Rechtssache C‑112/05

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 56 EG – Rechtsvorschriften für die Volkswagen Aktiengesellschaft“

Leitsätze des Urteils

Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen – Gesellschaftsrecht

(Art. 56 Abs. 1 EG)

Ein Mitgliedstaat verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG, wenn er eine Regelung beibehält, die abweichend vom allgemeinen Gesellschaftsrecht eine Begrenzung des Stimmrechts jedes Aktionärs einer bestimmten Gesellschaft auf 20 % des Grundkapitals dieser Gesellschaft mit dem Erfordernis einer Mehrheit von mehr als 80 % des Grundkapitals für die Annahme einiger Beschlüsse der Hauptversammlung verbindet und die einem Mitgliedstaat und einer Gebietskörperschaft dieses Mitgliedstaats das von der allgemeinen Regelung abweichende Recht verleiht, je zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat dieser Gesellschaft zu entsenden.

Was die Festlegung der erforderlichen Mehrheit auf mehr als 80 % des Grundkapitals angeht, so räumt dieses Erfordernis, das von der allgemeinen Regelung abweicht und durch ein besonderes Gesetz aufgestellt wird, jedem Aktionär mit einer Beteiligung von 20 % am Grundkapital eine Sperrminorität ein und stellt im konkreten Fall ein Instrument bereit, das den öffentlichen Akteuren ermöglicht, sich mit einer geringeren Investition als nach der allgemeinen Regelung erforderlich eine Sperrminorität vorzubehalten, mittels deren sie wichtige Entscheidungen blockieren können. Indem das Sondergesetz das Stimmrecht auf ebenfalls 20 % begrenzt, vervollständigt es einen rechtlichen Rahmen, der den öffentlichen Akteuren die Möglichkeit einräumt, mit einer solchen, geringeren Investition wesentlichen Einfluss auszuüben. Diese Situation ist geeignet, Anleger aus anderen Mitgliedstaaten von Direktinvestitionen abzuhalten, da sie die Möglichkeit anderer Aktionäre einschränkt, sich an der Gesellschaft zu beteiligen, um dauerhafte und direkte Wirtschaftsbeziehungen mit ihr zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die es ihnen ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung oder ihrer Kontrolle zu beteiligen, und so das Interesse am Erwerb einer Kapitalbeteiligung an dieser Gesellschaft verringert, und stellt daher eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.

Gleiches gilt für das Recht der Entsendung zweier Mitglieder in den Aufsichtsrat, bei dem es sich um ein vom allgemeinen Gesellschaftsrecht abweichendes Sonderrecht handelt, das in einer nationalen gesetzlichen Maßnahme allein zugunsten öffentlicher Akteure vorgesehen ist. Die Maßnahme gibt den öffentlichen Akteuren die Möglichkeit, sich stärker an der Tätigkeit des Aufsichtsrats zu beteiligen, als es ihr Aktionärsstatus normalerweise zuließe, und stellt so ein Instrument bereit, das ihnen ermöglicht, einen Einfluss auszuüben, der über ihre Investitionen hinausgeht.

(vgl. Randnrn. 43-46, 50-52, 54, 56, 59, 61-62, 64, 66, 68, 82 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

23. Oktober 2007(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 56 EG – Rechtsvorschriften für die Volkswagen Aktiengesellschaft“

In der Rechtssache C‑112/05

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 4. März 2005,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch F. Benyon und G. Braun als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Lumma und A. Dittrich als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt H. Wissel,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter), C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts und L. Bay Larsen, des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter K. Schiemann, J. Makarczyk, E. Levits und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2006,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Februar 2007

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand vom 21. Juli 1960 (BGBl. 1960 I S. 585 und BGBl. 1960 III S. 641-1-1) in der auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: VW-Gesetz) gegen die Art. 43 EG und 56 EG verstoßen.

 Rechtlicher Rahmen

 Aktiengesetz

2        § 134 Abs. 1 des Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (BGBl. 1965 I S. 1089, im Folgenden: AktG) in der Fassung des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27. April 1998 (BGBl. 1998 I S. 786) bestimmt:

„Das Stimmrecht wird nach Aktiennennbeträgen, bei Stückaktien nach deren Zahl ausgeübt. Für den Fall, dass einem Aktionär mehrere Aktien gehören, kann bei einer nichtbörsennotierten Gesellschaft die Satzung das Stimmrecht durch Festsetzung eines Höchstbetrags oder von Abstufungen beschränken. …“

3        § 101 Abs. 2 AktG sieht vor:

„Ein Recht, Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, kann nur durch die Satzung und nur für bestimmte Aktionäre oder für die jeweiligen Inhaber bestimmter Aktien begründet werden. Inhabern bestimmter Aktien kann das Entsendungsrecht nur eingeräumt werden, wenn die Aktien auf Namen lauten und ihre Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden ist. Die Aktien der Entsendungsberechtigten gelten nicht als eine besondere Gattung. Die Entsendungsrechte können insgesamt höchstens für ein Drittel der sich aus dem Gesetz oder der Satzung ergebenden Zahl der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre eingeräumt werden. § 4 Abs. 1 [VW-Gesetz] bleibt unberührt.“

 VW-Gesetz

4        Nach § 1 Abs. 1 VW-Gesetz wird die Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in eine Aktiengesellschaft (im Folgenden: Volkswagen) umgewandelt.

5        § 2 VW-Gesetz („Stimmrecht, Stimmrechtsbeschränkung“) bestimmt in Abs. 1:

„Gehören einem Aktionär Aktien im Gesamtnennbetrag von mehr als dem fünften Teil des Grundkapitals, so beschränkt sich sein Stimmrecht auf die Anzahl von Stimmen, die Aktien im Gesamtnennbetrag des fünften Teils des Grundkapitals gewähren.“

6        § 3 VW-Gesetz („Vertretung bei der Stimmrechtsausübung“) sieht in Abs. 5 vor:

„Niemand darf in der Hauptversammlung das Stimmrecht für mehr als den fünften Teil des Grundkapitals ausüben.“

7        In § 4 VW-Gesetz („Verfassung der Gesellschaft“) heißt es:

„(1)      Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen sind berechtigt, je zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, solange ihnen Aktien der Gesellschaft gehören.“

(3)      Beschlüsse der Hauptversammlung, für die nach dem Aktiengesetz eine Mehrheit erforderlich ist, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst, bedürfen einer Mehrheit von mehr als vier Fünftel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals der Gesellschaft.“

 Vorverfahren

8        Nachdem die Kommission der Bundesrepublik Deutschland Gelegenheit gegeben hatte, sich zu § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 und 3 VW-Gesetz zu äußern, gab sie am 1. April 2004 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie feststellte, dass diese nationalen Bestimmungen den freien Kapitalverkehr gemäß Art. 56 EG und die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG beschränkten. Da die Bundesrepublik Deutschland dieser Stellungnahme nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkam, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben, mit der sie geltend macht, dass die Beibehaltung dieser Bestimmungen gegen die Art. 56 EG und 43 EG verstoße.

 Zur Klage

9        Die Kommission macht im Wesentlichen geltend, dass die fraglichen Bestimmungen des VW-Gesetzes dadurch, dass sie erstens abweichend von der allgemeinen Regelung das Stimmrecht jedes Aktionärs auf 20 % des Grundkapitals von Volkswagen begrenzten, dass sie zweitens für die Beschlüsse der Hauptversammlung, für die nach der allgemeinen Regelung nur eine Mehrheit von 75 % des vertretenen Kapitals erforderlich sei, eine Mehrheit von mehr als 80 % vorschrieben und dass sie drittens, abweichend von der allgemeinen Regelung, dem Bund und dem Land Niedersachsen das Recht einräumten, je zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen zu entsenden, von Direktinvestitionen abhalten könnten und daher den freien Kapitalverkehr im Sinne von Art. 56 EG beschränkten.

10      Die Kommission trägt nicht eigens zum Nachweis eines Verstoßes gegen Art. 43 EG vor.

11      Die Bundesrepublik Deutschland hält den von der Kommission auf einen Verstoß gegen Art. 56 EG gestützten Klagegrund für unbegründet.

12      Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 43 EG trage die Kommission nicht vor, so dass er gegenstandslos geworden sei.

 Zum Verstoß gegen Art. 43 EG

13      Nach ständiger Rechtsprechung fallen in den sachlichen Geltungsbereich der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nationale Vorschriften, die anzuwenden sind, wenn ein Angehöriger des betreffenden Mitgliedstaats am Kapital einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Beteiligung hält, die es ihm ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (vgl. u. a. Urteile vom 13. April 2000, Baars, C‑251/98, Slg. 2000, I‑2787, Randnr. 22, vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, Slg. 2006, I‑7995, Randnr. 31, und vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, C‑524/04, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 27).

14      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, insbesondere aus dem Verteidigungsvorbringen der Bundesrepublik Deutschland, dass die im vorliegenden Verfahren beanstandeten Bestimmungen des VW‑Gesetzes zumindest teilweise die Situation einer eventuellen Übernahme von Volkswagen durch einen Aktionär, der einen dominierenden Einfluss auf das Unternehmen ausüben möchte, im Blick haben.

15      Die Kommission hat jedoch weder in der Klageschrift noch in der Erwiderung oder in der mündlichen Verhandlung substantiiert zu einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vorgetragen.

16      Daher ist die Klage abzuweisen, soweit sie auf einen Verstoß gegen Art. 43 EG gestützt ist.

 Zum Verstoß gegen Art. 56 EG

17      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet Art. 56 Abs. 1 EG ganz allgemein Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. u. a. Urteil vom 28. September 2006, Kommission/Niederlande, C‑282/04 und C‑283/04, Slg. 2006, I‑9141, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18      Mangels einer Definition des Begriffs „Kapitalverkehr“ im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG im Vertrag hat der Gerichtshof bereits der Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [dieser Artikel ist durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben worden] (ABl. L 178, S. 5) Hinweischarakter zuerkannt. „Kapitalbewegungen“ im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG sind danach insbesondere Direktinvestitionen, nämlich, wie sich aus dieser Nomenklatur und den zugehörigen Begriffsbestimmungen ergibt, Investitionen jeder Art durch natürliche oder juristische Personen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die die Mittel bereitstellen, und den Unternehmen, für die die Mittel zum Zweck einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, Slg. 2006, I‑11753, Randnrn. 179 bis 181, und vom 24. Mai 2007, Holböck, C‑157/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnrn. 33 und 34). Bei Beteiligungen an neuen oder bereits bestehenden Unternehmen setzt das Ziel der Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter Wirtschaftsbeziehungen, wie auch aus diesen Begriffsbestimmungen hervorgeht, voraus, dass die Aktien ihrem Inhaber entweder nach den nationalen aktienrechtlichen Vorschriften oder aus anderen Gründen die Möglichkeit geben, sich effektiv an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder an deren Kontrolle zu beteiligen (vgl. Urteile Test Claimants in the FII Group Litigation, Randnr. 182, und Holböck, Randnr. 35; vgl. auch Urteile vom 4. Juni 2002, Kommission/Portugal, C‑367/98, Slg. 2002, I‑4731, Randnr. 38, Kommission/Frankreich, C‑483/99, Slg. 2002, I‑4781, Randnr. 37, Kommission/Belgien, C‑503/99, Slg. 2002, I‑4809, Randnr. 38, vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien, C‑463/00, Slg. 2003, I‑4581, Randnr. 53, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑98/01, Slg. 2003, I‑4641, Randnr. 40, vom 2. Juni 2005, Kommission/Italien, C‑174/04, Slg. 2005, I‑4933, Randnr. 28, sowie Kommission/Niederlande, Randnr. 19).

19      Zu dieser Investitionsform hat der Gerichtshof festgestellt, dass nationale Maßnahmen als „Beschränkungen“ im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG anzusehen sind, wenn sie geeignet sind, den Erwerb von Aktien der betreffenden Unternehmen zu verhindern oder zu beschränken oder aber Investoren anderer Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren (vgl. Urteile Kommission/Portugal, Randnr. 45, Kommission/Frankreich, Randnr. 41, Kommission/Spanien, Randnr. 61, Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 47, Kommission/Italien, Randnrn. 30 und 31, sowie Kommission/Niederlande, Randnr. 20).

20      Im vorliegenden Fall macht die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen geltend, dass das VW-Gesetz keine nationale Maßnahme im Sinne der in den drei vorstehenden Randnummern angeführten Rechtsprechung sei. Die beanstandeten Bestimmungen dieses Gesetzes stellten – einzeln oder zusammen betrachtet – auch keine Beschränkungen im Sinne dieser Rechtsprechung dar.

21      Das Vorbringen der Kommission zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 56 EG ist vor diesem Hintergrund zu prüfen.

 Zum Vorliegen einer nationalen Maßnahme

 Vorbringen der Parteien

22      Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, dass dem VW-Gesetz ein Kompromiss zugrunde liege, der 1959 zwischen den Personen und Gruppen geschlossen worden sei, die in den 50er Jahren Ansprüche auf die Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung erhoben hätten. Zu dieser Zeit hätten sowohl die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer als auch der Bund und das Land Niedersachsen Ansprüche auf dieses Unternehmen geltend gemacht. Im Rahmen des Kompromisses sei den Arbeitnehmern und Gewerkschaften als Gegenleistung für den Verzicht auf die von ihnen erhobenen Eigentumsansprüche der Schutz vor einem allein dominierenden Großaktionär zugesagt worden.

23      Dieser Kompromiss habe seinen Niederschlag zunächst in dem Abschluss eines Vertrags („Staatsvertrag“) am 12. November 1959 zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen gefunden, dann im Erlass des darauf aufbauenden Gesetzes über die Regelung der Rechtsverhältnisse bei der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung vom 9. Mai 1960 (BGBl. 1960 I S. 301), danach in der Annahme der Satzung von Volkswagen am 6. Juli 1960 und schließlich im VW-Gesetz, das die bereits in der Satzung enthaltenen Regelungen zusätzlich aufgenommen habe.

24      Das VW-Gesetz habe, als mit ihm die Volkswagen Aktiengesellschaft gegründet und privatisiert worden sei, nur den Willen der Aktionäre und der anderen zivilrechtlichen Anspruchsteller auf das Unternehmen ausgedrückt. Das VW-Gesetz sei daher mit Blick auf die Kapitalverkehrsfreiheit einer innergesellschaftlichen Vereinbarung der Anteilseigner untereinander gleichzusetzen. Nach dem Grundsatz pacta sunt servanda gelte dieser Kompromiss bis heute fort.

25      Nach Auffassung der Kommission sind diese geschichtlichen Erwägungen ohne Belang. Der Vorwurf gegen die Bundesrepublik Deutschland richte sich nicht gegen die Motive ihrer legislativen Aktivitäten im Jahr 1960, sondern gegen ihre aktuelle legislative Inaktivität, da das VW-Gesetz längst den Anforderungen des freien Kapitalverkehrs widerspreche.

 Würdigung durch den Gerichtshof

26      Selbst wenn das VW-Gesetz, wie die Bundesrepublik Deutschland vorträgt, lediglich eine Vereinbarung wiedergeben sollte, die als privatrechtlicher Vertrag zu qualifizieren wäre, genügt die Tatsache, dass diese Vereinbarung Gegenstand eines Gesetzes geworden ist, um sie im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr als eine nationale Maßnahme anzusehen.

27      Die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz durch die dazu befugten nationalen Organe ist nämlich in ganz besonderem Maße Ausdruck staatlicher Gewalt.

28      Zudem können die Bestimmungen des fraglichen Gesetzes nicht mehr allein durch den Willen der Parteien der ursprünglichen Vereinbarung geändert werden, sondern jede Änderung bedarf der Verabschiedung eines neuen Gesetzes in den Verfahren, die das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland dafür vorsieht.

29      Unter diesen Umständen kann dem Vorbringen dieses Mitgliedstaats, das VW-Gesetz sei im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr keine nationale Maßnahme, nicht gefolgt werden.

 Zum Vorliegen von Beschränkungen

30      Angesichts des Vorbringens der Parteien zu den ersten beiden Rügen und der kumulativen Wirkungen der beiden damit beanstandeten Bestimmungen des VW-Gesetzes sind diese Rügen gemeinsam zu prüfen.

 Zur ersten und zur zweiten Rüge: Begrenzung des Stimmrechts auf 20 % und Festlegung der Sperrminorität auf 20 %

–        Vorbringen der Parteien

31      Was erstens die in § 2 Abs. 1 des VW-Gesetzes vorgesehene Begrenzung des Stimmrechts eines einzelnen Aktionärs auf 20 % des Grundkapitals von Volkswagen angeht, vertritt die Kommission die Auffassung, dass diese Regelung dem Gebot einer Korrelation von Kapitalbeteiligung und Stimmkraft widerspreche. Auch wenn das Höchststimmrecht als ein übliches gesellschaftsrechtliches Instrument angesehen werde, das auch in anderen Mitgliedstaaten Verwendung finde, mache es doch einen entscheidenden Unterschied, ob der Staat die Möglichkeit biete, ein solches Instrument in die Satzung einer Gesellschaft aufzunehmen, wie dies im deutschen Recht für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften vorgesehen sei, oder ob er als Gesetzgeber ein solches Höchststimmrecht für ein einziges Unternehmen und im Ergebnis zu seinen eigenen Gunsten einführe, wie dies bei § 2 Abs. 1 VW-Gesetz der Fall sei.

32      Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, dass bei der Gründung von Volkswagen das Höchststimmrecht für alle Aktionäre auf 0,01 % festgesetzt worden sei, nicht jedoch für den Bund und das Land Niedersachsen, die ihre Rechte entsprechend ihrem Anteilsbesitz von jeweils 20 % hätten ausüben können. Im Laufe des Jahres 1970 sei diese Sonderregelung für den Bund und das Land Niedersachsen abgeschafft und das Höchststimmrecht unterschiedslos für alle Aktionäre auf 20 % angehoben worden. Seitdem gelte die fragliche Bestimmung unterschiedslos für alle Aktionäre von Volkswagen. Der rechtliche Rahmen unterscheide sich in dieser Hinsicht von denen der Urteile, auf die die Kommission verweise, um im vorliegenden Fall das Vorliegen von Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs darzulegen (Urteile Kommission/Portugal, Randnrn. 36 und 44, Kommission/Frankreich, Randnrn. 35 und 40, Kommission/Belgien, Randnr. 36, Kommission/Spanien, Randnrn. 51 und 56, Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnrn. 38 und 43, und Kommission/Italien, Randnr. 26). Diese Rechtsprechung habe nämlich dem Staat eingeräumte Sonderrechte betroffen. Eine etwaige Ausweitung des Schutzbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit über staatliche Sonderrechte hinaus würde ihrer Ansicht nach die Kapitalverkehrsfreiheit ins Uferlose ausdehnen.

33      Die Bundesrepublik Deutschland wendet sich gegen die Annahme, es müsse eine Korrelation zwischen der Kapitalbeteiligung an einer Gesellschaft und der Stimmkraft ihrer Aktionäre geben, und macht geltend, dass es dem nationalen Gesetzgeber freistehe, das innerstaatliche Gesellschaftsrecht gesetzlich zu regeln und für einzelne Gruppen von Unternehmen oder sogar für ein einziges Unternehmen Regelungen zu treffen, solange sich daraus keine Behinderungen ergäben.

34      Was zweitens die Festlegung der Sperrminorität auf 20 % betrifft, rügt die Kommission, dass § 4 Abs. 3 VW-Gesetz dadurch, dass in ihm eine Mehrheit von mehr als 80 % des vertretenen Grundkapitals für Beschlüsse der Hauptversammlung verlangt werde, für die nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht nur eine Mehrheit von mindestens 75 % erforderlich sei, dem Land Niedersachsen ermögliche, aufgrund des Anteils in der Größenordnung von 20 %, den es seit der Privatisierung von Volkswagen innehabe, solche Beschlüsse zu blockieren. Das Erfordernis einer Mehrheit von mehr als 80 % sei – trotz der formal diskriminierungsfreien Fassung – allein für die öffentliche Hand konzipiert.

35      Das Aktiengesetz lasse zwar die Festlegung höherer Mehrheiten als 75 % für die Annahme der genannten Beschlüsse zu, doch handele es sich hierbei um eine Befugnis der Aktionäre, von der diese Gebrauch machen könnten oder auch nicht. Die in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz vorgegebene Schwelle von 80 % habe der Gesetzgeber den Aktionären von Volkswagen hingegen aufgezwungen, um sich selbst als dem seinerzeit größten Aktionär eine Sperrminorität bereitzustellen.

36      Die Bundesrepublik Deutschland verweist zunächst darauf, dass die fragliche Bestimmung des VW-Gesetzes wie die Bestimmung über das Höchststimmrecht von 20 % unterschiedslos für alle Aktionäre von Volkswagen gelte. Da sie dem Staat kein Sonderrecht verleihe, beschränke sie demnach nicht den freien Kapitalverkehr.

37      Zudem gäben weder das Aktiengesetz noch die einschlägigen Gemeinschaftsbestimmungen eine Grenze für die Festlegung einer Sperrminorität vor. Die Situation des Landes Niedersachsen entspreche hinsichtlich seiner Möglichkeit, eine Sperrminorität auszuüben, der normalen Situation eines Aktionärs mit seiner Bedeutung. Dass das Land gegenwärtig eine Beteiligung von ungefähr 20 % am Kapital von Volkswagen halte, sei Folge von Investitionen, die es auf dem Markt wie ein privater Investor getätigt habe.

–        Würdigung durch den Gerichtshof

38      Wie die Bundesrepublik Deutschland vorgetragen hat, ist das Höchststimmrecht ein gängiges gesellschaftsrechtliches Instrument.

39      Zwischen den Parteien ist im Übrigen unstreitig, dass zwar § 134 Abs. 1 Satz 1 AktG den Grundsatz der Korrelation von Kapitalbeteiligung und Stimmkraft aufstellt, Satz 2 dieses Absatzes jedoch eine Beschränkung des Stimmrechts in bestimmten Fällen zulässt.

40      Wie aber die Kommission zutreffend ausgeführt hat, besteht ein Unterschied zwischen einer den Aktionären verliehenen Befugnis, von der sie Gebrauch machen können oder auch nicht, und einer den Aktionären durch Gesetz auferlegten spezifischen Verpflichtung, von der sie nicht abweichen können.

41      Zudem stimmen die Parteien darin überein, dass die Möglichkeit, in der Satzung von börsennotierten Gesellschaften ein Höchststimmrecht zu verankern, mit § 134 Abs. 1 Satz 1 AktG in der Fassung des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich abgeschafft wurde. Wie die Kommission – insoweit seitens der deutschen Regierung unwidersprochen – vorgetragen hat, könnte unter normalen Umständen in die Satzung von Volkswagen als börsennotierter Gesellschaft kein Höchststimmrecht aufgenommen werden.

42      Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland kann im Höchststimmrecht nach § 2 Abs. 1 VW-Gesetz zugleich eine Benachteiligung und eine Begünstigung gesehen werden, weil es unterschiedslos für alle Aktionäre gelte. Der Beschränkung des Stimmrechts eines Aktionärs mit einer Beteiligung von mehr als 20 % des Grundkapitals stehe der Schutz gegen den Einfluss etwaiger anderer Aktionäre mit bedeutender Beteiligung und damit die Gewähr gegenüber, sich effektiv an der Geschäftsführung der Gesellschaft beteiligen zu können.

43      Bevor auf dieses Vorbringen eingegangen wird, sind die Wirkungen des Höchststimmrechts in Wechselwirkung mit dem in § 4 Abs. 3 VW‑Gesetz vorgesehenen Erfordernis einer Mehrheit von mehr als 80 % des Grundkapitals für bestimmte Beschlüsse der Aktionärshauptversammlung von Volkswagen zu untersuchen.

44      Wie die Kommission – insoweit seitens der Bundesrepublik Deutschland unwidersprochen – vorgetragen hat, handelt es sich um Beschlüsse wie Änderungen der Satzung, des Kapitals oder der Finanzstruktur der Gesellschaft, für die nach dem Aktiengesetz eine Mehrheit von mindestens 75 % des Grundkapitals erforderlich ist.

45      Zwar kann, wie die Bundesrepublik Deutschland dargelegt hat, in der Gesellschaftssatzung eine höhere als die im Aktiengesetz vorgesehene Mehrheit von 75 % des Grundkapitals verlangt werden. Wie die Kommission jedoch zutreffend ausgeführt hat, handelt es sich hierbei um eine Befugnis, von der die Aktionäre Gebrauch machen können oder auch nicht. Die Festlegung der erforderlichen Mehrheit durch § 4 Abs. 3 VW‑Gesetz auf mehr als 80 % des Grundkapitals geht hingegen nicht auf den Willen der Aktionäre zurück, sondern, wie in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils festgestellt, auf eine nationale Maßnahme.

46      Dieses Erfordernis, das von der allgemeinen Regelung abweicht und durch ein besonderes Gesetz aufgestellt wird, räumt so jedem Aktionär mit einer Beteiligung von 20 % am Grundkapital eine Sperrminorität ein.

47      Richtig ist zwar, dass diese Möglichkeit, wie die Bundesrepublik Deutschland hervorgehoben hat, unterschiedslos gilt. Wie auch das Höchststimmrecht kann sie zugunsten oder zulasten jedes Aktionärs der Gesellschaft wirken.

48      Aus den Akten ergibt sich jedoch, dass bei Erlass des VW-Gesetzes im Jahr 1960 der Bund und das Land Niedersachsen die beiden Hauptaktionäre von Volkswagen – einer gerade erst privatisierten Gesellschaft – waren, an der sie jeweils 20 % des Kapitals hielten.

49      Nach den Informationen, die dem Gerichtshof vorliegen, hat sich der Bund von seiner Kapitalbeteiligung an Volkswagen getrennt, während das Land Niedersachsen weiterhin mit 20 % beteiligt ist.

50      § 4 Abs. 3 VW-Gesetz stellt damit ein Instrument bereit, das den öffentlichen Akteuren ermöglicht, sich mit einer geringeren Investition als nach dem allgemeinen Gesellschaftsrecht erforderlich eine Sperrminorität vorzubehalten, mittels deren sie wichtige Entscheidungen blockieren können.

51      Indem § 2 Abs. 1 VW-Gesetz das Stimmrecht auf ebenfalls 20 % begrenzt, vervollständigt er einen rechtlichen Rahmen, der diesen öffentlichen Akteuren die Möglichkeit einräumt, mit einer solchen, geringeren Investition wesentlichen Einfluss auszuüben.

52      Diese Situation ist geeignet, Anleger aus anderen Mitgliedstaaten von Direktinvestitionen abzuhalten, da sie die Möglichkeit anderer Aktionäre einschränkt, sich an der Gesellschaft zu beteiligen, um dauerhafte und direkte Wirtschaftsbeziehungen mit ihr zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die es ihnen ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung oder ihrer Kontrolle zu beteiligen.

53      Diese Feststellung kann nicht durch das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt werden, dass die Aktien von Volkswagen zu den meistgehandelten Aktien in Europa gehörten und sich in großer Zahl in den Händen von Investoren aus anderen Mitgliedstaaten befänden.

54      Wie die Kommission vorträgt, betreffen nämlich die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, die Gegenstand der vorliegenden Klage sind, eher die Direktinvestitionen in das Kapital von Volkswagen als die Portfolio-Investitionen, die allein in der Absicht einer Geldanlage getätigt werden (vgl. Urteil Kommission/Niederlande, Randnr. 19) und von der vorliegenden Klage nicht erfasst werden. Zu den Direktinvestitionen ist festzustellen, dass § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz das Interesse am Erwerb einer Kapitalbeteiligung an Volkswagen verringern, da mit ihnen ein Instrument bereitgestellt wird, das die Möglichkeit für die Anleger einschränken kann, sich an der Gesellschaft zu beteiligen, um dauerhafte und direkte Wirtschaftsbeziehungen mit ihr zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die es ihnen ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung oder ihrer Kontrolle zu beteiligen.

55      Diese Feststellung wird nicht dadurch berührt, dass es unter den Aktionären von Volkswagen eine Zahl von Direktinvestoren gibt, die nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland mit der Zahl von Direktinvestoren bei anderen Großunternehmen vergleichbar ist. Dieser Umstand vermag nämlich nichts daran zu ändern, dass tatsächliche und potenzielle Direktinvestoren aus anderen Mitgliedstaaten aufgrund der fraglichen Bestimmungen des VW-Gesetzes vom Erwerb von Kapitalbeteiligungen an dieser Gesellschaft zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter Wirtschaftsbeziehungen mit ihr, die es ihnen ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung oder ihrer Kontrolle zu beteiligen, abgehalten werden konnten, obwohl sie berechtigt waren, sich auf den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs und den Schutz, den dieser ihnen gewährt, zu berufen.

56      Daher stellt das Zusammenspiel von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG dar.

 Zur dritten Rüge: Recht der Entsendung zweier Mitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen

–        Vorbringen der Parteien

57      Die Kommission beanstandet, dass § 4 Abs. 1 VW-Gesetz, wonach der Bund und das Land Niedersachsen berechtigt seien, je zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen zu entsenden, solange ihnen Aktien der Gesellschaft gehörten, von der Regel des § 101 Abs. 2 AktG abweiche, dass ein Entsenderecht nur durch die Satzung festgelegt werden dürfe und auf ein Drittel der von den Aktionären bestimmten Aufsichtsratsmitglieder beschränkt sei, d. h. im Fall von Volkswagen auf drei Mitglieder. Da § 4 Abs. 1 VW-Gesetz die Möglichkeit der anderen Aktionäre einschränke, sich effektiv an der Verwaltung und der Kontrolle dieser Gesellschaft zu beteiligen, stelle er eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.

58      Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, dass der Aufsichtsrat nur ein Kontroll‑ und kein Entscheidungsorgan sei. Die Zahl der Vertreter im Aufsichtsrat von Volkswagen entspreche der Kapitalbeteiligung an ihr, und die Repräsentation des Landes Niedersachsen liege unter seinem Kapitalanteil. § 4 Abs. 1 VW-Gesetz habe im Übrigen keine praktische Relevanz für Investitionsentscheidungen.

–        Würdigung durch den Gerichtshof

59      Nach § 4 Abs. 1 VW-Gesetz haben der Bund und das Land Niedersachsen die Möglichkeit, je zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen zu entsenden, also insgesamt vier Personen, solange ihnen Aktien von Volkswagen gehören.

60      Eine solche Möglichkeit stellt eine Abweichung vom allgemeinen Gesellschaftsrecht dar. Dieses beschränkt nämlich die Entsenderechte bestimmter Aktionäre auf ein Drittel der von den Aktionären entsandten Aufsichtsratsmitglieder. Im Fall von Volkswagen, bei der, wie die Kommission insoweit unwidersprochen vorträgt, der Aufsichtsrat zwanzig Mitglieder hat, von denen zehn von den Aktionären gestellt werden, könnten nach der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Regelung vom Bund und vom Land Niedersachsen höchstens drei Aufsichtsratsmitglieder entsandt werden.

61      Es handelt sich also um ein vom allgemeinen Gesellschaftsrecht abweichendes Sonderrecht, das in einer nationalen gesetzlichen Maßnahme allein zugunsten öffentlicher Akteure vorgesehen ist.

62      Das dem Bund und dem Land Niedersachsen eingeräumte Entsenderecht gibt ihnen daher die Möglichkeit, sich stärker an der Tätigkeit des Aufsichtsrats zu beteiligen, als es ihr Aktionärsstatus normalerweise zuließe.

63      Auch wenn, wie die Bundesrepublik Deutschland vorgetragen hat, das Entsenderecht des Landes Niedersachsen nicht außer Verhältnis zu seiner derzeitigen Kapitalbeteiligung an Volkswagen steht, haben doch sowohl das Land als auch der Bund, wenn sie Aktien von Volkswagen besitzen, das Recht, zwei Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen zu entsenden, ohne dass dabei der Umfang ihrer Beteiligung berücksichtigt würde.

64      § 4 Abs. 1 VW-Gesetz stellt damit ein Instrument bereit, das den öffentlichen Akteuren ermöglicht, einen Einfluss auszuüben, der über ihre Investitionen hinausgeht. Entsprechend kann der Einfluss der anderen Aktionäre hinter ihren eigenen Investitionen zurückbleiben.

65      Dass der Aufsichtsrat, wie die Bundesrepublik Deutschland geltend macht, kein Entscheidungsorgan, sondern ein einfaches Kontrollorgan ist, ändert nichts an der Position und dem Einfluss der öffentlichen Akteure. Auch wenn das deutsche Gesellschaftsrecht dem Aufsichtsrat nur die Aufgabe überträgt, die Geschäftsführung der Gesellschaft zu überwachen und den Aktionären über die Geschäftsführung zu berichten, stattet es ihn jedoch für die Erfüllung dieser Aufgabe mit erheblichen Befugnissen aus, wie etwa der Befugnis, die Mitglieder des Vorstands zu bestellen und abzuberufen. Außerdem ist, worauf die Kommission hingewiesen hat, die Zustimmung des Aufsichtsrats für bestimmte Geschäfte notwendig, zu denen neben der Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten auch die Errichtung von Zweigniederlassungen, der Erwerb und die Veräußerung von Grundeigentum, Investitionen sowie der Erwerb anderer Unternehmen zählen.

66      Da § 4 Abs. 1 VW-Gesetz die Möglichkeit für andere Aktionäre einschränkt, sich an der Gesellschaft zu beteiligen, um dauerhafte und direkte Wirtschaftsbeziehungen mit ihr zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die es ermöglichen, sich effektiv an ihrer Verwaltung und ihrer Kontrolle zu beteiligen, ist diese Vorschrift geeignet, Anleger aus anderen Mitgliedstaaten von Direktinvestitionen in das Kapital der Gesellschaft abzuhalten.

67      Aus den in den Randnrn. 53 bis 55 des vorliegenden Urteils angeführten Gründen kann diese Feststellung nicht durch das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland entkräftet werden, es bestehe an den internationalen Finanzmärkten ein großes Interesse der Investoren an den Aktien von Volkswagen.

68      Aufgrund des Vorstehenden ist festzustellen, dass § 4 Abs. 1 VW-Gesetz eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG darstellt.

69      Die Frage, ob der Bund und das Land Niedersachsen von ihrem Recht aus § 4 Abs. 1 VW-Gesetz Gebrauch machen, ist ohne Belang. Insoweit genügt die Feststellung, dass das von der allgemeinen Regelung abweichende Sonderrecht dieser öffentlichen Akteure, Mitglieder in den Aufsichtsrat von Volkswagen zu entsenden, in der deutschen Rechtsordnung fortbesteht.

 Zu einer eventuellen Rechtfertigung der Beschränkungen

 Vorbringen der Parteien

70      Hilfsweise macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass die von der Kommission beanstandeten Bestimmungen des VW-Gesetzes aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt seien. Mit diesem Gesetz, das einen besonderen historischen Hintergrund habe, sei nämlich ein „austariertes Machtgleichgewicht“ geschaffen worden, um den Interessen der Arbeitnehmer von Volkswagen gerecht zu werden und die Minderheitsaktionäre des Unternehmens zu schützen. Mit dem VW-Gesetz werde somit ein sozial- und regionalpolitisches sowie ein volkswirtschaftliches Ziel verfolgt, das sich mit industriepolitischen Zielsetzungen verbinde.

71      Für die Kommission, die die Relevanz dieser historischen Erwägungen verneint, dient das VW-Gesetz nicht dem Allgemeininteresse, da die von der Bundesrepublik Deutschland geltend gemachten Gründe nicht für jedes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats tätige Unternehmen gälten, sondern wirtschaftspolitischen Zielen, die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs grundsätzlich nicht rechtfertigen könnten (Urteil Kommission/Portugal, Randnrn. 49 und 52).

 Würdigung durch den Gerichtshof

72      Der freie Kapitalverkehr kann durch nationale Regelungen beschränkt werden, die aus den in Art. 58 EG genannten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, soweit keine gemeinschaftliche Harmonisierungsmaßnahme vorliegt, die bereits die zur Gewährleistung des Schutzes dieser Interessen erforderlichen Maßnahmen vorsieht (vgl. Urteile Kommission/Portugal, Randnr. 49, Kommission/Frankreich, Randnr. 45, Kommission/Belgien, Randnr. 45, Kommission/Spanien, Randnr. 68, Kommission/Italien, Randnr. 35, und Kommission/Niederlande, Randnr. 32).

73      Fehlt eine solche Gemeinschaftsharmonisierung, ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, auf welchem Niveau sie den Schutz solcher legitimen Interessen sicherstellen wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Sie können dies jedoch nur in dem vom EG-Vertrag vorgegebenen Rahmen und insbesondere nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit tun, wonach die getroffenen Maßnahmen dazu geeignet sein müssen, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. Urteile Kommission/Portugal, Randnr. 49, Kommission/Frankreich, Randnr. 45, Kommission/Belgien, Randnr. 45, Kommission/Spanien, Randnr. 68, Kommission/Italien, Randnr. 35, und Kommission/Niederlande, Randnr. 33).

74      Zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen, den die Bundesrepublik Deutschland zur Rechtfertigung der streitigen Bestimmungen des VW‑Gesetzes anführt, ist festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat über allgemeine Erwägungen zur Notwendigkeit des Schutzes vor einem die Gesellschaft allein dominierenden Großaktionär hinaus nicht hat darlegen können, warum es zur Erreichung des Ziels, die Arbeitnehmer von Volkswagen zu schützen, geeignet und erforderlich sein soll, beim Kapital dieses Unternehmens eine stärkere und unabänderbare Position öffentlicher Akteure aufrechtzuerhalten.

75      Zudem ist zum Recht auf Entsendung von Mitgliedern in den Aufsichtsrat festzustellen, dass nach der deutschen Regelung die Arbeitnehmer selbst in diesem Organ vertreten sind.

76      Die von der Bundesrepublik Deutschland auf den Arbeitnehmerschutz gestützte Rechtfertigung ist daher zu verwerfen.

77      Gleiches gilt für die von der Bundesrepublik Deutschland auf den Schutz der Minderheitsaktionäre gestützte Rechtfertigung. Zwar kann die Absicht, Minderheitsaktionäre zu schützen, ebenfalls ein berechtigtes Interesse darstellen und bei Beachtung der in den Randnrn. 72 und 73 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätze eine gesetzgeberische Maßnahme rechtfertigen, selbst wenn diese im Übrigen geeignet ist, den freien Kapitalverkehr zu beschränken, doch kann im vorliegenden Fall eine solche Absicht die streitigen Bestimmungen des VW-Gesetzes nicht rechtfertigen.

78      Hierzu ist daran zu erinnern, dass diese Bestimmungen einen rechtlichen Rahmen bilden, der dem Bund und dem Land Niedersachsen die Möglichkeit eröffnet, einen größeren Einfluss auszuüben, als er normalerweise mit ihrer Investition verbunden wäre. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Aufrechterhaltung einer solchen Stellung zugunsten dieser öffentlichen Akteure zum Schutz der allgemeinen Interessen der Minderheitsaktionäre erforderlich oder geeignet sein soll.

79      Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass diese öffentlichen Akteure ihre Stellung unter bestimmten, besonderen Umständen zur Wahrung von Allgemeininteressen nutzen, die möglicherweise den wirtschaftlichen Interessen der betreffenden Gesellschaft und damit den Interessen der anderen Aktionäre zuwiderlaufen.

80      Was das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland angeht, die Tätigkeit eines so bedeutenden Unternehmens wie Volkswagen könne sich derart auf das Allgemeininteresse auswirken, dass das Vorhandensein gesetzlicher Garantien, die über die vom allgemeinen Gesellschaftsrecht vorgesehenen Kontrollen hinausgingen, gerechtfertigt sei, ist schließlich festzustellen, dass, selbst wenn diese Auffassung zuträfe, dieser Mitgliedstaat – abgesehen von allgemeinen Erwägungen zu der Gefahr, dass die Aktionäre ihre persönlichen Interessen über die Interessen der Arbeitnehmer stellen – nicht dargelegt hat, warum die von der Kommission beanstandeten Bestimmungen des VW-Gesetzes für die Erhaltung der durch die Tätigkeit von Volkswagen geschaffenen Arbeitsplätze geeignet und erforderlich sein sollen.

81      Nach alledem ist den auf einen Verstoß gegen Art. 56 Abs. 1 EG gestützten Rügen der Kommission zu folgen.

82      Daher ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 3 VW-Gesetz beibehalten hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG verstoßen hat.

 Kosten

83      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass sie § 4 Abs. 1 sowie § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand vom 21. Juli 1960 in der auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbaren Fassung beibehalten hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG verstoßen.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.