INT/903
Kein Grüner Deal ohne sozialen Deal
STELLUNGNAHME
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
Kein Grüner Deal ohne sozialen Deal
(Initiativstellungnahme)
Berichterstatter: Norbert KLUGE
Beschluss des Plenums
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20/02/2020
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Rechtsgrundlage
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Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung
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Initiativstellungnahme
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Zuständige Fachgruppe
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Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch
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Annahme in der Fachgruppe
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11/05/2021
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Verabschiedung auf der Plenartagung
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09/06/2021
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Plenartagung Nr.
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561
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Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)
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213/3/12
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1.Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1Staaten, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger müssen gemeinsam grundlegende Herausforderungen angehen, die sich rasch verändern. Sie müssen gemeinsam Verantwortung dafür übernehmen, dass niemand zurückgelassen wird. Der Wiederaufbau muss sich an folgenden Prinzipien ausrichten: „Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit, Erschließung des vollen Potenzials des Binnenmarkts, Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, einer Kreislaufwirtschaft und einer klimaneutralen EU bis spätestens 2050“. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass die Europäische Union bei diesem Prozess eine Führungsrolle übernehmen muss, auch auf internationaler Ebene.
1.2Der Übergang zu umweltfreundlicheren und nachhaltigeren Wirtschaftsparadigmen wird jedoch zu hohen wirtschaftlichen Kosten führen, womit das Risiko der Zunahme der sozialen Ungleichheit und der Aushöhlung des sozialen Zusammenhalts verbunden ist. Es wird keinen „Grünen Deal“ ohne integrierten „sozialen Deal“ geben. Es gibt mehrere politische Schlüsselelemente, die notwendig sind, um eine enge Verknüpfung zwischen Grünem Deal und sozialer Gerechtigkeit zu gewährleisten.
1.3Eindeutig wichtige Elemente sind die Förderung von Beschäftigung und Kompetenzen, ein reibungsloser Übergang und ein dynamischer sozialer Dialog. Allerdings steht ein sozialer Deal als wesentlicher Bestandteil eines neuen Grünen Deals sicherlich nicht nur im Zusammenhang mit „Arbeit“. Es geht vielmehr um das Einkommen, die soziale Sicherheit und die finanzielle Unterstützung aller, die dies benötigen – auch derjenigen, die überhaupt keinen Zugang zu Beschäftigung haben. Die Einbeziehung aller Akteure der Zivilgesellschaft muss eine gemeinsame Anstrengung und ein gemeinsames Anliegen sein, auch bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen; das bedeutet, dass der Inklusion der schutzbedürftigsten Gruppen Beachtung geschenkt werden muss.
1.4Die Unternehmen müssen entsprechend ihren eigenen Möglichkeiten zum Grünen/sozialen Deal beitragen. Natürlich sollten sie auch weiterhin nach Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit streben. Zugleich können sie noch mehr tun, indem sie auf ihre Weise dazu beitragen, dass der Grüne Deal, die Aufbau- und Resilienzpläne und der industrielle Wandel ein Erfolg werden und soziale Vorteile mit sich bringen. Dies beinhaltet auch die Förderung des Unternehmertums und der besonderen Rolle der KMU wie auch der Rolle der sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die als Akteure betrachtet werden sollten, die einen ergänzenden Beitrag dazu leisten, die regionalen und lokalen Arbeitsmärkte auf den industriellen Wandel abzustimmen.
1.5Ein wesentliches Element eines solchen Ansatzes ist ein starker und zukunftsgerichteter sozialer Dialog. Damit wird auch ein Beitrag zu einer offeneren und stärker auf Mitbestimmung ausgerichteten Unternehmensführung geleistet. Zwar gehört eine wirksame Entscheidungsfindung zu den wichtigsten Voraussetzungen für den unternehmerischen Erfolg und müssen die Leitungsorgane von Unternehmen flexibel genug bleiben, um ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der einzelnen Beteiligten herzustellen, doch kann laut zahlreichen empirischen Studien der soziale Dialog auf konstruktive Weise dazu beitragen, die Qualität der Entscheidungsfindung in Unternehmen zu verbessern. Die workers‘ voice zielt darauf ab, in den Unternehmen einen positiven langfristigen Wandel herbeizuführen, indem auf das interne Fachwissen über einschlägige Verfahren zurückgegriffen wird, wodurch das Risikomanagement und die Kontrolle der Regeleinhaltung verbessert werden. Hierdurch werden der Informationsstand und die Qualität der von den Leitungsorganen zu treffenden Entscheidungen erhöht.
1.6Der EWSA pflichtet der im Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte (vom März 2021) dargelegten diesbezüglichen Sichtweise der Europäischen Kommission bei: „Sozialer Dialog, Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung von Arbeitnehmern und ihren Vertretern auf verschiedenen Ebenen (einschließlich der betrieblichen und sektoralen Ebene) spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des wirtschaftlichen Wandels und der Förderung von Innovationen am Arbeitsplatz, insbesondere im Hinblick auf die laufende grüne und digitale Wende und die Veränderungen in der Arbeitswelt.“ Die Kommission empfiehlt den nationalen Behörden und den Sozialpartnern, dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmer informiert und konsultiert werden, und im Interesse von Innovationen am Arbeitsplatz die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene zu fördern.
1.7Die workers' voice muss in der unternehmerischen Entscheidungsfindung in Bezug auf Umstrukturierungen und Innovationen in der Arbeitswelt systematisch Gehör finden, was es auch im Rahmen der Reform des Europäischen Semesters und der nationalen Resilienzpläne zu berücksichtigen gilt. Die EU könnte dies stärker in die Gestaltung ihrer gemeinsamen Handelspolitik einfließen lassen.
1.8Obwohl der geltende Corporate-Governance-Rahmen der EU den Unternehmen Leitlinien für die Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen der Beteiligten an die Hand gibt, erfordert eine nachhaltige Unternehmensführung ein umfassenderes und pluralistisches Verständnis dessen, was ein Unternehmen sein soll. Der EWSA erkennt die wesentliche Bedeutung der Aktionäre bei der Überwachung der Unternehmen an und plädiert dafür, Anreize für ein angemesseneres und stärker auf die Interessenträger ausgerichtetes Gesellschaftsrecht innerhalb des Corporate-Governance-Rahmens der EU zu schaffen und die workers' voice systematisch anzuerkennen. Umfassender geteilte Standpunkte und ein derartiger zukunftsorientierter Ansatz sollten dazu beitragen, die enormen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Digitalisierung sowie der Erholung von der COVID-19-Pandemie besser zu bewältigen.
Eine verantwortungsvolle Unternehmensführung sollte aus gesellschaftlicher Sicht betrachtet werden, wobei die den Unternehmen durch die Nachhaltigkeit entstehenden „Kosten“ mit den sich für die Gesellschaft aus einer nachhaltigeren Unternehmensführung ergebenden Vorteilen kombiniert werden. Dabei geht es nicht nur um ökologische Vorteile, sondern auch um eine inklusivere Gesellschaft, insbesondere dank einer vielfältigeren Arbeitnehmerschaft.
1.9Die Mitsprache aller Interessenträger, insbesondere der Arbeitnehmer als tragende Säulen des Unternehmens, muss fester Bestandteil der Maßnahmen zur Förderung künftiger nachhaltiger und wettbewerbsfähiger Unternehmen in einer gesunden Umwelt sein. Bei diesem Konzept sind KMU, Genossenschaften und sozialwirtschaftliche Tätigkeiten von großer Bedeutung.
1.10Der EWSA spricht sich dafür aus, offenere und inklusivere Reflexionen über den EU-Rahmen im Wirtschaftsbereich anzustellen, um die Rolle proaktiver Bürger als Unternehmer, Arbeitnehmer und Konsumenten/Prosumenten zu stärken und ihre demokratischen und repräsentativen Organisationen in die Lage zu versetzen, den Wandel zu antizipieren und zu gestalten. Zudem sollten Unternehmen so angeleitet werden, dass sie ihren Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft leisten können. Dies ist die wirksamste Methode zur Erreichung des Ziels der EU, „niemanden zurückzulassen“.
1.11Nach Ansicht des EWSA sollte für die Schaffung langfristiger Werte gesorgt werden – eine Aufgabe der Unternehmensleitung –, indem langfristige Interessen verfolgt werden, weshalb die Unternehmensleitung stärker Rechenschaft über die Unternehmensnachhaltigkeit ablegen sollte. Die Beteiligung der Arbeitnehmer über geeignete Kanäle kann sich auch positiv auf langfristige Unternehmensstrategien und -investitionen auswirken. Arbeitsmethoden wie die Arbeitnehmervertretung in Leitungsorganen haben sich bereits vielfach erwiesenermaßen positiv auf langfristige Unternehmensstrategien und -investitionen ausgewirkt.
1.12Die soziale Dimension muss in der künftigen aktualisierten Industriestrategie anerkannt werden. Zudem muss sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten Rechnung getragen werden, wenn wesentliche Leistungsindikatoren (KPI) zur besseren Messung der Transformation der europäischen Industrie und ihrer Resilienz in der Zeit nach der Pandemie entwickelt werden, die bei der Aktualisierung der EU-Industriestrategie zu berücksichtigen sind, zu der die Kommission am 5. Mai eine Mitteilung veröffentlicht hat. Soziale (u. a. arbeitsbezogene) sowie wirtschaftliche und ökologische Aspekte müssen als gleichrangig betrachtet werden. Neben der Industriepolitik und den Finanzmärkten sollte in betrieblichen Buchführungssystemen und Entscheidungsprozessen auch die ökologische und soziale Dimension der KPI Beachtung finden. Dabei sind über das Finanzkapital hinaus das Natur-, das Sozial- und das Humankapital zu messen und zu werten. Die europäischen Rechtsvorschriften sollten Rechnungslegungsstandards in Europa fördern, die die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Kosten angemessen widerspiegeln.
1.13Angesichts dieser Überlegungen möchte der EWSA eine politische Debatte auf allen Ebenen über die Schaffung eines neuen EU-Rahmens für die Interessenträger anstoßen. Das Europäische Parlament und die künftigen EU-Ratsvorsitze müssen eine maßgebliche Rolle bei dieser Debatte über die Frage spielen, wie die Interaktion sämtlicher beteiligter Akteure politisch gestaltet und schließlich auch in einem verbesserten EU-Rechtsrahmen für die Interessenträger verankert werden kann, der eine der Hauptvoraussetzungen für klimafreundliche und resiliente, wirtschaftlich erfolgreiche, auf lange Sicht nachhaltige – und gleichzeitig sozial verantwortliche – Unternehmen darstellt. Dabei sollte auch dem Verhalten der Anleger und der Kapitalmärkte Rechnung getragen werden.
1.14Um eine Mitbestimmung auf europäischer Ebene zu ermöglichen und eine direkte Unterrichtung sicherzustellen, ersucht der EWSA die Europäische Kommission und das Europäische Parlament um Fortführung der Diskussion über eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindeststandards bezüglich der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer sowie ihrer Vertretung in Leitungsorganen in den Fällen, in denen Unternehmen das EU-Gesellschaftsrecht übernehmen.
1.15Eine hohe Qualität der unternehmerischen Entscheidungsprozesse ist für alle Interessenträger, einschließlich der Aktionäre, von größter Bedeutung. In diesem Sinne und angesichts der EU‑Ziele des Grünen Deals und des Aufbauinstruments NextGenerationEU fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger der EU auf, den europäischen Corporate‑Governance‑Rahmen einschließlich der Aktionärsrichtlinie im Hinblick auf weitere Verbesserungen zu überdenken. Der EWSA betont jedoch, dass im Zusammenhang mit allen etwaigen einschlägigen regulatorischen Maßnahmen Folgenabschätzungen durchgeführt und die Grundsätze der besseren Rechtsetzung eingehalten werden müssen.
1.16Der EWSA ist der Auffassung, dass die Zuständigkeiten aller Akteure (Unternehmen, Behörden und Zivilgesellschaft) geklärt und in einer solchen Debatte bezüglich eines besseren EU‑Rahmens für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung folgende Aspekte herausgestellt werden müssen: die Verbindung zu aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und deren regionale Auswirkungen, effektive öffentliche Arbeitsverwaltungen, an die sich verändernden Arbeitsmarktstrukturen angepasste Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Schaffung geeigneter Sicherheitsnetze in Bezug auf Mindesteinkommen und soziale Dienstleistungen für die am stärksten gefährdeten Gruppen.
1.17Im Einklang mit dem Konzept der verantwortungsvollen Unternehmensführung für einen erfolgreichen Grünen Deal mit einem inklusiven sozialen Deal fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, in ihr Arbeitsprogramm ein umfassenderes Stakeholder-Modell als Bezugsgröße für eine nachhaltige Unternehmensführung aufzunehmen. Die diesbezügliche Debatte könnte sich auf Entschließungen, Stellungnahmen und Berichte stützen, die vom EWSA sowie vom Europäischen Parlament bereits verabschiedet wurden.
2.Der Grüne Deal und die Erholung von der COVID-19-Krise als Thema des gerechten Übergangs in Europa
2.1Im EU-Rechtsrahmen sind die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Ziele noch immer nicht vollständig gleichgestellt. Einerseits bezieht sich der Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums – mit den Zielen, Kapitalflüsse auf eine nachhaltigere Wirtschaft umzulenken, Nachhaltigkeit durchgängig in das Risikomanagement einzubeziehen sowie Transparenz und Langfristigkeit zu fördern – auf ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte der Nachhaltigkeit; andererseits sind im einheitlichen Klassifizierungssystem (Taxonomie) für nachhaltige Tätigkeiten bislang nur Kriterien für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten festgelegt; somit wird die Definition sozialer Kriterien aufgeschoben. In diesem Zusammenhang betrachtet die Europäische Kommission Investoren – und auch Arbeitnehmer investieren in ihr Unternehmen – als eine treibende Kraft für die nachhaltige Entwicklung und prüft ebenfalls, wie Verbraucher und andere Interessenträger in der Nachhaltigkeitswende gestärkt werden können.
2.2Die COVID-19-Pandemie hat beispiellose Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Unternehmen: Sie beeinträchtigt die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die Arbeitsorganisation und die wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen von Unternehmen; gleichzeitig beschleunigt sie die Umstrukturierung und Digitalisierung von Unternehmen sowie die Polarisierung innerhalb der Arbeitsmärkte.
2.3Angesichts dieser Unsicherheiten muss die europäische Politik echte Verbesserungen im Leben der Menschen bewirken. Das Sozialmodell inklusiver, pluralistischer und demokratischer Gesellschaften benötigt eine widerstandsfähige Zivilgesellschaft und ein solides und nachhaltiges soziales Umfeld, das auf nationalen Maßnahmen und der Integration im Arbeitsbereich beruht. Andernfalls drohen Nationalismus und Populismus zunehmend, demokratische Werte auszuhebeln und die soziale und politische Stabilität zu untergraben.
2.4Es ist wirklich notwendig, ein umfassendes Konzept der sozialen Dimension zu entwickeln, um den Grünen Deal zu fördern und alle relevanten Interessenträger darin einzubeziehen. Dieser Ansatz sollte die betreffenden Politikbereiche der EU und der Mitgliedstaaten abdecken, wie etwa Beschäftigung, Sozialschutz und Sozialfürsorge, Gesundheit sowie allgemeine und berufliche Bildung. Dabei sollte der Schwerpunkt auf den am stärksten gefährdeten Gesellschaftsgruppen liegen.
2.5Die EU-Mitgliedstaaten sollten Strukturreformen insbesondere in den Bereichen Sozialschutz, Beschäftigung sowie allgemeine und berufliche Bildung fördern, um besser auf die Herausforderungen eines gerechten Übergangs vorbereitet zu sein. Dies bedeutet aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, effektive öffentliche Arbeitsverwaltungen, an die sich verändernden Arbeitsmarktstrukturen angepasste Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Schaffung geeigneter Sicherheitsnetze in Bezug auf Mindesteinkommen und soziale Dienstleistungen für die am stärksten gefährdeten Gruppen.
2.6Nachhaltige Unternehmen müssen Wettbewerbsfähigkeit, Perspektiven für angemessene Arbeits- und Einkommensverhältnisse an resilienten Standorten und gesunde Rahmenbedingungen schaffen. Es handelt sich hier um eine der maßgeblichen Voraussetzungen für die Verwirklichung der europäischen Ziele und Werte im Hinblick auf einen vorteilhaften und gerechten Übergang für die gesamte Zivilgesellschaft. In Zeiten des Übergangs und der Krise ist die Einbeziehung der Arbeitnehmer und der Interessenträger wichtig und kann eine solide Grundlage für die Unterstützung der Arbeitnehmer in Unternehmen und Gesellschaften schaffen und dadurch Sicherheit und Stabilität fördern. Dies ist für den Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens in einer globalen Gesellschaft entscheidend.
3.Hin zu einer ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltigen Unternehmensführung
3.1Unterrichtung, Anhörung und Vertretung von Arbeitnehmern in Leitungsorganen sind ein zentrales Thema der Politik nachhaltiger Unternehmen und unterstreichen die Bedeutung der längerfristigen Planung und der Qualität der Entscheidungsfindung im Rahmen einer Wirtschaftsreformagenda; dabei müssen jedoch nationale und unternehmensbezogene Unterschiede berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang wird der „gute Ruf“ eines Unternehmens zu einem Wettbewerbsvorteil. Im Zuge einer nachhaltigen Unternehmensführung muss eine langfristige und pluralistische Ausrichtung der Unternehmensentscheidungen gefördert werden, wobei es die Genauigkeit, Qualität und Effizienz der Entscheidungsfindung zu wahren gilt. Die rechtlichen Interessen der Unternehmen, an die Pflichten der Unternehmensleitung gebunden sind, sind von den Interessen der Aktionäre zu unterscheiden, die zuweilen auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet sind. Ein pluralistischer, langfristiger und nachhaltiger Ansatz sollte auch die Interessen der Arbeitnehmer und anderen beteiligten Akteure berücksichtigen.
3.2Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission erste Schritte in Richtung einer möglichen Gesetzgebungsinitiative zur Sorgfaltspflicht unternommen. Der EWSA unterstützt diese Initiativen mit Nachdruck.
3.3Außerdem sollte ein neues Paradigma für die Antizipierung und Bewältigung des Wandels als Komponente einer „verantwortungsvollen“ Unternehmensführung erörtert und entwickelt werden, die neben den Kosten und Produktivitätsindikatoren auch den sozialen Kosten von Umstrukturierungen und Veränderungen sowie dem Beitrag eines Unternehmens zu einer inklusiveren Gesellschaft Rechnung trägt. Darüber hinaus gilt es die Auswirkungen auf die Einkommensverteilung, die alters- und geschlechterspezifische Gleichstellung, die Arbeitsplätze, die Umwelt- und Beschäftigungsqualität sowie die Nachhaltigkeit und die soziale Inklusion zu berücksichtigen.
3.4Soziale Fragen haben in den KPI für die Finanzanalyse und Unternehmensbewertung noch nicht den gleichen Stellenwert. Während die Europäische Kommission die Europäische Beratergruppe für Rechnungslegung (EFRAG) beauftragt hat, einen europäischen Rechnungslegungsstandard zu entwickeln, gibt es noch keinen globalen Folgenabschätzungs‑ und ‑bewertungsstandard für die Monetarisierung und Ausweisung der Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit. Es würde den Unternehmen den Übergang zur Klimaneutralität erleichtern, wenn sie ihre Auswirkungen messen, bepreisen und bei der Rechnungslegung ausweisen würden.
3.5In dieser Hinsicht sollten nach Auffassung des EWSA im Rahmen der bevorstehenden Überarbeitung der Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen eindeutige Fortschritte bei Berichterstattungsstandards in Bezug auf Sozial- und Arbeitsaspekte der Governance erreicht werden, einschließlich Arbeitsbedingungen, Gleichstellung in Leitungsorganen und Beschäftigung von benachteiligten Arbeitnehmern oder Arbeitnehmern mit Behinderungen. Die Unternehmensnachhaltigkeit sollte unter allen Aspekten gemessen und exakt bewertet werden.
3.6Im Einklang mit den Zielen des Grünen Deals und des Wiederaufbaus muss das bislang in der Erwirtschaftung von Gewinnen für die Aktionäre bestehende Ziel der Unternehmensführung nun in gleichem Maße durch die Wahrnehmung der sozialen und ökologischen Verantwortung ergänzt werden. Daher müssen Kanäle sichergestellt werden, damit der workers' voice im unternehmerischen Entscheidungsprozess systematisch Gehör geschenkt wird.
3.7Wie bereits in seiner Stellungnahme zum Thema „Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft in Europa“ fordert der EWSA die Kommission auf, die soziale Dimension in der angepassten und aktualisierten Industriestrategie zu stärken und weiterzuentwickeln. Dies dürfte sich auch auf die zu entwickelnden KPI auswirken, z. B. insofern als die Einbeziehung sozialer Indikatoren erwogen werden könnte. Es bedarf eines Mitspracherechts für Arbeitnehmer und Vertreter der Zivilgesellschaft in den Konsultationen über geeignete KPI zur Messung des Erfolgs des Grünen Deals sowohl auf Branchen- als auch auf Unternehmensebene.
3.8Es erscheint angezeigt zu untersuchen, ob der EU-Rechtsrahmen dazu beitragen sollte, einen Mindeststandard für eine obligatorische Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer über geeignete Kanäle für die workers‘ voice, z. B. auf Ebene der Leitungsorgane, festzulegen, um eine frühzeitige Information und Konsultation der Arbeitnehmer sowie die Antizipierung von Veränderungen zu gewährleisten. Trotz der bisher positiven Bilanz in diesem Bereich müssen die Umsetzung und Durchsetzung noch verbessert werden.
3.9Gleichzeitig muss die Gleichstellung von Frauen und Männern in Leitungsorganen und Führungspositionen gestärkt werden. Zu verhindern sind die Umgehung oder Verringerung der Arbeitnehmervertretung in Leitungsorganen, unternehmensrechtliche Tricks und künstliche Konstrukte wie Briefkastenfirmen, die nur dazu dienen, die Arbeitnehmermitbestimmung zu unterbinden. Für die im nationalen Recht von mindestens zwölf Mitgliedstaaten vorgesehene Arbeitnehmervertretung in Leitungsorganen, die in der Regel als Mitbestimmung verstanden wird, impliziert dies ein Konzept, mit dem aktiv ein verbindliches Mindestniveau an Mitspracherechten auf der Grundlage gemeinsamer EU-Mindeststandards für die Arbeitnehmervertretung entwickelt und gefördert wird. Ein Beispiel hierfür ist die EBR‑Richtlinie, die besser auf die aktuellen Gegebenheiten und künftigen Erfordernisse transnationaler Umstrukturierungen zugeschnitten werden sollte, indem den Europäischen Betriebsräten die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen zur Verfügung gestellt sowie Sanktionen gegen Unternehmen verhängt werden, die gegen die entsprechenden Bestimmungen verstoßen. Auch Branchenkonsultationen sollten aktiver genutzt werden.
3.10Ein soziales Europa muss sich an gemeinsamen Regeln orientieren, die sicherstellen, dass sich Unternehmen und ihre Eigentümer an eine „verantwortungsvolle Unternehmensführung“ halten. Dies ist ein Kernelement eines wirksamen sozialen Dialogs. Ein verbindlicher EU‑Rechtsrahmen für die Sorgfaltspflicht und das verantwortungsvolle unternehmerische Handeln – unter Berücksichtigung der Arbeitnehmerbeteiligung – wird in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen.
3.11Die „durchgängige Berücksichtigung der Mitbestimmung“ sollte ein übergreifendes Strukturelement in allen europäischen Rechtsvorschriften und Initiativen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen werden, um soziale Sicherheit und Wachstum zu fördern.
Brüssel, den 9. Juni 2021
Christa SCHWENG
Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
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