SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
M. POIARES MADURO
vom 30. September 20091(1)
Rechtssache C‑135/08
Janko Rottmann
gegen
Freistaat Bayern
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])
„Europabürgerschaft – Verlust – Verlust der Staatsangehörigkeit des Herkunftsmitgliedstaats durch Erwerb der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats – Entzug der neuen Staatsangehörigkeit wegen betrügerischer Handlungen bei ihrem Erwerb“
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wirft erstmals die Frage der Reichweite des Ermessenspielraums auf, über den die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung ihrer Staatsangehörigen verfügen. Können die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust ihrer Staatsangehörigkeit noch ausüben, ohne das Gemeinschaftsrecht in irgendeiner Form beachten zu müssen, nachdem der Vertrag die – wenn auch durch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats vermittelte – Bürgerschaft der Europäischen Union eingeführt hat? Darum geht es im Wesentlichen in der vorliegenden Rechtssache. Darüber hinaus bietet sie Gelegenheit, das Verhältnis zwischen den beiden Konzepten der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit und der Unionsbürgerschaft zu präzisieren, eine Frage, die, wie kaum betont werden muss, von wesentlicher Bedeutung für das Wesen der Europäischen Union ist.
I – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
2. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Rottmann, wurde 1956 in Graz (Österreich) geboren und erwarb durch Geburt im Hoheitsgebiet dieses Staates die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 wurde er in seiner Eigenschaft als österreichischer Staatsbürger auch Unionsbürger.
3. Nachdem von der Bundespolizeidirektion Graz gegen ihn Ermittlungen wegen des Verdachts des schweren gewerbsmäßigen Betrugs eingeleitet worden waren, wurde er im Juli 1995 vom Landesgericht für Strafsachen in Graz als Beschuldigter vernommen. Daraufhin reiste er aus Österreich aus und nahm seinen Wohnsitz in München (Deutschland). Im Februar 1997 erließ das Landesgericht für Strafsachen in Graz einen nationalen Haftbefehl gegen ihn.
4. Bei der Landeshauptstadt München beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens im Februar 1998 die deutsche Staatsangehörigkeit. In dem hierfür verwendeten, von ihm ausgefüllten Antragsformular verschwieg er, dass gegen ihn in Österreich ein Ermittlungsverfahren anhängig war. Die Einbürgerungsurkunde vom 25. Januar 1999 wurde dem Kläger am 5. Februar 1999 ausgehändigt. Durch seine Einbürgerung in Deutschland verlor Herr Rottmann nach österreichischem Staatsangehörigkeitsrecht seine österreichische Staatsangehörigkeit(2).
5. Im August 1999 erreichten die Stadt München Informationen der österreichischen Behörden, dass Herr Rottmann dort per Haftbefehl gesucht werde und bereits im Juli 1995 vom Landesgericht für Strafsachen in Graz als Beschuldigter vernommen worden sei. Daraufhin nahm der beklagte Freistaat Bayern die Einbürgerung mit Bescheid vom 4. Juli 2000 rückwirkend zurück, weil der Kläger das österreichische Ermittlungsverfahren verschwiegen und dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit erschlichen habe. Die deutschen Behörden stützten ihre Rücknahmeentscheidung auf Art. 48 Abs. 1 des Bayrischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG), in dem es heißt: „Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. …“.
6. Der Kläger erhob Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid und machte geltend, durch die Rücknahme seiner Einbürgerung werde er völkerrechtswidrig staatenlos und verliere damit unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht auch seine Unionsbürgerschaft. Nachdem Klage und Berufung erfolglos blieben, hat Herr Rottmann Revision an das Bundesverwaltungsgericht eingelegt.
7. Da das Bundesverwaltungsgericht angesichts des Umstands, dass mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und dem dadurch bedingten Eintritt von Staatenlosigkeit regelmäßig auch der Verlust der Europabürgerschaft einhergeht, Zweifel an der Vereinbarkeit der streitigen Rücknahmeentscheidung und des Berufungsurteils mit Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit Art. 17 Abs. 1 EG, hat, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht Gemeinschaftsrecht der Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) entgegen, der sich daraus ergibt, dass eine nach nationalem (deutschen) Recht an sich rechtmäßige Rücknahme einer durch arglistige Täuschung erschlichenen Einbürgerung in den Staatsverband eines Mitgliedstaats (Deutschland) dazu führt, dass im Zusammenwirken mit dem nationalen Staatsangehörigkeitsrecht eines anderen Mitgliedstaats (Österreich) – wie hier im Falle des Klägers infolge des Nichtwiederauflebens der ursprünglich österreichischen Staatsangehörigkeit – Staatenlosigkeit eintritt?
2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Muss der Mitgliedstaat (Deutschland), der den Unionsbürger eingebürgert hat und die erschlichene Einbürgerung wieder zurücknehmen will, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts von der Rücknahme der Einbürgerung ganz oder zeitweilig absehen, wenn oder solange sie die in Frage 1 beschriebene Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) hätte, oder ist der andere Mitgliedstaat (Österreich) der früheren Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, sein nationales Recht so auszulegen und anzuwenden oder auch anzupassen, dass diese Rechtsfolge nicht eintritt?
II – Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
8. Vor der Beantwortung der Vorlagefragen gilt es den von mehreren Mitgliedstaaten und der Kommission vorgetragenen Einwand zu entkräften, der vorliegende Sachverhalt habe eine rein innerstaatliche Dimension und falle deshalb nicht unter das Gemeinschaftsrecht, so dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei.
9. Auch wenn die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt ist, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“(3), bezweckt sie nicht, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrags auf rein interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen(4). Eine Berufung auf sie kommt also in einem solchen Fall nicht in Betracht.
10. Es wäre jedoch offensichtlich verfehlt, anzunehmen, wie dies offenbar einige Mitgliedstaaten in ihren Stellungnahmen tun, dass es sich vorliegend um einen rein internen Sachverhalt handelt, weil der Streitgegenstand, hier der Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilen sei. Es sei daran erinnert, dass nach der Rechtsprechung der Umstand, dass das Namensrecht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, nicht bedeutet, dass diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit nicht auch das Gemeinschaftsrecht beachten müssten(5). Soll der Anwendungsbereich des Vertrags nicht ausgedehnt werden, ist bei den nationalen Bestimmungen über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit gewiss nicht allein deshalb Gemeinschaftsrecht anzuwenden, weil die Folge davon der Erwerb oder Verlust der Unionsbürgerschaft sein kann. Aber auch wenn ein Sachverhalt sich auf einen Gegenstand bezieht, für dessen Regelung grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig sind, fällt er in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ratione materiae, sofern er einen über den nationalen Rahmen hinausweisenden Aspekt, d. h. eine grenzüberschreitende Dimension, aufweist. Ein rein interner Sachverhalt ist somit nur ein solcher, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen(6).
11. In dieser Hinsicht lässt sich das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Merkmals nicht mit der Begründung bestreiten, dass mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die rechtlichen Beziehungen des Klägers des Ausgangsverfahrens zur Bundesrepublik Deutschland nunmehr die eines Angehörigen dieses Staats seien und dass die Rücknahme der Einbürgerung einen an einen deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Deutschland gerichteten Verwaltungsakt einer deutschen Behörde darstelle. Damit wird der Ursprung der Lage von Herrn Rottmann völlig ausgeblendet. Herr Rottmann hat von seinem Recht, sich innerhalb der Gemeinschaft frei zu bewegen und aufzuhalten, das an die ihm als österreichischem Staatsbürger zustehende Unionsbürgerschaft geknüpft ist, Gebrauch gemacht, als er 1995 nach Deutschland einreiste und dort seinen Wohnsitz nahm. Zwar erfolgten der Erwerb der deutschen und der Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit im Einklang mit den Bestimmungen des nationalen Rechts, doch geschah dies somit nach Ausübung einer der Grundfreiheiten(7), die das Gemeinschaftsrecht ihm zuerkennt. Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch Situationen, in denen es um die Ausübung der im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten geht, namentlich um die Ausübung der in Art. 18 EG verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht als rein interne Sachverhalte ohne Bezug zum Gemeinschaftsrecht anzusehen(8).
12. Der sachliche Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts wurde demgemäß in einem Fall als eröffnet angesehen, in dem ein Steuerpflichtiger mit Wohnsitz in Deutschland die seiner geschiedenen Ehefrau mit Wohnsitz in Österreich erbrachten Unterhaltsleistungen nach deutschem Recht nicht von seinen in Deutschland steuerpflichtigen Einkünften abziehen konnte, wohingegen ihm dies möglich gewesen wäre, wenn die Ehefrau ihren Wohnsitz noch in Deutschland gehabt hätte. Obwohl der Steuerpflichtige selbst keinen Gebrauch vom Recht auf Freizügigkeit gemacht hatte, wurde in diesem Sinne entschieden, weil sich die Ausübung des seiner geschiedenen Ehefrau nach Art. 18 EG zustehenden Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auf die für ihn bestehende Möglichkeit auswirkte, die an sie erbrachten Unterhaltsleistungen von seinen in Deutschland steuerpflichtigen Einkünften abzuziehen(9). Auch die Entscheidung der polnischen Behörden, die Auszahlung einer zivilen Kriegsopfern gewährten Invaliditätsrente an eine polnische Staatsangehörige deshalb zu verweigern, weil diese ihren Wohnsitz in Deutschland genommen hatte, womit sich die Inanspruchnahme des ihr durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auf ihren Anspruch auf Auszahlung der genannten Leistung auswirkte, stellt keinen rein internen Sachverhalt dar(10).
13. Im vorliegenden Fall ist der Zusammenhang zwischen der streitigen Rücknahme der Einbürgerung und der vom Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Grundfreiheit zwar weniger unmittelbar: Die Rücknahme ist nicht auf die Ausübung einer der Grundfreiheiten, sondern auf die arglistige Täuschung durch den Kläger des Ausgangsverfahrens zurückzuführen. Gleichwohl hat sich die Ausübung des Herrn Rottmann als Unionsbürger zustehenden Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auf die Änderung seines Personenstands ausgewirkt: Erst durch die Wohnsitznahme in Deutschland erfüllte er die Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, nämlich den rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Staatsgebiet. Das Bestehen eines solchen Zusammenhangs genügt für die Annahme eines Bezugs zum Gemeinschaftsrecht. Dies belegt ein Fall, in dem für die Ablehnung eines Antrags auf Änderung des Familiennamens ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht festgestellt wurde, obwohl die belgischen Behörden diesen Antrag zweier Kinder belgischer Staatsangehörigkeit, die sich seit ihrer Geburt in Belgien aufhielten, mit der Begründung abgelehnt hatten, sie seien auch spanische Staatsangehörige und daher als Angehörige eines Mitgliedstaats anzusehen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhielten. Dabei hatte die Ablehnung des Antrags auf Änderung des Familiennamens nichts mit dem mit der Unionsbürgerschaft verknüpften Recht auf Freizügigkeit zu tun, denn sie wurde damit begründet, dass Kinder nach belgischem Recht traditionell den Namen ihres Vaters führen(11).
III – Die staatliche Regelung der Fragen der Staatsangehörigkeit „unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts“
14. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Regelung der Fragen der Staatsangehörigkeit beschränkt, wenn eine Person, die ursprünglich die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besessen und diese durch Einbürgerung in den Staatsverband eines anderen Mitgliedstaats verloren hatte, die Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaats durch betrügerische Handlungen erworben hat und als Folge ihrer Rücknahme staatenlos wird und die Unionsbürgerschaft verliert. Wenn ja, muss dann der Mitgliedstaat der früheren oder muss derjenige der entzogenen Staatsangehörigkeit aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts dafür sorgen, dass die Rechtsfolge der Staatenlosigkeit nicht eintritt?
15. Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen beruhen auf den folgenden Erwägungen. Die Unionsbürgerschaft wird durch die nationale Staatangehörigkeit vermittelt und tritt neben diese, wie aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 EG hervorgeht, wonach „Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.“(12) Daraus folgt, dass Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft nicht autonom erfolgen, sondern von Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats abhängen; die Unionsbürgerschaft setzt die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats voraus.
16. Das Verhältnis zwischen dem einen und dem anderen Status (der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit und der Unionsbürgerschaft) ergibt sich unmittelbar aus der Natur und der Bedeutung der Unionsbürgerschaft. Während die Staatsbürgerschaft, gemeinsam mit der Staatsangehörigkeit, traditionell die rechtliche und politische Stellung der Angehörigen eines Mitgliedstaats innerhalb ihres politischen Gemeinwesens bezeichnete, verweist die Unionsbürgerschaft auf den rechtlichen und politischen Status, der den Angehörigen eines Staates über ihren politischen Staatsverband hinaus zuerkannt wird. Der abgeleitete Charakter der Unionsbürgerschaft im Verhältnis zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats folgt aus ihrem Verständnis als „staatsübergreifende Bürgerschaft“(13), die den Angehörigen eines Mitgliedstaats verschiedene Rechte in den übrigen Mitgliedstaaten verleiht, darunter insbesondere das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie das Recht auf Gleichbehandlung(14), auch im Verhältnis zur Union selbst. Sehr folgerichtig macht daher die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats den Einzelnen zum Bürger sowohl dieses Staates als auch der Europäischen Union. Sie verleiht den Angehörigen der Mitgliedstaaten eine über den Staat hinausgehende Bürgerschaft.
17. In diesem Zusammenhang liegt selbstverständlich die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit – und damit der Unionsbürgerschaft – in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Bekanntlich wird unter Staatsangehörigkeit das öffentlich-rechtliche Verhältnis eines Menschen zu einem bestimmten Staat verstanden, das zur Entstehung von Rechten und Pflichten bei diesem führt. Kennzeichnend für dieses Staatangehörigkeitsband ist, dass es auf einem Verhältnis besonderer Verbundenheit mit dem betreffenden Staat und auf der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten beruht(15). Mit der Staatsangehörigkeit bestimmt der Staat sein Volk. Es geht über das Staatsangehörigkeitsband, um die Bildung eines nationalen Gemeinwesens, und selbstverständlich kann ein Mitgliedstaat frei deren Rahmen abstecken, indem er bestimmt, wen er als seinen Staatsangehörigen ansieht.
18. So bestimmt es traditionell das Völkerrecht. Bereits der Ständige Internationale Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass die Fragen der Staatsangehörigkeit grundsätzlich in die Zuständigkeit der einzelnen Staaten fällt(16). Der Internationale Gerichtshof hat in der Folge bestätigt, dass es nach dem Völkerrecht jedem Staat freisteht, die Zuerkennung seiner eigenen Staatsangehörigkeit zu regeln und diese durch die von seinen eigenen Organen entsprechend seinem nationalen Recht ausgesprochene Einbürgerung zu verleihen(17). Schließlich ist – in jüngerer Zeit – im Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997, das im Rahmen des Europarats angenommen wurde und am 1. März 2000 in Kraft getreten ist, in Art. 3 Abs. 1 bekräftigt worden, dass jeder Staat nach seinem eigenen Recht bestimmt, wer seine Staatsangehörigen sind.
19. Die Union hält an der im Völkerrecht gefundenen Lösung fest, die sie für einen Grundsatz des „Völkergewohnheitsrechts“ erachtet(18). So haben es die Mitgliedstaaten gewollt. Dies ergibt sich ausdrücklich aus der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die von den Mitgliedstaaten der Schlussakte des Vertrags über die Europäische Union beigefügt worden ist(19), und wird durch den Einwand, die den Verträgen beigefügten Erklärungen hätten, anders als die Protokolle, nicht den gleichen rechtlichen Rang wie der Vertrag, nicht widerlegt. Die Gemeinschaftsrechtsprechung hat sie nämlich zumindest als Auslegungshilfen anerkannt(20). Es sei nur daran erinnert, dass nach der Rechtsprechung eine einseitige Erklärung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, mit dem dieser Staat festlegte, wer als Angehöriger dieses Staates im Sinne des Gemeinschaftsrechts zu gelten habe, zur Auslegung des Vertrags und insbesondere zur Bestimmung seines persönlichen Geltungsbereichs heranzuziehen ist(21). Umso mehr hat eine Erklärung der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten wie die Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats eine solche Wirkung. Im Übrigen werden das Verfahren und die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder der Unionsbürgerschaft weder durch eine Bestimmung des Primärrechts noch durch einen abgeleiteten Rechtsakt geregelt. Schließlich und vor allem bestätigt eine ständige Rechtsprechung, dass diese Materie beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt(22). Der Gerichtshof hat daraus insbesondere abgeleitet, dass das Vereinigte Königreich in zwei der Beitrittsakte als Anhang beigefügten Erklärungen bestimmen durfte, welche Kategorien von Bürgern als seine Staatsangehörigen im Sinne und für die Zwecke der Anwendung des Gemeinschaftsrechts anzusehen seien(23).
20. Gleichwohl steht, wenn die Situation vom sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfasst wird, die Ausübung der Befugnisse der Mitgliedstaaten nicht in deren Ermessen. Sie ist durch die Pflicht zur Beachtung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts beschränkt. Dies entspricht ständiger und bekannter Rechtsprechung. Zur Veranschaulichung sei lediglich daran erinnert, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Situationen auf dem Gebiet der direkten Besteuerung(24), des Familiennamens(25), der zivilen Kriegsopferrente(26) zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, von diesen aber unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts geregelt werden müssen. Ganz folgerichtig gilt für die Regelung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit nichts anderes. Bereits in der Rechtssache Micheletti hat der Gerichtshof ausgeführt, dass auch „von dieser Zuständigkeit … unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen [ist]“(27).
21. Die Tragweite dieses Vorbehalts hat der Gerichtshof jedoch bisher noch nicht hinreichend bestimmt. Er hat aus diesem Vorbehalt lediglich den Grundsatz abgeleitet, dass ein Mitgliedstaat die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats nicht dadurch beschränken darf, dass er zusätzliche Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung einer im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheit aufstellt(28).
22. Wie weit reicht aber diese Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf den Verlust der Europabürgerschaft des Klägers des Ausgangsverfahrens vor dem Hintergrund, dass dieser Verlust die Folge der Rücknahme seiner durch arglistige Täuschung erschlichenen Einbürgerung in Deutschland und des Nichtwiederauflebens seiner durch Geburt rechtmäßig erworbenen österreichischen Staatsangehörigkeit ist? Mit anderen Worten: Was ist aus der genannten Pflicht für die Regelung eines Mitgliedstaats abzuleiten, die nur die eigene Staatsangehörigkeit und nicht die eines anderen Mitgliedstaats betrifft, insbesondere wenn die Anwendung dieser Regelung zum Verlust des durch die frühere Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats vermittelten grundlegenden Status des Unionsbürgers führt?
23. Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage setzt das Verständnis des Verhältnisses zwischen der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft voraus. Hierbei handelt es sich um zwei Begriffe, die zugleich untrennbar miteinander verbunden und autonom sind(29). Die Unionsbürgerschaft setzt die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats voraus, stellt jedoch auch ein im Verhältnis zu dem der Staatsangehörigkeit autonomes rechtliches und politisches Konzept dar. Die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats eröffnet nicht nur den Zugang zu den vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechten, sie macht uns zu Bürgern der Union. Die Europabürgerschaft stellt mehr dar als ein Bündel von Rechten, die als solche auch denjenigen verliehen werden könnten, die die Unionsbürgerschaft nicht besitzen. Sie setzt das Bestehen eines Bandes politischer Natur zwischen den Bürgern Europas voraus, obwohl es sich nicht um ein Band der Zugehörigkeit zu einem Volk handelt. Dieses politische Band eint vielmehr die Völker Europas. Es beruht auf der von ihnen eingegangenen gegenseitigen Verpflichtung, ihr jeweiliges politisches Gemeinwesen den anderen europäischen Bürgern zu öffnen und eine neue Form der bürgerschaftlichen und politischen Verbundenheit auf europäischer Ebene zu schaffen. Es setzt nicht ein bestehendes Volk voraus, sondern beruht auf dem Vorhandensein eines europäischen politischen Raums, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen. Dadurch, dass sie nicht das Bestehen eines europäischen Volkes voraussetzt, löst sich die Bürgerschaft konzeptionell von der Staatsangehörigkeit. Wie ein Autor angemerkt hat, liegt der radikal innovative Charakter des Konzepts der Europabürgerschaft in dem Umstand begründet, dass „die Union für und aus Bürgern besteht, die per definitionem nicht dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen“(30). Die Mitgliedstaaten wollten im Gegenteil dadurch, dass sie die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats als Voraussetzung für den Erwerb der Unionsbürgerschaft festlegten, deutlich machen, dass diese neue Form der Bürgerschaft die ursprüngliche Verbundenheit mit unserem nationalen politischen Gemeinwesen nicht in Frage stellt. So wird durch die Verknüpfung mit der Staatsangehörigkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten anerkannt, dass es eine Bürgerschaft geben kann (und tatsächlich gibt), die nicht durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wird. Darin liegt das Wunder der Unionsbürgerschaft: Sie verstärkt die Bindungen an unsere Staaten (soweit wir eben deshalb Unionsbürger sind, weil wir Angehörige unserer Staaten sind), und zugleich emanzipiert sie uns von ihnen (soweit wir nunmehr Bürger über unsere Staaten hinaus sind). Der Zugang zur Europabürgerschaft wird durch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats vermittelt, die durch das nationale Recht geregelt wird, aber, wie jede Form der Bürgerschaft, bildet sie die Grundlage für einen neuen politischen Raum, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen, die durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden und nicht vom Staat abhängen. Dies ist es, was im Gegenzug die Autonomie und die Autorität der Gemeinschaftsrechtsordnung legitimiert. Wenn es zutrifft, dass die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats den Zugang zur Unionsbürgerschaft bedingt, dann ist es demnach ebenso richtig, dass die mit Letzterer verbundenen Rechte und Pflichten durch Erstere nicht in ungerechtfertigter Weise beschränkt werden dürfen. Mit anderen Worten: Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit (und damit der Unionsbürgerschaft) werden nicht als solche vom Gemeinschaftsrecht geregelt, doch müssen die Voraussetzungen dafür mit den Regeln der Gemeinschaft vereinbar sein und die Rechte der Unionsbürger beachten.
24. Daraus kann freilich vernünftigerweise nicht abgeleitet werden, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit für den Fall vollkommen unmöglich wäre, dass er auch den Verlust der Unionsbürgerschaft bedeutete. Dies würde darauf hinauslaufen, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Regelung der Bedingungen der Staatsangehörigkeit ihres eigenen Staates auszuschließen, und träfe die Autonomie der Mitgliedstaaten in diesem Bereich unter Missachtung von Art. 17 Abs. 1 EG im Kern. Man käme zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Nebensache die Hauptsache bestimmt: Die Beibehaltung der Unionsbürgerschaft würde es erlauben, die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats zu fordern.
25. Ein solches Ergebnis würde auch der Verpflichtung der Union aus Art. 6 Abs. 3 EUV zuwiderlaufen, die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten, die offenkundig zu einem wesentlichen Teil durch die Zusammensetzung des nationalen Gemeinwesens bestimmt wird.
26. Auf der anderen Seite lässt sich nicht ernsthaft vertreten, wie es einige Mitgliedstaaten tun, dass die Beurteilung nach Gemeinschaftsrecht allein die Ausübung der mit der durch die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit vermittelten Unionsbürgerschaft einhergehenden Rechte erfasse, nicht hingegen die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats als solche. Soweit der Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats den Besitz der Unionsbürgerschaft bestimmt und damit die Rechte und Freiheiten, die nach dem Vertrag ausdrücklich mit dieser verknüpft sind, einschließlich des Anspruchs auf Gewährung von Sozialleistungen(31), kann der Verpflichtung zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts bei der Ausübung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts nicht jede Tragweite abgesprochen werden. Die genannte Verpflichtung muss daher zwangsläufig eine gewisse beschränkende Wirkung auf den staatlichen Akt des Entzugs der Staatsangehörigkeit haben, wenn dieser auch den Verlust der Unionsbürgerschaft zur Folge hat; andernfalls wäre zudem die Zuständigkeit der Union für die Ausgestaltung der Rechte und Pflichten ihrer Bürger berührt.
27. Diese Auffassung vertritt die Rechtslehre(32). Auch in der Rechtsprechung gibt es bereits Hinweise darauf, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Staatsangehörigkeitsrechts das Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass für die Zwecke der Anwendung des Beamtenstatuts die italienische Staatsangehörigkeit einer Beamtin belgischer Staatsangehörigkeit nicht zu berücksichtigen war, weil die Betroffene diese nach italienischem Recht mit der Heirat ihres italienischen Ehemannes erworben hatte, ohne sich dem widersetzen zu können, da andernfalls gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot verstoßen würde, Beamte männlichen und weiblichen Geschlechts ungleich zu behandeln(33).
28. Auch hier wäre es verfehlt, anzunehmen, dass aufgrund der Besonderheiten des Staatsangehörigkeitsrechts nur bestimmte gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, vor allem die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Grundrechte, geeignet seien, der Ausübung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet entgegengehalten zu werden. Theoretisch kommt eine Berufung auf jede beliebige Norm der Gemeinschaftsrechtsordnung in Betracht, mit der die von einem Mitgliedstaat aufgestellten Voraussetzungen für Erwerb und Verlust seiner Staatsangehörigkeit möglicherweise nicht zu vereinbaren sind.
29. Insbesondere haben die Mitgliedstaaten zweifellos das Völkerrecht zu beachten. Die Verpflichtung der Staaten, ihr Staatsangehörigkeitsrecht im Einklang mit den Bestimmungen des Völkerrechts auszugestalten, stellt einen allgemein anerkannten Grundsatz dar, der in Art. 1 der Haager Konvention vom 12. April 1930 über gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen kodifiziert ist(34). Die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechts binden die Gemeinschaft und sind Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft(35). So also auch der Grundsatz, der die Staaten verpflichtet, bei der Ausgestaltung ihres Staatsangehörigkeitsrechts das Völkerrecht zu beachten. Es ist jedoch schwer zu erkennen, gegen welche Norm des Völkerrechts die streitige Rücknahme der Einbürgerung in der vorliegenden Rechtssache verstoßen haben könnte. Geht man einmal davon aus, dass beide Vertragswerke trotz fehlender Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten der Union als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes des Völkerrechts angesehen werden können, haben zwar sowohl das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30. August 1961 als auch das Europäische Übereinkommen des Europarats vom 6. November 1997 über die Staatsangehörigkeit grundsätzlich das Ziel, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Dennoch kann einer Person danach ausnahmsweise dann die Staatsangehörigkeit entzogen werden, wenn diese, wie im Ausgangsverfahren, durch betrügerische Handlungen oder falsche Angaben erworben wurde, selbst wenn der Entzug die Staatenlosigkeit dieser Person zur Folge hätte(36).
30. Zu den Vorschriften, die die Gesetzgebungsbefugnis der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts beschränken können, gehören auch die Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts und die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. Diese Auffassung wird von der Rechtslehre(37) und der Hellenischen Republik in ihrer Stellungnahme zu dem in Art. 10 EG aufgestellten Grundsatz der Gemeinschaftstreue vertreten, der etwa dann berührt sein könnte, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen geltendes Recht auf massive Weise die Einbürgerung von Drittstaatsangehörigen betriebe, ohne zuvor die Kommission oder seine Partner zu konsultieren.
31. Der im vorliegenden Fall streitigen Rücknahme der Einbürgerung könnte der Grundsatz des schutzwürdigen Vertrauens in die Beibehaltung des Unionsbürgerstatus entgegengehalten werden. Es ist allerdings nicht zu erkennen, inwiefern dieser Grundsatz verletzt sein könnte, fehlt es doch an einem schutzwürdigen Vertrauen bei dem Betroffenen, der falsche Angaben gemacht oder betrügerische Handlungen begangen und auf diese Weise die deutsche Staatsangehörigkeit rechtswidrig erschlichen hat. Dies gilt umso mehr, als, wie dargelegt, das Völkerrecht den Verlust der Staatsangehörigkeit bei betrügerischen Handlungen erlaubt und die Unionsbürgerschaft mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats verknüpft ist.
32. Der streitigen Rücknahme der Einbürgerung könnten vor allem die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen Unionsbürgerrechte entgegenstehen. Die einzelstaatlichen Vorschriften auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts dürfen nämlich nicht ohne Rechtfertigung die Ausübung der aus dem Unionsbürgerstatus fließenden Rechte und Freiheiten beschränken. Dieser Auffassung ist die Rechtslehre(38). Auch die Rechtsprechung scheint bereits in diese Richtung zu tendieren. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die Rechtfertigung des Ergebnisses hinzuweisen, das der Gerichtshof in der Rechtssache Micheletti aus der Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts abgeleitet hat: Das Verbot für einen Mitgliedstaat, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass zusätzliche Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung einer im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheit aufgestellt werden, wurde nicht allein mit dem Schutz der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Bestimmung der Eigenschaft eines Staatsangehörigen begründet, sondern auch mit dem Ziel, zu verhindern, dass die im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten einen nach Maßgabe des Staatsangehörigkeitsrechts der Mitgliedstaaten unterschiedlichen persönlichen Geltungsbereich haben könnten(39). So wäre eine staatliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit für den Fall der Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat vorsähe, zweifellos ein Verstoß gegen das jedem Unionsbürger nach Art. 18 EG zustehende Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(40).
33. Im vorliegenden Fall steht weder die Rücknahme der Einbürgerung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Rechte oder Freiheiten, noch verstößt die von der Bundesrepublik Deutschland aufgestellte Voraussetzung, die zum Verlust der Staatsangehörigkeit geführt hat, gegen eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts. Im Gegenteil erscheint mir der Entzug einer durch betrügerische Handlungen erworbenen Staatsangehörigkeit dem legitimen Interesse des Staates zu entsprechen, sich der Loyalität seiner Angehörigen zu versichern. Seine Loyalität dem Staat gegenüber unter Beweis zu stellen, dem man angehört, ist eine der Pflichten, die den Status begründen, den der Einzelne in seiner Eigenschaft als Angehöriger dieses Staates genießt, und diese Pflicht beginnt bereits mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit. Eine Person aber, die im Einbürgerungsverfahren absichtlich falsche Angaben macht, kann nicht als loyal gegenüber dem Aufnahmestaat angesehen werden. Im Übrigen lässt das Völkerrecht aus diesem Grund den Verlust der Staatsangehörigkeit in einem solchen Fall zu, selbst wenn dies den Eintritt von Staatenlosigkeit zur Folge hat.
34. Was schließlich die Wiedererlangung der österreichischen Staatsangehörigkeit angeht, sieht das Gemeinschaftsrecht keine Verpflichtung des Mitgliedstaats der früheren Staatsangehörigkeit vor, den Kläger des Ausgangsverfahrens wieder aufzunehmen, selbst wenn dieser damit staatenlos bleibt und von der Unionsbürgerschaft ausgeschlossen ist. Würde man anders entscheiden, bliebe unberücksichtigt, dass der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft auf der persönlichen Entscheidung des Unionsbürgers beruht, eine andere Staatsangehörigkeit anzunehmen(41), und dass das Gemeinschaftsrecht auch der österreichischen Regelung, nach der ein österreichischer Staatsbürger seine Staatsbürgerschaft verliert, wenn er auf seinen Antrag hin eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, nicht entgegensteht(42). Zwar könnte in Anbetracht des Umstands, dass die Rücknahme der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband rückwirkend erfolgt, vertreten werden, dass Herr Rottmann niemals die deutsche Staatsangehörigkeit besessen habe, so dass das den Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit auslösende Ereignis niemals stattgefunden hätte. Danach hätte er einen Anspruch auf die automatische Wiedererlangung der österreichischen Staatsangehörigkeit. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Überlegung, deren Berechtigung nach österreichischem Recht zu beurteilen wäre. Das Gemeinschaftsrecht sieht eine solche Verpflichtung nicht vor. Etwas anderes würde im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Äquivalenzprinzip nur dann gelten, wenn das österreichische Recht bereits eine Lösung für ähnlich gelagerte Fälle vorsähe.
IV – Ergebnis
35. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen des Bundesverwaltungsgerichts wie folgt zu antworten:
1. Das Gemeinschaftsrecht steht der Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) nicht entgegen, der sich daraus ergibt, dass die Rücknahme der Einbürgerung in den Staatsverband eines Mitgliedstaats dazu führt, dass im Zusammenwirken mit dem nationalen Staatsangehörigkeitsrecht eines anderen Mitgliedstaats infolge des Nichtwiederauflebens der ursprünglichen Staatsangehörigkeit Staatenlosigkeit eintritt, wenn die Rücknahme der Einbürgerung weder durch die Ausübung der aus dem Vertrag fließenden Rechte und Freiheiten begründet noch auf einen vom Gemeinschaftsrecht verbotenen Grund gestützt ist.
2. Das Gemeinschaftsrecht gebietet nicht die Wiedereinbürgerung eines früheren Staatsangehörigen.
1 – Originalsprache: Französisch.
2 – Nach § 27 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes (im Folgenden: StbG) (BGBl. Nr. 311, 1985) gilt: „Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.“
3 – Urteile des Gerichtshofs vom 20. September 2001, Grzelczyk (C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 31), und vom 11. September 2007, Schwarz und Gootjes‑Schwarz (C‑76/05, Slg. 2007, I-6849, Randnr. 86).
4 – Vgl. Urteile vom 5. Juni 1997, Uecker und Jacquet (C‑64/96 und C‑65/96, Slg. 1997, I‑3171, Randnr. 23), vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 26), vom 12. Juli 2005, Schempp (C‑403/03, Slg. 2005, I‑6421, Randnr. 20), vom 26. Oktober 2006, Tas‑Hagen und Tas (C‑192/05, Slg. 2006, I‑10451, Randnr. 23), vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon (C‑212/06, Slg. 2008, I‑1683, Randnr. 39), und vom 22. Mai 2008, Nerkowska (C‑499/06, Slg. 2008, I‑3993, Randnr. 25).
5 – Vgl. Urteil Garcia Avello, Randnrn. 20 bis 29.
6 – Vgl. Urteile vom 16. Januar 1997, USSL nº 47 di Biella (C‑134/95, Slg. 1997, I‑195, Randnr. 23), vom 11. Oktober 2001, Khalil u. a. (C‑95/99 bis C‑98/99 und C‑180/99, Slg. 2001, I‑7413, Randnr. 69), und vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, Slg. 2008, I-6241, Randnr. 77).
7 – Wie der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat (vgl. Urteil vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, Slg. 2002, I‑6191, Randnr. 29).
8 – Vgl. Urteile Garcia Avello, Randnr. 24, Schwarz und Gootjes‑Schwarz, Randnr. 87, vom 15. März 2005, Bidar (C‑209/03, Slg. 2005, I‑2119, Randnr. 33), sowie Schempp, Randnrn. 17 und 18, und Nerkowska, Randnrn. 26 bis 29.
9 – Vgl. Urteil Schempp, Randnrn. 13 bis 25.
10 – Vgl. Urteil Nerkowska, Randnrn. 20 bis 29.
11 – Vgl. Urteil Garcia Avello, Randnrn. 20 bis 39.
12 – Satz 2 von Art. 17 EG ist durch den Vertrag von Amsterdam eingefügt worden.
13 – Vgl. hierzu die Analyse von Schönberger, C., „European Citizenship as Federal Citizenship. Some Citizenship Lessons of Comparative Federalism“, REDP, Bd. 19, Nr. 1, 2007, S. 61; ders., Unionsbürger: Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, Tübingen, 2005.
14 – Vgl. zu diesem Punkt den Überblick bei A. Iliopoulou, Libre circulation et non‑discrimination, éléments du statut de citoyen de l’Union européenne, éd. Bruylant 2008.
15 – Wie der Gerichtshof selbst (vgl. Urteil vom 17. Dezember 1980, Kommission/Belgien, 149/79, Slg. 1980, 3881, Randnr. 10) im Anschluss an den Internationalen Gerichtshof (vgl. Fall Nottebohm [zweite Phase], Urteil vom 6. April 1955, CIJ, Rec., 4, 23: „Die Staatsangehörigkeit ist eine rechtliche Verbindung, der die soziale Tatsache der Verbundenheit, eine tatsächliche Existenz-, Interessens- und Gefühlsgemeinschaft sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten zugrunde liegt“) festgestellt hat.
16 – Vgl. Gutachten vom 7. Februar 1923 über die Staatsbürgerschaftserlasse von Tunesien und Marokko, Bd. B Nr. 4 (1923), 24.
17 – Vgl. Fall Nottebohm (zweite Phase), 20 und 23.
18 – Vgl. Urteil vom 20. Februar 2001, Kaur (C‑192/99, Slg. 2001, I‑1237, Randnr. 20).
19 – Vgl. den Wortlaut (ABl. 1992, C 191, S. 45): „Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird. Die Mitgliedstaaten können zur Unterrichtung in einer Erklärung gegenüber dem Vorsitz angeben, wer für die Zwecke der Gemeinschaft als ihr Staatsangehöriger anzusehen ist, und ihre Erklärung erforderlichenfalls ändern.“
20 – Zum rechtlichen Status der Erklärungen vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Schweden/Kommission (Urteil vom 18. Dezember 2007, C‑64/05 P, Slg. 2007, I‑11389, Nr. 34).
21 – Vgl. Urteil Kaur, Randnr. 24.
22 – Vgl. Urteile vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a. (C‑369/90, Slg. 1992, I‑4239, Randnr. 10), vom 11. November 1999, Mesbah (C‑179/98, Slg. 1999, I‑7955, Randnr. 29), und Kaur, Randnr. 19.
23 – Vgl. Urteil Kaur.
24 – Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2005, Marks & Spencer (C‑446/03, Slg. 2005, I‑10837, Randnr. 29).
25 – Vgl. Urteil Garcia Avello, Randnr. 25.
26 – Vgl. Urteile Tas‑Hagen und Tas, Randnrn. 21 f., sowie Nerkowska, Randnr. 23.
27 – Urteil Micheletti, Randnr. 10. Zur Bestätigung vgl. ferner Urteile Mesbah, Randnr. 29, und Kaur, Randnr. 19.
28 – Vgl. Urteil Micheletti. Bekanntlich verwehrte in dieser Rechtssache das Königreich Spanien einem italienischen Staatsangehörigen, der zugleich die argentinische Staatsangehörigkeit besaß, die Berufung auf die Niederlassungsfreiheit mit der Begründung, dass er nach spanischem Recht als argentinischer Staatsbürger anzusehen sei, wo er auch seinen gewöhnlichen Wohnsitz hatte. Vgl. auch Urteile Garcia Avello, Randnr. 28, und vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, Slg. 2004, I‑9925, Randnr. 39).
29 – Für eine ausführliche Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft vgl. Closa, C., „Citizenship of the Union and Nationality of the Member States“, CMLRev, 1995, S. 487.
30 – Weiler, J., The Constitution of Europe, Cambridge University Press 1999, S. 344.
31 – Vgl. insbesondere Urteile D’Hoop; vom 23. März 2004, Collins (C‑138/02, Slg. 2004, I‑2703), vom 7. September 2004, Trojani (C‑456/02, Slg. 2004, I‑7573), vom 15. März 2005, Bidar (C‑209/03, Slg. 2005, I‑2119), und vom 18. November 2008, Förster (C‑158/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).
32 – Vgl. in diesem Sinne insbesondere Hall, S., „Loss of Union Citizenship in Breach of fundamental Rights“, ELR, 1996, S. 129; Kotalakidis, N., Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft: die Person und das Gemeinwesen, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden‑Baden, 2000, 305 bis 316.
33 – Vgl. Urteil vom 20. Februar 1975, Airola/Kommission (21/74, Slg. 1975, 221).
34 – Der Wortlaut dieser Vorschrift lautet: „Dem einzelnen Staat steht es zu, durch seine Gesetzgebung zu bestimmen, wer seine Staatsangehörigkeit besitzt. Die anderen Staaten müssen diese Gesetzgebung anerkennen, soweit sie mit den völkerrechtlichen Verträgen, der internationalen Übung und den auf dem Gebiet der Staatsangehörigkeit allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen im Einklang steht.“ (vgl. Völkerbund-Vertragssammlung, Bd. 179, S. 89).
35 – Vgl. insbesondere Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation (C‑286/90, Slg. 1992, I‑6019, Randnrn. 9 f.), und vom 16. Juni 1998, Racke (C‑162/96, Slg. 1998, I‑3655, Randnrn. 45 f.).
36 – Vgl. Art. 8 Abs. 2 Buchst. b des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit bzw. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit.
37 – Vgl. de Groot, G. R., „The relationship between nationality legislation of the Member States of the European Union and European citizenship“, in La Torre, M., (Hrsg.), European citizenship: an institutional challenge, Kluwer Law International 1998, S. 115, 123 und 128 bis 135; A. Zimmermann, „Europäisches Gemeinschaftsrecht und Staatsangehörigkeitsrecht der Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit“, EuR, 1995, Nr. ½, S. 54, 62 bis 63.
38 – Vgl. De Groot, G. R., a. a. O., S. 136 bis 146.
39 – Vgl. Urteil Micheletti, Randnrn. 10 bis 12.
40 – Für weitere Beispiele vgl. De Groot, G. R., a. a. O.
41 – Anders zu entscheiden hieße gewissermaßen auch, dass man das ursprüngliche Staatsbürgerschaftsband mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit als nicht vollständig gelöst ansähe. Sonst wäre nur schwer verständlich, warum Österreich zur Vermeidung von Staatenlosigkeit und des damit verbundenen Verlusts der Unionsbürgerschaft der einzige Mitgliedstaat sein sollte, den Verpflichtungen im Hinblick auf die Wiedererlangung einer mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit durch den Kläger des Ausgangsverfahrens treffen.
42 – Es wäre vorstellbar, dass die Mitgliedstaaten in der Zukunft beschließen, dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats in keinem Fall mehr den Verlust der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats zur Folge haben soll. Eine solche Verpflichtung kann nach meiner Auffassung aus den geltenden Verträgen jedoch nicht abgeleitet werden (vgl. zu den Gründen, die ein solches Vorgehen der Mitgliedstaaten rechtfertigen würden, Kochenov, D., A Glance at Nationality/EU Citizenship Interaction [Using the Requirement To Renounce Community Nationality upon Naturalizing in the Member State of Residence as a Pretext], Redebeitrag auf der 11. zweijährlichen EUSA-Konferenz, April 2009, Los Angeles CA, noch nicht veröffentlicht).