SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS JEAN-PIERRE WARNER

VOM 15. MAI 1974 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Nach den Worten des Herrn Generalanwalts Lagrange in der Rechtssache 30/59 (De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde — Slg. 1961, 83)„ist ein echter Gemeinsamer Markt für eine bestimmte Industrie in mehreren Ländern dann nicht gegeben, wenn eines dieser Länder seine eigene Industrie subventioniert“.

Daher enthalten die Artikel 92 bis 94 des EWG-Vertrags, wie Sie, meine Herren, sich erinnern werden, Bestimmungen, die sicherstellen sollen, daß von den Mitgliedstaaten an die Industrie gewährte Beihilfen den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt nicht verfälschen.

Absatz 1 des Artikels 92 lautet wie folgt:

„Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staadiche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“

Bestimmte Arten von Beihilfen, die mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind oder als vereinbar angesehen werden können, sind in den Absätzen 2 und 3 dieses Artikels näher aufgeführt. Wie Generalanwalt Lagrange weiter hervorhob, und zwar diesmal in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache 6/64 (Costa/Enel — Slg. 1964, 1297/1298), und wie in einer Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofes stillschweigend unterstellt wird, ist es — jedenfalls in der ersten Phase — Sache der Kommission zu entscheiden, ob eine der in jenen Absätzen enthaltenen Ausnahmen im konkreten Falle zum Zuge kommen kann.

Artikel 93 Absatz 1 verpflichtet die Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten fortlaufend die in diesen bestehenden Beihilferegelungen zu überprüfen und ihnen die zweckdienlichen Maßnahmen vorzuschlagen, welche die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern.

Artikel 93 Absatz 2 bestimmt:

„Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, daß eine von einem Staat oder aus staadichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt nach Artikel 92 unvereinbar ist oder daß sie mißbräuchlich angewandt wird, so entscheidet sie, daß der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.

Kommt der betreffende Staat dieser Entscheidung innerhalb der festgesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission oder jeder betroffene Staat in Abweichung von den Artikeln 169 und 170 den Gerichtshof unmittelbar anrufen.“

Hierauf folgen Bestimmungen, die den Rat ermächtigen, einen Mitgliedstaat bei außergewöhnlichen Umständen von den Erfordernissen des Artikels 92 zu befreien.

Artikel 93 Absatz 3 bestimmt:

„Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, daß sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, daß ein derartiges Vorhaben nach Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat.“

Artikel 94 schließlich ermächtigte den Rat, Durchführungsverordnungen zu den Artikeln 92 und 93 zu erlassen.

Bestimmte recht einleuchtende Grundsätze finden eine besondere Betonung in Entscheidungen des Gerichtshofes.

Zunächst ist der Begriff der „Beihilfe“ weiter als der der „Subvention“. Denn er umfaßt nicht nur positive Geld- oder Sachleistungen, sondern auch jede Maßnahme, die eine von einem Unternehmen sonst zu tragende Belastung vermindert und in der Wirkung einer Subvention gleichsteht: Hierzu verweise ich auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 30/59 (Slg. 1961, 43). Beispiele dieser letzterwähnten Art von Beihilfen sind zu finden in den Rechtssachen 6 und 11/69 (Kommission/Französische Republik — Slg. 1969, 523), in der die Bank von Frankreich für Forderungen aus Ausfuhrgeschäften einen Vorzugsrediskontsatz gewährte, und in der Rechtssache 70/72 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland — Slg. 1973, 813), in der deutschen Unternehmen, die bestimmte Arten von Investitionen vornahmen, eine Investitionsprämie in Höhe von 10 % der Anschaffungs- und Herstellungskosten in Form eines Abzugs von der Einkommen- oder Körperschaftsteuer gewährt wurde.

Zweitens ist es wichtig, sich die in Artikel 93 getroffene Unterscheidung zwischen „bestehenden Beihilfen“ und „neuen Beihilfen“ vor Augen zu halten. Diese Unterscheidung wurde zuerst in der Rechtssache 6/64 getroffen (hierzu sei insbesondere auf Slg. 1964, 1272, hingewiesen) und sodann in der Rechtssache 70/72 von Generalanwalt Mayras (Slg. 1973, 834 ff.) sowie in den Rechtssachen 120 bis 122 und 141/73, Lorenz/Bundesrepublik Deutschland, Markmann/Same, Nordsee/Same und Lohrey/Same (noch nicht veröffentlicht) sowohl in den Schlußanträgen von Generalanwalt Reischl als auch in den Urteilen des Gerichtshofes hervorgehoben.

Eine „bestehende“ Beihilfe ist eine solche, die entweder zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrages in Geltung war oder später mit der (ausdrücklichen oder stillschweigenden) Zustimmung der Kommission eingeführt wurde. Im Falle einer solchen Beihilfe hat die Kommission die Rechte und Pflichten, die ihr durch die Absätze 1 und 2 des Artikels 93 verliehen bzw. auferlegt werden. Besonders ist zu bemerken, daß die Befugnis der Kommission zu entscheiden, daß der betreffende Staat eine bestehende Beihilfe aufzuheben oder umzugestalten hat, nur für die Zukunft ausgeübt werden kann. Ihr kann keinerlei rückwirkende oder deklaratorische Wirkung zukommen. Die Ausübung dieser Befugnis ist darüber hinaus an das Erfordernis geknüpft, daß die Kommission eine „Frist“ vorschreiben muß, binnen der die Beihilfe aufzuheben oder umzugestalten ist; doch hat sich Generalanwalt Mayras in der Rechtssache 70/72 (Slg. 1973, 841 ff.) dahin geäußert, daß die Kommission diesem Erfordernis Genüge tun könne, wenn sie bestimme, daß die Beihilfe „unverzüglich“ aufzuheben oder umzugestalten sei.

Nach Artikel 93 Absatz 3 darf ein Mitgliedstaat eine neue Beihilfe nicht einführen (noch eine bestehende umgestalten), ohne die Kommission zuerst über seine Pläne zu unterrichten und ihr ausreichend Zeit für die Entscheidung zu geben, ob eine solche Beihilfe prima facie im Hinblick auf Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar wäre oder nicht. Kommt die Kommission nach dieser Vorprüfung zu dem Schluß, daß die Beihilfe (oder die Umgestaltung) prima facie mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar wäre, so steht es dem Mitgliedstaat frei, sie einzuführen (was auch der Fall ist, wenn es die Kommission unterläßt, ihre Meinung innerhalb einer angemessenen Frist zu äußern). Gelangt die Kommission dagegen zu der entgegengesetzten Auffassung, so hat sie das nach Artikel 93 Absatz 2 vorgesehene Verfahren einzuleiten, das eine Anhörung der„Beteiligten“, insbesondere der übrigen Mitgliedstaaten einschließt. In diesem Falle bliebt das Verbot der Einführung (oder Umgestaltung) der Beihilfe bestehen, bis das Verfahren in eine abschließende Entscheidung eingemündet hat. Die Entscheidung kann entweder die Einführung (oder Umgestaltung) der Beihilfe — mit oder ohne Einschränkungen — gestatten oder sie gänzlich untersagen.

Die Bestimmungen der Artikel 92 und 93 haben keine unmittelbare Wirkung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, doch gibt es drei Ausnahmen: Erstens verleiht eine nach Artikel 93 Absatz 2 getroffene Entscheidung der Kommission dem Artikel 92 Absatz 1 unmittelbare Wirkung hinsichtlich des Gegenstandes dieser Entscheidung. Zweitens kann eine nach Artikel 94 erlassene Verordnung zu einem ähnlichen Ergebnis führen. (Zu diesen beiden Ausnahmen verweise ich auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 77/72 (Carmine Capolongo/Azienda Agricola Maya — Slg. 1973, 621 f.)). Drittens hat das in Artikel 93 Absatz 3 niedergelegte Verbot der Einführung einer neuen Beihilfe ohne Unterrichtung der Kommission und ohne deren Zustimmung unmittelbare Wirkung (hierzu sei verwiesen auf die Urteile des Gerichtshofes in der Rechtssache 6/64 — Slg. 1964, 1273, sowie in den Rechtssachen 120 bis 122 und 141/73). So heißt es in dem Urteil in der Rechtssache 120/73 (Nr. 8):

„Von dieser unmittelbaren Verbotswirkung betroffen ist jede Beihilfemaßnahme, die durchgeführt wird, ohne daß sie angezeigt ist, oder die im Falle der Anzeige während der Vorprüfungsphase oder — falls die Kommission ein förmliches Verfahren einleitet — vor Erlaß der abschließenden Entscheidung durchgeführt wird.“

Bis heute hatte der Gerichtshof noch nie zu entscheiden, welches Verfahren die Kommission zu wählen hat, falls ein Mitgliedstaat unter Verletzung des Artikels 93 Absatz 3 eine neue Beihilfe einführt (oder eine bestehende umgestaltet), ohne die Kommission zuvor von seinem Vorhaben zu unterrichten oder das Ergebnis der Prüfung abzuwarten, die die Kommission zu diesem Vorhaben anstellt. In der Rechtssache 6/64 (Slg. 1964, 1296 f.) erwog Generalanwalt Lagrange jedoch, daß die Kommission in einem solchen Falle richtigerweise nach Artikel 169 vorzugehen habe. Ihm pflichte ich, meine Herren Richter, mit Respekt bei.

Es scheint mir, daß das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 in einem solchen Falle unanwendbar ist. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Artikels 93 paßt es nur in den drei nachstehenden Fallgestaltungen:

1.

Wenn es um die Frage geht, ob eine bestehende Beihilfe im Hinblick auf Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist oder nicht.

2.

Wenn es um die Frage geht, ob eine bestehende Beihilfe „mißbraucht“ wird oder nicht.

3.

Schließlich, wenn es um die Frage geht, ob eine beabsichtigte neue Beihilfe oder die Umgestaltung einer bestehenden Beihilfe, von deren Vorhaben die Kommission unterrichtet wurde und hinsichdich derer sie prima facie zu der Auffassung gelangte, daß sie im Hinblick auf Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar wäre, in der Tat mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar oder nicht vereinbar ist.

Ich kann keine Gründe dafür erkennen, weshalb Artikel 93 implizieren sollte, daß das Verfahren auch dann in Betracht kommt, wenn die Frage gestellt wird, ob ein Mitgliedstaat unter Verletzung des in Absatz 3 niedergelegten Verbotes eine Beihilfe eingeführt oder umgestaltet hat. In einem solchen Falle dürfte, wenn überhaupt, normalerweise darüber gestritten werden, ob die von dem Mitgliedstaat getroffene Maßnahme in Wahrheit eine Beihilfe ist. Dagegen wird es kaum um die schwierigere Frage gehen, ob in diesem Falle eine solche Beihilfe im Hinblick auf Artikel 92 mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist.

Nicht als wäre das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 rascher und geschmeidiger als das des Artikels 169. Es ist vielmehr umständlicher, da sich die Kommission nach Artikel 93 Absatz 2 mit allen „Beteiligten“ ins Benehmen setzen muß, ehe sie zu ihrer Entscheidung kommt, während sie nach Artikel 169 vor Abgabe ihrer Stellungnahme lediglich die Äußerungen des betroffenen Mitgliedstaats in Betracht zu ziehen hat. Ferner stehen der Kommission gemäß Artikel 169 die gleichen Rechtsbehelfe zu Gebote wie im Falle des Artikels 93 Absatz 2 — ich verweise auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 70/72 (Slg. 1973, 829).

Ich wende mich nun dem Sachverhalt dieses Falles zu.

Im Einklang zu Artikel 93 Absatz 3 Satz 1 übersandte die italienische Regierung der Kommission am 24. April 1969 den Entwurf eines Gesetzes zur „Umstrukturierung, Reorganisation und Umstellung“ der italienischen Textilindustrie. Die Kommission leitete am 3. Dezember 1969 hinsichtlich des gesamten Gesetzes das in Artikel 93 Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Da sie der Auffassung war, nicht alle Angaben erhalten zu haben, die sie benötigt hätte, um zu einer umfassenden Entscheidung über die Bestimmungen des Gesetzentwurfes zu gelangen, erließ die Kommission am 27. Mai 1970 eine Teilentscheidung, die Italien verpflichtete, bestimmte Vorschriften des Gesetzentwurfes abzuändern, bei denen die Kommission schon damals zu der Schlußfolgerung gelangt war, daß sie mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar seien.

Italien kam dieser Entscheidung nach. Als jedoch der Entwurf als Gesetz Nr. 1101 vom 1. Dezember 1971 in Kraft trat, enthielt dieses in Artikel 20 eine Bestimmung, die in dem der Kommission übersandten Gesetzentwurf gefehlt hatte und ohne vorherige Unterrichtung der Kommission eingefügt worden war. Diese Bestimmung gewährte Unternehmen der Textilindustrie eine Verringerung der Sozialabgaben für Familienzulagen während eines Zeitraums von 3 Jahren um 10 % bis 15 % des entsprechenden Beitragssatzes. Diese Ermäßigung entsprach damals schätzungsweise 0,8 % des Umsatzes jener Industrie. Am 25. Juli 1973 erließ die Kommission unter Berufung auf Artikel 93 Absatz 2 eine Entscheidung, mit der der Italienischen Republik aufgegeben wurde, „die Bestimmungen über die vorliegende und teilweise Befreiung von Soziallasten für Familienabgaben, die in Artikel 20 … vorgesehen sind, auf[zuheben]“ (ABl. L 254 vom 11. 9. 1973, S. 14). Die Italienische Republik beantragt, diese Entscheidung nach Artikel 173 und 174 des Vertrages für nichtig zu erklären.

Es kann, meine Herren Richter, kein Zweifel daran bestehen, daß, falls die der italienischen Textilindustrie durch Artikel 20 gewährte Unterstützung eine Beihilfe innerhalb des Bedeutungsrahmens dieses Begriffes in den Artikeln 92 und 93 war (was die Italienische Republik bestreitet), sie unter Verletzung des in Artikel 93 Absatz 3 enthaltenen Verbots eingeführt wurde: Wenn also meine soeben dargestellte Auffassung zutreffend ist, so war der von der Kommission richtigerweise einzuschlagende Weg der, nach Artikel 169 vorzugehen, und sie war nicht befugt, im Wege einer nach Artikel 93 Absatz 2 zu treffenden Entscheidung tätig zu werden.

Sie werden sich daran erinnern, meine Herren Richter, daß ich den Bevollmächtigten der Kommission in der mündlichen Verhandlung auf diesen Punkt hinwies. Seine Antwort ging im wesentlichen dahin, daß das vorliegende Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 hinsichtlich des gesamten Gesetzentwurfes bereits eingeleitet gewesen sei, so daß es angemessener erschienen sei, dieses Verfahren bis zu einer Entscheidung über die materielle Frage fortzusetzen, ob die in Artikel 20 gewährte Unterstützung mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar war, als sich mit der mehr formellen Frage zu befassen, ob sie rechtsgültig eingeführt worden war. Er vertrat die Auffassung, der Kommission habe in dieser Angelegenheit eine Wahlmöglichkeit offengestanden. Dem war, so glaube ich, meine Herren Richter, nicht so. Zunächst war hinsichtlich der fraglichen Beihilfe kein Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 rechtsgültig eingeleitet worden: Unter den gegebenen Umständen war dies auch nicht möglich. Sich der für die Kommission vorgetragenen Auffassung anzuschließen, würde zweitens bedeuten, daß man einem Mitgliedstaat gestattete, der Kommission ein Schnippchen zu schlagen: d. h. (wenn ich den bildlichen Ausdruck abwandeln darf), er könnte die Erfordernisse des Artikels 93 Absatz 3 umgehen und die Frage der Vereinbarkeit der neuen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt erst nach deren Einführung beurteilen lassen. Dies bedeutet nichts weniger, als einen Mitgliedstaat, der Artikel 93 Absatz 3 verletzt, in eine günstigere Lage zu versetzen als einen Staat, der sich an dessen Bestimmungen hält. Darauf zu bestehen, daß von dem Verfahren des Artikels 169 in einem solchen Falle Gebrauch gemacht wird, bedeutet andererseits, daß von dem Vertragsbrüchigen Mitgliedstaat verlangt werden kann, die neue Beihilfe aus dem bloßen Grunde aufzuheben, daß sie rechtsungültig eingeführt wurde, und daß er gezwungen werden kann, den Bestimmungen des Artikels 93 Absatz 3 nachzukommen, falls er die Neueinführung der Beihilfe wünscht.

Ich bin deshalb der Auffassung, daß die Entscheidung der Kommission für nichtig erklärt werden sollte. Zu dieser Schlußfolgerung gelange ich mit einem geringeren Maß an Bedauern, als es sonst der Fall gewesen wäre, weil den im Namen der Italienischen Republik gegebenen schriftlichen Antworten auf bestimmte, vom Gerichtshof gestellte Fragen — diese Antworten wurden in der mündlichen Verhandlung nochmals wiederholt — zu entnehmen ist, daß Artikel 20 am 1. Januar dieses Jahres außer Kraft getreten ist. Mit Wirkung von jenem Tage wurden durch Gesetz neue Beitragssätze für den zur Finanzierung der italienischen Familienzulagen dienenden Fonds eingeführt, die von 3,5 % für bestimmte landwirtschaftliche Arbeitgeber bis zu 7,5 % für die Allgemeinheit der industriellen Arbeitgeber reichten, während für bestimmte andere besondere Arbeitgebergruppen mittlere Sätze vorgesehen waren. Dieses Gesetz sah einen besonderen Beitragssatz von 4,85 % für Arbeitgeber in der Textilindustrie vor, der bis zum Ablauf der in Artikel 20 festgesetzten Dreijahresfrist anwendbar sein sollte. Natürlich ist es Sache der Kommission zu erwägen, ob bei dieser neuen Sachlage ein erneutes Tätigwerden ihrerseits geboten ist.

Im Hinblick auf die Schlußfolgerung, zu der ich gelangt bin, werde ich wohl die für die Italienische Republik vorgetragenen Argumente recht knapp abhandeln können. Sie gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste ist eine Gruppe von drei Argumenten formaler Art, die zweite betrifft Argumente, die zeigen sollen, daß die fragliche Unterstützung keine Beihilfe der in Artikel 92 Absatz 1 bezeichneten Art war.

Das erste Argument formaler Natur geht dahin, die Entscheidung der Kommission hätte in der Weise abgefaßt werden müssen, daß Italien eine Verpflichtung auferlegt worden wäre, stattdessen aber habe sie durch ihre Formulierung den Eindruck hervorgerufen, innerhalb der italienischen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung zu entfalten.

Nach meiner Auffassung ist dieses Vorbringen unzutreffend. Wie bereits erwähnt, kann eine von der Kommission nach Artikel 93 Absatz 2 erlassene Entscheidung dem Artikel 92 Absatz 1 hinsichtlich der Beihilfe oder der geplanten Beihilfe, auf die sie sich bezieht, unmittelbare Wirkung verleihen. Auf jeden Fall besagt die Entscheidung tatsächlich, so meine ich, daß sie Italien eine Verpflichtung auferlegte. Sie sah in Artikel 1 vor, daß die Italienische Republik die Bestimmungen über die vorübergehende und teilweise Befreiung von den Soziallasten für Familienabgaben, die in Artikel 20 vorgesehen waren, „aufhebt“ (in der allein authentischen italienischen Fassung:„sopprime“). Artikel 2 bestimmte:

„Diese Entscheidung ist an die Italienische Republik gerichtet.“ Der Prozeßbevollmächtigte der Italienischen Republik räumte in der mündlichen Verhandlung ein, daß die Indikativform des Präsens in der italienischen Gesetzgebungssprache dazu benutzt werden könne, eine Verpflichtung aufzuerlegen.

Die Entscheidung konnte zwar (falls sie gültig war) der Vorschrift des italienischen Rechts, gegen die sie gerichtet war, im Range vorgehen, diese aber nicht von sich aus außer Kraft setzen. So verpflichtete sie ihrem Wortlaut zufolge die Italienische Republik, sie außer Kraft zu setzen.

Die Italienische Republik macht zweitens geltend, die Entscheidung sei nichtig, weil sie keine Frist festgesetzt habe, binnen welcher ihr hätte Folge geleistet werden müssen, wie dies Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 1 verlange. Ich bin der Auffassung, meine Herren Richter, daß dieses Erfordernis schon seinem Wesen nach nur für eine Entscheidung gelten kann, die die Aufhebung oder Umgestaltung einer rechtmäßig eingeführten bestehenden Beihilfe aufgibt. Da hier die fragliche Unterstützung keine solche Beihilfe war, vielmehr, wenn überhaupt eine Beihilfe im Sinne des Artikels 92 Absatz 1, eine rechtswidrig eingeführte Beihilfe, war sie nach Gemeinschaftsrecht von Anfang an ungültig, und die Frage nach einer Frist für ihre Aufhebung konnte nicht auftauchen.

Ich möchte dem hinzufügen, daß sich meiner Ansicht nach die Frage der Festsetzung einer Frist bei Kommissionsentscheidungen nicht stellen kann, die die Einführung einer geplanten neuen Beihilfe oder die Billigung der geplanten Umgestaltung einer bestehenden Beihilfe, wovon die Kommission gemäß Artikel 93 Absatz 3 ordnungsgemäß unterrichtet worden war, ausschließen.

Die dritte Rüge der Italienischen Republik stützt sich darauf, das Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Auf Einzelheiten hierzu ist sie jedoch in ihren Schriftsätzen nicht eingegangen.

In ihren schriftlichen Antworten auf die vom Gerichtshof gestellten Fragen hat sie beantragt, der Kommission aufzugeben, den Wortlaut der von den übrigen Mitgliedstaaten und allen sonstigen Beteiligten eingereichten Stellungnahmen vorzulegen. Dieser Antrag ist in der mündlichen Verhandlung wiederholt worden, als zum ersten Mal deutlich wurde, daß dem Zweifel darüber zugrunde lagen, ob bestimmte betroffene italienische Wirtschaftsverbände gehört worden waren. Hierauf hat die Kommission versichert, daß dies getan worden sei. Meine Herren Richter, dies kann dahinstehen, ich halte es für zweifelsfrei, daß nach den Verfahrensvorschriften des Gerichtshofes ein Antrag auf Vorlage von Schriftstücken in den Schriftsätzen gestellt werden muß und nach Abschluß des schriftlichen Verfahrens unzulässig ist. Er mag ausnahmsweise in Beantwortung von Fragen des Gerichtshofes gestellt werden können, aber dann auch nur, wenn er im Zusammenhang mit diesen Fragen steht, was hier nicht der Fall war.

Die für die Italienische Republik vorgetragenen übrigen Argumente sprechen für die Entscheidung der Kommission.

Italien behauptet in erster Linie, der Grund für den Erlaß des Artikels 20 sei gewesen, daß die italienische Textilindustrie durch die Belastungen für soziale Sicherheit unbillig benachteiligt werde. Die Belastungen hätten die Besonderheiten dieser Industrie nicht berücksichtigt, insbesondere nicht ihren hohen Anteil an weiblichen Beschäftigten. Dies habe bewirkt, daß die von dieser Industrie aufzubringenden Beiträge für soziale Sicherheit die Vergünstigungen bei weitem überstiegen, welche ihre Beschäftigten erhalten könnten. Der Zweck des Artikels 20 sei es gewesen, das Ungleichgewicht zwischen der von der Textilindustrie so zu tragenden Belastung und der anderer Sektoren der italienischen Industrie zu verringern.

Hierauf wurden zwei Thesen gestützt.

Die erste besagt, daß Artikel 20 eine Änderung des italienischen Steuersystems dargestellt habe, die, wie die Erfahrung gezeigt habej geboten gewesen sei. Als solche habe sie außerhalb des Anwendungsbereichs der Artikel 92 bis 94 des Vertrages gelegen und zu dem Regelungsgegenstand der Artikel 95 bis 99 gehört, die Steuervorschriften behandeln. Es wurde argumentiert, die Mitgliedstaaten seien abgesehen von diesen Vorschriften frei, ihre Steuersysteme nach ihrer Wahl zu gestalten. Freilich, und Italien räumt dies ein, bleibt eine Beihilfe dennoch eine Beihilfe, auch wenn sie in die Form einer Steuerbefreiung gekleidet ist. Dies ist schon dem Wortlaut des Artikels 92 Absatz 1 klar zu entnehmen, der auf „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte. Beihilfen, gleich welcher Art,“ abstellt, und wird durch die Rechtssache 70/72 recht gut veranschaulicht,, auf die ich bereits Bezug genommen habe. Italien trägt vor, es müsse unterschieden werden zwischen einer selektiven Maßnahme, die eine Befreiung oder Entlastung von dieser oder jener Steuerlast vorsehe, und einer Maßnahme, die das allgemeine Steuersystem eines Mitgliedstaats ergänzen und einen Teil desselben bilden solle.

Die zweite These Italiens geht dahin, Artikel 20 sei deshalb nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 92 gefallen, weil er zu keiner, wie es in Artikel 92 Absatz 1 wörtlich heiße, „Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige“ geführt habe. Er habe die Textilindustrie nicht begünstigt, jedoch ein besonderes Hemmnis teilweise beseitigt, unter dem diese Industrie gelitten habe, und dadurch faire Wettbewerbsbedingungen teilweise wiederhergestellt.

Meine Herren, wie die Kommission betont hat, leiden zahlreiche Industrien in vielen Mitgliedstaaten unter besonderen Benachteiligungen der einen oder anderen Art. Würden Maßnahmen, die zur Linderung dieser Benachteiligungen getroffen wurden, nicht als Beihilfen betrachtet, so bestünde Artikel 92 bald aus toten Buchstaben. Eine aligemeine Reform des Sozialversicherungssystems in einem Mitgliedstaat mit dem Nebeneffekt einer Senkung des Satzes der Arbeitgeberbeiträge mag als solche äußerhalb des Regelungsbereichs jenes Artikels liegen. Die hier strittige Maßnahme war jedoch keine solche Reform, auch kein Teil einer solchen. Sie war auf die besondere Lage eines speziellen Industriezweiges zugeschnitten. Sie wurde für einen begrenzten Zeitraum von drei Jahren als Teil eines Gesetzes zur „Umstrukturierung, Reorganisation und Umstellung“ jener Industrie erlassen. Sie war auch nicht auf irgendein allgemeines Kriterium gestützt, das auf den prozentualen Anteil der weiblichen Arbeitnehmer in verschiedenen Industriezweigen abstellte. In der mündlichen Verhandlung trug Italien vor, auch andere Industrien, insbesondere die der Elektronikbranche, wiesen einen hohen Prozentsatz an weiblichen Arbeitskräften auf, jedoch sei für sie eine entsprechende Bestimmung nicht getroffen worden. Schon die Selektivität der Maßnahme allein zeigt meiner Auffassung nach, daß sie eine Beihilfe darstellte und auch als eine solche gedacht war.

In seiner Replik hat Italien noch ein neues Argument eingeführt: daß nämlich die Verringerung der Beiträge für Familienzulagen vorliegend keine „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe“ im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 gewesen sei, da die Kosten auf die Arbeitslosenversicherung überwälzt worden seien, zu der ausschließlich Arbeitgeber Beiträge entrichteten. Der Ausdruck „staatliche Mittel“ in Artikel 92 Absatz 1 meint aber sicherlich sämtliche öffentlichen Geldmittel, ungeachtet ihrer Quelle und ihrer Zweckbestimmung.

Italien greift schließlich die Entscheidung der Kommission mit der Begründung an, sie habe nicht angemessen dargetan, daß die fragliche Maßnahme, die sie als „Beihilfe“ im Sinne des Artikels 92 Absatz 1 eingestuft habe, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtige“ und „den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe“.

Insoweit hat die Kommission in ihrer Entscheidung festgestellt, daß „diese Beihilfe … geeignet [ist], den Wettbewerb und den Handelsaustausch direkt zu beeinträchtigen, da sie sich unmittelbar auf die Gestehungspreise und damit auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auswirkt“, und daß „es wegen des äußerst lebhaften Wettbewerbs und des Umfangs des Handels in der Gemeinschaft, wie auch wegen der Anpassungsschwierigkeiten, mit denen die Textilindustrie in allen Ländern zu kämpfen hat, nicht möglich ist, eine derartige Beihilfe zu dulden“.

Italien behauptet, in einem Falle wie dem vorliegenden sei es nicht damit getan, daß die Kommission das Wesen einer Beihilfe und ihre möglichen Auswirkungen abstrakt betrachte. Die Kommission müsse aufgrund handfester Beweise feststellen, daß ein tatsächlicher, spezifischer Eingriff in den Wettbewerb im Handel zwischen Mitgliedstaaten vorliege.

Meine Herren Richter, ich bin der Auffassung, daß die Entscheidung der Kommission auf zureichende Gründe gestützt war. Wir bewegen uns hier in einem Bereich, in dem die Schwierigkeiten eines positiven Beweises oftmals unüberwindlich sein dürften. Sobald aber einmal feststeht, daß die Gewährung einer Beihilfe an einen Industriezweig in einem Mitgliedstaat ganz natürlich dazu führen muß, die Wettbewerbsfähigkeit jener Industrie gegenüber ihren Konkurrenten in anderen Mitgliedstaaten zu erhöhen, kann meines Erachtens durchaus gefolgert werden, daß die Beihilfe den Wettbewerb verfälscht und den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt (oder solche Auswirkungen hätte, wenn sie eingeführt würde).

Nach allem beantrage ich, die Entscheidung der Kommission für nichtig zu erklären, von einer Entscheidung über die Kosten dieses Verfahrens jedoch abzusehen.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.