen Person zwischen dem Opfer und dem Täter ausgehandelte Regelung.“

7        Art. 2 des Rahmenbeschlusses trägt die Überschrift „Achtung und Anerkennung“ und bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.“

8        Art. 3 des Rahmenbeschlusses, der die Überschrift „Vernehmung und Beweiserbringung“ trägt, bestimmt in seinem Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.“

9        Art. 8 des Rahmenbeschlusses trägt die Überschrift „Recht auf Schutz“ und sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten ein angemessenes Schutzniveau für die Opfer und gegebenenfalls ihre Familien …, insbesondere hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit und des Schutzes ihrer Privatsphäre, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass die ernste Gefahr von Racheakten besteht oder schlüssige Beweise für eine schwere und absichtliche Störung der Privatsphäre vorliegen.

(2)      Zu diesem Zweck und unbeschadet des Absatzes 4 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass bei Bedarf im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geeignete Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre sowie vor Lichtbildaufnahmen des Opfers, seiner Familienangehörigen oder gleichgestellter Personen getroffen werden können.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen ebenfalls sicher, dass eine Begegnung zwischen Opfern und Tätern an den Gerichtsorten vermieden wird, es sei denn, dass das Strafverfahren dies verlangt. Sofern es zu diesem Zweck erforderlich ist, stellen die Mitgliedstaaten schrittweise sicher, dass an Gerichtsorten separate Warteräume für Opfer vorhanden sind.

(4)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Opfern, insbesondere den am meisten gefährdeten, die vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt werden müssen, im Wege gerichtlicher Entscheidungen gestattet werden kann, unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann.“

10      Schließlich tragen nach Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses „[d]ie Mitgliedstaaten … dafür Sorge, dass die Schlichtung in Strafsachen im Falle von Straftaten, die sie für eine derartige Maßnahme für geeignet halten, gefördert wird“.

 Nationales Recht

11      Das Strafgesetzbuch (Código Penal) in der Fassung des Organgesetzes 15/2003 zur Änderung des Organgesetzes 10/1995 (Ley Orgánica 15/2003 por la que se modifica la Ley Orgánica 10/1995) vom 25. November 2003 (BOE Nr. 283 vom 26. November 2003, S. 41842, im Folgenden: Strafgesetzbuch) enthält einen Art. 48, der in seinem Abs. 2 die Wirkungen der Nebenstrafe eines Näherungsverbots bestimmt, mit der dem Verurteilten insbesondere untersagt wird, sich seinem Opfer zu nähern.

12      Art. 57 des Strafgesetzbuchs präzisiert die Fälle und die Voraussetzungen, unter denen eines oder mehrere der in Art. 48 vorgesehenen Verbote ausgesprochen werden können (Abs. 1) oder müssen (Abs. 2), wie folgt:

„1.      Die Richter oder die Gerichte können bei Tötungsdelikten, bei Abtreibung, bei Körperverletzung, bei Straftaten gegen die Freiheit, bei Folter, bei Straftaten gegen die moralische Integrität, die sexuelle Selbstbestimmung, die Intimsphäre, das Recht am eigenen Bild und die Unverletzlichkeit der Wohnung … in Anbetracht der Schwere der Taten oder der Gefahr, die vom Straftäter ausgeht, in ihren Entscheidungen eines oder mehrere der in Art. 48 vorgesehenen Verbote anordnen …

2.      Sind die in Abs. 1 Unterabs. 1 genannten Straftaten gegen den jetzigen oder ehemaligen Ehegatten oder gegen eine Person verübt worden, die mit dem Verurteilten, auch wenn sie nicht zusammenleben oder zusammengelebt haben, durch eine entsprechende emotionale Beziehung verbunden ist oder gewesen ist …, wird in jedem Fall die in Art. 48 Abs. 2 vorgesehene Strafe [nämlich das Verbot, sich dem Opfer zu nähern] verhängt, und zwar für höchstens zehn Jahre bei einer schweren Straftat und für höchstens fünf Jahre bei einer minder schweren Straftat …“

13      Laut den Vorlageentscheidungen umfasst diese obligatorische Strafe eines Näherungsverbots einen Zeitraum, der die Dauer der verhängten Freiheitsstrafe um mindestens ein Jahr übersteigt oder der mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre beträgt, wenn eine Strafe anderer Art verhängt worden ist.

14      Nach Art. 40 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs kann in bestimmten Fällen die sechsmonatige Mindestdauer auf einen Monat herabgesetzt werden.

15      Nach Art. 468 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in seiner durch das Organgesetz 1/2004 über Maßnahmen zum umfassenden Schutz vor Gewalt gegen Frauen geänderten Fassung (Ley Orgánica 1/2004 de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género) vom 28. Dezember 2004 (BOE Nr. 313 vom 29. Dezember 2004, S. 42166, im Folgenden: Organgesetz 1/2004) wird, wer eine der Strafen missachtet, die nach Art. 48 des Strafgesetzbuchs wegen einer Straftat gegen eine der in Art. 173 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs aufgeführten Personen verhängt wurde, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr bestraft. Die letztgenannte Bestimmung erwähnt insbesondere den Ehepartner oder eine Person, die durch eine entsprechende emotionale Beziehung mit dem Verurteilten verbunden ist, auch wenn sie nicht zusammenleben oder zusammengelebt haben.

16      Das Organgesetz 6/1985 über die richterliche Gewalt (Ley Orgánica 6/1985 del Poder Judicial) in seiner durch das Organgesetz 1/2004 geänderten Fassung (im Folgenden: Organgesetz 6/1985) sieht in Art. 82 Abs. 1 vor, dass die Audiencias Provinciales in Strafsachen insbesondere für „gesetzlich vorgesehene Rechtsbehelfe gegen strafrechtliche Entscheidungen der Juzgados de Violencia sobre la Mujer (Gerichte für Gewaltdelikte gegen Frauen) der Provinz“ zuständig sind.

17      Der mit dem Organgesetz 1/2004 eingefügte Art. 87ter Abs. 5 des Organgesetzes 6/1985 untersagt die Schlichtung in allen Fällen von Straftaten, die im familiären Bereich begangen worden sind.

18      Nach Art. 792 Abs. 3 der Strafprozessordnung (Ley de Enjuiciamento Criminal) sind Entscheidungen wie diejenigen, die das vorlegende Gericht als Berufungsgericht in den bei ihm anhängigen Rechtssachen zu erlassen hat, nicht mit einem Rechtsbehelf vor den ordentlichen Gerichten anfechtbar.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      Mit zwei Urteilen, von denen das eine der Juzgado de lo Penal nº 23 de Barcelona (23. Strafkammer des erstinstanzlichen Gerichts von Barcelona) im Jahr 2008 und das andere der Juzgado de Instrucción nº 7 de Violencia sobre la Mujer de El Vendrell (erstinstanzliches Gericht Nr. 7 in Strafsachen für Gewaltdelikte gegen Frauen von El Vendrell) im Jahr 2006 erließen, wurden Herr Gueye und Herr Salmerón Sánchez wegen Misshandlungen im familiären Bereich neben anderen Strafen zu einer Nebenstrafe verurteilt, mit der ihnen für einen Zeitraum von 17 Monaten im ersten Fall und für einen Zeitraum von 16 Monaten im zweiten Fall verboten wurde, sich ihrem Opfer mehr als 1 000 Meter bzw. 500 Meter zu nähern oder zu ihm Kontakt aufzunehmen.

20      Obgleich ihnen diese gemäß Art. 57 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs gegen sie ausgesprochenen Verbote bekannt waren, lebten die beiden Verurteilten relativ kurze Zeit nach Verkündung dieser Nebenstrafen mit ihren jeweiligen Opfern auf deren Wunsch wieder zusammen. Sie taten dies bis zu ihrer Verhaftung, die im Fall von Herrn Gueye am 3. Februar 2009 bzw. im Fall von Herrn Salmerón Sánchez am 5. Dezember 2007 erfolgte.

21      Mit Urteilen vom 11. Februar 2009 bzw. vom 27. März 2008 verurteilte der Juzgado de lo Penal nº 1 de Tarragona (Erste Strafkammer des erstinstanzlichen Gerichts von Tarragona) Herrn Gueye und Herrn Salmerón Sánchez gemäß Art. 468 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs wegen Missachtung der Nebenstrafe des Näherungsverbots.

22      In den gegen die genannten Urteile angestrengten Berufungsverfahren vernahm das vorlegende Gericht die Zeuginnen, die mit Herrn Gueye bzw. Herrn Salmerón Sánchez vor deren Bestrafung mehrere Jahre und danach auch bei deren Verhaftung zusammengelebt hatten.

23      Die Zeuginnen bekundeten hierbei, sie selbst hätten bewusst und aus freien Stücken beschlossen, mit den Verurteilten trotz deren Bestrafung wegen der früheren Tätlichkeiten gegen sie wieder zusammenzuleben.

24      Die Zeuginnen haben nach eigener Aussage mit Herrn Gueye bzw. Herrn Salmerón Sánchez mehrere Monate bis zu deren Verhaftung normal zusammengelebt.

25      Die Verurteilten begehren mit ihren Berufungen gegen die vom Juzgado de lo Penal nº 1 de Tarragona erlassenen Urteile vom vorlegenden Gericht die Feststellung, dass die Wiederaufnahme des Zusammenlebens, dem ihre Partnerinnen aus freien Stücken zugestimmt hätten, nicht den Straftatbestand der Missachtung der Nebenstrafe des Näherungsverbots erfülle.

26      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt eine etwaige Aufrechterhaltung der erstinstanzlich verhängten Strafen davon ab, ob die obligatorische Anordnung von Näherungsverboten bei Straftaten im familiären Bereich, selbst wenn die Opfer sich derartigen Maßnahmen widersetzten, mit dem Rahmenbeschluss vereinbar sei.

27      Unbestreitbar könnten in bestimmten Situationen derartige Näherungsverbote auch gegen den Willen der Opfer angeordnet werden. Jedoch könne das angemessene Schutzniveau, das konkret den Opfern von im familiären Bereich begangenen Straftaten zu gewähren sei, nicht dazu führen, dass – insbesondere bei geringfügigen Straftaten – ein Näherungsverbot ohne vorherige Würdigung der Umstände des Einzelfalls und ohne Ausnahme verhängt werde.

28      Vor diesem Hintergrund hat die Audiencia Provincial de Tarragona beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die in den beiden Rechtssachen C‑483/09 und C‑1/10 identisch formuliert sind:

1.      Ist das im achten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses erwähnte Recht des Opfers, verstanden zu werden, als positive Verpflichtung der mit der Strafverfolgung beauftragten staatlichen Behörden auszulegen, dem Opfer zu ermöglichen, seine Beurteilung, Überlegung und Meinung hinsichtlich der ummittelbaren Auswirkungen zum Ausdruck zu bringen, die die Verhängung von Strafen gegen den Täter, mit dem es eine familiäre oder eine starke emotionale Beziehung unterhält, haben kann?

2.      Ist Art. 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Rechte und legitimen Interessen des Opfers anzuerkennen, die Verpflichtung beinhaltet, dessen Meinung zu berücksichtigen, wenn die strafrechtlichen Folgen des Verfahrens unmittelbar und im Kern die Entwicklung seines Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und des Privat- und Familienlebens beeinträchtigen können?

3.      Ist Art. 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die staatlichen Behörden den freien Willen des Opfers unbeachtet lassen können, wenn er der Anordnung oder der Aufrechterhaltung eines Näherungsverbots entgegensteht, der Täter ein Mitglied seiner Familie ist, keine objektive Wiederholungsgefahr festgestellt werden kann und ein Niveau der persönlichen, sozialen, kulturellen und emotionalen Kompetenz vorliegt, das die Prognose einer Unterwerfung unter den Täter ausschließt, oder ist vielmehr von der Berechtigung dieser Maßnahme in Anbetracht der spezifischen Merkmale dieser Straftaten auszugehen?

4.      Ist Art. 8 des Rahmenbeschlusses, der bestimmt, dass die Mitgliedstaaten ein angemessenes Schutzniveau für die Opfer gewährleisten müssen, dahin auszulegen, dass er die unterschiedslose und zwingende Anordnung von Näherungsverboten oder Kontaktsperren als Nebenstrafen in sämtlichen Fällen von Opfern von Straftaten im familiären Bereich in Anbetracht der spezifischen Merkmale dieser Rechtsverstöße erlaubt, oder verlangt Art. 8 vielmehr eine einzelfallbezogene Abwägung, die es ermöglicht, im Einzelfall das in Anbetracht der beteiligten Interessen angemessene Schutzniveau festzustellen?

5.      Ist Art. 10 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass er es zulässt, die Schlichtung in Strafverfahren wegen Straftaten, die im familiären Bereich begangen wurden, in Anbetracht der spezifischen Merkmale dieser Straftaten auszuschließen, oder ist vielmehr die Schlichtung auch in dieser Art von Verfahren zuzulassen, indem die beteiligten Interessen einzelfallbezogen abgewogen werden?

29      Die Rechtssachen C‑483/09 und C‑1/10 sind mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 24. September 2010 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

30      Aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. L 114, S. 56) veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam geht hervor, dass das Königreich Spanien eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, mit der es die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen auf Ersuchen jedes seiner Gerichte, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. a EU anerkannt hat.

31      Nach Art. 792 Abs. 3 der Strafprozessordnung können die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts in den Ausgangsverfahren nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts vor den ordentlichen Gerichten angefochten werden.

32      Gemäß Art. 10 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen im Anhang zum AEU‑Vertrag bleiben die Befugnisse des Gerichtshofs nach Titel VI des EU‑Vertrags in der vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung bei einem Rechtsakt wie dem Rahmenbeschluss, der vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurde, unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Art. 35 Abs. 2 EU anerkannt wurden.

33      Infolgedessen ist der Gerichtshof nach Art. 35 Abs. 1 EU zuständig, um im Wege der Vorabentscheidung über die Ersuchen des vorlegenden Gerichts zur Auslegung des Rahmenbeschlusses zu befinden.

 Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

34      Die spanische und die italienische Regierung machen in erster Linie geltend, dass die Vorabentscheidungsersuchen unzulässig seien.

35      Die spanische Regierung vertritt erstens die Ansicht, dass es in den Ausgangsverfahren nicht um die Anordnung eines Näherungsverbots gemäß Art. 57 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs gehe und sich daher nicht die Frage stelle, ob der Rahmenbeschluss der obligatorischen Anordnung einer derartigen Maßnahme entgegenstehe. Da die Ausgangsverfahren die Verhängung einer Strafe gemäß Art. 468 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs wegen Missachtung eines zuvor angeordneten Näherungsverbots beträfen, seien die Vorlagefragen rein hypothetisch.

36      Zweitens ergebe sich, selbst wenn die genannten Fragen sich auf Art. 468 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs bezögen, das in den Ausgangsverfahren aufgeworfene Problem nicht aus dieser Bestimmung als solcher, sondern aus deren Auslegung durch die Sala de lo Penal del Tribunal Supremo (Strafkammer des Obersten Gerichts) in einem „nicht bindenden Entscheid“ vom 25. November 2008, wonach „die Zustimmung des Opfers … die Strafbarkeit nach Art. 468 des Strafgesetzbuchs [nicht ausschließt]“. In Wirklichkeit beträfen die Vorlagefragen also die Auslegung des innerstaatlichen Rechts, zu dem sich der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nicht zu äußern habe.

37      Die italienische Regierung weist außerdem darauf hin, dass jede Auslegung des Rahmenbeschlusses, die auf eine Kollision zwischen dem Beschluss und dem innerstaatlichen Recht hinauslaufe, sich nicht durch eine Auslegung dieses Rechts entsprechend den Zielen des Rahmenbeschlusses lösen lasse. Eine derartige Auslegung könne höchstens contra legem erfolgen, was das Unionsrecht nicht zulasse. Die Vorlagefragen seien folglich nicht erheblich und hypothetisch.

38      Dazu ist festzustellen, dass nach Art. 35 Abs. 3 Buchst. a EU ebenso wie nach Art. 267 AEUV der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht werden kann, sofern das nationale Gericht „eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält“, so dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zulässigkeit der nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen grundsätzlich auf die Ersuchen um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 35 EU übertragbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285, Randnr. 29).

39      Im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. insbesondere Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 59, und vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 30).

40      Allerdings kann der Gerichtshof im Hinblick auf die ihm in Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe über Vorlagefragen eines nationalen Gerichts dann nicht befinden, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2008, Katz, C‑404/07, Slg. 2008, I‑7607, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Im vorliegenden Fall geht es bei den vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen darum, ob das obligatorisch als Nebenstrafe zu verhängende Näherungsverbot als solches mit dem Rahmenbeschluss vereinbar ist. Das vorlegende Gericht ist nämlich der Ansicht, dass in Strafverfahren wegen Missachtung der zuvor verhängten Strafe eines Näherungsverbots geprüft werden müsse, ob diese obligatorischen Strafen, auf die es eine Verurteilung gründen müsse, nicht selbst gegen den Rahmenbeschluss verstießen. Aufgrund dessen erscheinen die Vorlagefragen nicht als hypothetisch.

42      Im Übrigen geht der Gerichtshof bei der Beantwortung der Vorlagefragen von der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung der fraglichen innerstaatlichen Vorschriften aus, die er weder in Frage stellen, noch deren Richtigkeit er prüfen kann.

43      Schließlich hat die spanische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Auslegung von Art. 468 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs durch das Tribunal Supremo in seinem Entscheid vom 25. November 2008 den Gerichten grundsätzlich nicht die Möglichkeit nehme, von dieser Auslegung in begründeter Weise abzuweichen. Sollte der Gerichtshof auf die Vorlagefragen antworten, dass der Rahmenbeschluss einer nationalen Maßnahme wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehe, sei daher entgegen der Ansicht der italienischen Regierung keineswegs offensichtlich, dass in den Ausgangsverfahren eine Auslegung des innerstaatlichen Rechts im Einklang mit dem Rahmenbeschluss zwangsläufig unmöglich wäre.

44      Somit ist nicht offensichtlich, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Rahmenbeschlusses in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand der Ausgangsverfahren steht oder das aufgeworfene Problem hypothetischer Natur ist.

45      Folglich sind die Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen 1 bis 4

46      Vor Prüfung der ersten vier Fragen ist darauf hinzuweisen, dass der achte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses, der Gegenstand der ersten Frage ist, als solcher rechtlich nicht verbindlich ist (vgl. Urteil vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, Slg. 2010, I‑1391, Randnr. 40).

47      Formal gesehen hat das vorlegende Gericht seine Fragen 2 bis 4 auf die Auslegung der Art. 2 und 8 des Rahmenbeschlusses beschränkt. Dieser Umstand hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, dem Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts – im vorliegenden Fall auch solche, die sich auf eine andere Bestimmung des genannten Rahmenbeschlusses beziehen – zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Verfahren von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei dieser Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 24).

48      Die Mitgliedstaaten müssen zwar nach Art. 2 des Rahmenbeschlusses die Rechte und die berechtigten Interessen der Opfer anerkennen, doch es ist Art. 3 Abs. 1 im Licht des achten Erwägungsgrundes dieses Beschlusses, nach dem sie gewährleisten müssen, dass das Opfer im Lauf des Strafverfahrens gehört werden kann.

49      Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten vier Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 2, 3 oder 8 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass sie es verbieten, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend als Nebenstrafe vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.

50      Der Rahmenbeschluss enthält keine Bestimmung über Art und Höhe der Strafen, die die Mitgliedstaaten in ihre Rechtsvorschriften zur Ahndung von Straftaten vorsehen müssen.

51      Außerdem enthält der Rahmenbeschluss keinen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber der Union in den Grenzen der ihm durch den EU‑Vertrag verliehenen Befugnisse beabsichtigt hätte, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Art und Höhe der Strafen zu harmonisieren oder zumindest einander anzunähern.

52      Nach dem dritten und dem vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses sollen lediglich Mindeststandards im Rahmen eines Strafverfahrens, wie es in Art. 1 Buchst. c definiert wird, für den Schutz der Opfer von Straftaten ausgearbeitet werden, und diesen Opfern soll ein hohes Schutzniveau insbesondere hinsichtlich ihres Zugangs zum Recht geboten werden.

53      Der neunte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses stellt ferner klar, dass dessen Bestimmungen den Mitgliedstaaten nicht die Verpflichtung auferlegen, zu gewährleisten, dass Opfer den Prozessparteien gleichgestellt werden.

54      Der Rahmenbeschluss ist seinem Aufbau und Inhalt nach so konzipiert, dass er allgemein in Art. 2 die Hauptziele, die zum Schutz der Opfer verwirklicht werden sollen, und in den folgenden Artikeln verschiedene Rechte hauptsächlich prozessualer Art nennt, die das Opfer im Strafverfahren in Anspruch nehmen können muss.

55      Die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses sind so auszulegen, dass die Grundrechte beachtet werden; zu nennen ist dabei insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vgl. insbesondere Urteile Pupino, Randnr. 59, und Katz, Randnr. 48).

56      Durch die in Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Verpflichtungen soll gewährleistet werden, dass das Opfer sich am Strafprozess tatsächlich angemessen beteiligen kann, was nicht ausschließt, dass ein obligatorisches Näherungsverbot wie das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende auch entgegen der vom Opfer vertretenen Ansicht angeordnet werden kann.

57      Nach Art. 3 des Rahmenbeschlusses müssen die Mitgliedstaaten zwar gewährleisten, dass das Opfer im Lauf des Verfahrens gehört werden und Beweismaterial liefern kann, doch belässt diese Bestimmung den nationalen Behörden ein weites Ermessen bei der konkreten Umsetzung dieses Ziels (vgl. in diesem Sinne Urteil Katz, Randnr. 46).

58      Soll jedoch Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses nicht ein Großteil seiner praktischen Wirksamkeit genommen und nicht gegen die Verpflichtungen aus Art. 2 Abs. 1 dieses Beschlusses verstoßen werden, implizieren diese Bestimmungen jedenfalls, dass das Opfer im Strafverfahren eine Aussage machen und dass diese Aussage als Beweismittel berücksichtigt werden kann (Urteil Katz, Randnr. 47).

59      Um zu gewährleisten, dass das Opfer sich am Strafverfahren tatsächlich angemessen beteiligen kann, muss somit sein Recht auf Anhörung ihm neben der Möglichkeit, objektiv den Tathergang zu beschreiben, auch Gelegenheit geben, seinen Standpunkt vorzutragen.

60      Dieses verfahrensmäßige Recht auf Anhörung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses verleiht dem Opfer keine Rechte hinsichtlich der Entscheidung über Art oder Höhe der Strafen, die gegen die Täter nach den Vorschriften des innerstaatlichen Strafrechts zu verhängen sind.

61      Der strafrechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt, den ein Mitgliedstaat in Ausübung seines Strafanspruchs sicherstellt, soll nicht nur die Interessen des Opfers, wie sie sich aus dessen Sicht darstellen, sondern auch andere, allgemeinere Interessen der Gesellschaft schützen.

62      Infolgedessen verbietet Art. 3 des Rahmenbeschlusses dem nationalen Gesetzgeber insbesondere dann, wenn neben den Interessen des Opfers noch andere Interessen in Betracht gezogen werden müssen, nicht, die obligatorische Verhängung von Strafen von einer bestimmten Mindestdauer vorzusehen.

63      Art. 8 des Rahmenbeschlusses schließlich soll nach seinem Abs. 1 „ein angemessenes Schutzniveau für die Opfer“ insbesondere hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit und des Schutzes ihrer Privatsphäre gewährleisten, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass die „ernste Gefahr von Racheakten besteht oder schlüssige Beweise für eine schwere und absichtliche Störung der Privatsphäre vorliegen“.

64      Zu diesem Zweck sollen die in Art. 8 Abs. 2 bis 4 aufgeführten vorbeugenden und praktischen Schutzmaßnahmen gewährleisten, dass das Opfer sich angemessen am Strafprozess beteiligen kann, ohne dass diese Beteiligung durch Gefahren für seine Sicherheit und seine Privatsphäre beeinträchtigt wird.

65      Ebenso wie die Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses enthält Art. 8 keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, im innerstaatlichen Strafrecht Bestimmungen vorzusehen, die es dem Opfer erlauben, Einfluss auf die Strafen zu nehmen, die der nationale Richter gegen den Täter verhängen kann.

66      Der Schutz im Sinne des genannten Art. 8 soll einen „angemessenen“ Schutz des Opfers oder einer Person aus seiner Umgebung gegen den Straftäter während des Strafverfahrens sicherstellen.

67      Dagegen lässt sich Art. 8 des Rahmenbeschlusses nicht in dem Sinne verstehen, dass die Mitgliedstaaten die Opfer auch gegen die mittelbaren Auswirkungen schützen müssten, die in einem späteren Stadium aus den Strafen resultieren, die der nationale Richter gegen die Straftäter verhängt hat.

68      Art. 8 des Rahmenbeschlusses lässt sich somit nicht dahin auslegen, dass er die Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Strafen beschränkt, die sie in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung festlegen.

69      Schließlich ist festzustellen, dass die Verpflichtung, ein Näherungsverbot nach dem in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden materiellen Recht anzuordnen, als solche nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt und somit jedenfalls nicht im Licht der Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beurteilt werden kann.

70      Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten vier Fragen zu antworten, dass die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend als Nebenstrafe vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.

 Zur fünften Frage

71      Mit seiner fünften Frage in den beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich gestattet, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.

72      Hierzu ist festzustellen, dass – neben dem Umstand, dass Art. 34 Abs. 2 EU den nationalen Stellen die Zuständigkeit hinsichtlich der Form und der Mittel lässt, die zur Erreichung des mit den Rahmenbeschlüssen bezweckten Ergebnisses erforderlich sind – Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses den Mitgliedstaaten lediglich aufgibt, dafür Sorge zu tragen, dass die Schlichtung im Fall von Straftaten, die sie „für geeignet halten“, gefördert wird, so dass die Entscheidung darüber, bei welchen Straftaten die Möglichkeit der Schlichtung besteht, in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist (vgl. Urteil vom 21. Oktober 2010, Eredics und Sápi, C‑205/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 37).

73      Daher gestattet Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses den Mitgliedstaaten, die Schlichtung für sämtliche im familiären Bereich begangene Straftaten auszuschließen, wie dies Art. 87ter Abs. 5 des Organgesetzes 6/1985 vorsieht.

74      Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 und dem weiten Ermessen, das der Rahmenbeschluss den nationalen Behörden in Bezug auf die konkrete Umsetzung seiner Ziele lässt, ergibt sich nämlich, dass der nationale Gesetzgeber mit der aus strafrechtspolitischen Gründen getroffenen Entscheidung, die Anwendung des Schlichtungsverfahrens für eine bestimmte Art von Straftaten auszuschließen, sein Ermessen nicht überschritten hat (vgl. entsprechend Urteil Eredics und Sápi, Randnr. 38).

75      Hinzuzufügen ist, dass das Ermessen der Mitgliedstaaten durch die Verpflichtung begrenzt sein kann, bei der Entscheidung, welche Straftaten sich ihrer Ansicht nach nicht für eine Schlichtung eignen, objektive Kriterien heranzuziehen. Jedoch deutet nichts darauf hin, dass der im Organgesetz 6/1985 vorgesehene Ausschluss der Schlichtung auf nicht objektiven Kriterien beruht.

76      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich gestattet, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.

 Kosten

77      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, ein nach dem Strafrecht eines Mitgliedstaats zwingend als Nebenstrafe vorgeschriebenes Näherungsverbot von einer bestimmten Mindestdauer gegen den Täter von im familiären Bereich begangenen Gewalttaten anzuordnen, selbst wenn das Opfer dieser Gewalttaten sich gegen die Verhängung einer derartigen Strafe ausspricht.

2.      Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten in Anbetracht der spezifischen Merkmale der Straftaten im familiären Bereich gestattet, die Schlichtung in sämtlichen Strafverfahren, die sich auf derartige Straftaten beziehen, auszuschließen.

Unterschriften


*Verfahrenssprache: Spanisch.