SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
DÁMASO RUIZ-JARABO COLOMER
vom 8. Juni 20061(1)
Rechtssache C‑150/05
Jean Leon van Straaten
gegen
Niederländischer Staat
und
Italienische Republik
(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank ’s-Hertogenbosch [Niederlande])
„Vorabentscheidungsfrage zu Artikel 35 EU – Besitzstand von Schengen – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Auslegung des Artikels 54 – Grundsatz ne bis in idem – Begriff ‚dieselbe Tat‘ – Beförderung von Betäubungsmitteln von einem Vertragsstaat in einen anderen und Besitz eines Teils dieser Betäubungsmittel im letzteren Staat – Begriff ‚abgeurteilt‘ – Freispruch aus Mangel an Beweisen“
I – Einleitung
1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank ’s‑Hertogenbosch (Gericht erster Instanz in Zivil- und Strafsachen)(2) betreffend Artikel 35 EU gibt dem Gerichtshof zum vierten Mal Gelegenheit zur Auslegung von Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (im Folgenden: SDÜ), in dem der Grundsatz ne bis in idem niedergelegt ist.
2. Die ersten beiden Male stellte der Gerichtshof fest, dass dieser Grundsatz zur Anwendung kommt, wenn durch die Erfüllung bestimmter mit der Staatsanwaltschaft vereinbarter Auflagen ein Strafklageverbrauch eintritt(3), was jedoch nicht der Fall ist, wenn die Einstellung des Verfahrens darauf zurückzuführen ist, dass die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen den Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind(4).
3. Das dritte Mal bot sich die Gelegenheit in der Rechtssache C‑436/04 (Van Esbroeck), in der der Gerichtshof in seinem am 9. März 2006 verkündeten Urteil(5) die zeitliche Geltung der genannten Bestimmung untersuchte und den Begriff „idem“ auslegte.
4. Die Abgrenzung dieses Begriffes und die Art und Weise, in der die staatliche Gewalt zur Ahndung von Straftaten ausgeübt wird, stehen nun erneut im Mittelpunkt, da das vorlegende Gericht sich über die Tragweite des Begriffes „dieselbe Tat“ nicht im Klaren ist und wissen möchte, ob eine aus Mangel an Beweisen freigesprochene Person im Sinne von Artikel 54 SDÜ „abgeurteilt“ worden ist(6).
5. Diese Zweifel erheben sich in einem Verfahren nach Artikel 111 Absatz 1 SDÜ, das Herr van Straaten angestrengt hat, um seine Eintragung im Schengener Informationssystem zu beseitigen.
II – Der Schengen-Besitzstand
A – Allgemeines
6. Zu diesem rechtlichen Besitzstand gehören:
a) das Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 14. Juni 1985 in der luxemburgischen Stadt, die ihm seinen Namen gegeben hat, von den Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik unterzeichnet wurde(7);
b) das am 19. Juni 1990 unterzeichnete Übereinkommen zur Durchführung des vorgenannten Übereinkommens(8), in dem Maßnahmen der Zusammenarbeit zum Ausgleich des Wegfalls dieser Kontrollen festgelegt sind;
c) die Protokolle und die Urkunden über den Beitritt der anderen Mitgliedstaaten, die Erklärungen und Beschlüsse des durch das SDÜ eingesetzten Exekutivausschusses sowie die Entscheidungen der Stellen, denen dieser Ausschuss Entscheidungsbefugnisse zuweist(9).
7. Das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügte Protokoll (Nr. 2) bezieht den genannten Komplex in den Rahmen der Union ein und gilt nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 1 ab dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam (1. Mai 1999) in den 13 in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten, zu denen das Königreich der Niederlande und die Italienische Republik gehören(10).
8. Das Ziel besteht gemäß der Präambel des Protokolls darin, die europäische Integration zu vertiefen und insbesondere der Europäischen Union die Möglichkeit zu geben, sich schneller zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln.
9. Der Rat hat nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 des Protokolls am 20. Mai 1999 die Beschlüsse 1999/435/EG und 1999/436/EG erlassen, in denen er den Schengen-Besitzstand bestimmt und nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrages über die Europäische Union die Rechtsgrundlagen der Rechtsvorschriften festgelegt hat, die diesen Besitzstand bilden(11).
B – Zum Grundsatz ne bis in idem
10. Titel III „Polizei und Sicherheit“ des SDÜ beginnt mit einem Kapitel über die „Polizeiliche Zusammenarbeit“ (Artikel 39 bis 47), auf das ein Kapitel über „Rechtshilfe in Strafsachen“ (Artikel 48 bis 53) folgt.
11. Kapitel 3 „Verbot der Doppelbestrafung“ besteht aus den Artikeln 54 bis 58, deren Rechtsgrundlage gemäß Artikel 2 und Anhang A des Beschlusses 1999/436 die Artikel 34 EU und 31 EU sind.
12. Artikel 54 SDÜ lautet:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
13. Artikel 55 Absatz 1 Buchstabe a SDÜ bestimmt, dass eine Vertragspartei bei der Ratifikation des SDÜ erklären kann, dass sie nicht durch Artikel 54 gebunden ist, wenn die Tat ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet und nicht im Land der Verurteilung begangen wurde.
C – Zur Bekämpfung des Drogenhandels
14. Nach den Kapiteln 4 („Auslieferung“, Artikel 59 bis 66) und 5 („Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen“, Artikel 67 bis 69) ist das nächste Kapitel des Titels III den „Betäubungsmitteln“ (Artikel 70 bis 76) gewidmet, dessen Artikel 71, der seine Rechtsgrundlage außer in den Artikeln 34 EU und 31 EU auch in Artikel 30 EU hat, Folgendes bestimmt:
„(1) Die Vertragsparteien verpflichten sich, in Bezug auf die unmittelbare oder mittelbare Abgabe von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen aller Art einschließlich Cannabis und den Besitz dieser Stoffe zum Zwecke der Abgabe oder Ausfuhr unter Berücksichtigung der bestehenden Übereinkommen der Vereinten Nationen alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, die zur Unterbindung des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln erforderlich sind.
…“
15. Das siebte und letzte Kapitel (Artikel 77 bis 91 SDÜ) betrifft „Feuerwaffen und Munition“.
D – Das Schengener Informationssystem
16. Titel IV des SDÜ (Artikel 92 bis 119) betrifft die Einrichtung des Schengener Informationssystems (im Folgenden: Informationssystem)(12), das aus einem nationalen Teil bei jeder Vertragspartei und einer technischen Unterstützungseinheit besteht, um zu den in den Artikeln 95 bis 100 SDÜ (Artikel 92 Absatz 1 in Verbindung mit den Artikeln 94 Absatz 1 und 102 Absatz 1) genannten Zwecken durch Abruf im automatisierten Verfahren auf Ausschreibungen, die der Suche nach Personen und Sachen dienen, zugreifen zu können.
17. Einer dieser Zwecke ist die Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung. In diesem Fall werden die Daten der gesuchten Person auf Antrag der Justizbehörde des ersuchenden Staates in das Informationssystem aufgenommen (Artikel 95 Absatz 1), der als einziger zu einer Änderung, Ergänzung, Berichtigung oder Löschung der Daten berechtigt ist (Artikel 106 Absatz 1). Sofern der ersuchte Staat eine Ausschreibung mit seiner Rechtsordnung, seinen internationalen Verpflichtungen oder wesentlichen nationalen Interessen für nicht vereinbar hält, kann er einen Hinweis eingeben, der eine Festnahme auf seinem Hoheitsgebiet ausschließt (Artikel 95 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 94 Absatz 4 SDÜ).
18. Jede Vertragspartei bestimmt eine Stelle, die als Zentrale für den nationalen Teil des Informationssystems zuständig ist (Artikel 108 Absatz 1 SDÜ). Die betroffenen Personen haben das Recht, eine Klage auf Berichtigung oder Löschung einer sie betreffenden Eintragung oder auf Auskunftserteilung oder Schadensersatz zu erheben (Artikel 111 Absatz 1 SDÜ), wobei sich die Vertragsparteien verpflichten, unanfechtbare Entscheidungen der Gerichte oder Behörden zu vollziehen (Artikel 111 Absatz 2 SDÜ).
III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen(13)
19. Der Gemeinschaftsbürger van Straaten war in Italien im März 1983 im Besitz von etwa 5 kg Heroin, das er in die Niederlande einführte, wo er über etwa 1 000 g verfügte.
20. In den Niederlanden wurden ihm drei Straftaten zur Last gelegt: 1. die gemeinsam mit A. Yilmaz begangene Einfuhr von 5,5 kg Heroin aus Italien um den 26. März herum, 2. der Besitz von 1 000 g Heroin zwischen dem 27. und dem 30. März und 3. das Führen von Feuerwaffen und Munition.
21. Die Rechtbank ’s-Hertogenbosch sprach ihn mit Urteil vom 23. Juni 1983 vom ersten Punkt der Anklage aus Mangel an Beweisen frei(14) und verurteilte ihn in den beiden anderen Punkten zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten, die er, nachdem das Urteil rechtskräftig geworden war, ordnungsgemäß verbüßte(15).
22. In Italien wurde van Straaten angeklagt, am oder um den 27. März 1983 ungefähr 5 kg Heroin besessen und in mehreren Sendungen in die Niederlande ausgeführt zu haben, wobei seine Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung als erschwerender Umstand gewertet wurde. Im Anschluss an die Hauptverhandlung, zu der er förmlich geladen worden war, aber nicht erschien, verurteilte ihn das Tribunale Ordinario Mailand, ohne jenen erschwerenden Umstand zu berücksichtigen, am 22. November 1999 zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und einer Geldstrafe von 50 Mio. ITL sowie zur Tragung der Kosten des Verfahrens.
23. Auf Antrag der italienischen Behörden wurde van Straaten im Schengener Informationssystem zum Zweck seiner Verhaftung und anschließenden Auslieferung ausgeschrieben, die von der Staatsanwaltschaft Mailand am 11. September 2001 beantragt worden war. Die Niederlande gaben einen Hinweis nach Artikel 95 Absatz 3 SDÜ in das Informationssystem ein, so dass eine Festnahme auf ihrem Hoheitsgebiet nicht durchgeführt werden könnte.
24. Nachdem van Straaten von seiner zweiten Verurteilung und seiner Ausschreibung im Informationssystem erfahren hatte, beantragte er über die Korps Landelijke Politiediensten(16) die Löschung der ihn betreffenden Eintragungen. Da er hierauf keine Antwort erhielt, legte er unverzüglich einen Rechtsbehelf bei der Rechtbank ’s-Hertogenbosch ein. Mit Beschluss vom 16. Juli 2004 lud das Gericht die Italienische Republik aufgrund von Artikel 106 Absatz 1 SDÜ zur mündlichen Verhandlung.
25. Die Rechtbank vertritt die Auffassung, dass van Straaten gemäß Artikel 111 SDÜ klagebefugt und Italien verpflichtet sei, der von ihr zu erlassenden Entscheidung nachzukommen.
26. Van Straaten macht geltend, dass die ihm in Italien auferlegte Strafe gegen das SDÜ verstoße und ihre Vollstreckung daher rechtswidrig wäre. Italien hält dem entgegen, dass die strafbare Einfuhr in die Niederlande nicht „abgeurteilt“ worden sei, weil ein Freispruch ergangen sei, und einer zweiten gerichtlichen Verfolgung daher nichts entgegenstehe.
27. Die Rechtbank ’s-Hertogenbosch hat das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof um Beantwortung folgender Fragen gebeten:
1. Was ist unter „derselben Tat“ im Sinne von Artikel 54 SDÜ zu verstehen? (Ist der Besitz von etwa 1 000 g Heroin in den Niederlanden im oder um den Zeitraum vom 27. bis 30. März 1983 dieselbe Tat wie der Besitz von etwa 5 kg Heroin in Italien am oder um den 27. März 1983, wenn berücksichtigt wird, dass die Partie Heroin in den Niederlanden ein Teil der Partie Heroin in Italien war? Ist die Ausfuhr einer Partie Heroin aus Italien in die Niederlande dieselbe Tat wie die Einfuhr derselben Partie Heroin aus Italien in die Niederlande, auch wenn berücksichtigt wird, dass die Mitverdächtigen von van Straaten in den Niederlanden und in Italien nicht alle dieselben sind? Geht es bei dem Handlungskomplex, der aus dem Besitz des erwähnten Heroins in Italien, seiner Ausfuhr aus Italien, seiner Einfuhr in die Niederlande und seinem Besitz in den Niederlanden besteht, um „dieselbe Tat“?)
2. Handelt es sich um eine Aburteilung einer Person im Sinne von Artikel 54 SDÜ, wenn die dieser Person zur Last gelegte Tat nicht für gesetzlich hinreichend und überzeugend nachgewiesen erklärt und diese Person davon durch Urteil freigesprochen worden ist?
IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof
28. Die Kommission und die österreichische, die tschechische, die spanische, die französische, die italienische, die niederländische, die polnische und die schwedische Regierung haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Bevollmächtigten Spaniens, der Niederlande und der Kommission haben in der Sitzung am 4. Mai 2006 ihren Standpunkt auch mündlich dargelegt.
V – Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
29. Die französische und die spanische Regierung bezweifeln die Zulässigkeit der Vorlage, allerdings aus unterschiedlichen Gründen.
30. Die gallische Regierung bedauert die Knappheit der Angaben des vorlegenden Gerichts, die ihrer Meinung nach den Gegenstand der Streitigkeit nicht erkennen lässt und dadurch eine Beurteilung der Notwendigkeit einer Auslegung durch den Gerichtshof zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht zulässt.
31. Die von der spanischen Regierung vorweg erhobene Einrede(17) geht weniger weit, da sie sich auf die erste Frage und, hilfsweise, auf deren zweiten Teil bezieht, in dem es ihrer Meinung nach um die Feststellung des Sachverhalts geht. Die spanische Regierung ist der Ansicht, dass die Feststellung, ob eine in einem Verfahren abgeurteilte Tat mit der in einem früheren Verfahren geprüften Tat übereinstimme, über die dem Gerichtshof zugewiesene Aufgabe der Auslegung hinausgehe.
A – Zur Erheblichkeit der Vorlage
32. Die gallische Regierung irrt nicht mit ihrer Feststellung, dass der Beschluss der Rechtbank die Art und den Zweck des von van Straaten geltend gemachten Anspruchs kaum erkennen lässt. Der Nebel verzieht sich jedoch, wenn man die Schriftsätze des Ausgangsverfahrens und die schriftlichen Erklärungen der Niederlande hinzuzieht.
33. Van Straaten beantragt unter Berufung auf Artikel 111 Absatz 1 SDÜ die Löschung seiner Ausschreibung im Schengener Informationssystem, eine Aufgabe, die der Republik Italien zufällt, die an die Entscheidung gebunden ist, die ergehen wird (Artikel 106 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 111 Absatz 2 SDÜ).
34. Die Ausschreibung beruht auf dem Urteil des Tribunale Ordinario Mailand, zu dessen Vollstreckung die Staatsanwaltschaft um die Auslieferung des Verurteilten ersucht hat, was dessen Festnahme erforderlich macht.
35. Somit ist die Rechtmäßigkeit der Sanktion Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Ausschreibung im Informationssystem, oder umgekehrt kann die Klage wegen Löschung der Ausschreibung nur Erfolg haben, wenn deren Grundlage rechtswidrig ist. Ebenso würde eine gerichtliche Entscheidung, die gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt, eine Auslieferung des Verurteilten nach seiner Ausschreibung im Informationssystem zum Zwecke seiner Verhaftung nicht rechtfertigen(18). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Rechtbank ’s‑Hertogenbosch zur Wahrung dieses Grundsatzes nach der Bedeutung des in Artikel 54 SDÜ verwendeten Begriffes „dieselbe Tat“ fragt und wissen möchte, ob ein Freispruch aus Mangel an Beweisen zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Bestimmung gehört.
36. Man könnte die Ansicht vertreten, dass die Vorlage überflüssig sei, da van Straaten in seinem Land keine Festnahme zu befürchten hat, denn die niederländischen Behörden haben der Ausschreibung einen Vorbehalt gemäß Artikel 95 Absatz 3 SDÜ (worauf ich vorstehend in Nr. 17 dieser Schlussanträge hingewiesen habe) beigefügt. Diese Ansicht ist jedoch in zweierlei Hinsicht falsch: Zum einen begibt man sich, wenn man das Interesse des Klägers am Ausgangsverfahren prüft und auf seine Klagebefugnis abstellt, auf ein Gebiet, das dem Gemeinschaftsrichter verschlossen ist. Zum anderen bleibt dabei nicht nur unberücksichtigt, dass diese punktuelle Intervention des ersuchten Staates den Freiheitsentzug in anderen Staaten nicht verhindert, sondern auch, dass Artikel 54 SDÜ die Freizügigkeit der Bürger in der Union sicherstellen soll(19), ein Ziel, das in Artikel 2 EU Absatz 1 vierter Gedankenstrich verankert ist.
37. Außerdem gilt für das Verfahren nach Artikel 35 EU die Regelung des Artikels 234 EG unter Anpassung an die Besonderheiten dieses Verfahrens(20), wobei jedoch auch die gesamte einschlägige Rechtsprechung zu berücksichtigen ist. Beide Bestimmungen machen die Vorlage von Fragen an den Gerichtshof davon abhängig, dass das nationale Gericht eine Auslegung im Wege der Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Es besteht also eine Vermutung für die Erheblichkeit der Vorlage, es sei denn, dass a) diese in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, b) das Problem hypothetischer Natur ist oder c) der Text der Vorlage keine Angaben enthält, die für eine sachdienliche Beantwortung unerlässlich sind(21). Solche Umstände liegen in unserem Fall, wie ich ausgeführt habe, aber nicht vor.
38. Ein letzter Einwand gegen die Zulässigkeit, der von der Kommission beschrieben, aber zurückgewiesen worden ist und mit der von der französischen Regierung geltend gemachten Nutzlosigkeit zusammenhängt, betrifft die Frage, ob Artikel 54 SDÜ in zeitlicher Hinsicht auf das Ausgangsverfahren Anwendung findet.
39. Die zeitliche Geltung dieser Bestimmung ist in der Rechtssache Van Esbroeck behandelt worden. In meinen Schlussanträgen in dieser Sache habe ich vorgetragen, dass das Recht, für dieselbe Tat nicht wiederholt angeklagt und verurteilt zu werden, als individuelles materielles Recht ausgestaltet ist, das dazu dienen soll, dass niemand, „der eine Rechtsverletzung begangen und seine Schuld gebüßt hat, nochmals verfolgt und bestraft wird“. Dieses Recht wird wirksam, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, denn von diesem Zeitpunkt an ist der Staat – als Kehrseite der Medaille – verpflichtet, sich jeder Verfolgungshandlung zu enthalten. Eine frühere endgültige Verurteilung ist somit Voraussetzung dafür, dass dieser Grundsatz Anwendung findet (Nr. 31). Der Zeitpunkt der ersten Urteilsverkündung ist dabei unwichtig, wenn das zweite Urteil nach dem Inkrafttreten des SDÜ, das keine besondere Bestimmung über die zeitliche Geltung des Artikels 54 enthält (Nrn. 32 und 29 der genannten Schlussanträge), verkündet wird. In dem bereits genannten Urteil in dieser Sache folgte der Gerichtshof meinen Überlegungen und stellte fest, dass der Grundsatz ne bis in idem in Fällen, die dem ihm vorliegenden vergleichbar seien, Anwendung finde (Randnrn. 23 und 24).
40. Das genannte internationale Übereinkommen, das während der Vorgeschichte (bei Erlass der ersten Entscheidung in den Niederlanden und dem Beginn der Ermittlungen in Italien) noch nicht bestand, war zum Zeitpunkt der Verurteilung in Italien in Kraft, so dass der Grundsatz ne bis in idem in diesem Augenblick in vollem Umfang wirksam war. An der Relevanz der Erwägungen in den vorstehenden Nummern 33 bis 37 ändert sich also nichts.
B – Ein unbestimmter Rechtsbegriff
41. Die spanische Regierung geht ebenso wenig fehl, wenn sie darauf hinweist, dass die erste Frage die Tatsachen betrifft, doch irrt sie, wenn sie vorschlägt, die Frage ohne weiteres zurückzuweisen.
42. Eine solche Entscheidung kann nicht für die ganze Frage in Betracht kommen, sondern nur für die in Klammern gesetzten Fragen, mit denen das vorlegende Gericht um eine Stellungnahme zu den besonderen Verhältnissen des Falles ersucht. Eine solche kann es aber nicht erhalten, weil dies die Grenzen der Auslegungstätigkeit des Gerichtshofes überschreiten würde.
43. Das Ersuchen beginnt mit einer Frage, die trotz der Einbeziehung der Tatsachen eine unleugbar exegetische Aufgabe enthält, da es um einen unbestimmten Rechtsbegriff(22) („dieselbe Tat“) der Rechtsvorschrift geht.
44. Ein ähnliches Problem stellte sich in der Rechtssache Van Esbroeck, in der ich darauf hingewiesen habe, dass die Klärung, ob eine Tat, derentwegen ein Verfahren eröffnet worden ist, mit der in einem anderen Verfahren untersuchten übereinstimmt, zu den wesentlichen Aufgaben der Richtertätigkeit gehört und nur dem Richter zusteht, der die Wirklichkeit unmittelbar kennt, auf die er seine Würdigung bezieht, unbeschadet einer Überprüfung durch eine zweite Instanz (Nr. 36 der Schlussanträge). Die Aufgabe des Gerichtshofes beschränkt sich darauf, Auslegungskriterien zu liefern, die unter Berücksichtigung der Grundlagen und des Zweckes des Artikels 54 SDÜ die Richtung aufzeigen, die am besten eine einheitliche Behandlung im gesamten Gebiet der Europäischen Union sicherstellt (Nr. 37).
45. Im Rahmen dieser Bemühungen erscheint es sinnlos, aus dem Gemeinschaftsrecht einige autonome Leitlinien herausschälen zu wollen, auf deren Grundlage sich ein allgemeines Kriterium für die Lösung eventueller zukünftiger Fälle entwickeln lässt, „denn die Unvorhersehbarkeit der Kriminalpolitiken und das Wesen des Strafverfahrens erschweren allgemeingültige Konstruktionen“. So kann eine Fragestellung, die für einige Straftatbestände oder bestimmte Beteiligungsformen sinnvoll ist, für andere unangemessen sein (Nrn. 38 und 39). Am vernünftigsten erscheint mir, einen vermittelnden Standpunkt einzunehmen und, ohne auf die einzelnen dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Handlungen näher einzugehen, die besonderen Umstände des Falles abzuwägen, um dem nationalen Gericht einige Regeln an die Hand zu geben, die es ihm erlauben, den Prozess im Einklang mit Sinn und Zweck der Rechtsvorschrift zu entscheiden (Nr. 40).
46. Ich glaube, dass dieser Ansatz es erleichtert, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ohne an seine Stelle zu treten, und dabei die von der spanischen Regierung genannten Gefahren zu vermeiden.
VI – Die Prüfung der Vorlagefragen
47. Nachdem der Weg nun geebnet ist, sind ohne weitere Vorreden die Zweifel der Rechtbank ’s-Hertogenbosch auszuräumen. Das erste Problem ist wie bereits gesagt in der Rechtssache Van Esbroeck untersucht worden. Die Urteile Gözütok und Brügge auf der einen Seite und Miraglia auf der anderen bieten Lösungsmuster für das zweite Problem. In diesem Vorabentscheidungsverfahren geht es allerdings um die Auslegung bestimmter Variationen desselben Themas.
48. Ich möchte mit dem Ende beginnen, da jede Untersuchung des Begriffes „dieselbe Tat“ überflüssig ist, wenn zu entscheiden ist, dass ein Freispruch aus Mangel an Beweisen einer erneuten Prüfung „derselben Tat“ nicht entgegensteht.
A – Der Begriff der Doppelbestrafung: Freispruch aus Mangel an Beweisen (zweite Frage)
49. In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Gözütok und Brügge habe ich ausgeführt, dass niemand, der in einem der Vertragsstaaten des SDÜ verurteilt worden ist, wegen derselben Tat erneut verurteilt werden kann, ob er nun freigesprochen oder zu einer Strafe verurteilt worden ist (Nr. 46).
50. Meine Ansicht hat sich seither nicht im Geringsten geändert, doch sind jetzt anders als in jenem Fall, in dem es über diese Frage keinen Streit gab, die Gründe darzulegen, weshalb ein freisprechendes Urteil die Schutzwirkung der Ne-bis-in-idem-Regel herbeiführt.
1. Wörtliche Auslegung
51. Der Wortlaut des Artikels 54 SDÜ lässt keine Diskussion zu, da er mit Bezugnahme auf die rechtskräftige Aburteilung, ohne auf die Art des Urteils einzugehen, jede künftige Verfolgung verbietet, wobei klargestellt wird, dass „im Fall einer Verurteilung“(23) dieses Verbot davon abhängt, dass die Strafe vollstreckt wird oder nicht vollstreckt werden kann. Diese Klarstellung wäre überflüssig, wenn der Grundsatz nur nach Verhängung einer Sanktion Anwendung fände.
52. Im Urteil Miraglia kommt dieser Standpunkt – wenn auch nur implizit, da dieser Aspekt dort nicht direkt behandelt worden ist – dadurch zum Ausdruck, dass der Gerichtshof auf die „Prüfung in der Sache“ (Randnr. 30) abgestellt und die Anwendung des Artikels 54 SDÜ abgelehnt hat, wenn die Strafverfolgung eingestellt wird, weil eine solche in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitet worden ist (Randnr. 35). Die Lösung liegt in der Ausübung des ius puniendi unter Würdigung aller gegebenen Umstände, wobei die Tragweite der Urteile unerheblich ist (im Folgenden werde ich darauf näher eingehen).
53. Die Eindeutigkeit der Charta der Grundrechte der EU(24) bestätigt diese Auffassung. Artikel 50 verbietet eine erneute Prüfung, wenn der Betroffene rechtskräftig „verurteilt oder freigesprochen“(25) worden ist.
54. Diese Argumente machen eine Auslegung hinfällig, wie sie von der österreichischen Regierung in Randnummer 37 ihrer schriftlichen Erklärungen beschrieben und abgelehnt worden ist. Im Rahmen von Schengen den Grundsatz ne bis in idem in dem Sinne zu verstehen, dass er einen Schuldspruch, gleichgültig, ob mit oder ohne Verhängung einer Strafe, verlangt, würde gegen Sinn und Zweck von Artikel 54 SDÜ verstoßen, zumal dessen Anwendungsbereich damit ungerechtfertigt verkleinert würde, da Freisprüche wegen Fehlens dieser subjektiven Komponente ausgeschlossen wären(26).
55. Ein ähnlicher Gegensatz wird in der von der spanischen Regierung vertretenen Ansicht deutlich, die nicht nur widersprüchlich(27), sondern auch falsch ist, da nach dieser Ansicht der Rechtssatz seine Rechtfertigung im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet und eine Reaktion verlangt wird, die der Bedeutung der Straftat angemessen ist(28).
2. Die teleologische Auslegung
a) Der Grundsatz ne bis in idem im Rahmen von Schengen
56. Diesem Grundsatz liegen andere Prinzipien zugrunde, nämlich die der Rechtssicherheit und der Billigkeit. Der Täter muss wissen, dass er mit der Vollstreckung seiner Strafe seine Schuld gesühnt hat und keine erneute Bestrafung zu befürchten braucht. Im Falle eines Freispruchs muss er sicher sein, später nicht doch noch bestraft zu werden (Nrn. 49 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Gözütok und Brügge und 19 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Van Esbroeck).
57. Das Verbot der Doppelbestrafung ist ein Grundrecht des Einzelnen, das mit dem Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und einen fairen Prozess einhergeht. Außerdem ist es ein strukturelles Erfordernis der Rechtsordnung, dessen Rechtmäßigkeit sich aus der Rechtskraft herleitet (Nr. 21 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Van Esbroeck).
58. Wenn im Fall einer Kumulierung von Strafen auf die Verhältnismäßigkeit zurückgegriffen wird, um bei der Verhängung der Strafen frühere zu berücksichtigen und zu ermäßigen, kommt das so genannte Anrechnungsprinzip ins Spiel(29), das nicht zu verwechseln ist mit dem Grundsatz ne bis in idem, auch wenn es ihn ergänzt. Artikel 54 SDÜ enthält keine förmliche Regel, die aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Strafe ermäßigt, wenn jemand wegen derselben Tat erneut bestraft wird, sondern stellt eine grundlegende Garantie dar, die einem erneuten Urteil in der Sache entgegensteht (Erledigungsprinzip)(30).
59. Im Rahmen des Schengen-Besitzstands, der die Integration der Völker Europas vertiefen und die Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts machen soll, hängt der Grundsatz ne bis in idem außerdem mit dem Recht auf ungehinderte Freizügigkeit zusammen(31). Die schrittweise Aufhebung der Grenzkontrollen, die ein unvermeidlicher Schritt auf dem Weg zu diesem gemeinsamen Raum ist, ist nicht ohne Risiken, da sie denjenigen Vorteile verschafft, die die Verringerung der Kontrollen ausnutzen, um ihre rechtswidrigen Tätigkeiten auszuweiten, und macht daher eine verstärkte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit unerlässlich. Diese größere Effizienz muss jedoch verwirklicht werden, ohne dass die unveräußerlichen Freiheiten eines demokratischen Rechtsstaats geschmälert werden.
60. In einem multinationalen Kontext ist, wie gerade ausgeführt, mehr Zusammenarbeit, aber auch eine stärkere Anerkennung der richterlichen Handlungen über die Grenzen hinweg erforderlich.
b) Das gegenseitige Vertrauen
61. Der Grundsatz ne bis in idem besteht im Interesse(32) der Rechtssicherheit, damit Entscheidungen der staatlichen Gewalt, wenn sie rechtskräftig geworden sind, nicht ewig angefochten werden können. Ist eine Strafklage in einem Mitgliedstaat verbraucht, können die übrigen Mitgliedstaaten dies nicht unberücksichtigt lassen. Die Integration verlangt gegenseitige Hilfe, die ohne gegenseitiges Vertrauen in die jeweiligen Rechtssysteme und ohne gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen, die in einem wirklich „gemeinsamen Haus“ der Grundrechte erlassen worden sind, kaum möglich ist(33).
62. Auch wenn ein Staat eine Materie nicht genauso oder ähnlich wie der andere geregelt hat, sind die Ergebnisse vergleichbar, da sie gleichen Werten und Grundsätzen entsprechen: In einem so ehrgeizigen Projekt wie der Europäischen Union muss man auf die Angemessenheit der Normen der anderen Mitgliedstaaten und auf deren ordnungsgemäße Anwendung vertrauen und deren Ergebnisse akzeptieren, auch wenn sie zu anderen Lösungen führen(34). Dies bedeutet auch, sie zu übernehmen, was zur Folge hat, dass der Grundsatz ne bis in idem Anwendung findet.
63. Kurzum, wenn ein Mitgliedstaat einen Täter oder Teilnehmer aburteilt(35), dürfen die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten keine erneute Prüfung vornehmen, unabhängig davon, um welches Urteil es sich handelt(36), ob um eine Verurteilung oder einen Freispruch, denn beide Fälle sind Ausdruck des ius puniendi.
3. Das Arsenal möglicher Urteile
64. Bei einer Verurteilung gibt es keine Zweifel, wobei diese neben den Urteilen im strengen Sinne auch die Einstellung der Strafverfolgung nach Erfüllung der dem Beschuldigten von der Staatsanwaltschaft auferlegten Verpflichtungen (Urteil Gözütok und Brügge) umfasst.
65. Im Falle des Freispruchs ist jede spätere Maßnahme verboten, wenn durch eine Prüfung „in der Sache“(37) das staatliche Monopol für die Ahndung von Straftaten in Anspruch genommen worden ist. Der Ausdruck „Prüfung in der Sache“, der dem Urteil Miraglia entnommen ist, umfasst je nach den Gründen des Freispruchs – ob diese unmittelbar in der Person des Angeklagten liegen oder nicht – verschiedene Fälle. In der Person des Angeklagten liegen Ausschließungsgründe, die in Betracht kommen, wenn die für die strafrechtliche Verantwortlichkeit unerlässlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind (Unzurechnungsfähigkeit oder Schuldunfähigkeit wie z. B. im Fall der Minderjährigkeit oder der Geistesstörung). Die von der Person des Angeklagten unabhängigen Gründe beziehen sich auf objektive Gegebenheiten, wenn ein anderes Verhalten nicht verlangt werden kann (Rechtfertigungsgründe: Notwehr, Notstand oder mittelbare Gewalt) oder die subjektive Seite des Tatbestands (subjektive Tatbestandsmerkmale) nicht erfüllt ist, z. B. im Zusammenhang mit dem Zeitablauf(38) und dem konkret untersuchten Sachverhalt.
66. Die letztgenannte Gruppe umfasst drei Kategorien von Freisprüchen, je nachdem, ob 1. die Handlung keinen Straftatbestand erfüllt, 2. der Angeklagte die Handlung nicht begangen hat oder 3. die Täterschaft des Angeklagten nicht bewiesen ist(39). Die uns vorliegende Frage bezieht sich auf die dritte Kategorie.
4. Der besondere Fall des Freispruchs aus Mangel an Beweisen
67. Ein Urteil dieser Art setzt eine Prüfung in der Sache voraus oder, in anderen Worten, eine Entscheidung über die Tat im Hinblick auf ihre Zuordnung zu einer Person, so dass damit das staatliche ius puniendi erschöpft ist.
68. Der Grundsatz ne bis in idem steht sowohl einer erneuten Bestrafung als auch einer erneuten „Verfolgung“ und einer erneuten „Anklage“ entgegen. Artikel 54 SDÜ verwendet den Begriff der Verfolgung, während Artikel 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [in der spanischen Fassung] den Begriff der Anklage verwendet. Das Urteil Gözütok und Brügge drückt sich völlig klar aus, wenn dort festgestellt wird, dass der genannte Artikel 54 „verhindern soll, dass eine Person … wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird“ (Randnr. 38). Die Urteile Miraglia und Van Esbroeck bestätigen diese Auslegung (Randnrn. 32 und 33), die keineswegs einer Laune entspringt, denn der genannte Grundsatz dient wie gesagt der Billigkeit und Sicherheit und ist mit dem Recht auf ein faires Verfahren verbunden. Auch schützt er die Würde des Menschen gegen unmenschliche und entwürdigende Behandlung, da die doppelte Bestrafung derselben Straftat als eine solche Behandlung anzusehen ist(40).
69. Der Strafprozess stellt an und für sich eine zwangsläufige Belastung für jemanden dar, der aufgrund hinreichender Anhaltspunkte als einer Straftat verdächtig gilt. Wenn die Gerichte jedoch endgültig zu dem Schluss gelangt sind, dass der Tatvorwurf nicht bewiesen ist, gibt es keine Rechtfertigung für eine Wiedereröffnung des Verfahrens, selbst dann nicht, wenn neue Tatsachen bekannt werden, die die Täterschaft belegen.
70. Diese Folge ergibt sich nicht aus der Heranziehung eines Kriteriums wie des Grundsatzes in dubio pro reo, der bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist(41), sondern aus einem Grundrecht, das den Bürger gegenüber der Staatsgewalt schützt, die einen Freispruch nur zulässt, wenn nach der Durchführung angemessener Strafverfolgungsmaßnahmen – bei Wahrung aller Garantien – die Unschuld nicht widerlegt werden kann.
71. Es geht nicht an, jemanden in Unruhe zu versetzen, der freigesprochen worden ist(42), sofern diese Feststellung in der Sache getroffen worden ist. Dies ergibt sich aus dem genannten Grundrecht des Einzelnen, das allen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gemeinsam, in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 48 Absatz 1) aufgenommen worden und daneben in Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und damit nach Artikel 6 Absatz 2 EU als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts festgelegt ist.
72. Zusammenfassend ist festzustellen, dass ich mit der Kommission und den am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten – mit Ausnahme von Spanien – der Ansicht bin, dass eine Person, die freigesprochen worden ist, weil der gegen sie erhobene Tatvorwurf sich nicht bewiesen hat, als „abgeurteilt“ im Sinne von Artikel 54 SDÜ anzusehen ist(43).
73. Niemand, auch nicht die spanische Regierung, bestreitet die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem in einem Fall, der dem nationalen Recht unterliegt. Daher sollten keine Bedenken gegen eine entsprechende Lösung in einem zwischenstaatlichen Rahmen wie dem der Europäischen Union bestehen, es sei denn, man nähme einen kleinlichen, abweisenden Standpunkt ein, der die beiden Pfeiler dieses gemeinsamen Raumes nicht akzeptiert: das gegenseitige Vertrauen mit der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und die Beachtung der Grundrechte der Bürger.
B – Der Begriff des idem: „dieselbe Tat“ (erste Frage)
74. Im Urteil Van Esbroeck ist dieser Teil der Vorlage behandelt worden und Artikel 54 SDÜ dahin ausgelegt worden, dass die Anwendung dieser Bestimmung die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, voraussetzt, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und von dem geschützten rechtlichen Interesse(44). Weiter heißt es dort, dass diese Qualifizierung sich auf die Einfuhr und Ausfuhr einer Partie von Betäubungsmitteln bezieht, die in verschiedenen Staaten, für die der Schengen-Besitzstand gilt, strafbar sind, wobei die endgültige Beurteilung den nationalen Gerichten zukommt.
75. Diese Sichtweise übernimmt meine Überlegungen in meinen Schlussanträgen vom 20. Oktober 2005 zu der streng sachverhaltsbezogenen Dimension des Begriffes des idem (Nrn. 41 bis 49), zu seiner Anwendung auf die Verbringung einer bestimmten Menge von Drogen von einem Vertragsstaat in einen anderen (Nrn. 50 bis 52) und zur Auslegung des Artikels 71 SDÜ und der einschlägigen Übereinkommen der Vereinten Nationen (Nrn. 53 bis 58).
76. Obwohl ich jetzt an diesem Punkt meiner Untersuchung gerne aufhören würde, lassen es die Besonderheiten des vorliegenden Falles ratsam erscheinen, noch einen Schritt weiter zu gehen und einige zusätzliche Überlegungen zum Begriff des idem anzustellen, ohne mich in die Aufgaben des vorlegenden Gerichts einmischen zu wollen, dem die Klärung der Frage zukommt, ob der Sachverhalt, dessentwegen ein Verfahren eingeleitet worden ist, mit dem eines früheren Verfahrens übereinstimmt.
77. Diese letzte Feststellung bestätigt die Ansicht der spanischen Regierung, wonach der zweite Teil der ersten Frage (innerhalb der Klammern) außer Betracht zu bleiben hat, da er leicht zu einer Einmischung in Fragen des Sachverhalts führen kann, die dem Gerichtshof verschlossen sind.
1. Das objektive Element des idem
78. Das Urteil Van Esbroeck verweist auf „einen Komplex von Tatsachen …, die ihrer Natur nach unlösbar miteinander verbunden sind“ (Randnr. 36). Hinter dieser Ausdrucksweise verbergen sich zwei objektive Aspekte.
79. Zum einen sind Raum und Zeit zu beachten, so dass, wenn bei beiden Größen Übereinstimmung herrscht, der konkrete Sachverhalt nicht in künstlich voneinander getrennte Handlungen aufgeteilt werden kann.
80. Zum anderen darf, ohne den Bereich des Faktischen zu verlassen, die Verknüpfung von Täter und Tat auf der psychischen Ebene nicht vernachlässigt werden.
81. Ein einheitlicher Zeitraum, ein einheitlicher Raum, aber auch ein einheitlicher Vorsatz.
82. Anhand dieser Trilogie ist zu prüfen, ob die von dem Grundsatz ne bis in idem verlangte Übereinstimmung besteht, natürlich in dem Sinne, dass die drei Aspekte nicht vollständig zusammenfallen müssen. Der Ort kann sich ändern, wie in der Rechtssache Van Esbroeck, wo bestimmte verbotene Stoffe von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht worden sind, ohne dass sich die Tat ändert. Die Straftat kann sich in die Länge ziehen und in verschiedene Einzelhandlungen zerfallen, für die Bestrafung aber eine einheitliche Tat bleiben(45). Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass gelegentlich der Vorsatz des Täters sich ändert und trotzdem die Tat unverändert bleibt.
2. Das subjektive Element: die Teilnahme anderer und deren Schicksal
83. Der Grundsatz der Doppelbestrafung verbietet als individuelles Recht eine doppelte Verfolgung wegen derselben Tat. Daher wird neben der objektiven Identität auch die subjektive Identität verlangt, so dass der Einzelne schon durch seine Aburteilung vor einer erneuten Verfolgung geschützt ist.
84. Daher sind die Beteiligung anderer an der Straftat, ein eventueller Wechsel der Beteiligten während der strafbaren Handlungen und ihr Schicksal im Rahmen der Strafverfolgung von untergeordneter Bedeutung.
85. Somit gilt der in diesem Verfahren streitige Grundsatz nur für denjenigen, der einmal strafrechtlich verfolgt worden ist, ohne dass sich hieran etwas ändert, wenn andere und nicht immer dieselben Personen an der Straftat beteiligt gewesen sind.
VII – Ergebnis
86. Aufgrund dieser Ausführungen möchte ich dem Gerichtshof vorschlagen, auf die Fragen der Rechtbank ’s‑Hertogenbosch wie folgt zu antworten:
1. „Abgeurteilt“ im Sinne von Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ist, wer nach Prüfung der Beweise freigesprochen wird, weil die ihm zur Last gelegte Tat nicht bewiesen ist.
2. Zur Beurteilung der faktischen Identität ist
– die materielle Seite der in den beiden Verfahren verfolgten Taten zu untersuchen, unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifizierung und den durch ihre Bestrafung geschützten Gütern und Interessen in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten oder in den Regelungen des Besitzstands von Schengen;
– unter „Tat“ das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen zu verstehen, wozu deren eventuelle zeitliche und räumliche Einheit sowie die Einheitlichkeit des Vorsatzes des Täters zu berücksichtigen sind, wobei in beiden Verfahren ohne Bedeutung ist, wenn die durch den Grundsatz ne bis in idem geschützte Person mit unterschiedlichen Mitangeklagten auftritt.
3. Das nationale Gericht hat gemäß den genannten Kriterien zu entscheiden, ob der Besitz einer Partie von Heroin in Italien, deren Verbringung in die Niederlande und der Besitz der gesamten Menge oder eines Teils hiervon in dem letztgenannten Staat „dieselbe Tat“ darstellt.
1 – Originalsprache: Spanisch.
2 – Stadt in Brabant in der Nähe von Antwerpen, in der um 1450 Jeroen van Aken, bekannt unter dem Pseudonym Hieronymus Bosch, geboren wurde. Die Niederlande haben die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Vorabentscheidungen anerkannt, indem sie allen Gerichten die Befugnis eingeräumt haben, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen (ABl. 1999, C 120, S. 24).
3 – Urteil vom 11. Februar 2003 in den verbundenen Rechtssachen C‑187/01 und C‑385/01 (Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I‑1345, und meine Schlussanträge in diesen Rechtssachen vom 19. September 2002).
4 – Urteil vom 10. März 2005 in der Rechtssache C‑469/03 (Miraglia, Slg. 2005, I‑2009).
5 – In diesem Fall habe ich am 20. Oktober 2005 ebenfalls die Schlussanträge gehalten (Slg. 2006, I‑0000).
6 – Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat ein „Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren“ (Brüssel, 23. Dezember 2005, KOM[2005] 696 endg.) veröffentlicht, in dem untersucht wird, auf welche Arten von Entscheidungen dieser Grundsatz Anwendung finden kann (S. 9).
7 – ABl. 2000, L 239, S. 13.
8 – ABl. 2000, L 239, S. 19.
9 – ABl. 2000, L 239, S. 63 ff.
10 – Die übrigen Staaten sind das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Griechische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich, die Portugiesische Republik, die Republik Finnland und das Königreich Schweden. Das Vereinigte Königreich und die Republik Irland sind diesem gemeinsamen Projekt nicht vollständig beigetreten und haben sich für eine punktuelle Beteiligung entschieden (der Beschluss 2000/365/EG des Rates vom 29. Mai 2000 [ABl. L 131, S. 43] und der Beschluss 2002/192/EG des Rates vom 28. Februar 2002 [ABl. L 64, S. 20] betreffen jeweils die Anträge der beiden Mitgliedstaaten auf Anwendung einzelner Bestimmungen des Übereinkommens). Dänemark genießt einen Sonderstatus, der es ihm erlaubt, die auf diesem Gebiet erlassenen Beschlüsse nicht anzuwenden. Die genannten Vorschriften sind für die zehn neuen Mitgliedstaaten ab ihrem Beitritt zur Europäischen Union bindend, auch wenn viele Vorschriften eine Intervention des Rates erfordern (Artikel 3 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge).
11 – ABl. L 176, S. 1 bzw. 17.
12 – Der Gerichtshof hat dieses System zum ersten Mal in seinem Urteil vom 31. Januar 2006 in der Rechtssache C‑503/03 (Kommission/Spanien, Slg. 2006, I‑0000) untersucht.
13 – Da der Vorlagebeschluss nur wenige Angaben enthält, habe ich für meine folgenden Ausführungen außerdem Erklärungen verwertet, die im vorliegenden Verfahren insbesondere von der niederländischen Regierung und der Kommission eingereicht worden sind.
14 – Die Prüfung eines etwaigen Begründungsmangels halte ich für unerheblich und für unzulässig. Entscheidend ist die Tatsache, dass das niederländische Gericht van Straaten freisprach, weil es die Tat als nicht erwiesen ansah.
15 – Der Gerechtshof ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht) änderte zwar die rechtliche Bewertung des zweiten Anklagepunktes, bestätigte die Entscheidung jedoch mit Urteil vom 3. Januar 1984, das vom Kassationsgericht, dem Hoge Raad der Nederlanden, mit Urteil vom 26. Februar 1985 bestätigt wurde.
16 – Die gemäß Artikel 108 Absatz 1 SDÜ benannte Stelle.
17 – In ihrem Schriftsatz vermengt sie leider die Vorlagefragen nach der Gültigkeit mit denen nach der Auslegung (Nrn. 5 und 7).
18 – Die Kommission führt diesen Gedankengang in den Nrn. 30 bis 36 ihrer Erklärungen näher aus.
19 – Urteile Gözütok und Brügge (Randnr. 38) und Miraglia (Randnr. 32).
20 – Urteil vom 16. Juni 2005 in der Rechtssache C‑105/03 (Pupino, Slg. 2005, I‑5285, Randnrn. 19 und 28).
21 – Urteil Pupino, Randnrn. 29 und 30.
22 – So habe ich ihn in den Schlussanträgen in der Rechtssache Van Esbroeck qualifiziert (Nr. 38).
23 – Entsprechende Ausdrücke finden sich in den anderen Sprachfassungen, z. B. en caso de condena (Spanisch), en cas de condamnation (Französisch), if a penalty has been imposed (Englisch) und in caso di condanna (Italienisch).
24 – ABl. 2000, C 364, S. 1.
25 – Von vergleichbarer Klarheit sind der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (Artikel 14 Absatz 7), das Protokoll Nr. 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 4 Absatz 1) und die in Rom beschlossene Satzung des Internationalen Strafgerichtshofes (Artikel 20 Absatz 1).
26 – Der in Rede stehende Grundsatz fände Anwendung, wenn die Handlung trotz Schuld nicht geahndet würde (wegen Strafausschließungsgründen, Fehlen objektiver Strafbarkeits- oder Verfolgungsvoraussetzungen), während er nicht anwendbar wäre, wenn die Nichtverhängung einer Sanktion auf der Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit oder Schuldunfähigkeit beruhte.
27 – In Randnr. 31 ihres Schriftsatzes schließt sie aus dem Ausdruck „im Fall einer Verurteilung“, dass Artikel 54 SDÜ Freisprüche ausschließe, übersieht dabei aber, dass der Hauptsatz der Bestimmung lautet: „wer … rechtskräftig abgeurteilt worden ist“.
28 – Der Standpunkt der spanischen Regierung, ins Absurde getrieben, würde eine erneute Prüfung nicht nur dann zulassen, wenn der Angeklagte von der strafrechtlichen Verantwortung freigesprochen würde, sondern auch, wenn die erste Verurteilung nicht dem Urteil entspräche, das in einem anderen Mitgliedstaat über die Schwere der Tat gefällt worden wäre, so dass eine „zusätzliche Strafe“ möglich wäre, um Strafe und gesellschaftlichen Tadel miteinander in Einklang zu bringen. Dadurch würde die Souveränität auf diesem Gebiet, die niemand bestreitet, statt durch ein freiwillig eingegangenes Übereinkommen durch eine einseitige Maßnahme einer ausländischen staatlichen Stelle eingeschränkt.
29 – In Artikel 56 SDÜ kommt diese Idee zum Ausdruck. Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, frühere Strafen „zu berücksichtigen“, wenn sie sich nach Artikel 55 für nicht durch Artikel 54 gebunden erklärt haben und eine erneute Strafverfolgung gegen eine Person eingeleitet haben, die durch einen anderen Vertragsstaat bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
30 – Entsprechende Begriffe habe ich in meinen Schlussanträgen vom 11. Februar 2003 in den Rechtssachen C‑213/00 P (Italcementi/Kommission, Randnrn. 96 und 97) und C‑217/00 P (Buzzi Unicem/Kommission, Randnrn. 178 und 179) verwendet. Über diese Rechtssachen zusammen mit vier weiteren ist durch Urteil vom 7. Januar 2004 (Slg. 2004, I‑123) entschieden worden. Vgl. auch Fußnote 19 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Gözütok und Brügge.
31 – Diese Ansicht kommt auch in Randnr. 38 des Urteils Gözütok und Brügge sowie in Randnr. 32 des Urteils Miraglia zum Ausdruck.
32 – Vgl. meine Ausführungen in Nrn. 119 ff. meiner Schlussanträge in der Rechtssache Gözütok und Brügge.
33 – Das „Maßnahmeprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen“ (ABl. 2001, C 12, S. 10) sieht im Verbot der Doppelbestrafung eine der zur Erreichung dieses Zieles geeigneten Maßnahmen (S. 12). In gleichem Sinne hat sich die Kommission in der „Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander“ (KOM[2005] 195 endg., S. 4) geäußert.
34 – Randnrn. 33 des Urteils Gözütok und Brügge sowie 30 des Urteils Van Esbroeck.
35 – Ich habe diesen Ansatz in Nr. 119 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Gözütok und Brügge vorgeschlagen, wonach das letzte Wort des Staates entscheidend ist, ob dieses nun von einem Gericht in seiner Funktion als Rechtsprechungsorgan, einem Untersuchungsrichter bei der Durchführung seiner Ermittlungsaufgabe oder von einem Staatsanwalt in Ausübung von Strafverfolgungsmaßnahmen gesprochen wird.
36 – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer Entscheidung über die Nichtzulassung vom 3. Oktober 2002 (Sache Nr. 48154/99, Zigarella/Italien) bestätigt, dass die Garantie des Verbotes der Doppelbestrafung unabhängig vom Ausgang des Verfahrens gilt. In einer neueren Entscheidung vom 15. März 2005 (Sache 70982/01, Horciag/Rumänien) hat er diesen Standpunkt bekräftigt.
37 – In dem in Fußnote 6 angeführten Grünbuch wirft die Kommission die Frage auf (Frage 18), ob für den Strafklageverbrauch der Sachverhalt gewürdigt worden sein muss (S. 12).
38 – In der Rechtssache C‑467/04, Gasparini, in dem die Audiencia Provincial de Málaga als Strafgericht erster Instanz eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, muss der Gerichtshof über das Problem des Freispruchs wegen Verjährung entscheiden.
39 – Man könnte von „erwiesener Unschuld“ und „nicht nachgewiesener Schuld“ sprechen, wenn es nicht die Vermutung der Unschuld gäbe, ein keineswegs zu vernachlässigender und für diese Frage der Rechtbank ’s-Hertogenbosch wichtiger Punkt.
40 – Auf diesen Gesichtspunkt habe ich in Fußnote 10 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Van Esbroeck hingewiesen.
41 – Bleiben Zweifel, ob subjektive oder objektive Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, ist auf Freispruch zu erkennen.
42 – Mit der Initiative der Hellenischen Republik im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses des Rates über die Anwendung des „ne-bis-in-idem“-Prinzips (ABl. 2003, C 100, S. 24) sollte der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes auf die Fälle des Freispruchs ausgedehnt werden (Artikel 2 Absatz 1).
43 – In der Lehre ist nicht in Frage gestellt worden, dass ein rechtskräftiger Freispruch eine Aburteilung im Sinne von Artikel 44 SDÜ darstellt (G. Dannecker: „La garantía del principio ne bis in idem en Europa“ in Dogmática y ley penal. Libro homenaje a Enrique Bacigalupo, Band I, Madrid 2004, S. 171).
44 – In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Gözütok und Brügge (Nrn. 48 und 56) habe ich nebenher auf die von der Strafvorschrift geschützten Rechtsgüter und Interessen hingewiesen, doch lässt sich dieser Hinweis nicht aus seinem Zusammenhang herausnehmen, um vorschnelle Schlüsse zu ziehen und mich zum Vorreiter eines Standpunkts zu machen, den ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Van Esbroeck ausdrücklich zurückgewiesen habe. In den erstgenannten Schlussanträgen habe ich mich nämlich auf die geschützten Werte bezogen, um die internationale Dimension des Grundsatzes ne bis in idem aufzuzeigen, habe jedoch zu verstehen gegeben, dass diese innerhalb der Europäischen Union und im Schengen-Raum nicht entscheidend sind, da alle beteiligten Staaten sie teilen (Nr. 55 am Ende).
45 – Die Tat von van Straaten, der Heroin von Italien in die Niederlande verbracht und dort über einen Teil verfügt hat, erfüllt diese Parameter.