SOC/652
Strategie für die Rechte von Opfern
STELLUNGNAHME
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen –
EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020–2025)
[COM(2020) 258 final]
Berichterstatter: Ionuț SIBIAN
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Befassung
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Europäische Kommission, 14/08/2020
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Rechtsgrundlage
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Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
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Präsidiumsbeschluss
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09/06/2020
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Zuständige Fachgruppe
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Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft
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Annahme in der Fachgruppe
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09/09/2020
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Verabschiedung auf der Plenartagung
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DD/MM/YYYY
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Plenartagung Nr.
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…
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Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)
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…/…/…
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1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt nachdrücklich die EU‑Strategie der Europäischen Kommission für die Rechte von Opfern für den Zeitraum 2020‑2025, die eine langfristige Planung und die ordnungsgemäße und koordinierte Umsetzung von Maßnahmen in einem breiten Spektrum von Bereichen fördert und gleichzeitig sicherstellt, dass kein Opfer vergessen wird.
1.2Nach Auffassung des EWSA ist für die Umsetzung der Strategie ein klarer Aktionsplan erforderlich, der Einzelheiten zu ihrer Umsetzung, deren Zeitpunkt und den erwarteten Ergebnissen enthält.
1.3Die vorgeschlagene Strategie sollte in den Kanon weiterer EU-Strategien – der Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter, der EU-Strategie für eine wirksamere Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, der LGBTI-Gleichstellungsstrategie, dem EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCRPD) – aufgenommen und im Einklang mit ihnen umgesetzt werden.
1.4Sie sollte zudem mehr Orientierungshilfe und einen detaillierten Überblick darüber bieten, wie die Staaten hohe Qualitätsstandards umsetzen und zugängliche, faire und wirksame Instrumente zur Unterstützung der Opfer beim Zugang zu Wiedergutmachungsdiensten einführen könnten.
1.5Die Europäische Kommission sollte die Mitgliedstaaten über die Strategie dazu anhalten, die Datenerhebung sowie die Konsultation von Bevölkerungsgruppen, Opfern und potenziellen Opfern zu unterstützen und Bedarfsanalysen durchzuführen, um die Politikgestaltung und die institutionellen Reaktionen gezielt auszurichten. Eine einheitliche Erhebung von Daten über Opfer von Straftaten, die mittels dieser Strategie sichergestellt werden könnte, würde bessere und gezieltere Reaktionen ermöglichen.
1.6Der EWSA empfiehlt, die Zuständigkeiten des in der Strategie vorgeschlagenen EU-Netzes zur Verhütung von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt um die Ziele und Ergebnisse hinsichtlich der Ermittlung und Eindämmung dieser Art von Straftaten zu erweitern, was bei länderübergreifenden Straftaten besonders wichtig wäre.
1.7In Bezug auf die in der Strategie vorgeschlagenen zentralen Maßnahmen der Europäischen Kommission ist der EWSA der Ansicht, dass einigen Aspekten der Strategie weitere Klarstellungen zugutekommen könnten, u. a. betrifft dies folgende Punkte:
a.Die Förderung von Schulungsmaßnahmen sollte sich nicht auf Justiz- und Strafverfolgungsbehörden beschränken; auch Sozialarbeiter und medizinisches Personal müssen in Bezug auf den Umgang mit Opfern von Straftaten, insbesondere mit Opfern von Hassdelikten, im Rahmen der beruflichen Weiterbildung geschult werden. Solche Schulungsmaßnahmen sollten sich explizit auch mit Vorurteilen und Stereotypen befassen und in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführt werden, die verschiedene schutzbedürftige Gruppen unterstützen.
b.Die Bereitstellung von EU-Finanzmitteln für nationale Opferschutzorganisationen und einschlägige kommunale Organisationen sollte durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und lokalen oder nationalen Behörden ergänzt werden. Insgesamt sollte die Strategie klare Leitlinien für staatliche Behörden für die Kooperation und Kommunikation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Fachleuten enthalten, um die Bedürfnisse der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erfassen, gezielte Kampagnen zu konzipieren sowie uneingeschränkt zugängliche, faire und wirksame Melde- und Unterstützungssysteme zu entwickeln.
c.Nationale Kampagnen zur Sensibilisierung für die Rechte der Opfer sollten den Bedürfnissen und Besonderheiten besonders schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen (darunter Drittstaatsangehörige, Flüchtlinge und Asylsuchende), angepasst werden und auf einer lokalen Einschätzung der Bedürfnisse, Trends, bewährten Verfahren und Herausforderungen beruhen.
1.8In einigen Mitgliedstaaten hat die Erfahrung mit der COVID-19-Pandemie leider wieder einmal gezeigt, dass die Behörden schlecht ausgestattet sind, um Notunterkünfte oder kurzfristige Unterkünfte, insbesondere außerhalb der Hauptstädte, bereitzustellen. Der Ausbau von Notunterkünften, sicheren Unterkünften und Unterstützungszentren sowie die Bereitstellung integrierter Unterstützungsdienste sind eine Notwendigkeit und erfordern die Zusammenarbeit nationaler Behörden mit zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie EU-Fördermittel.
1.9Die Europäische Kommission sollte die Opferagenda bei allen EU-Finanzierungsprogrammen berücksichtigen, auch in EU-Fonds, die auf nationaler und internationaler Ebene verwaltet werden.
2.Hintergrund der Stellungnahme
2.1In den vergangenen 30 Jahren konnten bei den Rechten von Opfern und den Maßnahmen zu ihrem Schutz auf internationaler und europäischer Ebene Fortschritte erzielt werden. Meilensteine dieser Entwicklungen waren unter anderem einige EU-Rechtsvorschriften, die Opfer besser schützen sollen, nämlich die Opferschutzrichtlinie von 2012, die Entschädigungsrichtlinie von 2004 und jetzt die neue Strategie für die Rechte von Opfern 2020‑2025.
2.2Mit der Annahme ihrer ersten EU-Strategie für die Rechte von Opfern will die Kommission gewährleisten, dass alle Opfer von Straftaten sicher sein können, dass ihre Rechte, unabhängig davon, wo in der EU die Straftat begangen wurde, uneingeschränkt geachtet werden.
2.3In der Strategie sind für die nächsten fünf Jahre einige Maßnahmen vorgesehen, die sich auf zwei Ziele konzentrieren: Erstens die Opfer von Straftaten dahingehend zu stärken, dass sie Straftaten anzeigen, Entschädigung erwirken und sich schließlich von den Folgen der Straftat erholen können, und zweitens gewährleisten, dass alle relevanten Beteiligten zur Stärkung der Rechte von Opfern zusammenarbeiten.
2.4Ferner enthält die Strategie eine Reihe von Handlungsaufträgen für die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft für die nächsten fünf Jahre.
2.5Die Strategie konzentriert sich auf fünf Schwerpunkte: 1) Wirksame Kommunikation mit den Opfern und ein sicheres Umfeld, in dem die Opfer Straftaten anzeigen können, 2) Verbesserung der Unterstützung und des Schutzes der schutzbedürftigsten Opfer, 3) Erleichterung des Zugangs der Opfer zu Entschädigungsleistungen, 4) Stärkung der Zusammenarbeit und Koordination zwischen allen zuständigen Beteiligten, und 5) Stärkung der internationalen Dimension der Rechte der Opfer.
3.Allgemeine Bemerkungen
3.1Insgesamt dürften die fünf Schwerpunkte der Strategie positive Auswirkungen haben und wirksam zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des einschlägigen EU‑Rahmens beitragen. Jedoch sollte auch auf einige wichtige Punkte sowie bereichsübergreifende Probleme hingewiesen werden.
3.2Aus der Strategie geht nur begrenzt hervor, wie wichtig die Einrichtung offizieller oder informeller Mechanismen für die Meldung von Straftaten oder – je nach Fall – die Verbesserung ihrer Reichweite und Wirksamkeit ist. Solche Mechanismen sollten überall vorhanden und allen Opfergruppen unabhängig von ihrem Status in dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat zugänglich sein, und sie sollten angepasst und flexibel sein, um den Bedürfnissen der schutzbedürftigsten Personen gerecht zu werden. Hierfür müssten die Bedarfsermittlung, Dokumentation, Datenerfassung und Konsultation intensiviert werden, wie in den nachstehenden Anmerkungen dargelegt.
3.3In der Strategie wird zwar auf die Schwierigkeiten Bezug genommen, vor denen schutzbedürftige Gruppen stehen, sie sollte aber auch Flüchtlinge und Asylsuchende berücksichtigen und deren starke Gefährdung, als Gruppe Opfer islamfeindlicher, rassistischer, fremdenfeindlicher und anderer Arten von Hassdelikten zu werden.
3.4In der Strategie wird generell darauf hingewiesen, dass „die Hindernisse, die den Opfern den Zugang zur Justiz erschweren, hauptsächlich auf fehlende Informationen, unzureichende Unterstützung und mangelnden Schutz zurückzuführen“ sind. In der Strategie müsste stärker ins Detail gegangen werden. So sollte betont werden, dass die bestehenden Bestimmungen und Mechanismen nicht nur bekannter, sondern generell besser zugänglich gemacht werden müssen (Meldung bzw. Anzeige, Selbstidentifizierung als Opfer, Zugang zu Unterstützungsmechanismen und Rechtsschutzverfahren). In diesem Zusammenhang müssen häufig Unterstützungsdienste hinzugezogen werden, z. B. Gemeinwesenarbeiter, Kinderschutzpersonal bei unbegleiteten minderjährigen Migranten oder Asylsuchenden oder bei Kindern in Kinderschutzsystemen, medizinisches Personal, Psychologen, Dolmetscher für diejenigen, die die Landessprache nicht beherrschen usw. Für diese Unterstützungsdienste sollte es ebenfalls Schulungen geben. In der aktuellen Fassung werden jedoch in Bezug auf Schulungen zu den Rechten der Opfer meist nur die Strafverfolgung und Justiz genannt.
3.5Während der oberste Schwerpunkt der Strategie eindeutig darauf liegt, eine wirksame Kommunikation mit den Opfern aufzubauen und ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem die Opfer Straftaten anzeigen können, herrscht nach wie vor große Unsicherheit hinsichtlich des Vorhandenseins, des wirksamen Funktionierens und der Zugänglichkeit von Melde- und Erfassungssystemen, insbesondere informeller Systeme. In der Strategie wird sogar darauf hingewiesen, dass viele der schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen und Opfer häufig zögern, Kontakt zu den Behörden aufzunehmen, bzw. dazu nicht in der Lage sind, oder die Anzeige von Straftaten bei den Behörden durch andere Hindernisse erschwert wird. Auch wenn solche Systeme keine strafrechtlichen Ermittlungen nach sich ziehen, können sie dennoch den Zugang zu bestimmten Arten von Unterstützung gewährleisten und für die Bereitstellung von Daten im lokalen oder nationalen Zusammenhang (die für die Politikgestaltung von zentraler Bedeutung sein sollten) sowie für die Haushaltsplanung und Planung von Diensten relevant sein.
3.6Darüber hinaus enthält die Strategie wenige bzw. gar keine Verweise auf Dokumentation oder Datenerhebung. Um den Bedürfnissen der Opfer gerecht zu werden und einen Rahmen für die Gewährleistung ihrer Rechte zu schaffen, insbesondere für Opfer bestimmter Arten von Straftaten – Hassdelikten, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt usw. – sind ein umfassendes Verständnis des lokalen Umfelds, Zugang zu bestimmten Bevölkerungsgruppen, Bedarfsanalysen und die Entwicklung gezielter politischer und praktischer Lösungen erforderlich. Daher sollten die Staaten – eventuell mittels eines bereichsübergreifenden Ansatzes – in der Strategie generell dazu angehalten werden, Daten zu erheben und Bevölkerungsgruppen sowie Opfer und potenzielle Opfer zu konsultieren, Bedarfsanalysen durchzuführen und in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Übersicht über bewährte Verfahren zu erstellen, um die Politikgestaltung und die institutionellen Reaktionen gezielt auszurichten.
3.7Als letzter Punkt im Zusammenhang mit der Datenerhebung ist hervorzuheben, dass die wichtigsten Behörden (Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft) wirksame Systeme einrichten müssten, die es ermöglichen, Informationen über Opfer von Straftaten konsequent zu erfassen, systematisch zu analysieren und bei der Konzipierung gezielter Reaktionsmaßnahmen zu verwenden. Derzeit erheben beispielsweise nur wenige EU-Mitgliedstaaten aufgeschlüsselte Informationen über die Profile der Opfer von Straftaten. Diese Informationen wären für die Analyse von Trends und Mustern hilfreich und könnten in die Konzipierung von Präventionsmaßnahmen, Informationskampagnen, Mechanismen für die Meldung von Straftaten, die Identifizierung und Reaktionsmechanismen oder Unterstützungsdiensten einfließen.
3.8Darüber hinaus ist das Ausmaß von Phänomenen wie Hassdelikten in vielen EU-Mitgliedstaaten schwer abzuschätzen, da Mechanismen für die Meldung solcher Delikte fehlen, die Systeme zur Erfassung von Vorfällen und/oder Beschwerden übermäßig bürokratisch sind und möglicherweise nur der Polizei und/oder der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehen und es keine klaren Kriterien und Leitlinien für die Datenerhebung bei Opfern gibt. Eine einheitliche Erhebung von Daten über Opfer von Straftaten, die mittels dieser Strategie sichergestellt werden könnte, würde bessere und gezieltere Reaktionen ermöglichen. Dies betrifft auch andere Initiativen der Kommission und deren Umsetzung (z. B. Initiativen im Zusammenhang mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit), die wahrscheinlich auch unter dem Mangel an Daten oder deren angemessener Analyse leiden.
3.9In Bezug auf die Meldung von Straftaten muss deutlich gemacht werden, dass die Strategie alle drei Säulen berücksichtigt, die für die Gewährleistung der Rechte von Opfern relevant sind: a) Identifizierung (von Opfern von Straftaten), die – wie oben erwähnt – über offizielle und informelle Mechanismen für die Meldung von Straftaten erfolgen kann, b) Prävention und c) Reaktion.
3.10Es ist zu begrüßen, dass in der Strategie mehrfach darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, „dass die zuständigen Fachkräfte mit den Opfern auf eine Weise kommunizieren, die den besonderen Bedürfnissen der Opfer Rechnung trägt“. Für eine erfolgreiche Kommunikation sollten jedoch ein Mechanismus und Programme für den Aufbau von Kapazitäten für die zuständigen Fachleute eingerichtet werden, damit diese besonderen Bedürfnisse zutreffend ermittelt und berücksichtigt werden. Ohne eine solche Ermittlung ist das Ziel einer Reaktion, die den besonderen Bedürfnissen Rechnung trägt, nicht zu erreichen. Für einen solchen Mechanismus müssten sich die Behörden sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft, die Basisorganisationen und die Organisationen der Gemeinwesenarbeit untereinander abstimmen. Auf diese Weise würde nicht nur die Meldung von Straftaten durch Angehörige bestimmter schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen und deren Erfassung steigen sowie Beweismaterial zusammengetragen, auch die Kapazitäten der nationalen Systeme würden mit Blick auf die Ermittlung der Bedürfnisse der Opfer insgesamt verbessert. In der Strategie sollten daher die Mittel für eine bessere Ermittlung der besonderen Bedürfnisse der Opfer von Straftaten herausgestellt bzw. verdeutlicht werden.
3.11In diesem Zusammenhang wird in der Strategie mehrfach auf Opfer mit „besonderen Bedürfnissen“ verwiesen, die „Zugang zu fachlicher Unterstützung haben sollten“. Diesbezüglich sollten die Interessenträger auf nationaler Ebene durch die Strategie dazu angeregt werden, Mechanismen zur Ermittlung und Bewertung besonderer Bedürfnisse einzurichten, die auch einen regelmäßigen Austausch mit anderen bestehenden Ermittlungsmechanismen wie dem Mechanismus zur Bekämpfung des Menschenhandels umfassen sollten. Dies würde den Austausch von Fachwissen zwischen verschiedenen Stellen sowie eine bessere, umfassendere und ganzheitlichere Reaktion ermöglichen, die den ermittelten besonderen Bedürfnissen angemessen Rechnung trägt.
3.12Alle Dienste sowie alle Sensibilisierungskampagnen für die Rechte der Opfer müssen sich gleichermaßen auf Bedarfsanalysen und Konsultationen der entsprechenden Bevölkerungsgruppen stützen. Bei der Gestaltung solcher Informationskampagnen sollte nicht nur Opfern im Kindesalter, älteren Menschen oder Opfern mit Behinderungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, sondern auch den Bedürfnissen von z. B. Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten, die Opfer einer Straftat geworden sind und auch beim Zugang zu Informationen, zur Meldung von Straftaten oder zu Unterstützungsdiensten, einschließlich intersektioneller Diskriminierung, mit erheblichen Hindernissen konfrontiert sein können.
3.13Der Schwerpunkt auf Schulungen zieht sich durch die gesamte Strategie. Dieser ist in der Tat geboten, damit die Systeme reibungslos funktionieren und die Rechte der Opfer gewährleistet werden. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen bestimmter Straftaten, insbesondere von Hassdelikten, Cyberkriminalität, geschlechtsspezifischer Gewalt oder von Gewalt gegen Kindern, sollten Schulungsmaßnahmen jedoch nicht nur den Strafverfolgungsbehörden und der Polizei zur Verfügung stehen. Der Schwerpunkt sollte auch auf die Verbesserung der Kompetenzen der Ersthelfer gelegt werden, bei denen es sich um Gemeinwesenarbeiter, Lehrkräfte, Kinderschutzpersonal, Personal für die Aufnahme oder Ingewahrsamnahme von Migranten und die Grenzpolizei handeln kann. Insbesondere bei gemischter Migration, einschließlich irregulärer gemischter Migration zwischen EU-Mitgliedstaaten, besteht die Gefahr, Opfer von Ausbeutung zu werden, was die zunehmenden Berichte über Gewalt an den Grenzen und in Asylaufnahmeeinrichtungen belegen.
3.14Zwar ist der Schwerpunkt der Opferschutzrichtlinie von 2012 auf opferorientierter Justiz und der sich daraus ergebende Schluss, dass solche Wiedergutmachungsdienste in erster Linie die Interessen und Bedürfnisse der Opfer berücksichtigen sollten, zu begrüßen, doch sollte die Strategie mehr Orientierungshilfe und einen detaillierten Überblick darüber bieten, wie die Staaten hohe Qualitätsstandards umsetzen und zugängliche, faire und wirksame Instrumente zur Unterstützung der Opfer beim Zugang zu einer solchen opferorientierten Justiz einführen könnten.
3.15Zu Opfern von geschlechtsspezifischer Gewalt: In der Strategie werden zwar einige Beispiele für geschlechtsspezifische Gewalt genannt, es sollten aber auch andere Arten von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt anerkannt und explizit genannt werden, z. B. schädliche traditionelle Praktiken, wie etwa die Genitalverstümmelung bei Frauen, Kinderehen usw. Durch eine Erweiterung dieser Liste würden Strafverfolgungsbeamte und andere zuständige Fachkräfte stärker für solche Praktiken sensibilisiert.
3.16Auch die Zuständigkeiten des in der Strategie vorgeschlagenen EU-Netzes zur Verhütung von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sollten um die Ziele und Ergebnisse bei der Ermittlung und Eindämmung dieser Art von Straftaten erweitert werden (was bei länderübergreifenden Straftaten besonders wichtig wäre).
3.17Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt gelten als Menschenrechtsverletzungen oder -verstöße und gefährden die menschliche Würde, die Förderung menschenwürdiger Arbeit sowie den Zugang zum Arbeitsmarkt und den beruflichen Aufstieg. Die europäischen Sozialpartner unterzeichneten 2007 diesbezüglich eine autonome Vereinbarung, die auf nationaler Ebene in den Mitgliedstaaten vollumfänglich umgesetzt werden muss. 2019 wurde anlässlich des hundertjährigen Bestehens der IAO das Übereinkommen Nr. 190 gegen Gewalt und Belästigung angenommen, in dem Maßnahmen zur Verhütung von Gewalttaten und zum Schutz der Opfer festgelegt und Instrumente für eine wirksame Durchsetzung und Rechtsbehelfe sowie Orientierungshilfen, Schulungs- und Sensibilisierungsinitiativen genannt werden. Der EWSA fordert die europäischen Institutionen auf, sich für die rasche Ratifizierung dieses Übereinkommens durch die Mitgliedstaaten stark zu machen und mögliche Folgemaßnahmen auf europäischer Ebene zu koordinieren.
3.18In Bezug auf das Thema Menschenhandel müssten in der Strategie auch die Auswirkungen von Menschenhandel und Ausbeutung auf Drittstaatsangehörige und Flüchtlinge berücksichtigt werden. Dies gilt ferner für die in der Strategie vorgesehenen zentralen Maßnahmen, bei denen auch schwerpunktmäßig geprüft werden sollte, inwieweit die Mechanismen, die Opfern von Menschenhandel offenstehen, auch für Drittstaatsangehörige (wie Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge) zugänglich sind. Darüber hinaus sollte die Strategie Unterstützungsmaßnahmen für eine bessere Zugänglichkeit, Wirksamkeit und Anpassungsfähigkeit von Mechanismen für die Ermittlung von und die Reaktion auf Fälle von Menschenhandel für Flüchtlinge, Migranten und Asylsuchende umfassen, die im Zusammenhang mit Menschenhandel Opfer von Straftaten werden.
3.19In Bezug auf den Zugang von Opfern von Straftaten zu Entschädigung sollte der Gedanke, dass dieser Zugang unabhängig vom Status des Opfers in einem EU-Mitgliedstaat sein sollte, in der Strategie stärker zum Tragen kommen. Leider schrecken Asylsuchende, Flüchtlinge und Migranten häufig davor zurück, Schadenersatz zu fordern, wenn sie Opfer einer Straftat geworden sind, weil sie nicht über ausreichende Informationen verfügen, keine sachkundigen und zugänglichen Unterstützungsdienste zur Verfügung stehen oder weil sie Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder negativen Auswirkungen auf ihren Status haben. Da die Strategie das Ziel verfolgt, Opfer von Straftaten zu stärken, sollten diese Sorgen berücksichtigt und gezielte Maßnahmen vorgesehen werden, um diese Schwachstellen für bestimmte Opfergruppen auszugleichen.
4.Besondere Bemerkungen zu den fünf Schwerpunkten der Strategie
4.1Wirksame Kommunikation mit den Opfern und ein sicheres Umfeld, in dem die Opfer Straftaten anzeigen können
4.1.1Eine zentrale Maßnahme der Europäischen Kommission betrifft Schulungsmaßnahmen für Justiz- und Strafverfolgungsbehörden. Jedoch müssen auch Sozialarbeiter und medizinisches Personal in Bezug auf den Umgang mit Opfern von Straftaten, insbesondere mit Opfern von Hassdelikten, im Rahmen der beruflichen Weiterbildung geschult werden. Solche Schulungsmaßnahmen sollten sich explizit auch mit Vorurteilen und Stereotypen befassen und in Zusammenarbeit mit NGO durchgeführt werden, die verschiedene schutzbedürftige Gruppen unterstützen.
4.1.2Zu der zentralen Maßnahme der Europäischen Kommission betreffend die Bereitstellung von EU-Finanzmitteln für nationale Opferschutzorganisationen und einschlägige kommunale Organisationen: Diese Mittel sollten insbesondere dafür genutzt werden, um Unterstützungsdienste als umfassende Pakete zu entwickeln – rechtliche und psychologische Unterstützung bei der Arbeitssuche bei Bedarf, Notunterkünfte und Unterstützung für die Kosten für ärztliche Behandlung.
4.1.3Die für die Ebene der Mitgliedstaaten vorgeschlagenen zentralen Maßnahmen sind nach wie vor sehr allgemein und eher rhetorisch. Eine wirksame Umsetzung der Richtlinie ist gewährleistet, wenn die nationalen Behörden Verfahrensnormen entwickeln, annehmen und umsetzen, die es den Justiz- und Strafverfolgungsbehörden sowie den Sozialdiensten ermöglichen, Opfer von Straftaten (insbesondere Opfer von Hassdelikten) zu erkennen und angemessene Unterstützung zu leisten.
4.1.4Wo nationale Behörden noch keine aufgeschlüsselten Daten zu Opfern von Straftaten erheben, sollte dies Vorrang erhalten, eventuell mit finanzieller Unterstützung durch die EU.
4.1.5Die Mitgliedstaaten sollten in die vorgeschlagenen zentralen Maßnahmen zur Sensibilisierung für die Rechte und die Optionen zur Meldung von Straftaten aufgenommen werden, denn dies fängt in der Schule im Rahmen der politischen Bildung an. Die nationalen Behörden sollten sicherstellen, dass die nationalen Pflichtlehrpläne der jeweiligen Altersstufe der Schülerinnen und Schüler angepasste Informationen über die Rechte, die nationalen Menschenrechtsinstitutionen und die verfügbaren Schutzmechanismen enthalten.
4.1.6Damit NGO an Schulungsmaßnahmen mit Behörden teilnehmen und gleichzeitig die wertvolle Erfahrung der Hilfsempfänger und Fachleute, die die Opfer von Straftaten unterstützen, einbringen können, ist es wichtig, dass dieser Beitrag im Rahmen institutioneller Partnerschaften anerkannt und vergütet wird.
4.2Verbesserung des Schutzes und der Unterstützung der schutzbedürftigsten Opfer
4.2.1Zu der vorgeschlagenen zentralen Maßnahme der Europäischen Kommission zur Unterstützung von Opfern mit besonderen Bedürfnissen, wie z. B. minderjährigen Opfern, Opfern von geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt, Opfern rassistischer und fremdenfeindlicher Hassdelikte, Opfern von Hassdelikten aus der LGBTI+-Gemeinschaft, älteren Opfern sowie Opfern mit Behinderungen: Die Unterstützung besonders schutzbedürftiger Gruppen sollte bei der Anerkennung dieser Gruppen und der besonderen Merkmale ihres Status ansetzen, die häufig zu ihrer Viktimisierung führen. Dies würde bedeuten, dass Vorschriften des Sekundärrechts erlassen und Schulungspakete entwickelt werden, in denen die Besonderheiten der einzelnen schutzbedürftigsten Gruppen erläutert werden, Verfahren für ihre Befragung aufgestellt werden, die eine erneute Traumatisierung vermeiden, und Leitlinien für die Kontaktaufnahme mit den Gemeinschaften, in denen dies der Fall ist, entwickelt werden.
4.2.2Zu der vorgeschlagenen zentralen Maßnahme der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Leitprinzipien für die Gewährleistung von Schutz und Unterstützung für Opfer von Hassdelikten und Hetze: Dies sollte durch die Einrichtung eines EU-Mechanismus zur Überwachung wirksamer Reaktionen auf Hassdelikte und Hetze durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ergänzt werden, die ihr aktuelles Datenerfassungssystem um nationale Melde- und Frühwarnfunktionen erweitern könnte.
4.2.3Zu der vorgeschlagenen zentralen Maßnahme der Mitgliedstaaten, die auf den aus der COVID-19-Pandemie gezogenen Lehren aufbaut, insbesondere Maßnahmen, die gewährleisten sollen, dass Opfer von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt Zugang zu Unterstützung und Schutz haben; Einrichtung integrierter und zielgerichteter spezialisierter Unterstützungsdienste für die schutzbedürftigsten Opfer, einschließlich Kinderhäuser, Familienhäuser, sichere Unterkünfte für Opfer von Gewalt gegen Frauen und für LGBTI+-Personen. In einigen Mitgliedstaaten hat die Erfahrung mit der COVID-19-Pandemie jedoch wieder einmal gezeigt, dass die Behörden schlecht ausgestattet sind, um Notunterkünfte oder kurzfristige Unterkünfte, insbesondere außerhalb der Hauptstädte, bereitzustellen. Der Ausbau von Notunterkünften, sicheren Unterkünften und Unterstützungszentren sowie die Bereitstellung integrierter Unterstützungsdienste sind eine Notwendigkeit und erfordern die Zusammenarbeit nationaler Behörden und privater Akteure sowie EU-Fördermittel.
4.3Erleichterung des Zugangs der Opfer zu Entschädigungsleistungen
4.3.1Ein relevanter Interessenträger ist die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, die über ihr Netz unabhängiger Sachverständiger der Mitgliedstaaten (FRANET) jedes Jahr die Rechtsvorschriften und Strategien analysiert, die zum Schutz der Opferrechte erlassen wurden, und die auch thematische Berichte erstellen kann. Aufgrund ihres Mandats kann die Grundrechteagentur vielversprechende Vorgehensweisen fördern und Veranstaltungen organisieren, bei denen die Entschädigungsbehörden Ideen austauschen und die Zusammenarbeit verbessern können.
4.4Ausbau der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen allen Beteiligten
4.4.1In Bezug auf die vorgeschlagene zentrale Maßnahme der Mitgliedstaaten zum Aufbau widerstandsfähigerer Gesellschaften durch Förderung einer stärkeren Einbeziehung der Zivilgesellschaft in nationale Maßnahmen ist das Konzept der „Einbeziehung der Zivilgesellschaft“ viel zu weit gefasst, denn zur Zivilgesellschaft gehören auch Verbände von Polizisten, Justizvollzugsbeamte, Verbände ehrenamtlicher Helfer im Katastrophen- und Bevölkerungsschutz oder Kirchen. Von entscheidender Bedeutung ist das aktive Engagement jener Teile der Zivilgesellschaft, die direkt mit Opfern von Straftaten zusammenarbeiten.
4.4.2Die EU hat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Übereinkommen von Istanbul) zwar unterzeichnet, jedoch gerät es auf nationaler Ebene in einigen Mitgliedstaaten unter Beschuss, wobei Vorbehalte und Auslegungen als Reaktion auf eine sich abzeichnende Rhetorik „traditioneller Werte“ vorgebracht werden, bei der Gender, geschlechtsbezogene Gewalt und Geschlechtsidentität als Konstrukte bezeichnet werden, die nationale Identitäten untergraben, und häusliche Gewalt als ein privates Problem dargestellt wird. Die EU muss sich nachdrücklich für die Wahrung des Übereinkommens von Istanbul einsetzen. Zwar ist es Sache der Mitgliedstaaten, nationale Rechtsvorschriften zu entwickeln und zu verbessern, doch kann die EU das Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes vor geschlechtsbezogener Gewalt schärfen. Erreicht werden kann dies auch durch die Bereitstellung von Mitteln für die Entwicklung von Modulen für die Ausbildung von Angehörigen der Rechtsberufe, für die Erleichterung des Austauschs und für die Unterstützung von NGO, die Lobbyarbeit leisten und gleichzeitig die Opfer geschlechtsbezogener Gewalt unterstützen.
4.5Stärkung der internationalen Dimension der Opferrechte
4.5.1Die Koordinierung zwischen allen Organen und Einrichtungen der EU bei der Umsetzung der Strategie ist grundlegend wichtig, damit die EU bei den Maßnahmen des Europarats und der Vereinten Nationen für Opfer eine Führungsrolle übernehmen kann.
4.5.2Die EU sollte internationale Programme zur Finanzierung von Aktivitäten außerhalb der EU nutzen‚ um die Entwicklung von Rechtsvorschriften, Strategien und Diensten zu unterstützen, unter anderem durch die Finanzierung von Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau für alle Opfer von Straftaten.
5.EU-Finanzierung
5.1Nur ein verschwindend geringer Teil des EU-Haushalts ist für Opfer von Straftaten vorgesehen, was im krassen Widerspruch zu den Kosten steht, die Opfern und der Gesellschaft durch Straftaten entstehen. Da die Wahrung der Rechte von Opfern so wichtig ist und als Thema in viele Bereiche hineinspielt, sollte die Europäische Kommission einen strategischen Ansatz für die finanzielle Unterstützung von Opfern entwickeln, um jene Bereiche zu ermitteln, die von einer EU-Förderung voraussichtlich am meisten profitieren würden, und die Einbeziehung der Opferprioritäten in die verschiedenen EU-Finanzierungsprogramme (einschließlich der auf nationaler und internationaler Ebene umgesetzten) zu koordinieren.
5.2Die Finanzierung ist von entscheidender Bedeutung und sollte nicht an Projekte gebunden, sondern eher langfristig ausgelegt sein und sowohl EU-Mittel als auch nationale Mitteln umfassen.
Brüssel, den 9. September 2020
Christa Schweng
Vorsitzende der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft
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