STELLUNGNAHME

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

Verstoß gegen Sanktionen/EU-Straftatbestände

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Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Künftige Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union
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COM(2022) 249 final]

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Aufnahme des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union in die Kriminalitätsbereiche nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
[
COM(2022) 247 final]

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union,
[
COM(2022) 684 final]

SOC/739

Berichterstatter: José Antonio MORENO DÍAZ

DE

Befassung

Europäische Kommission, 26/07/2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

8/03/2023

Verabschiedung im Plenum

22/03/2023

Plenartagung Nr.

577

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

141/1/2

1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Beschluss über die Aufnahme von Verstößen gegen Sanktionen in die Liste von Kriminalitätsbereichen nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie den Richtlinienvorschlag zur Angleichung der Definitionen und Mindeststrafen in den nationalen Rechtsvorschriften für Verstöße gegen Sanktionen.

1.2Der EWSA bedauert jedoch, dass der oben genannte Beschluss angesichts des eingeleiteten Dringlichkeitsverfahrens nicht Gegenstand umfassender demokratischer Beratungen im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments war. Außerdem hegt der EWSA Bedenken, weil dem Richtlinienvorschlag der Kommission keine Folgenabschätzung vorausging. Überdies bedauert er, dass der EWSA im Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union nicht als konsultierter Interessenträger erwähnt wird.

1.3Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union, bei der Ausarbeitung der Richtlinie umfassendere Ausnahmeregelungen für humanitäre Hilfe vorzusehen und humanitäre Organisationen und humanitäres Personal von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auszunehmen, die einschlägigen Bestimmungen an die gängige internationale Praxis anzupassen und zugleich sicherzustellen, dass der Missbrauch für kriminelle oder politische Zwecke durch geeignete Mechanismen verhindert wird.

1.4Der EWSA unterstützt die Aufnahme angemessener Garantien und Schutzmechanismen für Hinweisgeber und Journalisten, die Versuche einer Umgehung von Sanktionen öffentlich bekannt machen. Diese Akteure sollten unter die genannten Ausnahmeregelungen fallen.

1.5Der EWSA fordert die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass der Privatsektor und die Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Anpassung an die neuen Rechtsvorschriften und bei der Einhaltung der neuen Anforderungen angemessen informiert und proaktiv unterstützt werden.

1.6Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union zu gewährleisten, dass nicht nur eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften gefördert wird, sondern die Mitgliedstaaten auch mit angemessenen Verwaltungskapazitäten, Finanzmitteln und geschultem Personal ausgestattet werden, um Verstöße gegen Sanktionen aufdecken, strafrechtlich verfolgen und ahnden zu können. Dies könnte durch die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten mittels Austausch bewährter Verfahren bei der Aufdeckung und Strafverfolgung unterstützt werden.

1.7Der EWSA begrüßt, dass in dem Richtlinienvorschlag nachdrücklich die Einhaltung des Rückwirkungsverbots verlangt wird, und betont, dass die Rechte von Beschuldigten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und andere Menschenrechtsgarantien gewährleistet sein müssen.

1.8Schließlich ist der EWSA besorgt, dass häufige und so gravierende Straftaten wie geschlechtsspezifische Gewalt und Hassdelikte nicht als „EU-Straftaten“ eingestuft werden und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 83 Absatz 1 AEUV fallen, und betont, dass geopolitische Erfordernisse nicht Vorrang vor dem Schutz und dem Wohlergehen unserer Bürgerinnen und Bürger haben sollten.

2.Hintergrund der Stellungnahme

2.1Außenpolitische Sanktionen (bzw. im EU-Jargon „restriktive Maßnahmen“) werden vom Rat der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) beschlossen und in Form verbindlicher Rechtsvorschriften mit unmittelbarer Wirkung in allen EU-Mitgliedstaaten erlassen.

2.2Während solche Rechtsvorschriften auf zentraler Ebene erlassen werden und in der gesamten EU gelten, erfolgt die Um- und Durchsetzung von Sanktionen dezentral. Für die Überwachung der Einhaltung von Verboten durch Unternehmen und Bürger, die Gewährung von Ausnahmen, die Festlegung von Sanktionen aufgrund von Verstößen sowie die Ermittlung und Verfolgung solcher Verstöße sind somit die Behörden der Mitgliedstaaten zuständig. Dies gilt für alle Sanktionen mit Ausnahme von Einreiseverboten, die unmittelbar in den direkten Zuständigkeitsbereich der einzelstaatlichen Behörden fallen.

2.3Der dezentrale Ansatz bei der Umsetzung von EU-Sanktionen führt zu einer Fragmentierung 1 , da sich die Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Begriffsbestimmungen und den Geltungsbereich von Verstößen gegen Sanktionen und deren möglicher Ahndung unterscheiden. Auch bei den Verwaltungskapazitäten für Ermittlungen bestehen Unterschiede. Darüber hinaus verfügen die einzelnen nationalen Behörden über einen großen Ermessensspielraum, wenn es darum geht, über die Gewährung einer Ausnahme aus humanitären Gründen zu befinden.

2.4Studien haben bestätigt, dass bei der Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede bestehen. 2 Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Europäischen Netzes von Anlaufstellen betreffend Personen, die für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich sind, („Genozid-Netz“) zeigte ferner auf, dass es im Hinblick auf die Ahndung von Verstößen gegen Sanktionen beträchtliche Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten gibt. 3

2.5Die Kommission verfügt in dieser Hinsicht über gewisse Aufsichtsbefugnisse. So stellt sie sicher, dass alle Mitgliedstaaten ihren sich aus EU-Sanktionsregelungen ergebenden Verpflichtungen nachkommen und beispielsweise über angemessene Sanktionen verfügen. Wie auch in anderen EU-Politikbereichen ist die Kommission hierbei befugt, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, die diesen Verpflichtungen nicht nachkommen. Bis dato wurden derartige Maßnahmen allerdings noch nicht ergriffen. Die Kommission unterstützt die Umsetzung von Sanktionen ferner durch die Herausgabe von Leitlinien, z. B. für die Gewährung von Ausnahmen.

2.6Zwar liegen die inhärenten Fragmentierungsrisiken des Systems auf der Hand, doch hat die Kommission erst vor Kurzem erste Maßnahmen 4 zur Verbesserung der Umsetzung und Durchsetzung von EU-Sanktionen eingeleitet. Zwar gehen die neuen Maßnahmen der Kommission in diesem Bereich auf den Zeitraum vor der Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 zurück, doch hat die Stärkung der Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen angesichts der Sanktionswelle infolge dieser Invasion zusätzlich an Bedeutung gewonnen.

2.7In dem Beschluss 2022/2332 des Rates 5 wird der Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union als ein die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllender Kriminalitätsbereich (gemeinhin auch als „EU-Straftaten“ bezeichnet) definiert. Dies ermöglicht es der Kommission, Rechtsvorschriften zur Angleichung der in den Mitgliedstaaten geltenden Definitionen von Straftaten und Sanktionen vorzuschlagen. 6

2.8Dieser Vorschlag ist gerechtfertigt, da solche Verstöße zu einer Bedrohung von Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten in Drittländern führen können und häufig eine grenzüberschreitende Dimension aufweisen. Konkret stellt der Verstoß gegen Sanktionen einen „Bereich besonders schwerer Kriminalität [dar], der den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dauerhaft bedrohen, die Festigung und Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten untergraben und erheblichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Schaden verursachen kann“ 7 . Die derzeitigen Umstände ermöglichen es Privatpersonen und Unternehmen, die Sanktionen umgehen wollen, die für sie günstigste Option auszuwählen, und sie behindern die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für die EU-Wirtschaftsteilnehmer.

2.9Der Rat der Europäischen Union hat am 30. Juni 2022 ein Einvernehmen über den Text erzielt und das Europäische Parlament um Zustimmung zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV erfüllenden Kriminalitätsbereich 8 ersucht. Das Europäische Parlament stimmte diesem Entwurf am 7. Juli 2022 im Wege eines Dringlichkeitsverfahrens zu. 9 Die Annahme des Beschlusses erfolgte am 28. November 2022 10 .

2.10Die Kommission hat am 2. Dezember 2022 den Entwurf einer Richtlinie vorgelegt, in dem die Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und von Strafen für Verstöße gegen Sanktionen vorgeschlagen wird. 11

3.Allgemeine Bemerkungen

3.1Die Anerkennung von Verstößen gegen Sanktionen als Kriminalitätsbereich nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV trägt zu einer EU-weiten Harmonisierung der Einstufung von Sanktionsverstößen als Straftatbestand und der damit verbundenen Strafen sowie zu einer besseren Umsetzung und Durchsetzung von Sanktionen bei und stellt daher eine positive Entwicklung dar.

3.2Der EWSA ersucht die Europäischen Kommission, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union, den im Folgenden dargelegten Bedenken bei der Ausarbeitung und dem Erlass der vorgeschlagenen Richtlinie sowie anderer materieller Sekundärrechtsakte zur Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und die Strafen für Verstöße gegen Sanktionen Rechnung zu tragen.

4.Besondere Bemerkungen

4.1Das Europäische Parlament hat dem Entwurf eines Ratsbeschlusses im Wege eines Dringlichkeitsverfahrens zugestimmt. Es hat seine Zustimmung folglich ohne vorherige Beratung durch den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) erteilt. Die Annahme des Vorschlags ist angesichts der geopolitischen Entwicklungen äußerst dringlich, dieser Umstand entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit, Legislativvorschläge einer angemessenen demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Die Standards der demokratischen Rechenschaftspflicht müssen aufrechterhalten werden. Der EWSA weist erneut darauf hin, wie wichtig es ist, dass das Europäische Parlament den aktuell zur Diskussion vorliegenden Vorschlag für eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestvorschriften für die Definition von Straftaten und die Strafen für Verstöße gegen Sanktionen angemessen prüft.

4.2In dem Richtlinienvorschlag wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Kommission von der Durchführung einer Folgenabschätzung abgesehen hat, wobei auf die „dringende[...] Notwendigkeit, die an Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union beteiligten natürlichen und juristischen Personen zur Rechenschaft zu ziehen“, verwiesen wird. 12 Zwar hält der EWSA eine zügige Annahme der Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union für sinnvoll, doch rechtfertigt die relative Dringlichkeit einer Harmonisierung von Definitionen und Strafen nicht den Verzicht auf die im Zuge der Ausarbeitung einer Richtlinie üblicherweise vorgesehene Folgenabschätzung. Dies gilt umso mehr, als die an Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union beteiligten natürlichen und juristischen Personen bereits nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften zur Rechenschaft gezogen werden können. Verzögerungen bei der Annahme der Richtlinie würden folglich nicht dazu führen, dass Verstöße unbestraft bleiben. Der EWSA spricht sich daher für die Durchführung einer ordnungsgemäßen Folgenabschätzung aus und plädiert für eine zügige Umsetzung der Richtlinie nach ihrer Annahme.

4.3Zwar begrüßt der EWSA die umfassenden Konsultationen, die die Kommission mit einem breiten Spektrum von Interessenträgern durchgeführt hat. Er bedauert jedoch, dass der EWSA im Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union nicht als konsultierter Interessenträger erwähnt wird.

4.4Die Bemühungen zur Aufdeckung, Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen Sanktionen müssen mit entsprechenden Anstrengungen zur Information der Wirtschaftsteilnehmer und zivilgesellschaftlichen Akteure über die Umsetzung von Sanktionen einhergehen. Mängel bei der Umsetzung von Sanktionen sind häufig darauf zurückzuführen, dass Interessenträger im Privatsektor trotz einschlägiger Bemühungen nationaler Agenturen nicht hinreichend sensibilisiert sind. 13 Es sollte berücksichtigt werden, dass es sich bei den meisten Wirtschaftsteilnehmern in der EU um kleine und mittlere Unternehmen (KMU) handelt, die mit ihren sich aus Sanktionsregelungen ergebenden Pflichten häufig nicht vertraut sind, da Sanktionen in der Vergangenheit nur selten in Form wirtschaftlicher Maßnahmen erlassen wurden. 14 Der EWSA begrüßt die aktuellen Bemühungen der Kommission, die Wirtschaftsteilnehmer besser zu unterstützen 15 , und spricht sich dafür aus, diese fortzusetzen.

4.5Es sollten angemessene Vorkehrungen getroffen werden, um in Ländern, gegen die Sanktionen verhängt wurden, die Fortführung humanitärer Maßnahmen zu gewährleisten. Die rechtlichen Folgen etwaiger Verstöße gegen Sanktionen sind für humanitäre Akteure, die in mit drastischen Sanktionen belegten Gebieten Hilfsleistungen erbringen, weiter ein großes Problem. 16 Diese Akteure weisen immer wieder darauf hin, dass sie nur schwer gewährleisten können, dass sie im Zuge ihrer Hilfstätigkeiten nicht gegen geltende Sanktionsregelungen verstoßen. Ferner machen sie regelmäßig darauf aufmerksam, dass sie von den Kriegsparteien mit den westlichen Sanktionen in Verbindung gebracht werden, worunter ihre Arbeit leidet. 17 Nach der kürzlich angenommenen Resolution 2664 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Dezember 2022 18 , die eine allgemeine Ausnahmeregelung für die Bereitstellung von Finanzmitteln und Dienstleistungen für humanitäre Organisationen 19 vorsieht und von den US‑Behörden rasch umgesetzt wurde 20 , wird das Festhalten an zu eng gefassten humanitären Klauseln in den EU-Rechtsvorschriften zu einem auffälligen Ausnahmefall. Um sicherzustellen, dass künftige Sanktionsregelungen humanitäre Maßnahmen nicht behindern, sollte der Richtlinienvorschlag deutlicher ausformuliert werden. Aktuell ist lediglich „die Bereitstellung humanitärer Hilfe an Bedürftige“ 21 von der Kriminalisierung ausgenommen. Der EWSA spricht sich für die Einführung einer umfassenderen Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe aus, mit der sämtliche Mitarbeiter unparteiischer humanitärer Organisationen von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit Sanktionsregelungen der EU ausgenommen werden. Mit einer solchen Klausel würde der Rechtsrahmen der EU für Sanktionen mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang gebracht. Zugleich muss ein Missbrauch für kriminelle oder politische Zwecke durch geeignete Mechanismen verhindert werden. Der Schutz humanitärer Akteure sollte sich auch auf investigative Journalisten erstrecken.

4.6Der EWSA fordert die Kommission auf, die Umsetzung der Richtlinie nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Erlasses von Rechtsvorschriften zu überwachen, sondern auch darauf zu achten, dass ausreichende administrative, finanzielle, technische und personelle Kapazitäten sowie angemessene Schulungen zur Verfügung stehen, damit die nationalen Verwaltungs-, Justiz- und Strafverfolgungsbehörden die neuen Rechtsvorschriften inhaltlich umsetzen können. Stehen Ausrüstung, Personal und finanzielle Mittel nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, kann das Ziel, Verstöße aufzudecken, strafrechtlich zu verfolgen und zu ahnden, allein durch eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften wahrscheinlich nicht erreicht werden. Darüber hinaus fordert der EWSA die Kommission auf, Kriterien für die Überwachung festzulegen, um den Interessenträgern eine Orientierungshilfe zu geben.

4.7Ist aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung die Sicherstellung von Vermögenswerten möglich, so sollte ein beträchtlicher Teil der daraus erzielten Erlöse für Maßnahmen der Opferentschädigung bzw. – im Falle der aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine aktuell gegen russische Akteure verhängten Sanktionen – für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg aufgewandt werden. Der EWSA hat diese Forderung bereits in seiner Stellungnahme 22 zum Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über die Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten unterstützt. Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, gemeinsam mit einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft eine Definition von Opfern zu erarbeiten und Mechanismen zu konzipieren, über die Erträge aus der Umgehung von Sanktionen an Opfer fließen oder in soziale Maßnahmen investiert werden können, die solchen unmittelbar zugute kommen. Im Interesse der Rechenschaftspflicht spricht sich der EWSA für die Veröffentlichung der Daten zu sichergestellten Vermögenswerten und zu deren anschließender Verwendung und somit letztlich für mehr Transparenz aus.

4.8Die vorgeschlagene Richtlinie sollte ferner angemessene Bestimmungen zum Schutz von Hinweisgebern und investigativen Journalisten enthalten, die Praktiken zur Umgehung von Sanktionen aufdecken, da diese als „Frühwarnmechanismus“ eine wichtige Funktion erfüllen und daher geschützt werden müssen. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA den Vorschlag der Kommission, den durch die Richtlinie (EU) 2019/1937 23 gebotenen Schutz auch auf die Meldung von Verstößen gegen restriktive Maßnahmen der Union sowie auf die Personen auszuweiten, die solche Verstöße melden.

4.9Wie aus dem derzeitigen Wortlaut der Richtlinie hervorgeht, sollten gemäß dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ Vorkehrungen zur Wahrung des Verbots der Rückwirkung strafrechtlicher Sanktionen getroffen werden. Der EWSA betont, dass die Rechte von Beschuldigten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren sowie andere Menschenrechtsgarantien gewährleistet sein müssen.

4.10Schließlich bedauert der EWSA, dass einerseits Verstöße gegen Sanktionen im Wege eines zügigen Verfahrens als „EU-Straftaten“ anerkannt wurden, andererseits jedoch schwere und häufige Straftaten wie Hassdelikte und geschlechtsspezifische Gewalt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 83 Absatz 1 AEUV fallen. Geopolitische Erfordernisse sollten nicht dazu führen, dass andere Straftaten, die für die Bürgerinnen und Bürger von unmittelbarer Bedeutung sind, vernachlässigt werden.

4.11Abschließend sei daran erinnert, dass mit der Harmonisierung von Sanktionen eine höhere Glaubwürdigkeit von im Rahmen der GASP verhängten Sanktionen erreicht werden soll. Vor diesem Hintergrund sollten die Mitgliedstaaten Visaverbote mit der von den Bürgerinnen und Bürgern und Wirtschaftsteilnehmern in der EU erwarteten Sorgfalt einhalten. 24

Brüssel, den 22. März 2023

Christa SCHWENG
Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

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(1)    Portela, C. (2020), Implementation and Enforcement in Helwig, N. et al., Sharpening EU Sanctions Policy, FIIA Report 63, Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten. Vom Amt des finnischen Ministerpräsidenten in Auftrag gegebene Studie. S. 107–117.
(2)    Druláková, R. und Přikryl, P. (2016), The Implementation of Sanctions Imposed by the European Union: A Comparison of the Czech and Slovak Republics’ Compliance in Central European Journal of International and Security Studies 10(1). S. 134–160.
(3)     Genozid-Netz , Prosecution of sanctions (restrictive measures) violations in national jurisdictions: a comparative analysis, 2021.
(4)    Mitteilung der Europäischen Kommission: „Das europäische Wirtschafts- und Finanzsystem: Mehr Offenheit, Stärke und Resilienz“. COM(2021) 32 final .
(5)    Rat der Europäischen Union (2022), Beschluss (EU) 2022/2332 des Rates vom 28. November 2022 über die Feststellung des Verstoßes gegen restriktive Maßnahmen der Union als einen die Kriterien nach Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllenden Kriminalitätsbereich, ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18 .
(6)    Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Künftige Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für den Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union“, COM(2022) 249 final .
(7)    Diese Formulierung aus der Kommissionsmitteilung COM(2022) 249 final (Seite 4) findet sich wird auch in Erwägungsgrund 10 des Beschlusses des Rates (EU) 2022/2332 wieder, ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18.
(8)    Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung vom 30. Juni 2022.
(9)    Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments. TA/2022/0295 .
(10)     ABl. L 308 vom 29.11.2022, S. 18 .
(11)    Europäische Kommission: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union, COM(2022) 684 final .
(12)     COM(2022) 684 final .
(13)    Druláková, R. und Zemanová, Š. (2020), Why the implementation of multilateral sanctions does (not) work: lessons learned from the Czech Republic in European Security 29(4). S. 524–544.
(14)    Portela, C. (2020), Sanctions in EU Foreign Policy in Helwig, N. et al., Sharpening EU Sanctions Policy, FIIA Report 63, Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten. Vom Amt des finnischen Ministerpräsidenten in Auftrag gegebene Studie. S. 23–49.
(15)    Rat der Europäischen Union (2022), Beschluss (GASP) 2022/1506 des Rates vom 9. September 2022 über eine Maßnahme der Europäischen Union zur Unterstützung der Entwicklung von Instrumenten der Informationstechnologie, um die Verbreitung von Informationen über restriktive Maßnahmen der Union zu verbessern ( ABl. L 235 vom 12.9.2022, S. 30 ).
(16)    Portela, C. (2020), What if … the EU made sanctions compatible with humanitarian aid? in Gaub, F. (Hg.), What if …? 14 futures for 2024, Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), Paris.
(17)    Debarre, A. (2019), Safeguarding Humanitarian Action in Sanctions Regimes, International Peace Institute.
(18)    Resolution 2664 der Vereinten Nationen, S/RES/2664(2022) .
(19)    In Ziffer 1 des Beschlussteils der Resolution 2664 des UN-Sicherheitsrats heißt es, dass Bereitstellungen von Finanzmitteln, Gütern und Dienstleistungen, die für das rasche Leisten humanitärer Hilfe durch die Vereinten Nationen, durch Nichtregierungsorganisationen oder durch andere Akteure, die von den einzelnen vom Sicherheitsrat eingerichteten Ausschüssen hinzugefügt werden, notwendig sind, „erlaubt sind und keinen Verstoß gegen das vom Rat oder seinen Sanktionsausschüssen verhängte Einfrieren der Vermögenswerte darstellen“.
(20)    US-Finanzministerium, Pressemitteilung , Treasury Implements Historic Humanitarian Sanctions Exceptions, 20. Dezember 2022.
(21)     COM(2022) 684 final .
(22)     ABl. C 100 vom 16.3.2023, S. 105 .
(23)    Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17 .
(24)    Mangas Martin, A. (2021), Sobre la vinculatoriedad de la PESC y el espacio aéreo como territorio de un estado (Zur Verbindlichkeit der GASP und des Luftraums als Hoheitsgebiet, Kommentar zum Beschluss des Obersten Gerichtshofs Spaniens (TS) vom 26. November 2020, Strafkammer) in Revista General de Derecho Europeo 53 (2021).