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SOC/768

EU-Rahmen für nationale Strategien zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit

STELLUNGNAHME

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

EU-Rahmen für nationale Strategien zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf der Grundlage des Grundsatzes „Housing First“

(Initiativstellungnahme)

Kontakt

SOC@eesc.europa.eu

Verwaltungsrat

Bartek BEDNAROWICZ

Datum des Dokuments

23/11/2023

Berichterstatterin: María del Carmen BARRERA CHAMORRO

Ko-Berichterstatter: Ákos TOPOLÁNSZKY

Beschluss des Plenums

23/01/2023

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

21/11/2023

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

83/1/0

Verabschiedung im Plenum

DD/MM/YYYY

Plenartagung Nr.

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

…/…/…



1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Einrichtung der Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit (EPOCH) und die Arbeit der Europäischen Kommission in diesem Bereich. Die Obdachlosigkeit sollte sowohl im Vorfeld der Europawahlen als auch danach eine sozialpolitische Priorität der EU bleiben. Wir müssen davon abkommen, Obdachlosigkeit zu verwalten und stattdessen die Beseitigung der Obdachlosigkeit zu unserem strategischen Ziel machen.

1.2Als einer der Unterzeichner der Erklärung von Lissabon (2021) und als Mitglied des EPOCH‑Lenkungsausschusses ist der EWSA entschlossen, sich aktiv in die EPOCH einzubringen.

1.3Der EWSA ruft dazu auf, eine Obdachlosigkeitsstrategie der EU auszuarbeiten und die EPOCH an dieser Arbeit umfassend zu beteiligen, damit so die jeweiligen nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit im Rahmen des Europäischen Semesters berücksichtigt werden können. Diese Strategie sollte durch eine Empfehlung des Rates zur Obdachlosigkeit untermauert werden. Aus diesem Grund fordert der EWSA den belgischen EU-Ratsvorsitz auf, die Arbeit an einer entsprechenden Empfehlung aufzunehmen.

1.4Darüber hinaus ruft der EWSA die Europäische Kommission dazu auf, in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, den übrigen EU-Organen und den weiteren Interessenträgern so bald wie möglich einen Vorschlag für ein neues mehrjähriges Arbeitsprogramm auszuarbeiten. Das neue Arbeitsprogramm sollte idealerweise die gesamte Mandatsperiode der neuen Europäischen Kommission abdecken. Der EWSA fordert, Menschen, die Obdachlosigkeit unmittelbar erfahren haben, stärker in die Aktivitäten und Leitung der EPOCH einzubinden.

1.5Der EWSA begrüßt die von der Kommission im Rahmen der verschiedenen EPOCH‑Arbeitsschwerpunkte finanzierten Projekte. Da diese Projekte jedoch anlassbezogen und zeitlich begrenzt sind, ist der EWSA der Ansicht, dass die Kommission im Rahmen des EaSI-Programms des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+) für die Leitung und die wiederkehrenden Tätigkeiten der EPOCH strukturell Haushaltsmittel bereitstellen sollte.

1.6Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die EPOCH aktiv für den Grundsatz „Housing First“ als systemische Lösung für langfristige Obdachlosigkeit eintritt. Mit Blick auf eine stärkere Umsetzung des Grundsatzes „Housing First“ schlägt der EWSA ein europäisches Schulungsprogramm vor.

1.7Der EWSA fordert außerdem die Mitgliedstaaten auf, ihren Verpflichtungen aus der Unterzeichnung der Erklärung von Lissabon nachzukommen und auf dem Weg zur Beseitigung der Obdachlosigkeit bis 2030 deutliche Fortschritte zu erzielen. Dafür müssen ehrgeizige, glaubwürdige und erreichbare Etappenziele festgelegt werden.

1.8Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten mit Nachdruck dazu auf, nationale Strategien zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit zu entwickeln, dabei den Grundsatz „Housing First“ zu berücksichtigen und so ihren in der Erklärung von Lissabon abgegebenen Verpflichtungen nachzukommen.

1.9Weiterhin ruft der EWSA die Kommission dazu auf, den Kampf gegen die Obdachlosigkeit in allen entsprechenden Maßnahmen und Strategien der EU fortzuführen, u. a. in der EU-Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter, der EU-Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ‑Personen, im strategischen Rahmen der EU zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma, in der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in der Europäischen Garantie für Kinder, im EU-Aktionsplan für die Sozialwirtschaft, im neuen Migrations- und Asylpaket und im umfassenden Ansatz der EU für die psychische Gesundheit.

1.10Der EWSA fordert ein gezieltes europäisches Vorgehen, um die Verwaltungsbehörden dazu zu animieren und sie darin zu unterstützen, für die Finanzierung von Wohnraum für Obdachlose auf den ESF+ und den EFRE zurückzugreifen.

1.11Der EWSA ist besorgt angesichts der steigenden Zahl von Menschen, die trotz eines Arbeitseinkommens obdachlos sind, und würde eine Untersuchung des Ausmaßes und der Art dieses Problems auf europäischer Ebene begrüßen.

1.12Ebenso ist der EWSA über die wachsende Zahl obdachloser mobiler EU-Bürger besorgt und fordert die Europäische Arbeitsbehörde auf, den Mitgliedstaaten Leitlinien zum Umgang mit diesem Problem an die Hand zu geben.

1.13Der EWSA ist der Ansicht, dass die Agentur für Grundrechte sich des Themas der Obdachlosigkeit als Menschenrechtsfrage annehmen sollte. Im Vordergrund sollten dabei Kriminalisierung und Bestrafung der Obdachlosigkeit und des Lebens auf der Straße stehen.

2.Hintergrund

2.1Wie in der Erklärung von Lissabon zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit hervorgehoben wird, handelt es sich bei Obdachlosigkeit um eine der extremsten Formen der sozialen Ausgrenzung, die sich schädlich auf die körperliche und geistige Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Menschen sowie auf ihren Zugang zu Beschäftigung und zu sozialen und wirtschaftlichen Dienstleistungen auswirkt. 1 Das Problem der Obdachlosigkeit betrifft alle EU‑Mitgliedstaaten und hat sich in den letzten zehn Jahren verschärft.

2.2Nach Schätzungen des europäischen Verbands der nationalen Vereinigungen im Bereich der Obdachlosenhilfe, FEANTSA, und der Fondation Abbé Pierre verbringen in der EU jede Nacht mindestens 895 000 Menschen die Nacht als Obdachlose auf der Straße oder in einer Obdachlosenunterkunft. Die Gesamtzahl der Obdachlosen auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die von Obdachlosigkeit – auch in weniger offensichtlichen Ausprägungen wie dem Couch-Surfen (auch „Sofa-Hopping“ genannt) – betroffen sind, beläuft sich auf mehrere Millionen pro Jahr.

2.3Obdachlosigkeit und Armut sind untrennbar miteinander verbunden: Mit zunehmender Unsicherheit der wirtschaftlichen Verhältnisse steigt auch das Risiko der Obdachlosigkeit. Durch die COVID-19-Pandemie hat das Ausmaß der Obdachlosigkeit in der EU noch weiter zugenommen. Nach Angaben der Caritas ist der Bedarf an Nahrungsmittelhilfe in Westeuropa zwischen März und Mai 2020 um 25–30 % gestiegen. 2 Die Auswirkungen der Pandemie haben junge Menschen besonders hart getroffen. Nach Beginn der Pandemie war in Frankreich jeder fünfte junge Mensch im Alter zwischen 18 und 24 Jahren gezwungen, Nahrungsmittelhilfe in Anspruch zu nehmen, und mehr als jeder Dritte befürchtete, im Jahr 2021 seine Wohnkosten nicht mehr tragen zu können. 3

2.4Verschiedene Bevölkerungsgruppen sind von der gestiegenen Obdachlosigkeit betroffen, u. a. junge Menschen, Frauen und LGBTIQ-Personen. Auch immer mehr Migranten, einschließlich Asylbewerbern und Flüchtlingen, sind unter den Obdachlosen zu finden. Aber auch aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine könnte der Anteil der Flüchtlinge an den Obdachlosen in der EU weiter steigen. Die unverhältnismäßig hohe Anzahl mobiler EU-Bürger, insbesondere von Obdachlosen, die auf der Straße leben, ist eine besorgniserregende Entwicklung im Rahmen der Obdachlosigkeit in der EU.

2.5Durch die EU-weit steigenden Energiepreise und die daraus resultierende grassierende Energiearmut droht sich das Ausmaß der Obdachlosigkeit in der EU noch zu verschärfen. Im Jahr 2019 gaben mehr als 30 Millionen Europäerinnen und Europäer an, dass sie es sich nicht leisten können, ihre Wohnungen angemessen zu heizen. 4 Diese Zahl könnte infolge des bewaffneten Konflikts in der Ukraine weiter steigen. Die steigenden Energiepreise treiben die Mietkosten in die Höhe, was häufig Zwangsräumungen nach sich zieht und letztlich in Obdachlosigkeit münden kann.

2.6Nach Ansicht des EWSA kommt dieses Phänomen nicht von ungefähr, es ist vielmehr das Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Weichenstellungen. 5 Die Wohnungsnot, auch in Bezug auf barrierefreien Wohnraum, ist eine Ursache für Obdachlosigkeit. Fatale Folgen der Obdachlosigkeit können eine geringere Lebenserwartung, gesundheitliche Probleme, Diskriminierung, Isolation und Hindernisse beim Zugang zu grundlegenden öffentlichen Diensten und Sozialleistungen sein. Daher ist es so extrem wichtig, dass die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten als Priorität für ein soziales Europa insbesondere im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte eine umfassende Antwort der Politik findet, die einen strategischen Richtungswechsel beinhaltet, so dass Obdachlosigkeit nicht länger nur verwaltet, sondern beseitigt wird.

2.7Obwohl die entsprechenden Daten vorliegen und das Thema regelmäßig auf der politischen Agenda der EU und verschiedener Mitgliedstaaten auftaucht, findet nach wie vor weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Problem der Obdachlosigkeit statt. Das Fehlen eines tatsächlich globalen Ansatzes und umfassender strategischer Lösungen bedeutet, dass das Problem der Obdachlosigkeit in sämtlichen Mitgliedstaaten nicht nur bestehen bleibt, sondern sich sogar noch verschärft. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sollten daher Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit ergreifen, die auf dem Recht auf erschwinglichen und angemessenen sozialen Wohnraum beruhen. Die einzelnen Staaten müssen ihre politischen Maßnahmen untereinander abstimmen, damit keine Ungleichheiten entstehen, durch die sich die Probleme von einem Mitgliedstaat auf andere verlagern könnten. Der EWSA fordert eine europäische Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit, die eine Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit im Rahmen des Europäischen Semesters ermöglicht. Um geschlossen und koordiniert gegen Obdachlosigkeit vorzugehen, sollte in naher Zukunft eine europäische Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf den Weg gebracht werden, mit dem Ziel, bis 2030 wesentliche Fortschritte bei ihrer Eindämmung zu erzielen und sie schließlich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt endgültig zu beseitigen.

2.8Auf europäischer Ebene sollte auch die Erhebung statistischer Daten zur Unterstützung der politischen Entscheidungsträger vorangebracht werden. Für eine bessere Analyse der Einflussfaktoren und einen systematischen Vergleich sowie eine Überwachung auf EU-Ebene werden zuverlässigere Daten über das facettenreiche Problem der Obdachlosigkeit, einschließlich der Obdachlosigkeit junger Menschen, benötigt. Dies könnte als Teil einer künftigen europäischen Strategie zur Beseitigung der Obdachlosigkeit ein wichtiges Instrument sein.

2.9Der EWSA ist der Ansicht, dass Politik für die Betroffenen gemacht werden muss und sie so zu gestalten ist, dass diese auch mitmachen wollen bzw. können. Nur so kann auch ihre Handlungsfähigkeit gestärkt werden.

3.Allgemeine Bemerkungen

3.1Die Obdachlosigkeit in der EU nimmt besorgniserregend zu und betrifft jedes Jahr Millionen von Menschen. Der Druck auf die Mitgliedstaaten nimmt zu. Das liegt an der Energiekrise, dem Anstieg der Immobilienpreise und den knappen öffentlichen Mittel für den Wohnungsbedarf schutzbedürftiger Gruppen, die auf dem Wohnungsmarkt Ausgrenzung erfahren und mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben, weswegen sie häufiger von Obdachlosigkeit betroffen sind.

3.2Im Juni 2021 rief der portugiesische EU-Ratsvorsitz mit Unterstützung der Kommission die Plattform EPOCH ins Leben. Die Erklärung von Lissabon, die die politische Grundlage für die EPOCH bildet, wurde von allen 27 EU-Mitgliedstaaten, der Kommission, dem Europäischen Parlament, dem EWSA, dem Europäischen Ausschuss der Regionen sowie mehreren europäischen Nichtregierungsorganisationen und weiteren Interessenträgern unterzeichnet. In der Erklärung verpflichten sich die Unterzeichner, in der Frage der Obdachlosigkeit mit Blick auf ihre Beseitigung bis 2030 auf EU-Ebene zusammenzuarbeiten. Die Unterzeichner waren sich einig, dass ein wohnungsorientierter Ansatz der wirksamste Weg zur Bekämpfung und Vermeidung von Obdachlosigkeit ist.

3.3Der EWSA verweist auf die fünf Grundprinzipien der Erklärung von Lissabon und ruft die Mitgliedstaaten auf, sicherzustellen, dass

·niemand gezwungen ist, auf der Straße zu leben, weil es keine zugängliche, sichere und angemessene Notunterkunft gibt;

·niemand länger in Not- oder Übergangsunterkünften leben muss, als es für einen gelungenen Übergang zu einer dauerhaften Wohnmöglichkeit erforderlich ist;

·niemand ohne das Angebot einer angemessenen Unterkunft aus einer Institution/Einrichtung (z. B. Gefängnis, Krankenhaus oder Pflegeeinrichtung) entlassen wird;

·Zwangsräumungen weitestgehend vermieden werden und dass niemand, der Unterstützung bei der Suche nach einer geeigneten Wohnmöglichkeit benötigt, seine Wohnung verlassen muss, ohne diese Unterstützung auch zu bekommen;

·niemand diskriminiert wird, weil er obdachlos ist.

3.4Der EWSA verweist zudem auf die Erklärung von Lissabon, in der gefordert wird, dass nationale, regionale und lokale Behörden die Prävention von Obdachlosigkeit, den Zugang zu dauerhaftem Wohnraum und die Bereitstellung von Unterstützungsdiensten für Obdachlose fördern sollten.

3.5Die zentrale Rolle, die der EPOCH als speziellem europäischen politischen Rahmen für die Fortschritte bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit zukommt, muss gestärkt werden. Sie verfügt nun über eine Leitungsstruktur und ein auf mehrere Jahre angelegtes Arbeitsprogramm. Die drei Arbeitsschwerpunkte der Plattform sind: Datenerhebung und Steuerung/Überwachung des politischen Fortschritts; gegenseitiger Austausch; sowie Zugang zu EU-Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten. Der EWSA begrüßt die koordinierende Rolle der OECD, des Verbands FEANTSA und der Entwicklungsbank des Europarates in den jeweiligen Arbeitsschwerpunkten.

4.Besondere Bemerkungen

Obdachlosigkeit

4.1Obdachlosigkeit ist ein vielschichtiges Phänomen. Auch wenn die Mitgliedstaaten der EU Obdachlosigkeit verschieden definieren, besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass Obdachlosigkeit ein dynamischer Zustand ist, der nicht ausschließlich Menschen betrifft, die auf der Straße leben. Dem wird FEANTSA mit seiner Typologie „European Typology on Homelessness and Housing Exclusion“ [europäische Typologie für Wohnungslosigkeit] (ETHOS) gerecht, die verschiedene Kategorien umfasst: Obdachlose, Menschen in Wohnungsloseneinrichtungen und Frauenhäusern (Not- oder Langzeitunterkünfte), Personen, die sehr unsicher wohnen, wie z. B. Personen, die kurz vor der Entlassung aus einer Institution bzw. Einrichtung stehen und wohnungslos sind, Sofahopper, Personen, die in äußerst ungeeigneten Wohnverhältnissen leben, wie z. B. Personen, die in Häusern leben, die für unbewohnbar erklärt wurden, sowie Personen ohne mietrechtliche Absicherung.

4.2Obdachlose bilden keine homogene Gruppe. Die meisten Obdachlosen sind männlich und mittleren Alters, aber darunter sind auch Frauen, junge Menschen, Familien und Kinder. Dass zunehmend mehr Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten obdachlos sind, ist besorgniserregend. Bestimmte Gruppen sollten besonders berücksichtigt werden, bspw. LGBTIQ-Personen, Menschen mit Behinderungen und ältere Obdachlose. Der EWSA unterstreicht, dass für jede Zielgruppe unter Beteiligung der von Obdachlosigkeit tatsächlich Betroffenen geeignete Maßnahmen entwickelt werden sollten.

4.3In den meisten Mitgliedstaaten und in der EU insgesamt hat die Obdachlosigkeit in den letzten zehn Jahren zugenommen. Schätzungen von FEANTSA zeigen, dass sich die Zahl der Obdachlosen auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften, die nur einen Teil der wohnungslosen Bevölkerung ausmachen, in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt hat. Finnland ist es als einzigem Land gelungen, die Zahl der Obdachlosen in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich zu senken. Auch Dänemark und Österreich konnten den Aufwärtstrend der Obdachlosenzahlen anscheinend umkehren. Es sollte untersucht werden, was diese Länder unternommen haben, um herauszufinden, wie die negative Entwicklung aufgehalten werden konnte, und um nach Möglichkeiten für weitere Verbesserungen zu suchen.

4.4Die Ursachen für Obdachlosigkeit sind vielschichtig und können struktureller, institutioneller oder persönlicher Natur sein. Die Bekämpfung struktureller Ursachen, wie z. B. politisches Versagen, dysfunktionale Wohnungsmärkte, steigende Immobilienpreise, starke Zinsschwankungen bei der Baufinanzierung und eine mangelhafte Migrationspolitik, muss im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit stehen, damit persönliche Ursachen von Obdachlosigkeit, wie z. B. Sucht, psychische Probleme oder das Scheitern einer Beziehung, wirksam angegangen werden können.

4.5In den meisten Ländern wird auf das Problem der Obdachlosigkeit immer noch im Rahmen von Notunterkünften reagiert, anstatt den Versuch zu unternehmen, Obdachlosigkeit durch die Bereitstellung von Wohnraum und ggf. auch von Unterstützung zu verhindern und zu beseitigen. Auch wenn Obdachlosigkeit als gravierende Menschenrechtsverletzung angesehen wird, ist der Menschenrechtsansatz zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit in den meisten Ländern nach wie vor nicht ausreichend entwickelt. Unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte ist das genannte Vorgehen daher kritisch zu sehen, und im Falle von Verstößen sollten die Mitgliedstaaten angehalten werden, ihre Praktiken zu ändern.

4.6Ohne konsequente und gezielte Prävention kann Obdachlosigkeit nicht bekämpft werden. Obdachlosigkeit nimmt ihren Anfang häufig in der Entlassung aus einer Institution bzw. Einrichtung (aus dem Gefängnis, der Psychiatrie oder der Jugendhilfe). Es sollte dafür gesorgt werden, dass niemand aus einer Institution bzw. Einrichtung entlassen wird, dem Wohnungslosigkeit droht. Anstrengungen zur Verhinderung von Zwangsräumungen können ebenfalls wirksam zur Vermeidung von Obdachlosigkeit beitragen. Weitere Punkte, die angegangen werden müssen, sind Zwangsräumungen im Zusammenhang mit „Verdrängungssanierungen“ und Energiearmut. Die Datengrundlage für eine gezielte Prävention ist relativ klein. Es sind weitere Untersuchungen und Erfahrungen erforderlich.

4.7Obwohl die Kriminalisierung und Bestrafung von Obdachlosen, die auf der Straße leben, häufig einer Verletzung der Menschenrechte gleichkommen, sind sie nach wie vor vielerorts üblich. Darüber hinaus werden dadurch die eigentlichen, nicht beseitigten Ursachen der Obdachlosigkeit noch verschärft, indem Menschen in akuter Not dazu gezwungen werden, im Verborgenen zu leben und die Sozialdienste zu meiden. Kriminalisierung und Bestrafung verstoßen nachweislich gegen europäisches Recht und internationale Konventionen, sind nicht wirksam und in der Regel recht kostspielig.

5.Zusätzliche Bemerkungen

„Housing First“

5.1Bei dem Ansatz „Housing First“ wird die Unterbringung in einer Wohnung als zentrales Instrument zur Wiedereingliederung genutzt und nicht als Ergebnis eines Wiedereingliederungsprozesses im Rahmen der Beschaffung einer Unterkunft gesehen. Bei diesem Ansatz wird Obdachlosen als allererstes langfristig eine Wohnung zur Verfügung gestellt, ohne dass dies davon abhängig gemacht wird, dass Unterstützung in Anspruch genommen wird oder Fortschritte in der persönlichen Entwicklung nachgewiesen werden müssen. Die Idee hinter diesem Ansatz ist, dass die mit einer festen Wohnung einhergehende Stabilität und Sicherheit obdachlose Menschen in die Lage versetzt, ihre anderen Probleme gezielter anzugehen. Auch Dienstleistungen können unter sicheren Wohnverhältnissen effektiver und effizienter erbracht werden. Um die Ziele der Erklärung von Lissabon bis 2030 zu erreichen, sollte der von den Mitgliedstaaten bereitgestellte Wohnraum den Mindestanforderungen entsprechen und als Grundrecht und Verpflichtung der Mitgliedstaaten angesehen werden. Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass der Ansatz „Housing First“ Ausdruck europäischer Werte ist, die sich aus den Römischen Verträgen, europäischen und internationalen Übereinkommen sowie dem europäischen Humanismus ergeben.

5.2Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass „Housing First“ funktioniert. Insgesamt liegt die Quote der ehemals Obdachlosen, die mehrere Jahre nach Bezug einer Wohnung diese Wohnung auch halten konnten, bei über 80 %. „Housing First“ führt außerdem zu einer Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Obdachlosen. In den Ländern mit Unterkünften, die intensiv und hochprofessionell betrieben werden, ist „Housing First“ darüber hinaus meist auch billiger. Hingegen macht sich in den Ländern, die mit Notunterkünften arbeiten, die anfänglichen Investitionen in „Housing First“ auf lange Sicht bezahlt. Erwiesenermaßen kann über „Housing First“ in Kombination mit verschiedenen Wohnungsoptionen, wie erschwinglichen Privat- und Sozialwohnungen, ein ausreichendes Wohnungsangebot bereitgestellt werden. Stellen zur Vermittlung von Sozialwohnungen könnten eine Schlüsselrolle bei der Sicherstellung eines ausreichenden Angebots spielen.

5.3Der Ansatz „Housing First“ steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Die wichtigsten Grundsätze sind klar, und die Zielgruppe wird allmählich von dauerhaft obdachlos lebenden Menschen auf obdachlose Familien, obdachlose Frauen und obdachlose Jugendliche ausgeweitet. Die meisten Mitgliedstaaten der EU experimentieren mit „Housing First“, aber lediglich eine Handvoll Länder setzt den Ansatz großflächig um oder nutzt ihn sogar als systemischen Wandel in Bezug auf den Umgang mit Obdachlosigkeit. Daher hält der EWSA die Entwicklung einer europäischen Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit mit dem Schwerpunkt auf dem Ansatz „Housing First“ (sowie in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Ebenen – lokal, regional, national und europäisch – entsprechende Rahmenprogramme der Mitgliedstaaten) für dringend erforderlich. Es müssen auch sozialwirtschaftliche Strukturen gefördert werden, die wesentliche Unterstützung leisten.

5.4Bei der EU liegen gesetzgeberische Zuständigkeiten, die in bestimmten Fällen als negative externe Effekte die Obdachlosigkeit u. U. verschärfen können. So muss bei den jüngsten rechtlichen EU-Initiativen im Zusammenhang mit dem Grünen Deal darauf geachtet werden, dass sie nicht zu einer Verteuerung von Wohnraum führen. Einige der rechtlichen Initiativen im Rahmen des Migrationspakts müssen dahingehend angepasst werden, dass der Zugang zu (Not‑)Unterkünften mit weniger Aufwand verbunden ist. Schon jetzt leben in mehreren Mitgliedstaaten Tausende von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern auf der Straße oder in leerstehenden Häusern, was einen Verstoß gegen die Richtlinie über Aufnahmebedingungen darstellt. Andere Rechtsvorschriften der EU hingegen (bspw. die Richtlinie über Zahlungskonten und die Trinkwasserrichtlinie) beinhalten explizit Rechte für Obdachlose. In mehreren Mitgliedstaaten der EU wird gegen diese beiden Rechtsvorschriften verstoßen. Nach Ansicht des EWSA müssen alle diese Fragen in der europäischen Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit innerhalb eines europäischen Rahmens zur Beseitigung der Obdachlosigkeit in Europa bis 2030 berücksichtigt werden.

5.5Die Befugnisse der EU hinsichtlich der Bekämpfung der Obdachlosigkeit sind hingegen begrenzt. Im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung kann die EU die Mitgliedstaaten jedoch durch grenzübergreifenden gegenseitigen Austausch, vergleichende Forschung, Datenerhebung, die Überwachung politischer Fortschritte und die Sicherung des Zugangs zu Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten der EU unterstützen. Vor allem in den neuen Mitgliedstaaten spielt die EU eine wichtige Rolle bei der qualitativen Entwicklung der Dienstleistungen und bei der Erprobung von Initiativen, die im Wesentlichen unter Rückgriff auf die europäischen Struktur- und Investitionsfonds und den Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen einen „Housing First“- bzw. einen anderen wohnungsorientierten Ansatz für bestimmte Zielgruppen verfolgen. Erfolgreiche Pilotprojekte können u. a. durch eine Überwachung im Rahmen der länderspezifischen Überprüfungen und Empfehlungen des Europäischen Semesters verbreitet werden.

5.6Mit Blick auf den Ansatz „Housing First“ ist weitere Unterstützung vonnöten, auch durch medizinische und soziale Dienste, um Menschen den Weg aus der Obdachlosigkeit zu eröffnen. Es besteht auch ein besonderer Betreuungsbedarf, wie z. B. spezielle Altersheime oder gezielte Pflege für ältere Obdachlose mit Behandlungsbedarf. Zur Vertiefung des Wissens, wie und mit welchen Instrumenten Obdachlosigkeit bekämpft werden kann, z. B. durch „Housing First“, sollte die Kommission die Forschung zur Obdachlosigkeit weiter vorantreiben und entsprechende aufgeschlüsselte Daten zusammentragen.

Brüssel, den 21. November 2023

Cinzia Del Rio

Vorsitzende der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

_____________

(1)

   Erklärung von Lissabon zur Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit, 21. Juni 2021.

(2)

   Escala de la pobreza – Coronavirus en Europa: largas filas para pedir bolsas de comida, otra postal de la pandemia [Ausmaß der Armut – Coronavirus in Europa: lange Schlangen an den Tafeln, ein weiterer Aspekt der Pandemie], Clarin Mundo, 16 Mai 2020.

(3)

   Exklusive Ipsos-Befragung von 1 000 Personen für die Fondation Abbé Pierre, 14./15. Januar 2021.

(4)

      https://institutdelors.eu/en/publications/europe-needs-a-political-strategy-to-end-energy-poverty/ .

(5)     ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 35 .