Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas vom 28. Januar 1999. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Artikel 6 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG) - Niederlassungsfreiheit - Erfordernis der Mitgliedschaft von Belgien für die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an eine Vereinigung. - Rechtssache C-172/98.
Sammlung der Rechtsprechung 1999 Seite I-03999
I - Einleitung
1 Mit ihrer Klage nach Artikel 169 EG-Vertrag beantragt die Kommission festzustellen, daß das Königreich Belgien gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 6 EG-Vertrag verstossen hat, indem es eine Gesetzesbestimmung in Kraft gelassen hat, die für die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an eine Vereinigung verlangt, daß ein Mitglied des Vorstands dieser Vereinigung oder eine Mindestanzahl von Mitgliedern die belgische Staatsangehörigkeit besitzt.
II - Nationales Recht und Verfahren
2 Nach dem belgischen Gesetz vom 25. Oktober 1919 "zur Verleihung der Rechtspersönlichkeit an internationale Vereinigungen, die einen philanthropischen, religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder pädagogischen Zweck verfolgen", kann diesen Vereinigungen Rechtspersönlichkeit verliehen werden, wenn dem ausführenden Organ mindestens ein Mitglied belgischer Staatsangehörigkeit angehört.
3 Nach Artikel 26 des Gesetzes vom 27. Juni 1921 "zur Verleihung der Rechtspersönlichkeit an Vereinigungen ohne Erwerbszweck" kann sich eine Vereinigung Dritten gegenüber nicht auf ihre Rechtspersönlichkeit berufen, wenn nicht drei Fünftel ihrer Mitglieder die belgische Staatsangehörigkeit besitzen.
4 Die Kommission wies das Königreich Belgien mit Schreiben vom 25. März 1996 darauf hin, daß sie diese beiden Rechtsvorschriften für unvereinbar mit Artikel 6 EG-Vertrag halte, und forderte es zu einer Stellungnahme binnen zwei Monaten auf.
5 Das Königreich Belgien teilte der Kommission mit Schreiben vom 9. August 1996 seine Absicht mit, die beanstandeten Gesetze zu ändern und den Anweisungen der Kommission nachzukommen. Es übermittelte der Kommission dazu am 26. Februar 1997 zwei Gesetzesvorentwürfe mit den entsprechenden Änderungen.
6 Da die Kommission feststellte, daß die beanstandeten nationalen Bestimmungen immer noch in Kraft waren, richtete sie am 19. Juni 1997 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Königreich Belgien, mit der sie dieses aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Artikel 6 EG-Vertrag binnen zwei Monaten nach Zustellung der Stellungnahme nachzukommen.
7 Das Königreich Belgien übermittelte der Kommission am 11. August 1997 einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Gesetzes von 1921 und am 27. Februar 1998 einen Gesetzesvorentwurf zur Änderung des Gesetzes von 1919.
8 Da die Kommission nicht darüber unterrichtet worden ist, daß tatsächlich Maßnahmen zur Änderung der Gesetze von 1919 und 1921 getroffen worden sind, hat sie beim Gerichtshof die vorliegende Klage mit dem Antrag erhoben, festzustellen, daß das Königreich Belgien, wie vorstehend ausgeführt, eine Vertragsverletzung begangen hat, und ihm die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
9 Das Königreich Belgien verweist in seiner Klagebeantwortung darauf, daß das Verfahren zum Erlaß der Änderungsgesetze zur Anpassung des nationalen Rechts an das Gemeinschaftsrecht noch im Gange sei; es verpflichtet sich ausserdem, den Gerichtshof zu unterrichten, sobald dieses Verfahren beendet ist.
10 Die Kommission weist in ihrer Erwiderung darauf hin, daß die belgische Regierung stillschweigend die Unvereinbarkeit des geltenden Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zugebe.
III - Zur Begründetheit der Klage
11 Wie die Kommission zu Recht geltend macht, fallen die streitigen nationalen Rechtsvorschriften eindeutig unter den EG-Vertrag, obwohl sie Vereinigungen ohne Erwerbszweck betreffen. Diese Vereinigungen sind zwar nicht auf Gewinnerzielung oder -umverteilung ausgerichtet, können aber gleichwohl entgeltliche Dienstleistungen erbringen oder ein Einkommen erzielen und damit am wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Sie unterliegen daher den Regeln des Gemeinschaftsrechts über die Niederlassungsfreiheit.
12 Gegen diese Lösung könnte Artikel 58 Absatz 2 EG-Vertrag sprechen. Danach gehören Gesellschaften, die "keinen Erwerbszweck verfolgen", nicht zu den Gesellschaften, denen das Recht auf freie Niederlassung im Sinne des Artikels 52 EG-Vertrag zusteht. Der Begriff des Erwerbszwecks ist jedoch als gemeinschaftsrechtlicher Begriff nach der herrschenden Lehre im Gemeinschaftsrecht weit auszulegen. Selbst juristische Personen, deren Hauptzweck nicht in einem Gewinnzuwachs besteht, können ein Recht auf freie Niederlassung haben, wenn sie am Wirtschaftsleben teilnehmen.
13 Diese Auffassung ist auch in den Urteilen des Gerichtshofes Walrave und Koch(1), Donà(2) und Steymann(3) zum Ausdruck gekommen. Ausserdem hatte der Gerichtshof mehrfach über die Geltung von Gemeinschaftsrecht in Sachverhalten zu entscheiden, in denen Wirtschaftsteilnehmer, die keinen Erwerbszweck verfolgten, eine wirtschaftliche Betätigung ausübten(4).
14 Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß alle Vereinigungen im Sinne der belgischen Gesetze von 1919 und 1921, die am Wirtschaftsleben teilnehmen können, unter das Gemeinschaftsrecht fallen und sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen können. Einige von ihnen weisen jedoch die erforderlichen Eigenschaften auf und werden daher, wenn es um die Verleihung der Rechtspersönlichkeit durch das nationale Recht geht, aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht diskriminiert(5). Die streitigen belgischen Rechtsvorschriften fallen somit in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts.
15 Im übrigen genügt der Hinweis, daß das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der innerstaatlichen Rechtslage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde(6). Ausserdem vertritt der Gerichtshof die Auffassung, daß sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung der Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann(7).
16 Das Königreich Belgien bestreitet im vorliegenden Fall nicht, daß es trotz Ablaufs der ihm in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht die erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, um den Anforderungen der Kommission nachzukommen, und damit gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 6 EG-Vertrag verstossen hat. Folglich ist nach meiner Meinung die von der Kommission behauptete Vertragsverletzung bewiesen.
IV - Ergebnis
17 Nach den vorangegangenen Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor,
- festzustellen, daß das Königreich Belgien gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 6 EG-Vertrag verstossen hat, indem es eine Gesetzesbestimmung in Kraft gelassen hat, die für die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an eine Vereinigung verlangt, daß ein Mitglied des Vorstands dieser Vereinigung oder eine Mindestanzahl von Mitgliedern die belgische Staatsangehörigkeit besitzt;
- dem Königreich Belgien die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
(1) - Urteil vom 12. Dezember 1974 in der Rechtssache 36/74 (Slg. 1974, 1405).
(2) - Urteil vom 14. Juli 1976 in der Rechtssache 13/76 (Slg. 1976, 1333).
(3) - Urteil vom 5. Oktober 1988 in der Rechtssache 196/87 (Slg. 1988, 6159).
(4) - Urteile vom 12. Februar 1987 in der Rechtssache 221/85 (Kommission/Belgien, Slg. 1987, 719) und vom 17. Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95 (Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395).
(5) - In seinem Urteil vom 20. Oktober 1993 in den Rechtssachen C-92/92 und C-326/92 (Phil Collins u. a., Slg. 1993, I-5145) hat der Gerichtshof ausdrücklich bestätigt, daß das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung für die Personen gilt, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden.
(6) - Vgl. dazu die Urteile vom 18. Dezember 1997 in der Rechtssache C-361/95 (Kommission/Spanien, Slg. 1997, I-7351, Randnr. 13) und vom 27. Oktober 1998 in der Rechtssache C-364/97 (Kommission/Irland, Slg. 1998, I-6593, Randnr. 8).
(7) - Vgl. dazu die Urteile vom 2. Oktober 1997 in der Rechtssache C-208/96 (Slg. 1997, I-5375, Randnr. 9) und vom 19. Februar 1998 in der Rechtssache C-8/97 (Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-823, Randnr. 8).