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ECO/590

Ergänzende Überlegungen zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2022

STELLUNGNAHME

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Ergänzende Überlegungen zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2022

[Initiativstellungnahme]

Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets

[COM(2021) 742 final]

Kontakt

eco@eesc.europa.eu

Verwaltungsrätin

Krisztina PERLAKY-TÓTH

Datum des Dokuments

12/10/2022

Berichterstatter: Juraj SIPKO

Beschluss des Plenums

22/03/2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

06/10/2022

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

70/0/3

Verabschiedung im Plenum

DD/MM/YYYY

Plenartagung Nr.

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

…/…/…



1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1Der EWSA stellt fest, dass die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Währungsgebiet und in der Europäischen Union gegenwärtig durch eine extreme wirtschaftliche, geoökonomische und politische Unsicherheit gekennzeichnet ist. Diese Unsicherheit ist das Ergebnis zweier anhaltender systemischer Schocks, nämlich der andauernden COVID-19-Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine. Weiterhin haben sich neue Risiken im Zusammenhang mit den Störungen in verschiedenen Bereichen des internationalen Handels, des Zahlungsverkehrs, der Kapital- und Finanzmärkte, einschließlich Produktion, Forschung und Verkehr, abgezeichnet. Systemische Risiken haben zu einem besorgniserregenden Anwachsen der Staatsschulden und einem Anstieg der Inflation geführt. Die größte Herausforderung für die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und der Europäischen Union ist und bleibt jedoch die Bekämpfung des Klimawandels.

1.2Der EWSA weist erneut darauf hin, dass der Kampf gegen das hartnäckige COVID-19-Virus noch lange nicht ausgestanden ist. Es gilt daher, alle materiellen und systemischen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Pandemie zu ergreifen und sich gleichzeitig auch auf andere mögliche Epidemien und Pandemien vorzubereiten. Der EWSA betont – und die Praxis der letzten zwei Jahre hat dies bestätigt –, dass die höchsten Investitionserträge im Gesundheitswesen erzielt wurden.

1.3Der EWSA setzt sich für die Beendigung der russischen Aggression und des Krieges in der Ukraine sowie die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine ein. Auf diese Weise können die Voraussetzungen für ein widerstandsfähiges, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und der Europäischen Union geschaffen werden.

1.4Der EWSA beobachtet mit Sorge die extrem ungünstige Entwicklung der Inflation, die in erster Linie auf steigende Rohstoff-, Lebensmittel- und Energiepreise sowie auf die Unterbrechung der Lieferketten zurückzuführen ist. In dieser Situation ist eine Anhebung der Zinssätze kein besonders wirksames Instrument. Eine zu straffe Geldpolitik kann auch die Gefahr einer Rezession erhöhen und private Investitionen in die Energiewende, die so dringend benötigt werden, verzögern. Daher rät der EWSA der EZB zu einer angemessenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, um die Nebenwirkungen einer verschärften Geldpolitik und deren Folgen für das Ziel einer langfristigen Preisstabilität sorgfältig zu analysieren. Der EWSA unterstützt jedoch die Europäische Zentralbank in ihren Bemühungen, in Erfüllung ihres Auftrags die Kerninflation zu verringern. Aufgrund der vorgenannten Risiken sollte die EZB bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik behutsam vorgehen.

1.5Angesichts des drastischen Anstiegs der Energie- und Lebensmittelpreise empfiehlt der EWSA den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern in den Mitgliedstaaten, für die schwächsten Bevölkerungsgruppen, einschließlich des am stärksten betroffenen Teils der Mittelschicht, ein funktionierendes und wirksames soziales Sicherheitsnetz aufzuspannen, das allen Menschen Schutz bietet.

1.6Der EWSA nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass die Staatsverschuldung weiter zunimmt. Er empfiehlt daher, Maßnahmen zur mittelfristigen Haushaltskonsolidierung zu ergreifen. Der EWSA spricht sich für eine faire Besteuerung und eine effiziente Verwendung öffentlicher Mittel aus, um die Einnahmen der nationalen Haushalte zu erhöhen.

1.7Der EWSA weist darauf hin, dass die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel aufgrund von COVID-19 die richtige Entscheidung war. Obwohl sie vorerst bis 2023 verlängert wurde, muss für den Fall anhaltender systemischer Risiken eine weitere Verlängerung der Deaktivierung in Erwägung gezogen werden. Der EWSA erwartet daher von der Europäischen Kommission, dass sie unverzüglich konkrete Schritte zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts einleitet.

1.8Auf dem Weg zur Finanzunion sind Fortschritte zu verzeichnen; dennoch ist es unabdingbar, alle sachdienlichen und systemischen Maßnahmen anzunehmen und umzusetzen, um die Bankenunion und die Kapitalmarktunion zu vollenden. In diesem Zusammenhang appelliert der EWSA an die verantwortlichen Organisationen und zuständigen Institutionen, sich gemeinsam um die Schaffung einer Finanzunion zu bemühen.

1.9Der EWSA verweist auf die negativen Folgen des Fragmentierungsprozesses und auf die Instabilität des Markts für Staatsanleihen im Euro-Währungsgebiet. Er begrüßt die Ankündigung der Europäischen Zentralbank vom 15. Juni 2022, Maßnahmen zur Bekämpfung der Fragmentierung im Euro-Währungsgebiet zu erarbeiten.

1.10Der EWSA unterstützt den Wandel der Volkswirtschaften in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Gleichzeitig weist er auf die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel hin. In diesem Zusammenhang empfiehlt er trotz der unvorhergesehenen komplexen geoökonomischen Entwicklungen den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen und die Nutzung der verfügbaren Finanzmittel aus dem Konjunkturprogramm und anderen Finanzquellen, einschließlich der Förderung einer Finanzierung durch den Privatsektor.

1.11Derzeit sind die Länder des Euro-Währungsgebiets wie auch die übrigen Länder der Europäischen Union mit systemischen Schocks, Risiken und Bedrohungen konfrontiert. Daher ruft der EWSA angesichts dieser kritischen Phase der zivilisatorischen Entwicklung alle Staaten und die zuständigen internationalen Institutionen zur Zusammenarbeit auf, um sich allen historisch bedingten systemischen Schocks, Risiken und Bedrohungen, denen die Menschheit derzeit ausgesetzt ist, entgegenzustellen. Verzögerungen bei der Annahme und Umsetzung von Maßnahmen können weitreichende Folgen nicht nur im Hinblick auf materielle Verluste, sondern auch und vor allem in Form von Menschenleben haben.

2.Hintergrund und Kontext

2.1Derzeit sorgen zwei reale systemische Schocks, COVID-19 und die russische Invasion in der Ukraine, zusammen mit der daraus resultierenden geoökonomischen Fragmentierung, für eine große Verunsicherung. Darüber hinaus hat der Anstieg der Rohstoff- und Lebensmittelpreise sowohl im Euro-Währungsgebiet als auch in der Europäischen Union zu hohen Risiken für die sozioökonomische Entwicklung geführt. Eine der größten Herausforderungen im Zusammenhang mit der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel besteht für das Euro‑Währungsgebiet und die EU-Mitgliedstaaten im Übergang zu einer grünen Wirtschaft.

2.2Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung steht im Zeichen beispielloser externer Schocks in den Ländern des Euroraums. Mit Blick auf die grundlegenden makroökonomischen Indikatoren kann daher nicht von einer stabilen Entwicklung gesprochen werden. Im Übrigen gibt es in einigen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets seit langem strukturelle Probleme beim Aufbau einer nachhaltigen, widerstandsfähigen und inklusiven Wirtschaft.

2.3Vor dem Auftreten des systemischen Doppelschocks waren die Inflationsraten in fast allen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets relativ niedrig. Schon vor der Klimakrise bewegte sich die Inflation auf einem relativ niedrigen Niveau, und in einigen Mitgliedstaaten des Euro Währungsgebiets gab es sogar eine Deflation. Die derzeitige Inflation erfordert eine umfassende Nutzung des Instrumentariums der EZB. Derzeit ist die Inflationsentwicklung eines der größten Risiken für ein nachhaltiges, widerstandsfähiges und inklusives Wirtschaftswachstum in den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Die Verringerung und Stabilisierung der Inflationsraten sowie ihre Konsolidierung innerhalb des Inflationsziels, d. h. unter zwei Prozent, kann nicht ohne eine entsprechende Änderung der Geldpolitik der EZB erreicht werden. In diesem Zusammenhang hat der EZB-Rat die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um den Auftrag der EZB – Preis- und Finanzstabilität – zu erfüllen. Die EZB muss bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik auf absehbare Zeit sehr behutsam vorgehen.

2.4Die Inflationsrate ist die höchste seit der Gründung der Europäischen Währungsunion. Sie ist das Ergebnis einer Reihe von Faktoren, die bereits während der sich verschärfenden weltweiten COVID-19-Krise zu einem allmählichen Anstieg der Inflationsraten geführt haben. Die derzeitige wirtschaftliche Erholung in den Euro-Ländern hat diesen negativen Trend aufgrund des geringeren Angebots weiter verschärft. Darüber hinaus führte auch die russische Invasion in der Ukraine zu einem weiteren Preisanstieg. Es stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit die EZB mit ihrer Geldpolitik und allen ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten den Inflationsanstieg verlangsamen und die Inflation schrittweise auf das erklärte Ziel zurückführen bzw. innerhalb dieses Ziels halten kann, ohne die Stabilität der gemeinsamen Währung und die wirtschaftliche Erholung von der COVID-19-Krise zu gefährden.

2.5Die derzeitige Entwicklung der Inflationsrate ist (wie im Herbst 2021 festgestellt) weder vorübergehend noch kurzfristig: Sie ist vielmehr zu einem großen Unsicherheitsfaktor geworden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres war der Preisanstieg in erster Linie auf die Energiepreise, die Unterbrechung der Lieferketten, einen ungewöhnlich starken Anstieg der Rohstoffpreise und höhere Transportkosten zurückzuführen. Da die Gründe für die aktuelle Preisdynamik komplex sind, wird die Geldpolitik allein die Inflation nicht eindämmen können. Erforderlich ist eine Diversifizierung der Energieeinfuhren und damit eine geringere Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland. Darüber hinaus bietet die Diversifizierung den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets die historische Chance, dringende Strukturreformen einzuleiten (z. B. Verwaltungsreformen, Justizreformen, Reformen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit) und ihre Abhängigkeit von der Einfuhr traditioneller Energieträger zu verringern. Darüber hinaus sind Marktinterventionen erforderlich, um die derzeitige Volatilität der Energiepreise in den Griff zu bekommen. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission für Notfallmaßnahmen gegen hohe Energiepreise.

2.6Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen dafür, dass viele Unternehmen trotz steigender Energiepreise ihre Stückgewinne zu steigern vermochten. Eine Untersuchung der EZB macht deutlich, dass die Gewinne maßgeblich zur inländischen Gesamtinflation beigetragen haben, da die Unternehmen die höheren Kosten weitergegeben und ihre Gewinnspannen gesichert und ausgeweitet haben. Interventionen im Energiemarkt könnten auch die Preisdynamik dämpfen.

2.7Derzeit ist der Preisanstieg in erster Linie der Angebotsseite zuzuschreiben. Dieser Trend beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit des Euro-Währungsgebiets, führt zu steigenden Kosten und verursacht einen Aufwärtsdruck auf Löhne und Gehälter in einer Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs. Sollte sich dieser ungünstige Trend fortsetzen, könnte dies möglicherweise zu einer Stagflation führen (die es gleichwohl im Euro-Währungsgebiet insgesamt noch nicht gibt). Vor fast 40 Jahren gab es schon einmal eine Stagflation. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es bei anhaltenden externen systemischen Schocks nicht auch zu einer unerwünschten Stagflation kommen kann. Andererseits weist der EWSA auf mögliche negative Auswirkungen auf die Nachfrage hin, wenn Gering- und Mittelverdiener von Reallohnverlusten betroffen sind.

2.8Das Jahr 2021 war durch eine recht günstige Entwicklung des Wirtschaftswachstums in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gekennzeichnet. Nichts deutete darauf hin, dass sich die Investitions- und Handelsströme aufgrund hoher wirtschaftlicher Unsicherheit nennenswert abschwächen würden. Die weltweite COVID-19-Krise kann dazu führen, dass die Wachstumsraten innerhalb des Euro-Währungsgebiets weiter auseinanderdriften, wenn keine Strukturreformen beschlossen und umgesetzt werden. Die zunehmende Divergenz kann den Verlauf der Angleichung erheblich beeinträchtigen und diesen negativen Trend in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets noch verschärfen.

2.9Die Aussichten für das mögliche Wirtschaftswachstum sind auf kurze Sicht nicht ermutigend. Zugleich büßten die für die Entwicklung nach COVID-19 eingesetzten Instrumente (Aufbau- und Resilienzfazilität) durch die Investitionsunsicherheit infolge des Krieges in der Ukraine etwas an Wirkung ein. Daher ist es wichtig, dass die einzelnen Volkswirtschaften in der Lage sind, die anhaltende Unterbrechung der Handels- und Investitionsströme und die andauernde Unsicherheit in der Weltwirtschaft, vor allem aber die große Unsicherheit in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets zu bewältigen.

2.10Das abflauende Wirtschaftswachstum ist auch die Folge eines drastischen Anstiegs der Energiepreise für private Haushalte. Einige Mitgliedstaaten haben Maßnahmen gegen den Preisanstieg in Form von Subventionen, Änderungen bei der Mehrwertsteuer (einschließlich zusätzlicher Sozialbeiträge) und Sozialtarifen auf Energie für die einkommensschwächsten Haushalte ergriffen. In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, über die effizientere Energienutzung in den Haushalten nachzudenken und die Gewohnheiten beim Energieverbrauch zu ändern. Steigende Energiepreise führen dazu, dass der Verbraucher immer stärker sparen muss und die Nachfrage immer mehr zurückgeht. Darüber hinaus führt der Anstieg der Energiepreise für private Haushalte zu einer Veränderung des Konsumverhaltens der privaten Haushalte und einem erheblichen Rückgang des Verbrauchs bestimmter Waren. Energie ist jedoch ein grundlegendes Gut, dessen Verbrauch nur in begrenztem Umfang eingespart werden kann. Schon zeichnet sich ab, dass vor allem ärmere Haushalte unter diesem drastischen Preisanstieg leiden.

2.11COVID-19 hat die Entwicklung der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets schwer getroffen. Im März 2020 wurde die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts aktiviert, um die COVID-19-Krise zu bewältigen. Darüber hinaus wurde ein befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen geschaffen, der es ermöglicht hat, in großem Umfang steuerliche Anreize zu schaffen, um die Unternehmen zu unterstützen, aber auch um die soziale Stabilität zu gewährleisten.

2.12Die finanzpolitische Reaktion und der Produktionsrückgang haben insbesondere in einigen bereits hoch verschuldeten Mitgliedstaaten zu einem markanten Anstieg der öffentlichen Verschuldung geführt. Es ist von größter Bedeutung, darauf zu achten, dass die Staatsverschuldung nicht aus dem Ruder läuft, was durch ihren schrittweisen Abbau zu gewährleisten ist. Da die Energiepreise mittelfristig hoch bleiben, müssen die Markt- und Preisbildungsmechanismen zusammen mit anderen fiskalpolitischen Unterstützungsmaßnahmen überprüft werden, um Privathaushalte und Unternehmen zu entlasten, die von dem Anstieg der Energiepreise besonders betroffen sind.

2.13Höhere Ausgaben für die Sicherheit und andere wichtige Prioritäten können zu einer vorübergehenden Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Position der Länder des Euroraums führen. Die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets sind somit stark gefordert. Sie müssen unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente, wirksamer Einzelmaßnahmen und diplomatischer Mittel dafür sorgen, dass alle Bemühungen auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ausgerichtet sind und die Wirtschaft des Euroraums ihren Anteil an der Weltwirtschaft behaupten kann.

2.14In jüngster Zeit ist der Wechselkurs des Euro infolge ungünstiger geopolitischer Entwicklungen seit Mai 2021 gegenüber dem US-Dollar stark eingebrochen. Der Wertverfall des Euro, der zweitgrößten Reservewährung, ist in erster Linie auf die unterschiedliche Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und des Federal Reserve Systems (FED) zurückzuführen.

2.15Auf der Grundlage der vorstehenden Analysen legte die Europäische Kommission im Juli 2022 ihre Wirtschaftsprognosen vor, die hauptsächlich von den Entwicklungen in der Ukraine bestimmt werden. Darin geht die Kommission davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr in den EU-Mitgliedstaaten 2,7 % und im Euroraum 2,6 % betragen und im nächsten Jahr auf 1,5 % bzw. 1,4 % sinken wird. Die durchschnittliche Inflationsrate wird in diesem Jahr sowohl in der EU als auch im Euroraum voraussichtlich 7,6 % erreichen. Im nächsten Jahr dürfte sie auf 4,6 % bzw. 4 % sinken.

3.Allgemeine Bemerkungen

3.1Der EWSA betont, dass die kurz-, aber auch die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des Euro-Währungsgebiets durch die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine erheblich beeinträchtigt wird und werden kann. Diese ungünstigen Entwicklungen haben systemischen Charakter und sind in der Nachkriegsgeschichte beispiellos. Demnach sind sie kaum mit den anderen Schocks zu vergleichen, die in der Vergangenheit die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Währungsgebiet beeinträchtigt haben. Unbestreitbar herrscht ein sehr hohes Maß an Unsicherheit, was einen Ausblick auf die künftige Entwicklung erschwert.

3.2Der EWSA betont, dass die Entwicklung der grundlegenden makroökonomischen und mikroökonomischen Indikatoren in den Ländern des Euroraums nicht ermutigend ist. Die Unsicherheit ist extrem groß. Insbesondere gibt es eine Reihe unbekannter Variablen, die die bereits extrem hohe geopolitische und wirtschaftliche Unsicherheit zusätzlich vergrößern können.

3.3Der EWSA sieht in der hohen Inflationsrate ein erhebliches Risiko für die weitere sozioökonomische Entwicklung in den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Das derzeitige Inflationsrisiko hängt hauptsächlich mit dem Angebot und der Unterbrechung der Wertschöpfungsketten zusammen. Die Entwicklung in der Ukraine mit ihrem Rückstoßeffekt insbesondere auf die Energieversorgung und die Rohstoffpreise, hat zusammen mit den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zu einer Verschiebung der Entwicklungen auf der Angebotsseite geführt.

3.4Die derzeitige Inflation macht es erforderlich, das Instrumentarium der EZB umfassend zu nutzen, um durch eine akkommodierende Geldpolitik Preisstabilität zu erzielen. Die EZB sollte bei der Normalisierung ihrer Geldpolitik behutsam vorgehen. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Geldpolitik weiterhin die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets unterstützen wird.

3.5Der EWSA betont, dass das Inflationsrisiko in den Mitgliedstaaten nicht unter Kontrolle ist und dass nur teilweise versucht wird, sie zu beseitigen. Angesichts der anhaltend ungünstigen Entwicklung der Inflationsraten und ihrer Auswirkungen auf die Privathaushalte und die Wettbewerbsfähigkeit fordert der EWSA die zuständigen und verantwortlichen Institutionen auf, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und umzusetzen, um den negativen Preisschock abzufedern. Gleichzeitig würde dies Turbulenzen an den Märkten für Staatsanleihen im Euro-Währungsgebiet verhindern. 1  

3.6Der EWSA begrüßt die Veröffentlichung des REPowerEU-Plans. Er geht davon aus, dass dieses Programm zu einer schrittweisen Verringerung der Abhängigkeit von Energielieferungen aus der Russischen Föderation beitragen wird. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, die größten Kostenrisiken, die die Preisstabilität in den Euro-Ländern erheblich gefährden, schrittweise zu beseitigen.

3.7Der EWSA erwartet von REPowerEU zwei weitere wichtige Vorteile: i) REPowerEU könnte eine Investitionsdynamik in ausgewählten Sektoren und Branchen auslösen und damit eine Idee verwirklichen, die bereits vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine entwickelt wurde. Der Grundgedanke besteht darin, dass dieses Jahr das Investitionsvolumen erheblich zunehmen wird, insbesondere in ausgewählten Bereichen von öffentlichem Interesse; (ii) REPowerEU sollte auch einen wesentlichen Beitrag zu den wichtigsten strukturellen Veränderungen der gegenwärtigen Generation leisten und damit das grundlegende Ziel erfüllen, die Volkswirtschaften des Euroraums wettbewerbsfähiger, nachhaltiger und widerstandsfähiger zu gestalten, um die Kernziele des Grünen Deals zu erreichen.

3.8Der EWSA verfolgt aufmerksam, wie die Investitionen im Vergleich zu den ursprünglichen Investitionsplänen erheblich umgeschichtet werden. In den Bereichen, die mit der Umstrukturierung des Energiesektors und der Umsetzung der Prioritäten des Grünen Deals für die EU-Länder zusammenhängen, ist mit einem geringeren Investitionswachstum zu rechnen. Es ist unklar, welche Perspektiven Sektoren und Branchen haben werden, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird es wichtig sein zu sehen, wie sich kleine und mittlere Unternehmen in traditionellen Wirtschaftszweigen, die nicht strategisch notwendig sind oder Spitzenleistungen anstreben, entwickeln werden, um die potenziellen Chancen, die die einzelnen Regionen ihnen bieten, zu nutzen.

3.9Der EWSA spricht sich nachdrücklich dafür aus, nicht nur den derzeit kritischen Prioritäten, sondern auch der Gewährleistung einer ausgewogenen Innovationsleistung in den Regionen, im Euro-Währungsgebiet und in der EU insgesamt angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Unterschätzung dieses Ziels kann dazu führen, dass die Regionen des Euro-Währungsgebiets und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiter auseinanderdriften.

3.10Der EWSA unterstützt mögliche Konvergenzimpulse aus den ehemals weniger entwickelten Mitgliedstaaten des Euroraums, die langfristig ein schnelleres Wirtschaftswachstum als der Durchschnitt des Euro-Währungsgebiets erzielen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass COVID-19 und der derzeitige Krieg in der Ukraine zu einer Vertiefung der Divergenz in den Staaten des Euro-Währungsgebiets führen können, was nicht zur Verwirklichung der grundlegenden, im Vertrag von Maastricht dargelegten Zielen beiträgt.

3.11Der EWSA begrüßt und unterstützt die laufende Debatte über die Gestaltung eines neuen institutionellen Rahmens für die öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten. Er weist darauf hin, dass die Aktualisierung der Haushaltsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor allem darauf abzielt, die finanzielle Tragbarkeit mit dem eindeutig bestehenden Bedarf an öffentlichen Investitionen in Einklang zu bringen.

3.12Der EWSA spricht sich für eine Koordinierung und Verknüpfung der verschiedenen Arten von Maßnahmen aus, mit denen die Tragbarkeit der Staatsverschuldung sichergestellt werden soll. Darüber hinaus müssen in begründeten Fällen Haushaltsstrategien, die mit einem mittelfristigen, auf Erholung und Resilienz ausgerichteten Ansatz für die Haushaltskorrektur im Einklang stehen, unterstützt werden. Er geht davon aus, dass realistische und praktische Lösungen gefunden werden, die zur Annahme einer Plattform für die öffentlichen Finanzen führen und unverzüglich umgesetzt werden.

3.13Da die öffentlichen Haushalte aufgrund der COVID-19-Krise unter Druck stehen, müssen weitere gezielte und wirksame Ausgleichsmaßnahmen ergriffen werden, um private Haushalte und Unternehmen bei der Bewältigung der Energiekrise zu unterstützen. Der EWSA versteht und respektiert die Gründe zur Deckung des aktuellen Bedarfs in sicherheitspolitischer, humanitärer und sozialer Hinsicht sowie die Folgen, die dies für die nationalen Haushalte des Euro-Währungsgebiets hat. Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, die Aktivierung der Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu verlängern, und fordert sie auf, so bald wie möglich konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorzulegen.

3.14Der EWSA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass, wie schon in der Vergangenheit, in der Gegenwart erst recht größere Anstrengungen erforderlich sind, um die internationale Position des Euroraums zu stärken. Derzeit stehen die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets aufgrund des allgemeinen Sicherheitsrisikos und struktureller Veränderungen vor neuen Herausforderungen. Darüber hinaus können wirtschaftliche und politische Entwicklungen die Position des Euro im internationalen Währungs- und Zahlungssystem beeinflussen. Die Beendigung der russischen Aggression und des Krieges in der Ukraine sowie die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine können zur Erholung der Weltwirtschaft, aber auch zu einer weltwirtschaftlich stärkeren Stellung des Euroraums beitragen.

4.Besondere Bemerkungen

4.1Der EWSA ist überzeugt, dass bei der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität auf die richtigen Prioritäten zu setzen ist. Nur so kann vor dem Hintergrund der derzeitigen großen geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten mit hohem Inflationsrisiko und steigender öffentlichen Verschuldung die relative sozioökonomische Stabilität in den Mitgliedstaaten des Euroraums gewährleistet werden. Dieses Instrument ermöglicht den EU-Mitgliedstaaten die gemeinsame Emission von Anleihen auf den Kapitalmärkten und hat sich bislang als sehr erfolgreich erwiesen. Der EWSA ist daher bezüglich seiner künftigen praktischen Anwendung sehr zuversichtlich. In diesem Zusammenhang hält der EWSA die Nutzung der Aufbau- und Resilienzfazilität über 2026 hinaus für ratsam.

4.2Der EWSA betont, dass die anhaltende Invasion Russlands in der Ukraine zu einer unerwünschten Rezession oder sogar zu einer Stagflation in einigen Euroländern führen kann. Diese negativen Entwicklungen müssen daher unbedingt aufmerksam beobachtet werden, und bereits im Vorfeld sind Maßnahmen zu ergreifen, um diesem Trend entgegenzuwirken.

4.3Der EWSA stellt fest, dass die Arbeitslosenzahlen und die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt relativ stabil sind. Allerdings weist er darauf hin, dass in der Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den einzelnen Ländern im Vergleich zum Zeitraum vor 2008 relativ große Unterschiede bestehen. In einigen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets herrscht aufgrund des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Gerade der vergleichsweise große Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften lässt ausgewählten Sektoren und Branchen kaum Spielraum zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Zusammenhang bemängelt der EWSA, dass im Euro-Währungsgebiet und in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Möglichkeiten für Um- und Weiterqualifizierung nur sehr unzureichend ausgeschöpft werden.

4.4Der EWSA nimmt mit großer Besorgnis die negative Entwicklung in Bezug auf Ungleichheit und zunehmende Armut in den Mitgliedstaaten des Euroraums und in der gesamten EU zur Kenntnis. Ungleichheiten im weitesten Sinne sind zu einem großen Teil auch eine Spätfolge der globalen Finanzkrise. COVID-19 hat diesen negativen Trend weiter verschärft. Von den steigenden Energiepreisen sind derzeit die am stärksten gefährdeten Gruppen sowie die privaten Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen betroffen. Aus diesem Grund fordert der EWSA alle zuständigen Institutionen auf, ein gut funktionierendes soziales Sicherheitsnetz aufzuspannen, das allen Menschen Schutz bietet.

4.5Der EWSA weist erneut auf das mögliche und unvorhersehbare Auftreten weiterer Mutationen, Pandemien und Epidemien hin. Die Entstehung und rasche Ausbreitung von COVID-19 haben deutlich gemacht, dass das Gesundheitswesen nicht auf die Pandemie vorbereitet war. Daher ist nicht nur eine eingehendere Vorbereitung, sondern vor allem auch ein verantwortungsbewussteres Agieren aller zuständigen Stellen und Einrichtungen in diesem Bereich mehr als notwendig. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten zwei Jahre stellt der EWSA fest, dass sich Investitionen in Gesundheit und Prävention besonders auszahlen.

4.6Der EWSA betont, dass die Unterstützung für die Bereitstellung zusätzlicher Liquidität seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie die richtige Entscheidung war. Weil bestimmte Betriebe ihre Tätigkeit einstellen mussten, wird es nun jedoch notwendig sein, für einige Unternehmen einen Insolvenzschutzschirm aufzuspannen. Zusätzliche Liquidität wird auch zur Ankurbelung des Wachstums nach der Pandemie benötigt. Der EWSA drängt darauf, die Schaffung der Kapitalmarktunion und der Bankenunion voranzutreiben.

4.7Der EWSA blickt mit Sorge auf die derzeitigen Verwerfungen in der Weltwirtschaft. Die russische Invasion in der Ukraine hat den Welthandel, den Zahlungsverkehr, die Währungs- und Finanzbeziehungen, den Verkehr, die Wissenschaft und Forschung, die globalen Wertschöpfungsketten und andere Bereiche sehr hart auf die Probe gestellt. Dieser Prozess hat sich sehr negativ auf die sozioökonomische Entwicklung in den Ländern des Euroraums ausgewirkt.

4.8Der EWSA stellt fest, dass die derzeitige große wirtschaftliche und geoökonomische Unsicherheit, die hohe Risiken birgt, die bisher größte Gefahr für das europäische Einigungswerk darstellt. Aufgrund der unvorhersehbaren weiteren sozioökonomischen Entwicklung ist es dringend erforderlich, dass die zuständigen Stellen eine Reihe von Maßnahmen ergreifen und umsetzen, um die externen Schocks für die Volkswirtschaften des Euroraums zu verringern und aufzufangen.

Brüssel, den 6. Oktober 2022

Stefano PALMIERI

Vorsitzender der Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

 

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(1)    Der EWSA begrüßt daher die Ankündigung der EZB vom 15. Juni 2022, ein Instrument zur Bekämpfung der Fragmentierung im Euroraum erarbeiten zu wollen.