STELLUNGNAHME

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

Instrumentalisierung von Migranten

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Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Reaktion auf staatlich geförderte Instrumentalisierung von Migranten an der EU-Außengrenze 
[JOIN(2021) 32 final]

REX/554

Berichterstatter: Stefano PALMIERI

Mitberichterstatter: Pietro Vittorio BARBIERI

DE

Befassung

Europäische Kommission, 02/05/2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

18/01/2022

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

12/05/2022

Verabschiedung im Plenum

15/06/2022

Plenartagung Nr.

570

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

142/2/5

1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass die Reaktion der EU auf die Instrumentalisierung von Migranten in eine gemeinsame und in ihren Teilbereichen kohärente Migrationspolitik eingebettet sein muss. Angesichts der Krise an der belarussischen Grenze und des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine sollte die Angemessenheit des Migrations- und Asylpakets überprüft werden. Hier sollte es nicht darum gehen, die Migrationspolitik nach Notfällen zu unterteilen, sondern sowohl die entsprechenden Maßnahmen als auch den Schutz der betroffenen Personen in einen einheitlichen Aktions- und Rechtsrahmen zu stellen.

1.2Nach Auffassung des EWSA stellt die Instrumentalisierung von Migranten nicht nur für die betreffenden Mitgliedstaaten, sondern auch für die Europäische Union insgesamt eine – möglicherweise immer aktuelle – Bedrohung dar. Der EWSA betont daher, dass die Maßnahmen nur dann wirksam sein und zur Bewältigung dieser Herausforderung beitragen können, wenn es gelingt, die Handlungsebenen der einzelnen Initiativen (politisch, legislativ, administrativ, humanitär) mit den jeweiligen Handlungsbereichen (gemeinschaftlich, national, lokal, international) und den beteiligten Akteuren (Institutionen, Organisationen der Zivilgesellschaft, Sozialpartner, Bürger usw.) im Einklang mit den höchsten Standards des EU‑ und des Völkerrechts miteinander zu verbinden.

1.3Der EWSA hält es für unerlässlich, dass die EU die Mitgliedstaaten rechtzeitig, koordiniert und wirksam unterstützt, und zwar sowohl in materieller Hinsicht (Haushaltsmittel und Personal der EU-Agenturen) als auch in administrativer, legislativer und politischer Hinsicht. Dazu sind gemeinsame Anstrengungen vor Ort und auf interinstitutioneller Ebene erforderlich, und die Initiativen müssen vollkommen transparent sein. Zudem muss die Handlungsfreiheit der humanitären Organisationen und der unabhängigen Medien in den Gebieten, in denen eine Instrumentalisierung von Migranten stattfindet, gewährleistet werden.

1.4Der EWSA hält es insbesondere für unerlässlich, einen integrierten Rahmen für humanitäre Maßnahmen zu schaffen, der die Ressourcen und Strukturen der nationalen und europäischen Institutionen und Agenturen zusammenführt und die Einbindung der internationalen Agenturen (UNHCR, IOM) sowie den Beitrag der NRO und der Zivilgesellschaft sicherstellt. Dies würde zur erfolgreichen Koordinierung der Maßnahmen beitragen und dafür sorgen, dass die humanitären Aktionen als Instrument zur Stärkung der Grundsätze der EU anerkannt werden.

1.5In diesem Zusammenhang vertritt der EWSA die Auffassung, dass die uneingeschränkte und sofortige Anerkennung der Rechte instrumentalisierter Migranten und die gleichzeitige Vermeidung von Grauzonen oder administrativen Unwägbarkeiten entscheidend dazu beiträgt, die Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität der EU und der betroffenen Mitgliedstaaten vor Ort zu mindern bzw. zu beseitigen und somit die Versuche zur Instrumentalisierung von Migranten unwirksam zu machen.

1.6Die Reaktion der EU muss unbedingt auf die Ursachen der Ströme instrumentalisierter Migranten abzielen. Dazu muss sie die Drittstaaten einbeziehen und deren Bemühungen um die Information der Öffentlichkeit – im Sinne einer von den Grundsätzen der Demokratie und des Schutzes der Menschenrechte getragenen Zusammenarbeit – unterstützen. Auf diese Weise können den staatlichen Akteuren, die die Instrumentalisierung von Migranten fördern, Mittel entzogen werden.

1.7In Bezug auf Staaten, die die Instrumentalisierung von Migranten fördern oder unterstützen, spricht sich der EWSA für multilaterale Maßnahmen der EU, der internationalen Institutionen und der Partnerländer aus, mit denen sich derartige Vorgehensweisen verurteilen und konterkarieren lassen, u. a. durch entsprechende wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen.

1.8Der Krieg, den die Russische Föderation derzeit gegen die Ukraine führt, hat die Flucht von mindestens 3,9 Millionen Menschen zur Folge 1 , die nun – zusätzlich zu mehreren Millionen Binnenvertriebenen – hauptsächlich von den Nachbarländern und anderen EU-Ländern aufgenommen werden. Zumindest in Europa hat es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie einen Flüchtlingsstrom dieser Größenordnung gegeben. Die EU hat schnell reagiert, insbesondere im Zuge der Richtlinie über vorübergehenden Schutz aus dem Jahr 2001 2 und des Vorschlags für den Einsatz von Kohäsionsmitteln zugunsten von Flüchtlingen in Europa (CARE). Der EWSA ist der Auffassung, dass solche Instrumente, die auf Zusammenhalt, Solidarität und gemeinsamer Verantwortung der Mitgliedstaaten beruhen, von entscheidender Bedeutung sind, um die Krise der Instrumentalisierung von Migranten zu bewältigen.

1.9Die EU gilt derzeit als ein sicherer Ort, der Millionen ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern Asyl und Schutz bietet. Allerdings ist die Last der Aufnahme und Unterstützung von Migranten in puncto Kapazitäten und Ressourcen auf die beteiligten Mitgliedstaaten ungleich verteilt. Die Öffnung der EU-Binnengrenzen hat bisher die unbehinderte Bewegung ukrainischer Flüchtlinge in die von ihnen angestrebten Länder ermöglicht. Es bleibt jedoch ein objektives Ungleichgewicht zwischen der Last, die die angrenzenden Länder im Unterschied zu den anderen EU-Mitgliedstaaten zu tragen haben. Wenngleich vom Ausmaß her nicht vergleichbar, so macht die Instrumentalisierung von Migranten an der belarussischen Grenze (wie auch in anderen Fällen) doch deutlich, dass die Mechanismen der Solidarität und der Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten gründlich überprüft werden müssen, insbesondere mittels einer Umverteilung der unterstützten Migranten. Dies gilt ganz klar insbesondere in Krisensituationen.

1.10Der EWSA möchte sich auch zum Geist des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl 3 äußern. So ist er der Ansicht, dass beim vorgesehenen komplexen Mechanismus zur Festlegung des Rechtsrahmens und der Verwaltungsverfahren im Falle der Instrumentalisierung von Migranten das Ausmaß der zwischenstaatlichen Krise verkannt wird, die sich in diesem Bereich manifestieren könnte und die nicht von dem gegenüber den Migranten selbst zu verfolgenden Ansatz getrennt werden kann.

1.11Nach Ansicht des EWSA sind zwar Ad-hoc-Instrumente zur Bewältigung der Instrumentalisierung von Migranten erforderlich, doch es muss ein rechtzeitiger und umfassender Schutz (auch durch die Richtlinie über vorübergehenden Schutz) erwogen werden. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen die Kontrolle der Einreise an den Grenzen, die Kontrolle der Sekundärmigration und die für die normalen Asylverfahren vorgesehenen Aufschübe oder Ausnahmen nicht funktionieren und dem Ziel des Schutzes instrumentalisierter Migranten zuwiderlaufen. In jedem Fall sollte das Schutzniveau für Migranten im Verhältnis zum Ausmaß der zwischenstaatlichen Krise, das im Zusammenhang mit der Instrumentalisierung von Migranten zu beobachten ist, angehoben werden.

2.Vorschlag

2.1In der Mitteilung wird hervorgehoben, dass die Migrationskrise an den Grenzen zwischen Belarus und der EU (Litauen, Lettland und Polen) ein bewusster Versuch ist, eine dauerhafte und langwierige Krise auszulösen. Dabei sind diese Aktionen Teil einer breiteren konzertierten Bemühung, die EU zu destabilisieren und ihre Einheit und Entschlossenheit auf die Probe zu stellen. Hier handelt es sich um eine „hybride Bedrohung“, die auf der Instrumentalisierung von Migranten durch ein Drittland beruht.

2.2Die im vorliegenden Dokument verwendeten Begriffe „Krise“ und „Bedrohung“ bezeichnen nicht nur ein spezifisches und komplexes Migrationsphänomen, sondern verweisen auch auf die Bedeutung der politischen Spannungen und Instabilitätsfaktoren, die sich aus dem geopolitischen Kontext ergeben.

2.3Dieser Sachverhalt stellt nicht nur eine Bedrohung für die Sicherheit der EU dar, sondern hat auch zu einer kritischen Lage vor Ort geführt, insbesondere für die betroffenen Migranten – mit schwerwiegenden humanitären Folgen im Grenzgebiet sowohl auf belarussischer Seite als auch auf EU-Seite. Es gibt zahlreiche Berichte über Migranten, die auf der belarussischen Seite unmenschlich behandelt und erniedrigt werden, auch um Druck auf die EU auszuüben. Das Risiko wird jedoch durch den langen Aufenthalt der Migranten in dem Gebiet und durch die Unerreichbarkeit der EU-Grenze erhöht.

2.4Sämtliche Organe und Institutionen der EU haben die Instrumentalisierung von Migranten und schutzbedürftigen Flüchtlingen unverzüglich und mit Nachdruck verurteilt. Die daraus resultierenden internationalen Maßnahmen führten zur Beteiligung und Zusammenarbeit der EU und der Partnerländer, insbesondere der Herkunftsländer der Migranten.

2.5In dieser neuen Krisensituation hat die EU Maßnahmen ergriffen, um die betroffenen Mitgliedstaaten zu unterstützen, wobei sie den spezifischen Reaktionen der nationalen Regierungen und Parlamente – namentlich der Ausrufung des Notstands in den Grenzregionen – Rechnung getragen hat. Die Kommission hat diesbezüglich angemessene Hilfen angeboten, um die Übereinstimmung der entsprechenden Gesetze mit dem EU-Recht zu gewährleisten.

2.6Die Mitteilung bietet einen Überblick über die politischen, technischen und logistischen Maßnahmen, die zur Unterstützung der betroffenen Mitgliedstaaten ergriffen wurden. Seit den Besuchen von Kommissarin Johansson und den anschließenden Appellen der Kommission an die Mitgliedstaaten sind die politischen Beziehungen auch dadurch geprägt, dass die EU‑Agenturen (Frontex, Europol, EASO, Soforthilfen aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds) technische Unterstützungsleistungen an den Grenzen bereitstellen.

2.7Was die internationalen Maßnahmen – insbesondere in Bezug auf Herkunfts- und Transitstaaten – betrifft, so ist die Kommission auf höchster Ebene tätig geworden und hat die Zusammenarbeit mit dem Irak, dem Libanon, der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Usbekistan verbessert. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, die kriminellen Schleusernetze zu bekämpfen, die der Instrumentalisierung von Migranten durch Belarus Vorschub leisten.

2.8In einer zwischenstaatlichen Krise besteht ein hohes Risiko, dass ein „Kriegsnebel“ (fog of war) entsteht, der die Verbreitung von Falschinformationen, Falschmeldungen und Falschdarstellungen ermöglicht und mit der politischen Instrumentalisierung von Migranten einhergeht. In der Mitteilung wird darauf hingewiesen, dass dieses Risiko auf der belarussischen Seite der Grenze besteht, insbesondere im Hinblick auf die Medien, die von der belarussischen und der russischen Regierung kontrolliert werden. Dabei werden die Bedeutung und insbesondere die Rolle der freien Presse hervorgehoben, wenngleich ihre Relevanz nicht in gleichem Maße für die Krisengebiete auf EU-Seite herausgestellt wird.

2.9Die Kommission unterstreicht, dass in Krisensituationen weitere Mittel aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) und dem Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik (BMVI) bereitgestellt werden können. In Bezug auf Rückkehrmaßnahmen (unterstützte freiwillige bzw. nicht freiwillige Rückkehr) wird in der Mitteilung auf die Zusammenarbeit zwischen Kommission, Frontex und Internationale Organisation für Migration (IOM) hingewiesen, wobei die notwendige Kooperation der Herkunftsländer der Migranten herausgestellt wird.

3.Bemerkungen

Instrumentalisierung von Migranten und Steuerung der migrationspolitischen Maßnahmen

3.1Der EWSA ist der Auffassung, dass die Reaktion der EU auf die Instrumentalisierung von Migranten in eine gemeinsame und in ihren Teilbereichen kohärente Migrationspolitik eingebettet sein muss.

3.1.1Mit Blick auf eine ordnungsgemäße Migrationssteuerung sollte sich die EU der Tatsache bewusst sein, dass Migrationsprozesse niemals allein durch Initiativen eines Staates ausgelöst werden, selbst wenn dieser Migranten für politische Zweck instrumentalisiert (gleichwohl können einige Initiativen einen – mitunter beträchtlichen – Einfluss auf den Umfang der Migrationsströme haben).

3.1.2Bei der Reaktion auf die drängendsten Krisen (mit aktiver Beteiligung eines Drittstaats oder infolge eines Kriegs oder militärischen Eingreifens) muss sich die EU an einem Ansatz der Solidarität – in erster Linie gegenüber den betroffenen Menschen – orientieren.

3.1.3Ungeachtet der Notwendigkeit, alle in unmittelbarer Lebensgefahr befindlichen Menschen (Flüchtlinge und Kriegsopfer) zu retten, kann die Differenzierung des rechtlichen Status – z. B. von Personen, die Formen des Schutzes anstreben können, und anderen Migranten – nur nach Umsetzung transparenter und dem EU-Recht und internationalen Standards entsprechender Asylverfahren erfolgen. Sie darf nicht das Ergebnis einer Vorabdefinition des jeweiligen Phänomens bzw. der jeweiligen Krise („hybride Bedrohung“, Instrumentalisierung von Migranten, „Wirtschaftsmigration“ usw.) sein.

Hybride Angriffe und Instrumentalisierung von Migranten

3.2Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission in Bezug auf Art und Ausmaß der Bedrohung, die von der Instrumentalisierung von Migranten durch Belarus ausgeht. Der EWSA anerkennt die Bedrohung der EU durch Formen der „hybriden Bedrohung“, die „mit der staatlich geförderten Instrumentalisierung von Menschen für politische Zwecke“ verbunden sind.

3.2.1In der Begriffsbestimmung werden „hybride Bedrohungen“ auch als Bedrohungen durch „einen Staat oder einen nichtstaatlichen Akteur“ bezeichnet. Hybride Bedrohungen können von unterschiedlichen Akteuren ausgehen und unterschiedliche Zielgruppen betreffen (staatliche Einrichtungen, Institutionen, soziale Organisationen, Einzelpersonen). Auch wenn eine solche umfassende Analyse allgemeine Erklärungsansätze bietet, ist sie von der Ermittlung von Fakten bezüglich der entsprechenden Maßnahmen zu unterscheiden. Der EWSA betont deshalb, dass im Hinblick auf spätere Regulierungsmaßnahmen – insbesondere die rechtliche Behandlung von Migranten und die Bereitstellung humanitärer Hilfe in Notsituationen – die Beteiligung mindestens eines staatlichen Akteurs vorliegen muss, damit von einer Instrumentalisierung von Migranten ausgegangen werden kann.

3.2.2Angesichts der in der Mitteilung enthaltenen zutreffenden Definition des Begriffs „hybride Bedrohung“ hofft der EWSA auf eine vielschichtige und integrierte Reaktion. Diese sollte nicht nur auf die internationalen Beziehungen (zwischen den Mitgliedstaaten, der EU und den Partnerländern) ausgerichtet sein, sondern auch im Einklang mit den Maßnahmen und Verpflichtungen der EU hinsichtlich der Förderung der Menschenrechte, des Schutzes von Migranten und des Asylrechts stehen. Nach Auffassung des EWSA sollten daher alle Instrumente für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, den EU-Organen und ‑Agenturen im Hinblick auf eine gemeinsame Krisenbewältigung gestärkt werden.

Solidarität, Koordinierung und gemeinsames Krisenmanagement

3.3Der EWSA teilt die Auffassung, dass „diese Aktionen [...] eine reelle und allseits gegenwärtige Gefahr für die Sicherheit der EU“ und nicht nur der unmittelbar betroffenen Mitgliedstaaten darstellen. Die in der Mitteilung dargelegten Fakten und die schwere Krise in der Ukraine bestärken den EWSA in seiner Überzeugung, dass es zweifellos eines politischen, regulatorischen und verfahrenstechnischen Rahmens für eine gemeinsame Reaktion und ein gemeinsames Krisenmanagement der Mitgliedstaaten und der EU-Organe bedarf.

3.3.1In Anlehnung an seine frühere Stellungnahme zu den Vorschlägen zur Änderung der Einwanderungs- und Asylvorschriften 4 hält es der EWSA daher für wesentlich, einen solidarischen und kooperativen Ansatz auf Ebene der Mitgliedstaaten zu verfolgen. Denn die durch Belarus geschaffene Lage ist sicherlich nicht die einzige, die mehr Aufgaben und Schwierigkeiten für die Ersteinreiseländer verursacht. Dies gilt insbesondere angesichts der Bedeutung, die im Migrations- und Asylpaket der Grenzkontrolle und der Verhinderung von Sekundärmigration beigemessen wird.

3.3.2Die angestrebte spezifische Verordnung zur Bekämpfung der staatlich geförderten Instrumentalisierung von Migranten sollte daher Verfahren zur solidarischen Aufgabenteilung zwischen den Mitgliedstaaten vorsehen, einschließlich der Möglichkeit schneller und der Schwere der Krise entsprechender Umsiedlungsmaßnahmen.

3.3.3Die Krise an der belarussischen Grenze weist unterschiedliche, aber auch ähnliche Merkmale im Vergleich zu anderen staatlichen Strategien zur Instrumentalisierung von Migrationsströmen auf: zentrales Mittelmeer, Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei, Spanien und Marokko, Bosnien und Kroatien, Serbien und Ungarn (allein im Jahr 2021). Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU über ihre in früheren Krisen ergriffenen Maßnahmen hinausgehen muss. Insbesondere muss sie Situationen der Abhängigkeit von politischen Strategien von Drittländern, die nicht mit der Politik und den Grundsätzen der EU vereinbar sind, vermeiden.

Schutz von Migranten im Falle einer Instrumentalisierung

3.4Der EWSA ist der Auffassung, dass die Reaktion der EU gemeinsame Maßnahmen zur Bewältigung der Bedrohungslage umfassen muss. Dabei ist gleichzeitig der Tatsache klar Rechnung zu tragen, dass die betroffenen Migranten in diesen spezifischen Situationen per se besonders gefährdet und schutzbedürftig sind, und dies nicht zuletzt im Rahmen einer zwischenstaatlichen Krise.

3.4.1Der EWSA teilt die in der Mitteilung zum Ausdruck gebrachte Besorgnis über die humanitäre Lage an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten und Belarus. Die Schwierigkeit, auf der belarussischen Seite der Grenze tätig zu werden, spiegelt eine objektive Beschränkung humanitärer Maßnahmen in Krisensituationen und zwischenstaatlichen Konflikten wider. Dies sollte jedoch ein Impuls für verstärkte Anstrengungen sein, die humanitäre Hilfe für Migranten innerhalb der Grenzen der Mitgliedstaaten mit den Standards des EU-Rechts und den etablierten Verfahren zur Unterstützung schutzbedürftiger Personen in Einklang zu bringen.

3.4.2Der EWSA fordert einen leichteren Zugang für Organisationen der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten der Grenze zwischen der EU und Belarus, um humanitäre Hilfe (Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittelhilfe, Rechtsberatung) leisten zu können.

3.4.3In diesem Zusammenhang müssen die EU-Organe gegen jede Maßnahme oder Darstellung vorgehen, durch die das solidarische Handeln der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft kriminalisiert wird, wie der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen 5 ausgeführt hat.

3.4.4In der Mitteilung wird hervorgehoben, dass die Sekundärbewegungen erheblich zugenommen hat (zumindest gemessen an der Zahl der Migranten, die während der Krise an den EU-Grenzen ankommen) und dass die Grenzschutzbeamte der von der Ersteinreise und Sekundärmigration betroffenen Mitgliedstaaten gemeinsame Patrouillen vornehmen. Der EWSA ist der Auffassung, dass im Falle der Instrumentalisierung von Migranten die Frage der Sekundärmigration unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten angegangen werden sollte. Gleichzeitig sollte den schutzbedürftigsten Migranten insbesondere in den aktiven Phasen der Krise die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet werden, um weitere Risiken für ihre Sicherheit zu vermeiden.

3.4.5Der EWSA verweist auch auf jene Risiken für einen menschenwürdigen, gerechten und umfassenden Schutz vulnerabler Migranten, die sich aus der ausufernden Zahl von Rechtsstatus und Ausnahmeverfahren seitens der Mitgliedstaaten und der EU selbst ergeben – sogar im Rahmen einer Krise, die spezifische Reaktionen erfordert. Deshalb ist es notwendig, die Ausnahmen von den Standardverfahren für Aufnahme und Asyl mit spezifischen Garantie- und Schutzmaßnahmen aufgrund der ernsten Gefährdungslage in Einklang zu bringen und außerdem den Grundsatz der Nichtzurückweisung jederzeit zu wahren.

Bekämpfung von Desinformation, Rolle der Medien und Schutz von Risikopersonen

3.5Der EWSA begrüßt, dass der Schwerpunkt der Kommunikation auf der Bekämpfung von Desinformation, Fake News und Faktenmanipulation liegt, u. a. durch gezielte Informationskampagnen in den Herkunftsländern der Migrantenströme und durch die Nutzung von IKT-Instrumenten, mit denen Migranten korrekte und überprüfbare Informationen erhalten sollten (z. B. „Infomigrants“).

3.5.1Darüber hinaus ist der EWSA der Ansicht, dass entsprechend den Werten der EU Informationen frei bereitgestellt werden und für die Öffentlichkeit relevante Fakten und Daten frei zugänglich sein müssen. Daher müssen die Mitgliedstaaten und die EU-Agenturen bei der Durchführung von Notfallmaßnahmen stets ein Höchstmaß an Handlungs- und Kommunikationsfreiheit für unabhängige Medien in Gebieten, in denen Migranten instrumentalisiert werden, gewährleisten und gleichzeitig klare und transparente Regeln für den Zugang zu Aufnahme- und Kontaktstellen für Migranten festlegen.

3.5.2Im Hinblick auf die Bekämpfung der logistischen Netze für die Migrantenschleusung auf Internet-Plattformen und in sozialen Medien sollte die Kommission mit Unterstützung der EU‑Agenturen (ENISA) zwischen von den Schleusern unmittelbar genutzten und von Migranten untereinander genutzten Kommunikationsinstrumenten unterscheiden. Ziel sollte es sein, zwischen den Verantwortlichkeiten zu differenzieren und weder die Datenschutzrechte zu verletzen noch die Sicherheit der instrumentalisierten Migranten indirekt oder unbeabsichtigt zu gefährden.

Internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Instrumentalisierung von Migranten

3.6Der EWSA begrüßt, dass die EU-Organe Maßnahmen zur Stärkung der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern der instrumentalisierten Migranten ergriffen haben, um diesen die Risiken für die Migranten vor Augen zu führen und die internationale Zusammenarbeit im Bereich Migration zu verbessern.

3.6.1Im Interesse eines erfolgreichen gemeinsamen Vorgehens der EU und der betreffenden Drittländer sollte diese Zusammenarbeit durch den Mechanismus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsabkommen ergänzt werden.

3.6.2Alle mit Drittländern vereinbarten Abkommen und Verfahren müssen davon abhängig gemacht werden, dass im Rahmen dieser Beziehungen die Menschenrechte und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der betreffenden Länder eingehalten werden.

3.6.3Eine solche Zusammenarbeit würde auch die Bemühungen der Polizei und der Nachrichtendienste zur Verhütung und Bekämpfung krimineller Vereinigungen, die an der Schleusung von Migranten beteiligt sind, stärken und dabei den Asylrechten und dem Schutz der Migranten selbst in vollem Umfang Rechnung tragen, sowohl im Falle von Aktivitäten im Zusammenhang mit der Instrumentalisierung von Migranten als auch im Allgemeinen. 6

Unterstützung der Mitgliedstaaten

3.7Der EWSA begrüßt die Unterstützung der bedrohten Mitgliedstaaten, insbesondere durch die EU-Agenturen im Bereich Inneres (Frontex, EUAA, EASO, Katastrophenschutzverfahren). Diese sollten in allen Fällen tätig werden, in denen eine Notlage nach einem ausgewogenen und transparenten Verfahren anerkannt wird. 7

3.7.1Der EWSA ist der Auffassung, dass den bedrohten Mitgliedstaaten künftig ein angemessenes Maß an Unterstützung gewährt werden sollte, dem ein ebenso hohes Maß an Schutz und Unterstützung für die Opfer der Instrumentalisierung (vor allem für die am stärksten gefährdeten Personen) gegenüberstehen muss.

3.7.2Der EWSA bekräftigt nachdrücklich, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur freiwilligen und nicht freiwilligen Rückkehr von Migranten, denen kein Asylrecht zuerkannt wurde, auch in Notsituationen – unter voller Achtung der Grundrechte und internationalen Verpflichtungen und mit Unterstützung der EU-Agenturen – durchgeführt werden müssen.

Instrumente und Vorschriften für das künftige Krisenmanagement

3.8Der EWSA unterstreicht, dass diese Stellungnahme den gegenwärtig erörterten und erarbeiteten Maßnahmen Rechnung trägt, insbesondere dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl. Der Vorschlag enthält Rechtsvorschriften über den Status von Migranten und die Verfahren für die Beantragung von Asyl und internationalem Schutz in entsprechenden Situationen.

3.8.1In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, dass die Verordnung die Sicherheitsbedürfnisse der Mitgliedstaaten berücksichtigen und gleichzeitig rechtliche Verpflichtungen zur Bewältigung der Notlage und zur Gewährleistung von Schutzrechten für Migranten im Einklang mit internationalen Verpflichtungen und dem EU-Recht vorsehen sollte.

3.8.2Die Kommission und die zuständigen Stellen müssen insbesondere prüfen, ob die in den Mitgliedstaaten erlassenen oder in Vorbereitung befindlichen Rechtsakte mit den Grundrechten und EU-Rechten vereinbar sind, um die derzeitige Krise zu bewältigen und künftige Krisen zu verhindern.

3.8.3Bei der Prüfung einer solchen Verordnung wird der EWSA sein besonderes Augenmerk auf die Ausnahmen und Abweichungen von Standardverfahren für Einreise und Asyl, den wirksamen Rechtsbehelf im Falle eines ablehnenden Bescheids, die Rückführungsverfahren sowie die umfassende Transparenz und Zusammenarbeit zwischen den sich in einer Notsituation befindlichen Mitgliedstaaten und den EU-Organen und -Agenturen legen.

Brüssel, den 15. Juni 2022

Christa Schweng

Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

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(1)    5 317 219 Flüchtlinge in den Nachbarländern und der EU (aktualisiert am 26. April 2022, Quelle UNHCR: https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine ).
(2)    Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und über Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten).
(3)    Siehe COM(2021) 890 final – 2021/0427 (COD) „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl“ .
(4)     ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15;   ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 58
(5)       ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 24
(6)    Siehe „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen – Neuer EU Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten (2021-2025)“ [COM(2021) 591 final].
(7)    Auf Ersuchen eines Mitgliedstaats, das durch einen späteren Vorschlag der Kommission und eine Beratung des Europäischen Rates unterstützt wird, und mithilfe von Verfahren zur ständigen Überwachung und Bewertung. Siehe COM(2021) 890 final – 2021/0427 (COD) „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl“.