62001C0224

Schlussanträge des Generalanwalts Léger vom 8. April 2003. - Gerhard Köbler gegen Republik Österreich. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien - Österreich. - Gleichbehandlung - Entgelt von Universitätsprofessoren - Mittelbare Diskriminierung - Dienstalterszulage - Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind - Einem nationalen Gericht zuzurechnende Verstöße. - Rechtssache C-224/01.

Sammlung der Rechtsprechung 2003 Seite I-10239


Schlußanträge des Generalanwalts


1. Kann die Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ausgelöst werden, wenn dieser Verstoß von einem Hoechstgericht begangen wurde? Hat der fragliche Mitgliedstaat dem Einzelnen die daraus resultierenden Schäden zu ersetzen? Wenn ja, welche Voraussetzungen gelten für eine solche Haftung?

2. Dies sind im Wesentlichen die heiklen Fragen, die das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien (Österreich) dem Gerichtshof im vorliegenden Verfahren stellt. Dieser wird erstmals aufgefordert, die Tragweite des Grundsatzes der Haftung des Staates für Schäden klarzustellen, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen. Dieser Grundsatz wurde vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. vom 19. November 1991 aufgestellt und seit dem Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame vom 5. März 1996 hinsichtlich der Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung mehrfach weiterentwickelt.

3. Es ist interessant, dass der Gerichtshof gleichzeitig mit einer Vertragsverletzungsklage in der Rechtssache C-129/00, Kommission/Italien, befasst ist, in der u. a. eine überwiegende Rechtsprechung der nationalen Gerichte, insbesondere der italienischen Corte suprema di cassazione, in Frage gestellt wird. In dieser Rechtssache muss der Gerichtshof Überlegungen zu einer ähnlichen Problematik wie im vorliegenden Verfahren anstellen: Muss ein Mitgliedstaat für Handlungen seiner Gerichte (oder einiger von ihnen) einstehen, und wenn ja, in welchem Umfang? Überdies ist der Gerichtshof mit einem niederländischen Vorabentscheidungsersuchen befasst, bei dem es darum geht, ob ein nationales Verwaltungsorgan nach dem Gemeinschaftsrecht verpflichtet ist, eine von ihm getroffene Entscheidung, die durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt wurde, zurückzunehmen, wenn die Auslegung der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften, auf der diese Verwaltungsentscheidung beruht, vom Gerichtshof in einem späteren Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren verworfen wird. Auch auf diese Vorlagefrage ist hinzuweisen, obgleich sich die in Rede stehende Problematik relativ stark von der uns beschäftigenden unterscheidet. Meine Schlussanträge in dieser Rechtssache werden demnächst folgen.

I - Nationaler rechtlicher Rahmen

A - Zum Prinzip der Staatshaftung

4. Im österreichischen Recht ist das Prinzip der Staatshaftung im Bundes-Verfassungsgesetz verankert und im Bundesgesetz vom 18. Dezember 1948 definiert. § 2 dieses Gesetzes enthält folgende Bestimmungen:

(1) Bei Geltendmachung des Ersatzanspruches muss ein bestimmtes Organ nicht genannt werden; es genügt der Beweis, dass der Schaden nur durch die Rechtsverletzung eines Organes des beklagten Rechtsträgers entstanden sein konnte.

(2) Der Ersatzanspruch besteht nicht, wenn der Geschädigte den Schaden durch Rechtsmittel oder durch Beschwerde an den [österreichischen] Verwaltungsgerichtshof hätte abwenden können.

(3) Aus einem Erkenntnis des [österreichischen] Verfassungsgerichtshofes, des [österreichischen] Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes kann ein Ersatzanspruch nicht abgeleitet werden."

5. Aus diesen Bestimmungen folgt, dass die Haftung des österreichischen Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch höchstgerichtliche Erkenntnisse entstehen, ausdrücklich ausgeschlossen ist.

6. Im Übrigen fallen Streitigkeiten im Bereich der Staatshaftung erstinstanzlich in die Zuständigkeit der Zivil- und Handelsgerichte (Landesgericht, Handelsgericht Wien).

B - Zur besonderen Alterszulage der Universitätsprofessoren

7. § 50a des Gehaltsgesetzes von 1956 in der Fassung von 2001 sieht vor, dass ein Universitätsprofessor eine besondere Dienstalterszulage beanspruchen kann, die bei der Berechnung seines Ruhegehalts berücksichtigt wird. Die Gewährung dieser Zulage hängt u. a. von einer fünfzehnjährigen Dienstzeit als Professor an österreichischen Universitäten ab.

II - Sachverhalt und Ausgangsverfahren

8. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) steht seit dem 1. März 1986 als ordentlicher Universitätsprofessor in Innsbruck (Österreich) in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum österreichischen Staat. Mit Schreiben vom 28. Februar 1996 an die zuständige Verwaltungsbehörde beantragte er die Zuerkennung der besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren. Er stützte seinen Antrag darauf, dass er eine fünfzehnjährige Dienstzeit als ordentlicher Professor an Universitäten in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, u. a. in Österreich, aufzuweisen habe. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass er die nach § 50a des Gehaltsgesetzes von 1956 erforderliche Voraussetzung einer fünfzehnjährigen Dienstzeit ausschließlich an österreichischen Universitäten nicht erfuelle.

9. Der Kläger legte dagegen beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde ein. Er machte geltend, die nach dem genannten Gesetz hinsichtlich des Dienstalters erforderlichen Voraussetzungen für den Erhalt der betreffenden Zulage führten zu einer mittelbaren Diskriminierung, die gegen den durch Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und durch die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft gewährleisteten Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoße.

10. In Anbetracht dessen legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof die Frage vor, ob die Artikel 48 EG-Vertrag und 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen sind, dass in einem Besoldungssystem, in dem der Bezug u. a. von der Dienstzeit abhängig ist, inhaltlich gleichwertige Tätigkeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat früher erbracht worden sind, genauso berücksichtigt werden müssen wie solche früher erbrachten Tätigkeiten im Inland.

11. Mit Schreiben vom 11. März 1998 ersuchte der Gerichtshof den Verwaltungsgerichtshof um Mitteilung, ob er im Hinblick auf das inzwischen ergangene Urteil Schöning-Kougebetopoulou vom 15. Januar 1998 noch an seinem Vorabentscheidungsersuchen festhalte. Das vorlegende Gericht forderte die Parteien zur Äußerung auf, wobei es feststellte, dass die den Gegenstand des fraglichen Vorabentscheidungsverfahrens bildende Rechtsfrage auf den ersten Blick in dem genannten Urteil des Gerichtshofes in einem für das Begehren des Klägers günstigen Sinne gelöst worden sei. Am 24. Juni 1998 nahm es schließlich sein Vorabentscheidungsersuchen zurück und lehnte sodann den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, die besondere Alterszulage stelle eine Treueprämie dar, die eine Abweichung von den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sachlich rechtfertige.

12. Am 2. Januar 2001 erhob der Kläger vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien eine Haftungsklage gegen die Republik Österreich. Er macht geltend, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Juni 1998 widerspreche dem unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sei die streitige Zulage einer Treueprämie nicht gleichzusetzen. Folglich müsse ihm der Schaden ersetzt werden, den er durch die fragliche gerichtliche Entscheidung erlitten habe, mit der ihm die Gewährung der besonderen Alterszulage versagt worden sei, auf die er nach dem Gemeinschaftsrecht Anspruch habe. Die Republik Österreich hält dieser Schadensersatzforderung entgegen, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes verstoße nicht gegen das Gemeinschaftsrecht, und Erkenntnisse eines Hoechstgerichts (wie des Verwaltungsgerichtshofes) könnten jedenfalls keine Staatshaftung auslösen. Eine solche Haftung sei nach österreichischem Recht ausdrücklich ausgeschlossen, ohne dass dies gegen gemeinschaftsrechtliche Erfordernisse verstoße.

III - Vorlagefragen

13. Angesichts des Vorbringens der Parteien hat das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, wonach es für die Auslösung der Staatshaftung wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht gleichgültig ist, welches Organ eines Mitgliedstaats diese Verletzung zu vertreten hat (z. B. Urteil vom 5. März 1996 in den Rechtssachen C-46/93 und C-48/93 u. a.), auch auf jenen Fall anzuwenden, wenn es sich bei dem angeblich gemeinschaftsrechtswidrigen Organverhalten um ein Erkenntnis eines Hoechstgerichts eines Mitgliedstaats handelt, wie im vorliegenden Fall um den Verwaltungsgerichtshof?

2. Falls die Frage 1 bejaht wird:

Ist die Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach es Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht (z. B. Urteil vom 17. September 1997 in der Rechtssache C-54/96 u. a.), auch auf jenen Fall anzuwenden, wenn es sich bei dem angeblich gemeinschaftsrechtswidrigen Organverhalten um das Urteil eines Hoechstgerichts eines Mitgliedstaats handelt, wie im vorliegenden Fall um den Verwaltungsgerichtshof?

3. Falls die Frage 2 bejaht wird:

Widerspricht die im oben dargestellten Urteil des Verwaltungsgerichtshofes geäußerte Rechtsmeinung, wonach es sich bei der besonderen Dienstalterszulage um eine Art Treueprämie handle, einer Norm des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem mittelbaren Diskriminierungsverbot des Artikels 48 EG-Vertrag und der dazu ergangenen einschlägigen und gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofes?

4. Falls die Frage 3 bejaht wird:

Handelt es sich bei dieser verletzten Norm des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts um eine solche, die für die im Ausgangsverfahren klagende Partei ein subjektives Recht begründet?

5. Falls die Frage 4 bejaht wird:

Verfügt der Europäische Gerichtshof aufgrund des Inhalts des Vorabentscheidungsersuchens über alle Informationen, um selbst beurteilen zu können, ob der Verwaltungsgerichtshof im geschilderten Sachverhalt des Ausgangsverfahrens den ihm zur Verfügung stehenden Ermessensspielraum offenkundig und erheblich überschritten hat, oder überlässt er die Beantwortung dieser Frage dem vorlegenden österreichischen Gericht?

IV - Gegenstand der Vorlagefragen

14. Das vorlegende Gericht wirft im Wesentlichen vier Gruppen von Fragen auf. Die erste Gruppe betrifft die etwaige Ausdehnung des der Rechtsprechung zu entnehmenden Grundsatzes der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auf den Fall, dass dieser Verstoß einem Hoechstgericht anzulasten ist. Die zweite Gruppe bezieht sich auf die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung einer solchen Haftung. Die dritte Gruppe betrifft die Bestimmung des für die Beurteilung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen zuständigen Gerichts. In der vierten Gruppe geht es darum, ob diese materiellen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfuellt sind.

15. Es ist hervorzuheben, dass alle diese Fragen ausschließlich die Hoechstgerichte und nicht die gewöhnlichen Gerichte betreffen. Infolgedessen werde ich meine Analyse auf den Fall der Hoechstgerichte beschränken und die gewöhnlichen Gerichte ausklammern.

16. Zunächst ist die Grundsatzfrage zu prüfen. In Abhängigkeit von ihrer Beantwortung sind die weiteren Fragen zu prüfen.

V - Zur grundsätzlichen Haftung des Staates für Verstöße eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht

A - Erklärungen der Beteiligten

17. Nach Ansicht des Klägers geht aus dem Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame hervor, dass die Haftung eines Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon eintreten könne, welches Organ dieses Staates den Verstoß begangen habe. Es sei unerheblich, ob dieses Organ zur Legislative, Exekutive oder Judikative gehöre. Zudem könnten von der Haftung des Staates für die Tätigkeit seiner Gerichte die Hoechstgerichte nicht ausgenommen werden, da dies den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben würde, ihr Gerichtssystem so auszugestalten, dass sie sich jeder Haftung entzögen, was zu national unterschiedlichen Rechtslagen beim Rechtsschutz des Einzelnen führen könnte.

18. Sowohl die Republik Österreich als auch die österreichische Regierung sind der Auffassung, das Gemeinschaftsrecht stehe Rechtsvorschriften nicht entgegen, die die Haftung des Staates für Verstöße gegen die Rechtsordnung - einschließlich des Gemeinschaftsrechts - durch seine Hoechstgerichte ausdrücklich ausschlössen. Durch solche Rechtsvorschriften werde die Durchführung des Gemeinschaftsrechts weder unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert, da sich die Parteien vor den Hoechstgerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen könnten. Sie seien durch Erfordernisse der Rechtssicherheit gerechtfertigt, die mit der Notwendigkeit zusammenhingen, Streitfälle endgültig zu bereinigen. Überdies würde die Aufstellung eines Grundsatzes der Haftung des Staates für seine Hoechstgerichte voraussetzen, dass auch die Gemeinschaft für den Gerichtshof hafte, was schwer vorstellbar sei, da der Gerichtshof dann sowohl Richter als auch Partei wäre.

19. Dieser Standpunkt wird von der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs weitgehend geteilt.

20. Die französische Regierung trägt vor, im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame habe der Gerichtshof die Gerichte weder ausdrücklich noch stillschweigend zu den Organen gezählt, für die der Staat bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht haften könne. Der tragende Grundsatz der Rechtskraft stehe der Einführung einer Haftung des Staates für den Inhalt einer höchstrichterlichen Entscheidung entgegen. Dieser Grundsatz müsse Vorrang vor dem Anspruch auf Schadensersatz haben. Zudem biete das in den Mitgliedstaaten geschaffene Rechtsschutzsystem, das durch das in Artikel 234 EG vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren ergänzt werde, dem Einzelnen hinreichenden Schutz vor Auslegungsfehlern des Gemeinschaftsrechts. Hilfsweise hat die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, die Haftung des Staates für Hoechstgerichte müsse einer besonders strengen Sonderregelung unterliegen, die sich grundlegend von der Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung unterscheide und den Besonderheiten der Ausübung der Rechtsprechungsfunktion Rechnung trage.

21. Die Regierung des Vereinigten Königreichs entnimmt dem Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, dass der Gerichtshof die Möglichkeit der Haftung des Staates für Handlungen der Gerichte zu bejahen scheine. Allerdings könne die Haftung des Staates für seine Gerichte nur unter ganz engen Voraussetzungen in Betracht kommen. Diese restriktive Vorgehensweise sei umso mehr geboten in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft bei einem Verstoß des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften gegen die Erfordernisse der Einhaltung einer angemessenen Frist im Rahmen eines fairen Verfahrens. Zudem würde eine solche Haftung des Staates gegen tragende Grundsätze der Rechtssicherheit und insbesondere gegen den Grundsatz der Rechtskraft, gegen das Ansehen und die Unabhängigkeit der Justiz sowie gegen das Wesen des Verhältnisses zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten verstoßen. Schließlich wäre es im Hinblick auf das Erfordernis der Unparteilichkeit zweifelhaft, mit der Prüfung von Verfahren wegen der Haftung des Staates für seine Gerichte die Gerichte eben dieses Staates zu betrauen, es sei denn, diese Gerichte würden den Gerichtshof insoweit um Vorabentscheidung ersuchen, was darauf hinausliefe, entgegen dem Willen der Verfasser des EG-Vertrags einen Rechtsweg zum Gerichtshof zu eröffnen.

22. Die deutsche und die niederländische Regierung wenden sich nicht gegen den Gedanken einer Haftung des Staates für seine Hoechstgerichte. In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung jedoch vorgetragen, dabei handele es sich um eine Frage des innerstaatlichen Rechts und nicht des Gemeinschaftsrechts, und eine solche Haftung des Staates müsse jedenfalls auf wenige Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Auch die deutsche Regierung spricht sich für eine ausnahmsweise Haftungsregelung aus, die sich an der im deutschen Recht bestehenden Regelung orientiere.

23. Nach Ansicht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ergibt sich der Grundsatz der Haftung des Staates für jede Form öffentlicher Gewalt sowohl aus dem Vertrag (Artikel 10 und 249 Absätze 2 und 3 EG) als auch aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach jeder Mitgliedstaat sicherstellen müsse, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt werde, der ihm durch einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstanden sei, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen habe.

B - Analyse

24. Ich werde zum einen prüfen, ob das Gemeinschaftsrecht unter solchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten verpflichtet, den dem Einzelnen entstandenen Schaden zu ersetzen, und ob die von einigen Beteiligten des vorliegenden Verfahrens angeführten Hindernisse der Anerkennung einer solchen Pflicht entgegenstehen.

1. Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten zum Ersatz des Schadens, der dem Einzelnen durch den Verstoß eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist?

25. Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen. Diese Antwort beruht auf drei Gruppen von Argumenten, die erstens die große Tragweite betreffen, die der Gerichtshof dem Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht beigemessen hat, zweitens die entscheidende Rolle der nationalen Gerichte und insbesondere der Hoechstgerichte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts und drittens die in den Mitgliedstaaten bestehende Situation, vor allem im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes.

a) Die Tragweite des der Rechtsprechung zu entnehmenden Grundsatzes der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht

26. Die Tragweite des Grundsatzes der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht ist anhand der beiden oben genannten wegweisenden Urteile des Gerichtshofes zu dieser Frage, zunächst des Urteils Francovich u. a. und dann des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame, zu analysieren.

i) Das Urteil Francovich u. a.

27. Der Grundsatz der Staatshaftung wurde vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. in einem besonderen Fall aufgestellt, der durch die fehlende Umsetzung einer Richtlinie ohne unmittelbare Wirkung gekennzeichnet war, so dass der Einzelne daran gehindert war, sich vor den nationalen Gerichten auf die ihm durch diese Richtlinie verliehenen Rechte zu berufen. Trotz der Außergewöhnlichkeit des in Rede stehenden, besonders pathologischen" Sachverhalts, äußerte sich der Gerichtshof in ganz allgemeinen Worten: Es ist ... ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind." Nähere Angaben zu dem staatlichen Organ, das den Schaden verursacht hat, machte er nicht.

28. Diese Schlussfolgerung beruht auf einer Analyse von ebenfalls ganz allgemeiner Tragweite. Der Gerichtshof führt aus: Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, folgt ... aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung." Dieser Grundsatz hängt in gewisser Weise untrennbar mit dem System des Vertrages zusammen, er ist notwendigerweise mit ihm verbunden. Diese unauflösliche und unüberwindbare Verbindung zwischen dem Grundsatz der Haftung des Staates und dem System des Vertrages beruht auf dem speziellen Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung.

29. Der Gerichtshof weist nämlich auf Folgendes hin: Der EWG-Vertrag hat eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von den nationalen Gerichten anzuwenden ist. Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch der Einzelne, dem das Gemeinschaftsrecht, ebenso wie es ihm Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen kann. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der EWG-Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt ..."

30. Weiter führt er aus: Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden haben, die volle Wirkung dieser Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht ..."

31. Der Gerichtshof zieht aus diesen beiden Prämissen folgenden Schluss: Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist."

32. Ergänzend führt der Gerichtshof aus, nach Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben.

33. Mehrere Lehren können aus diesen Ausführungen gezogen werden.

34. Zunächst hat sich der Gerichtshof, wie Generalanwalt Tesauro in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Brasserie du pêcheur und Factortame hervorgehoben hat, im Urteil Francovich nicht darauf beschränkt, es dem nationalen Recht zu überlassen, alle sich aus dem Verstoß gegen die Gemeinschaftsvorschrift ergebenden rechtlichen Konsequenzen zu ziehen, sondern entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht selbst dem Staat eine Entschädigungspflicht gegenüber dem Einzelnen auferlege".

35. Ferner stellt diese Entschädigungspflicht einen tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, ebenso wie die Grundsätze des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts oder der unmittelbaren Wirkung. Wie diese beiden Grundsätze trägt die Pflicht des Staates, die Schäden zu ersetzen, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, dazu bei, die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts mittels eines wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte zu gewährleisten, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen. Mehr noch, der Grundsatz der Staatshaftung stellt die notwendige Weiterführung des allgemeinen Grundsatzes eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes oder des Rechts auf Gerichtszugang" dar, dessen Bedeutung der Gerichtshof immer wieder hervorgehoben hat und dessen Tragweite in seiner Rechtsprechung immer weiter ausgedehnt wurde.

36. Meines Erachtens sind die vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. angestellten Erwägungen in vollem Umfang auf den Fall eines Verstoßes eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht übertragbar. Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Hoechstgericht anzulasten ist.

37. Es genügt nämlich nicht, dass ein Einzelner das Recht hat, sich vor einem Hoechstgericht auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, um wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte zu erlangen, die ihm nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen, und dass dieses Gericht das Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß anzuwenden hat. Für den Fall, dass ein Hoechstgericht eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Entscheidung trifft, muss der Einzelne darüber hinaus zumindest unter bestimmten Voraussetzungen in der Lage sein, Schadensersatz zu erlangen.

38. Mangels einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine Entscheidung eines Hoechstgerichts kann aber nur eine Haftungsklage - als ultima ratio - die Wiederherstellung des beeinträchtigten Rechts gewährleisten und letztlich in angemessenem Umfang für den wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte sorgen, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen.

39. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass trotz der erheblichen Vorteile, die die Staatshaftung für den Einzelnen haben kann, die Wiederherstellung des vermögenswerten Inhalts [nur] ein Minus [ist], eine Mindestabhilfe, verglichen mit dem Fall der vollständigen materiellen Wiederherstellung, die das beste Schutzmittel bleibt". Nichts kommt dem materiellen, direkten und unmittelbaren Schutz der Rechte gleich, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen.

40. Folglich ist der Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht meines Erachtens auf den Fall zu erstrecken, dass dieser Verstoß von einem Hoechstgericht begangen wird. Dieses Ergebnis ist in Anbetracht des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame umso mehr geboten.

ii) Das Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame

41. Im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame hat der Gerichtshof aus seinem Urteil Francovich u. a. geschlossen, dass der Grundsatz der Haftung des Staates - da er aus dem Wesen der mit dem Vertrag geschaffenen Rechtsordnung folge - für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon gelte, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen habe.

42. Bei diesen Ausführungen stützt sich der Gerichtshof nicht mehr nur auf das Wesen der mit dem Vertrag geschaffenen Rechtsordnung. Er stützt sich auch auf das Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts sowie auf die zweckmäßige Angleichung an die Staatshaftung im Völkerrecht.

43. Zur einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts hat der Gerichtshof entschieden, dass in Anbetracht des Grunderfordernisses der Gemeinschaftsrechtsordnung, das die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts darstellt ..., die Verpflichtung zum Ersatz der dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhängen [kann]". Meines Erachtens gilt dieses Grunderfordernis der Gemeinschaftsrechtsordnung für die Gerichte in gleichem Maß wie für die Parlamente. Die Garantie der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts - an der die Staatshaftung großen Anteil hat - kann nicht vom Willen der Mitgliedstaaten und von ihren innerstaatlichen Vorschriften über die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Verfassungsorganen oder über den Status und die Tätigkeitsvoraussetzungen der Staatsorgane abhängen.

44. Zur Staatshaftung im Völkerrecht hat der Gerichtshof entschieden, dass im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, ebenfalls als Einheit betrachtet [wird], ohne dass danach unterschieden wird, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist". Er hat hinzugefügt, dies gelte umso mehr in der Gemeinschaftsrechtsordnung, als dort der Rechtslage des Einzelnen besonderes Interesse geschenkt werde.

45. Damit wollte der Gerichtshof, wie die französische Regierung ausgeführt hat, dem Grundsatz der Einheit des Staates Rechnung tragen. Nunmehr sind daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Haftung des Staates für ein Hoechstgericht zu ziehen. Es ist nämlich im Völkerrecht allgemein anerkannt, dass dieser gewohnheitsrechtliche Grundsatz eine doppelte Bedeutung hat.

46. Erstens bedeutet dieser Grundsatz, dass eine rechtswidrige Handlung zwingend dem Staat zugerechnet wird und nicht dem Staatsorgan, das sie vorgenommen hat. Völkerrechtssubjekt ist nämlich nur der Staat, nicht aber dessen Organe. Insoweit kann nur die Haftung des Staates ausgelöst werden. Dieser Grundsatz ist dem Gemeinschaftsrecht nicht fremd, und im Übrigen auch nicht dem innerstaatlichen Recht. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Hedley Lomas ausgeführt habe, kennt das Gemeinschaftsrecht nur einen Haftenden (den Staat), ebenso wie die Vertragsverletzungsklage nur einen Beklagten kennt (den Staat)". Folglich hat [n]icht ein bestimmtes Staatsorgan ... zu entschädigen, sondern der Mitgliedstaat als solcher".

47. Zweitens bedeutet der Grundsatz der Einheit des Staates, dass dieser für die Schäden verantwortlich ist, die er durch jede gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßende Handlung oder Unterlassung verursacht, gleichgültig, auf welche staatliche Stelle sie zurückgeht. Dieser Grundsatz kommt in Artikel 4 Absatz 1 des von der Völkerrechtskommission ausgearbeiteten und am 28. Januar 2002 durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen gebilligten Entwurfs von Artikeln über die Verantwortlichkeit der Staaten klar zum Ausdruck. Er lautet: Das Verhalten eines jeden Staatsorgans ist als Handlung des Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten, gleichviel ob das Organ Aufgaben der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt, der Rechtsprechung oder andere Aufgaben wahrnimmt, welche Stellung es innerhalb des Staatsaufbaus einnimmt und ob es sich um ein Organ der Zentralregierung oder einer Gebietseinheit des Staates handelt."

48. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates schon relativ früh in einem Fall anerkannt wurde, in dem der Inhalt einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen des betreffenden Staates verstieß. Ein solcher Fall wird im Völkerrecht als Rechtsverweigerung angesehen, d. h. als Verstoß gegen die gewohnheitsrechtliche - und mehr und mehr vertragliche - Pflicht des Staates, ausländischen Staatsangehörigen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewähren.

49. Das durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) geschaffene System wirft ein interessantes Licht auf die Frage der Haftung des Staates für ein Hoechstgericht. Der Einzelne kann sich nämlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unmittelbar auf die Haftung des Staates für ein Hoechstgericht wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an ein faires Verfahren - in procedendo -, aber auch wegen eines Verstoßes gegen eine materielle Vorschrift - in iudicando - berufen, der sich auf den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung auswirken kann. Dank eines solchen Verfahrens können die Bürger Schadensersatz in Form einer gerechten Entschädigung" erhalten. Interessant ist dabei, wie einige Regierungen ausgeführt haben, dass das Erfordernis der Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe bedeutet, dass die streitige gerichtliche Entscheidung von einem Hoechstgericht stammt. Unklar ist dagegen, ob Artikel 13 EMRK die Vertragsstaaten verpflichtet, dem Einzelnen eine innerstaatliche Rechtsschutzmöglichkeit - einschließlich einer Schadensersatzklage - gegen eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung zu stellen.

50. Diese Erwägungen zur Einheit des Staates sind im Gemeinschaftsrecht bekannt. Mit ihnen steht der in Randnummer 34 des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame aufgestellte Grundsatz in Einklang, wonach in der Gemeinschaftsrechtsordnung ... alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfuellung ihrer Aufgaben die vom Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Normen ... zu beachten haben". In Anwendung dieses Grundsatzes hat der Gerichtshof in Randnummer 35 des genannten Urteils ausgeführt: Der Umstand, dass der zur Last gelegte Verstoß nach den internen Vorschriften dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnen ist, ist ... nicht geeignet, die mit dem Schutz der Rechte des Einzelnen, der sich auf das Gemeinschaftsrecht beruft, verbundenen Erfordernisse und vorliegend das Recht, vor den nationalen Gerichten Ersatz des durch diesen Verstoß entstandenen Schadens zu erlangen, in Frage zu stellen."

51. Aus alledem folgt, dass sich der Gerichtshof im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame nicht darauf beschränkt hat, den Grundsatz der Haftung des Staates für den Gesetzgeber in der Gemeinschaftsrechtsordnung ausdrücklich anzuerkennen. Vielmehr hat er diesen Grundsatz auch - implizit, aber notwendigerweise - auf die Tätigkeit der Gerichte, jedenfalls der Hoechstgerichte, erstreckt. Das vorliegende Verfahren gibt dem Gerichtshof somit Gelegenheit, ausdrücklich klarzustellen, was er bereits implizit zu verstehen gegeben hat.

52. Selbst wenn dieser Auslegung des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame nicht gefolgt würde, ist für mich jedenfalls nicht ersichtlich, wie der Gerichtshof anders als zugunsten der Haftung des Staates für ein Hoechstgericht entscheiden könnte. Abgesehen davon, dass sie sich harmonisch in die Linie der soeben ausführlich dargestellten bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes einfügen würde, erscheint die Bejahung einer solchen Haftung als logische Folge der - vorrangigen - Aufgabe der Hoechstgerichte beim direkten, unmittelbaren und wirksamen Schutz der Rechte, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen. Die in den Mitgliedstaaten insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes vorherrschende Situation spricht ebenfalls dafür.

b) Die entscheidende Rolle der nationalen Gerichte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts

53. Die auf das Recht gegründeten Europäischen Gemeinschaften haben sich im Wesentlichen mittels des Rechts fortentwickelt und konsolidiert. Die mit der Anwendung des Rechts einschließlich des Gemeinschaftsrechts betrauten nationalen Gerichte stellen einen unabdingbaren Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung dar. An der Schnittstelle" mehrerer Rechtssysteme leisten sie einen wichtigen Beitrag zur wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts und letztlich zur Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses. Es ist daher verständlich, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung immer wieder die entscheidende Rolle der nationalen Gerichte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts hervorgehoben hat. Man kann darin im Übrigen die schrittweise Entstehung einer echten gerichtlichen Ethik der Gemeinschaften" sehen. Wie A. Barav hervorgehoben hat, stellen sowohl der Vorrang des Gemeinschaftsrechts als auch dessen unmittelbare Wirkung vor allem Aufforderungen an die nationalen Gerichte dar. Nach diesen beiden Grundsätzen hat das nationale Gericht nämlich sowohl eine Schiedsrichterrolle im Rahmen eines Konflikts - innerstaatlicher und gemeinschaftlicher - Rechtsnormen als auch die Rolle des natürlichen" Bewahrers der Rechte zu spielen, die dem Einzelnen nach dem Gemeinschaftsrecht zustehen.

54. Die Aufgabe der nationalen Gerichte beruht auf einer doppelten Verpflichtung: ihr innerstaatliches Recht so weit wie möglich im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht auszulegen und, wenn dies nicht möglich ist, die Anwendung von innerstaatlichem Recht, das gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, abzulehnen.

55. Die Pflicht zu einer dem Gemeinschaftsrecht entsprechenden Auslegung wurde vom Gerichtshof sowohl hinsichtlich des primären Gemeinschaftsrechts (der Bestimmungen des Vertrages) als auch hinsichtlich des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts (insbesondere der Richtlinien) aufgestellt. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Aufgabe gemäß Artikel 5 EG-Vertrag, alle zur Erfuellung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, den Gerichten obliegen. Er hat daraus geschlossen, dass sich ein nationales Gericht, wenn es nationales Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, dabei so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 Absatz 3 EG) nachzukommen". Der Gerichtshof hat hinzugefügt: Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat ... der Ansicht war, dass die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügten", so dass er deren Umsetzung in innerstaatliches Recht nicht für angebracht hielt.

56. Die einzige Beschränkung für ein nationales Gericht im Rahmen dieser gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung besteht in dem Verbot, einem Einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegenzuhalten oder auf der Grundlage der Richtlinie und ohne ein zu ihrer Umsetzung erlassenes Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen zu verschärfen, die gegen die Richtlinienbestimmungen verstoßen.

57. Die Pflicht, die Anwendung von innerstaatlichem Recht, das gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, abzulehnen, wurde vom Gerichtshof im Urteil Simmenthal mit Nachdruck bestätigt. Gestützt auf die Grundsätze der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts hat der Gerichtshof festgestellt, dass das staatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit [als Organ eines Mitgliedstaats] die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste".

58. Aus dem Urteil Simmenthal ergibt sich, dass das nationale Gericht eine mit einer Erfolgspflicht vergleichbare Hauptpflicht trifft. Es muss für den unmittelbaren Schutz der Rechte sorgen, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen. Dieses Erfordernis der Unmittelbarkeit des Schutzes der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte entspricht einem doppelten Wirksamkeitsziel: Wirksamkeit des Schutzes und infolgedessen Wirksamkeit der Rechtsnorm selbst.

59. Insoweit ist hervorzuheben, dass das nationale Gericht zwar, wie jedes Organ eines Mitgliedstaats, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden hat, dass seine Aufgabe aber umso entscheidender ist, als es ,im letzten Stadium der Durchführung der Vorschrift deren Beachtung zu gewährleisten hat". Seine Position ist umso strategischer", als es das Zusammenspiel seines innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen und daraus die gebotenen Konsequenzen zu ziehen hat. Somit ist es nicht mehr unbedingt, wie Montesquieu es einst ausgedrückt hat, das Sprachrohr des Gesetzes. Es hat vielmehr sein innerstaatliches Recht kritisch zu würdigen, um sich vor dessen Anwendung zu vergewissern, dass es mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Hält es eine mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbare Auslegung seines innerstaatlichen Rechts nicht für möglich, so hat es dessen Anwendung auszuschließen und sogar anstelle seines innerstaatlichen Rechts im Wege einer Normensubstitution die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden, es sei denn - wiederum -, daraus ergibt sich eine Verschlechterung der Rechtsstellung des Einzelnen.

60. Diese Rechtsprechung hat in großem Maß dazu beigetragen, das Amt des Richters aufzuwerten und seine Autorität innerhalb des Staates zu stärken, in einigen nationalen Rechtssystemen um den Preis von Fortentwicklungen verfassungsrechtlicher Art. Gleichzeitig bedeutet sie für ihn, dass er sich an ein erweitertes und wegen der Schwierigkeiten, die das Zusammenspiel des innerstaatlichen Rechts und des Gemeinschaftsrechts aufwerfen kann, komplizierteres rechtliches Umfeld anpassen muss. Zu betonen ist jedoch, dass das nationale Gericht nicht völlig sich selbst überlassen ist, sondern bei dieser Aufgabe dank des Instruments der gerichtlichen Zusammenarbeit, um das es sich beim Vorabentscheidungsverfahren handelt, die Hilfe des Gerichtshofes in Anspruch nehmen kann.

61. In Fortführung des Urteils Simmenthal hat der Gerichtshof im Urteil Factortame u. a. entschieden, dass ein nationales Gericht innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden darf, die es daran hindern würden, erforderlichenfalls einstweilige Anordnungen zum Schutz der Rechte zu erlassen, die ein Einzelner unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht geltend macht. Es ging im konkreten Fall um den Erlass einstweiliger Anordnungen bis zu einer Entscheidung des nationalen Gerichts über den Bestand der unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht geltend gemachten Rechte, was wiederum von der Antwort des Gerichtshofes auf eine von diesem Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage nach der Auslegung der fraglichen Gemeinschaftsvorschriften abhing. Dieses Urteil zeugt von dem Bestreben des Gerichtshofes, zu verhindern, dass ein Einzelner aufgrund der Anwendung innerstaatlicher Rechtsnormen, an deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht vernünftige Zweifel bestehen, durch ein nationales Gericht einen - mutmaßlich nicht wieder gutzumachenden - Schaden erleidet. Das Erfordernis des unmittelbaren Schutzes der Rechte, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen, ist alles andere als unbedeutend, da der Gerichtshof das nationale Gericht mit einer besonders wirksamen und operationellen Aufgabe betraut, die es in die Nähe eines Richters der einstweiligen Anordnung rückt.

62. Die Einbeziehung des nationalen Gerichts in den Schutz der aus der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeleiteten Rechte wird besonders deutlich im Rahmen von Streitigkeiten über die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge. Schon 1983 hat der Gerichtshof entschieden, dass das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften eingeräumt worden sind, nach denen Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle oder - gegebenenfalls - die diskriminierende Erhebung von inländischen Abgaben verboten sind". Dieses Erstattungsrecht bedeutet, dass auf innerstaatlicher Ebene ein geeigneter Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt werden muss, der es dem Einzelnen ermöglicht, die zu Unrecht von ihm tatsächlich gezahlten Beträge in vollem Umfang zurückzuerlangen. Es bedeutet zugleich, dass das nationale Gericht verpflichtet ist, der Verwaltung die Erstattung der streitigen Beträge an die Betroffenen aufzugeben.

63. Diese Rechtsprechung stellt einen bedeutenden Fortschritt bei der Definition des Amtes des nationalen Gerichts dar. Dieses muss sich nicht nur von den - gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßenden - Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts lösen, um dem Erstattungsverlangen stattzugeben (in Fortführung des Urteils Simmenthal), sondern ist zudem verpflichtet, der Verwaltung die Vornahme der Erstattung aufzugeben.

64. Ein entscheidender weiterer Schritt wurde mit den Urteilen Francovich u. a. und Brasserie du pêcheur und Factortame getan. Wie bereits ausgeführt, hat der Gerichtshof den Grundsatz aufgestellt, dass der Staat für Schäden haftet, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die dem Staat zuzurechnen sind. Daraus folgt, dass ein Einzelner berechtigt ist, Schadensersatz zu erlangen, indem er - vor einem nationalen Gericht - den Staat haftbar macht. Diese Haftungsregelung ist eine sinnvolle Ergänzung der Regelung über die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge für den Fall, dass der von einem Staatsorgan verursachte Schaden nicht aus der Umsetzung der Anordnung zur Zahlung eines Geldbetrags besteht und deshalb nicht durch die Rückerstattung eines solchen Betrages ersetzt werden kann. Sie ermöglicht es auch, die Beschränkungen der Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung und der rechtlichen Tragweite von Richtlinien zu überwinden.

65. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die nationalen Gerichte in bestimmten Fällen verpflichtet sind, von Amts wegen rechtliche Gesichtspunkte zu prüfen, die sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung ergeben, auch wenn keine Partei sich darauf berufen hat.

66. Aus dieser gesamten Rechtsprechung kann man ohne weiteres schließen, dass der Gerichtshof den nationalen Gerichten eine wichtige Rolle bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts und beim Schutz der daraus resultierenden Rechte des Einzelnen beimisst. Die nationalen Gerichte werden im Übrigen oft als ordentliche Gemeinschaftsgerichte" (juge communautaire de droit commun") bezeichnet. Diese Bezeichnung ist nicht wörtlich, sondern eher symbolisch zu verstehen. Wenn ein nationales Gericht über das Gemeinschaftsrecht befindet, tut es dies nämlich als Organ eines Mitgliedstaats und nicht als Gemeinschaftsorgan im Anschluss an eine funktionelle Zweiteilung.

67. Diese wichtige Rolle der nationalen Gerichte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts hat sich schließlich in der Anerkennung eines Rechts auf Gerichtszugang" und in dessen Festschreibung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts niedergeschlagen. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der gerichtliche Rechtsschutz ... Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes [ist], der den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegt [und der] auch in den Artikeln 6 und 13 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ... verankert [ist]".

68. Dieses Recht auf Gerichtszugang" ist die logische Folge des Rechtsstaats. Hierzu hat Generalanwalt Darmon in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Johnston ausgeführt: Wenn der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit auch der Eckstein des Rechtsstaats ist, so schließt er doch die Berücksichtigung von Erfordernissen der öffentlichen Ordnung nicht aus. Diese sind vielmehr in den Grundsatz zu integrieren, um den Bestand des Staates bei gleichzeitiger Verhinderung von Willkür zu sichern. Hierfür bildet die richterliche Kontrolle eine grundlegende Garantie: Das Recht, sich an die Gerichte zu wenden, ist dem Rechtsstaat inhärent." Er hat folgenden Schluss gezogen: Die Europäische Gemeinschaft besteht aus Rechtsstaaten und ist damit notwendigerweise eine Rechtsgemeinschaft. Ihre Gründung und ihr Funktionieren, mit anderen Worten der Gemeinschaftspakt, beruhen auf der übereinstimmenden Respektierung der Rechtsordnung der Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten." Man kann daraus ableiten, dass das Recht auf Gerichtszugang" zugleich eine Errungenschaft und ein Instrument des Rechtsstaats" ist.

69. Diese Erwägungen finden nunmehr eine bedeutsame Bestätigung in Artikel 6 Absatz 1 des aus dem Vertrag von Maastricht hervorgegangenen Vertrages über die Europäische Union, der lautet: Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam."

70. Meines Erachtens bedeutet die übereinstimmende Respektierung der Rechtsordnung der Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten entsprechend den Erfordernissen einer aus Rechtsstaaten bestehenden Rechtsgemeinschaft, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon haften, ob sie von der Legislative, der Exekutive oder der Judikative begangen wurden. Es ist nämlich nicht ersichtlich, weshalb ein Mitgliedstaat a priori jeder Haftung für seine Hoechstgerichte entbunden sein sollte, obwohl gerade diese die Aufgabe haben, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und ihm Geltung zu verschaffen. Dies wäre offensichtlich ein unüberbrückbarer Widerspruch. Daraus folgt, dass die Besonderheit der richterlichen Funktion gegenüber der Funktion der Verwaltung oder der Gesetzgebung zwar die Schaffung einer besonderen Haftungsregelung, keinesfalls aber a priori einen Ausschluss des Grundsatzes der Haftung des Staates für seine Hoechstgerichte rechtfertigen kann.

71. Dieses Ergebnis ist der bedeutenden Rolle der Hoechstgerichte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts angemessen.

72. Letztere sind entsprechend ihrer traditionellen Aufgabe, die Rechtsauslegung zu vereinheitlichen, damit betraut, über die korrekte und effektive Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die übrigen nationalen Gerichte zu wachen. Dabei müssen sie der Vereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht besondere Aufmerksamkeit widmen und daraus die gebotenen Konsequenzen ziehen.

73. Im Übrigen zeigt die Erfahrung, dass die Hoechstgerichte regelmäßig mit Fällen konfrontiert werden, die eine solche Prüfung rechtfertigen, und dabei eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der innerstaatlichen Bestimmungen vorzunehmen oder sie wegen ihrer Unvereinbarkeit oder Unverträglichkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zu verwerfen haben. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu der betreffenden Rechtsfrage liefert ihnen insoweit sicher nützliche Denkanstöße. Zudem beweisen einige Hoechstgerichte große Wachsamkeit hinsichtlich der Verpflichtung, die Frage der Anwendung des Gemeinschaftsrechts von Amts wegen aufzugreifen.

74. Zudem ist daran zu erinnern, dass die Verfasser des Vertrages die Hoechstgerichte mit einer entscheidenden Rolle bei der Handhabung des Instruments der gerichtlichen Zusammenarbeit ausgestattet haben, um das es sich beim Vorabentscheidungsverfahren handelt. Denn während nach Artikel 234 EG die übrigen nationalen Gerichte nur befugt sind, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, sind die Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, dazu verpflichtet.

75. Die Bedeutung der in Artikel 234 EG aufgestellten Vorlagepflicht wurde vom Gerichtshof im Urteil Cilfit u. a. vom 6. Oktober 1982 nachdrücklich betont. Die Schaffung einer solchen Pflicht soll verhindern, dass es innerhalb der Gemeinschaft zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen über Fragen des Gemeinschaftsrechts kommt. Es ist Sache der Hoechstgerichte, Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu verhindern, dass zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen den gewöhnlichen Gerichten des Staates, in dem sie tätig sind, Unterschiede in der Rechtsprechung fortbestehen oder auftreten.

76. All dies zeigt, wie entscheidend die Rolle der nationalen Gerichte - und in erster Linie der Hoechstgerichte - bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts und beim Schutz der Rechte ist, die es dem Einzelnen verleiht. Das zwangsläufige Gegenstück dieser entscheidenden Rolle ist die Bejahung der grundsätzlichen Haftung des Staates für die Hoechstgerichte. Um sich davon noch mehr zu überzeugen - falls dies erforderlich sein sollte -, genügt es, sich mit dem Stand des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten zu dieser Frage vertraut zu machen.

c) Der Stand des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten im Bereich der staatlichen Haftung für die Gerichte

77. Meines Wissens bejahen alle Mitgliedstaaten im Grundsatz die Haftung des Staates für die Tätigkeit der Gerichte. Alle - ausgenommen bislang Irland - bejahen diesen Grundsatz in Bezug auf gerichtliche Entscheidungen im eigentlichen Sinne, die gegen die in ihrem Hoheitsgebiet geltenden Rechtsvorschriften und insbesondere gegen Grundrechte verstoßen.

78. Die Tragweite dieses Grundsatzes hängt jedoch vom Wesen der verletzten Rechtsvorschrift und/oder vom Urheber der gerichtlichen Entscheidung ab.

79. Was das Wesen der Rechtsvorschrift anbelangt, so beschränken nur das Vereinigte Königreich und das Königreich der Niederlande die Haftung des Staates auf den Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften in Artikel 5 (bei Freiheitsentzug) oder gar Artikel 6 EMRK (in Bezug auf die Garantien für ein faires Verfahren in procedendo, d. h. während der Entstehung der gerichtlichen Entscheidung, und nicht auf die Garantien in iudicando, d. h. hinsichtlich des Inhalts der Entscheidung selbst).

80. Alle anderen Mitgliedstaaten - mit Ausnahme der Hellenischen, der Portugiesischen und der Französischen Republik, wo die Situation in der Entwicklung befindlich und differenzierter ist - bejahen den Grundsatz der Haftung des Staates unabhängig vom Wesen der verletzten Rechtsvorschrift.

81. Was den Urheber der gerichtlichen Entscheidung anbelangt, so beschränken nur die Republik Österreich und das Königreich Schweden die Haftung des Staates auf Entscheidungen der gewöhnlichen Gerichte unter Ausschluss der Hoechstgerichte. Die schwedischen Rechtsvorschriften über den Ausschluss der Haftung des Staates für Hoechstgerichte wurden offenbar dadurch beeinflusst, dass es kein geeignetes nationales Gericht für die Prüfung einer etwaigen Haftungsklage dieser Art gibt. Der Haftungsausschluss greift jedoch nicht ein, wenn eine Entscheidung vom Hoechstgericht selbst aufgehoben oder geändert wurde.

82. Aus diesen rechtsvergleichenden Angaben folgt, dass trotz der bislang bestehenden Unterschiede der Grundsatz der Haftung des Staates - für eine gegen eine Rechtsvorschrift verstoßende Entscheidung eines Hoechstgerichts - in den Mitgliedstaaten allgemein anerkannt ist oder dass sich zumindest eine starke dahin gehende Tendenz abzeichnet.

83. Diese Anerkennung hat nicht nur normativen (verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen) Ursprung, sondern geht auch von den Gerichten aus. Interessanterweise ist das Königreich Belgien der einzige Mitgliedstaat, der durch die Gerichte den allgemeinen Grundsatz der Haftung des Staates für seine gerichtliche Tätigkeit anerkannt hat. Dieser Grundsatz wurde im Urteil De Keyser der belgischen Cour de cassation vom 19. Dezember 1991 im Rahmen eines Rechtsstreits aufgestellt, in dem eine Privatperson im Anschluss an eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung gegen den belgischen Staat klagte, weil mit dieser Entscheidung eine Gesellschaft unter Verstoß gegen die Grundsätze der Publizität und des kontradiktorischen Verfahrens von Amts wegen für insolvent erklärt worden sei. Dieses Hoechstgericht entschied, dass die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Gerichte und der ihnen angehörenden Richter und Staatsanwälte sowie die Rechtskraft nicht bedeuten, dass der Staat generell von der Verpflichtung aus den genannten Rechtsvorschriften (Artikel 1382 und 1383 des Code civil) befreit wäre, den Schaden zu ersetzen, den er oder seine Organe bei der Erbringung der öffentlichen Dienstleistung der Justizgewährung, insbesondere bei der Vornahme von Handlungen, die den unmittelbaren Gegenstand der richterlichen Funktion bilden, einer Person schuldhaft zugefügt haben".

84. Interessant ist schließlich, dass in Italien dieser Haftungsgrundsatz - normativen Ursprungs - kürzlich in einer Entscheidung des Tribunale Rom vom 28. Juni 2001 auf einen Fall angewandt wurde, in dem die Corte suprema di cassazione gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen haben soll.

85. Aus dieser rechtsvergleichenden Analyse folgt, dass der Grundsatz der Haftung des Staates für Hoechstgerichte als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes setzt nämlich die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht voraus, dass die entsprechende Regel in allen nationalen Rechtsordnungen besteht. Auch dass die Tragweite und die Anwendungsvoraussetzungen der Regel von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sind, ist ohne Belang. Der Gerichtshof beschränkt sich auf die Feststellung, dass der Grundsatz im Allgemeinen anerkannt ist und dass es ungeachtet von Unterschieden in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten insoweit gemeinsame Kriterien gibt.

86. Aus all diesen Ausführungen zur Tragweite des Grundsatzes der Haftung des Staates, zur Rolle der nationalen Gerichte und zum Stand des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten folgt, dass das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten im Fall des Verstoßes eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht zum Schadensersatz verpflichtet. Die von einigen Beteiligten am vorliegenden Verfahren angeführten angeblichen Hindernisse können diesem Ergebnis nicht entgegengehalten werden.

2. Die von einigen Beteiligten am vorliegenden Verfahren angeführten Hindernisse sind nicht geeignet, die Haftung des Staates für den Verstoß eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht auszuschließen

87. Die Republik Österreich, die österreichische Regierung, die französische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben mehrere Hindernisse angeführt. Diese Hindernisse werden aus der Unabhängigkeit der Justiz, der Angleichung der Haftungsregelung der Mitgliedstaaten an die der Gemeinschaft, der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen und der Unparteilichkeit des über eine solche Haftungsklage entscheidenden nationalen Gerichts abgeleitet. Ich werde auf diese verschiedenen Argumente in der genannten Reihenfolge eingehen.

a) Zur Unabhängigkeit der Justiz

88. Das auf die Unabhängigkeit der Justiz gestützte Argument ist im Gemeinschaftsrecht ebenso unerheblich wie im Völkerrecht. Bekanntlich kann sich ein Staat nach dem Völkerrecht nicht auf Besonderheiten seiner verfassungsmäßigen Struktur stützen, um sich seiner Haftung zu entziehen. Dies ist nur eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes, wonach sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen [kann], um die Nichterfuellung eines Vertrags zu rechtfertigen". Daraus folgt, dass das Verhalten eines Staatsorgans - selbst wenn es von der Exekutive unabhängig ist - als Handlung dieses Staates anzusehen ist.

89. Das Gleiche gilt im Gemeinschaftsrecht. Wie der Gerichtshof stets wiederholt, können sich die Mitgliedstaaten nicht auf Bestimmungen, Übungen und Umstände des innerstaatlichen Rechts berufen ..., um damit die Nichtbeachtung von Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die in den Richtlinien der Gemeinschaft festgelegt sind". Er schließt daraus in ständiger Rechtsprechung, dass die Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaats nach Artikel 169 ... unabhängig davon [besteht], welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt".

90. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob sich die Frage der Unabhängigkeit der Justiz nicht eher im Rahmen der Einführung einer Regelung über die persönliche Haftung der Richter und Staatsanwälte stellen müsste als im Rahmen einer Regelung der Staatshaftung.

91. Zudem ist festzustellen, dass solche Erwägungen - so legitim sie auch sind -, in einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten der Einführung einer solchen Staatshaftungsregelung nicht im Weg gestanden haben.

b) Zur Parallele zwischen den Regelungen über die Staatshaftung der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft

92. Es trifft zu, dass die Ermittlung der materiellen Voraussetzungen für die Regelung der Haftung der Mitgliedstaaten nicht ohne Bedeutung für die Voraussetzungen ist, unter denen die Haftung der Gemeinschaft eintritt. Insoweit hat sich die Rechtsprechung des Gerichtshofes einander angenähert, wie insbesondere im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame hinsichtlich der Haftung der Mitgliedstaaten und dann im Urteil Bergaderm und Goupil/Kommission vom 4. Juli 2000 hinsichtlich der Haftung der Gemeinschaft deutlich wird.

93. Im Übrigen wurde die Arbeitsweise der Gemeinschaftsgerichte bereits mit der Begründung in Frage gestellt, dass das Gericht gegen den Grundsatz der Angemessenheit der Verfahrensdauer verstoßen habe. Dieses Vorbringen hat der Gerichtshof in seiner Eigenschaft als höchstes Gericht der Gemeinschaftsrechtsordnung geprüft.

94. Daraus kann man jedoch nicht schließen, dass die Haftungsregelung der Mitgliedstaaten und die der Gemeinschaft völlig miteinander übereinstimmen. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts kann die Haftung der Gemeinschaft nicht durch eine Entscheidung des Gerichtshofes ausgelöst werden, da er das höchste Gericht der Gemeinschaftsrechtsordnung darstellt. Etwas anderes würde zweifellos insbesondere dann gelten, wenn die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union der EMRK beitreten und sich hinsichtlich des Schutzes der Grundrechte im Rahmen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts der gerichtlichen Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte unterwerfen würde.

c) Zur Beachtung der Rechtskraft

95. Zunächst ist die Bedeutung dieses Begriffes zu klären, bevor festgestellt wird, welche Konsequenzen aus ihm gezogen werden können.

96. Res judicata pro veritate habetur: Ein Urteil gilt als Wahrheit. Dieser aus dem römischen Recht stammende Grundsatz ist in allen Mitgliedstaaten sowie in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt. Er bedeutet, dass eine gerichtliche Entscheidung - mit der über einen Rechtsstreit befunden wurde - nur mit den gesetzlich vorgesehenen Rechtsmitteln in Frage gestellt werden kann. Daraus folgt, dass nach Ausschöpfung des Rechtswegs eine solche (mit Bindungswirkung ausgestattete) Entscheidung nicht mehr durch Einleitung eines erneuten Verfahrens in Frage gestellt werden kann (sie erlangt damit Rechtskraft). Wie mehrere Regierungen hervorgehoben haben, beruht dieser Grundsatz auf dem Erfordernis, für die Beständigkeit der Rechtsverhältnisse zu sorgen, indem die ständige Wiederholung von Einwänden verhindert wird. Er beruht damit auf einem doppelten Erfordernis: der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Rechtspflege.

97. Welche Schlussfolgerung kann man daraus im Rahmen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts ziehen? Sind die Mitgliedstaaten berechtigt, sich unter Berufung auf den Grundsatz der Rechtskraft gegen die Erhebung einer Haftungsklage gegen den Staat wegen einer dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufenden Entscheidung eines Hoechstgerichts zu wehren? Mangels einschlägiger Gemeinschaftsvorschriften ist die Antwort im Bereich der Verfahrensautonomie der nationalen Rechtssysteme und des nötigen Rahmens zu suchen, der mit ihr zur Wahrung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit und der Effektivität verbunden ist.

98. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte [ist], zu prüfen, ob die Verfahrensmodalitäten, die im nationalen Recht den Schutz der Rechte, den die Bürger aufgrund des Gemeinschaftsrechts genießen, ... gewährleisten sollen, ... dem Grundsatz der Gleichwertigkeit entsprechen", d. h., dass sie nicht ungünstiger sind als bei entsprechenden Rechtsbehelfen, die das innerstaatliche Recht betreffen. Die nationalen Gerichte sind nämlich zu einer solchen Beurteilung am besten in der Lage, da diese eine relativ genaue Kenntnis der innerstaatlichen Verfahrensregeln voraussetzt. Gleichwohl achtet der Gerichtshof im Allgemeinen darauf, zu diesem Punkt gewisse Ausführungen zu machen, um die nationalen Gerichte bei ihrer Aufgabe anzuleiten.

99. Bekanntlich haben mehrere Mitgliedstaaten dem Einzelnen das Recht zur Erhebung einer Haftungsklage gegen den Staat eingeräumt, wenn eine Entscheidung eines Hoechstgerichts gegen eine innerstaatliche Rechtsvorschrift verstößt. Nach dem Grundsatz der Gleichwertigkeit sind diese Mitgliedstaaten verpflichtet, eine vergleichbare, auf das Gemeinschaftsrecht gestützte Klage ebenso zu behandeln.

100. Zudem ist jedenfalls kein Mitgliedstaat berechtigt, dem Grundsatz der Rechtskraft bei Haftungsklagen, die sich auf das Gemeinschaftsrecht stützen, größere Tragweite beizumessen als bei Klagen, die sich auf sein innerstaatliches Recht stützen.

101. Nach vorherrschender traditioneller Auffassung greift aber die Bindungswirkung von Sachentscheidungen - und folglich die Rechtskraft - nur unter bestimmten Umständen ein, wenn eine dreifache Identität - von Gegenstand, Grundlage und Parteien - zwischen einem bereits entschiedenen und einem später entstandenen Rechtsstreit besteht. Die Rechtskraft ist daher grundsätzlich relativ und nicht absolut. Folglich ist festzustellen, dass ein Rechtsstreit, der - wie der des Ausgangsverfahrens - den Ersatz eines durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verursachten Schadens seitens des Staates zum Gegenstand hat, diesem dreifachen Identitätserfordernis (kumulativ und nicht alternativ) nicht entspricht.

102. Dies ist im Übrigen der Grund dafür, dass der Grundsatz der Rechtskraft mehrere Mitgliedstaaten nicht daran gehindert hat, eine Regelung über die Haftung des Staates für den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen zu schaffen.

103. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Gleichwertigkeit nicht berechtigt sind, sich unter Berufung auf den Grundsatz der Rechtskraft a priori der Erhebung einer solchen Haftungsklage gegen den Staat zu widersetzen. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf den Grundsatz der Effektivität.

104. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind. Dieser Grundsatz wurde vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. aufgestellt und seitdem immer wieder bekräftigt, u. a. im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame. Die Mitgliedstaaten sind daher verpflichtet, die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs, bei dem es sich um einen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Anspruch handelt, nicht unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Mit dem Ausschluss des Rechts auf Erhebung einer Schadensersatzklage wird aber die Existenz eines solchen Rechts offensichtlich geleugnet, und er verstößt daher zwangsläufig gegen den Grundsatz der Effektivität, der den Rahmen für die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bildet.

105. Daraus folgt, dass der Grundsatz der Rechtskraft der Schaffung einer Pflicht der Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden, die durch eine unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ergangene höchstrichterliche Entscheidung entstanden sind, nicht entgegensteht.

106. Dieses Ergebnis drängt sich im Hinblick auf den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts erst recht auf. Eine nationale Vorschrift wie die über die Beachtung der Rechtskraft kann einem Einzelnen nicht entgegengehalten werden, um eine auf das Gemeinschaftsrecht gestützte Schadensersatzklage zu Fall zu bringen.

d) Zu den Garantien für die Unparteilichkeit des nationalen Gerichts

107. Ich räume ein, dass die Frage berechtigt ist, ob das nationale Gericht - das über Haftungsklagen gegen den Staat wegen einer Entscheidung eines Hoechstgerichts zu befinden hat - hinreichende Gewähr für Unparteilichkeit im Hinblick auf die Anforderungen von Artikel 6 Absatz 1 EMRK bieten würde.

108. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Unparteilichkeit zum einen nach einem subjektiven Kriterium zu beurteilen [ist], nämlich auf der Grundlage der persönlichen Überzeugung des jeweiligen Richters in einem bestimmten Fall, und zum anderen auch nach einem objektiven Kriterium, nämlich der Frage, ob der jeweilige Richter ausreichende Garantien für den Ausschluss jeglichen berechtigten Zweifels bietet", wobei insoweit bloße Anzeichen von einer gewissen Bedeutung sein [können]".

109. Diese heikle Frage ist jedoch den Mitgliedstaaten, die bereits ein System der staatlichen Haftung für die Gerichte einschließlich der Hoechstgerichte eingeführt haben, zweifellos nicht neu.

110. Zudem ist es, wie wir später sehen werden, nicht Sache des Gerichtshofes, sich zur Bestimmung der insoweit zuständigen Gerichte zu äußern, da diese Frage vorrangig in die Autonomiesphäre der Mitgliedstaaten fällt.

111. Schließlich könnte die Unparteilichkeit mittels des Instruments der gerichtlichen Zusammenarbeit, um das es sich beim Vorabentscheidungsverfahren handelt, gewährleistet werden. Um jeden berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit des nationalen Gerichts zu zerstreuen, wäre denkbar, dass es sich dazu entschließt, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, und damit dem Gerichtshof die Prüfung überlässt, ob und, wenn ja, in welchem Umfang das betreffende Hoechstgericht tatsächlich gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Eine solche Vorgehensweise hätte einen doppelten Vorteil, denn sie würde es sowohl ermöglichen, alle berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit des nationalen Gerichts zu zerstreuen, als auch letzterem bei dieser heiklen Aufgabe Klarheit verschaffen, indem die Gefahr eines Fehlers bei der Beurteilung eines angeblichen Fehlers beseitigt würde.

112. Unter diesen Umständen könnte die vom Gerichtshof - in seiner Eigenschaft als von den nationalen Gerichten unabhängiges internationales Gericht - zu spielende Rolle mit der des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Rahmen der Prüfung von Individualbeschwerden verglichen werden. Es wäre jedoch übertrieben, daraus zu schließen, dass dies dazu führen würde, einen Superrechtsbehelf" zu schaffen, d. h., den Gerichtshof zur Superrevisionsinstanz" zu erheben. Es geht nämlich nicht darum, ein automatisches Vorabentscheidungsersuchen einzuführen, sondern darum, an die Existenz der Möglichkeit eines Ersuchens zu erinnern. Ich sehe in einem derartigen Vorabentscheidungsersuchen nichts anderes als den Ausdruck eines Instruments der gerichtlichen Zusammenarbeit, das auf dem Gedanken des Dialogs und des gegenseitigen Vertrauens zweier Gerichte beruht.

113. Dieses die Gewährleistung der Unparteilichkeit des nationalen Gerichts betreffende Argument hindert daher ebenso wenig wie die auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Parallele zur Haftungsregelung der Gemeinschaft und die Rechtskraft gestützten Argumente an der Bejahung des Grundsatzes der Haftung des Staates für Verstöße eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht.

114. Folglich ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass der Grundsatz, wonach die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auch dann anwendbar ist, wenn der Verstoß einem Hoechstgericht zur Last gelegt wird.

VI - Zu den materiellen Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung des Staates für einen Verstoß eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht

115. Vor einer Stellungnahme zum vorliegenden Fall sind die Umrisse der Regelung der Staatshaftung für ein Hoechstgericht darzustellen.

A - Erklärungen der Beteiligten

116. Die Beteiligten, die sich zu dieser Frage geäußert haben, haben sich für eine spezifische, restriktive und auf außergewöhnliche oder ganz außergewöhnliche Fälle beschränkte Haftungsregelung ausgesprochen.

117. Nach Ansicht der deutschen Regierung setzt die Haftung des Staates voraus, dass die Entscheidung des Hoechstgerichts objektiv unvertretbar erscheine und auf einem vorsätzlichen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht beruhe.

118. Nach Ansicht der niederländischen Regierung muss die Haftung des Staates im Fall einer offenkundigen und schwerwiegenden Verletzung der Vorlagepflicht im Rahmen der Vorbereitung der gerichtlichen Entscheidung eintreten. Ob die Vorlagepflicht verletzt worden sei, müsse anhand der Situation zum Zeitpunkt des Erlasses der gerichtlichen Entscheidung geprüft werden. Diese Auffassung stimmt teilweise mit der des Klägers überein.

119. Nach Ansicht der Kommission muss der Eintritt der Haftung des Staates an eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts geknüpft werden; diese sei anzunehmen, wenn ein Hoechstgericht seine Befugnisse offenkundig überschreite oder Bedeutung und Tragweite des Gemeinschaftsrechts offenkundig verkenne. Darunter falle insbesondere eine Verletzung der Vorlagepflicht.

B - Analyse

120. In diesem Stadium stellt sich sofort eine Frage: Unterliegt die Festlegung der materiellen Voraussetzungen für eine solche Haftung dem nationalen Recht oder dem Gemeinschaftsrecht?

121. Meines Erachtens würde eine bloße Verweisung auf das nationale Recht erhebliche Nachteile hinsichtlich der Kohärenz beim wirksamen Schutz der Rechte aufweisen, die dem Einzelnen nach dem Gemeinschaftsrecht zustehen und zu denen das Recht auf Schadensersatz gehört. Wie Generalanwalt Tesauro in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Brasserie du pêcheur und Factortame hervorgehoben hat, wäre eine bloße Verweisung auf das nationale Recht mit der Gefahr verbunden ..., ein diskriminierendes System aufrechtzuerhalten, da die Gemeinschaftsbürger hinsichtlich des gleichen Verstoßes unterschiedlich gesichert wären und mancher überhaupt nicht gesichert wäre". Er hat daraus folgenden Schluss gezogen: Damit ... der Schutz durch Schadensersatz in allen Mitgliedstaaten zumindest in gleichartiger - wenn auch nicht eigentlich in einheitlicher - Weise sichergestellt ist, ist es unerlässlich, dass das Gemeinschaftsrecht selbst wenigstens die Mindestvoraussetzungen aufstellt, die den Entschädigungsanspruch bestimmen ..." Ich kann dem nur beipflichten. Dieser Aufgabe hat sich der Gerichtshof im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame hinsichtlich der Haftung des Staates für den Gesetzgeber gewidmet und dabei das Urteil Francovich u. a. präzisiert.

122. Daher ist zu prüfen, welchen gemeinschaftlichen" Mindestvoraussetzungen die Haftung des Staates für seine Hoechstgerichte genügen muss. Kann man sich damit begnügen, schlicht und einfach die vom Gerichtshof für den Gesetzgeber oder die Verwaltung aufgestellten Voraussetzungen zu übertragen? Meines Erachtens muss dies aufgrund der Besonderheit der richterlichen Funktion verneint werden. Gleichwohl ist eine gewisse Kohärenz mit den Regeln zu wahren, die für diese beiden anderen Staatsorgane aufgestellt und mehrfach angewandt wurden.

123. Der vom Gerichtshof aufgestellte Grundsatz wird von ihm nunmehr üblicherweise so formuliert, dass das Gemeinschaftsrecht einen Entschädigungsanspruch an[erkennt], sofern drei Voraussetzungen erfuellt sind, nämlich dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und schließlich dass zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht". Zu ermitteln sind Bedeutung und Tragweite dieser drei materiellen Voraussetzungen hinsichtlich der Haftung des Staates für die Hoechstgerichte, wobei daran zu erinnern ist, dass es sich dabei um Mindestvoraussetzungen handelt. Sie schließen nicht aus, dass die Haftung des Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden kann.

1. Die Art der verletzten Norm

124. Es ist allgemein anerkannt, dass das Erfordernis, wonach die verletzte Rechtsnorm bezwecken muss, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, nicht zwangsläufig bedeutet, dass die betreffende Norm keine unmittelbare Wirkung hat. Es genügt, dass sie mit der Zuerkennung von Rechten an den Einzelnen verbunden ist und dass der Inhalt dieser Rechte (auf der Grundlage der Bestimmungen der fraglichen Norm) mit hinreichender Genauigkeit bestimmt werden kann. Die unmittelbare Wirkung der fraglichen Rechtsnorm ist nicht nötig, aber ausreichend, um diesem Erfordernis zu genügen. Meines Erachtens ist dieses die Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung betreffende Erfordernis auf den Fall der Haftung für Hoechstgerichte übertragbar.

125. Überdies bin ich der Meinung, dass die Haftung des Staates für ein Hoechstgericht nicht auf den Fall der Verletzung einer höherrangigen Norm unter Ausschluss aller anderen beschränkt werden kann. Dafür sprechen mehrere Argumente.

126. Zunächst ist es alles andere als leicht, zu ermitteln, ob es sich um eine höherrangige Rechtsnorm handelt, insbesondere in einem Rechtssystem wie dem Gemeinschaftsrecht, das keine Normenhierarchie kennt.

127. Zudem wurde diese, vom Gerichtshof vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft aufgestellte Voraussetzung der Höherrangigkeit der verletzten Rechtsnorm kürzlich im Urteil Bergaderm und Goupil/Kommission aufgegeben, so dass man heute von einer Angleichung der beiden Haftungssysteme (Gemeinschaft-Mitgliedstaaten) sprechen kann.

128. Schließlich wäre es angesichts dieser Logik der Kohärenz der Haftungssysteme zumindest sonderbar, nunmehr ein solches Erfordernis einzuführen. Ebenso wie der Schutz der Rechte, die der Einzelne aus dem Gemeinschaftsrecht herleitet, ... nicht unterschiedlich sein [kann], je nachdem, ob die Stelle, die den Schaden verursacht hat, nationalen oder Gemeinschaftscharakter hat", muss dies auch für die verschiedenen Staatsorgane gelten, vorbehaltlich bestimmter Anpassungen, die an ihre spezielle Funktion anknüpfen.

129. Nach diesen Klarstellungen zur Natur der verletzten Rechtsnorm der Gemeinschaft ist zu klären, unter welchen Voraussetzungen die Verletzung des Gemeinschaftsrechts einen Schadensersatzanspruch auslösen kann.

2. Die Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht

130. Nach dem Urteil Francovich u. a. hängen die Voraussetzungen, unter denen [die] gemeinschaftsrechtlich gebotene Staatshaftung einen Entschädigungsanspruch eröffnet, ... von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ab, der dem verursachten Schaden zugrunde liegt".

131. Diese die Art des fraglichen Verstoßes betreffende Voraussetzung wurde vom Gerichtshof im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame präzisiert. In Fortführung seiner Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die Entstehung der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft aufgrund ihrer Rechtsetzungstätigkeit unterscheidet er die beiden folgenden Fälle.

132. Erstens kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat, der zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung nicht zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten zu wählen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügte, ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen. Dies ist der Fall, wenn das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Gesetzgeber in einem dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Bereich Ergebnispflichten, Verhaltenspflichten (wie die Umsetzung einer Richtlinie innerhalb einer bestimmten Frist) oder Unterlassungspflichten auferlegt. Diese weite Auffassung von der Haftung des Staates wurde vom Gerichtshof mehrfach angewandt, u. a. bei der Nichtumsetzung einer Richtlinie, bei einer Umsetzung unter Missachtung der zeitlichen Wirkungen einer Richtlinie und bei der Weigerung der Verwaltung, eine Ausfuhrlizenz zu erteilen, obwohl die Erteilung aufgrund der Existenz von Harmonisierungsrichtlinien in dem betreffenden Bereich quasi automatisch hätte erfolgen müssen.

133. Zweitens haftet ein Mitgliedstaat, der in einem Bereich tätig wird, in dem er über ein weites Ermessen verfügt, nur bei einem hinreichend qualifizierten Verstoß, d. h., wenn er bei seiner Rechtsetzungstätigkeit die Grenzen, die der Ausübung seines Ermessens gesetzt sind, offenkundig und in schwerwiegender Weise verletzt hat.

134. Im Hinblick auf die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung kann man sich jedoch nach der aktuellen Relevanz einer solchen Unterscheidung fragen.

135. In dem ersten im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame genannten Fall, d. h., wenn die Mitgliedstaaten über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügen, beruht die Beurteilung des Vorliegens eines hinreichend qualifizierten Verstoßes durch den Gerichtshof immer weniger auf der Feststellung einer bloßen Verletzung des Gemeinschaftsrechts. Er stützt sich vielmehr immer stärker auf ähnliche Kriterien wie im zweiten im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame genannten Fall, d. h., wenn die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen verfügen.

136. So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat ein hinreichend qualifizierter Verstoß sein kann, aber nicht sein muss". Er fügte hinzu: Um festzustellen, ob eine solche Verletzung des Gemeinschaftsrechts einen hinreichend qualifizierten Verstoß darstellt, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte berücksichtigen, die für den ihm vorgelegten Sachverhalt kennzeichnend sind." Zu diesen Gesichtspunkten gehörten u. a. das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, die Frage, ob der Verstoß oder der Schaden vorsätzlich begangen bzw. zugefügt wurde oder nicht, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass das Verhalten eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen hat, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise eingeführt oder aufrechterhalten wurden". Es fällt auf, dass diese Gesichtspunkte voll und ganz mit denen übereinstimmen, die im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame in einem Fall herangezogen wurden, in dem von einem weiten Ermessen des Gesetzgebers ausgegangen wurde.

137. Diese Rechtsprechung wurde im Urteil Larsy bestätigt, das die Gewährung einer Altersrente für einen Selbständigen durch die belgische Verwaltung betraf. Der Gerichtshof legte Wert auf die Feststellung, dass der zuständige nationale Träger in dieser Rechtssache nicht zwischen verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten zu wählen hatte.

138. Unter diesen Umständen braucht meines Erachtens beim gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht ermittelt zu werden, ob der Staat bei der Ausübung seiner Rechtsprechungsfunktion über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt. Dagegen ist zu klären, ob die vom Gerichtshof zur Beurteilung des Vorliegens eines dem Gesetzgeber oder der Verwaltung zuzurechnenden hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht aufgestellten Gesichtspunkte ganz oder teilweise auf den Fall eines einem Hoechstgericht zuzurechnenden Verstoßes übertragbar sind.

139. Für entscheidend halte ich den Gesichtspunkt der Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit des fraglichen Rechtsirrtums. Dies kann entweder vom Grad der Klarheit und Genauigkeit der verletzten Rechtsnorm oder von der Existenz oder dem Stand einschlägiger Rechtsprechung des Gerichtshofes abhängen. Insoweit können mehrere Beispiele angeführt werden.

140. So kann die Haftung des Staates z. B. dann eintreten, wenn ein Hoechstgericht eine gegen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts verstoßende Entscheidung erlässt, obwohl ihre Bedeutung und Tragweite offensichtlich sind. Dies wäre der Fall, wenn der Wortlaut der fraglichen Bestimmungen in allen Punkten klar, genau und frei von Mehrdeutigkeiten ist, so dass er letztlich keinen Raum für Auslegungen bietet, sondern nur für ihre schlichte Anwendung.

141. Die Haftung des Staates kann z. B. auch dann eintreten, wenn ein Hoechstgericht eine Entscheidung erlässt, die offensichtlich gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofes verstößt, wie sie sich am Tag des Erlasses der fraglichen Entscheidung darstellt. Die Urteile des Gerichtshofes, insbesondere soweit sie im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren ergangen sind, binden nämlich zwangsläufig die nationalen Gerichte hinsichtlich der Auslegung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Diese Gerichte dürfen nicht von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abweichen. Sie sind nur berechtigt, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zweckdienliche Erläuterungen zur Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits zu erhalten.

142. Dagegen haftet der Staat nicht für eine Entscheidung eines Hoechstgerichts, die gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofes aus der Zeit nach ihrem Erlass verstößt, während sie dem Stand der Rechtsprechung zum Zeitpunkt ihres Erlasses entsprach; dies gilt erst recht, wenn alles darauf hindeutete, dass diese Rechtsprechung endgültig gesichert war. Liegt in einem solchen Fall ein Fehler vor, so kann man dem Hoechstgericht nicht vorwerfen, irgendeine Pflicht verletzt zu haben, da es sich zu Recht auf die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende Rechtsprechung gestützt hat. Diese Einschätzung erscheint mir nicht unvereinbar mit den zeitlichen Wirkungen von Vorabentscheidungen über Auslegungsfragen.

143. Bekanntlich hat der Gerichtshof immer wieder entschieden, dass durch seine Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden gewesen wäre, so dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor dem auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteil entstanden sind, anwenden können und müssen. Meines Erachtens ist aber hinzuzufügen, dass diese Rechtsverhältnisse nicht durch eine gerichtliche Entscheidung endgültig geklärt worden sein dürfen; dies gilt vor allem, wenn es sich um eine nicht mit Rechtsmitteln anfechtbare Entscheidung handelt. Wurden die fraglichen Rechtsverhältnisse durch eine Entscheidung eines Hoechstgerichts endgültig geklärt, so steht der Grundsatz der Rechtssicherheit jeder auf sie gestützten Schadensersatzklage gegen den Staat entgegen.

144. Schließlich kann man meines Erachtens nicht a priori ausschließen, dass der Staat haftet, wenn ein Hoechstgericht seine Vorlagepflicht, die z. B. dann besteht, wenn es zum Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung keine Rechtsprechung des Gerichtshofes zu der betreffenden Rechtsfrage gibt, offensichtlich verletzt hat.

145. Bisher hat sich der Gerichtshof noch nie konkret zu dieser Problematik geäußert.

146. Die Vorlagepflicht hat bekanntlich grundlegenden Charakter. Sie beruht zum großen Teil auf der Garantie der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Garantie des wirksamen Schutzes der Rechte, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen. Diese Erwägungen hatte der Gerichtshof zweifellos im Sinn, als er im Urteil Cilfit u. a. die Tragweite der im Vertrag aufgestellten Vorlagepflicht festlegte.

147. Zudem fügt sich die Vorlagepflicht in die Logik des Rechts auf Gerichtszugang" ein. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gibt es zwar kein absolutes Recht auf Anrufung des Gerichtshofes im Wege des Vorabentscheidungsersuchens, doch ist es nicht ausgeschlossen, dass die Weigerung eines nationalen Gerichts, das in letzter Instanz zu entscheiden hat, den in Artikel 6 Absatz 1 EMRK aufgestellten Grundsatz eines fairen Verfahrens beeinträchtigen könnte, insbesondere wenn eine solche Weigerung willkürlich erscheint. Wie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt wurde, findet diese Konsequenz des Rechts auf Gerichtszugang" im Übrigen in Deutschland besonderen Ausdruck.

148. Unter diesen Bedingungen ist es logisch und vernünftig, davon auszugehen, dass eine offensichtliche Verletzung der Vorlagepflicht durch ein Hoechstgericht als solche die Haftung des Staates auslösen kann.

149. Unter solchen Umständen könnte die Inanspruchnahme des Staates jedoch auf gewisse Schwierigkeiten beim Nachweis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen der Verletzung der Vorlagepflicht und dem geltend gemachten Schaden stoßen. Dieser Nachweis des Kausalzusammenhangs setzt nämlich voraus, dass der Einzelne belegen kann, dass das Unterbleiben der Vorlage ihm zwangsläufig einen tatsächlichen und sicheren - und nicht nur hypothetischen - Schaden verursacht hat, der nicht eingetreten wäre, wenn das Hoechstgericht beschlossen hätte, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

150. Dieser Nachweis wird zweifellos relativ leicht zu erbringen sein, wenn es sich um einen rein immateriellen Schaden handelt, wie z. B. den Verlust einer Chance, mit seinen Ansprüchen durchzudringen.

151. Bei einem materiellen Schaden wird dies wahrscheinlich nicht der Fall sein. Der Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen einem solchen Schaden und der Verletzung der Vorlagepflicht setzt nämlich voraus, dass der angeblich Geschädigte dartut, dass die Entscheidung des Hoechstgerichts zu seinen Gunsten ausgefallen wäre, wenn es tatsächlich eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hätte. Außer wenn der Gerichtshof kurz nach der Entscheidung des Hoechstgerichts ein Urteil zu der betreffenden Rechtsfrage verkündet und dieses Urteil die Ansprüche des Betreffenden bestätigt, ist schwer vorstellbar, wie der Beweis für einen solchen Kausalzusammenhang erbracht werden könnte.

152. Meines Erachtens wäre es übertrieben, von dem nationalen Gericht, das mit einem Antrag auf Ersatz eines angeblichen materiellen Schadens befasst ist, zu verlangen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu erfahren, welche Antwort er gegeben hätte, wenn ihm tatsächlich eine solche Frage vorgelegt worden wäre.

153. Diese Ausführungen und die genannten Beispiele zeigen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob ein Hoechstgericht einen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen hat, der die Haftung des Staates auslösen kann, zu prüfen ist, ob dieses Gericht einen entschuldbaren oder unentschuldbaren Rechtsfehler begangen hat.

154. Meines Erachtens ist es dabei weder erforderlich noch angebracht, Gesichtspunkten wie dem Verhalten der Gemeinschaftsorgane oder der Frage, ob der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorsätzlich oder unabsichtlich begangen wurde, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

155. Was das Verhalten der Gemeinschaftsorgane (zumindest das der Kommission) anbelangt, so ist es anders als im Fall der Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung schwer vorstellbar, dass dieser Gesichtspunkt für die Beurteilung der Haftung des Staates für ein Hoechstgericht relevant ist. Die Hoechstgerichte sind nämlich nicht ohne weiteres in der Lage, vom Verhalten der Kommission - wie der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch sie, mit dem z. B. die Vereinbarkeit von Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt würde - Kenntnis zu erlangen.

156. Hinsichtlich der Frage, ob der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorsätzlich oder unabsichtlich begangen wurde, ist einzuräumen, dass es ausgesprochen schwierig wäre, sich zum Vorliegen eines subjektiven Merkmals zu äußern; dies gilt erst recht in dem sehr wahrscheinlichen Fall, dass die fragliche gerichtliche Entscheidung von einem Kollegialgericht stammt. Überdies wäre es meiner Ansicht nach heikel, von einem nationalen Gericht zu verlangen, dass es prüft, ob einer seiner Kollegen die böswillige Absicht hatte, eine Rechtsnorm zu verletzen.

3. Der unmittelbare Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden

157. Auf diesen Aspekt wurde bereits im Zusammenhang mit der Verletzung der Vorlagepflicht eingegangen. Es genügt, dass ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem betreffenden Verstoß und einem tatsächlichen und sicheren - materiellen oder immateriellen - Schaden besteht.

158. Folglich ist dem vorlegenden Gericht mitzuteilen, dass im Fall eines einem Hoechstgericht zuzurechnenden Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht die Geschädigten einen Ersatzanspruch haben, wenn die verletzte Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ihnen Rechte verleihen soll, wenn der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und wenn zwischen ihm und dem erlittenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Unter diesem Vorbehalt ist es im Rahmen des nationalen Haftungsrechts Sache des Staates, die Folgen des Schadens zu beseitigen, der durch den ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist, wobei die im nationalen Recht aufgestellten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als die Voraussetzungen bei entsprechenden Rechtsbehelfen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

VII - Zur Bestimmung des für die Beurteilung der Begründetheit der Schadensersatzklage zuständigen Gerichts

159. Dieser Punkt betrifft sowohl die Bestimmung des zuständigen nationalen Gerichts als auch die jeweilige Rolle des nationalen Gerichts und des Gerichtshofes bei der Beurteilung der Begründetheit einer gegen den Staat wegen seiner Haftung für ein Hoechstgericht erhobenen Schadensersatzklage.

A - Zur Bestimmung des zuständigen nationalen Gerichts

160. Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob den Mitgliedstaaten die Bestimmung des zuständigen nationalen Gerichts für die Prüfung einer gegen den Staat wegen seiner Haftung für ein Hoechstgericht erhobenen Schadensersatzklage freisteht.

161. Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind". Der Gerichtshof hat daraus folgenden Schluss gezogen: Unter diesem Vorbehalt ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofes, bei der Lösung von Zuständigkeitsfragen ... im Bereich der nationalen Gerichtsbarkeit [mitzuwirken]."

162. In Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts zu diesem Punkt ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz der institutionellen Selbständigkeit - unter dem Vorbehalt der Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes - auch für etwaige Schadensersatzklagen gegen die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Haftung für ein Hoechstgericht gilt.

B - Zur jeweiligen Rolle des Gerichtshofes und der nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Begründetheit der Schadensersatzklage

163. Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im vorliegenden Fall die Beurteilung der Begründetheit der Schadensersatzklage ihm obliegt oder ob diese Aufgabe dem Gerichtshof zukommt.

164. Im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame hat der Gerichtshof entschieden, dass er die Beurteilung durch die nationalen Gerichte, die allein für die Feststellung des Sachverhalts der Ausgangsverfahren und die Qualifizierung der betreffenden Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zuständig sind, nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen [kann]". Er hielt es jedoch für zweckmäßig, auf bestimmte Umstände hinzuweisen, die die vorlegenden Gerichte in Betracht ziehen können". Diese Rechtsprechung wurde mehrfach bestätigt. Sie findet im Fall einer Haftungsklage gegen den Staat wegen der Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch ein Hoechstgericht in vollem Umfang Anwendung. Ich werde mich daher auf einige Bemerkungen zum vorliegenden Fall beschränken.

VIII - Zum vorliegenden Fall

165. Mit seiner dritten und seiner vierten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im konkreten Fall die materiellen Voraussetzungen für die Haftung des Staates erfuellt sind.

166. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die angeblich verletzte Bestimmung - Artikel 48 EG-Vertrag - unmittelbar anwendbar ist und somit zwangsläufig dem Einzelnen Rechte verleihen soll. In Absatz 1 dieses Artikels wird der Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aufgestellt. Sie umfasst nach Absatz 2 u. a. die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Diese Vorschriften des Vertrages wurden durch die Verordnung Nr. 1612/68 umgesetzt und konkretisiert.

167. Zudem hat der Gerichtshof entschieden, dass der in Artikel 39 Absatz 2 EG aufgestellte und mit der Verordnung Nr. 1612/68 umgesetzte Grundsatz der Nichtdiskriminierung für jeden Gemeinschaftsbürger gilt, der von seinem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, ... unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit". Infolgedessen wirkt sich nach Ansicht des Gerichtshofes der Umstand, dass derjenige, der sich auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung beruft, ein Angehöriger des fraglichen Mitgliedstaats und nicht eines anderen Mitgliedstaats ist, nicht auf die Anwendung dieses Grundsatzes aus. Nach dieser Rechtsprechung war Herr Köbler somit berechtigt, sich auf den in Artikel 39 Absatz 2 EG aufgestellten Grundsatz der Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer zu berufen.

168. Zudem verbietet dieser Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. Im Urteil O'Flynn hat der Gerichtshof ausgeführt: Als mittelbar diskriminierend sind ... Voraussetzungen des nationalen Rechts anzusehen, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber im Wesentlichen ... oder ganz überwiegend ... Wanderarbeitnehmer betreffen, sowie unterschiedslos geltende Voraussetzungen, die von inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfuellen sind als von Wanderarbeitnehmern ... Eine mittelbare Diskriminierung ist auch in Voraussetzungen zu sehen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von Wanderarbeitnehmern auswirken ..."

169. Im Hinblick auf diese Rechtsprechung liegt ein solcher Fall bei der als Voraussetzung für die Gewährung der besonderen Dienstalterszulage erforderlichen fünfzehnjährigen Dienstzeit als Professor an - ausschließlich - österreichischen Universitäten eindeutig vor. Bei dieser Voraussetzung besteht nämlich die Gefahr, dass sie sich besonders zum Nachteil von Wanderarbeitnehmern auswirkt, d. h. von Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Dies trifft auf Personen zu, die wie Herr Köbler ihren Herkunftsmitgliedstaat verlassen haben, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, und die anschließend dorthin zurückkehren, um ihre Laufbahn fortzusetzen.

170. Meines Erachtens kann schwerlich davon ausgegangen werden, dass der Verwaltungsgerichtshof einen entschuldbaren Fehler beging, als er entschied, dass eine solche mittelbar diskriminierende Voraussetzung in dem Bestreben, die Treue eines Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber zu honorieren, eine vernünftige Rechtfertigung findet.

171. Selbst wenn diese angebliche Rechtfertigung im vorliegenden Fall eingreifen sollte, weil es sich bei den österreichischen Universitäten - anders als in der Rechtssache Schöning-Kougebetopoulou - um nur einen Arbeitgeber handelt, hätte der Verwaltungsgerichtshof prüfen müssen, ob die fragliche Dienstaltersvoraussetzung zu dem genannten Zweck in angemessenem Verhältnis stand. Der Gerichtshof hat dieses allgemeine Erfordernis der Verhältnismäßigkeit mehrfach hervorgehoben. Er hat darauf auch in Randnummer 21 des Urteils Schöning-Kougebetopoulou hingewiesen, das er dem Verwaltungsgerichtshof im Anschluss an dessen Vorlagebeschluss übermittelte, auch wenn der Gerichtshof in dieser Rechtssache entschied, dass die auf die Honorierung der Treue eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber gestützte Rechtfertigung irrelevant sei. In dieser Rechtssache brauchte daher zur Klärung des Ausgangsrechtsstreits die Verhältnismäßigkeit zwischen dem fraglichen Dienstalterserfordernis und einer solchen Rechtfertigung nicht geprüft zu werden.

172. Im vorliegenden Fall ist zu bedauern, dass der Verwaltungsgerichtshof die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht geprüft hat. Es kann nämlich schwerlich davon ausgegangen werden, dass das fragliche Dienstalterserfordernis in angemessenem Verhältnis zu einer derartigen Rechtfertigung stuende. Es geht ohne jeden Zweifel über das zur Erreichung des geltend gemachten Zweckes erforderliche Maß hinaus.

173. Überdies hätte der Verwaltungsgerichtshof an seinem Vorabentscheidungsersuchen festhalten oder es ergänzen müssen, um bestimmte Klarstellungen zur Tragweite des Urteils Schöning-Kougebetopoulou zu erhalten. Orientiert man sich am Urteil Cilfit u. a., so ist es schwer vorstellbar, dass der Verwaltungsgerichtshof tatsächlich davon überzeugt war, dass die - als richtig unterstellte - Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig war, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der betreffenden Rechtsfrage blieb, und dass dies auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof ebenso offenkundig wäre.

174. Folglich ist auf die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu antworten, dass Artikel 39 EG dahin auszulegen ist, dass er dem Einzelnen Rechte verleihen soll. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ist davon auszugehen, dass der vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf Bedeutung und Tragweite dieses Artikels des Vertrages begangene Fehler unentschuldbar ist und somit die Haftung des Staates auslösen kann.

IX - Ergebnis

175. Angesichts all dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1. Der Grundsatz, wonach die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der Verstoß einem Hoechstgericht zur Last gelegt wird.

2. Im Fall eines einem Hoechstgericht zuzurechnenden Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht haben die Geschädigten einen Ersatzanspruch, wenn die verletzte Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ihnen Rechte verleihen soll, wenn der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und wenn zwischen ihm und dem erlittenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Unter diesem Vorbehalt ist es im Rahmen des nationalen Haftungsrechts Sache des Staates, die Folgen des Schadens zu beseitigen, der durch den ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist, wobei die im nationalen Recht aufgestellten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als die Voraussetzungen bei entsprechenden Rechtsbehelfen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

3. Der Grundsatz, wonach es vorbehaltlich der Gewährleistung wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, findet auf die Schadensersatzklage eines Einzelnen gegen einen Mitgliedstaat wegen eines angeblichen Verstoßes eines Hoechstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht Anwendung.

4. Allein die nationalen Gerichte haben zu beurteilen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Haftung des Staates für ein Hoechstgericht erfuellt sind, und insbesondere zu ermitteln, ob der dem fraglichen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht zugrunde liegende Rechtsfehler entschuldbar oder unentschuldbar ist. Dabei können sie die vom Gerichtshof insoweit gegebenen Erläuterungen berücksichtigen.

5. Artikel 39 EG ist dahin auszulegen, dass er dem Einzelnen Rechte verleihen soll. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ist davon auszugehen, dass der von dem betreffenden Hoechstgericht in Bezug auf Bedeutung und Tragweite dieses Artikels des Vertrages begangene Fehler unentschuldbar ist und somit die Haftung des Staates auslösen kann.