STELLUNGNAHME

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

Soziale Taxonomie – Herausforderungen und Chancen

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Soziale Taxonomie – Herausforderungen und Chancen

[Initiativstellungnahme]

ECO/581

Berichterstatterin: Judith VORBACH

DE

Beschluss des Plenums

20/01/2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

09/09/2022

Verabschiedung im Plenum

22/09/2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/26/12

1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) beleuchtet in dieser Stellungnahme den Gedanken einer Sozialtaxonomie und möchte damit die Debatte anregen. Der EWSA fordert die Kommission auf, den überfälligen Bericht mit den Bestimmungen zu veröffentlichen, die erforderlich wären, um den Anwendungsbereich der Taxonomie auf „andere Nachhaltigkeitsziele, wie etwa soziale Ziele“, auszuweiten, wie dies in der Taxonomieverordnung 1 (im Folgenden „Verordnung“) gefordert wird. Der EWSA spricht sich für eine praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die Chancen zu nutzen und zugleich die Herausforderungen zu meistern. Die EU-Taxonomie sollte auf einen ganzheitlichen Ansatz ausgerichtet sein, der sowohl die ökologische als auch die soziale Nachhaltigkeit umfasst. Angesichts der Herausforderungen des ökologischen Wandels, der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden geopolitischen Spannungen bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik und einer stärkeren Fokussierung auf soziale Ziele.

1.2Der in der Verordnung vorgesehene Mindestschutz ist sehr zu begrüßen und sollte sorgfältig umgesetzt werden. Er reicht jedoch nicht aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten. Eine EU-Taxonomie würde durch die Mobilisierung von Investition dazu beitragen, den dringenden Investitionsbedarf im Sozialbereich zu decken. Sie wird sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Gerechtigkeit und Inklusion ausgerichteten Politik ist. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte die seit Langem erwarteten Leitlinien liefern. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Prognose über den Mittelbedarf für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte vorzulegen. Alles in allem werden öffentliche Investitionen für die öffentlichen Dienstleistungen weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Gleichwohl könnte eine gemeinsam vereinbarte Sozialtaxonomie Leitlinien für Investitionen mit positiven sozialen Auswirkungen enthalten.

1.3Der EWSA empfiehlt, den von der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen 2 (im Folgenden „die Plattform“) vorgeschlagenen mehrstufigen und vielfältigen Ansatz auch im Bericht der Kommission zu berücksichtigen. Die Integration einer Sozialtaxonomie in den EU‑Rechtsrahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen und eine nachhaltige Unternehmensführung wäre sinnvoll, wird jedoch noch viel Arbeit erfordern. Insbesondere wäre der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen eine wichtige Ergänzung zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer die Maßnahmen beurteilt und bewertet werden könnten. Eine gut konzipierte Sozialtaxonomie würde auch dazu beitragen, das potenzielle Problem des Social Washing anzugehen. Der EWSA empfiehlt, mit einfachen und klaren Leitlinien zu beginnen, einfache und transparente Verfahren vorzusehen und diese zu einem späteren Zeitpunkt schrittweise zu ergänzen. Letztlich sollte eine enge Integration der Sozial- und Umwelttaxonomie angestrebt werden, doch in einem ersten Schritt könnte gegenseitiger Mindestschutz sinnvoll sein.

1.4In der EU-Taxonomie sollten Tätigkeiten und Unternehmen aufgeführt werden, die einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten und einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über die bestehenden Rechtsvorschriften hinausgehen. Der EWSA begrüßt die von der Plattform vorgeschlagenen Ziele: menschenwürdige Arbeit, einen angemessenen Lebensstandard sowie inklusive und nachhaltige Gemeinschaften. Zwar sollten verschiedene internationale und europäische Grundsätze als Grundlage dienen, doch empfiehlt der EWSA insbesondere die Bezugnahme auf die europäische Säule sozialer Rechte und die einschlägigen Ziele für nachhaltige Entwicklung, z. B. auf Ziel 8 „Menschenwürdige Arbeit“. In jedem Fall muss die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte eine Grundbedingung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht ist von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz 3 darstellen. Leitlinien mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, sollten als taxonomiekonform gelten. Es ist zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert und in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen ist – ein Problem, das mit der Mindestlohnrichtlinie angegangen wurde.

1.5Der EWSA fordert die Gesetzgeber auf, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend in die Gestaltung der Sozialtaxonomie einzubeziehen, da sie zum einen betroffen sind und Berichtspflichten nachkommen müssen. Zum anderen muss ihre Teilhabe gewahrt bleiben. Der EWSA hält die übermäßige Nutzung delegierter Rechtsakte im Bereich der Taxonomie für fragwürdig, weil eine große Bandbreite politischer Fragen angeschnitten wird. Ziel der Taxonomie ist es, Transparenz für Investoren, Unternehmen und Verbraucher zu schaffen. Ihre mögliche Nutzung durch staatliche Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme sollte künftig angemessen bewertet und erörtert werden. Jede breitere Verwendung muss Gegenstand eines geeigneten Entscheidungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden. Schließlich muss die Gefahr des Social Washing gebannt werden. Es sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden, und die zuständigen nationalen Behörden sollten stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen.

1.6Der EWSA möchte weitere Vorteile einer Sozialtaxonomie hervorheben. Erstens sollte die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen durch eine zuverlässige Taxonomie unterstützt werden, die ein kohärentes Konzept zur Messung der sozialen Nachhaltigkeit darstellt. Zweitens könnten sozial schädliche Tätigkeiten wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Eine Taxonomie könnte dazu beitragen, diese Risiken möglichst gering zu halten. Drittens ist Transparenz von entscheidender Bedeutung für die Effizienz des Kapitalmarkts und könnte auch zum sozialen Binnenmarkt im Sinne von Artikel 3 AEUV beitragen. Sie würde gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern, unlauteren Wettbewerb verhindern und Unternehmen und Organisationen, die zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, mehr Sichtbarkeit geben. Viertens sollte die EU auf ihren Stärken aufbauen und bestrebt sein, ein Vorbild und Vorreiter in Sachen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit zu werden. Die Debatte über eine EU-Ratingagentur sollte wieder aufgenommen werden. Außerdem bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten.

1.7Der EWSA weist auch auf Herausforderungen und mögliche Lösungen hin. Erstens gibt es Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung. Investitionen beruhen jedoch auch auf anderen Kriterien, wie der erwarteten Rendite, die gewichtiger als die Nachhaltigkeitsziele sein könnten, und es gibt auch viele Fälle von Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure. In jedem Fall sollte die Kommission klarstellen, dass fehlende Taxonomiekonformität nicht als schädlich angesehen werden darf. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden. Zweitens wird es Kontroversen darüber geben, was in die Taxonomie aufgenommen werden sollte. Genau aus diesem Grund sollte diese Festlegung mit Hilfe einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung geklärt werden. Auf diese Weise könnte eine gemeinsame und verlässliche Vorstellung von Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure beziehen können und sollen. Der Erfolg der Taxonomie hängt von ihrer Glaubwürdigkeit ab, und die von ihr erfassten Tätigkeiten müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen. Drittens könnte eine Sozialtaxonomie zusätzliche Berichtspflichten nach sich ziehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese auf ein Minimum zu reduzieren und gleichzeitig Überschneidungen zu vermeiden. Beratung und die Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Taxonomie durch eine gesetzlich berechtigte Stelle könnten insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Geschäftsmodelle von Nutzen sein. Darüber hinaus sollten Finanzinstitute ermutigt werden, Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorzulegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun.

2.Hintergrund der Stellungnahme

2.1Der EU-Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen soll dazu beitragen, private Finanzströme in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu lenken. Der Aktionsplan 2018 für ein nachhaltiges Finanzwesen setzt sich aus einer Taxonomie, einem Offenlegungssystem für Unternehmen und Anlageinstrumenten einschließlich Benchmarks, Standards und Gütesiegeln zusammen. Der Schwerpunkt der erneuerten Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen von 2021 liegt hingegen auf der Finanzierung des Übergangs der Realwirtschaft zur Nachhaltigkeit sowie auf Inklusivität, Resilienz, dem Beitrag des Finanzsektors sowie auf globalen Zielen. In diesem Rahmen hat die EU an verschiedenen Gesetzesinitiativen gearbeitet, bei denen die EU‑Taxonomie eine Schlüsselrolle spielt. Der EWSA verweist auf seine einschlägigen Stellungnahmen 4 .

2.2Die EU-Taxonomie soll für Investoren und Unternehmen Transparenz schaffen und ihnen bei der Ermittlung nachhaltiger Investitionen helfen. Die Verordnung stellt ein Klassifizierungssystem dar, das sich auf sechs Umweltziele in den Bereichen Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Wasser, biologische Vielfalt, Vermeidung von Umweltverschmutzung und Kreislaufwirtschaft konzentriert. Eine ökologisch nachhaltige Investition muss einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung eines oder mehrerer dieser Ziele leisten, darf keines dieser Ziele erheblich beeinträchtigen (DNSH-Grundsatz) und muss bestimmte Schwellenwerte bezüglich der Leistung („technische Bewertungskriterien“) einhalten. Sie muss auch einen Mindestschutz in den Bereichen Soziales und Unternehmensführung Rechnung tragen (Artikel 18). Deshalb müssen Unternehmen ihre Tätigkeiten mit den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen, den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit sowie der Internationalen Charta der Menschenrechte in Einklang bringen.

2.3Gemäß Artikel 26 der Verordnung ist die Kommission verpflichtet, bis Ende 2021 einen Bericht zu veröffentlichen, in dem die für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf „andere Nachhaltigkeitsziele wie soziale Ziele“ erforderlichen Bestimmungen erläutert werden. Dies zeigt zwar die Absicht, den Anwendungsbereich auszuweiten, verlangt aber noch nicht die Einführung einer sozialen Taxonomie. Im Einklang mit der Verordnung wurde die Untergruppe „Soziale Taxonomie“ der Plattform beauftragt, die Ausweitung der Taxonomie auf soziale Ziele zu prüfen. Ihr Abschlussbericht über die Sozialtaxonomie 5 wurde im Februar 2022 veröffentlicht, später als angekündigt, und die Kommission wird voraussichtlich auf dessen Grundlage ihren Bericht erstellen. Darüber hinaus soll die Plattform die Kommission zur Anwendung des Artikels 18, d. h. zu der Frage, wie Unternehmen die Mindestschutzvorschriften einhalten können, und einer möglicherweise erforderlichen Ergänzung der Anforderungen des Artikels beraten.

2.4Die Plattform schlägt vor, die Struktur für eine soziale Taxonomie in den derzeitigen EU‑Rechtsrahmen für nachhaltige Finanzierungen und eine nachhaltige Unternehmensführung zu integrieren. Im Falle der Einführung einer Sozialtaxonomie würden weitere Bestimmungen ein ordnungspolitisches Umfeld schaffen, darunter der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen – mit der die Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen ersetzt und verbindliche EU-Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingeführt werden sollen –, die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten und die Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit. Insbesondere müssen sich die Unternehmen laut dem Richtlinienvorschlag zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen auch mit Informationen zu sozialen Themen und zur Berichterstattung über die Unternehmensführung auseinandersetzen. Es wird auch erwartet, dass die Richtlinie die Offenlegung in Bezug auf soziale Belange verbessert. Die Richtlinie wäre daher ein wichtiges Gegenstück zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer diese Aspekte gemessen und bewertet werden können.

2.5Trotz einiger Unterschiede regt die Plattform an, sich strukturell an die Umwelttaxonomie anzulehnen. Sie schlägt drei Hauptziele vor, die durch Unterziele ergänzt werden. Unter den Zielvorschlag „menschenwürdige Arbeit“ fallen Unterziele wie die Stärkung des sozialen Dialogs, die Förderung von Tarifverhandlungen und existenzsichernde Löhne, die ein menschenwürdiges Leben garantieren. Das Ziel „angemessener Lebensstandard“ umfasst gesunde und sichere Produkte, eine hochwertige Gesundheitsversorgung und hochwertigen Wohnraum. Mit dem Ziel „inklusive und nachhaltige Gemeinschaften“ sollten auch Gleichheit und integratives Wachstum sowie tragfähige Existenzgrundlagen gefördert werden. Beim vorgeschlagenen Mindestschutz wird auf Ziele in den Bereichen Umwelt, Unternehmensführung und Soziales abgestellt, um Unvereinbarkeiten zu vermeiden, wie z. B. bei einem Unternehmen, das nachhaltige Tätigkeiten ausübt und in Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist. Dabei gilt es zudem, den relevanten Interessenträgern gerecht zu werden, d. h. den in dem betreffenden Unternehmen und der Wertschöpfungskette Beschäftigten, den Verbrauchern und den betroffenen Gemeinschaften. Ferner werden sozialbezogene DNSH‑Kriterien und die Auflistung schädlicher Tätigkeiten vorgeschlagen.

3.Allgemeine Bemerkungen

3.1Der EWSA dringt auf eine Wirtschaftspolitik, die mit den in Artikel 3 des EU-Vertrags festgelegten Zielen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung im Einklang steht. Er hält eine ausgewogene Fokussierung auf zentrale Politikziele für erforderlich, namentlich ökologische Nachhaltigkeit, nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, Verteilungsgerechtigkeit, Gesundheit und Lebensqualität, Geschlechtergleichstellung, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel auf Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur und stabile öffentliche Finanzen. Darüber hinaus verweist der EWSA auf die Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit mit ihren vier Komponenten – ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität –, die den gleichen Stellenwert haben, um so Verstärkungseffekte zu erzielen und den grünen und digitalen Wandel erfolgreich zu bewältigen. 6 Angesichts des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine betont der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Konflikts. Er erinnert an die Erklärung in der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1919, wonach soziale Gerechtigkeit eine wesentliche Voraussetzung für einen dauerhaften Weltfrieden ist.

3.2Der EWSA beleuchtet den Gedanken einer Sozialtaxonomie in der Absicht, die Debatte anzuregen und auf das Thema aufmerksam zu machen. Der EWSA spricht sich für eine gut durchdachte, praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die erheblichen Chancen zu nutzen und zugleich die erheblichen Probleme zu bewältigen (siehe unten). Ebenso wie die Wirtschaftspolitik insgesamt sollte auch das finanzbezogene Nachhaltigkeitskonzept und insbesondere die EU-Taxonomie auf einen ganzheitlichen und mehrdimensionalen Ansatz abgestimmt werden, bei dem die Gleichrangigkeit von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit angestrebt wird. Außerdem kann der grüne Wandel in sozialer Hinsicht schädliche Konsequenzen haben. Daher müssen die Standards im sozialen Bereich bewahrt und angehoben werden und es ist darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte dafür Leitlinien liefern.

3.3Der EWSA betrachtet eine Sozialtaxonomie als wichtige und notwendige Ergänzung der sozialen Dimension der EU. Er fordert die Kommission auf, den Bericht gemäß Artikel 26 fristgerecht vorzulegen. Der mehrstufige und vielfältige Ansatz des Berichts der Plattform sollte beibehalten werden. Das Perfektionsstreben und die gleichzeitige Berücksichtigung sämtlicher Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit könnte jedoch zu erheblichen Verzögerungen bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie führen und birgt sogar die Gefahr, dass das ganze Vorhaben aufgegeben wird. Daher empfiehlt der EWSA, rechtzeitig mit einfachen und klaren Leitlinien sowie leicht anzuwendenden Transparenzverfahren zu beginnen und diese dann Schritt für Schritt kontinuierlich zu ergänzen. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Umwelttaxonomie und einer Sozialtaxonomie sollte Kohärenz und eine enge Integration der beiden Ansätze angestrebt werden. Dennoch könnte in einem ersten Schritt gegenseitiger Mindestschutz zweckmäßig sein.

3.4Der EWSA begrüßt, dass die Plattform einen Entwurf ihres Berichts zu Artikel 18 der Verordnung veröffentlicht hat, um den Unternehmen eine Orientierungshilfe für die Umsetzung der Anforderungen des Artikels zu geben und gegebenenfalls dessen Änderung zu ermöglichen. Insbesondere ist es im Zusammenhang mit sozialer Nachhaltigkeit unabdingbar, die tatsächliche Leistung eines Unternehmens in puncto Menschenrechte, Arbeitsbeziehungen und menschenwürdige Arbeit zu bewerten. Wenngleich der Mindestschutz im Rahmen der Umwelttaxonomie sehr zu begrüßen ist und gründlich umgesetzt werden sollte, könnte er niemals eine Sozialtaxonomie ersetzen. Er reicht nicht annähernd aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten. 7 Darüber hinaus empfiehlt der EWSA die Zusammenarbeit mit den örtlichen Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft und Sozialunternehmen, um die positive Wirkung der Wirtschaftstätigkeiten auf die Interessenträger zu beobachten und zu fördern.

3.5Die Sozialtaxonomie wird an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik ist, die mit angemessenen Bestimmungen einhergeht, z. B. in Bezug auf die Sorgfaltspflicht im Bereich Menschenrechte. Sie kann jedoch niemals eine solide staatliche Regulierung und Sozialpolitik ersetzen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Die Taxonomie sollte nicht als Mittel der Verdrängung oder Privatisierung dienen. Öffentlichen Investitionen kommt nach wie vor eine entscheidende Rolle bei öffentlichen Dienstleistungen zu und oft werden dadurch auch weitere private Investitionen angestoßen. Allerdings könnten durch die soziale Taxonomie allen Investoren Nachhaltigkeitskriterien in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, allgemeine und berufliche Bildung sowie Sozialwohnraum an die Hand gegeben werden, um sozial nachhaltige Investitionen in die Realwirtschaft zu ermöglichen und Social Washing zu vermeiden. In Zukunft könnte die Taxonomie auch von staatlichen Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme genutzt werden. Dies wird ordentlich bewertet und erörtert werden müssen.

3.6Eine Sozialtaxonomie würde eine detaillierte Aufgliederung der positiven und negativen sozialen Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten bieten. Viele der in Betracht gezogenen Punkte sind eng mit Themen verknüpft, die traditionell unter Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft diskutiert werden. Der EWSA dringt auf die volle Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die Gestaltung der Sozialtaxonomie, insbesondere mit Blick auf die (Unter-)Ziele, DNSH-Kriterien und Schutzprinzipien. Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbraucher, andere Interessenträger und Gemeinschaften sind von der Zielformulierung betroffen und/oder müssen Berichtspflichten nachkommen. Der EWSA verweist auch auf das Beispiel der Pensionsfonds, bei denen Arbeitnehmer die Begünstigten von Investitionen sind. Die Einbindung der Interessenträger ist wichtig, um die Teilhabe zu wahren. Der EWSA geht davon aus, dass eine Sozialtaxonomie durch eine Überarbeitung der Verordnung eingeführt werden könnte, sodass ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchgeführt würde. Der übermäßige Rückgriff auf delegierte Rechtsakte im Kontext eines nachhaltigen Finanzwesens und insbesondere bei der Einführung der Taxonomie ist fragwürdig, da diese Thematik zahlreiche politische Fragen umfasst, die weit über technische Spezifikationen hinausgehen.

3.7Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig, die Qualität der Informationen im Bereich sozial nachhaltiger Investitionen zu erhöhen und Desinformation über die soziale Lage zu verhindern, um negative Auswirkungen auf alle Interessenträger zu vermeiden. Eine gut durchdachte Sozialtaxonomie würde erheblich zur Lösung solcher Probleme beitragen, indem Tätigkeiten und Unternehmen bzw. Organisationen, die wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, eindeutig benannt werden. Sie sollte einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über bereits bestehende Rechtsvorschriften hinausgehen, wobei das richtige Gleichgewicht zwischen einem zu umfassenden und einem zu engen Ansatz gefunden werden muss. Während Umweltkriterien eher auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen, würde eine Sozialtaxonomie, wie sie die Plattform vorschlägt, eher auf Standards und weltweit anerkannten Rahmen beruhen, die vielleicht nicht verbindlich sind, sondern als Leitlinien dienen, mit denen sozial nachhaltige Tätigkeiten angeregt werden.

3.8Die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte muss eine Voraussetzung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Ebenso ist die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz darstellen. Darüber hinaus sollten Leitlinien für einfache und transparente Verfahren mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, als taxonomiekonforme Wirtschaftstätigkeit gelten. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert – von nur 7 % in Litauen bis zu 98 % in Österreich. Seit dem Jahr 2000 ist der Grad der Abdeckung durch Tarifverträge in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen, laut Schätzungen sind heute mindestens 3,3 Millionen Arbeitnehmer weniger tarifvertraglich abgesichert. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie spielt die neue Richtlinie über Mindestlöhne und die Ausweitung der Anwendung von Tarifverträgen. 8 Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, in dem vorgeschlagenen Rechtsakt selbst klare Hinweise zur Umsetzung der Mindeststandards zu geben und sich dabei vielleicht auf den Bericht der Plattform bezüglich Artikel 18 der Verordnung zu stützen.

3.9Verschiedene internationale und europäische Standards und Grundsätze können als Grundlage für die Sozialtaxonomie dienen. Für die (Unter-)Ziele empfiehlt der EWSA, auf die europäische Säule sozialer Rechte und den damit verbundenen Aktionsplan sowie auf die einschlägigen Nachhaltigkeitsziele abzustellen, insbesondere auf Ziel 8 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum), Ziel 1 (Keine Armut), Ziel 2 (Kein Hunger), Ziel 3 (Gesundheit und Wohlergehen), Ziel 4 (Hochwertige Bildung), Ziel 5 (Geschlechtergleichheit), Ziel 10 (Weniger Ungleichheiten) und Ziel 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden). Von den Sozialpartnern vereinbarte Rahmenregelungen könnten ebenfalls eine wichtige Quelle sein. Der EWSA hält die von der Plattform vertretene Idee, auf der Grundlage der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze einen Mindestschutz einzuführen, für grundlegend. Darüber hinaus wären auch die Europäische Sozialcharta, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Europäische Menschenrechtskonvention und der Richtlinienvorschlag zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit wertvolle Orientierungspunkte für eine soziale Taxonomie. Abschließend ist zu sagen, dass Tätigkeiten, die als erheblich beeinträchtigend angesehen werden, d. h. solche, die grundsätzlich und unter allen Umständen Nachhaltigkeitszielen entgegenstehen und deren Schädlichkeit sich nicht verringern lässt, ausgeschlossen werden sollten. Dies sollte auch für durch internationale Abkommen geächtete Waffen wie Streubomben oder Antipersonenminen gelten. Der EWSA empfiehlt zudem, ein Konzept für den Umgang mit aggressiven und kriegerischen Regimen zu entwickeln.

4.Chancen einer Sozialtaxonomie

4.1Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, das Potenzial der Taxonomie zu nutzen, um Investitionen in sozial nachhaltige Aktivitäten und Einrichtungen zu lenken und gute Arbeitsplätze zu schaffen. Weit mehr als 20 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind von Armut bedroht; die Pandemie hat die Ungleichheiten vertieft, und der Krieg in der Ukraine wird die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen weiter verschärfen. Weltweit werden schätzungsweise etwa 3,3 bis 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigt, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Waren, die unter Verletzung arbeitsbezogener Menschenrechte hergestellt werden, sind durch Import mit dem EU-Binnenmarkt verbunden. Auch in der EU besteht ein dringender Bedarf an sozialen Investitionen, z. B. in die Armutsbekämpfung, lebenslanges Lernen oder Gesundheit. 9 Schätzungen zufolge beträgt die Lücke bei den Investitionen in die soziale Infrastruktur im Zeitraum 2018 bis 2030 mindestens rund 1,5 Billionen EUR. 10 Der EWSA fordert die Kommission zur Vorlage einer aktualisierten Schätzung des Investitionsbedarfs auf, um die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen und die Kernziele der EU für 2030 zu erreichen. Zur Durchsetzung sozialer Nachhaltigkeit werden beträchtliche öffentliche und private Mittel benötigt.

4.2Anhand einer Sozialtaxonomie könnten Investoren und Unternehmen die sozialen Auswirkungen ihrer Investitionen oder Tätigkeiten beurteilen und dies freiwillig als wesentliches Ziel ansehen. Der EWSA weist auf die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen hin und begrüßt die Offenheit der Investoren für sozial nachhaltige Finanzierungen. Hingegen mangelt es an Definition und Standardisierung, und auch die Analyse von Umwelt- Sozial- oder Governance-Ratings und der damit verbundenen Ergebnisse weist je nach Anbieter der Ratings grundlegende Unterschiede auf, was sozial nachhaltige Investitionen erschwert. Eine Sozialtaxonomie wäre ein kohärentes Konzept für die Definition und Förderung der sozialen Nachhaltigkeit und die Messung der Fortschritte. Sie bietet die Möglichkeit, die Rechenschaftspflicht zu verbessern und eine klare Orientierung zu geben. Sie würde daher die Ambitionen der Investoren entscheidend unterstützen und könnte weiteren Marktteilnehmern Anreize geben, in diesem Bereich zu investieren. Gleichzeitig würde sie dazu beitragen, Social Washing zu verhindern.

4.3Sozial schädliche Tätigkeiten können auch wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Wird ein Unternehmen mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht, könnte es boykottiert und im Falle der Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass es aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in kostspielige Rechtsstreitigkeiten verwickelt wird oder die Lieferketten durch Streiks unterbrochen werden. Außerdem könnten die wirtschaftlichen und politischen Risiken aufgrund der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich Investitionen beeinträchtigen. Diese Risiken ließen sich durch Investitionsentscheidungen, die auch auf einer Sozialtaxonomie fußen, auf ein Minimum reduzieren. Der EWSA verweist auch auf die Maßnahmen der EZB zur Stärkung der Überwachung und des Managements von durch die Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bedingten Systemrisiken. Der EWSA betont, dass Umweltrisiken häufig mit sozialen Risiken einhergehen, z. B. wenn Menschen aufgrund von Hochwasser ihr Zuhause verlieren. Alles in allem sollten Risiken für die soziale Nachhaltigkeit explizit angegangen werden und Teil der Maßnahmen der EZB zu Nachhaltigkeitsrisiken sein.

4.4Der EWSA weist ferner darauf hin, dass Transparenz ein wesentliches Element der Markteffizienz ist. Das gilt nicht nur für Kapitalmärkte. Eine soziale Taxonomie könnte auch dazu dienen, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und Sozial- und Arbeitnehmerrechten zu unterstützen. 11 Durch mehr Transparenz könnte sie gemäß Artikel 3 AEUV zum sozialen Binnenmarkt beitragen und einen fairen Wettbewerb fördern. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auch gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern und Unternehmen, die die Menschen- und Arbeitnehmerrechte einhalten und wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, stärker ins Blickfeld rücken, was ihnen helfen würde, Investoren zu finden. Die Taxonomie kann durchaus eine transformative Rolle spielen, die durch ihre bessere Bekanntmachung gestärkt werden würde. In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut auf die positive Rolle hin, die Finanzinstrumente bei der Entwicklung von Sozialunternehmen spielen können. 12

4.5Schließlich ist die EU im ökologisch nachhaltigen Finanzwesen international führend und trägt aktiv zu den entsprechenden weltweiten Bemühungen bei. Der EWSA begrüßt diese Bemühungen, erinnert die Kommission jedoch daran, dass auch die soziale Nachhaltigkeit vorangebracht und die Nachhaltigkeitsziele gefördert werden müssen. Die EU sollte auch im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit als Vorbild dienen und zu einem Vorreiter werden, indem sie das Thema in internationalen Foren zur Sprache bringt. Gerade in Zeiten von Krieg und internationalen Spannungen gilt es, bei der internationalen Architektur eines nachhaltigen Finanzwesens auch die soziale Nachhaltigkeit zu berücksichtigen.

5.Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten

5.1Die Absichten von Finanzinvestoren, sozial und ökologisch nachhaltige Investitionen zu tätigen, sind sehr begrüßens- und unterstützenswert. Allerdings stützen Finanzmarktteilnehmer ihre Investitionsentscheidungen im Allgemeinen auf Erwartungen im Hinblick auf Rendite, Risiko, Liquidität und Laufzeit. Diese Motive könnten den Zielen anderer Interessenträger entgegenstehen und den ökologischen oder sozialen Zielen zuwiderlaufen oder sie sogar verdrängen. Der EWSA weist jedoch auch auf viele mögliche Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure hin. So können beispielsweise Verbesserungen bei der Arbeitnehmerbeteiligung auch die Produktivität der Unternehmen steigern oder eine Wirtschaftstätigkeit kann zum Wohl von Gemeinschaften beitragen. In jedem Fall dürfen Wirtschaftstätigkeiten oder Unternehmen bzw. Organisationen, die möglicherweise nicht taxonomiekonform sind, nicht automatisch als schädlich angesehen werden. Hier bestehen Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung, und der EWSA ersucht die Kommission um Klarstellung und einen ausgewogenen Ansatz. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden.

5.2Unvereinbarkeiten können entstehen, weil soziale Fragen auf Ebene der Mitgliedstaaten und zwischen den Sozialpartnern geregelt werden. Die organisierte Zivilgesellschaft ist indes als Ganzes bestrebt, an sozial-, umwelt- und anderen politischen Fragen beteiligt zu werden. Der EWSA begrüßt jedoch, dass im Bericht der Plattform die Gefahr von Verstößen gegen andere Vorschriften erkannt wird. Er geht außerdem davon aus, dass die Kommission in ihrem Vorschlag darauf achten wird, widersprüchliche Überschneidungen und Eingriffe in die nationalen Sozialsysteme, Arbeitsbeziehungen und Vorschriften zu vermeiden. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auf gemeinsamen internationalen und europäischen Erklärungen und Prinzipien – wie der europäischen Säule sozialer Rechte – beruhen und wäre der Ausgangspunkt für eine freiwillige Beschlussfassung, ohne eine bestimmte Sozialpolitik vorzugeben. Eine etwaige breitere Verwendung der Taxonomie über den genannten Rahmen hinaus müsste jedoch Gegenstand eines geeigneten Beschlussfassungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden und Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsmarktmodellen und Tarifverhandlungssystemen sind anzuerkennen.

5.3Die Entwicklung einer Sozialtaxonomie und damit einer strukturierten Übersicht über sozial nachhaltige Tätigkeiten und Sektoren berührt auch politische Werte. Es wird schwierig sein, festzulegen, welche Wirtschaftstätigkeit und/oder welcher Sektor als taxonomiekonform gilt. Doch gerade deshalb sollte die Erarbeitung einer Taxonomie Gegenstand einer politischen Debatte und einer demokratischen Entscheidungsfindung sein. 13 Nur unter diesen Bedingungen kann eine gemeinsame Vorstellung von sozialer Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure stützen und beziehen können und sollten. Der EWSA betont, dass der Erfolg der Taxonomie auch im sozialen Bereich von einer breiten Akzeptanz abhängt. Die von der Taxonomie erfassten Tätigkeiten und Branchen müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen und auf allgemein anerkannten Werten wie Menschenwürde, Geschlechtergleichstellung, Fairness, Inklusion, Nichtdiskriminierung, Solidarität, Erschwinglichkeit, Wohlergehen und Vielfalt beruhen. Die Glaubwürdigkeit der Taxonomie ist von großer Bedeutung, um das Projekt nicht insgesamt zu gefährden.

5.4Zudem besteht die Sorge, dass eine soziale Taxonomie die Unternehmen durch zusätzliche Berichtspflichten und das Erfordernis, komplexe und komplizierte Informationen bereitzustellen, in Verbindung mit kostspieligen Prüfungsverfahren überlasten könnte. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Belastungen so gering wie möglich zu halten sowie einfache und leicht zu beobachtende Kriterien aufzustellen und dabei auch Überschneidungen mit anderen Berichtspflichten zu berücksichtigen. Der EWSA begrüßt den Ansatz der Plattform, die Ziele der Sozialtaxonomie nach dem Vorbild des Richtlinienvorschlags zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen zu strukturieren. Alles in allem fordert der EWSA ein geordnetes und kohärentes Regelwerk ohne übermäßige Komplexität und Überschneidungen, damit es in der Praxis funktioniert und gleichzeitig das erforderliche Maß an Transparenz bietet. Die Beratung und die Erbringung taxonomiebezogener Dienstleistungen durch eine gesetzlich berechtigte Stelle für Unternehmen und sonstige Organisationen, die sich taxonomiekonform verhalten wollen, könnten ebenfalls sinnvoll sein. Dadurch hätten auch Unternehmen, die weniger Mittel für die Berichterstattung aufwenden können, Zugang zur Taxonomie. Allerdings können Finanzinstitute nach wie vor Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorlegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun.

5.5Obwohl es der Zweck der Taxonomie ist, einen verlässlichen Rahmen für sozial nachhaltige Investitionen zu schaffen, kann die Gefahr des Green Washing oder des Social Washing nicht ausgeschlossen werden. Der EWSA stimmt mit der Plattform darin überein, dass die bloße Überprüfung von Zusagen und Strategien weder eine Garantie für eine wirksame Umsetzung und den Schutz der Menschenrechte ist noch die Entwicklung sozial nachhaltiger Tätigkeiten unterstützt. Es ist sehr schwierig, die Einhaltung der erklärten Ziele der sozialen Nachhaltigkeit durch ein Unternehmen zu überwachen und durchzusetzen und seine Leistung entlang der heute oft sehr komplexen Lieferketten zu beurteilen. Andererseits weist die Plattform auf vielversprechende Entwicklungen im Bereich quantifizierbarer Sozialdaten hin, beispielsweise im Zusammenhang mit dem überarbeiteten sozialpolitischen Scoreboard und den Nachhaltigkeitszielen. Alles in allem muss die soziale Taxonomie transparent und zuverlässig sein und ständig aktualisiert werden. Der EWSA schlägt ferner vor, hier auch Betriebsräte und Organisationen der Zivilgesellschaft einzubeziehen.

5.6Der EWSA regt an, die Debatte über eine EU-Ratingagentur, die sich nun auf Nachhaltigkeit konzentrieren könnte, neu zu beleben und so die Vorreiterrolle der EU in diesem Bereich zu festigen. Außerdem bekräftigt er seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten. Für den Fall falscher Erklärungen der Taxonomiekonformität sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden. Der EWSA erkennt an, dass die konkreten Maßnahmen sowie Sanktionen für Verstöße laut Verordnung den Mitgliedstaaten obliegen. In jedem Fall sollten die zuständigen nationalen Behörden 14 stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen, und hinzukommen sollte die Pflicht, ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft Bericht zu erstatten.

Brüssel, den 22. September 2022

Christa SCHWENG

Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

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(1)     Verordnung (EU) 2020/852 .
(2)     Platform on Sustainable Finance | Europäische Kommission (europa.eu) .
(3)    DNSH (do no significant harm) = ohne wesentliche Beeinträchtigung anderer Ziele.
(4)     ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72 .
(5)     Final Report on Social Taxonomy (europa.eu) .
(6)     ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50 .
(7)     ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 97 .
(8)       Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU , Artikel 4 Absatz 2, vorläufige Einigung. Die dort festgelegte Schwelle von 80 % an tarifvertraglicher Abdeckung, mit der die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollen, Maßnahmen zur Erhöhung des Prozentsatzes zu ergreifen, sollte in einer sozialen Taxonomie unterstützt werden.
(9)     Final Report on Social Taxonomy (europa.eu) .
(10)      Europäische Kommission, Boosting Investment in Social Infrastructure in Europe, Diskussionspapier 074/Januar 2018.
(11)     ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50 .
(12)     ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 39 .
(13)      Siehe oben, Abschnitt 3.
(14)    Siehe Artikel 21 der Taxonomie-Verordnung .