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STELLUNGNAHME
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
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Europäischer Behindertenausweis und Parkausweis für Menschen mit Behinderungen
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Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung
des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Parkausweises für Menschen mit Behinderungen
(COM(2023) 512 final - 2023/0311 (COD))
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SOC/785
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Hauptberichterstatter: Ioannis VARDAKASTANIS
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Befassung
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Rat, 28/09/2023
Europäisches Parlament, 19/10/2023
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Rechtsgrundlage
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Artikel 91 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
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Zuständiges Arbeitsorgan
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Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft
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Verabschiedung im Plenum
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14/12/2023
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Plenartagung Nr.
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583
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Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)
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203/0/1
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1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Parkausweises für Menschen mit Behinderungen. Er ist ein erster Schritt in Richtung auf die Freizügigkeit für Menschen mit Behinderungen in der EU und folgt der in der Stellungnahme SOC/765 am 27. April 2023 ausgesprochenen Empfehlung des EWSA.
1.2Der EWSA begrüßt ferner den gesonderten Vorschlag der Kommission COM(2023) 698 final zur „Ausweitung der Richtlinie [XXXX] auf Drittstaatsangehörige mit rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat“. Dieser ist notwendig, um sicherzustellen, dass Anspruchsberechtige den Europäischen Behindertenausweis und den Europäischen Parkausweis auch tatsächlich bekommen können.
1.3Der EWSA empfiehlt, den Anwendungsbereich des Vorschlags auszudehnen. Menschen mit Behinderungen, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort zu studieren oder zu arbeiten, sollten durch den Europäischen Behindertenausweis für einen befristeten Zeitraum, zumindest aber bis zum Abschluss der Neueinstufung und Anerkennung ihrer Behinderung öffentliche Sozialleistungen und/oder Leistungen aus den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit erhalten können. Dies ist notwendig, weil Ansprüche, die auf dem Behindertenstatus beruhen, in einem anderen Mitgliedstaat keine Geltung haben. Die Neubewertung einer Behinderung im neuen Mitgliedstaat kann dann über ein Jahr in Anspruch nehmen. In diesem Übergangszeitraum wird den Betreffenden jegliche Anerkennung oder Unterstützung verwehrt (Artikel 2 Absatz 2).
1.4Der EWSA fordert, dass die kostenlose Abgabe und die Freiwilligkeit in Bezug auf den Behindertenausweis im Gesetz eindeutig festgelegt wird. Der Ausweis sollte nicht automatisch ausgestellt werden, wenn der Betreffende ihn nicht beantragt hat oder wenn der Europäische Behindertenausweis etwa mit dem nationalen Behindertenausweis kombiniert ist, der aufgrund einer nationalen Bewertung des Behindertenstatus ausgestellt wird. Er muss außerdem kostenlos sein, damit die Kosten kein zusätzliches Hindernis für die Beantragung des Ausweises darstellen.
1.5Weiterhin sollte nicht vorgeschrieben werden, dass der Behindertenausweis zum Nachweis einer Behinderung vorgelegt werden muss, wenn Dienstleistungen im Rahmen anderer EU-Rechtsvorschriften in Anspruch genommen werden (wie z. B. das Recht auf Unterstützung auf Flughäfen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität). Der Zwang zur Vorlage eines Ausweises zur Inanspruchnahme dieser Rechte könnte stigmatisierend wirken und zudem Personen, die diesen Behindertenausweis nicht haben, auf Flughäfen von der benötigten Unterstützung ausschließen.
1.6Der EWSA empfiehlt, den Europäischen Parkausweis durch eine separate Datenbank in allen Amtssprachen der EU zu ergänzen, in der Informationen über lokale, regionale oder nationale Parkvorschriften, -bedingungen und -flächen gespeichert werden. Die Mitgliedstaaten unterstützen und ermutigen die nationalen Behörden, die einschlägigen Informationen für Nutzer zu hinterlegen und zu aktualisieren (Artikel 7).
1.7Darüber hinaus muss der Europäische Parkausweis in Anlehnung an den Europäischen Behindertenausweis den Vermerk „Europäischer Parkausweis“ in Braille-Schrift unter Verwendung der Abmessungen des Marburger Codes tragen. Blinden und sehbehinderten Nutzern wird dadurch die Unterscheidung und die Wiedererkennung des Ausweises erleichtert (Anhang II).
1.8Der EWSA schlägt vor, dass zum Europäischen Behindertenausweis eine vollständig barrierefreie europäische Website in verständlicher Sprache und Gebärdensprache eingerichtet wird, die in allen EU-Amtssprachen verfügbar ist und praktische Informationen zu jedem Land enthält. Sie muss Informationen über die Bedingungen und Vorschriften, Praktiken und Verfahren für die Ausstellung, Verlängerung oder den Entzug des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Parkausweises für Menschen mit Behinderungen sowie Informationen über die in Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 9 genannten Dienstleistungen bereitstellen.
1.9Der EWSA fordert, dass die EU in der Richtlinie auch verpflichtet wird, EU-weite und nationale Sensibilisierungskampagnen in allen Amtssprachen der EU zu koordinieren, die an die breite Öffentlichkeit, potenzielle Ausweisnutzer und Dienstleister gerichtet sind (Artikel 9).
1.10Der EWSA empfiehlt der Kommission, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten angemessene Mittel erhalten, um die Kosten für die Verwaltung, die Ausweisausstellung, die Bereitstellung von Informationen, Sensibilisierungskampagnen und andere einschlägigen Kosten zu decken, damit Umsetzung und Anwendung erleichtert werden. Dies sollte von der Kommission bei der Ausarbeitung des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) berücksichtigt werden (Artikel 9).
1.11Der EWSA betont, dass die Einführung des Europäischen Behindertenausweises durch europäische und einzelstaatliche Maßnahmen flankiert werden sollte, welche die allgemeine Barrierefreiheit der baulichen Umwelt sowie von Verkehrsmitteln, Dienstleistungen und Gütern gemäß der Richtlinie (EU) 2019/882, der Richtlinie (EU) 2016/2102, den Vorschriften über Barrierefreiheitsanforderungen bei Verkehrsmitteln und den einschlägigen Barrierefreiheitsstandards verbessern.
1.12Der EWSA betont, dass die EU-Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung sowie bei der nachfolgenden Evaluierung des Europäischen Behindertenausweises eng mit Menschen mit Behinderungen sowie ihren europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Vertretungsorganisationen zusammenarbeiten sollten. Diese Organisationen müssen sinnvoll einbezogen werden. Dies bedeutet, dass sie die erforderlichen Ressourcen und Informationen in zugänglichen Formaten bekommen müssen, damit eine echte Beteiligung möglich ist (Artikel 11 und Artikel 12).
2.Allgemeine Bemerkungen
2.1Eingangs sei festgestellt, dass der Europäische Behindertenausweis und der Europäische Parkausweis nicht alle Probleme im Zusammenhang mit der Freizügigkeit behinderter Menschen lösen werden. Im Wesentlichen sorgt der Behindertenausweis für die gegenseitige Anerkennung des Behindertenstatus in Bezug auf alle Dienstleistungen, Einrichtungen und Aktivitäten bei Kurzaufenthalten in anderen Mitgliedstaaten der EU. Ein erhebliches Hemmnis für die Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen wird jedoch nicht ausgeräumt: der fehlende Sozialschutz, der einen dauerhaften Umzug in einen anderen Mitgliedstaat erschwert. Der Vorschlag der Kommission ist deshalb ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings bleibt er etwas hinter seinem Ziel zurück, die Hindernisse für die Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen auszuräumen.
2.2Dessen ungeachtet begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission und dass er auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung des Behindertenstatus zwischen den Mitgliedstaaten beruht, um die Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen in der EU zu erleichtern. Der Grundsatz gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen bei Aufenthalten in einem anderen Mitgliedstaat dieselben Vorteile in Anspruch nehmen können wie die in diesem Staat beheimateten Ausweisinhaber.
2.3Dieser Grundsatz würde außerdem sicherstellen, dass Menschen mit unsichtbaren Behinderungen in der EU freier reisen und sich dort bewegen können, ohne die Besonderheiten ihrer Behinderung erklären oder sich rechtfertigen zu müssen, warum sie Sonderkonditionen oder Vorzugsbehandlungen in Anspruch nehmen wollen.
2.4Erfreulich ist auch, dass der Vorschlag in Form einer Richtlinie vorgelegt wurde, die eine verbindliche Rechtsvorschrift ist und die Umsetzung in nationales Recht gewährleistet.
2.5Der breite Geltungsbereich wird dadurch gewährleistet, dass auf alle Dienste, die von Inhabern eines nationalen Behindertenausweises in Anspruch genommen werden können, abgestellt wird, anstatt eine begrenzte Liste von Diensten vorzugeben, wie dies im Pilotprojekt der Kommission der Fall war. Dieser Geltungsbereich sollte in den kommenden interinstitutionellen Verhandlungen erweitert oder zumindest beibehalten werden (siehe Ziffer 1.3).
2.6Der EWSA begrüßt ferner, dass der Behindertenausweis und der Parkausweis getrennte Ausweise bleiben, auch wenn sie in einem gemeinsamen Vorschlag behandelt werden.
2.7Der Europäische Behindertenausweis muss die Privatsphäre des Ausweisinhabers schützen und darf nicht im Detail über die Art der Behinderung oder deren Grad informieren. Er muss voll und ganz der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)
entsprechen und die personenbezogenen Daten der Nutzer schützen, da der Ausweisinhaber keine personenbezogenen Daten, insbesondere in Bezug auf die Anerkennung seiner Behinderung sowie Gesundheitsinformationen, preisgeben muss, um die mit dem Ausweis einhergehenden Dienstleistungen und Vorteile zu nutzen.
2.8Der Europäische Behindertenausweis kann nationale Behindertenausweise ergänzen oder vollständig ersetzen, sofern die Mitgliedstaaten dies wünschen.
2.9Der Europäische Behindertenausweis wird die Zusammenarbeit zwischen einzelstaatlichen Behörden und staatlichen Agenturen mit dem Ziel stärken, das Bewusstsein für Behindertenbelange zu schärfen. Darüber hinaus wird die Erbringung von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen aus Mitgliedstaaten, die nicht über einen nationalen Behindertenausweis verfügen, erleichtert, da der Ausweis auch national als Nachweis einer Behinderung verwendet werden kann.
3.Besondere Bemerkungen
3.1Nach Einschätzung des EWSA kann der Behindertenausweis in der Form des jetzigen Vorschlags der Kommission möglicherweise zu Fällen umgekehrter Diskriminierung führen, da die Bewertung von Behinderungen und die Kriterien für die Ausstellung des Behindertenausweises nicht harmonisiert sind. Beispielsweise könnte der Fall eintreten, dass zwei Personen mit derselben Behinderung aus zwei verschiedenen Mitgliedstaaten in einem dritten Mitgliedstaat unterschiedlich behandelt werden. Aufgrund der nationalen Bewertungs- und Ausstellungskriterien könnte eine Person möglicherweise den Behindertenausweis erhalten haben, die andere jedoch nicht. Das Problem liegt indes nicht beim Kommissionsvorschlag, sondern beim Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung des Behindertenstatus, der hier an seine Grenzen stößt.
3.2Dieser Schwachpunkt bedeutet derzeit nicht, dass die Mitgliedstaaten dieselben Modelle zur Bewertung von Behinderungen anwenden müssen. Allerdings dürften sich die Mitgliedstaaten veranlasst sehen, ihre derzeitigen Systeme vor allem in medizinischer Hinsicht auf eine tragfähigere Grundlage zu stellen, um dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) besser zu entsprechen. Der Vorschlag schärft auch das Bewusstsein für die potenziellen Vorteile eines europäischen Ansatzes für die Verfahren zur Bewertung von Behinderungen, der der Tatsache Rechnung trägt, dass die Freizügigkeit erleichtert werden muss.
3.3Gleiches gilt auch für die Übertragbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit. Obwohl die Europäische Kommission diese ausdrücklich von ihrem Vorschlag ausgeschlossen hat, empfiehlt der EWSA, in den konkreten Fällen, in denen Menschen zwecks Arbeit oder Studium umziehen, etwas flexibler zu sein. Langfristig müssen konkretere Lösungen für dieses Problem gefunden werden, da die mangelnde Übertragbarkeit von Ansprüchen im Zusammenhang mit Behinderungen nach wie vor eines der Haupthindernisse für die Freizügigkeit ist und durch den Behindertenausweis oder den Parkausweis nicht ausgeräumt wird. Dieser Punkt muss bei der Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit oder in einem gesonderten Legislativvorschlag behandelt werden.
Brüssel, den 14. Dezember 2023
Oliver RÖPKE
Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
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