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Amtsblatt
der Europäischen Union

DE

Serie C


C/2024/893

6.2.2024

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über mit bestimmten neuen genomischen Techniken gewonnene Pflanzen und die aus ihnen gewonnenen Lebens- und Futtermittel sowie zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/625“

(COM(2023) 411 final — 2023/0226 (COD))

(C/2024/893)

Berichterstatter:

Arnaud SCHWARTZ

Befassung

Europäische Kommission, 18.8.2023

Rat, 15.9.2023

Europäisches Parlament, 19.10.2023

Rechtsgrundlage

Artikel 43, Artikel 114, Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe b und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

2.10.2023

Verabschiedung im Plenum

26.10.2023

Plenartagung Nr.

582

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

168/48/15

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt Innovation, auch bei der Züchtung von Pflanzensorten, sowie Maßnahmen zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Erzeuger, die sowohl die Sicherheit als auch die Nachhaltigkeit von Lebensmitteln in der EU gewährleisten. Er befürwortet deshalb den Grundsatz einer auf die Art der Veränderung zugeschnittenen Bewertung der Umwelt- und Gesundheitsrisiken und ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission im Hinblick auf Pflanzen, die durch bestimmte neue genomische Techniken (NGT) erzeugt werden, Transparenz garantieren muss. Ungeachtet dessen fordert der EWSA eine verstärkte Kontrolle in Form der Überwachung potenzieller systemischer Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit anhand eines Verfahrens, das in Zusammenarbeit mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Gemeinsamen Forschungsstelle und interessierten Akteuren der Zivilgesellschaft entwickelt werden sollte.

1.2.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, den Weg dafür zu ebnen, dass die Züchtungsverfahren beschleunigt werden und den Landwirten in der EU vielversprechende und resiliente Pflanzensorten zur Verfügung stehen. Die Bewältigung der zunehmenden vielschichtigen Herausforderungen in diesem Bereich wird es dem Sektor ermöglichen, seinen Beitrag zur Ernährungssicherheit zu erhöhen, besser zu den verschiedenen ehrgeizigen Zielen des europäischen Grünen Deals beizutragen und seine Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu verbessern.

1.3.

Der EWSA fordert die Kommission auch auf, dafür zu sorgen, dass sich die erfolgreichen Modelle des Biolandbaus und der gentechnikfreien Lebensmittelproduktion (1) auch weiterhin erfolgreich entwickeln können. Es bedarf auf EU-Ebene harmonisierter Koexistenzmaßnahmen, um divergierende Vorschriften und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Wenn diese Modelle ein Verbot beinhalten sollten, wäre es sinnvoller, dieses in der Bio-Verordnung zu verankern als in der NGT-Regelung, die nicht den passenden Rechtsrahmen bieten würde (wie im Fall von GVO).

1.4.

Der EWSA weist auf die mögliche Gefahr hin, dass eine große Zahl von Patenten im Zusammenhang mit dem Einsatz von NGT zu Abhängigkeiten für Landwirte und Saatgut produzierende KMU führen könnte. Mit dem geplanten Überwachungsverfahren muss diesem Anliegen angemessen Rechnung getragen werden. Der EWSA fordert deshalb, dass die Regelungen in Bezug auf geistiges Eigentum an Lebewesen vor dem Inkrafttreten dieser Rechtsvorschriften geklärt werden.

1.5.

Der EWSA ruft die Kommission ferner auf, auch die Frage der Unumkehrbarkeit und damit der Verantwortlichkeiten in diesem Bereich zu behandeln. Der EWSA schlägt u. a. die öffentliche und dezentrale Schaffung einer europäischen Bank für traditionelles Saatgut vor, in der mittels vorhandener nationaler Saatgutbanken oder ähnlicher Maßnahmen die Samen endemischer Pflanzen gesammelt werden, um sie zu erhalten (Vermeidung eines möglichen Aussterbens und von Kreuzungen mit NGT-Pflanzen) und erforderlichenfalls in Zukunft verfügbar zu machen. Eine solche Bank ist wichtig für die Ernährungssouveränität, das gastronomische Erbe und die strategische Autonomie der EU. Die Kommission sollte die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit dem Weltweiten Saatgut-Tresor in Norwegen prüfen und den Katalog der nationalen Sammlungen sowie die europäische Sammlung genetischer Ressourcen zugrunde legen.

1.6.

Darüber hinaus fordert der EWSA die Kommission auf, den Mangel an Rechtsvorschriften zu den Technologien selbst schnellstmöglich zu beheben. Angesichts ihrer potenziellen systemischen Auswirkungen im Sinne des Konzepts „Eine Gesundheit“ ist der EWSA der Auffassung, dass beispielsweise vermieden werden sollte, dass Nicht-NGT-Fachleute ohne weiteres im Internet Bausätze zur genetischen Veränderung von Lebewesen mithilfe von Techniken wie CRISPR-Cas (2) erwerben und verwenden können.

1.7.

Der EWSA könnte den Vorschlag der Kommission unterstützen, sofern sie seine Bedenken wirksam berücksichtigt. Daher sollte die Kommission insbesondere die Einführung einer nachträglichen systemischen Überwachung und Kennzeichnung von NGT-Pflanzen der Kategorie 1 für Verbraucher in Erwägung ziehen. Diese Kennzeichnung könnte auf der administrativen Rückverfolgbarkeit beruhen und Informationen über die Vorteile der Sorte enthalten.

1.8.

Bis dahin ist der EWSA nach wie vor bereit, seinen Beitrag zur Verbesserung des derzeitigen Vorschlags der Kommission für eine Verordnung über NGT zu leisten.

2.   Legislativvorschlag der Europäischen Kommission

2.1.

Am 5. Juli veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag (3) zu durch bestimmte neue genomische Techniken im Bereich der gesteuerten Mutagenese oder der Cisgenese erzeugten Pflanzen. In dem Vorschlag werden zwei Arten der Anwendung von NGT unterschieden:

Kategorie 1 für Pflanzen mit nicht mehr als 20 genetischen Veränderungen durch NTG. Diese Pflanzen können nach Auffassung der Kommission den Pflanzen gleichgestellt werden, die durch konventionelle Züchtungsverfahren erzeugt werden;

Kategorie 2 für Pflanzen, für die mehr als 20 genetische Veränderungen erforderlich sind. Diese Pflanzen gelten als Pflanzen, die nicht durch konventionelle Züchtungsverfahren gewonnen werden können.

Für NGT-Pflanzen der Kategorie 1 schlägt die Kommission vor, dass die Rückverfolgbarkeit bis zum Landwirt verbindlich ist, nicht jedoch die spezifische Kennzeichnung bis zum Verbraucher. Bei der Aufnahme in den Katalog (Vorschriften für Saatgut) muss eine Standardbewertung durchgeführt werden. Darüber hinaus sieht die Kommission die Einrichtung einer öffentlichen Datenbank vor, in der alle NGT-Pflanzen aufgeführt sind.

Für NGT-Pflanzen der Kategorie 2 soll es neben einer verbindlichen Rückverfolgbarkeit auch eine spezifische Kennzeichnung bis zum Verbraucher und die Durchführung einer Bewertung analog zu gentechnisch veränderten Organismen (GVO) geben. Die Kommission schlägt vor, NGT-Pflanzen, auch die der Kategorie 1, für die ökologische/biologische Erzeugung zu verbieten.

2.2.

Die Kommission beabsichtigt, die Entwicklung von NGT-Pflanzen der Kategorie 1 zu fördern und das Inverkehrbringen von hierdurch erzeugten Pflanzen sowie Lebens- und Futtermitteln in der EU durch ein vereinfachtes Zulassungsverfahren zu erleichtern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag der Kommission den Rahmen verändert, der seit dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union aus dem Jahr 2018 in der EU gilt. Der EuGH legte die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (4) dahingehend aus, dass Organismen, die durch moderne Techniken der gezielten Mutagenese gewonnen werden, GVO sind, die den Bestimmungen des EU-Rechts unterliegen (5). Der Vorschlag der Europäischen Kommission trägt den neuesten technologischen Entwicklungen Rechnung, insbesondere den Entwicklungen seit der Entdeckung der CRISPR-Cas-Methode vor fast zehn Jahren, die Fortschritte in der Medizin im Rahmen der Immuntherapie ermöglicht hat.

3.2.

Im Vergleich zur aktuellen Situation (6) würden sich einige Landwirte, Saatguterzeuger, kleine und große verarbeitende Betriebe und Verbraucher, die ohne sogenannte neue GVO leben wollen, eines Teils ihrer Freiheiten beraubt sehen, da die NGT-Pflanzen der Kategorie 1 und die entsprechenden Erzeugnisse von einer gründlichen Bewertung ihrer Umwelt- und Gesundheitsrisiken, Maßnahmen zur Rückverfolgbarkeit und der Kennzeichnung für den Endverbraucher ausgenommen würden.

3.3.

Gleichzeitig möchte eine Mehrheit der Landwirte, die im EWSA vertreten sind, sowie die Saatguterzeuger usw. die Möglichkeit haben, NGT-Pflanzen zu verwenden, etwa um sich an den Klimawandel anzupassen und den Einsatz von Betriebsmitteln zu verringern. Sie teilen die Auffassung der Kommission, dass NGT-Pflanzen der Kategorie 1 mit durch konventionelle Züchtungsverfahrenen gewonnenen Pflanzen gleichzusetzen sind, die in verschiedenen Formen der Landwirtschaft eingesetzt werden. Sie möchten klarstellen, dass zu den konventionellen Züchtungsverfahren auch die Zufallsmutagenese gehört, ein von der Richtlinie 2001/18/EG ausgenommenes GVO-Verfahren, dessen Ergebnisse teilweise in der Biolandwirtschaft genutzt werden.

3.4.

Der Vorschlag der Kommission stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Gemeinsamen Forschungsstelle und der EFSA. Einige Organisationen der Zivilgesellschaft sind jedoch der Ansicht, dass hierbei kritische Gutachten und ein Teil des Vorsorgeprinzips außer Acht gelassen werden.

3.5.

Während einige Organisationen den Vorschlag der Kommission bezüglich NGT-Pflanzen der Kategorie 1 begrüßen, erklären andere, dass die Kommission bei dieser Kategorie von der fiktiven Annahme ausgeht, NGT seien konventionell. Die Art der Erzeugung und das Ergebnis seien nämlich nicht identisch, was Studien der EFSA und der Gemeinsamen Forschungsstelle sowie der Auffassung der großen Mehrheit der Wissenschaftler, die NGT anwenden, widerspricht.

3.6.

Der EWSA begrüßt, dass im Vorschlag der Kommission ein Programm zur Bewertung der Auswirkungen dieser Vorschriften auf die Nachhaltigkeit, den Biolandbau und die Akzeptanz von NGT durch die Verbraucher vorgesehen ist. Er fordert jedoch, dass die Kontrolle auch eine Überwachung potenzieller systemischer Auswirkungen und eine Kosten-Nutzen-Analyse umfasst.

3.7.

Eine systemische bzw. umfassende Kontrolle unterscheidet sich von einer Einzelfallbewertung, etwa der analytischen Bewertung. Sie erfordert die Entwicklung von Indikatoren für die Dynamik der Systeme, denen wir angehören (Gesellschaften, Ökosysteme usw.) in Zusammenarbeit mit der EFSA, der Gemeinsamen Forschungsstelle und interessierten Kreisen der Zivilgesellschaft. Eine solche Kontrolle zielt darauf ab, Verfahren zu ermöglichen, die andernfalls aufgrund des Vorsorgeprinzips nicht zulässig wären.

3.8.

Der EWSA ist sich über die geltenden Rechtsvorschriften im Klaren und stellt fest, dass im Vorschlag der Kommission gefordert wird, Fragen des geistigen Eigentums bis 2026 durch eine Bewertung der Auswirkungen von Patenten für Pflanzenzucht anzugehen. Die Frage der Patente ist jedoch erst einmal ungelöst. Es ist schwer abzuschätzen, inwieweit das Recht der Landwirte und anderer Saatgutproduzenten (die keine Patentinhaber sind), Pflanzen zur Erzeugung ihres eigenen Saatguts zu verwenden, eingeschränkt werden könnte und wie hoch das Risiko ist, den Landwirten hohe Nutzungskosten aufzuerlegen.

3.9.

Der EWSA plädiert deshalb für umfassende Überlegungen darüber, wie die Frage der Patente angegangen und wie eine Lösung gefunden werden kann, die den Bedürfnissen der Landwirte, der Saatguterzeuger und der Akteure der Lebensmittelversorgungskette angemessen Rechnung trägt. Der EWSA unterstützt die Ausarbeitung einer Regelung für die Patente für NGT-Pflanzen bis zur Anwendung der entsprechenden Verordnung (zwei Jahre nach ihrer Ratifizierung).

3.10.

Der EWSA warnt vor den Gefahren für den Biolandbau und die gentechnikfreie Lebensmittelproduktion. Da in diesen Branchen keine GVO eingesetzt werden dürfen, wären NGT-Pflanzen dort ebenfalls verboten. Wenn jedoch keinerlei Methoden zur Erkennung, Identifizierung und Rückverfolgbarkeit erforderlich sind, haben die Händler, die Mitgliedstaaten und die Kommission keine Möglichkeit, gesetzeskonform zu handeln. Der Aufwand zur Kontrolle der für den Biolandbau und andere gentechnikfreie Produktionsmodelle erforderlichen Verfahren könnte mit der Einführung der vorgeschlagenen Rechtsvorschriften erheblich zunehmen. Es sollte deshalb sichergestellt werden, dass die anfallenden Kosten gerecht gedeckt werden und nicht nur zulasten der ökologischen/biologischen und gentechnikfreien Produktionsmodelle gehen.

3.11.

In Bezug auf das eventuelle Verbot von NGT-Pflanzen im Biolandbau empfiehlt der EWSA, sich auf die Stellungnahme der entsprechenden Branchenverbände zu stützen. Wenn diese dafür plädieren, dann wäre ein Verbot in der Bio-Verordnung angemessener als in der NGT-Regelung, die nicht den passenden Rechtsrahmen bieten würde (wie im Fall von GVO).

3.12.

Der EWSA stellt fest, dass ein großer Teil der Zivilgesellschaft (Petition von Bürgern, NRO, bestimmte landwirtschaftliche Organisationen, zahlreiche europäische Händler und Supermarktketten) einen sichereren Rahmen für NGT wünscht. Der von der Kommission vorgeschlagene Rechtsrahmen bietet jedoch Garantien in Bezug auf die Sicherheit. Verbraucher, die bewusst auf NGT-Pflanzen verzichten möchten, können „NGT-freie“ Lebensmittel kaufen, mit allen technischen Schwierigkeiten, die damit einhergehen, eine solche Angabe zu garantieren. Derzeit sind NGT-Pflanzen der Kategorie 1 nicht von durch Zufallsmutagenese gewonnenen Pflanzen zu unterscheiden, die in der EU bereits in großem Umfang in Verkehr gebracht und verzehrt werden.

3.13.

Ungeachtet dessen begrüßt der EWSA die Entwicklung innovativer Technologien und von neuem Saatgut (7). Er könnte den Vorschlag der Kommission unterstützen, sofern sie seine Bedenken wirksam berücksichtigt.

3.14.

Da NGT-Pflanzen derzeit schwer zu erkennen sind, sind Kontrollen unter Nutzung biologischer Analysen zur Gewährleistung einer Kennzeichnung bis zum Verbraucher unmöglich oder extrem kostspielig. Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Durchführung dieser Kontrollen verbunden sind, sollte eine Etikettierung bis zum Verbraucher nur auf der Grundlage einer administrativen Rückverfolgbarkeit erfolgen, die bereits bei Saatgut bis zum Landwirt gegeben ist. Da NGT kostengünstiger sind als Transgenese, sollte die Kommission nach einer transparenten Debatte mit allen Beteiligten sicherstellen, dass die Kosten der Kennzeichnung nicht zulasten der Landwirte und anderer kleinerer Akteure der Agrar- und Lebensmittelwirtschaftskette gehen.

3.15.

In diesem Sinne könnte die Kommission die Chancen, die NGT für europäische KMU bieten, erhöhen, indem sie ein öffentliches Programm zur systemischen Bewertung der von diesen neu erzeugten Pflanzen entwickelt.

3.16.

Ein großer Teil der landwirtschaftlichen und Saatgut produzierenden Unternehmen wartet insbesondere vor dem Hintergrund der Wettbewerbssituation aufgrund der jüngsten Erleichterung des Inverkehrbringens von NGT-Erzeugnissen und -Saatgut durch verschiedene Drittländer auf die neuen europäischen Vorschriften. Bis diese vollständig und wirksam im Sinne des EWSA sind, fordert er die Kommission ausdrücklich auf, in Bezug auf Drittländer alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die EU vor möglichen Wettbewerbsverzerrungen und Risiken zu schützen.

3.17.

Der EWSA unterstützt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen müssen angemessen und dürfen nicht unnötig restriktiv sein), das Vorsorgeprinzip (da wissenschaftlich gesehen Unsicherheit hinsichtlich der globalen Auswirkungen von NGT besteht) und das Prinzip der Umkehrbarkeit (d. h. potenzielle Schäden durch die von der Kommission regulierte Tätigkeit müssen behoben oder zumindest gemindert werden können).

3.18.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission die Auswirkungen von NGT auf die verschiedenen Landwirtschaftsmodelle berücksichtigen sollte. Kleinbauern, die bereits biologische, ökologische, regenerative oder traditionelle Anbaumethoden einsetzen, befürchten eine Kontaminierung durch dieses neue Saatgut. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, eine Folgenabschätzung durchzuführen, die der künftigen Wirtschaftlichkeit und Rentabilität dieser Bewirtschaftungsformen sowie ihren sozialen und kulturellen Aspekten Rechnung trägt. Zudem müssen die Verbraucher anhand einer korrekten Kennzeichnung mit Angabe der Art der Landwirtschaft und des Saatguts insbesondere erkennen können, woher ein Erzeugnis stammt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Der EWSA empfiehlt, zehn Jahre nach der Einführung der neuen Verfahren eine Nutzen-Risiko-Analyse durchzuführen

Im Interesse der Anpassung an den Klimawandel, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass NGT genauer und zuverlässiger sind als die Verfahren der Transgenese, sowie in Kenntnis der Umweltauswirkungen von GVO in den letzten dreißig Jahren spricht der Nutzen-Risiko-Ansatz für die Verwendung von NGT-Pflanzen unter bestimmten Bedingungen, wie im Vorschlag der Kommission ausgeführt. Der Nutzen-Risiko-Ansatz, insbesondere in Bezug auf die Umwelt, ermöglicht es, die Auswirkungen der Biotechnologie auf ein Ökosystem zu berücksichtigen.

Wir leben in komplexen natürlichen Systemen (Ökosysteme, Gesellschaften usw.), deren Organisation sich aus der Art ihrer Komponenten und deren Verbindungen ergibt. Im Gegenzug beeinflussen diese Organisationen wiederum die Komponenten und ihre Verbindungen, das heißt, alles beruht auf einer ständigen Wechselwirkung. Die herkömmliche Technologiefolgenabschätzung ist im Wesentlichen analytischer Art, da sie die vorhersehbaren Auswirkungen auf eine Reihe von als relevant erachteten Elementen oder Phänomenen umfasst. Diese erhebliche Beschleunigung der Entwicklung natürlicher Systeme muss ins Verhältnis zu den Auswirkungen des Klimawandels gesetzt werden. Der Klimawandel verursacht weitaus größere Umwälzungen in der Natur als die Verwendung von Pflanzen, die durch biotechnologische Verfahren gewonnen wurden. NGT-Pflanzen können vielmehr zu mehr Resilienz gegenüber diesen Entwicklungen führen.

4.1.1.

Die künstliche Erhöhung der Entwicklungsgeschwindigkeit der komplexen natürlichen Systeme, die für uns relevant sind, ist auf die exponentielle Zunahme technologischer Produkte zurückzuführen. Bei NGT kommt noch die enorme Zunahme der Möglichkeiten hinzu, die gewünschten genetischen Veränderungen zu erreichen. So erzeugten Forscher z. B. durch NGT mit drei gezielten Mutationen eine gegen Mehltau resistente Weizenvariante (8).

Um ein solches Ergebnis durch eine Selektion natürlicher Mutationen zu erzielen, wäre eine Beobachtung der gesamten weltweiten Erzeugung über vier Millionen Jahre hinweg nötig.

Für eine Maissorte mit 20 Mutationen müssten bei einer Selektion natürlicher Mutationen 1,25 × 10163 Körner untersucht werden! Die Zahl der Atome im Universum beträgt 1080.

Eine derart hohe Beschleunigung ist ein drastischer Bruch mit der Koevolution und ein äußerst disruptives Element in der Organisation von Ökosystemen und Gesellschaften.

4.2.   Der EWSA betont, dass Verbesserungen bei den ethischen Aspekten erforderlich sind

4.2.1.

Die Menschen mussten sich stets zu Gemeinschaften zusammenschließen, um überleben zu können. Dies bedeutet, dass ihr Verhalten mit dem Leben der Gemeinschaft in Einklang stehen muss. Hier kommt die Ethik ins Spiel.

Ethik hatte zunächst eine soziale Dimension, da die Natur implizit für unendlich resilient gehalten wurde. Die derzeit entstehende Macht der Technik stört die natürlichen Systeme erheblich und gefährdet ihre Stabilität.

Hieraus ergibt sich eine notwendige Weiterentwicklung der Ethik, die ihre soziale Dimension beibehält, aber zugleich die Kohärenz des menschlichen Verhaltens mit den natürlichen Systemen gewährleisten muss, was auch zu einer Änderung der Wertehierarchie führt: Da die Stabilität der natürlichen Systeme erforderlich ist, damit alles andere fortbestehen kann, hat das, was für diese Stabilität benötigt wird, Vorrang vor allen anderen Erwägungen, ebenso wie das, was für die Aufrechterhaltung der Gesellschaften erforderlich ist, Vorrang hat vor Einzelinteressen. Angesichts der hierfür erforderlichen Zeit und erheblichen Zusatzkosten lässt sich nicht jedes Mal, wenn eine neue Sorte eingeführt wird, zu sämtlichen Systemen eine Studie durchführen. Der vorgeschlagene systemische Ansatz würde sich daher darauf beschränken, allein die Techniken insgesamt statt jede neue Sorte zu überwachen.

4.2.2.

Ein weiterer Aspekt der Ethik ist, dass viele Europäerinnen und Europäer über das Vorhandensein von GVO in Lebensmitteln informiert werden wollen. In diesem Fall ist es geboten, die persönlichen Überzeugungen zu achten. Der EWSA fordert die Kommission auf, dies auch im Falle von Pflanzen und Erzeugnissen aus NGT zu tun.

4.3.   Allgemeine Sicherheit: Der EWSA weist auf den komplexen und technischen Charakter dieser Frage hin

4.3.1.

In einigen Schulen wird die Anwendung von NGT gelehrt. Mitunter können die Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse von NGT mit nach Hause nehmen. Im Internet (9) finden sich Bausätze für die Modifikation von Bakterien oder Pflanzen mit CRISPR-Cas9 für 85 USD und Heimlabore für Hobby-Biologen für weniger als 3 000 USD. Ihr Verkauf kann derzeit nicht geregelt werden, da sich die Vorschriften nur auf die Verbreitung von Endprodukten und nicht auf Reagenzien beziehen. Der Vorschlag der Kommission geht in die richtige Richtung. Damit wird ein Rahmen für den Einsatz von NGT vorgegeben. Ein reines Verbot würde dazu führen, dass diese Techniken verstärkt illegal genutzt werden, um NGT-Pflanzen zu gewinnen, oder vermehrt außerhalb der EU zugelassene NGT-Sorten gekauft werden. Ungeachtet dessen fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, den Online-Verkauf dieser Bausätze ordnungsgemäß zu überwachen, und weist darauf hin, dass alle nicht zugelassenen Produkte, die aus solchen Verkäufen hervorgehen, als Betrug gelten sollten.

4.3.2.

Durch die vorgeschlagene Regelung könnte die Überwachung des Bioterrorismus verbessert werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission hier aktiv werden und auf die Sicherheitsbedenken reagieren sollte.

4.4.   Der EWSA warnt vor Vereinfachungen, die nicht der Realität entsprechen

4.4.1.

Den von der Kommission gezogenen Vergleichen zwischen durch NGT erzeugten und konventionellen Pflanzen liegt die Annahme zugrunde, dass nur das relevante Gen betroffen ist.

4.4.1.1.

Bei Transgenese, Cisgenese und Intragenese kommen jeweils Techniken zum Einsatz, bei denen mit In-vitro-Kulturen gearbeitet wird. Abgesehen davon, dass es zum unbeabsichtigten Einbau fremder DNA kommen kann, werden hierdurch Mutationen und Epimutationen induziert (Zang 2014). Laut Kommissionsvorschlag werden diese unbeabsichtigten Änderungen einer Bewertung unterzogen, bei NGT-Pflanzen der Kategorie 1 in Form der Zulassungsunterlagen, bei NGT-Pflanzen der Kategorie 2 im Rahmen der hierfür vorgesehenen spezifischen Bewertung. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Behörden über die erforderlichen Mittel verfügen sollten, um die diesbezüglich bereitgestellten Informationen überprüfen zu können, z. B. durch unabhängige Stellen.

4.4.1.2.

Unter Cisgenese ist das Einbringen von Genen derselben Art oder einer sexuell kompatiblen Art in eine Sorte von Interesse zu verstehen.

4.4.1.3.

Die Reagenzien, die bei allen NGT verwendet werden (nämlich DNA, RNA, RNP), hinterlassen Spuren fremder DNA in den modifizierten Genomen (Bertheau 2022; Kawall 2020; Norris 2019, 2020; Ono et al., 2015; Ono et al., 2019). Eine genetisch veränderte Pflanze entspricht deshalb nicht einer natürlichen Pflanze.

4.4.1.4.

Punktmutationen eines Gens können je nach genetischem Hintergrund und Umweltbedingungen sehr unterschiedliche Auswirkungen haben, wenn mehrere Gene beteiligt sind (Siegal 2017), und zu unterschiedlichen Funktionen führen (Copley 2014; Huberts 2010; Jeffery 2014). Eine synonyme Mutation kann die dreidimensionale Struktur eines Proteins und seine enzymatische Aktivität verändern, ohne dass sich seine Sequenz ändert (Chamary und Hurst 2009; Kimchi-Sarfaty 2007).

4.4.2.

Unbeabsichtigte Änderungen mit Auswirkungen außerhalb der Schnittstelle werden durch Rückkreuzungen nicht beseitigt (Bertheau 2019, 2022): Über solche Off-target-Effekte hinaus kommt es durch NGT zu Chromothripsis und zahlreichen Epimutationen. Im Rahmen der bereits zugelassenen In-vivo- oder In-vitro- Zufallsmutagenese können ungezielte Veränderungen, Epimutation oder Chromothripsis auftreten. Dies wirft auch Fragen hinsichtlich der daraus gewonnenen GVO auf, die derzeit keinen Maßnahmen in Bezug auf andere GVO oder vereinfachten Maßnahmen wie den für NGT-Pflanzen der Kategorie 2 vorgeschlagenen unterliegen. Trotz möglicher Off-Target-Veränderungen oder Epimutationen, die trotz Rückkreuzung fortbestehen könnten, befinden sich durch Zufallsmutagenese gewonnene Sorten seit über 30 Jahren ohne gesundheitliche oder ökologische Folgen auf dem Markt.

Brüssel, den 26. Oktober 2023

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Oliver RÖPKE


(1)  Ohne gentechnisch veränderte Organismen (GVO).

(2)  Akronym für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats (gruppierte kurze palindromische Wiederholungen mit regelmäßigen Abständen).

(3)  https://food.ec.europa.eu/plants/genetically-modified-organisms/new-techniques-biotechnology_de?etrans=de.

(4)  Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. L 106 vom 17.4.2001, S. 1)

(5)  https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-07/cp180111de.pdf.

(6)  Einschlägige Stellungnahmen des EWSA zu diesem Thema: ABl. C 349 vom 29.9.2023, S. 80, ABl. C 293 vom 18.8.2023, S. 1, ABl. C 184 vom 25.5.2023, S. 109, ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 72, ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 49, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 203, ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 56.

(7)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sicherung einer fairen Lebensmittelversorgungskette“ (Sondierungsstellungnahme) (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 38).

(8)  Wang Y., Cheng X., Shan Q., Zhang Y., Liu J., Gao C., Qiu J.-L., Simultaneous editing of three homoeoalleles in hexaploid bread wheat confers heritable resistance to powdery mildew. Nat Biotechnol. 2014; 32:947–51.

(9)  www.the-odin.com/diy-crispr-kit/.


ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/893/oj

ISSN 1977-088X (electronic edition)