61992J0042

URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 13. JULI 1993. - ADRIANUS THIJSSEN GEGEN CONTROLEDIENST VOOR DE VERZEKERINGEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN STATE - BELGIEN. - NIEDERLASSUNGSFREIHEIT - AUSUEBUNG OEFFENTLICHER GEWALT. - RECHTSSACHE C-42/92.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-04047


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


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Freizuegigkeit ° Niederlassungsfreiheit ° Ausnahmen ° Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind ° Zugelassene Wirtschaftsprüfer bei den Versicherungsunternehmen, die ihre Tätigkeit in Belgien ausüben ° Ausschluß

(EWG-Vertrag, Artikel 55 Absatz 1)

Leitsätze


Die in Artikel 55 Absatz 1 des Vertrages vorgesehene Ausnahme von der Niederlassungsfreiheit, wonach die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat auch nur zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, keine Anwendung findet, ist auf Tätigkeiten zu beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen.

Dies ist bei der Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers bei Versicherungsunternehmen und privaten Vorsorgeeinrichtungen nicht der Fall, wenn diese Tätigkeit in einem Rahmen ausgeuebt wird, wie dieser in Belgien besteht, wo dem zugelassenen Wirtschaftsprüfer, der von dem Versicherungsunternehmen frei ausgewählt und honoriert wird, gegenüber dem Versicherungsaufsichtsamt, einer öffentlichen Einrichtung, die an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilnimmt und mit Regelungs-, Kontroll- und Weisungsbefugnissen ausgestattet ist, obwohl er seine Aufgaben unter der Aufsicht dieses Amtes wahrnimmt, einen Eid leistet und gegen die Ausführung einer Unternehmensentscheidung, die eine strafbare Handlung darstellen würde, sein Veto einlegen kann, nur eine helfende und vorbereitende Rolle übertragen ist.

Entscheidungsgründe


1 Der belgische Raad van State hat mit Beschluß vom 21. Januar 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit des Adrianus Thijssen (Kläger) gegen den Controledienst voor de verzekeringen (Versicherungsaufsichtsamt) um die Versagung der Zulassung zur Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers, das durch die Artikel 38 bis 40 des belgischen Gesetzes vom 9. Juli 1975 über die Aufsicht über die Versicherungsunternehmen (Belgisch Staatsblad vom 29. Juli 1975; im folgenden: Gesetz von 1975) geschaffen wurde.

3 Nach den Akten beantragte der Kläger mit Schreiben vom 24. September 1986 auf eine Ausschreibung des Versicherungsaufsichtsamtes (im folgenden: CDV) seine Anerkennung als zugelassener Wirtschaftsprüfer. Aus den dem Schreiben des Klägers beigefügten Unterlagen ging hervor, daß dieser niederländischer Staatsangehöriger war. Mit Schreiben vom 6. November 1986 teilte der Präsident des CDV dem Kläger mit, daß seinem Antrag nicht stattgegeben worden sei, da er die Staatsangehörigkeitsvoraussetzung gemäß Artikel 2 § 1 Nr. 1 der Verordnung Nr. 6 des CDV (Belgisch Staatsblad vom 26. März 1986; im folgenden: Verordnung Nr. 6) nicht erfuelle.

4 Der Kläger erhob gegen diese Entscheidung Anfechtungsklage beim Raad van State; er machte als einzigen Klagegrund geltend, daß die Ablehnung seines Antrags auf Zulassung mit der Begründung, daß er nicht belgischer Staatsangehöriger sei, auf einem Verstoß gegen die Artikel 52 und 55 EWG-Vertrag beruhe. Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache 2/74 (Reyners, Slg. 1974, 631) entfalte Artikel 52 EWG-Vertrag unmittelbare Wirkung.

5 Der Beklagte des Ausgangsverfahrens trägt vor, der Grundsatz der freien Niederlassung finde gemäß Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag keine Anwendung auf die Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers.

6 Der Raad van State ist der Ansicht, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge; er hat daher dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Findet die in Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag enthaltene Ausnahme vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit Anwendung auf die durch die Artikel 38 bis 40 des Gesetzes vom 9. Juli 1975 über die Aufsicht über Versicherungsunternehmen geschaffene Tätigkeit des zugelassenen Wirtschaftsprüfers?

7 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

8 Gemäß Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag finden die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat auch nur zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, keine Anwendung. Wie jedoch der Gerichtshof in seinem Urteil Reyners, a. a. O., Randnr. 45, ausgeführt hat, ist die Ausnahme in Artikel 55 auf Tätigkeiten zu beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen.

9 Die Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich daher darauf, ob eine Tätigkeit wie die des zugelassenen Wirtschaftsprüfers im Sinne des Gesetzes von 1975 eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellt. Bei der Beantwortung dieser Frage ist auf die Art der von einem zugelassenen Wirtschaftsprüfer im Sinne des Gesetzes ausgeuebten Tätigkeit nach der Beschreibung des nationalen Gerichts abzustellen.

10 Mit Artikel 29 Absatz 1 des Gesetzes von 1975 wurde der CDV als öffentliche Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit errichtet und der Aufsicht des Ministers für Wirtschaft unterstellt. Nach Artikel 29 Absatz 2 hat der CDV die Aufgabe, die Anwendung des Gesetzes und der dazu erlassenen Durchführungsverordnungen zu überwachen. Gemäß Artikel 29 Absatz 4 kann der CDV Verordnungen erlassen. Zu diesem Zweck legt er fest, welche Verpflichtungen den Versicherungsunternehmen auferlegt werden, "damit deren Geschäftsbetrieb mit der Versicherungstechnik, den Erfordernissen der Billigkeit und den allgemeinen Belangen der Versicherten und der durch Versicherungsverträge Begünstigten in Einklang steht".

11 Der CDV nimmt an der Ausübung öffentlicher Gewalt teil. Seine Kontrollaufgabe dient dem Schutz der Versicherten und der Belange der Allgemeinheit. Er kann durch Weisungen und Verbote unmittelbar in die Verwaltung der Versicherungsunternehmen eingreifen.

12 Aufgrund seiner Regelungsbefugnis erließ der CDV seine Verordnung Nr. 2 vom 20. November 1978 über die Zulassung der zugelassenen Wirtschaftsprüfer (Belgisch Staatsblad vom 15. Dezember 1978) und hob diese später durch die Verordnung Nr. 6 auf.

13 Anders als in der Verordnung Nr. 2, nach der u. a. die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zur Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers zugelassen werden konnten, heisst es in Artikel 2 § 1 der Verordnung Nr. 6 wie folgt:

"Zur Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers bei den kontrollierten Unternehmen kann vom Aufsichtsamt nur zugelassen werden:

1. wer Belgier ist;

..."

14 Somit ist die Staatsangehörigkeitsvoraussetzung, die im Gesetz von 1975 nicht erwähnt wird, erst 1986 eingeführt worden, und zwar durch eine Verordnung des CDV.

15 Ferner enthält die Verordnung Nr. 6 keine Begründung für die Notwendigkeit einer solchen Staatsangehörigkeitsvoraussetzung. Der belgische Staat hat als Antwort auf eine Frage des Gerichtshofes nur erklärt, daß er es 1986 als erforderlich erachtet habe, die Voraussetzung der belgischen Staatsangehörigkeit einzuführen. Gemäß Artikel 20 der Verordnung Nr. 6 behalten die zugelassenen Wirtschaftsprüfer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind und die bereits beim Inkrafttreten dieser Verordnung bestellt waren, ihre Zulassung.

16 Schließlich müssen die belgischen Versicherungsaktiengesellschaften oder -genossenschaften nach Artikel 38 des Gesetzes von 1975 mindestens einen Wirtschaftsprüfer aus dem Kreis der vom CDV anerkannten Mitglieder des durch Gesetz vom 22. Juli 1953 errichteten Instituts der Betriebsprüfer bestellen. Das gleiche gilt für die belgischen Unternehmen, die in der Form von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit oder von Idealvereinen errichtet wurden, sowie für die ausländischen Versicherungsunternehmen, die für die Führung ihrer Geschäfte in Belgien einen zugelassen Wirtschaftsprüfer aus demselben Personenkreis bestellen müssen.

17 Der zugelassene Wirtschaftsprüfer muß nach Artikel 39 des Gesetzes von 1975 schriftlich einen besonderen Eid leisten. Artikel 40 bestimmt:

"Der zugelassene Wirtschaftsprüfer nimmt seine Aufgaben unter der Aufsicht des Versicherungsaufsichtsamts wahr.

Der zugelassene Wirtschaftsprüfer teilt jede Verletzung dieses Gesetzes und der dazu erlassenen Durchführungsverordnungen sowie alles, was nach seiner Ansicht die Finanzlage des Unternehmens gefährden könnte, unverzueglich dem Vorstand, der Geschäftsführung oder dem Generalbevollmächtigten des Unternehmens sowie dem Amt mit.

Neben seinen in den Gesetzen über die Handelsgesellschaft und in der Gesellschaftssatzung festgelegten allgemeinen Aufgaben als Wirtschaftsprüfer berichtet der zugelassene Wirtschaftsprüfer dem Amt auf dessen Ersuchen, mindestens aber einmal jährlich über die Finanzlage und die Geschäftsführung des Unternehmens.

Erhält der zugelassene Wirtschaftsprüfer Kenntnis von einer Unternehmensentscheidung, deren Ausführung eine strafbare Handlung darstellen würde, so legt er sein Veto gegen diese Ausführung ein und meldet dies unverzueglich dem Amt. Das Veto hat für acht Tage aufschiebende Wirkung."

18 Wie die belgische Regierung in ihren Erklärungen ausgeführt hat, ist die Tätigkeit eines Betriebsprüfers oder "gewöhnlichen Wirtschaftsprüfers", wie die Regierung diesen bezeichnet, nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden. Seine Aufgabe besteht darin, die finanzielle Lage und die Jahresabschlüsse der Gesellschaft zu überprüfen und der Hauptversammlung einen Bericht über die Kontrollen vorzulegen, die er auf diese Weise anhand der Unterlagen und der Informationen durchführt, die von den das Unternehmen leitenden Personen zu verlangen er berechtigt ist.

19 Die zugelassenen Wirtschaftsprüfer werden von den Versicherungsunternehmen aus dem Kreis der vom CDV anerkannten Wirtschaftsprüfer frei ausgewählt und honoriert. Sie genießen das Vertrauen des Versicherungsunternehmens wie dasjenige der Aufsichtsbehörden.

20 Die in Randnummer 17 erwähnten Verpflichtungen des Wirtschaftsprüfers bestehen darin, dem CDV regelmässig oder auf dessen Ersuchen besondere Umstände zur Kenntnis zu bringen und das Versicherungsunternehmen über eventuelle strafbare Handlungen oder Umstände zu unterrichten, die dessen Finanzlage bedrohen könnten. Wie der Kläger in der Sitzung erklärt hat, haben andere Einrichtungen ähnliche Verpflichtungen, ohne daß von ihnen insoweit angenommen wird, daß sie öffentliche Gewalt ausübten. Dies gilt insbesondere für die Kredit- und Finanzinstitute, die nach Artikel 6 der Richtlinie 91/308/EWG des Rates vom 10. Juni 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (Abl. L 166, S. 77) die Behörden über alle Tatsachen zu unterrichten haben, die ein Indiz für eine solche Geldwäsche sein könnten.

21 Über das Veto, das der zugelassene Wirtschaftsprüfer gegen eine Unternehmensentscheidung einlegen kann, deren Ausführung nach seiner Ansicht eine strafbare Handlung darstellen würde, hat er unverzueglich den CDV zu unterrichten. Zwar hat sein Veto für acht Tage aufschiebende Wirkung, die endgültige Entscheidung ist jedoch ausschließlich Sache des CDV, der somit nicht an das Veto des zugelassenen Wirtschaftsprüfers gebunden ist und der innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse alle Maßnahmen ergreift, die die Lage erfordert. Schließlich nimmt der zugelassene Wirtschaftsprüfer seine Aufgaben nach Artikel 40 des Gesetzes von 1975 unter der Aufsicht des CDV wahr.

22 Die helfende und vorbereitende Rolle, die dem zugelassenen Wirtschaftsprüfer somit gegenüber dem CDV ° der durch den Erlaß der abschließenden Entscheidung öffentliche Gewalt ausübt ° übertragen ist, kann nicht als unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag angesehen werden.

23 Daher ist auf die Frage des belgischen Raad van State zu antworten, daß die in Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag enthaltene Ausnahme vom Recht auf freie Niederlassung nicht für die Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers gilt, wie sie im Vorlageurteil beschrieben ist.

Kostenentscheidung


Kosten

24 Die Auslagen der belgischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom belgischen Raad van State mit Urteil vom 21. Januar 1992 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die in Artikel 55 Absatz 1 EWG-Vertrag enthaltene Ausnahme vom Recht auf freie Niederlassung gilt nicht für die Tätigkeit eines zugelassenen Wirtschaftsprüfers, wie sie im Vorlageurteil beschrieben ist.