ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 486

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

65. Jahrgang
21. Dezember 2022


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022

2022/C 486/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema KMU, sozialwirtschaftliche Unternehmen, Handwerk und freie Berufe — Fit für 55 (Initiativstellungnahme)

1

2022/C 486/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Unternehmensübertragungen als treibende Kraft einer nachhaltigen Erholung und eines nachhaltigen Wachstums von KMU (Initiativstellungnahme)

9

2022/C 486/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Soziale Taxonomie — Herausforderungen und Chancen (Initiativstellungnahme)

15

2022/C 486/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Finanzierung des Klimaanpassungsfonds durch Kohäsionsmittel und NextGenerationEU (Initiativstellungnahme)

23

2022/C 486/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kryptowerte — Herausforderungen und Chancen (Initiativstellungnahme)

30

2022/C 486/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Strategie für das Gesundheitswesen und seine Arbeitskräfte für die Zukunft Europas (Initiativstellungnahme)

37

2022/C 486/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema EU-Jugendtest (Initiativstellungnahme)

46

2022/C 486/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beitrag der Technologien zur CO2-Entfernung zur Dekarbonisierung der europäischen Industrie (Initiativstellungnahme)

53

2022/C 486/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Energiewende und Digitalisierung in ländlichen Gebieten (Initiativstellungnahme)

59

2022/C 486/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Öffentliche Investitionen in Energieinfrastruktur als Teil der Lösung der Klimaproblematik (Initiativstellungnahme)

67

2022/C 486/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Beitrag zur Stärkung der partizipativen Demokratie in der EU (Initiativstellungnahme)

76

2022/C 486/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Thematische Partnerschaften im Rahmen des Abkommens von Ljubljana (Sondierungsstellungnahme)

83

2022/C 486/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Bekämpfung der Energiearmut und Resilienz der EU: Herausforderungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

88

2022/C 486/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Sozialer Dialog im Rahmen des grünen Wandels (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

95

2022/C 486/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen EU-Ratsvorsitzes)

102


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022

2022/C 486/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten: Das Potenzial von Gesundheitsdaten für die Allgemeinheit, für Patientinnen und Patienten und für Innovation erschließen(COM(2022) 196 final) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den europäischen Raum für Gesundheitsdaten(COM(2022) 197 final — 2022/0140 (COD))

123

2022/C 486/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz geografischer Angaben für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse und zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1001 und (EU) 2019/1753 des Europäischen Parlaments und des Rates und des Beschlusses (EU) 2019/1754 des Rates(COM(2022) 174 final — 2022/0115 (COD))

129

2022/C 486/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern(COM(2022) 209 final — 2022/0155 (COD)) und Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine digitale Dekade für Kinder und Jugendliche: die neue europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder (BIK+)(COM(2022) 212 final)

133

2022/C 486/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/83/EU in Bezug auf im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/65/EG(COM(2022) 204 final — 2022/0147(COD))

139

2022/C 486/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 und der Verordnung (EU) 2021/1060 im Hinblick auf zusätzliche Flexibilität zur Bewältigung der Folgen des militärischen Angriffs durch die Russische Föderation — FAST-CARE (Flexible Assistance for Territories — Flexible Unterstützung für Gebiete)(COM(2022) 325 final — 2022/0208 (COD))

144

2022/C 486/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Menschenwürdige Arbeit weltweit(COM(2022) 66 final)

149

2022/C 486/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten(COM(2022) 241 final)

161

2022/C 486/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung(COM(2022) 349 final)

168

2022/C 486/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Programms der Union für sichere Konnektivität für den Zeitraum 2023-2027(COM(2022) 57 final — 2022/0039 (COD)) und Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Ein Ansatz der EU für das Weltraumverkehrsmanagement — Ein Beitrag der EU zur Bewältigung einer globalen Herausforderung (JOIN(2022) 4 final)

172

2022/C 486/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — REPowerEU-Plan(COM(2022) 230 final) und Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/241 in Bezug auf REPowerEU-Kapitel in den Aufbau- und Resilienzplänen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1060, der Verordnung (EU) 2021/2115, der Richtlinie 2003/87/EG und des Beschlusses (EU) 2015/1814(COM(2022) 231 final — 2022/0164(COD))

185

2022/C 486/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorübergehende Entlastung der Flughäfen von den Vorschriften für Zeitnischen aufgrund von COVID-19(COM(2022) 334 final)

194

2022/C 486/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die geopolitischen Auswirkungen der Energiewende(JOIN(2022) 23 final)

198


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022

21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „KMU, sozialwirtschaftliche Unternehmen, Handwerk und freie Berufe — Fit für 55“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/01)

Berichterstatterin:

Milena ANGELOVA

Ko-Berichterstatter:

Rudolf KOLBE

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

27.6.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU) wie traditionelle Unternehmen, Familienunternehmen, Händler, Unternehmen der Sozialwirtschaft, Handwerksbetriebe oder freie Berufe tragen maßgeblich zu einer wettbewerbsfähigen, klimaneutralen, kreislauforientierten und inklusiven EU-Wirtschaft bei, sofern richtige und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Mittels Verbesserung ihrer Umweltleistungen und durch die Bereitstellung von Fachwissen und Lösungen für andere Unternehmen, Bürger und den öffentlichen Sektor tragen KKMU zu einer positiven Entwicklung bei. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) anerkennt und betont die Vielfalt und die unterschiedlichen Bedürfnisse von KKMU, wobei allerdings den kleinsten und am stärksten gefährdeten Unternehmen besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist.

1.2.

Vielen KKMU mangelt es an Wissen über die sich ständig weiterentwickelnden rechtlichen Anforderungen in puncto Klimaneutralität und darüber, wie darauf zu reagieren ist. Zudem haben sie Schwierigkeiten, potenzielle Geschäftsvorteile und Chancen zu erkennen, die sich aus dem grünen Wandel ergeben. Der EWSA betont daher, dass KKMU dringend dabei unterstützt werden müssen, den grünen Wandel bestmöglich zu verstehen und zu meistern.

1.3.

Der EWSA fordert umfassende und gezielte Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Diese sollten von der Kommission und den Mitgliedstaaten in koordinierter und komplementärer Weise gemeinsam mit Unternehmensverbänden, Kammern, Sozialpartnern und anderen einschlägigen Interessenträgern realisiert werden.

1.4.

Der EWSA fordert ferner ein umfassendes Programm, um KKMU bei allen Problemen, auf die sie im Geschäftsbetrieb und bei ihren Tätigkeiten im Rahmen der Ökologisierung und der Einhaltung der Rechtsvorschriften stoßen, zu unterstützen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Natur von KKMU sind maßgeschneiderte Lösungen, Strategien und Maßnahmen erforderlich.

1.5.

Eine sofortige und gezielte kurzfristige Unterstützung für KKMU ist von zentraler Bedeutung, um ihre wirtschaftliche Erholung von der Pandemie voranzutreiben und sie bei der Bewältigung der Folgen der russischen Invasion in die Ukraine wie hohe Energiepreise und mangelnde Versorgung mit Materialien und Produkten zu unterstützen. Angesichts der außergewöhnlichen Umstände sollten nach Auffassung des EWSA die Zeitpläne für den europäischen Grünen Deal bis zum Ende der Krise flexibel gestaltet werden. Dabei ist sicherzustellen, dass seine Ziele keinesfalls aufgegeben werden.

1.6.

Der EWSA schlägt vor, in verschiedenen Regionen „Hubs for Circularity“ einzurichten, um die Ressourceneffizienz von KKMU zu verbessern. Dies dürfte die sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen verbessern und die Entwicklung neuer Praktiken und Verfahren, einschließlich der Demonstration neuer Technologien, erleichtern. KKMU-Verbände, Kammern, Hochschulen, Sozialpartner und andere einschlägige Interessenträger sollten integraler Bestandteil des Prozesses sein.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA müssen Vertreter von KKMU in die Ausarbeitung sektoraler Klimaschutzpläne auf nationaler Ebene sowie in die Gestaltung der Übergangspfade auf EU-Ebene für verschiedene Unternehmensökosysteme eingebunden werden. So werden auch der Austausch bewährter Verfahren, eine angemessene Ressourcenallokation und eine effiziente Umsetzung gefördert.

1.8.

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, grüne Investitionen von KKMU zu beschleunigen, indem für ein günstiges, berechenbares und förderliches Regelungsumfeld gesorgt wird. Dazu gehören auch reibungslose Genehmigungsverfahren und die Vermeidung übermäßiger Verwaltungspflichten. Zudem muss ein schneller, problemloser, einfacher und nachvollziehbarer Zugang zu Finanzmitteln, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse aller verschiedenen Arten von KKMU zugeschnitten sind, gewährt werden.

1.9.

Der EWSA fordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und KKMU bei der Gestaltung der Ausbildung, damit die für den grünen Wandel der Wirtschaft erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, auch durch Weiterqualifizierung und Umschulung von Arbeitnehmern und Unternehmern, vermittelt werden. Außerdem fordert der EWSA, die Innovationstätigkeiten von KKMU zu unterstützen mittels Anreizen und Erleichterungen für die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, ihren Organisationen, Kammern, Hochschulen und Forschungseinrichtungen.

1.10.

Der EWSA fordert, den Handel mit umweltfreundlichen Lösungen, die von KKMU — auch im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge — erarbeitet werden, zu fördern. Dafür sollten KKMU gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt erhalten, und ihr Zugang zu ausländischen Märkten für umweltfreundliche Produkte, Technologien und Dienstleistungen sollte erleichtert werden. Es muss ein wettbewerbsorientiertes Geschäftsumfeld für EU-Unternehmen in Bezug auf Drittländer sichergestellt werden, indem alle diplomatischen Instrumente — auch in den Bereichen Klima-, Ressourcen- und Handelspolitik — genutzt werden. Besonderes Augenmerk ist dem Vorgehen Chinas und anderer aufstrebender Märkte zu widmen.

2.   Grüner Wandel und KKMU

2.1.

KKMU tragen zu einer arbeitsplatzintensiven und nachhaltigen Wirtschaft bei. Sie sorgen für einen starken Zusammenhalt unserer Gesellschaften. Häufig kombinieren sie wirtschaftliche und soziale Aufgaben und stärken so die Grundlagen von Demokratie, Einheit und Inklusivität. Sie spielen überall in der EU eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche und soziale Erholung und den Wohlstand, insbesondere in abgelegenen und ländlichen Gebieten, wo sie häufig die einzigen Träger lokaler Wirtschaftstätigkeiten sind.

2.2.

Der Klimawandel ist der treibende Faktor für die nachhaltige Energiewende, aber vor allem für die gesamte Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft und allgemeiner Nachhaltigkeit. Er geht einher mit extremen Wetterphänomenen und Naturkatastrophen und ist verbunden mit anderen großen ökologischen Herausforderungen wie dem Verlust an Artenvielfalt, der Umweltverschmutzung und der Schädigung der natürlichen Ressourcen.

2.3.

Das Paket „Fit für 55“ zielt vor allem auf die Eindämmung des Klimawandels ab und umfasst zahlreiche, die KKMU auf unterschiedliche Weise betreffende Rechtsvorschriften. Es ist Teil der Umsetzung der EU-Leitinitiative — des europäischen Grünen Deals —, die sich mit nachhaltigem Wachstum in den Bereichen Industrie, Handel, Dienstleistungen und Energie, Verkehr, Gebäude und Lebensmittelsysteme befasst. KKMU spielen in all diesen Sektoren eine zentrale Rolle.

2.4.

KKMU sind ein wesentlicher Teil der Lösung bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals, sofern richtige und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Diese positiven Auswirkungen werden zum einen dadurch erzielt, dass die Leistungsfähigkeit der vielgestaltigen KKMU verbessert wird. Zum anderen bieten die Aktivitäten dieser KKMU Fachwissen und Lösungen für andere Unternehmen, Bürger und den öffentlichen Sektor.

2.5.

Der grüne Wandel ist eng mit dem digitalen Wandel verbunden. KKMU müssen diesen doppelten Wandel meistern — eine sehr anspruchsvolle zweifache Herausforderung aufgrund des erheblichen Ressourcenbedarfs. Die Digitalisierung ist ein Instrument zur Steigerung der Effizienz der Geschäftstätigkeit und hilft bei der Internationalisierung und der Erschließung neuer Märkte. Sie birgt erhebliche Potenziale für die Verringerung von Emissionen, Abfall und Einsatz natürlicher Ressourcen. Digitale Dienste und Ausrüstungen haben aber auch Umweltauswirkungen, die gleichzeitig bewältigt werden müssen.

2.6.

KKMU müssen nicht nur den grünen und digitalen Wandel meistern, sondern sie müssen sich auch von der Pandemie erholen und haben mit den Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine zu kämpfen. Hohe Energiepreise und die mangelnde Versorgung mit Materialien und Produkten gehören zu den jüngsten Problemen, die KKMU und ihre Geschäftstätigkeit erheblich beeinträchtigen. Ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie die der EU-Wirtschaft insgesamt werden weiter gefährdet durch das unerwartete Verhalten Chinas und anderer aufstrebender Märkte, die davon profitieren, dass sie Sanktionen gegen Russland vermeiden und niedrigeren Klima- und Umweltanforderungen unterliegen.

2.7.

Klima- und umweltpolitische Fragen betreffen nicht nur die ökologische Nachhaltigkeit, sondern maßgeblich auch die Wettbewerbsfähigkeit, Rentabilität und allgemeine Wirtschaftsleistung der Unternehmen. KKMU stützen sich nicht nur auf ihre eigenen Werte und allgemeinen Überzeugungen, sondern erfüllen auch mittels unterschiedlicher Mechanismen die Anforderungen und Erwartungen in puncto Klima und Umwelt, wie

die direkten Anforderungen des Rechtsrahmens für KKMU, z. B. in Bezug auf Emissionen, Energie, Materialien und Produkte bzw. Verwaltungspflichten;

die indirekten Auswirkungen einiger Anforderungen, die sich auf die Verfügbarkeit und die Preise von Produktionsfaktoren wie Energie und Materialien auswirken, oder sich in anderen Kosten des Geschäftsbetriebs, u. a. Steuern, niederschlagen;

die Anforderungen der Wertschöpfungsketten in Form von Erwartungen der Kunden, Anleger und Geldgeber (z. B. in Bezug auf nachhaltiges Finanzwesen und nachhaltige Berichterstattung) bzw. anderer Interessenträger.

2.8.

Viele KKMU sind sich weder der Auswirkungen spezifischer Klima- und Umweltmaßnahmen und -anforderungen auf ihre Unternehmen und ihre Liefer- und/oder Wertschöpfungsketten noch der Frage voll bewusst, inwieweit sie Produkte und Dienstleistungen frühzeitig anpassen oder umwandeln müssen, um spätere Verluste oder sogar eine Verdrängung vom Markt zu verhindern. Darüber hinaus verfügen sie über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen für den laufenden Geschäftsbetrieb und die Entwicklung ihrer Unternehmen. Es besteht die Gefahr, dass sie aufgrund ihrer begrenzten Größe von der vorausgesetzten oder erforderlichen Vielzahl unterschiedlicher Fachkenntnisse überfordert sind. Eine erhebliche Anzahl von Unternehmen hat Schwierigkeiten aufgrund der komplexen und sich ständig weiterentwickelnden Rechtsvorschriften, des Verwaltungsaufwands, der Finanzvorschriften und hohen Kosten, des Mangels an spezifischem Fachwissen im Umweltbereich und Wissen für die Wahl der richtigen Maßnahmen (1), gepaart mit Schwierigkeiten u. a. beim Zugang zu neuen Wertschöpfungsketten, Finanzen, Personalressourcen und neuen Geschäftsmodellen.

2.9.

Zum einen sind das mangelnde Bewusstsein für die Anforderungen und die Möglichkeiten, auf sie zu reagieren, ein großes Problem. Zum anderen haben KKMU auch Schwierigkeiten bei der Ermittlung potenzieller wirtschaftlicher Vorteile und Chancen wie verringerte Energie- und Materialkosten, verbesserter Zugang zu Finanzmitteln, höhere Nachfrage und neue Märkte sowie ein besseres Image unter den Interessenträgern.

2.10.

KKMU mit einem Nutzenversprechen in den Bereichen Kreislaufwirtschaft, Klima, biologische Vielfalt, erneuerbare Energien und anderen Themen des Grünen Deals haben ein ureigenes Interesse daran, neue Geschäftsmöglichkeiten in diesen Bereichen zu sondieren, darin zu investieren und sie zu nutzen. Ihnen bieten sich viele Möglichkeiten, z. B. bei der Renovierung von Gebäuden, bei der Planung und beim Bau von Infrastruktur, bei der industriellen Produktion und Wartung von Ausrüstungen, bei der Erbringung von Rechts- und Buchhaltungsdiensten und bei der Entwicklung digitaler Lösungen. Der Übergangsprozess hängt in hohem Maße von ihren intelligenten Lösungen ab, die von den Fachleuten, die sie beschäftigen, geschaffen werden. Dies unterstreicht die Bedeutung einer hochwertigen und relevanten allgemeinen und beruflichen Bildung sowie einer kontinuierlichen Weiterbildung.

2.11.

Die potenziell am stärksten gefährdeten KKMU, die auch den größten Informationsbedarf haben, sind dagegen diejenigen, die den Grünen Deal lediglich für eine zusätzliche Rechtsvorschrift halten, die den Verwaltungsaufwand weiter erhöht, ihr derzeitiges Geschäftsmodell unter Druck setzt und die Rentabilität in einem Szenario mit unveränderten Rahmenbedingungen einschränkt. Dies unterstreicht, dass alle KKMU-Kategorien, unabhängig davon, ob es sich um gefährdete Nachzügler, Mitläufer oder Vorreiter handelt, eine spezielle, unmittelbar auf sie zugeschnittene Unterstützung benötigen (2).

2.12.

Nicht nur bezüglich Kapazitäten und Grad der Vorbereitung gibt es viele Unterschiede zwischen KKMU, sondern auch in Bezug auf Art und Ausmaß der Klima- und Umweltfragen, die an sie gerichteten Anforderungen und Erwartungen und die sich ihnen eröffnenden Chancen. Die Unterschiede hängen von verschiedenen Faktoren ab: der Intensität der Nutzung natürlicher Ressourcen durch das Unternehmen, der Unternehmensgröße, der Position des Unternehmens in Lieferketten und Geschäftsökosystemen, dem Standort des Unternehmens, der Art von Kunden, den Quellen der Produktionsfaktoren und den geografischen Märkten des Unternehmens.

2.13.

Dies macht maßgeschneiderte Lösungen und zielgerichtete Strategien und Maßnahmen erforderlich, die den Unterschieden Rechnung tragen, wie sie zwischen mittleren Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, Unternehmen des Gastgewerbes und des Einzelhandels, Familien- und Traditionsunternehmen, innovativen Start-ups, sozialwirtschaftlichen Unternehmen, Handwerk und freien Berufen bestehen.

2.14.

Trotz der vielen Unterschiede zwischen den einzelnen KKMU beginnt eine erfolgreiche Bewältigung des grünen Wandels in jedem Unternehmen bei einem angemessenen Bewusstsein für und dem Wissen über aktuelle Themen und Trends. So können sie ihre Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken erkennen und festlegen, wie sie sich beim grünen Wandel positionieren möchten.

2.15.

Die meisten konkreten Anstrengungen auf Unternehmensebene betreffen die Planung, Organisation und Überwachung der gesamten Geschäftstätigkeit, einschließlich der Produktion von und des Handels mit Waren und Dienstleistungen, der Beförderung und der Logistik und der Beschaffung von Energie, Rohstoffen und anderen Produktionsfaktoren. Klima- und Umweltaspekte sind auch ein integraler Bestandteil der Innovationstätigkeiten, der Kompetenzentwicklung und der Einbeziehung aller Mitarbeiter sowie der Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Interessenträgern.

3.   Strategien und Maßnahmen zur Unterstützung von KKMU im Rahmen von „Fit für 55“

3.1.

Um „Fit für 55“ werden und den grünen Wandel erfolgreich meistern zu können, müssen KKMU umfassend informiert und unterstützt werden, um die Auswirkungen der neuen und komplexen Legislativvorschläge besser verstehen zu können (3). Dies erfordert weitreichende und gezielte Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen, die von der Kommission und den Mitgliedstaaten, die in diesem Bereich entscheidende Verantwortung tragen, koordiniert werden und die sich gegenseitig ergänzen müssen. Die Unternehmensverbände und Kammern spielen auch eine zentrale Rolle bei der Information und Unterstützung ihrer Mitglieder, flankiert durch Bildungs- und Ausbildungsanbieter, regionale Entwicklungsämter, Clusterorganisationen, Sozialpartner und einschlägige zivilgesellschaftliche Organisationen.

3.1.1.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine werden die politischen Maßnahmen des Grünen Deals aufgrund der neuen außergewöhnlichen Umstände und der Abhängigkeit der EU von Energie und Nahrungsmitteln aus Russland und der Ukraine nun im Hinblick auf die Zeitpläne Gegenstand einer offenen Konsultation sein. Der EWSA anerkennt die außergewöhnlichen Umstände und Abhängigkeiten und ist der Auffassung, dass die grünen Ziele keinesfalls aufgegeben werden sollten. Allerdings sollte bis zum Ende der Krise ein vernünftiges Maß an Flexibilität eingeräumt werden.

3.1.2.

Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, bei allen Gesetzesinitiativen angemessene Folgenabschätzungen durchzuführen und einen umfassenden, klaren und eindeutigen Leitfaden zu allen bestehenden und geplanten klimabezogenen Anforderungen und ihren Auswirkungen auf KKMU vorzulegen. Dieser sollte Folgendes umfassen:

die in den verschiedenen Rechtsvorschriften vorgesehenen direkten Anforderungen oder Beschränkungen für KKMU, aufgeschlüsselt nach Unternehmenstypen und -kategorien (Sektor, Größe usw.);

die indirekten, durch Marktmechanismen zu antizipierenden Auswirkungen auf KKMU, die aufgrund der für Großunternehmen konzipierten Anforderungen entstehen.

3.1.3.

Der EWSA fordert entsprechende Leitlinien für Rechtsvorschriften auch zu anderen wichtigen Umweltfragen. Ganz allgemein sollten solche Leitfäden zur gängigen Praxis werden und alle künftigen Initiativen im Bereich des europäischen Grünen Deals begleiten. KKMU brauchen einen stabilen Rechtsrahmen, der klare Perspektiven und Planbarkeit für ihre Investitionen bietet. Daher müssen plötzliche Veränderungen wie die kürzlich im REPowerEU-Plan vorgeschlagene Änderung der Ziele für erneuerbare Energien und Energieeffizienz vermieden werden, da sie das ohnehin schon hochkomplizierte und unsichere Umfeld nochmals erschweren.

3.2.

Angesichts des breiten Anwendungsbereichs und der Detailgenauigkeit des europäischen Grünen Deals zeichnet sich ein Umbau der Wirtschaft auf allen Ebenen ab. Nach dem Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ ist ein umfassendes und breit angelegtes Programm zur Unterstützung und Entwicklung von Fähigkeiten erforderlich, damit KKMU nicht einfach schließen müssen. Ziel ist die Unterstützung von KKMU bei der Bewältigung all ihrer Probleme im Zuge der Ökologisierung ihres Geschäftsbetriebs und ihrer Tätigkeiten und der Einhaltung von Rechtsvorschriften.

3.2.1.

Der EWSA sieht ein großes Interesse der Kommission und des Europäischen Parlaments, an die bereits bestehenden Initiativen zur Förderung der KMU-Strategie anzuknüpfen und weitere Möglichkeiten für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie auszuloten. Der EWSA fordert, dieses Interesse in allen möglichen Bereichen politisch wirksam umzusetzen. Er betont die unverzichtbare Rolle der Mitgliedstaaten, die in Zusammenarbeit mit KKMU-Organisationen, Kammern, Sozialpartnern und anderen einschlägigen Interessenträgern handeln müssen.

3.2.2.

Der unternehmerische Nachwuchs ist der Schlüssel für das künftige weitere Wachstum der KKMU und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ihre Verbraucherorientierung und ihre Attraktivität für junge Arbeitnehmer sowie ihr größeres Augenmerk für den grünen Wandel müssen z. B. in den Aufbauplänen genauer erkannt und berücksichtigt werden. Um das Potenzial der gesamten Gesellschaft voll auszuschöpfen und die Unternehmensvielfalt zu erhöhen, müssen darüber hinaus alle Hindernisse für die unternehmerische Initiative von Frauen beseitigt werden. Auch in benachteiligten Gruppen wie Menschen mit Behinderungen, Migranten und Minderheiten muss Unternehmergeist angeregt und gefördert werden.

3.2.3.

Um Synergien bei der Digitalisierung und der Ökologisierung in KKMU zu stärken, sind bei der Gestaltung von Strategien und Maßnahmen beide Trends gleichzeitig zu berücksichtigen. Da weder der grüne noch der digitale Wandel eine rein technische oder finanzielle Angelegenheit sind, müssen wichtige persönliche und geschäftliche Fragen behandelt werden, damit die große Mehrheit der KKMU einen langfristigen und zukunftsfähigen doppelten Übergang meistern kann (4).

3.2.4.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten ebenfalls auf, die Auswirkungen im Zuge der Umsetzung des grünen und des digitalen Wandels auf die Versorgungs- und/oder Wertschöpfungsketten und die jeweiligen regionalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu überwachen, um eventuellen negativen Auswirkungen auf KKMU und Beschäftigung frühzeitig entgegenzuwirken.

3.3.

Um die Entwicklung der täglichen Geschäftstätigkeit von KKMU, wie etwa die Produktion von Waren und Dienstleistungen, Energieerzeugung und -nutzung sowie die logistische Organisation zu unterstützen, bedarf es angemessener Dienste für die praktische Beratung sowie der Kooperationsplattformen.

3.3.1.

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, Unterstützungsdienste für KKMU in den Bereichen Technologie und Management aufzubauen und zu fördern. Es gilt, das volle Potenzial der verschiedenen Instrumente — insbesondere bei der Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und der Partnerschaftsvereinbarungen — auszuschöpfen. Die Unternehmen müssen dabei unterstützt werden, die Energie- und Materialeffizienz zu optimieren und die Entstehung von Emissionen und Abfällen zu verringern, um sowohl die Kosten als auch die Umweltauswirkungen zu minimieren. Zudem fordert der EWSA, Umweltaspekte in die Beratungsdienste im digitalen Bereich einzubeziehen.

3.3.2.

Der EWSA schlägt vor, in verschiedenen Regionen „Hubs for Circularity“ einzurichten, um die Ressourceneffizienz von KKMU zu verbessern. Dadurch dürfte die sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen Unternehmen verbessert und die Entwicklung neuer Verfahren für das Recycling und die Wiederverwendung von Abfällen und Nebenprodukten, einschließlich der Demonstration neuer Technologien, erleichtert werden.

3.3.3.

Der EWSA fordert die Einbeziehung der KKMU und ihrer Vertreter in die Ausarbeitung sektoraler Fahrpläne für Klimaschutzmaßnahmen auf nationaler Ebene sowie in die Gestaltung der Übergangspfade auf EU-Ebene für verschiedene Unternehmensökosysteme. Dadurch würde auch das Wissen über den Austausch bewährter Verfahren, die Ressourcenzuweisung und die wirksame Durchführung verbessert werden.

3.4.

Um Investitionen in die Ökologisierung von KKMU, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt zu fördern und zu unterstützen, müssen günstige Investitionsbedingungen und die Voraussetzungen für einen angemessenen Zugang von KKMU zu Finanzmitteln sichergestellt werden.

3.4.1.

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, die Investitionen von KKMU zu beschleunigen durch

die Gewährleistung förderlicher und günstiger rechtlicher Rahmenbedingungen, einschließlich kurzer, verschlankter Genehmigungsverfahren und Vermeidung aufwendiger Verwaltungspflichten;

die Ermöglichung eines schnellen, problemlosen, einfachen und nachvollziehbaren Zugangs zu Finanzmitteln, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von KKMU zugeschnitten sind, die sich aus ihrer Art, ihrer Tätigkeit, ihrem Standort, ihrem Sektor usw. ergeben, unter anderem durch gezielte Förderinstrumente.

3.4.2.

Der EWSA fordert die Kommission auf, den indirekten Auswirkungen der Kriterien für ein nachhaltiges Finanzwesen auf KKMU gebührend Rechnung zu tragen. Dies gilt auch für die Solvabilitätsanforderungen für Banken und alle anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen, die sich indirekt auf die Investitions- und Geschäftsfähigkeit von KKMU auswirken, die zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beitragen.

3.4.3.

Der EWSA fordert, bei der Vergabe öffentlicher Mittel für grüne Investitionen die Regeln für einen gesunden Wettbewerb einzuhalten. Der EWSA betont ferner, dass die Finanzströme anhand geeigneter Indikatoren überwacht werden müssen. Es ist wichtig, KKMU gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Aufträgen und Investitionen, z. B. in die allgemeine Infrastruktur, zu gewähren und Investitionen in die Ökologisierung der KKMU selbst zu fördern, z. B. durch den Einsatz öffentlicher Mittel zur Hebelung privater Investitionen.

3.4.4.

Nach den jüngsten Entwicklungen auf den Energiemärkten hat die Kommission das zunehmende Risiko der Energiearmut für KKMU erkannt. (5) Der EWSA begrüßt den Begriff „finanziell schwächeres Kleinstunternehmen“ und fordert zusätzliche Anstrengungen, um sie bei der Bewältigung dieser Belastung angemessen zu unterstützen.

3.5.

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, den Handel von KKMU mit grünen Lösungen durch die Entwicklung und Gewährleistung angemessener Marktbedingungen zu fördern. Dabei gilt es,

faire Wettbewerbsbedingungen für KKMU im Binnenmarkt in Bezug auf den Handel mit Produkten, Technologien und Dienstleistungen, die zum grünen Wandel beitragen, zu schaffen;

sicherzustellen, dass KKMU angemessene Möglichkeiten bekommen, um umweltfreundliche Lösungen für den öffentlichen Sektor im Rahmen von Ausschreibungen z. B. in den Bereichen Bau, Technologie und Dienstleistungen bereitstellen können. Für solche Dienste müssen qualitätsorientierte Verfahren verbindlich vorgeschrieben und die Kapazitätsanforderungen verringert werden, die KKMU von der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren abhalten;

den gleichberechtigten Zugang von KKMU zu ausländischen Märkten für umweltfreundliche Produkte, Technologien und Dienstleistungen durch multilaterale und bilaterale Handelsabkommen zu erleichtern. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten ferner auf, die Bedürfnisse von KKMU bei ihrer Exportförderung gebührend zu berücksichtigen;

ein wettbewerbsfähiges Unternehmensumfeld für EU-Unternehmen in Bezug auf Drittländer unter Einsatz aller diplomatischen Instrumente, auch in den Bereichen Klima-, Ressourcen- und Handelspolitik, zu gewährleisten. Besondere Aufmerksamkeit sollte China und anderen aufstrebenden Märkten gelten, deren mitunter unerwartetes Vorgehen flexible und koordinierte Reaktionen erfordern;

sicherzustellen, dass Normen, die den grünen Wandel fördern, so konzipiert werden, dass sie KKMU-freundlich sind und Innovationen ermöglichen, indem gleichwertige alternative Lösungen durchgesetzt werden.

3.6.

Zur Stärkung der Rolle von KKMU bei der Entwicklung neuer grüner Lösungen für Unternehmen, Verbraucher und die Gesellschaft insgesamt fordert der EWSA, dass:

die verschiedenen Innovationsprogramme und -initiativen für KKMU leichter verständlich und zugänglich sind. Ferner sollten Leitlinien für die verschiedenen, im Bereich der grünen Innovation verfügbaren Finanzierungsinstrumente einschließlich der Instrumente des Europäischen Investitionsfonds, bereitgestellt werden;

der Zugang von KKMU zu Innovationsökosystemen und Partnerschaften mit führenden Großunternehmen finanziell gefördert wird. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit zwischen KKMU und Hochschulen und Forschungseinrichtungen bei der Entwicklung neuer Produkte, Technologien und Lösungen erleichtern;

die Entwicklung gemeinsamer Datenräume und der einfache Zugang zu diesen für KKMU sollte beschleunigt werden, um Beiträge zur Entwicklung neuer grüner und digitaler Lösungen, einschließlich KI-gestützter Lösungen, zu liefern.

3.7.

Um die für die Entwicklung und Führung von Unternehmen im Einklang mit dem grünen Wandel erforderlichen Fähigkeiten bereitzustellen (6), fordert der EWSA,

sicherzustellen, dass in den Lehrplänen für Berufs- und Hochschulen und die kontinuierliche berufliche Weiterentwicklung den Kompetenzen und Fähigkeiten, die für den ökologischen Wandel benötigt werden, in vollem Umfang Rechnung getragen wird. Dabei muss der Schwerpunkt auf dem umfassenderen Prozess der Ökologisierung von Arbeitsplätzen und der Interdependenz zwischen den Sektoren liegen;

eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und KKMU bei der Gestaltung des Angebots an Schulungen, einschließlich Modulen und Mikrokursen für die Weiterqualifizierung zu fördern, um den Bedürfnissen der Unternehmen gerecht zu werden;

den sozialen Dialog für die Ermittlung des Bedarfs und die Entwicklung von Kompetenzen am Arbeitsplatz zu nutzen. Angesichts der Größe und Vielfalt der KKMU und der Besonderheiten der verschiedenen nationalen Systeme gibt es unterschiedliche Formen des sozialen Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in KKMU.

3.8.

Der EWSA fordert die Schaffung geeigneter Indikatoren und praktischer Instrumente zur systematischen Überwachung von Unternehmensaktivitäten und deren Auswirkungen im Zusammenhang mit dem grünen Wandel. Dies dürfte auch der Kommunikation mit einem breiten Spektrum von Interessenträgern dienen. Unterdessen fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger in der EU auf, von aufwendigen Überwachungs- und Berichterstattungspflichten für KKMU abzusehen und auch die indirekten Auswirkungen der für Großunternehmen konzipierten Berichtspflichten auf KKMU zu berücksichtigen.

4.   Besondere Bemerkungen zu freien Berufen, Handwerk und sozialwirtschaftlichen Unternehmen

4.1.

Für die Gewährleistung eines fairen grünen Wandels, bei dem niemand zurückgelassen wird, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die EU-Politik ihre potenziellen Auswirkungen auf den Handel und das Handwerk berücksichtigt. Diese Wirtschaftsakteure sind wichtig für die lokale Wirtschaft. Sie stellen unentbehrliche Güter und Dienstleistungen bereit, die auf die Bedürfnisse der Verbraucher zugeschnitten sind und versorgen auch Gebiete mit schlechterer Anbindung an städtische Zentren. Der Dialog mit ihren Vertretern, wie Unternehmensverbänden und Kammern, ermöglicht vernünftige politische Entscheidungen, die den möglichen Auswirkungen vor Ort Rechnung tragen.

4.2.

Unabhängiges Fachwissen ist erforderlich, um optimale innovative Lösungen für den Klimawandel und andere umweltspezifische Herausforderungen zu finden. Dieser Bedarf in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft wird von den freien Berufen abgedeckt, die technische, rechtliche, finanzielle und nichtfinanzielle Fachkenntnisse und Beratung bereitstellen. Der EWSA dringt auf EU-weite Maßnahmen, um die Mitgliedstaaten zur Förderung berufsständischer Regelungen zu veranlassen, durch die die ordnungsgemäße Umsetzung des grünen und digitalen Wandels gewährleistet wird, z. B. mit komplexen technischen Ansätzen, um die am stärksten marktorientierten und innovativsten Lösungen nach vorn zu bringen.

4.3.

Die Nachhaltigkeit der lokalen und regionalen Raumplanung kann durch die Verbesserung der Beratungsdienste für Kommunen erhöht werden. Zudem muss das Konzept der strategischen Umweltprüfung hin zu einer (ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen) Nachhaltigkeitsprüfung weiterentwickelt werden. Die Vergabeverfahren in der gesamten EU sollten klimabezogene und andere qualitätsorientierte Kriterien beinhalten, dadurch die Innovation von KKMU fördern und ihnen den Zugang zu Projekten erleichtern, insbesondere im Bereich der Planungsdienste.

4.4.

Der Übergang zur Kreislaufwirtschaft erfordert neue Techniken, Produkte und Verfahren. Im Baugewerbe sind dies beispielsweise das Recycling von Abfällen bei Renovierung und Neubau, die Wiederverwendung von Elementen und die Einführung neuer Baumaterialien, einschließlich der Anerkennung qualitätszertifizierter Sekundärbaumaterialien, sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen Herstellern, Handwerk, Fachleuten und der Recyclingindustrie. Die regionalen Wertschöpfungsketten und die Schaffung von Clustern sind ebenso durch die Einbeziehung des Handwerks zu stärken.

4.5.

Die ökologischen Herausforderungen für sozialwirtschaftliche Unternehmen sind in Bezug auf die betreffenden Themen im Wesentlichen dieselben wie für andere Unternehmen. Den besonderen Bedingungen dieser Unternehmen muss jedoch im Einklang mit den zahlreichen Stellungnahmen des EWSA mit gezielten Maßnahmen auf der Grundlage des aktuellen EU-Aktionsplans für die Sozialwirtschaft gebührend Rechnung getragen werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Daten aus Flash Eurobarometer 498. SMEs, green markets and resource efficiency, S. 46, März 2022.

(2)  Smit, S.J., SME focus — Long-term strategy for the European industrial future, EP Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, PE 648.776 — April 2020.

(3)  Das Paket „Fit für 55“ umfasst eine Vielzahl von Gesetzgebungsinitiativen, deren endgültige Ausgestaltung von den Verhandlungen zwischen den Organen abhängt. Solange dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, verfügen die KKMU nur über bruchstückhafte Informationen und sind mit Unsicherheiten über die Zukunft konfrontiert.

(4)  SME focus, EP-Fachabteilung, April 2020.

(5)  COM(2021) 568 final, 14.7.2021, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:52021PC0568.

(6)  Siehe auch ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 1.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Unternehmensübertragungen als treibende Kraft einer nachhaltigen Erholung und eines nachhaltigen Wachstums von KMU“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/02)

Berichterstatterin:

Mira-Maria KONTKANEN

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Unternehmensübertragungen sind ein wichtiger strategischer Prozess, der den Fortbestand von Unternehmen sicherstellt und Arbeitsplätze sichert. Daher sollte nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) die Förderung von Unternehmensübertragungen in der Konjunktur- und Wachstumspolitik der Europäischen Union (EU) und der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle spielen.

1.2.

Unternehmensübertragungen sichern das soziale Gefüge ländlicher Gebiete, in denen KKMU (Kleinstunternehmen, kleine und mittlere Unternehmen) stark vertreten sind. Der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen ist für die Erhaltung der Lebensgrundlagen und der Wirtschaft ländlicher und monoindustrieller Gebiete von entscheidender Bedeutung. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies auch bei der Umsetzung der langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und im EU-Aktionsplan für den ländlichen Raum berücksichtigt werden sollte.

1.3.

Erfolgreiche Unternehmensübertragungen sichern bestehende und schaffen neue Arbeitsplätze sowie Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten in puncto Beschäftigungskontinuität und berufliche Entwicklung. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren zur Förderung der Übertragung eines Unternehmens an Arbeitnehmer, beispielsweise in Form einer Genossenschaft (1) und anderer sozialwirtschaftlicher Unternehmen in Arbeitnehmerhand, auszutauschen.

1.4.

Je früher sich Unternehmer auf die Übertragung vorbereiten, desto erfolgreicher verläuft sie in der Regel. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Sensibilisierungsaktivitäten zu Unternehmensübertragungen verstärken sowie Unternehmen und andere Unterstützungsorganisationen dazu befähigen, Übertragungen von KKMU auf den Weg zu bringen und zu begleiten. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten außerdem auf, Frühwarnmechanismen (2) für KKMU einzuführen und weiterzuentwickeln, um die Resilienz, Rentabilität und letztendlich die Übertragbarkeit des Unternehmens zu unterstützen.

1.5.

Der Erwerb eines bestehenden Unternehmens sollte als ebenso attraktive Möglichkeit für Existenzgründer wie die Gründung eines Start-ups aktiv gefördert werden. Fachwissen über den Unternehmenserwerb und -nachfolge sollte im Rahmen der unternehmerischen Ausbildung in der Sekundar- und Hochschulbildung vermittelt werden. Daher fordert der EWSA die Entwicklung von Anreizen für die Übertragung von Kleinunternehmen an junge Unternehmer. Solche Anreize könnten Sensibilisierung, Beratungsdienste, Mentoring und Zugang zu Finanzmitteln umfassen. Außerdem könnte das Verständnis junger Unternehmer für den sozialen Dialog weiter gestärkt werden, um sicherzustellen, dass alle Interessenträger von erfolgreichen Unternehmensübertragungen profitieren. Ebenso sollten weitere Anreize für Unternehmensübertragungen für Unternehmerinnen entwickelt werden, um die aktuell noch zu geringe Anzahl von Unternehmerinnen zu erhöhen.

1.6.

Die Finanzierung bleibt ein Hindernis für erfolgreiche Unternehmensübertragungen, und die meisten Unternehmensübertragungen erfordern eine externe Finanzierung. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass Finanzinstitute zur Unterstützung von Unternehmensübertragungen im Bereich der KKMU — beispielsweise durch Bereitstellung von Sicherheiten für Bankdarlehen — zur Verfügung stehen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, nationale Stakeholder-Foren für Unternehmensübertragungen einzurichten, in denen sowohl öffentliche als auch private Interessenträger vertreten sind. Foren für Unternehmensübertragungen stellen einen systematischen und langfristigen Ansatz zur Förderung von Unternehmensübertragungen dar. Sie bieten auch Raum für den ständigen Dialog zwischen nationalen Experten und tragen zur effizienteren Nutzung von Ressourcen bei.

1.8.

Der EWSA ist der Ansicht, dass in allen EU-Mitgliedstaaten Online-Plattformen für Unternehmensübertragungen entwickelt werden sollten, zu denen auch Kleinst- und Kleinunternehmen Zugang haben sollten. Zwischen verschiedenen Online-Plattformen in den Mitgliedstaaten sollten Verknüpfungen und Synergien entwickelt werden, und die Europäische Kommission könnte die Verknüpfung verschiedener digitale Marktplätze in der EU erleichtern.

1.9.

Die Daten zu Unternehmensübertragungen sind häufig fragmentiert, unzureichend, veraltet und nicht in allen Mitgliedstaaten vergleichbar. Der EWSA empfiehlt daher der Kommission und den Mitgliedstaaten, die Datenbank zu Unternehmensübertragungen weiter zu verbessern.

1.10.

Die Situation der Unternehmensübertragungen in Europa sollte regelmäßig überprüft werden, beispielsweise mithilfe eines EU-weiten Barometers für Unternehmensübertragungen, das auch zu faktengestützter Politikgestaltung beitragen würde. Die jährliche KMU-Versammlung der EU sollte als regelmäßiges Forum für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Übertragungen von KKMU genutzt werden. Schließlich sollten verschiedene Sensibilisierungsinitiativen in Betracht gezogen werden, wie z. B. die Einführung einer nationalen und/oder Europäischen Woche der Unternehmensübertragung.

2.   Einleitung

2.1.

Eine Erhöhung der Zahl erfolgreicher Unternehmensübertragungen hätte unmittelbare Vorteile für die Beschäftigung, den Fortbestand der Unternehmen und die europäische Wirtschaft insgesamt. Gemäß den im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas geäußerten Vorschlägen (3) tragen Unternehmensübertragungen zu widerstandsfähigeren Gesellschaften mit stärkerem Zusammenhalt bei.

2.2.

Unternehmensübertragungen spielen bei der strategischen Entwicklung, der Erneuerung und dem Wachstum von KKMU eine immer bedeutsamere und selbstverständlichere Rolle. Die Bevölkerung Europas altert und die Zahl der Unternehmer, die sich aus dem Geschäft zurückziehen wollen, nimmt zu. Deshalb werden erfolgreiche Unternehmensübertragungen für die europäische KKMU-Wirtschaft immer wichtiger.

2.3.

Jedes Jahr werden in ganz Europa etwa 450 000 Unternehmen mit zwei Millionen Beschäftigten übertragen. Schätzungen zufolge laufen jedes Jahr etwa 150 000 Unternehmensübertragungen Gefahr, fehlzuschlagen, wodurch rund 600 000 Arbeitsplätze gefährdet werden. Bei Kleinunternehmen ist die Gefahr am größten, dass die Übertragung fehlschlägt (4).

2.4.

Unternehmensübertragungen können aufgrund finanzieller, verwaltungstechnischer, regulatorischer, administrativer oder marktbezogener (z. B. im Hinblick auf die Zusammenführung von Käufer und Verkäufer) Herausforderungen ein komplexer Prozess sein. Zugleich findet ein Großteil aller Unternehmensübertragungen bei Kleinstunternehmen mit begrenzten Ressourcen statt. Besonders schwierig ist oftmals auch die Übertragung von Kleinunternehmen, in denen der Inhaber eine dominierende Rolle spielt (5).

2.5.

Ein gut funktionierendes Ökosystem für Unternehmensübertragungen ist für den Erfolg der Übertragungen grundlegend und hilft beim Aufbau dynamischer Märkte für Unternehmensübertragungen. Ökosysteme für Unternehmensübertragungen umfassen verschiedene öffentliche und private Akteure: Käufer, Verkäufer, Vorgänger, Nachfolger, Unternehmensberater (wie Unternehmensmakler), Buchhalter, Rechtsanwälte und -berater, Vermittler, Finanzinstitute, Organisationen zur Unterstützung von Unternehmen, politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler. Sensibilisierungsaktivitäten mit dem Ziel, die Vorbereitung auf Unternehmensübertragungen zu verbessern, spielen in einem solchen Ökosystem eine wichtige Rolle. Nach wie vor bestehen bei Unternehmensübertragungen erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Regionen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Dies lässt den Ökosystemen für Unternehmensübertragungen in ganz Europa Raum für wechselseitiges Lernen und für Verbesserungen. Letztlich liegt die Verantwortung für die Unternehmensübertragung jedoch immer beim Unternehmer.

2.6.

Ein erfolgreicher Inhaberwechsel kann zu einem resilienteren, innovativeren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen führen. Wenn Unternehmen mit neuen Inhabern vermehrt grüne und digitale Geschäftsmodelle übernehmen, tragen auch Unternehmensübertragungen zum grünen und digitalen Übergang im Bereich der KKMU bei.

2.7.

Auch die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Resilienz europäischer Unternehmen gestärkt und eine bessere Vorsorgeplanung sichergestellt werden muss. Das Unternehmen und sein Geschäftsmodell sollten gegenüber externen Schocks gesund und resilient sein, damit die Übertragung erfolgreich ist. Finanzielle Solidität und Resilienz erhöhen die Chancen auf eine erfolgreiche Übertragung.

3.   Hintergrund

3.1.

Unternehmensübertragungen sind seit Anfang der 1990er-Jahre Teil der Unternehmenspolitik der EU. 1994 verfasste die Europäische Kommission eine Empfehlung (6) zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten. In diesen Empfehlungen wurde den Mitgliedstaaten eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für Unternehmen vorgeschlagen, die sich auf eine Übertragung vorbereiten. Zu diesen Maßnahmen gehören Sensibilisierungs- und Vorbereitungsaktivitäten, die Verbesserung des finanziellen Umfelds für Unternehmensübertragungen, die Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für Umstrukturierungen, die Bereitstellung rechtlicher Mittel, durch die die Kontinuität der Personengesellschaften beim Tod des Gesellschafters oder Unternehmers gesichert wird, die Gewährleistung, dass Erbschaft- und Schenkungssteuern Unternehmensübertragungen nicht im Wege stehen, und die Erleichterung der Übertragung von Unternehmen an Dritte durch geeignete Steuervorschriften.

3.2.

Die Kommission hat diese Empfehlung 2006 überprüft und die Mitteilung „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang“ (7) veröffentlicht. Die Überprüfung machte deutlich, dass die Umsetzung der Empfehlung von 1994 weitere Anstrengungen erforderte. Neben der Aufforderung zur Umsetzung der Empfehlung von 1994 umfasste die Mitteilung von 2006 weitere Empfehlungen zur Förderung von Unternehmensübertragungen: das politische Augenmerk auf Unternehmensübertragungen verstärken, spezielle Unterstützung und Mentoring anbieten, transparente Märkte für Unternehmensübertragungen einrichten sowie nationale, regionale und lokale Förderinfrastrukturen zur Förderung von Übertragungen aufbauen.

3.3.

2013 nahm die Kommission eine Bewertung der Fortschritte im Hinblick auf die Empfehlungen von 2006 vor. Dabei kam sie zu dem allgemeinen Schluss, dass seit der Mitteilung von 2006 keine hinreichenden Fortschritte bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmensübertragungen gemacht wurden. Die in der Bewertung aufgeführten Unzulänglichkeiten betrafen beispielsweise die steuerliche Behandlung von Dritten oder Beschäftigten und das Angebot an speziellen Unterstützungs- und Finanzierungsinitiativen. Die Bewertung zeigte außerdem auf, dass Unternehmensübertragungen im Gegensatz zu Unternehmensgründungen weder auf Ebene der EU noch auf Ebene der Mitgliedstaaten genügend politische Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

3.4.

Im Jahr 2020 veröffentlichte die Kommission eine KMU-Strategie der EU (8), in der sie ihre Zusage bekräftigte, ihre Arbeiten zur Erleichterung der Übertragung von Unternehmen fortzusetzen und die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen um die Schaffung eines übertragungsfreundlichen Unternehmensumfelds zu unterstützen. In letzter Zeit hat die Kommission ihr Augenmerk auf die Verbesserung der Faktengrundlage in Bezug auf Unternehmensübertragungen gerichtet und hierzu 2021 einen Bericht (9) veröffentlicht. Informationen zu den Maßnahmen der Kommission und zu von der EU finanzierten bewährten Verfahren findet man auf der Website der Kommission (10).

3.5.

Auch der EWSA hat die Bedeutung von Übertragungen von KKMU anerkannt und fordert rasche Maßnahmen zur Erleichterung und Straffung solcher Transaktionen zu erschwinglichen Kosten (11). In seiner Stellungnahme zur KMU-Strategie der EU fordert der EWSA außerdem, ein besonderes Augenmerk auf grenzüberschreitende Übertragungen von KKMU zu legen, um die hohen Kosten, die mit diesen Transaktionen verbunden sind, und die erheblichen Unterschiede zwischen den nationalen Vorschriften zu verringern (12). In der Folgestellungnahme des EWSA zur KMU-Strategie der EU (13) wird das Potenzial erfolgreicher Unternehmensübertragungen veranschaulicht, wenn es darum geht, die Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Unternehmen im Einklang mit den Zielen der EU für den grünen und den digitalen Wandel voranzutreiben.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Unternehmensübertragungen werden aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in Europa und der Alterung der Unternehmerschaft zu einem immer wichtigeren Thema für KKMU. Rund 90 % der Unternehmensübertragungen betreffen Kleinstunternehmen (14).

4.2.

Die Erhöhung der Anzahl erfolgreicher Unternehmensübertragungen hat unmittelbare Vorteile für die europäische Wirtschaft. Im Vergleich zu Neugründungen schneiden erfolgreich übertragene Unternehmen in Bezug auf Fortbestand, Umsatz, Gewinn, Innovationskraft und Beschäftigung besser ab (15). Nach Angaben der Europäischen Kommission erhalten bestehende Unternehmen im Durchschnitt fünf Arbeitsplätze, während ein neugegründetes Unternehmen im Durchschnitt nur zwei Arbeitsplätze schafft (16). Die Förderung von Unternehmensübertragungen stellt somit die bestmögliche Förderung des unternehmerischen Wachstums dar.

4.3.

Unternehmensübertragungen schützen das soziale Gefüge ländlicher Gebiete, in denen es viele KKMU gibt. Schätzungen zufolge sind mindestens ein Drittel der europäischen KKMU in ländlichen Gebieten angesiedelt. Sie sichern den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt dieser Gebiete durch ihre Dienstleistungen für Bürger, Verbraucher und lokale Wirtschaftsaktivitäten sowie durch die Arbeitsplätze, die sie bieten (17). Unternehmensübertragungen helfen, den Verlust handwerklichen Könnens vor Ort zu vermeiden. Oft tragen das lokale Handwerk und der Einzelhandel positiv zu den vielfältigen Wahlmöglichkeiten für die Verbraucher auf dem Markt bei und bieten eine Alternative zu einheitlichen Einzelhandelsketten. Für die Verbraucher schlägt sich eine erfolgreiche Unternehmensübertragung im Fortbestand des Angebots an häufig verbesserten Dienstleistungen und Produkten nieder. Der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen ist für die Erhaltung der Lebensgrundlagen und der Wirtschaft monoindustrieller und ländlicher Gebiete von entscheidender Bedeutung. Dies betrifft insbesondere den Agrar- und Lebensmittelverarbeitungssektor. Erfolgreiche Unternehmensübertragungen stellen auch eine Möglichkeit dar, die grüne und digitale Wende in ländlichen Gebieten durch einen durch den Inhaberwechsel eingeleiteten Wandel zu beschleunigen. Der EWSA ist der Ansicht, dass der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen auch bei der Umsetzung der langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und des EU-Aktionsplans für den ländlichen Raum berücksichtigt werden sollte.

4.4.

Die Förderung von Unternehmensübertragungen kommt auch den Beschäftigten zugute, da dadurch Arbeitsplätze und der Fortbestand der Unternehmen gesichert werden. Gerade im Falle der KKMU sind die Beschäftigten das wertvollste Kapital, das an die neuen Eigentümer übertragen wird. Daher ist es wichtig, bei Unternehmensübertragungen das Wohlergehen der Beschäftigten sicherzustellen. Oft machen sich neue Inhaber nach der Übertragung mit Enthusiasmus daran, das Unternehmen weiterzuentwickeln und auszubauen. Dies schlägt sich auch in besseren Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten in puncto Beschäftigungskontinuität und berufliche Entwicklung nieder. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren für Übertragungen auszutauschen, bei denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter beschäftigt bleiben und die Unternehmenstätigkeiten weiterentwickeln können, indem sie ihr Unternehmen übernehmen, beispielsweise in Form einer Genossenschaft oder anderen Unternehmensformen in der Sozialwirtschaft in Arbeitnehmerhand (18), die ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisensituationen unter Beweis gestellt haben. Auch durch Förderung des sozialen Dialogs und einer Bereitstellung von Informationen im Vorfeld werden Übernahmen durch Arbeitnehmer erleichtert. Dies steht im Einklang mit der EWSA-Stellungnahme INT/925 (19), in der Übernahmen von Unternehmen durch Arbeitnehmer als bewährtes Verfahren für den Neustart von krisenbehafteten Unternehmen und für die Übertragung von KMU, deren Inhaber keine Nachfolger haben, hervorgehoben werden.

4.5.

Der Förderung von Unternehmensübertragungen muss in der Konjunktur- und Wachstumspolitik der EU und der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle zugewiesen werden. Der EWSA unterstützt die langjährigen und strategischen Bemühungen, die die Kommission sowie Organisationen zur Unterstützung von Unternehmensübertragungen wie Transeo (20) unternommen haben, um in Europa ein übertragungsfreundlicheres Umfeld zu schaffen. Es besteht jedoch noch Verbesserungsbedarf. Der Grad der Beachtung, die derzeitige Gesamtfunktionalität des Ökosystems für Unternehmensübertragungen und der Umfang der Maßnahmen zur Förderung von Unternehmensübertragungen unterscheiden sich erheblich zwischen den Mitgliedstaaten. In einem sich schnell entwickelnden Unternehmensumfeld müssen Unternehmerinnen und Unternehmer Wachstumschancen nutzen, sowohl innerhalb des eigenen Unternehmens als auch durch Akquisitionen. Alle Arten von Eigentumsübertragungen sollten in Betracht gezogen werden, einschließlich der familieninternen Nachfolge, des Management-Buy-ins und -Buy-outs, der strategischen Akquisition und der Übernahme durch die Arbeitnehmer.

4.6.

Damit Europas Übergang zu einer digitalen und grünen Wirtschaft gelingt, müssen KKMU mit ins Boot geholt werden. Unternehmensübertragungen sind ein natürlicher Weg, um das Geschäftsmodell von KKMU in ein grüneres und stärker digitalisiertes Geschäftsmodell umzuwandeln. Außerdem unterstützen sie den digitalen und den grünen Wandel. Ein erfolgreicher Inhaberwechsel kann zu einem resilienteren, innovativeren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen führen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Ressourceneffizienz ist der Kauf eines bestehenden Unternehmens mitsamt Produktionsanlagen oftmals umweltfreundlicher als der Kauf neuer Produktionsanlagen.

4.7.

Gerade wenn das Unternehmen von einem älteren Unternehmer auf einen jüngeren übertragen wird, ist es wahrscheinlich, dass Letzterer besser gerüstet ist, um neue Technologien, Produktionsmethoden und nachhaltige Geschäftsmodelle in das erworbene Unternehmen zu integrieren. Daher fordert der EWSA, dass weitere Anreize wie Sensibilisierung, Beratungsdienste, Mentoring und Zugang zu Finanzmitteln für die Übertragung von KKMU auf Jungunternehmer entwickelt werden. Außerdem könnte das Verständnis junger Unternehmer für den sozialen Dialog weiter gestärkt werden, indem beispielsweise entsprechende Lernmodule in die unternehmerische Bildung integriert werden. Der Start als Unternehmer durch den Kauf eines bestehenden Unternehmens sollte als ebenso attraktive Möglichkeit wie der Einstieg als Firmengründer aktiv beworben werden. Ebenso sollten weitere Anreize für Unternehmensübertragungen für Unternehmerinnen entwickelt werden, um die aktuell noch zu geringe Anzahl von Unternehmerinnen zu erhöhen.

4.8.

Bei der überwiegenden Mehrheit der Unternehmensübertragungen werden externe Finanzmittel benötigt. Mit Blick auf die zunehmenden regulatorischen Anforderungen im Finanzsektor sind zwei wichtige Finanzinstrumente hervorzuheben, mit denen Unternehmensübertragungen gefördert werden können. Erstens werden offenkundig Sicherheiten für die Finanzierung von Unternehmensübertragungen benötigt. Der Anteil an immateriellem Betriebsvermögen nimmt jedoch zu und der Bankensektor muss sich an immer strengere Regeln halten. Jeder Mitgliedstaat benötigt einen Marktteilnehmer oder eine Organisation, der bzw. die Sicherheiten für Bankdarlehen stellt. Zweitens verstärkt die Entwicklung des EU-Regulierungsrahmens die Nachfrage nach Eigenkapitalbeschaffung. Verschiedene Käufer wären für die Führung des zu übernehmenden Unternehmens qualifiziert, aber es mangelt ihnen an Eigenkapital. Der EWSA legt der Kommission nahe, bei der Förderung der Entwicklung dieser beiden Finanzinstrumente in den Mitgliedstaaten eine proaktive Rolle zu übernehmen.

4.9.

Eine wachsende Zahl von KKMU in Familienbesitz wird in Zukunft an Dritte übertragen werden. Um Drittkäufer anzuziehen, müssen sich Unternehmen in einem existenzfähigen, wirtschaftlich soliden und attraktiven Zustand befinden. Je früher sich Unternehmer auf die Übertragung vorbereiten, desto erfolgreicher verläuft sie in der Regel. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Sensibilisierungsaktivitäten zu Unternehmensübertragungen verstärken sowie die Unternehmen und andere Unterstützungsorganisationen dazu befähigen, Übertragungen von KKMU auf den Weg zu bringen und zu unterstützen. Unterstützende Frühwarnmechanismen für finanziell angeschlagene Unternehmen durch eine frühzeitige Warnung können ebenfalls wichtig sein, um einem Unternehmer zu helfen, das Unternehmen wieder auf einen finanziell tragfähigen Weg zu führen und auf eine Übertragung vorzubereiten. Daher fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, einen unterstützenden Frühwarnmechanismus für KKMU einzuführen und weiterzuentwickeln.

In einer aktuellen Studie zur Förderung von Unternehmensübertragungen in europäischen Ländern (21) werden Praktiken zur Förderung von Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten dargelegt, die von anderen Ländern übernommen werden könnten. Der EWSA unterstützt die in der Studie an die Mitgliedstaaten gerichtete Empfehlung, nationale Stakeholder-Foren für Unternehmensübertragungen einzurichten, in denen sowohl öffentliche als auch private Interessenträger vertreten sind. Die Zusammenarbeit der Interessenträger ist auf allen Ebenen erforderlich: regional, national und international. Foren für Unternehmensübertragungen bieten — durch den ständigen Dialog zwischen nationalen Experten — einen systematischen und langfristigen Ansatz zur Förderung von Unternehmensübertragungen und ermöglichen eine effizientere Nutzung der Ressourcen. Schließlich könnte ein von der Europäischen Kommission geförderter grenzübergreifender Dialog zwischen verschiedenen nationalen Foren zum Austausch bewährter Verfahren der Förderung von Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten eingerichtet werden.

4.10.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten die umfassende Nutzung digitaler Technologien bei der Förderung von Unternehmensübertragungen. Online-Plattformen für Unternehmensübertragungen, die sich in den meisten Fällen im Besitz privater Interessenträger befinden und von diesen verwaltet werden, sollten in allen Mitgliedstaaten entwickelt werden und auch für Kleinst- und Kleinunternehmen zugänglich sein. Zwischen verschiedenen Online-Plattformen in den Mitgliedstaaten sollten Verknüpfungen und Synergien entwickelt werden, und die Kommission könnte den Zugang zu verschiedenen Online-Marktplätzen in den Mitgliedstaaten erleichtern. Darüber hinaus nimmt die Zahl der grenzüberschreitenden Unternehmensübertragungen bei Kleinunternehmen zu. Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen nationalen Online-Plattformen wäre ein kostengünstiger Weg, um es Kleinunternehmen zu ermöglichen, sich über potenziell interessierte Übernehmer in anderen Mitgliedstaaten zu informieren.

4.11.

Eine erfolgreiche europäische Politikgestaltung im Bereich der Unternehmensübertragung erfordert eine verbesserte Datenerhebung. Die Daten über Unternehmensübertragungen sind nach wie vor fragmentiert und nicht vergleichbar. Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, die empfohlenen Schritte zu unternehmen, um die Datenbank zu Unternehmensübertragungen zu verbessern. Diese Schritte werden in dem kürzlich vorgelegten Bericht Improving the evidence base on transfer of business in Europe (22) (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa) umrissen. Der EWSA empfiehlt außerdem die Entwicklung eines EU-weiten Barometers für Unternehmensübertragungen, auf dessen Grundlage alle vier Jahre Bericht erstattet werden soll mit dem Ziel, mit besseren Daten zu einer faktengestützten Politikgestaltung beizutragen. Zudem sollten verschiedene Sensibilisierungsinitiativen erwogen werden, wie z. B. die Einrichtung einer nationalen und/oder europäischen Woche der Unternehmensübertragungen.

4.12.

Der EWSA legt der Kommission nahe, neben der Entwicklung einer besseren Datenerhebung regelmäßig die Situation bei Unternehmensübertragungen in Europa zu überprüfen. Die jährliche KMU-Versammlung der EU sollte als regelmäßiges Forum für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Unternehmensübertragungen im Bereich der KKMU genutzt werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Beispielsweise gibt es in Frankreich einen Rahmen, um die Übertragung eines Unternehmens an Arbeitnehmer zu organisieren und zu erleichtern und die Wirtschaftstätigkeit vor Ort zu stärken, indem die Übertragung von KKMU erleichtert wird.

(2)  Der Frühwarnmechanismus ist ein Beratungs- und Unterstützungsdienst für finanziell angeschlagene Unternehmen, der auf ein frühzeitiges Eingreifen abzielt, um Insolvenzen bestandsfähiger Unternehmen zu verhindern.

(3)  Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.

(4)  Europäische Kommission: Business Dynamics: Start-ups, business transfers and bankruptcy (Unternehmensdynamik: Start-up-Unternehmen, Unternehmensübertragung und Konkurs), 2011.

(5)  Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang, 2006, COM(2006) 117 final, S. 4.

(6)  Empfehlung der Kommission vom 7. Dezember 1994 zur Übertragung von kleinen und mittleren Unternehmen (94/1069/EG).

(7)  Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang, 2006, COM(2006) 117 final.

(8)  Mitteilung der Kommission: Eine KMU-Strategie für ein nachhaltiges und digitales Europa, 2020, COM(2020) 103 final.

(9)  Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Final report (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Abschlussbericht), Amt für Veröffentlichungen, 2021.

(10)  ec.europa.eu/growth/smes/supporting-entrepreneurship/transfer-businesses_en.

(11)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 1.

(12)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 210.

(13)  ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 7.

(14)  Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Executive summary (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Zusammenfassung), Amt für Veröffentlichungen, 2021.

(15)  Tall, Varamäki & Viljamaa, Business Transfer Promotion in European Countries, Seinäjoki 2021, S. 8.

(16)  Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2006), Unternehmensübertragung: Kontinuität durch Neuanfang, Brüssel, S. 3.

(17)  SMEunited, Position on long-term vision for the EU’s rural area, April 2022.

(18)  Zum Beispiel Arbeitnehmergesellschaften („sociedades laborales“) in Spanien.

(19)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 13.

(20)  Transeo ist eine internationale Vereinigung ohne Erwerbszweck, die Experten für Übertragungen und Übernahmen von KMU aus Europa und darüber hinaus zusammenbringt.

(21)  Tall, Varamäki & Viljamaa, Business Transfer Promotion in European Countries, Seinäjoki 2021, S. 8.

(22)  Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Final report (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Abschlussbericht), Amt für Veröffentlichungen, 2021.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziale Taxonomie — Herausforderungen und Chancen“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/03)

Berichterstatterin:

Judith VORBACH

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/26/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) beleuchtet in dieser Stellungnahme den Gedanken einer Sozialtaxonomie und möchte damit die Debatte anregen. Der EWSA fordert die Kommission auf, den überfälligen Bericht mit den Bestimmungen zu veröffentlichen, die erforderlich wären, um den Anwendungsbereich der Taxonomie auf „andere Nachhaltigkeitsziele, wie etwa soziale Ziele“, auszuweiten, wie dies in der Taxonomieverordnung (1) (im Folgenden „Verordnung“) gefordert wird. Der EWSA spricht sich für eine praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die Chancen zu nutzen und zugleich die Herausforderungen zu meistern. Die EU-Taxonomie sollte auf einen ganzheitlichen Ansatz ausgerichtet sein, der sowohl die ökologische als auch die soziale Nachhaltigkeit umfasst. Angesichts der Herausforderungen des ökologischen Wandels, der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden geopolitischen Spannungen bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik und einer stärkeren Fokussierung auf soziale Ziele.

1.2.

Der in der Verordnung vorgesehene Mindestschutz ist sehr zu begrüßen und sollte sorgfältig umgesetzt werden. Er reicht jedoch nicht aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten. Eine EU-Taxonomie würde durch die Mobilisierung von Investition dazu beitragen, den dringenden Investitionsbedarf im Sozialbereich zu decken. Sie wird sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Gerechtigkeit und Inklusion ausgerichteten Politik ist. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte die seit Langem erwarteten Leitlinien liefern. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Prognose über den Mittelbedarf für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte vorzulegen. Alles in allem werden öffentliche Investitionen für die öffentlichen Dienstleistungen weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Gleichwohl könnte eine gemeinsam vereinbarte Sozialtaxonomie Leitlinien für Investitionen mit positiven sozialen Auswirkungen enthalten.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, den von der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen (2) (im Folgenden „die Plattform“) vorgeschlagenen mehrstufigen und vielfältigen Ansatz auch im Bericht der Kommission zu berücksichtigen. Die Integration einer Sozialtaxonomie in den EU-Rechtsrahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen und eine nachhaltige Unternehmensführung wäre sinnvoll, wird jedoch noch viel Arbeit erfordern. Insbesondere wäre der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen eine wichtige Ergänzung zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer die Maßnahmen beurteilt und bewertet werden könnten. Eine gut konzipierte Sozialtaxonomie würde auch dazu beitragen, das potenzielle Problem des Social Washing anzugehen. Der EWSA empfiehlt, mit einfachen und klaren Leitlinien zu beginnen, einfache und transparente Verfahren vorzusehen und diese zu einem späteren Zeitpunkt schrittweise zu ergänzen. Letztlich sollte eine enge Integration der Sozial- und Umwelttaxonomie angestrebt werden, doch in einem ersten Schritt könnte gegenseitiger Mindestschutz sinnvoll sein.

1.4.

In der EU-Taxonomie sollten Tätigkeiten und Unternehmen aufgeführt werden, die einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten und einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über die bestehenden Rechtsvorschriften hinausgehen. Der EWSA begrüßt die von der Plattform vorgeschlagenen Ziele: menschenwürdige Arbeit, einen angemessenen Lebensstandard sowie inklusive und nachhaltige Gemeinschaften. Zwar sollten verschiedene internationale und europäische Grundsätze als Grundlage dienen, doch empfiehlt der EWSA insbesondere die Bezugnahme auf die europäische Säule sozialer Rechte und die einschlägigen Ziele für nachhaltige Entwicklung, z. B. auf Ziel 8 „Menschenwürdige Arbeit“. In jedem Fall muss die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte eine Grundbedingung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht ist von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz (3) darstellen. Leitlinien mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, sollten als taxonomiekonform gelten. Es ist zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert und in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen ist — ein Problem, das mit der Mindestlohnrichtlinie angegangen wurde.

1.5.

Der EWSA fordert die Gesetzgeber auf, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend in die Gestaltung der Sozialtaxonomie einzubeziehen, da sie zum einen betroffen sind und Berichtspflichten nachkommen müssen. Zum anderen muss ihre Teilhabe gewahrt bleiben. Der EWSA hält die übermäßige Nutzung delegierter Rechtsakte im Bereich der Taxonomie für fragwürdig, weil eine große Bandbreite politischer Fragen angeschnitten wird. Ziel der Taxonomie ist es, Transparenz für Investoren, Unternehmen und Verbraucher zu schaffen. Ihre mögliche Nutzung durch staatliche Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme sollte künftig angemessen bewertet und erörtert werden. Jede breitere Verwendung muss Gegenstand eines geeigneten Entscheidungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden. Schließlich muss die Gefahr des Social Washing gebannt werden. Es sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden, und die zuständigen nationalen Behörden sollten stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen.

1.6.

Der EWSA möchte weitere Vorteile einer Sozialtaxonomie hervorheben. Erstens sollte die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen durch eine zuverlässige Taxonomie unterstützt werden, die ein kohärentes Konzept zur Messung der sozialen Nachhaltigkeit darstellt. Zweitens könnten sozial schädliche Tätigkeiten wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Eine Taxonomie könnte dazu beitragen, diese Risiken möglichst gering zu halten. Drittens ist Transparenz von entscheidender Bedeutung für die Effizienz des Kapitalmarkts und könnte auch zum sozialen Binnenmarkt im Sinne von Artikel 3 AEUV beitragen. Sie würde gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern, unlauteren Wettbewerb verhindern und Unternehmen und Organisationen, die zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, mehr Sichtbarkeit geben. Viertens sollte die EU auf ihren Stärken aufbauen und bestrebt sein, ein Vorbild und Vorreiter in Sachen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit zu werden. Die Debatte über eine EU-Ratingagentur sollte wieder aufgenommen werden. Außerdem bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten.

1.7.

Der EWSA weist auch auf Herausforderungen und mögliche Lösungen hin. Erstens gibt es Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung. Investitionen beruhen jedoch auch auf anderen Kriterien, wie der erwarteten Rendite, die gewichtiger als die Nachhaltigkeitsziele sein könnten, und es gibt auch viele Fälle von Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure. In jedem Fall sollte die Kommission klarstellen, dass fehlende Taxonomiekonformität nicht als schädlich angesehen werden darf. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden. Zweitens wird es Kontroversen darüber geben, was in die Taxonomie aufgenommen werden sollte. Genau aus diesem Grund sollte diese Festlegung mithilfe einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung geklärt werden. Auf diese Weise könnte eine gemeinsame und verlässliche Vorstellung von Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure beziehen können und sollen. Der Erfolg der Taxonomie hängt von ihrer Glaubwürdigkeit ab, und die von ihr erfassten Tätigkeiten müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen. Drittens könnte eine Sozialtaxonomie zusätzliche Berichtspflichten nach sich ziehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese auf ein Minimum zu reduzieren und gleichzeitig Überschneidungen zu vermeiden. Beratung und die Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Taxonomie durch eine gesetzlich berechtigte Stelle könnten insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Geschäftsmodelle von Nutzen sein. Darüber hinaus sollten Finanzinstitute ermutigt werden, Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorzulegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Der EU-Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen soll dazu beitragen, private Finanzströme in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu lenken. Der Aktionsplan 2018 für ein nachhaltiges Finanzwesen setzt sich aus einer Taxonomie, einem Offenlegungssystem für Unternehmen und Anlageinstrumenten einschließlich Benchmarks, Standards und Gütesiegeln zusammen. Der Schwerpunkt der erneuerten Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen von 2021 liegt hingegen auf der Finanzierung des Übergangs der Realwirtschaft zur Nachhaltigkeit sowie auf Inklusivität, Resilienz, dem Beitrag des Finanzsektors sowie auf globalen Zielen. In diesem Rahmen hat die EU an verschiedenen Gesetzesinitiativen gearbeitet, bei denen die EU-Taxonomie eine Schlüsselrolle spielt. Der EWSA verweist auf seine einschlägigen Stellungnahmen (4).

2.2.

Die EU-Taxonomie soll für Investoren und Unternehmen Transparenz schaffen und ihnen bei der Ermittlung nachhaltiger Investitionen helfen. Die Verordnung stellt ein Klassifizierungssystem dar, das sich auf sechs Umweltziele in den Bereichen Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Wasser, biologische Vielfalt, Vermeidung von Umweltverschmutzung und Kreislaufwirtschaft konzentriert. Eine ökologisch nachhaltige Investition muss einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung eines oder mehrerer dieser Ziele leisten, darf keines dieser Ziele erheblich beeinträchtigen (DNSH-Grundsatz) und muss bestimmte Schwellenwerte bezüglich der Leistung („technische Bewertungskriterien“) einhalten. Sie muss auch einen Mindestschutz in den Bereichen Soziales und Unternehmensführung Rechnung tragen (Artikel 18). Deshalb müssen Unternehmen ihre Tätigkeiten mit den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen, den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit sowie der Internationalen Charta der Menschenrechte in Einklang bringen.

2.3.

Gemäß Artikel 26 der Verordnung ist die Kommission verpflichtet, bis Ende 2021 einen Bericht zu veröffentlichen, in dem die für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf „andere Nachhaltigkeitsziele wie soziale Ziele“ erforderlichen Bestimmungen erläutert werden. Dies zeigt zwar die Absicht, den Anwendungsbereich auszuweiten, verlangt aber noch nicht die Einführung einer sozialen Taxonomie. Im Einklang mit der Verordnung wurde die Untergruppe „Soziale Taxonomie“ der Plattform beauftragt, die Ausweitung der Taxonomie auf soziale Ziele zu prüfen. Ihr Abschlussbericht über die Sozialtaxonomie (5) wurde im Februar 2022 veröffentlicht, später als angekündigt, und die Kommission wird voraussichtlich auf dessen Grundlage ihren Bericht erstellen. Darüber hinaus soll die Plattform die Kommission zur Anwendung des Artikels 18, d. h. zu der Frage, wie Unternehmen die Mindestschutzvorschriften einhalten können, und einer möglicherweise erforderlichen Ergänzung der Anforderungen des Artikels beraten.

2.4.

Die Plattform schlägt vor, die Struktur für eine soziale Taxonomie in den derzeitigen EU-Rechtsrahmen für nachhaltige Finanzierungen und eine nachhaltige Unternehmensführung zu integrieren. Im Falle der Einführung einer Sozialtaxonomie würden weitere Bestimmungen ein ordnungspolitisches Umfeld schaffen, darunter der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen — mit der die Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen ersetzt und verbindliche EU-Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingeführt werden sollen —, die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten und die Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit. Insbesondere müssen sich die Unternehmen laut dem Richtlinienvorschlag zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen auch mit Informationen zu sozialen Themen und zur Berichterstattung über die Unternehmensführung auseinandersetzen. Es wird auch erwartet, dass die Richtlinie die Offenlegung in Bezug auf soziale Belange verbessert. Die Richtlinie wäre daher ein wichtiges Gegenstück zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer diese Aspekte gemessen und bewertet werden können.

2.5.

Trotz einiger Unterschiede regt die Plattform an, sich strukturell an die Umwelttaxonomie anzulehnen. Sie schlägt drei Hauptziele vor, die durch Unterziele ergänzt werden. Unter den Zielvorschlag „menschenwürdige Arbeit“ fallen Unterziele wie die Stärkung des sozialen Dialogs, die Förderung von Tarifverhandlungen und existenzsichernde Löhne, die ein menschenwürdiges Leben garantieren. Das Ziel „angemessener Lebensstandard“ umfasst gesunde und sichere Produkte, eine hochwertige Gesundheitsversorgung und hochwertigen Wohnraum. Mit dem Ziel „inklusive und nachhaltige Gemeinschaften“ sollten auch Gleichheit und integratives Wachstum sowie tragfähige Existenzgrundlagen gefördert werden. Beim vorgeschlagenen Mindestschutz wird auf Ziele in den Bereichen Umwelt, Unternehmensführung und Soziales abgestellt, um Unvereinbarkeiten zu vermeiden, wie z. B. bei einem Unternehmen, das nachhaltige Tätigkeiten ausübt und in Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist. Dabei gilt es zudem, den relevanten Interessenträgern gerecht zu werden, d. h. den in dem betreffenden Unternehmen und der Wertschöpfungskette Beschäftigten, den Verbrauchern und den betroffenen Gemeinschaften. Ferner werden sozialbezogene DNSH-Kriterien und die Auflistung schädlicher Tätigkeiten vorgeschlagen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA dringt auf eine Wirtschaftspolitik, die mit den in Artikel 3 des EU-Vertrags festgelegten Zielen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung im Einklang steht. Er hält eine ausgewogene Fokussierung auf zentrale Politikziele für erforderlich, namentlich ökologische Nachhaltigkeit, nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, Verteilungsgerechtigkeit, Gesundheit und Lebensqualität, Geschlechtergleichstellung, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel auf Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur und stabile öffentliche Finanzen. Darüber hinaus verweist der EWSA auf die Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit mit ihren vier Komponenten — ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität —, die den gleichen Stellenwert haben, um so Verstärkungseffekte zu erzielen und den grünen und digitalen Wandel erfolgreich zu bewältigen (6). Angesichts des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine betont der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Konflikts. Er erinnert an die Erklärung in der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1919, wonach soziale Gerechtigkeit eine wesentliche Voraussetzung für einen dauerhaften Weltfrieden ist.

3.2.

Der EWSA beleuchtet den Gedanken einer Sozialtaxonomie in der Absicht, die Debatte anzuregen und auf das Thema aufmerksam zu machen. Der EWSA spricht sich für eine gut durchdachte, praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die erheblichen Chancen zu nutzen und zugleich die erheblichen Probleme zu bewältigen (siehe unten). Ebenso wie die Wirtschaftspolitik insgesamt sollte auch das finanzbezogene Nachhaltigkeitskonzept und insbesondere die EU-Taxonomie auf einen ganzheitlichen und mehrdimensionalen Ansatz abgestimmt werden, bei dem die Gleichrangigkeit von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit angestrebt wird. Außerdem kann der grüne Wandel in sozialer Hinsicht schädliche Konsequenzen haben. Daher müssen die Standards im sozialen Bereich bewahrt und angehoben werden und es ist darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte dafür Leitlinien liefern.

3.3.

Der EWSA betrachtet eine Sozialtaxonomie als wichtige und notwendige Ergänzung der sozialen Dimension der EU. Er fordert die Kommission auf, den Bericht gemäß Artikel 26 fristgerecht vorzulegen. Der mehrstufige und vielfältige Ansatz des Berichts der Plattform sollte beibehalten werden. Das Perfektionsstreben und die gleichzeitige Berücksichtigung sämtlicher Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit könnte jedoch zu erheblichen Verzögerungen bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie führen und birgt sogar die Gefahr, dass das ganze Vorhaben aufgegeben wird. Daher empfiehlt der EWSA, rechtzeitig mit einfachen und klaren Leitlinien sowie leicht anzuwendenden Transparenzverfahren zu beginnen und diese dann Schritt für Schritt kontinuierlich zu ergänzen. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Umwelttaxonomie und einer Sozialtaxonomie sollte Kohärenz und eine enge Integration der beiden Ansätze angestrebt werden. Dennoch könnte in einem ersten Schritt gegenseitiger Mindestschutz zweckmäßig sein.

3.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Plattform einen Entwurf ihres Berichts zu Artikel 18 der Verordnung veröffentlicht hat, um den Unternehmen eine Orientierungshilfe für die Umsetzung der Anforderungen des Artikels zu geben und gegebenenfalls dessen Änderung zu ermöglichen. Insbesondere ist es im Zusammenhang mit sozialer Nachhaltigkeit unabdingbar, die tatsächliche Leistung eines Unternehmens in puncto Menschenrechte, Arbeitsbeziehungen und menschenwürdige Arbeit zu bewerten. Wenngleich der Mindestschutz im Rahmen der Umwelttaxonomie sehr zu begrüßen ist und gründlich umgesetzt werden sollte, könnte er niemals eine Sozialtaxonomie ersetzen. Er reicht nicht annähernd aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten (7). Darüber hinaus empfiehlt der EWSA die Zusammenarbeit mit den örtlichen Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft und Sozialunternehmen, um die positive Wirkung der Wirtschaftstätigkeiten auf die Interessenträger zu beobachten und zu fördern.

3.5.

Die Sozialtaxonomie wird an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik ist, die mit angemessenen Bestimmungen einhergeht, z. B. in Bezug auf die Sorgfaltspflicht im Bereich Menschenrechte. Sie kann jedoch niemals eine solide staatliche Regulierung und Sozialpolitik ersetzen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Die Taxonomie sollte nicht als Mittel der Verdrängung oder Privatisierung dienen. Öffentlichen Investitionen kommt nach wie vor eine entscheidende Rolle bei öffentlichen Dienstleistungen zu und oft werden dadurch auch weitere private Investitionen angestoßen. Allerdings könnten durch die soziale Taxonomie allen Investoren Nachhaltigkeitskriterien in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, allgemeine und berufliche Bildung sowie Sozialwohnraum an die Hand gegeben werden, um sozial nachhaltige Investitionen in die Realwirtschaft zu ermöglichen und Social Washing zu vermeiden. In Zukunft könnte die Taxonomie auch von staatlichen Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme genutzt werden. Dies wird ordentlich bewertet und erörtert werden müssen.

3.6.

Eine Sozialtaxonomie würde eine detaillierte Aufgliederung der positiven und negativen sozialen Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten bieten. Viele der in Betracht gezogenen Punkte sind eng mit Themen verknüpft, die traditionell unter Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft diskutiert werden. Der EWSA dringt auf die volle Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die Gestaltung der Sozialtaxonomie, insbesondere mit Blick auf die (Unter-)Ziele, DNSH-Kriterien und Schutzprinzipien. Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbraucher, andere Interessenträger und Gemeinschaften sind von der Zielformulierung betroffen und/oder müssen Berichtspflichten nachkommen. Der EWSA verweist auch auf das Beispiel der Pensionsfonds, bei denen Arbeitnehmer die Begünstigten von Investitionen sind. Die Einbindung der Interessenträger ist wichtig, um die Teilhabe zu wahren. Der EWSA geht davon aus, dass eine Sozialtaxonomie durch eine Überarbeitung der Verordnung eingeführt werden könnte, sodass ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchgeführt würde. Der übermäßige Rückgriff auf delegierte Rechtsakte im Kontext eines nachhaltigen Finanzwesens und insbesondere bei der Einführung der Taxonomie ist fragwürdig, da diese Thematik zahlreiche politische Fragen umfasst, die weit über technische Spezifikationen hinausgehen.

3.7.

Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig, die Qualität der Informationen im Bereich sozial nachhaltiger Investitionen zu erhöhen und Desinformation über die soziale Lage zu verhindern, um negative Auswirkungen auf alle Interessenträger zu vermeiden. Eine gut durchdachte Sozialtaxonomie würde erheblich zur Lösung solcher Probleme beitragen, indem Tätigkeiten und Unternehmen bzw. Organisationen, die wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, eindeutig benannt werden. Sie sollte einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über bereits bestehende Rechtsvorschriften hinausgehen, wobei das richtige Gleichgewicht zwischen einem zu umfassenden und einem zu engen Ansatz gefunden werden muss. Während Umweltkriterien eher auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen, würde eine Sozialtaxonomie, wie sie die Plattform vorschlägt, eher auf Standards und weltweit anerkannten Rahmen beruhen, die vielleicht nicht verbindlich sind, sondern als Leitlinien dienen, mit denen sozial nachhaltige Tätigkeiten angeregt werden.

3.8.

Die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte muss eine Voraussetzung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Ebenso ist die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz darstellen. Darüber hinaus sollten Leitlinien für einfache und transparente Verfahren mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, als taxonomiekonforme Wirtschaftstätigkeit gelten. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert — von nur 7 % in Litauen bis zu 98 % in Österreich. Seit dem Jahr 2000 ist der Grad der Abdeckung durch Tarifverträge in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen, laut Schätzungen sind heute mindestens 3,3 Millionen Arbeitnehmer weniger tarifvertraglich abgesichert. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie spielt die neue Richtlinie über Mindestlöhne und die Ausweitung der Anwendung von Tarifverträgen (8). Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, in dem vorgeschlagenen Rechtsakt selbst klare Hinweise zur Umsetzung der Mindeststandards zu geben und sich dabei vielleicht auf den Bericht der Plattform bezüglich Artikel 18 der Verordnung zu stützen.

3.9.

Verschiedene internationale und europäische Standards und Grundsätze können als Grundlage für die Sozialtaxonomie dienen. Für die (Unter-)Ziele empfiehlt der EWSA, auf die europäische Säule sozialer Rechte und den damit verbundenen Aktionsplan sowie auf die einschlägigen Nachhaltigkeitsziele abzustellen, insbesondere auf Ziel 8 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum), Ziel 1 (Keine Armut), Ziel 2 (Kein Hunger), Ziel 3 (Gesundheit und Wohlergehen), Ziel 4 (Hochwertige Bildung), Ziel 5 (Geschlechtergleichheit), Ziel 10 (Weniger Ungleichheiten) und Ziel 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden). Von den Sozialpartnern vereinbarte Rahmenregelungen könnten ebenfalls eine wichtige Quelle sein. Der EWSA hält die von der Plattform vertretene Idee, auf der Grundlage der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze einen Mindestschutz einzuführen, für grundlegend. Darüber hinaus wären auch die Europäische Sozialcharta, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Europäische Menschenrechtskonvention und der Richtlinienvorschlag zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit wertvolle Orientierungspunkte für eine soziale Taxonomie. Abschließend ist zu sagen, dass Tätigkeiten, die als erheblich beeinträchtigend angesehen werden, d. h. solche, die grundsätzlich und unter allen Umständen Nachhaltigkeitszielen entgegenstehen und deren Schädlichkeit sich nicht verringern lässt, ausgeschlossen werden sollten. Dies sollte auch für durch internationale Abkommen geächtete Waffen wie Streubomben oder Antipersonenminen gelten. Der EWSA empfiehlt zudem, ein Konzept für den Umgang mit aggressiven und kriegerischen Regimen zu entwickeln.

4.   Chancen einer Sozialtaxonomie

4.1.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, das Potenzial der Taxonomie zu nutzen, um Investitionen in sozial nachhaltige Aktivitäten und Einrichtungen zu lenken und gute Arbeitsplätze zu schaffen. Weit mehr als 20 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind von Armut bedroht; die Pandemie hat die Ungleichheiten vertieft, und der Krieg in der Ukraine wird die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen weiter verschärfen. Weltweit werden schätzungsweise etwa 3,3 bis 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigt, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Waren, die unter Verletzung arbeitsbezogener Menschenrechte hergestellt werden, sind durch Import mit dem EU-Binnenmarkt verbunden. Auch in der EU besteht ein dringender Bedarf an sozialen Investitionen, z. B. in die Armutsbekämpfung, lebenslanges Lernen oder Gesundheit (9). Schätzungen zufolge beträgt die Lücke bei den Investitionen in die soziale Infrastruktur im Zeitraum 2018 bis 2030 mindestens rund 1,5 Billionen EUR (10). Der EWSA fordert die Kommission zur Vorlage einer aktualisierten Schätzung des Investitionsbedarfs auf, um die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen und die Kernziele der EU für 2030 zu erreichen. Zur Durchsetzung sozialer Nachhaltigkeit werden beträchtliche öffentliche und private Mittel benötigt.

4.2.

Anhand einer Sozialtaxonomie könnten Investoren und Unternehmen die sozialen Auswirkungen ihrer Investitionen oder Tätigkeiten beurteilen und dies freiwillig als wesentliches Ziel ansehen. Der EWSA weist auf die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen hin und begrüßt die Offenheit der Investoren für sozial nachhaltige Finanzierungen. Hingegen mangelt es an Definition und Standardisierung, und auch die Analyse von Umwelt- Sozial- oder Governance-Ratings und der damit verbundenen Ergebnisse weist je nach Anbieter der Ratings grundlegende Unterschiede auf, was sozial nachhaltige Investitionen erschwert. Eine Sozialtaxonomie wäre ein kohärentes Konzept für die Definition und Förderung der sozialen Nachhaltigkeit und die Messung der Fortschritte. Sie bietet die Möglichkeit, die Rechenschaftspflicht zu verbessern und eine klare Orientierung zu geben. Sie würde daher die Ambitionen der Investoren entscheidend unterstützen und könnte weiteren Marktteilnehmern Anreize geben, in diesem Bereich zu investieren. Gleichzeitig würde sie dazu beitragen, Social Washing zu verhindern.

4.3.

Sozial schädliche Tätigkeiten können auch wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Wird ein Unternehmen mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht, könnte es boykottiert und im Falle der Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass es aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in kostspielige Rechtsstreitigkeiten verwickelt wird oder die Lieferketten durch Streiks unterbrochen werden. Außerdem könnten die wirtschaftlichen und politischen Risiken aufgrund der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich Investitionen beeinträchtigen. Diese Risiken ließen sich durch Investitionsentscheidungen, die auch auf einer Sozialtaxonomie fußen, auf ein Minimum reduzieren. Der EWSA verweist auch auf die Maßnahmen der EZB zur Stärkung der Überwachung und des Managements von durch die Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bedingten Systemrisiken. Der EWSA betont, dass Umweltrisiken häufig mit sozialen Risiken einhergehen, z. B. wenn Menschen aufgrund von Hochwasser ihr Zuhause verlieren. Alles in allem sollten Risiken für die soziale Nachhaltigkeit explizit angegangen werden und Teil der Maßnahmen der EZB zu Nachhaltigkeitsrisiken sein.

4.4.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass Transparenz ein wesentliches Element der Markteffizienz ist. Das gilt nicht nur für Kapitalmärkte. Eine soziale Taxonomie könnte auch dazu dienen, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und Sozial- und Arbeitnehmerrechten zu unterstützen (11). Durch mehr Transparenz könnte sie gemäß Artikel 3 AEUV zum sozialen Binnenmarkt beitragen und einen fairen Wettbewerb fördern. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auch gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern und Unternehmen, die die Menschen- und Arbeitnehmerrechte einhalten und wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, stärker ins Blickfeld rücken, was ihnen helfen würde, Investoren zu finden. Die Taxonomie kann durchaus eine transformative Rolle spielen, die durch ihre bessere Bekanntmachung gestärkt werden würde. In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut auf die positive Rolle hin, die Finanzinstrumente bei der Entwicklung von Sozialunternehmen spielen können (12).

4.5.

Schließlich ist die EU im ökologisch nachhaltigen Finanzwesen international führend und trägt aktiv zu den entsprechenden weltweiten Bemühungen bei. Der EWSA begrüßt diese Bemühungen, erinnert die Kommission jedoch daran, dass auch die soziale Nachhaltigkeit vorangebracht und die Nachhaltigkeitsziele gefördert werden müssen. Die EU sollte auch im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit als Vorbild dienen und zu einem Vorreiter werden, indem sie das Thema in internationalen Foren zur Sprache bringt. Gerade in Zeiten von Krieg und internationalen Spannungen gilt es, bei der internationalen Architektur eines nachhaltigen Finanzwesens auch die soziale Nachhaltigkeit zu berücksichtigen.

5.   Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten

5.1.

Die Absichten von Finanzinvestoren, sozial und ökologisch nachhaltige Investitionen zu tätigen, sind sehr begrüßens- und unterstützenswert. Allerdings stützen Finanzmarktteilnehmer ihre Investitionsentscheidungen im Allgemeinen auf Erwartungen im Hinblick auf Rendite, Risiko, Liquidität und Laufzeit. Diese Motive könnten den Zielen anderer Interessenträger entgegenstehen und den ökologischen oder sozialen Zielen zuwiderlaufen oder sie sogar verdrängen. Der EWSA weist jedoch auch auf viele mögliche Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure hin. So können beispielsweise Verbesserungen bei der Arbeitnehmerbeteiligung auch die Produktivität der Unternehmen steigern oder eine Wirtschaftstätigkeit kann zum Wohl von Gemeinschaften beitragen. In jedem Fall dürfen Wirtschaftstätigkeiten oder Unternehmen bzw. Organisationen, die möglicherweise nicht taxonomiekonform sind, nicht automatisch als schädlich angesehen werden. Hier bestehen Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung, und der EWSA ersucht die Kommission um Klarstellung und einen ausgewogenen Ansatz. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden.

5.2.

Unvereinbarkeiten können entstehen, weil soziale Fragen auf Ebene der Mitgliedstaaten und zwischen den Sozialpartnern geregelt werden. Die organisierte Zivilgesellschaft ist indes als Ganzes bestrebt, an sozial-, umwelt- und anderen politischen Fragen beteiligt zu werden. Der EWSA begrüßt jedoch, dass im Bericht der Plattform die Gefahr von Verstößen gegen andere Vorschriften erkannt wird. Er geht außerdem davon aus, dass die Kommission in ihrem Vorschlag darauf achten wird, widersprüchliche Überschneidungen und Eingriffe in die nationalen Sozialsysteme, Arbeitsbeziehungen und Vorschriften zu vermeiden. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auf gemeinsamen internationalen und europäischen Erklärungen und Prinzipien — wie der europäischen Säule sozialer Rechte — beruhen und wäre der Ausgangspunkt für eine freiwillige Beschlussfassung, ohne eine bestimmte Sozialpolitik vorzugeben. Eine etwaige breitere Verwendung der Taxonomie über den genannten Rahmen hinaus müsste jedoch Gegenstand eines geeigneten Beschlussfassungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden und Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsmarktmodellen und Tarifverhandlungssystemen sind anzuerkennen.

5.3.

Die Entwicklung einer Sozialtaxonomie und damit einer strukturierten Übersicht über sozial nachhaltige Tätigkeiten und Sektoren berührt auch politische Werte. Es wird schwierig sein, festzulegen, welche Wirtschaftstätigkeit und/oder welcher Sektor als taxonomiekonform gilt. Doch gerade deshalb sollte die Erarbeitung einer Taxonomie Gegenstand einer politischen Debatte und einer demokratischen Entscheidungsfindung sein (13). Nur unter diesen Bedingungen kann eine gemeinsame Vorstellung von sozialer Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure stützen und beziehen können und sollten. Der EWSA betont, dass der Erfolg der Taxonomie auch im sozialen Bereich von einer breiten Akzeptanz abhängt. Die von der Taxonomie erfassten Tätigkeiten und Branchen müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen und auf allgemein anerkannten Werten wie Menschenwürde, Geschlechtergleichstellung, Fairness, Inklusion, Nichtdiskriminierung, Solidarität, Erschwinglichkeit, Wohlergehen und Vielfalt beruhen. Die Glaubwürdigkeit der Taxonomie ist von großer Bedeutung, um das Projekt nicht insgesamt zu gefährden.

5.4.

Zudem besteht die Sorge, dass eine soziale Taxonomie die Unternehmen durch zusätzliche Berichtspflichten und das Erfordernis, komplexe und komplizierte Informationen bereitzustellen, in Verbindung mit kostspieligen Prüfungsverfahren überlasten könnte. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Belastungen so gering wie möglich zu halten sowie einfache und leicht zu beobachtende Kriterien aufzustellen und dabei auch Überschneidungen mit anderen Berichtspflichten zu berücksichtigen. Der EWSA begrüßt den Ansatz der Plattform, die Ziele der Sozialtaxonomie nach dem Vorbild des Richtlinienvorschlags zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen zu strukturieren. Alles in allem fordert der EWSA ein geordnetes und kohärentes Regelwerk ohne übermäßige Komplexität und Überschneidungen, damit es in der Praxis funktioniert und gleichzeitig das erforderliche Maß an Transparenz bietet. Die Beratung und die Erbringung taxonomiebezogener Dienstleistungen durch eine gesetzlich berechtigte Stelle für Unternehmen und sonstige Organisationen, die sich taxonomiekonform verhalten wollen, könnten ebenfalls sinnvoll sein. Dadurch hätten auch Unternehmen, die weniger Mittel für die Berichterstattung aufwenden können, Zugang zur Taxonomie. Allerdings können Finanzinstitute nach wie vor Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorlegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun.

5.5.

Obwohl es der Zweck der Taxonomie ist, einen verlässlichen Rahmen für sozial nachhaltige Investitionen zu schaffen, kann die Gefahr des Green Washing oder des Social Washing nicht ausgeschlossen werden. Der EWSA stimmt mit der Plattform darin überein, dass die bloße Überprüfung von Zusagen und Strategien weder eine Garantie für eine wirksame Umsetzung und den Schutz der Menschenrechte ist noch die Entwicklung sozial nachhaltiger Tätigkeiten unterstützt. Es ist sehr schwierig, die Einhaltung der erklärten Ziele der sozialen Nachhaltigkeit durch ein Unternehmen zu überwachen und durchzusetzen und seine Leistung entlang der heute oft sehr komplexen Lieferketten zu beurteilen. Andererseits weist die Plattform auf vielversprechende Entwicklungen im Bereich quantifizierbarer Sozialdaten hin, beispielsweise im Zusammenhang mit dem überarbeiteten sozialpolitischen Scoreboard und den Nachhaltigkeitszielen. Alles in allem muss die soziale Taxonomie transparent und zuverlässig sein und ständig aktualisiert werden. Der EWSA schlägt ferner vor, hier auch Betriebsräte und Organisationen der Zivilgesellschaft einzubeziehen.

5.6.

Der EWSA regt an, die Debatte über eine EU-Ratingagentur, die sich nun auf Nachhaltigkeit konzentrieren könnte, neu zu beleben und so die Vorreiterrolle der EU in diesem Bereich zu festigen. Außerdem bekräftigt er seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten. Für den Fall falscher Erklärungen der Taxonomiekonformität sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden. Der EWSA erkennt an, dass die konkreten Maßnahmen sowie Sanktionen für Verstöße laut Verordnung den Mitgliedstaaten obliegen. In jedem Fall sollten die zuständigen nationalen Behörden (14) stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen, und hinzukommen sollte die Pflicht, ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft Bericht zu erstatten.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. L 198 vom 22.6.2020, S. 13.

(2)  Platform on Sustainable Finance | Europäische Kommission (europa.eu).

(3)  DNSH (do no significant harm) = ohne wesentliche Beeinträchtigung anderer Ziele.

(4)  ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72.

(5)  Final Report on Social Taxonomy (europa.eu).

(6)  ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50.

(7)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 97.

(8)  Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU, Artikel 4 Absatz 2, vorläufige Einigung. Die dort festgelegte Schwelle von 80 % an tarifvertraglicher Abdeckung, mit der die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollen, Maßnahmen zur Erhöhung des Prozentsatzes zu ergreifen, sollte in einer sozialen Taxonomie unterstützt werden.

(9)  Final Report on Social Taxonomy (europa.eu).

(10)  Europäische Kommission, Boosting Investment in Social Infrastructure in Europe, Diskussionspapier 074/Januar 2018.

(11)  ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50.

(12)  ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 39.

(13)  Siehe oben, Abschnitt 3.

(14)  Siehe Artikel 21 der Taxonomie-Verordnung.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanzierung des Klimaanpassungsfonds durch Kohäsionsmittel und NextGenerationEU“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/04)

Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS

Ko-Berichterstatterin:

Judith VORBACH

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

139/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Europäische Union unternimmt wichtige Schritte zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Verringerung der Treibhausgasemissionen. Die Klima-, Umwelt- und Energiepolitik der EU folgen einem langfristigen Plan, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimanotstands auf unserem Planeten verhindern zu helfen. Allerdings könnte das immer noch zu wenig sein.

1.2.

Obwohl die EU mit beträchtlichem Engagement zu Werke geht, sind die Folgen des Klimawandels und der Ressourcenknappheit bedauerlicherweise bereits spürbar. Daher gilt es, sich an eine neue Realität anzupassen. Zwar setzt sich die EU zu Recht dafür ein, eine Verschlechterung der Lage zu vermeiden, doch ist sie auf unvorhergesehene Klimanotstände, Energiekrisen und Naturkatastrophen nicht vorbereitet.

1.3.

Seit 2021 kam es zu zwei sehr großen Katastrophen, für die sich die EU-Finanzierungsmechanismen als ungeeignet erwiesen haben. Die erste waren die Verwüstungen durch Überschwemmungen und Waldbrände in ganz Europa im Sommer 2022. Die zweite ist die aktuelle Energiekrise und das Erfordernis der Energieautonomie der EU aufgrund der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022.

1.4.

Der derzeitige Mechanismus der EU zur Reaktion auf Naturkatastrophen ist der Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF). Die jährliche Finanzausstattung des EUSF ist jedoch angesichts der Kosten für die Schäden infolge der jüngsten Naturkatastrophen viel zu gering und muss drastisch aufgestockt werden. Die EU-Mittel für die Energiewende sind umfangreicher, tragen aber nicht dem dringenden Bedarf der EU an Energieautonomie und dem enormen Risiko der Energiearmut Rechnung, wie der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in seiner Stellungnahme „Bekämpfung der Energiearmut und Resilienz der EU: Herausforderungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht“ (1) darlegt.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA benötigt die EU einen neuen Finanzierungsmechanismus, über den die Mitgliedstaaten in Notlagen wie den oben genannten sofort und substanziell unterstützt werden können. Der EWSA schlägt daher vor, einen neuen Klimaanpassungsfonds einzurichten. Diese Mittel sollten aus bestehenden EU-Fonds, insbesondere aus dem Kohäsionsfonds und der Aufbau- und Resilienzfazilität abgezweigt, aber über diesen neuen Fonds effizient und kohärent verwaltet werden.

1.6.

Bei der Modernisierung des Finanzierungsumfelds könnten auch der Anwendungsbereich der bestehenden Programme erweitert, ihre Mittel aufgestockt und NextGenerationEU als Vorbild für ein neues Finanzierungsinstrument betrachtet werden.

1.7.

Angesichts des erheblichen Investitionsbedarfs empfiehlt der EWSA der Kommission auch, zu prüfen, ob sich der Klimaanpassungsfonds nicht durch die Mobilisierung von Investitionen und Beiträgen der Privatwirtschaft aufstocken lässt. Insbesondere im Hinblick auf Naturkatastrophen sollten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten zudem darum bemühen, insbesondere in Risikogebieten den Versicherungsschutz zu erhöhen und zu erleichtern sowie über die Versicherungen Gelder in die Verbesserung der Klimaresilienz zu lenken, um die Abhängigkeit von EU-Mitteln zu verringern.

1.8.

Der Klimaanpassungsfonds muss adaptiv, flexibel und in der Lage sein, auf neue und sich abzeichnende Krisen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu reagieren.

1.9.

Die Funktionsweise des verstärkt auf rasche und dringende Reaktionen ausgerichteten Klimaanpassungsfonds muss unbedingt mit der übergeordneten Klima-, Umwelt- und Energiepolitik der EU in Einklang stehen, die langfristig die Abhängigkeit von Notfallmaßnahmen verringert sowie Mensch und Natur schützt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA erkennt an, dass die Bewältigung der Klimakrise mit den Verpflichtungen der EU im Rahmen des europäischen Grünen Deals zur Umsetzung des Übereinkommens von Paris und der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Einklang steht. Die Eindämmung der Ursachen des Klimawandels sollte in der EU-Klimapolitik zwar prioritär sein. Gleichzeitig gilt es jedoch nach Ansicht des EWSA, parallel zu den Plänen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen robuste und gestraffte Finanzierungsmechanismen zur Verfügung zu stellen, um den Klima- und den Energienotstand zu bewältigen, mit denen die Menschen in der EU bereits jetzt konfrontiert sind.

2.2.

Der EWSA strebt einen neuen Fonds für die Anpassung an den Klimawandel an. Dieser Vorschlag wird von mehreren Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterstützt (2). Der entsprechende Mechanismus sollte mit verfügbaren Mitteln der Kohäsionspolitik und der Aufbau- und Resilienzfazilität ausgestattet werden. Diese sollten in einem einzigen Fonds zusammengefasst werden, um die Effizienz und die Reaktionszeiten zu verbessern und die zentrale Überwachung der Bereiche zu erleichtern, in denen Finanzmittel am dringendsten benötigt werden. Dank dieses Mechanismus sollte die EU eher in der Lage sein, die Mitgliedstaaten bei der raschen Reaktion auf Klima-, Umwelt- und Energienotstände zu unterstützen. Derzeit würde er der Bewältigung von zwei der größten aktuellen Notstände dienen: der Erholung nach immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen und dem dringlichen Erfordernis von Energiewende und Übergang zur Energieautonomie Europas. Gleichwohl muss er flexibel sein, um damit wir für künftige Krisen gewappnet sind.

2.3.

Es werden bereits EU-Mittel für die Energiewende und den Wiederaufbau nach Katastrophen verwendet, allerdings wird ihre Wirksamkeit durch verschiedene Probleme beeinträchtigt. Die Mittel des Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF), der eingerichtet wurde, um beim Wiederaufbau nach Naturkatastrophen zu helfen, reichen einfach nicht aus, um auf das Ausmaß moderner Klimakatastrophen reagieren zu können. Die für die Energiewende vorgesehenen Finanzmittel sind umfangreicher, aber bei Weitem noch nicht ausreichend. Zudem werden die Mittel über mehrere unterschiedliche Fonds verwaltet, was die Gefahr von Inkohärenz oder Überschneidungen birgt. Zudem werden bei der Mittelverwaltung extrem kurzfristige Ziele mit langfristigeren Zielen zur Bekämpfung des Klimawandels vermischt. Die aufgrund der Invasion der Ukraine durch Russland notwendige Stärkung der Energieautonomie der EU hat deutlich gemacht, wie sehr unsere Energieabhängigkeit von feindlich gesinnten Ländern unsere Fähigkeit schwächt, entschlossen auf internationale Ereignisse zu reagieren.

2.4.

Der EWSA fordert daher die Einrichtung eines Klimaanpassungsfonds, der speziell dazu dient, auf drohende Umwelt-, Klima- und Energiekrisen zu reagieren, und über den die EU bei der Anpassung an eine neue Realität leider immer häufiger auftretender Krisen unterstützt wird. Der Klimaanpassungsfonds sollte als Finanzierungsreserve dienen, die in Zeiten eines akuten Investitionsbedarfs aktiviert werden kann.

2.5.

Der Fonds muss flexibel und robust genug für rasche und ehrgeizige Investitionen sein, mit denen der unmittelbare Bedarf der EU gedeckt werden kann. Gleichzeitig muss er mit der langfristigen Klima- und Energiepolitik in Einklang stehen. In diesem Fonds würden die klimabezogenen Mittel aus dem Kohäsionsfonds, EUSF-Mittel und die für Umweltreformen vorgesehenen Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität gebündelt. Durch die Bündelung dieser Mittel in einem einzigen Fonds mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf Sofortmaßnahmen lässt sich effizienter reagieren und der dringendste Investitionsbedarf leichter überwachen. Ferner dürfte es einfacher sein, das Geld unverzüglich dorthin zu lenken, wo es dringend benötigt wird.

2.6.

Die Modernisierung des Finanzierungsumfelds könnte auch eine Ausweitung des Anwendungsbereichs und eine Aufstockung der bestehenden Programme umfassen. Angesichts des gemeinsamen Interesses und der dringenden Notwendigkeit, den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen zu bekämpfen, muss nach Ansicht des EWSA künftig auch die Finanzierungsmethode verbessert werden. Selbst wenn — ganz zu Recht — eine goldene Regel für grüne Investitionen eingeführt würde, wären einige Mitgliedstaaten vielleicht immer noch nicht in der Lage, die erforderlichen massiven Investitionen aufzubringen, ohne die langfristige Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen zu gefährden. Daher empfiehlt der EWSA auch NextGenerationEU als Modell für die Finanzierung des Klimaanpassungsfonds. Zuschüsse und/oder Darlehen aus diesem Fonds sollten unter der Bedingung gewährt werden, dass der Mitgliedstaat oder die Region, der bzw. die sie erhält, in die Bekämpfung des Klimawandels oder seiner Folgen, d. h. beispielsweise in erneuerbare kohlenstofffreie Energien, investiert. Sämtliche derartigen politischen Maßnahmen sind unter Wahrung des in der Kohäsionspolitik verankerten Partnerschaftsprinzips an die obligatorische Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft zu knüpfen.

2.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Klimaanpassungsfonds allein nicht ausreicht, um die Folgen von Naturkatastrophen zu bewältigen und die Kosten für die Anpassung an den Klimawandel im Sinne einer größeren Resilienz zu decken. In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die Lücke beim Klimaversicherungsschutz hin, d. h. auf den Anteil der nicht versicherten wirtschaftlichen Verluste infolge klimabedingter Katastrophen. Der Versicherungsschutz gegen Naturkatastrophen ist in Europa nach wie vor gering: er deckte zwischen 1980 und 2017 nur etwa 35 % der Verluste aufgrund von Naturkatastrophen ab (3). Daher ist es wichtig, Versicherungen gegen Naturkatastrophen in den Mitgliedstaaten zu untersuchen und zu fördern sowie nationale Katastrophenversicherungssysteme zu unterstützen, die die Nutzer darin bestärken, in Anpassungsmaßnahmen zu investieren. So werden weniger EU-Mittel beansprucht und proaktive Investitionen gefördert. Durch den Dialog zwischen den Interessenträgern und innovative Versicherungsprodukte können neuartige Risikotransferlösungen innerhalb des Versicherungs- und Rückversicherungssystems entwickelt und gleichzeitig Finanzmarktstabilität und Verbraucherschutz Vorrang gegeben werden (4). So könnten die anstehenden Herausforderungen mit dem Klimaanpassungsfonds besser bewältigt werden.

2.8.

Zudem spielen EU-Fonds eine wichtige Rolle als Startkapital für die Mobilisierung privater Investitionen, auch für Anpassungen im Hinblick auf größere Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel.

3.   Der Klimaanpassungsfonds als Instrument für Katastrophenbewältigung und -vorsorge

3.1.

In einer interinstitutionellen EU-Studie wird die Dringlichkeit der Bewältigung der Klimakatastrophe verdeutlicht: „Eine Erhöhung um 1,5 oC ist das Maximum, das die Erde aushalten kann. Sollten die Temperaturen nach 2030 weiter ansteigen, wird es zu noch mehr Dürren, Überschwemmungen, extremer Hitze und Armut für hunderte Millionen Menschen kommen. Das würde wahrscheinlich den Tod der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen bedeuten.“ (5)

3.2.

Es zeigt sich immer mehr, dass wir auf die Herausforderungen des Klimawandels viel zu wenig vorbereitet sind. 2021 kam es in den EU-Mitgliedstaaten zu beispiellosen Verwüstungen aufgrund von Naturkatastrophen, die von tödlichen Überschwemmungen in Deutschland und den Benelux-Ländern bis hin zu katastrophalen Waldbränden in Griechenland und Spanien reichten. Verwüstungen und Naturkatastrophen werden aufgrund der Klimakrise und anderer Ursachen der Umweltzerstörung wahrscheinlich nicht mehr die Ausnahme sein, sondern zur Regel werden. Je mehr wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise und der Umweltzerstörung aufgeschoben, abgeschwächt oder verhindert werden, desto größer werden die Gefahren.

3.3.

Bei den Überschwemmungen in Westeuropa im Sommer 2021 (6) kamen mindestens 240 Menschen ums Leben und unzählige mehr wurden evakuiert und verloren ihr Zuhause. In Griechenland wurden bei einer Hitzewelle nicht weniger als 500 Waldbrände verzeichnet (7).

3.4.

Nicht nur das Ausmaß der Verwüstungen und die Zahl der Todesfälle aufgrund von Umweltkatastrophen im Jahr 2021 sind beispiellos, sondern auch die finanziellen Kosten für die betroffenen Gemeinschaften. Schätzungen zufolge verursachten die Überschwemmungen in Westeuropa Schäden in Höhe von 38 Mrd. EUR (8). In Griechenland genehmigte der Ministerpräsident ein Hilfspaket in Höhe von 500 Mio. EUR für die am stärksten von den Bränden betroffene Insel Evia (9).

3.5.

Kein Teil der Welt ist gegen die zunehmenden Gefahren von Naturkatastrophen gefeit. Ebenso ist kein EU-Mitgliedstaat ausreichend gerüstet, um solch massive Herausforderungen zu bewältigen — weder in Bezug auf Ressourcen und Material für die Bewältigung von Dürren, Waldbränden und Überschwemmungen noch in Bezug auf die Finanzmittel, die für den Wiederaufbau der betroffenen Gebiete nötig sind.

3.6.

Investitionen aus dem Klimaanpassungsfonds zur Bewältigung von Naturkatastrophen sollten dazu beitragen, die laufenden Ausgaben der europäischen Strukturfonds für die Katastrophenvorsorge und -vorbeugung zu ergänzen. Es sind enorme Investitionen erforderlich, um Klimaresilienz zu erlangen, z. B. in den Bau von Deichen und hochwasserresistenten Gebäuden, den Schutz vor Küstenerosion, Ausrüstung zur Überwachung und Eindämmung von Waldbränden sowie Technologien, die unter anderem zur Einsparung und Speicherung von Süßwasser in von Dürren betroffenen Gebieten beitragen. Während die Strukturfonds im Vorfeld wirksam sein sollten, um mögliche Schäden zu verringern, sollte der Klimaanpassungsfond rasch aktiv werden, wenn bestimmte Schäden mit solchen Präventivmaßnahmen nicht abgewehrt werden konnten.

3.7.

Der EWSA betont, dass die prognostizierten Auswirkungen der Klimakrise einen wesentlich robusteren Unterstützungsmechanismus als den derzeit bestehenden erfordern. Die Mittel des EUSF sind auf insgesamt 500 Mio. EUR pro Jahr begrenzt (10). Seit seiner Einrichtung im Jahr 2002 wurden 28 verschiedene europäische Länder mit mehr als 7 Mrd. EUR über diesen Fonds unterstützt (11). Das ist beeindruckend, würde aber keinesfalls ausreichen, um die Kosten für die allein im Jahr 2021 durch Naturkatastrophen entstandenen Schäden zu decken.

3.8.

Bei Naturkatastrophen besteht in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die die betroffenen Gebiete nicht so einfach verlassen können, ein höheres Risiko für Todesfälle. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Kinder. Es müssen gezielte Investitionen getätigt werden, um sicherzustellen, dass die Rettungsdienste über das Material und die Unterstützung durch zusätzliche Rettungskräfte verfügen, um allen Menschen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, zu helfen. Darüber hinaus sind Personen mit geringeren Ressourcen aufgrund der mit der Suche nach alternativen Unterkünften verbundenen Kosten und ihres eingeschränkten Zugangs zu eigenen Fahrzeugen weniger in der Lage, die betroffenen Gebiete zu verlassen. Dieses Problem sollte mit dem Klimaanpassungsfonds angegangen werden.

4.   Der Beitrag des Klimaanpassungsfonds zur Energiewende

4.1.

Nach Ansicht des EWSA geht es bei der Klimaanpassung auch um die Anpassung an neue Gegebenheiten der nachhaltigen Energieerzeugung. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen steht die EU vor großen und dringenden Herausforderungen bezüglich der Unabhängigkeit bei der Energieversorgung, die bei der Konzipierung des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), von NextGenerationEU und des Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung nicht vorgesehen waren. Bezüglich des REPowerEU-Plans (12) der Kommission und der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates stimmt der EWSA voll und ganz zu, dass nach der Invasion der Ukraine durch Russland die Unabhängigkeit der Energieversorgung, einschließlich des Ausbaus erneuerbarer Energien, wichtiger ist denn je.

4.2.

Nach Ansicht des EWSA gilt es, sich darauf zu konzentrieren, welche Rolle die grünen und kohlenstofffreien Energietechnologien, eine größere Energieeffizienz und eine geringere Energienachfrage dabei spielen können, dass mehr und erschwinglichere Energie in der EU zur Verfügung steht. Dadurch steigt der Schutz vor Preissteigerungen, die das Wirtschaftswachstum behindern, zu Energiearmut führen, Ungleichheiten verschärfen, die Produktionskosten erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU beeinträchtigen. Der EWSA begrüßt insbesondere die beschleunigte Einführung innovativer wasserstoffbasierter Lösungen und kostengünstiger Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen in der Industrie.

4.3.

Es muss dringend massiv in die Entwicklung einer umweltfreundlicheren Energieerzeugung in den EU-Mitgliedstaaten investiert werden. Während die grüne Energieerzeugung und die Energieautonomie nach wie vor ein langfristiges Ziel für die EU sein sollte, benötigt diese derzeit dringend erschwingliche Energie aus alternativen Quellen, darf aber ihre energiepolitischen Ziele dabei nicht gefährden. Der dringend erforderliche Investitionsbedarf, um den Bürgerinnen und Bürgern erschwingliche Energie aus alternativen Quellen zur Verfügung stellen zu können, ließe sich mit Hilfe des Klimaanpassungsfonds wirksamer und effizienter angehen als mit bestehenden Mechanismen.

4.4.

Nach Ansicht des EWSA wird immer klarer, dass die Energieabhängigkeit die Reaktionsmöglichkeiten der EU gegenüber Ländern wie Russland schwächt, wie die Reaktion der EU auf die Invasion der Ukraine deutlich macht. Die derzeitige übermäßige Abhängigkeit von russischem Gas untergräbt massiv die Fähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten, rasch Maßnahmen zu ergreifen, ohne ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger der Gefahr von Engpässen bei fossilen Brennstoffen und Energiearmut auszusetzen. Leider stellen die Pläne zur Beschaffung von Erdgas aus den USA keine nachhaltige oder umweltverträgliche Lösung dar (13).

4.5.

Mit dem Klimaanpassungsfonds sollte der dringende Bedarf an in der EU erzeugter grüner und kohlenstofffreier Energie finanziert werden, indem ehrgeizige öffentliche Aufträge für bestehende Technologien vergeben und Investitionen in die Entwicklung neuer Technologien für eine emissionsfreie Wirtschaft getätigt werden. Der EWSA mahnt, dass der Krieg in der Ukraine nicht zur Vernachlässigung der von der EU angestrebten ökologischen und sozialen Ziele führen darf, da diese langfristig die Grundlage für Wirtschaftskraft bilden.

4.6.

Die Fortschritte der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Senkung des Energieverbrauchs sind sehr unterschiedlich. 2018 lag der inländische Gesamtbedarf an Energie in nur elf der 27 Mitgliedstaaten unter ihrem für 2020 gesteckten Ziel. Alles in allem ist die EU weit von ihren Zielen für 2030 entfernt, weshalb zusätzliche Anstrengungen nötig sind. Zum Glück ist der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch in der EU stetig gestiegen. Im Paket „Fit für 55“ wurde vorgeschlagen, den Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch bis 2030 auf 40 % zu erhöhen. Nicht nur beim Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch gibt es innerhalb der EU große Unterschiede, sondern aufgrund von Haushaltszwängen und geografischen Gegebenheiten auch bei der Fähigkeit zu ihrer Erzeugung. In einigen Ländern ist die Photovoltaik-Leistung pro Kopf trotz großer Potenziale recht gering. Andere Länder erzielen aufgrund der günstigen geografischen Möglichkeiten für Wasserkraftanlagen einen hohen Anteil erneuerbarer Energien.

4.7.

Angesichts der Energiekrise und des wachsenden Bedarfs an Energieautonomie der EU muss die Energiewende dringend beschleunigt werden, wofür neue Finanzmittel benötigt werden. Ehrgeizigere Vorschläge im Rahmen der Initiative „Fit für 55“ mit höheren Zielwerten und früheren Fristen für erneuerbare Energien, z. B. durch die Einführung von Solar- und Windenergie und die Verbesserung der Energieeffizienz, erfordern eine solide Finanzierung. Die Kommission plant, diesen Finanzierungsbedarf im Rahmen der REPowerEU-Vorschläge (14) auf der Grundlage einer Kartierung des Bedarfs in den Mitgliedstaaten sowie der Anforderungen für grenzüberschreitende Investitionen zu bewerten. Der EWSA begrüßt dies, äußert aber auch die Sorge, dass die derzeitigen Finanzierungsinstrumente auf EU- und nationaler Ebene nicht ausreichen. Er weist darauf hin, dass gehandelt werden muss, damit erneuerbare Energien jetzt eine Lösung sind. Die Ausgaben für erneuerbare Energien über den Klimaanpassungsfonds sollten auch durch die Mobilisierung privater Investitionen gehebelt werden, wobei der Fonds als Anbieter von Startkapital fungieren sollte.

4.8.

Bei der Aufstockung der Investitionen zur Erhöhung der Energieautonomie der EU sollte der Schwerpunkt auf der Umstellung auf grüne und erneuerbare Energien liegen. Damit dies gelingt, benötigt die EU zusätzlich zu rascheren Investitionen über den Klimaanpassungsfonds auch erhebliche langfristige Investitionen in Forschung und Innovation sowie neue Formen der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs, um mehr saubere und erschwingliche Energie für alle bereitstellen zu können. Die Forschungs- und Innovationsagenda der EU ist bereits deutlich auf dieses Ziel ausgerichtet und birgt das Potenzial für greifbare Fortschritte. Dieser Forschungsschwerpunkt muss jedoch mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten einhergehen, umweltfreundlichere Formen der Energieerzeugung zu übernehmen, und mit ihrer Fähigkeit, von traditionelleren Formen der Energieerzeugung abzurücken, insbesondere in Mitgliedstaaten, die nach wie vor stark auf Kohle setzen.

4.9.

Der EWSA begrüßt zwar die im MFR und in NextGenerationEU bereits für die Klimapolitik vorgesehenen Mittel, betont aber auch, dass sich die unmittelbarsten Umweltgefahren für die Menschen in der EU seit der Budgetierung der vorgenannten Instrumente geändert haben und deshalb neue Ansätze erforderlich sind. Neben der Einrichtung dieses neuen Fonds fordert der EWSA die Kommission auf, das Finanzierungsumfeld zu überprüfen, um Finanzierungslücken und zusätzlichen Finanzierungsbedarf im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Klimapolitik zu ermitteln.

5.   Die Robustheit bestehender klima- und energiepolitischer Maßnahmen der EU und die Komplementarität des Klimaanpassungsfonds sicherstellen

5.1.

Der Klimaanpassungsfonds wäre die Antwort auf einen sehr spezifischen Bedarf an EU-Mitteln, d. h. er würde für ausreichende Mittel sorgen, um rasch auf Klima-, Umwelt- und Energiekrisen reagieren zu können. Allerdings muss dieser Fonds kohärent und auf die übergeordnete Strategie der EU in diesen Bereichen abgestimmt sein.

5.2.

Die Klimakrise ist ein systemisches, grenzübergreifendes Problem. Das bedeutet, dass unser Wirtschaftssystem geändert werden muss und sich die Regierungen unbedingt zu systemischen Lösungen verpflichten müssen, statt lediglich die Symptome zu behandeln.

5.3.

Die Tatsache, dass Einzelpersonen und Gruppen völlig unterschiedlich engagiert und betroffen sind, verschärft das Problem des Klimawandels weiter. Diese Unterschiede beziehen sich auf den CO2-Fußabdruck, wobei die CO2-Emissionen pro Kopf in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und -Regionen sehr stark variieren. Unterschiedlich sind auch die Folgen des Klimawandels, die Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen sowie schließlich die Auswirkungen klimapolitischer Maßnahmen und die bevorstehenden tiefgreifenden strukturellen Veränderungen.

5.4.

Innerhalb der EU weichen die Klimaeffekte in und zwischen den Mitgliedstaaten je nach deren geografischen Gegebenheiten und Wirtschaftslage und -struktur stark voneinander ab. Während bspw. 7 % der EU-Bevölkerung in Gebieten mit hohem Überschwemmungsrisiko wohnen, leben über 9 % in Gebieten, in denen es 120 Tage nicht regnet.

5.5.

Zudem sind für einen gerechten Übergang tragfähige soziale Bedingungen im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen und der europäischen Säule sozialer Rechte erforderlich. Darüber hinaus fordert der EWSA einen ganzheitlichen Ansatz für ökologische Nachhaltigkeit und verweist auf die Taxonomie-Verordnung, in der sechs Umweltziele festgelegt sind: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme.

5.6.

Die Kohäsionspolitik ist mit genehmigten Haushaltsmitteln von über 330 Mrd. EUR im laufenden Programmplanungszeitraum das größte und wichtigste gemeinsame Investitionsinstrument in Europa und spielt daher bei der Bewältigung der Klimakrise eine entscheidende Rolle. Die mit der Kohäsionspolitik abzubauenden Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten werden sehr wahrscheinlich auch durch den Klimawandel und seine Folgen beeinflusst. Im Aufbau- und Resilienzplan wiederum wird auch großes Gewicht auf das Klima gelegt. Es ist zwar ein deutliches Investitionsengagement zu erkennen, doch ist eine klare und strukturierte Übersicht darüber nötig, welche Mittel für die Bewältigung des Klimawandels bestimmt sind und wie sie verwaltet werden.

5.7.

Außerdem betont der EWSA, dass sich die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften politisch klar zur Verwirklichung der Klimaziele bekennen müssen. Der Mehr-Ebenen-Dialog zwischen den nationalen, regionalen und lokalen Behörden über die Planung und Umsetzung nationaler Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels auf regionaler und lokaler Ebene, über den direkten Zugang der lokalen Behörden zu Finanzmitteln und über die Überwachung der Fortschritte bei den beschlossenen Maßnahmen muss dringend vertieft werden. Die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft müssen in diesen Prozess einbezogen werden, um einen ausgewogenen Ansatz zu gewährleisten, der den Interessen aller Gruppen Rechnung trägt.

5.8.

Der EWSA unterstreicht die zentrale Rolle der lokalen und regionalen Partner sowie der Sozialpartner bei der Bewältigung der Folgen des Klimawandels. Leider reicht die Unterstützung, die viele dieser Akteure zur Finanzierung ihrer Aktivitäten erhalten, bei Weitem nicht aus, um die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen sie stehen. So muss u. a. der Fonds für einen gerechten Übergang aufgestockt werden, um bessere Unterstützung bieten zu können.

5.9.

Der EWSA besteht darauf, dass der Übergang zu ökologischer Nachhaltigkeit inklusiv sein und mit den Nachhaltigkeitszielen und der europäischen Säule sozialer Rechte in Einklang stehen muss. Hierbei müssen der Erhalt und die Schaffung hochwertiger grüner Arbeitsplätze zu den Schlüsselkriterien gehören, ebenso wie Aus- und Weiterbildungs- und inklusive Sozialmaßnahmen. Dadurch werden alternative klimaneutrale Wirtschaftssektoren zugunsten der regionalen Bevölkerung entwickelt. Es gilt, potenzielle regressive Effekte klimapolitischer Maßnahmen und struktureller Veränderungen auszugleichen. So sollten die Vergabe öffentlicher Aufträge und staatliche Beihilfen für Unternehmen an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Achtung der Arbeitnehmerrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden. Ferner gilt es, schutzbedürftige Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu bewahren und dabei auf alle Fälle Energiearmut zu vermeiden. Schließlich verweist der EWSA auf den Grundsatz der „Vermeidung erheblicher Beeinträchtigungen“ der EU-Taxonomie, wonach durch die Umsetzung der unterschiedlichen politischen Maßnahmen keine Umweltziele beeinträchtigt werden dürfen.

5.10.

Da formale und nichtformale Bildung wichtige Mechanismen zur Bekämpfung der Klimakrise sind, ist es unabdingbar, in zugängliche Bildungsmaßnahmen im Zusammenhang mit Klimawandel und aktiver Bürgerschaft zu investieren. Nachhaltigkeitserziehung ist ein wirksames Instrument, um junge Menschen in die Lage zu versetzen, bei der konkreten Ausrichtung der Klimapolitik mitzureden. Die Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung bei der Bekämpfung des Klimawandels wird zunehmend anerkannt.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/tackling-energy-poverty-and-eus-resilience-challenges-economic-and-social-perspective (siehe Seite 88 dieses Amtsblatts).

(2)  Regional development MEPs suggest to set-up a Climate Change Adaptation Fund | Aktuelles | Europäisches Parlament.

(3)  Economic losses from climate-related extremes in Europe — Europäische Umweltagentur.

(4)  Ein klimaresilientes Europa aufbauen — die neue Strategie zur Anpassung an den Klimawandel (COM(2021) 82 final, Abschnitt 2.2.3) und Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft (COM(2021) 390 final, Teile II und III, Maßnahme 2 Buchstabe c), Dashboard zu Versicherungslücken und Diskussionspapier der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA).

(5)  ESPAS_Report.pdf, S. 8.

(6)  https://www.brusselstimes.com/belgium-all-news/199487/europes-summer-floods-amount-to-worlds-second-most-costly-natural-disaster-of-2021.

(7)  https://www.reuters.com/world/europe/greece-starts-count-cost-after-week-devastating-fires-2021-08-09/.

(8)  Europe's summer floods amount to world's second-most costly natural disaster of 2021 (brusselstimes.com).

(9)  https://www.reuters.com/world/europe/greece-starts-count-cost-after-week-devastating-fires-2021-08-09/.

(10)  Solidaritätsfonds der Europäischen Union.

(11)  Solidaritätsfonds der Europäischen Union.

(12)  REPowerEU-Plan, COM(2022) 230 final.

(13)  U.S., EU strike LNG deal as Europe seeks to cut Russian gas | Reuters.

(14)  COM(2022) 230 final.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kryptowerte — Herausforderungen und Chancen“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/05)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Ko-Berichterstatterin:

Louise GRABO

Beschluss des Plenums

24.3.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA nimmt die wachsende Marktkapitalisierung von Kryptowerten zur Kenntnis und unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte, mit der dieser Bereich in der EU reguliert werden soll. Die beiden gesetzgebenden Organe haben am 30. Juni 2022 darüber eine vorläufige politische Einigung (1) erzielt.

1.2.

Der EWSA fordert auch einen soliden regulatorischen und operativen Rahmen, um eine bessere Verfolgung der Finanzströme der Transaktionen und die Einhaltung der Steuervorschriften bei Kryptowerten zu erreichen.

1.3.

Der EWSA empfiehlt den Behörden mit Nachdruck, sich an den Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ zu halten. Dafür müssen im Falle von Unternehmensgeschäften mit Kryptowerten, bei denen ähnliche Risiken wie bei Geschäften mit herkömmlichen Vermögenswerten abzudecken sind, die bereits bestehenden Regulierungsrahmen als Grundlage herangezogen werden. Der EWSA hält dies für notwendig, um Asymmetrien zu vermeiden zwischen analogen Diensten und Vermögenswerten, die aufgrund technischer Aspekte unter unterschiedliche Regulierungsrahmen fallen könnten.

1.4.

Ein Regulierungsrahmen für Kryptowerte muss in allen Rechtsordnungen und nicht nur innerhalb der EU einheitlich sein. Zum Schutz der Kunden sollten innerhalb und außerhalb der EU Standards auf der Grundlage gleicher Wettbewerbsbedingungen festgelegt werden. Der EWSA begrüßt die Geldtransferverordnung (2), die allerdings in einigen Punkten über den Bereich der traditionellen Finanztransaktionen hinausgeht. Der EWSA spricht sich sehr wohl für Innovationen in der EU aus. Jedoch sollten normale, vom Wesen her nicht finanzielle Produkte, die auf Blockchain-Technologien beruhen, nach dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ genau so wie entsprechende, auf nicht digitaler Grundlage beruhende Produkte und nicht wie Finanzinstrumente behandelt werden.

1.5.

Der EWSA weist angesichts der Klimaverpflichtungen der EU im Rahmen des Grünen Deals mit Besorgnis auf die ökologischen Folgen von Kryptowerten und dem damit verbundenen Schürfen hin. Neu aufkommende DLT wie Blockchain sollen zwar zu einer nachhaltigen Infrastruktur für eine kohlenstoffarme Zukunft beitragen können, allerdings gibt es noch keine schlüssigen Beweise dafür.

1.6.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Blockchain-Technologie als wichtigste Technologie im Bereich Kryptowerte zur Bewältigung der derzeit vorherrschenden Marktrisiken beitragen kann. Die potenziellen Vorteile der Blockchain reichen von Transaktionen in Echtzeit, mit denen eine Risikominderung und ein besseres Kapitalmanagement ermöglicht wird, bis hin zu einer verbesserten regulatorischen Wirksamkeit, beispielsweise durch die Verwendung von Blockchain für Geldwäsche-Kontrollen im Rahmen des KYC-Konzepts (Know-your-Customer).

1.7.

Der EWSA weist überdies darauf hin, dass technologische Entwicklungen dazu beigetragen können, bestehende Defizite bei der Einhaltung der Steuervorschriften zu beseitigen und so die Transparenz und Qualität der Daten zu verbessern, die zu Kontrollzwecken an die Steuerbehörden gesendet werden, sowie gegen Steuerbetrug und illegale Transaktionen vorzugehen.

1.8.

Weitere technologische Entwicklungen in Blockchain könnten auch Banken dazu veranlassen, innerhalb des Blockchain-Ökosystems zu kooperieren. Über eine Blockchain-basierte Handelsfinanzierungsplattform könnten sie Informationen und Erfahrungen mit der breiteren Blockchain-Gemeinschaft austauschen.

1.9.

Schließlich unterstützt der EWSA uneingeschränkt die Rolle der EZB bei der Überwachung der Entwicklungen im Kryptowerte-Bereich und ihrer möglichen Auswirkungen auf die Geldpolitik und der potenziellen Risiken von Kryptowerten für das reibungslose Funktionieren der Marktinfrastrukturen und Zahlungen sowie für die Stabilität des Finanzsystems.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Marktkapitalisierung von Kryptowerten hat sich im Jahr 2021 zwar auf 2,6 Billionen US-Dollar mehr als verdreifacht, dennoch machen Kryptowerte nur einen kleinen Teil der gesamten Vermögenswerte des globalen Finanzsystems aus (3). Zahlenmäßig sind Kryptowerte mit einigen etablierten Anlageklassen vergleichbar, reichen aber bei Weitem nicht an die Bedeutung von Staatsanleihen, Aktien und Derivaten heran. Das schnelle Wachstum von Kryptowerten hat mehrere neue Akteure im Ökosystem auf den Plan gerufen, wobei das Angebot an solchen Werten, die z. T. als „virtuelle Währungen“ oder digitale „Coins“ oder „Token“ bezeichnet werden, stetig zunimmt. Zu den bislang bekanntesten Kryptowerten zählen Bitcoin und Ether, auf die zusammen rund 60 % der gesamten Marktkapitalisierung von Kryptowerten entfallen.

2.2.

Im vergangenen Jahr hat die Nachfrage nach Stablecoins (4) (einer Klasse von Kryptowerten) durch technologische Entwicklungen, insbesondere Blockchain, ein beispielloses Wachstum erfahren. Konkret wurden fast alle anderen Kryptowerte im Handelsvolumen von Stablecoins übertroffen, die umfassend zur Abwicklung von Spot- und Derivategeschäften an Börsen verwendet werden. Die relative Preisstabilität von Stablecoins schützt die Inhaber solcher Kryptowerte auch vor der für andere Kryptowerte charakteristischen Volatilität.

2.3.

Das dezentrale Finanzwesen (DeFi) (5), das auf der Blockchain-Technologie basiert und Finanzdienstleistungen unter Verwendung von Stablecoins und anderen Kryptowerten erbringt, ist einer der Hauptgründe für die steigende Nachfrage nach Kryptowerten, da die Nutzer dabei ohne Zwischenhändler mit solchen Werten handeln können. Es ist auch keine Kreditrisikobewertung des Kunden während einer Transaktion erforderlich. Interessanterweise sind an solchen Transaktionen hauptsächlich institutionelle Akteure aus entwickelten Volkswirtschaften beteiligt, in denen Stablecoins handelsüblich sind (6).

2.4.

Die Blockchain- oder Distributed-Ledger-Technologie (DLT) kann als eine große öffentliche Datei beschrieben werden, die über ein riesiges Netzwerk von Computern geteilt und gespeichert wird, die sämtliche in Kryptowerten getätigte Transaktionen enthält. Da sie öffentlich geteilt und ihr Inhalt ebenso validiert wird, ist es unmöglich, Transaktionen rückgängig zu machen oder zu manipulieren. Die bei der Nutzung von DLT erstellte öffentliche Datei verhindert also betrügerische Transaktionen.

2.5.

Während des Höhepunkts der COVID-19-Krise, einer Zeit schwieriger Marktbedingungen, erreichte der Wert von Bitcoin Mitte Februar 2020 einen Höchststand von 10 367,53 USD und fiel Mitte März desselben Jahres auf 4 994,70 USD. Der starke Wertanstieg und -verfall hatte jedoch kaum etwas mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf den Aktienmarkt zu tun (7). Das scheinbar unberechenbare Verhalten des Bitcoin-Wertes ist ein Ergebnis des Phänomens, das Schürfer und Experten als „Halbierung“ bezeichnen. Die Halbierung von Bitcoin erfolgt alle vier Jahre oder jedes Mal, wenn 210 000 Blocks geschürft worden sind. Dies ereignete sich im Jahr 2012 mit den gleichen vorhersehbaren Schwankungen der Bitcoin-Preise. Dieses Muster hat sich seit 2012 kaum verändert.

2.6.

Aus heutiger Sicht scheinen Kryptowerte kein wesentliches Risiko für die Finanzstabilität darzustellen, wie der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board — FSB) in seinem Bericht von 2018 feststellte. Allerdings äußerte der FSB Bedenken hinsichtlich der Risiken, die eine erhöhte Marktkapitalisierung mit sich bringen könnte, insbesondere Risiken hinsichtlich des Anlegervertrauens, Risiken, die sich aus der direkten und indirekten Exposition von Finanzinstituten ergeben, und Risiken aus der Verwendung von Kryptowerten für Zahlungen und Tauschgeschäfte.

2.7.

Die gleichen Bedenken wurden von den Europäischen Aufsichtsbehörden (EBA, ESMA und EIOPA) geäußert. Sie haben die Verbraucher davor gewarnt, dass viele Kryptowerte sehr riskant und spekulativ und für die meisten Kleinanleger oder als Zahlungs- oder Tauschmittel nicht geeignet sind. Ihrer Ansicht nach besteht die sehr reale Möglichkeit, dass die Verbraucher ihr gesamtes investiertes Geld verlieren, wenn sie risikoreiche Kryptowerte kaufen. Sie empfehlen Verbrauchern auch dringend, gegenüber der Gefahr irreführender Werbung — einschließlich über soziale Medien und Influencer — wachsam zu sein. Die Verbraucher sollten besonders achtsam sein, wenn ein Produkt schnelle oder hohe Renditen verspricht.

2.8.

Die direkten Verbindungen zwischen Kryptowerten und systemrelevanten Finanzinstituten und Kernfinanzmärkten nehmen zwar rasch zu, sind aber derzeit begrenzt. Dennoch hat das Engagement der Institute auf den Märkten für Kryptowerte sowohl als Anleger als auch als Dienstleister im letzten Jahr zugenommen, wenn auch auf einem niedrigen Ausgangsniveau. Wenn das derzeitige Wachstum des Umfangs und der Verflechtung von Kryptowerten mit diesen Instituten anhält, könnte das Auswirkungen auf das globale Finanzsystem haben.

2.9.

Durch die Zunahme des Umfangs und der Verflechtung von Kryptowerten wird es zunehmend notwendig und wichtig, Kryptowerte konsequenten, vergleichbaren und objektiven Prüfungen zu unterziehen, um über die Genauigkeit und Vollständigkeit der Finanzinformationen Aufschluss zu erhalten, die der Öffentlichkeit übermittelt werden. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission im September 2020 einen Legislativvorschlag zur Harmonisierung und Legitimierung der Regulierung von Kryptowährungen in Kryptowerten vorgelegt (8). Der Vorschlag bietet einen umfassenden Rahmen für die Regulierung und Beaufsichtigung von Emittenten und Anbietern von Kryptowerten und Dienstleistungen für Kryptowerte, um die Verbraucher sowie die Integrität und Stabilität des Finanzsystems zu schützen. Am 30. Juni 2022 haben die beiden gesetzgebenden Organe eine vorläufige politische Einigung erzielt. Der endgültige Rechtsakt soll in den kommenden Monaten veröffentlicht werden und in Kraft treten. Der Standpunkt des EWSA hierzu ist in seiner Stellungnahme zu Kryptowerten und Distributed-Ledger-Technologie enthalten (9).

3.   Risiken durch Kryptowerte

3.1.

Das schnelle Wachstum der Kryptowerte war im Allgemeinen durch eine inadäquate operative Struktur, ein schwaches Cyber-Risikomanagement und einen schwachen politischen Steuerungsrahmen gekennzeichnet. Durch die Kombination dieser drei Faktoren nehmen die Risiken für Kunden zu, wobei Cybersicherheit ein Problem im Bereich Kryptowerte ist. Gestohlene Kryptowerte werden in der Regel auf illegalen Märkten angeboten und zur Finanzierung weiterer krimineller Aktivitäten verwendet. In ähnlicher Weise verlangen Kriminelle im Zusammenhang mit Ransomware-Angriffen von ihren Opfern häufig Lösegeldzahlungen in Kryptowährungen wie Bitcoin (10). Die beiden gesetzgebenden Organe haben sich unlängst auf eine Verordnung über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors (DORA) geeinigt, die derzeit fertiggestellt wird und in Kürze veröffentlicht werden soll. In dieser Verordnung werden einheitliche Anforderungen für die Sicherheit von Netz- und Informationssystemen festgelegt, die die Geschäftsprozesse von Finanzunternehmen — darunter Krypto-Dienstleister — unterstützen, die zur Erreichung eines hohen gemeinsamen Niveaus digitaler Betriebsstabilität erforderlich sind.

3.2.

Das Kryptowerte-Ökosystem ist in gewissem Maße auch einem Konzentrationsrisiko ausgesetzt, da der Handel von einer relativ kleinen Zahl von Unternehmen dominiert wird (11). In einer Studie wurde gezeigt, dass weniger als 10 000 Menschen weltweit gemeinsam 4,8 Millionen Bitcoins besitzen (12) — fast ein Drittel der bisher geschürften 18,5 Millionen Bitcoins. Diese hatten einen Marktwert von fast 600 Milliarden US-Dollar. Diese Situation hat sich nicht wesentlich geändert. Das Ökosystem für Bitcoin wird nach wie vor von wenigen großen Akteuren beherrscht (großen Schürfern (13), Bitcoin-Inhabern und Bitcoin-Händlern). Diese Konzentration macht Bitcoin anfällig für systemische Risiken und impliziert auch, dass der Großteil der Gewinne aus einer umfassenderen Einführung wahrscheinlich überproportional einer kleinen Gruppe von Teilnehmern zufließen würden (14).

3.3.

In seinem jüngsten Bericht (15) stellt der FSB fest, dass Marktsysteme wie das Bankenwesen weitgehend von der Volatilität von Kryptowerte abgeschirmt waren. Der FSB warnt jedoch vor der zunehmenden Bedeutung digitaler Werte im operativen Geschäft von Finanzinstituten. Sollte eine wichtige Stablecoin-Kryptowährung (die häufig für Zahlungen verwendet wird) ausfallen, könnte dies in der Folge die Finanzstabilität beeinträchtigen — und dies in einer Zeit wachsender Unsicherheit aufgrund des Krieges in der Ukraine mit anhaltend hohen Rohstoffpreisen. Eine ausfallende Stablecoin könnte auch zu Liquiditätsengpässen innerhalb des breiteren Ökosystems für Kryptowerte führen, wodurch das Handelsvolumen begrenzt würde.

3.4.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Bemühungen der EU, die Aufsicht über Kryptowerte zu verstärken, wie er bereits in einer früheren Stellungnahme (16) zum Ausdruck gebracht hat. Aufgrund ihrer vermeintlichen Anonymität können Kryptowerte jedoch trotz Verbesserungen bei ihrer Nachverfolgung immer noch für kriminelle Machenschaften missbraucht werden. Kryptowerte waren in letzter Zeit auch die bevorzugte Währung von Cyber-Angreifern, die sich mit Ransomware in Systeme hacken und dann Bitcoin-Zahlungen als Gegenleistung dafür zu verlangen, dass sie wertvolle Unternehmensdaten nicht löschen oder offenlegen. Darüber hinaus wurde eine Zunahme von Krypto-Schneeballsystemen gemeldet. Nach Aussagen der EZB werden Kryptowährungen offenbar dafür verwendet, um Sanktionen, die wegen des Krieges in der Ukraine gegen russische Oligarchen verhängt wurden, zu umgehen (17). Das Risiko des Missbrauchs von Kryptowerten zur Umgehung der Sanktionen gegen Russland macht erneut deutlich, dass diese Märkte verpflichtet werden müssen, die erforderlichen Standards einzuhalten, unter anderem in puncto Informationen über Anleger, Geldwäsche und Offenlegungspflichten.

3.5.

Irreführende Informationen und mangelnde Transparenz geben ebenfalls Anlass zu großer Sorge. Einige Kryptowerte werden in der Öffentlichkeit aggressiv beworben, wobei Marketingmaterial und andere Informationen verwendet werden, die unklar, unvollständig, ungenau oder absichtlich irreführend sein können. Dabei werden die potenziellen Gewinne überbewertet und die damit verbundenen Risiken vernachlässigt. Das Marketing erfolgt häufig über Influencer in den sozialen Medien, die dabei nicht offenbaren, ob sie einen finanziellen Anreiz haben, bestimmte Kryptowerte zu vermarkten. Dies traf insbesondere beim jüngsten Ansturm auf NFT-Kunst (Non-Fungible Token (NFT)) zu, an dem verschiedene Prominente und Sportler beteiligt waren.

3.6.

Die EU-Aufsichtsbehörden gehen davon aus, dass die extremen Kursschwankungen der Kryptowerte ein großes Anlegerrisiko darstellen, wie es aber auch in ähnlicher Form bei Schwankungen der weltweiten Aktienmärkte auftreten kann. Tatsächlich unterliegen viele Kryptowerte plötzlichen und extremen Preisschwankungen, wodurch sie hochspekulativ werden, wobei die Preise hauptsächlich von der Nachfrage der Anleger abhängen. Extreme Preisschwankungen lassen neue Zweifel an der Zukunft von Kryptowährungen als Anlageklasse aufkommen.

3.7.

Besorgniserregend ist, dass es für Anleger bei Kryptowerten oft nahezu unmöglich ist, Schadensersatzansprüche oder andere rechtliche Ansprüche wegen z. B. irreführender Informationen geltend zu machen, weil diese Vermögenswerte bisher nicht unter den bestehenden Schutz der aktuellen EU-Vorschriften für Finanzdienstleistungen fallen. Anleger sind auch nicht durch die Einlagensicherungssysteme der Banken geschützt, da diese nur Währungen abdecken und keine Kryptowerte, Aktien oder Anleihen.

3.8.

Aus Sicht der EU soll mit dem Inkrafttreten von MiCA das Problem der derzeit fehlenden Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten gelöst werden. In Bezug auf die Besteuerung gelten in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze, wobei einige Länder eine Kapitalertragssteuer auf die aus Kryptowerten stammenden Gewinne mit Steuersätzen von 0–50 % erheben. Im Jahr 2020 würdigte die EU mit der Verabschiedung des Pakets zur Digitalisierung des Finanzsektors zur Regulierung von FinTech das Potenzial des digitalen Finanzwesens in Bezug auf Innovation und Wettbewerb. Gleichzeitig sollen damit die entsprechenden Risiken gemindert werden.

3.9.

Der EWSA fordert einen wirksamen regulatorischen und operativen Rahmen, um eine bessere Verfolgung der Transaktionen und die Einhaltung der Steuervorschriften bei Kryptowerten zu erreichen. Der EWSA erkennt zwar die Probleme im Zusammenhang mit der fehlenden zentralen Kontrolle von Kryptowerten, ihrer Pseudoanonymität, schwierigen Bewertung und ihren hybriden Merkmalen sowie der raschen Entwicklung der zugrunde liegenden Technologie. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Einhaltung der Steuervorschriften auf der Grundlage eines symmetrischen Ansatzes durchaus erreichbar ist. Einer aktuellen Studie (18) zufolge belief sich das Potenzial für Steuereinnahmen aus Kapitalgewinnen aus Bitcoin in der EU im Jahr 2020 auf insgesamt 850 Mio. EUR, was das erhebliche Steueraufkommen verdeutlicht, das in diesem Sektor erzielt werden könnte. Das setzt natürlich voraus, dass Einkünfte aus Kryptowerten ähnlich wie herkömmliche Finanzinstrumente besteuert werden. Dies wiederum erfordert die ordnungsgemäße Durchsetzung der Steuerpflichten auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Berichterstattung und den Zugang der Steuerverwaltungen zu den Informationen. Ein zusätzlicher Vorteil einer verbesserten Echtzeit-Nachverfolgung kommerzieller Verkäufe wäre eine Ausweitung auf die MwSt.-Erhebung.

3.10.

Es ist darauf hinzuweisen, dass einige Kryptowerte als Finanzinstrumente im Rahmen der zweiten Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) oder als elektronisches Geld im Sinne der E-Geld-Richtlinie (EMD) oder als Fonds gemäß der zweiten Zahlungsdiensterichtlinie (PSD 2) gelten können. Das Problem besteht darin, dass einige Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene maßgeschneiderte Vorschriften für Kryptowerte eingeführt haben, die außerhalb der geltenden EU-Vorschriften liegen, was zu einer regulatorischen Fragmentierung führt. Dadurch wird der Wettbewerb im Binnenmarkt verzerrt und Anbietern von Kryptowerte-Diensten wird die grenzüberschreitende Ausweitung ihrer Aktivitäten erschwert, was zu Aufsichtsarbitrage führt.

3.11.

Der EWSA befürwortet ein Gesamtkonzept, das sowohl die Kryptowerte erfasst, die als existierende Finanzinstrumente angesehen werden können, als auch jene, die derzeit nicht in den Regulierungsrahmen fallen. Er empfiehlt zugleich nachdrücklich, dass sich die Behörden an den Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ halten. Dafür müssen im Falle von Unternehmensgeschäften mit Kryptowerten, bei denen ähnliche Risiken wie bei Geschäften mit herkömmlichen Vermögenswerten abzudecken sind, die bereits bestehenden Regulierungsrahmen als Grundlage herangezogen werden. Der EWSA hält dies für notwendig, um Asymmetrien zu vermeiden zwischen analogen Diensten und Vermögenswerten, die aufgrund technischer Aspekte unter unterschiedliche Regulierungsrahmen fallen könnten. Darüber hinaus müssen Innovationen im Bereich Kryptowerte mit wirksamen regulatorischen Lösungen einhergehen, um die Risiken zu mindern.

3.12.

Schließlich sind die Umweltauswirkungen von Kryptowerten und mit ihnen verbundener Schürfaktivitäten angesichts der Klimaverpflichtungen der EU im Rahmen des Grünen Deal von enormer Bedeutung. Aus einer aktuellen Studie der Zentralbank der Niederlande (2021) geht hervor, dass der CO2-Fußabdruck des Bitcoin-Netzwerks zunimmt, und zwar mit einem Gesamtstromverbrauch, der dem der Niederlande vergleichbar ist. Daraus resultieren Umweltkosten von 4,2 Milliarden Euro (19). Allerdings kann es sinnvoll sein, vergleichsweise den Gesamtstromverbrauch der weltweiten Bankenbranche heranzuziehen. Der EWSA merkt in diesem Zusammenhang an, dass neu aufkommende DLT wie Blockchain zwar offenbar zur Bereitstellung einer nachhaltigen Infrastruktur für eine kohlenstoffarme Zukunft eingesetzt werden, es allerdings noch keine konkreten Beweise dafür gibt, dass sie wirklich einen Beitrag dazu leisten. Positiv zu vermerken sind die Bestrebungen der Entwickler im gesamten Energiesektor, DLT-Technologien einzusetzen, um die Energieverteilung zu dezentralisierten, die Energienetze durch intelligente Vertragslösungen zu steuern und Last- und Bedarfssteuerungsdienste im Zusammenhang mit der Stromversorgung bereitzustellen.

4.   Mit Kryptowerten verbundene Chancen

4.1.

Angesichts der oben genannten Risiken ist unklar, ob Kryptowährungen jemals zu einem allgemein gebräuchlichen Tauschmittel werden. Es ist jedoch durchaus anzunehmen, dass die mit Kryptowerten verbundenen Mängel, wie die Verarbeitungskapazität und der sehr hohe Energieverbrauch für ihr Schürfen, mit künftigen technologischen Entwicklungen behoben werden können. Das Gleiche gilt für die damit verbundenen Risiken von kriminellen Aktivitäten und Geldwäsche. Der illegale Anteil des Transaktionsvolumens von Kryptowährungen ist von 0,62 % im Jahr 2020 auf 0,15 % im Jahr 2021 gesunken (20) und die Strafverfolgungsbehörden werden immer besser darin, illegale Kryptowährungen aufzuspüren und zu beschlagnahmen. Vor diesem Hintergrund stellt der EWSA fest, dass die Kommission seit der Veröffentlichung ihres FinTech-Aktionsplans im März 2018 sowohl die Chancen als auch die Probleme im Zusammenhang mit Kryptowerten analysiert hat.

4.2.

Es ist notwendig, einen robusten Rechtsrahmen für Kryptowerte zu schaffen, wie im Vorschlag der Kommission (21) skizziert wird. Zugleich kann Blockchain als wichtigste zugrunde liegende Technologie für Kryptowerte nach Ansicht des EWSA viel zur Behebung der bestehenden Risiken beitragen. Die potenziellen Vorteile der Blockchain reichen von Transaktionen in Echtzeit, mit denen eine Risikominderung und ein besseres Kapitalmanagement ermöglicht wird, bis hin zu einer verbesserten regulatorischen Wirksamkeit, beispielsweise durch die Verwendung von Blockchain für Geldwäsche-Kontrollen im Rahmen des KYC-Konzepts (Know-your-Customer). Darüber hinaus wird mit Blockchain auch eine verbesserte Cybersicherheit ermöglicht, da das Hacken in ein Blockchain-basiertes Ökosystem in Bezug auf Netzwerk und Rechenleistung exorbitante Ressourcen erfordern würde. Es besteht auch ein enormes Potenzial für die Integration mit anderen neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge, um die Technologie für Kryptowerte zu unterstützen.

4.3.

Wie bereits erwähnt, ist der Mangel an Transparenz und Informationen ein ernstes Problem im Zusammenhang mit Kryptowerten, was sowohl zu Pseudo-Anonymität als auch zu spärlichen Steuerdaten führt. Weitere technologische Entwicklungen können dazu beitragen, bestehende Defizite zu beseitigen und so die Transparenz und Qualität der Daten zu verbessern, die zu Zwecken der Einhaltung der Vorschriften an die Steuerbehörden gesendet werden, sowie gegen Steuerbetrug und illegale Transaktionen vorzugehen. Darüber hinaus könnten auch Synergien zwischen Blockchain und künstlicher Intelligenz eine Lösung sein, da durch die Blockchain-Technologie hochwertige Daten für KI-Anwendungen bereitgestellt, transparente Muster für Benchmarking-Studien geliefert und die Integrität einer automatisierten Steuerveranlagung sichergestellt werden.

4.4.

Weitere technologische Entwicklungen in Blockchain könnten auch Banken dazu veranlassen, innerhalb des Blockchain-Ökosystems zu kooperieren. Über eine Handelsplattform könnten sie Informationen und Erfahrungen mit der breiteren Blockchain-Gemeinschaft austauschen. Mit einer solchen Infrastruktur könnte ein vollständig integrierter End-To-End-Service für den Handel, die Abwicklung und die Verwahrung digitaler Vermögenswerte auf Blockchain-Basis geboten werden. Damit könnte auch ein sicheres Umfeld für die Ausgabe und den Handel digitaler Vermögenswerte geboten, die Tokenisierung bestehender Wertpapiere und nicht bankfähiger Vermögenswerte ermöglicht und damit bislang nicht handelbare Vermögenswerte handelbar gemacht werden.

4.5.

Um das zu erreichen, bedarf es natürlich eines robusten regulatorischen Rahmens. Allerdings muss der Regulierungsrahmen in allen Rechtsordnungen und nicht nur innerhalb der EU einheitlich sein. Zum Schutz der Verbraucher sollten innerhalb und außerhalb der EU Standards festgelegt werden, die auf den Grundsätzen gleicher Wettbewerbsbedingungen beruhen. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Geldtransferverordnung, die allerdings in einigen Punkten über den Bereich der traditionellen Finanztransaktionen hinausgeht. Der EWSA spricht sich sehr wohl für Innovationen in der EU aus. Jedoch sollten normale, vom Wesen her nicht finanzielle Produkte, die auf Blockchain-Technologien beruhen, nach dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ genau so wie entsprechende, auf nicht digitaler Grundlage beruhende Produkte und nicht wie Finanzinstrumente behandelt werden.

4.6.

Diese letzte Erwägung bezieht sich auch auf die mögliche Einführung eines digitalen Euro. Dabei muss klargestellt werden, dass ein digitaler Euro kein Kryptowert ist, sondern ein Euro in anderer Form (22). Mit einem digitalen Euro könnten die EU-Bürgerinnen und -Bürger im gesamten Euro-Währungsgebiet digitale Zahlungen tätigen, in gleicher Weise, wie sie Bargeld für Barzahlungen verwenden können. Es gibt durchaus Argumente für und gegen die Einführung eines digitalen Euro. Diese scheint jedoch angesichts der zunehmenden Digitalisierung des Zahlungsverkehrs nur ein logischer Schritt zu sein. Es handelt sich aus zwei verschiedenen Gründen um eine Maßnahme von entscheidender Bedeutung: Zum einen könnte ein digitaler Euro der marktbeherrschenden Stellung der USA auf dem Stablecoin-Markt etwas entgegensetzen. Zum anderen ist es wichtig, dass die EZB auch künftig die Entwicklungen im Kryptowerte-Bereich und ihre möglichen Auswirkungen auf die Geldpolitik und die potenziellen Risiken von Kryptowerten für das reibungslose Funktionieren der Marktinfrastrukturen und Zahlungen sowie für die Stabilität des Finanzsystems überwacht.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der Text wird voraussichtlich nach seiner Billigung durch den AStV Ende September 2022 fertiggestellt und daher höchstwahrscheinlich erst nach der Verabschiedung dieser Stellungnahme des EWSA vorliegen.

(2)  Die Geldtransferverordnung ist im Wesentlichen das Ergebnis der Empfehlung der Financial Action Task Force (FATF), wonach die Zahlungsdienstleister verpflichtet werden sollten, bei Geldtransfers Angaben zum Zahler und zum Zahlungsempfänger zu übermitteln. Auch neue wie die für Transaktionen mit Kryptowerten verwendeten Technologien fallen unter die Geldtransferverordnung.

(3)  Assessment of risks to financial stability from crypto-assets.

(4)  Liao und Caramichael: „Stablecoins: Growth potential and impact on banking“, International Finance Discussion Papers Nr. 1334, Washington: Board of Governors of the Federal Reserve System, 2022.

(5)  DeFi bedeutet im Wesentlichen die dezentrale Erbringung von Finanzdienstleistungen, d. h. ohne Mitwirkung eines Mittlers zur leichteren Abwicklung der Finanzdienstleistung. DeFi-Anwendungen werden von Einzelpersonen entwickelt und dann in die Blockchain eingetragen. Dabei verselbstständigen sie sich nach und nach, da ihre Governance an die Gesamtheit der Nutzer abgegeben wird. Die reinste Form einer DeFi-Anwendung ist eine dezentrale autonome Organisation (DAO). Dies steht im Gegensatz zum traditionellen Finanzsystem, das sich auf zentrale Intermediäre stützt, die den Zugang zu den Finanzdienstleistungen kontrollieren. Eine DeFi entsteht nicht allein durch die Nutzung der Blockchain-Technologie, sondern vielmehr führt das Fehlen von Intermediären (z. B. durch Blockchain ermöglicht) zu einer DeFi.

(6)  Chainalysis (2021).

(7)  Siehe Sajeev, K.C., Afjal, M.: „Contagion effect of cryptocurrency on the securities market: a study of Bitcoin volatility using diagonal BEKK and DCC GARCH models“. SN Business & Economics 2, 57 (2022).

(8)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, COM(2020) 593 final, 24.9.2020.

(9)  ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 31.

(10)  Crypto-assets: Key developments, regulatory concerns and responses.

(11)  Das Konzentrationsrisiko ist hierbei relativ zu betrachten und auf das Kryptowerte-Ökosystem beschränkt. Es hat keinen Einfluss auf die Konzentration des Reichtums, wie sie z. B. in der Forbes-Liste der Milliardäre auf der Welt zum Ausdruck kommt.

(12)  Makarov, I., Schoar, A., „Blockchain Analysis of the Bitcoin Market“ (18. April 2022).

(13)  Beim Schürfen von Krypto-Werten (Mining) werden durch Lösen komplexer mathematischer Probleme neue Blöcke erzeugt und anschließend an die Blockchain angefügt. Durch das Mining werden Kryptowährungstransaktionen überprüft und Proof of Work erbracht, wobei diese Informationen einem Block der Blockchain hinzugefügt werden, der als Ledger für die Mining-Transaktionen fungiert.

(14)  Makarov, I., Schoar, A., „Blockchain Analysis of the Bitcoin Market“ (18. April 2022).

(15)  Assessment of risks to financial stability from crypto-assets.

(16)  Stellungnahme des EWSA zu Kryptowerten und Distributed-Ledger-Technologie, ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 31.

(17)  EZB-Präsidentin Christine Lagarde: Lagarde says that cryptos are being used to evade sanctions imposed on Russia.

(18)  Thiemann, A. (2021): „Cryptocurrencies: An empirical View from a Tax Perspective“, JRC Working Papers on Taxation and Structural Reforms No 12/2021, Europäische Kommission, Gemeinsame Forschungsstelle, Sevilla, JRC126109.

(19)  Trespalacios, J.P. und Dijk, J.: „The carbon footprint of bitcoin“, De Nederlandsche Bank, DNB Analysis Series, 2021.

(20)  The Chainalysis 2022 Crypto Crime Report.

(21)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, COM(2020) 593 final.

(22)  Siehe Initiativstellungnahme zum Thema Digitaler Euro (noch nicht verabschiedet).


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategie für das Gesundheitswesen und seine Arbeitskräfte für die Zukunft Europas“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/06)

Berichterstatter:

Danko RELIĆ

Berichterstatterin:

Zoe TZOTZE-LANARA

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/4/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekennt sich ausdrücklich zu dem Grundsatz, dass gut ausgebildete, qualifizierte und motivierte Fachkräfte des Gesundheitswesens Voraussetzung für starke und widerstandsfähige Gesundheitssysteme und für deren Ausbau sind. Dies ist ein maßgeblicher Faktor für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik und damit für das Erreichen einer medizinischen Grundversorgung für alle, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht, und für das Recht auf Gesundheit, wie es im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas empfohlen wurde. Es geht darum, allen Europäerinnen und Europäern einen gleichberechtigten und nachhaltigen Zugang zu einer erschwinglichen, präventiven, kurativen und hochwertigen Gesundheitsversorgung zu garantieren.

1.2.

Der EWSA begrüßt die Initiative für Maßnahmen auf EU-Ebene zur Stärkung der Langzeitpflege und der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung, die im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte vorgesehen ist und zu hochwertigen, zugänglichen, gerechten und erschwinglichen Pflege- und Betreuungsdiensten sowie zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter und der sozialen Gerechtigkeit beitragen wird.

1.3.

Der EWSA fordert einen transformativen Ansatz für Pflege und Betreuung, bei dem die Menschen mit ihren Rechten und Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen und an einschlägigen Debatten, Konsultationen und Entscheidungen beteiligt werden. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, bei der Ausarbeitung einer Strategie für Pflege und Betreuung, die den Zusammenhalt zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten sowie eine Aufwärtskonvergenz bei Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege fördern kann, ehrgeizige Ziele anzustreben.

1.4.

Eine europäische Pflege- und Betreuungsgarantie würde sicherstellen, dass alle Menschen in Europa während ihres gesamten Lebens Zugang zu einer erschwinglichen und hochwertigen Gesundheitsversorgung, Pflege und Betreuung haben, sie würde die Defizite in der Pflege und Betreuung angehen und angemessene Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Die Unterstützung und bessere Anerkennung informeller Pflegekräfte und Strategien zur Bewältigung von Problemen bei bezahlter und unbezahlter informeller Pflege und Betreuung sind zentrale Faktoren für eine effiziente Ressourcennutzung.

1.5.

Da effektive, rechenschaftspflichtige und gut finanzierte öffentliche Dienste nach wie vor wichtig sind, um einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Pflege und Betreuung zu gewährleisten, fordert der EWSA die Europäische Union auf, für Komplementarität zwischen allen Anbietern solidarischer Pflege- und Betreuungsangebote zu sorgen, Investitionen in die Sozialwirtschaft und öffentliche Dienste zu fördern und sozialwirtschaftliche Akteure im Pflege- und Betreuungsbereich zu unterstützen.

1.6.

Bei der Personalplanung sollte der Entwicklung der digitalen Technologien Rechnung getragen werden, da Innovationen in diesen Bereichen Möglichkeiten für neue Arbeitsumgebungen und -bedingungen in der Pflege und Betreuung schaffen und neue Kompetenzen erfordern. Die Unterstützung der Digitalisierung von Langzeitpflegediensten spielt eine wichtige Rolle bei der Überwindung der digitalen Kluft und der digitalen Armut.

1.7.

Der EWSA hält es für erforderlich, den Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der Europäischen Union zu aktualisieren (1). Die Entwicklung einer integrierten Planung und Prognose in Bezug auf den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen und die Anpassung der Kompetenzen der Fachkräfte im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege und -betreuung sind für die Verbesserung des Zugangs zu diesen Diensten und ihrer Qualität von entscheidender Bedeutung. Ein aktualisierter Plan könnte eine bessere EU-weite Datenerhebung gewährleisten, das Potenzial der Digitalisierung in der gesamten EU nutzen und die Entwicklung von Methoden für eine bessere Vorausschätzung des Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarfs anstoßen.

1.8.

Der EWSA betont, dass das Recht auf Mobilität in der EU gewahrt werden muss. Durch die grenzübergreifende Mobilität erhält die Personalplanung eine zusätzliche Dimension. Die Einrichtung einer europäischen Stelle zur Überwachung der Arbeitskräftesituation im Gesundheitswesen, die die Mitgliedstaaten bei der Schaffung und Betreibung von Planungsstrukturen sowie bei der Abstimmung grenzübergreifender Aspekte der Planung unterstützt, würde daher die einschlägige Infrastruktur langfristig stärken.

1.9.

Der soziale Dialog, an dem der Staat, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie ihre Vertretungsorganisationen beteiligt sind, ist für eine transformative Strategie für Pflege und Betreuung sowie für resiliente Gesundheits- und Pflegesysteme in der EU von entscheidender Bedeutung. An der Gestaltung eines inklusiven, resilienten und auf Gleichstellung beruhenden Ökosystems für Gesundheit, Pflege und Betreuung müssen sowohl die Pflegenden als auch die Pflegebedürftigen beteiligt werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen zum Thema Pflege und Betreuung

2.1.

Langzeitpflege und -betreuung sind von entscheidender Bedeutung für den sozialen Schutz und das Wohlergehen der Bürger in der EU und umfassen eine Reihe von Dienstleistungen und Unterstützung für Menschen, die über einen längeren Zeitraum unter geistigen und/oder körperlichen Gebrechen und/oder Behinderungen leiden, auf Hilfe im Alltag angewiesen sind und/oder ständige Pflege durch professionelle oder nichtprofessionelle, bezahlte/unbezahlte Pflegekräfte zu Hause oder in Pflege- und Wohneinrichtungen benötigen (2).

2.2.

Durch die COVID-19-Pandemie wurden die Widerstandsfähigkeit und Angemessenheit der Pflege- und Betreuungssysteme in der gesamten EU auf eine harte Probe gestellt. Dabei traten in vielen Ländern strukturelle Probleme zutage, darunter die Unterfinanzierung und personelle Unterbesetzung in vielen Ländern. Die Lage könnte sich durch die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die Inflation, Unsicherheit und die Energiekrise noch verschlimmern.

2.3.

In der europäischen Säule sozialer Rechte sind das Recht auf Pflege und Betreuung und das Recht aller auf einen bedarfsorientierten Zugang zu hochwertigen formellen Pflegediensten verankert. Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2021 angekündigte neue europäische Strategie für Pflege und Betreuung umfasst zwei Empfehlungen des Rates zur Kinderbetreuung (Überarbeitung der Barcelona-Ziele) und zur Langzeitpflege und -betreuung. Das Europäische Parlament hat empfohlen, das lebensbegleitende Pflege- und Betreuungsangebot auf der Grundlage der Bedürfnisse von Pflegebedürftigen und Pflegenden zu verbessern, und die Kommission nachdrücklich aufgefordert, die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung hochwertiger Pflege- und Betreuungsdienste zu unterstützen (3).

2.4.

Der EWSA hat in mehreren Stellungnahmen zum Betreuungs- und Pflegeangebot in der EU (4) die Notwendigkeit betont, in eine hochwertige, nachhaltige und zugängliche Pflege und Betreuung für alle zu investieren und die Defizite bei der Kinderbetreuung und der Langzeitpflege und -betreuung zu beheben. Er hat Mängel bei der Bereitstellung von Pflege und Betreuung für alle festgestellt, die sich in der Diversifizierung und Fragmentierung des Dienstleistungsangebots, der ungenügenden Regulierung dieser Dienstleistungen, den Schwierigkeiten bei der Koordinierung der Verwaltungsebenen, den Problemen bei der Abstimmung zwischen Sozial- und Gesundheitsdiensten, der zunehmenden Kommerzialisierung der Dienstleistungen und der Notwendigkeit von Präventionsstrategien und -maßnahmen zeigen. Zudem hat der EWSA die Stereotypisierung und andere Formen der Diskriminierung älterer Menschen hervorgehoben und die Notwendigkeit einer auf den Menschen ausgerichteten und durch die Digitalisierung unterstützten Pflege betont. In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA die umfassende Digitalisierung zur Minimierung unnötigen Verwaltungsaufwands für die Pflegekräfte und die Anwendung der besten Ergebnisse intelligenter Rechtsetzung.

3.   Ein transformativer Ansatz für Pflege und Betreuung

3.1.

Für eine wirksame europäische Strategie für Pflege und Betreuung muss auf einen transformativen und ehrgeizigen Ansatz hingewirkt werden, der die Menschen mit ihren Grundrechten und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt und ihre Beteiligung an den Beratungen und Entscheidungen gewährleistet. Außerdem sollte ein solcher Ansatz zum Zusammenhalt sowie zu einer Aufwärtskonvergenz zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten beitragen.

3.2.

Eine europäische Pflege- und Betreuungsgarantie mit einem transformativen Ansatz würde sicherstellen, dass alle Menschen in Europa während ihres gesamten Lebens Zugang zu einer erschwinglichen und hochwertigen Pflege und Betreuung haben. Sie würde den Mitgliedstaaten einen kohärenten Rahmen für die Bereitstellung hochwertiger Dienstleistungen und Strategien für lebenslange Pflege und Betreuung, den Pflegenden bessere Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten und den informellen Pflegekräften Unterstützung bieten.

3.3.

Umfangreiche Investitionen in die Pflegewirtschaft und -infrastruktur sind eine Voraussetzung für einen transformativen Ansatz, mit dem noch bestehende große Lücken bei der Pflege und Betreuung behoben und bis 2035 ca. 300 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, was auch die Gleichstellung der Geschlechter und den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt verbessern würde (5).

3.4.

Auch wenn sich die Modelle der einzelnen Mitgliedstaaten unterscheiden, sind effektive, rechenschaftspflichtige und gut finanzierte öffentliche Dienste nach wie vor wichtig, um einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Pflege und Betreuung zu gewährleisten und unbezahlte Pflegekräfte, insbesondere Frauen, zu unterstützen. Der EWSA betont, dass ein möglichst hohes Maß an Komplementarität und Synergien zwischen allen (kommerziellen oder gemeinnützigen) Erbringern von Gesundheits- und Pflegeleistungen des öffentlichen und privaten Sektors angestrebt werden muss, damit eine Gesundheitsversorgung für alle erreicht wird (6). Dabei sollten bewährte Verfahren und positive Beispiele aus den Mitgliedstaaten, zugleich aber auch nationale Besonderheiten und Unterschiede berücksichtigt werden.

3.5.

Privatisierungstrends und marktgesteuerte Praktiken wie Risikoauswahl und Gewinnmaximierung in den Bereichen Pflege und Gesundheit können Ungleichheiten verschärfen und die Schwächsten treffen, deren Pflegebedürfnisse nicht gedeckt werden. Die Langzeitpflege und -betreuung sowie die Kinderbetreuung müssen auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten auf Solidarität, der Wahrung der nationalen Zuständigkeiten und der Subsidiarität fußen und brauchen starke Sozialsysteme und öffentliche Dienste, soziale Investitionen und sozialwirtschaftliche Akteure (z. B. Organisationen auf Gegenseitigkeit), um eine optimale gemeindenahe und häusliche Pflege und Betreuung durch entsprechend fachlich qualifizierte Pflegekräfte zu gewährleisten (7).

3.6.

Die europäischen Struktur- und Investitionsfonds können zur Förderung von Investitionen in Pflege und Betreuung eingesetzt werden. In Bezug auf Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege sollte die Kommission ihre länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters gezielter ausrichten und den Mitgliedstaaten bei Bedarf dabei helfen, eine angemessene Finanzierung zu priorisieren und als produktive Investition und nicht als wirtschaftliche Belastung anzusehen.

4.   Arbeitsbedingungen, Herausforderungen und Beschäftigungspotenzial

4.1.

Etwa 6,3 Millionen Menschen arbeiten in der Langzeitpflege und -betreuung in der EU, 44 Millionen Menschen sind regelmäßig in der informellen Langzeitpflege von Familienangehörigen oder Freunden tätig; die Branche gehört zu den am schnellsten wachsenden Sektoren weltweit (8). Schätzungen zufolge werden bis 2030 bis zu 7 Millionen Arbeitsplätze für Fachkräfte im Gesundheits- und Pflegesektor entstehen. (9)

4.2.

Zu den großen Herausforderungen in den Bereichen Pflege und Betreuung gehören Personalengpässe, unattraktive und strapaziöse Arbeitsbedingungen, die Überalterung der Erwerbsbevölkerung sowie eine Unterfinanzierung aufgrund der während der Wirtschaftskrise ab 2008 erfolgten Haushaltskürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, wobei die Probleme in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich stark ausgeprägt sind (10). In nahezu allen EU-Mitgliedstaaten bleibt das Beschäftigungswachstum hinter der wachsenden Arbeitskräftenachfrage zurück, was darauf zurückzuführen ist, das Pflegekräfte die Branche aufgrund der psychisch und körperlich anstrengende Tätigkeit verlassen. Dieser Trend hat sich durch die Pandemie mit ihren verheerenden Folgen für die Gesundheit und Sicherheit von Pflegenden und Pflegebedürftigen noch verschärft.

4.3.

Ein transformativer Ansatz sollte die Gleichstellung der Geschlechter fördern, da mehr als 80 % der Beschäftigten in der Pflege- und Betreuungsbranche Frauen sind. Frauen übernehmen die Hauptlast der Pflege- und Betreuungsarbeit im formellen und informellen Pflegebereich (11), und das Durchschnittsalter der Beschäftigten in dieser Branche ist höher als bei der Arbeitnehmerschaft in der EU insgesamt. Da Frauen den überwiegenden Teil der Betreuungs- und Pflegeaufgaben in der Familie übernehmen, würden zugängliche und erschwingliche frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung und Langzeitpflege- und -betreuungsdienste es mehr Frauen ermöglichen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Der Anspruch auf mindestens fünf Arbeitstage Pflegeurlaub pro Jahr, der mit der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben eingeführt wurde, wird informelle Pflegekräfte dabei unterstützen, dass sie Beruf und Betreuungsaufgaben besser miteinander vereinbaren können. Ohne angemessenen bezahlten Urlaub kann dieses in der Richtlinie vorgesehene Recht jedoch nicht in vollem Umfang wahrgenommen werden, was die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärfen könnte.

4.4.

Die Löhne und Gehälter in der Branche liegen in vielen EU-Mitgliedstaaten unter dem Durchschnitt, obwohl die Arbeit körperlich anstrengend ist, besondere Anforderungen an Fähigkeiten/Kompetenzen und Qualifikationen stellt und mit hohen Risiken für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz verbunden ist (12). In mehreren Mitgliedstaaten sind der gewerkschaftliche Organisationsgrad, die Tarifbindung, die Arbeitszufriedenheit und der Personalschlüssel niedrig; während der Pandemie war unter anderem der Mangel an persönlicher Schutzausrüstung ein großes Problem.

4.5.

Die Langzeitpflege und -betreuung in Europa stützt sich im großen Maße auf unbezahlte informelle Pflege oder Pflege und Betreuung in der Familie, häusliche und gemeindenahe Pflege und Betreuung sind jedoch in vielen Ländern nach wie vor unterentwickelt und schwer zugänglich (13). In Anbetracht der Auswirkungen der informellen Pflege auf die Lebensqualität empfiehlt der EWSA nachdrücklich Maßnahmen, mit denen die „Formalisierung“ der informellen Pflege gefördert wird und die informellen Pflegekräfte unterstützt werden und die zu einer effizienten Nutzung der Ressourcen beitragen können.

4.6.

Der EWSA zeigt sich besorgt über die weite Verbreitung prekärer Arbeit in der Pflege bei nicht gemeldeten, hauptsächlich weiblichen, im Haushalt lebenden Pflegekräften, die zumeist einen Migrationshintergrund haben oder aus mobilen Bevölkerungsgruppen stammen. Vor dem Hintergrund dieser Grauzone, die durch den fehlenden Zugang zu formeller Pflege und durch wirtschaftliche Not noch verschärft wird, ist ein kohärenter politischer Ansatz erforderlich, der Verfahren zur Bescheinigung von Kompetenzen, zur Regularisierung und/oder zur Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung besonders Rechnung trägt.

4.7.

Mit dem steigenden Bedarf an Langzeitpflege und -betreuung wird die Branche von einer besseren und attraktiveren Entlohnung, einer wirksamen Arbeitnehmervertretung und Tarifbindung sowie mehr Schulungen profitieren. Öffentliche Mittel, die zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen eingesetzt werden (z. B. durch Anforderungen in öffentlichen Ausschreibungen), können zur Behebung des Personalmangels und zur Sicherstellung einer hochwertigen Langzeitpflege und -betreuung beitragen. Professionalisierung, die Festlegung von Qualität und die Ausarbeitung von Standards zur Bewertung/Messung der Qualität sowie eine Harmonisierung der Standards in den Mitgliedstaaten sind für die Erneuerung der Branche von entscheidender Bedeutung (14).

5.   Sonstige Bemerkungen

5.1.

Die Pandemie hat die Fragmentierung und Streuung insbesondere der Zuständigkeiten für die Erbringung und Finanzierung in vielen Mitgliedstaaten offenbart, was darauf hindeutet, dass die Gesundheitsversorgung und die nationalen Pflegesysteme besser integriert werden müssen (15), denn diese Akteure sind am besten in der Lage, den Zugang für alle und Effizienz zu gewährleisten.

5.2.

Eine sich abzeichnende große Herausforderung, die konzertierte Maßnahmen im Rahmen der neuen Strategie für Pflege und Betreuung erfordert, ist die Prävention von und der Umgang mit psychischen Problemen, die einerseits auf die Pandemie und andererseits auf die zunehmenden psychischen Erkrankungen (z. B. Demenz) im Zusammenhang mit einer alternden Bevölkerung zurückzuführen sind.

5.3.

Wie die jüngsten Erfahrungen mit der Prävention und Eindämmung von COVID-19 in Langzeitpflegeeinrichtungen zeigen (16), sind eine wirksame Bewertung, eine effiziente und gestraffte externe Beaufsichtigung sowie Kontrolle in staatlichen und privaten Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen entscheidend, um Missbrauch zu verhindern und insbesondere für vulnerable Bevölkerungsgruppen, ältere Menschen und Kinder für Sicherheit und Qualität zu sorgen. Dabei sollte auf bestehende bewährte Verfahrensweisen in den Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden.

5.4.

Die Entwicklung EU-weiter standardisierter Datenerhebungsverfahren und Indikatoren für die Langzeitpflege und -betreuung ist ausschlaggebend für den Erfolg der Strategie für Pflege und Betreuung auf Ebene der Mitgliedstaaten, einschließlich Berichtspflichten und regelmäßiger Überprüfungen, die mit effizienten und gestrafften Verfahren durchzuführen sind. Insbesondere für ein angemessenes Kinderbetreuungsangebot müssen quantitative und qualitative Ziele, die über die Barcelona-Ziele hinausgehen, festgelegt werden, um die Fortschritte in diesem Bereich zu messen.

5.5.

Die Unterstützung der Digitalisierung von Langzeitpflege- und -betreuungsdiensten spielt eine wichtige Rolle bei der Überwindung der digitalen Kluft. Besondere Aufmerksamkeit muss der Barrierefreiheit, assistiven Systemen, der Verbesserung der digitalen Kompetenzen und der Digitalisierung gewidmet werden, um Arbeitsplatzqualität, Weiterqualifizierung und neue Diagnose-, Monitoring- und Behandlungsmethoden zu fördern.

5.6.

Der EWSA verurteilt die von der Russischen Föderation in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen, die sich gegen Pflegekräfte und im Gesundheitswesen tätige Personen, Patienten, Kinder, Krankenhäuser und andere Einrichtungen richten, und betont, dass diese Angriffe, abgesehen von Todesfällen und Verletzungen, schwerste Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung in der Ukraine haben und gezielte Unterstützung und Hilfsmaßnahmen erfordern, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich die Krise in der Ukraine überallhin ausbreitet und viele Aspekte des sozialen und wirtschaftlichen Lebens betrifft.

5.7.

Der soziale Dialog, an dem der Staat, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie ihre Vertretungsorganisationen beteiligt sind, ist für eine transformative Strategie für Pflege und Betreuung sowie für resiliente Gesundheitssysteme in der EU von entscheidender Bedeutung. An der Gestaltung eines inklusiven, resilienten und auf Gleichstellung beruhenden Ökosystems für Gesundheit, Pflege und Betreuung müssen sowohl die Pflegenden als auch die Pflegebedürftigen beteiligt werden. Die Zivilgesellschaft und weitere Interessenträger, z. B. Kirchen und karitative Organisationen, sollten auch eingebunden werden.

6.   Allgemeine Bemerkungen zu Arbeitskräften im Gesundheitswesen

6.1.

Eine gute Gesundheitsversorgung ist der Grundpfeiler einer stabilen, sicheren und prosperierenden Gesellschaft; ihre Organisation ist Aufgabe des Staates. In vielen Ländern ist es gängige Praxis, sich auf die billige und schnelle Anwerbung von Gesundheitspersonal aus anderen europäischen Ländern zu verlassen, was einfach hingenommen und in erschreckender Weise ignoriert wird.

6.2.

Der EWSA bekennt sich ausdrücklich zu dem Grundsatz, dass gut ausgebildete, qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte im Gesundheitswesen Voraussetzung für starke und widerstandsfähige Gesundheitssysteme und für deren Ausbau sind. Dies ist ein maßgeblicher Faktor für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik und folglich für das Erreichen einer medizinischen Grundversorgung für alle und für das Recht auf Gesundheit. Die Empfehlungen der Konferenz zur Zukunft Europas zielen darauf ab, ein „Recht auf Gesundheit“ zu schaffen, das allen Europäerinnen und Europäern einen gleichberechtigten Zugang für alle zu erschwinglicher, präventiver, kurativer und hochwertiger Gesundheitsversorgung garantiert.

6.3.

Die Europäische Gesundheitsunion sollte auf EU-Ebene zur Verbesserung des Schutzes, der Prävention sowie der Vorsorge und Reaktion auf Gefahren für die menschliche Gesundheit beitragen. Insofern hängt der Erfolg aller großen Initiativen im Rahmen der Europäischen Gesundheitsunion in hohem Maße von hochqualifizierten Arbeitskräften im Gesundheitswesen ab.

6.4.

Der EWSA hat in einer Reihe von Stellungnahmen (17) die Frage der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen in einigen anderen Kontexten und Tätigkeiten behandelt. Vor allem während der Pandemie stehen die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen an vorderster Front und beweisen in den schwierigsten Zeiten in bemerkenswerter Weise Solidarität.

6.5.

Der EWSA spricht sich für Maßnahmen aus, mit denen die Arbeit im Gesundheitswesen für junge Menschen attraktiver gemacht wird. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Schaffung ausreichender personeller Kapazitäten in den Gesundheitssystemen, um den Bedarf an Gesundheitsversorgung zu decken, die Gesundheit zu fördern und Krankheiten vorzubeugen.

6.6.

Die Daten zu Zahlen, Migrationshintergrund, Qualifikationen und sonstigen Merkmalen in Verbindung mit den Arbeitskräften im Gesundheitswesen sollten standardisiert und kontinuierlich zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Zahlreiche Ereignisse (die COVID-19-Pandemie, Erdbeben, Überschwemmungen, die russische Invasion der Ukraine usw.) zeigen, dass insbesondere in Krisensituationen eine rasche Reaktion wichtig ist.

6.7.

Die Beschäftigung im Bereich Gesundheits- und Sozialdienstleistungen nahm in den OECD-Ländern zwischen 2000 und 2017 um 48 % zu (18). In dem Maße, wie die Bevölkerung altert und sich verändert, wird auch der Bedarf an Gesundheitsversorgung zunehmen und sich wandeln; Schätzungen zufolge wird sich der weltweite Personalbedarf im Gesundheitswesen bis 2030 nahezu verdoppeln (19).

6.8.

Bereits vor der COVID-19-Pandemie waren die Kapazitäten für die Erbringung einer grundlegenden Gesundheitsversorgung in vielen Ländern aufgrund des anhaltenden Fachkräftemangels im Gesundheitswesen und eines voraussichtlichen weltweiten Mangels von 18 Millionen Fachkräften im Gesundheitsbereich bis 2030 knapp bemessen (20).

6.9.

Die Grundsätze für eine mögliche Übertragung oder Kombination von Kompetenzen und Aufgaben (Aufgabenverlagerung/Kompetenzmix) müssen klar definiert werden. Einrichtungen, die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen ausbilden, müssen sich abstimmen, um den Bedarf des nationalen Gesundheitssystems durch rechtzeitige Änderungen der Zulassungsquoten und Lehrpläne entsprechend zu berücksichtigen.

6.10.

Bei der Personalentwicklung in der Gesundheits- und Sozialfürsorge sollte der Grundsatz der Koordinierung, der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit und der integrierten Versorgung befolgt werden. Das gemeinsame Ziel sollte eine lückenlose Rund-um-die-Uhr-Versorgung der Bürger sein.

6.11.

Besondere Aufmerksamkeit sollte der Verfügbarkeit der Versorgung auf dem Land gelten, vor allem in dünn besiedelten, abgelegenen oder schwer zugänglichen ländlichen Gebieten und Inselgebieten, in denen moderne Transportmittel und Telemedizin stärker eingesetzt werden müssen.

7.   Personalplanung im Gesundheitswesen

7.1.

Nach Ansicht des EWSA muss die Personalplanung im Gesundheitswesen darauf abzielen, Bedingungen für eine berufliche Praxis zu schaffen, mit der die Qualität der Versorgung und die Patientensicherheit verbessert werden. Gleichzeitig muss auf allen Ebenen für Kapazitäten für eine hochwertige Ausbildung gesorgt werden.

7.2.

Das Personalmanagement im Gesundheitswesen muss in der gesamten staatlichen Verwaltung als strategisch wichtige Tätigkeit gelten, bei der Mitgliedstaat eine wichtige Rolle spielt, und muss bereichsübergreifend und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Prioritäten erfolgen.

7.3.

Beim Personalmanagement im Gesundheitswesen muss allen Phasen der Laufbahn von Fachkräften, von der Anwerbung künftiger Studierender bis zur Weiterbeschäftigung von Rentnern, Rechnung getragen werden. Die Auswahl von Kandidaten für Ausbildung, Einstellung und Beförderung sollte transparent und gerecht und ohne jegliche Form von Diskriminierung erfolgen.

7.4.

Bei der Personalplanung im Gesundheitsbereich müssen die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen berücksichtigt und klar vertreten werden. Im Rahmen der Planung und Verwaltung müssen Verfahren zur Ermittlung der Bedürfnisse der Arbeitskräfte, wie Arbeitsbedingungen, materielle Rechte, Aufstiegsmöglichkeiten, ausreichende Zeit und Mittel für Lernen und Forschung, eine tragfähige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, festgelegt werden.

7.5.

Bei der Personalplanung im Gesundheitswesen muss der strukturellen Planung, aber auch den Maßnahmen und Prozessen zur Verwirklichung der gesetzten Ziele Rechnung getragen werden, um festzulegen, was wie erreicht werden soll.

7.6.

Der EWSA hält es für erforderlich, den Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der Europäischen Union zu aktualisieren (21). Die Entwicklung einer integrierten Planung und Prognose in Bezug auf den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen und die Anpassung der Kompetenzen der Fachkräfte im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege und -betreuung sind für die Verbesserung des Zugangs zu diesen Diensten und ihrer Qualität von entscheidender Bedeutung.

7.7.

Die Sozialpartner und alle interessierten Organisationen der Zivilgesellschaft müssen aktiv an der Planung für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen beteiligt werden. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, die besonderen Bedürfnisse der Bevölkerung und das System für bestimmte Kompetenzen müssen festgelegt bzw. ermittelt werden.

7.8.

Weniger attraktive Regionen oder Tätigkeitsbereiche, in denen Personalmangel herrscht, müssen ermittelt werden, um Rechte zu garantieren und entsprechende Anreize für Fachkräfte im Gesundheitswesen zu schaffen. Der EWSA regt an, dass die Europäische Kommission Empfehlungen zu den erforderlichen Ressourcen im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung vorlegt, die für eine medizinische Grundversorgung für alle und für Notfälle mindestens vorhanden sein müssen, wobei die geografische Verteilung und das Altersprofil zu berücksichtigen sind (22).

7.9.

Als Grundlage für diese Empfehlungen müssen die internationale Datenerhebung verbessert und die Datenkategorien möglichst harmonisiert werden, um Unterschiede zu ermitteln und Fehlinterpretationen von Daten zu vermeiden. Nationale Abweichungen von den europaweit harmonisierten Kategorien müssen berücksichtigt werden, um die Daten einordnen zu können (23).

7.10.

Die Frage der finanziellen Ausstattung wird je nach den wirtschaftlichen Voraussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt werden. Studien zeigen, dass die Mitgliedstaaten bei der Systemplanung im Allgemeinen und bei der Personalplanung im Gesundheitswesen im Besonderen sowohl die Rahmenbedingungen im weiteren Sinne als auch die staatlichen Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, berücksichtigen sollten (24).

7.11.

Bei der Personalplanung sollte der Entwicklung der digitalen Technologien Rechnung getragen werden, da Innovationen in diesen Bereichen Möglichkeiten für neue Arbeitsumgebungen und -bedingungen in der Pflege und Betreuung schaffen und neue Kompetenzen erfordern.

8.   Arbeitsbedingungen

8.1.

Bei der Entscheidung, einen medizinischen Beruf zu ergreifen, ihn weiter auszuüben oder aufzugeben, spielen die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle. Daher sind kohärente Maßnahmen in Bereichen wie Ausbildung, Beschäftigung, Familienleben, Finanzen und Migration wichtig. Bei vielen Diskussionen über die Personalplanung im Gesundheitswesen geht es hauptsächlich um die Bezahlung, die als entscheidender Faktor für Anwerbung und Bindung gilt. Doch der Zugang zu Aus- und Weiterbildung, einschließlich der beruflichen Weiterentwicklung und der Fähigkeit, Kompetenzen auf dem neuesten Stand zu halten, sowie praktische Bedingungen wie die Verfügbarkeit von Betreuung, geregelte Arbeitszeiten, eine ausreichende Personaldecke, gute berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tragen auch zu einem gesunden Arbeitsumfeld bei. Der medizinische Bereich kann so attraktive und zukunftsfähige berufliche Möglichkeiten bieten (25).

8.2.

Europäische und internationale ärztliche Vereinigungen weisen darauf hin, dass Ärzte, die in Krankenhäusern sowie in allgemeinen und privatärztlichen Praxen arbeiten, bei ihrer täglichen Arbeit zunehmend und unvermittelt Gewalt (teilweise auch extremer Gewalt) ausgesetzt sind (26). Der EWSA fordert die Europäische Kommission und alle Interessenträger auf, politisches Engagement zu zeigen und sich bewusst zu machen, dass Arbeitskräfte im Gesundheitswesen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit dringend geschützt werden müssen.

8.3.

Fachkräfte im Gesundheitswesen sind bei ihrer Arbeit dem Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt. Die Übertragung von Krankheiten führt bei Fachkräften im Gesundheitswesen zu Fehlzeiten, Morbidität und zuweilen Todesfällen. So wird in letzter Konsequenz die Zahl der Arbeitskräfte reduziert, mit Folgen für die Qualität der Versorgung und die Sicherheit der Patienten.

8.4.

Fachkräfte im Gesundheitswesen leiden gelegentlich auch unter psychischem Stress und sogar psychischen Störungen, die sich auf ihre Arbeit und ihr persönliches Leben auswirken. In den letzten Jahren wurde zunehmend über Fachkräfte im Gesundheitswesen berichtet, die wegen Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Problemen ihre berufliche Tätigkeit einschränken oder vorzeitig in Rente gehen (27). Der EWSA fordert Investitionen in öffentliche Dienste für die Behandlung psychischer Krankheiten, um einen umfassenden und kostenlosen Zugang zu diesen Diensten für alle Fachkräfte im Gesundheitswesen zu ermöglichen.

9.   Mobilität

9.1.

Der EWSA betont, dass das Recht auf Mobilität innerhalb und außerhalb der EU gewahrt werden muss. Die grenzüberschreitende Mobilität sollte zugunsten einzelner Arbeitskräfte und der Berufsgruppe insgesamt erleichtert werden, da sie den Wissenstransfer und gegenseitiges Lernen ermöglicht, das der Patientenversorgung und letztlich dem gesamten Gesundheitssystem zugutekommt. Im Falle einer Wirtschaftsmigration oder ungünstiger Arbeitsbedingungen müssen die dieser Dynamik zugrundeliegenden Ursachen ermittelt und es muss an der Verbesserung der Lage von Arbeitskräften im Gesundheitswesen gearbeitet werden (28).

9.2.

Durch die grenzübergreifende Mobilität erhält die Personalplanung eine zusätzliche Dimension. Die Einrichtung einer europäischen Stelle zur Überwachung der Arbeitskräftesituation im Gesundheitswesen, die die Mitgliedstaaten bei der Schaffung und Betreibung von Planungsstrukturen sowie bei der Abstimmung grenzübergreifender Aspekte der Planung unterstützt, würde daher die einschlägige Infrastruktur langfristig stärken. Eine solche Stelle sollte mit Prozessen der EU, insbesondere dem Europäischen Semester, und der Pandemieplanung, die im Rahmen einer künftigen Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren vorgesehen ist, verknüpft werden (29).

9.3.

Die Mitgliedstaaten müssen auf ethischen Grundsätzen beruhende Anwerbestrategien in Übereinstimmung mit dem Globalen Verhaltenskodex der WHO für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften umsetzen (30). Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland sollte nicht als einfaches Mittel zur Minderung eines Mangels an einheimischem Gesundheitspersonal betrachtet werden. Wo Mobilitätsströme ungleich sind, sollten Ausgleichsmechanismen geschaffen werden, die auf einen für beide Seiten vorteilhaften Austausch abzielen.

10.   Sonstige Bemerkungen

10.1.

Ein effektives Management ist bei der Fachkräfteverwaltung im Gesundheitswesen auf allen Ebenen von zentraler Bedeutung. Dies ist ein komplexer und wichtiger Teil der Ausbildung im Gesundheitsbereich, dessen entscheidende Rolle für das Erreichen hoher Standards bei Ausbildung, Forschung und klinischer Praxis zunehmend anerkannt ist.

10.2.

Folglich sollten eine hochwertige und ausreichende Ausbildung und berufliche Weiterbildung von Führungskräften Bestandteil der Lehrpläne für alle Gesundheitsberufe sein (31).

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Die Europäische Kommission hat 2012 ihren Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen in der EU veröffentlicht.

(2)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. November 2018 zu Betreuungsangeboten in der EU für eine verbesserte Gleichstellung der Geschlechter (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2018-0464_DE.html).

(4)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44, ABl.. C 487 vom 28.12.2016, S. 7, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 103, Broschüre und Stellungnahme des EWSA „Wirtschaftliche, technische und soziale Veränderungen bei modernen Gesundheitsdienstleistungen für Senioren“ (ABl. C 240, vom 16.7.2019, S. 10); Stellungnahme des EWSA „Auf dem Weg zu einem neuen Betreuungsmodell für ältere Menschen: Lehren aus der COVID-19-Pandemie“ (ABl. C 194, vom 12.5.2022, S. 19).

(5)  Addati, L., Cattaneo, U., and E. Pozzan. Bericht von 2022 „Care at work: investing in care leave and services for a more gender equal world of work“, IAO, Genf https://www.ilo.org/global/topics/care-economy/WCMS_838653/lang--en/index.htm.

(6)  https://www.who.int/publications/i/item/WHO-HIS-SDS-2018.53.

(7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(8)  Eurofound (2020), „Long-term care workforce: Employment and working conditions“, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg. https://www.eurofound.europa.eu/nb/publications/customised-report/2020/long-term-care-workforce-employment-and-working-conditions.

(9)  Barslund, Mikkel et. al (2021). „Study: Policies for long-term Carers“ (2021). Brüssel, Europäisches Parlament: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2021/695476/IPOL_STU(2021)695476_EN.pdf.

(10)  https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0011/186932/12-Summary-Economic-crisis,-health-systems-and-health-in-Europe.pdf.

(11)  Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration, „Long-term care report: trends, challenges and opportunities in an ageing society“. (2021) Band I, Kapitel 3. Amt für Veröffentlichungen, 2021, https://data.europa.eu/doi/10.2767/677726.

(12)  Siehe Fußnote 11, S. 68.

(13)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2018), Zigante, V. „Informal care in Europe: exploring formalisation, availability and quality“, Amt für Veröffentlichungen (2018) https://data.europa.eu/doi/10.2767/78836.

Spasova, S., et al (2018). Challenges in long-term care in Europe. A study of national policies, Europäisches Netzwerk für Sozialpolitik (ESPN), Brüssel: Europäische Kommission, https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=de&pubId=8128&furtherPubs=yes.

(14)  Siehe Fußnote 11, Kapitel 3.

(15)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, S. 36., https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, und Paneuropäische WHO-Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung (2021). „Drawing light from the pandemic: a new strategy for health and sustainable development. A review of the evidence“, https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0015/511701/Pan-European-Commission-health-sustainable-development-eng.pdf.

(16)  Danis, K., Fonteneau, L., et al.,(2020). „High impact of COVID-19 in long-term care facilities: suggestion for monitoring in the EU/EEA“, Euro Surveillance: European Communicable Disease Bulletin, 25(22). https://doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.22.2000956.

(17)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109, ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 251, ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 48, ABl. C 143 vom 22.5.2012, ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 74, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 96.

(18)  https://one.oecd.org/document/ECO/WKP(2021)43/en/pdf.

(19)  Liu, J. X., Goryakin, Y., Maeda, A., Bruckner, T., Scheffler R., „Global health workforce labor market projections for 2030“. Human Resources for Health 2017; 15:11 (https://human-resources-health.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12960-017-0187-2).

(20)  https://www.who.int/health-topics/health-workforce#tab=tab_1.

(21)  2012 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der EU.

(22)  CPME Policy on Health Workforce (https://www.cpme.eu/policies-and-projects/professional-practice-and-patients-rights/health-systems-and-health-workforce).

(23)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.

(24)  Russo, G., Pavignani, E., Guerreiro, CS., Neves, C., „Can we halt health workforce deterioration in failed states?“„Insights from Guinea Bissau on the nature, persistence and evolution of its HRH crisis“. Human Resources for Health 2017; 15(1):12.

(25)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.

(26)  https://www.cpme.eu/api/documents/adopted/2020/3/EMOs.Joint_.Statement.on_.Violence.FINAL_.12.03.2020.pdf.

(27)  L. N. Dyrbye, T. D. Shanafelt, C. A. Sinsky, P. F. Cipriano, J. Bhatt, A. Ommaya, C. P. West, und D. Meyers (2017), „Burnout among health care professionals: A call to explore and address this underrecognised threat to safe, high-quality care“. NAM Perspectives, Discussion Paper, National Academy of Medicine, Washington, DC.

(28)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.

(29)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.

(30)  https://www.who.int/publications/m/item/migration-code.

(31)  Van Diggele, C., Burgess, A., Roberts, C. und Mellis, C. (2020) Leadership in healthcare education. BMC Medical Education, 20 (Suppl. 2), 456. https://doi.org/10.1186/s12909-020-02288-x.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „EU-Jugendtest“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/07)

Berichterstatterin:

Katrīna LEITĀNE

Beschluss des Plenums

24.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

158/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Politische Teilhabe ist die Grundlage jeder funktionierenden Demokratie. Die wichtigsten Vorteile der EU sind für junge Europäerinnen und Europäer die Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit (1). Junge Menschen müssen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben, die ihre Zukunft betreffen, da sich selbst indirekte Folgen erheblich auf sie und die nächsten Generationen auswirken können. Gleichermaßen können auch politische Maßnahmen, die nicht direkt auf junge Menschen ausgerichtet sind oder nicht als klassische Jugendpolitik gelten, das Leben junger Menschen stark beeinflussen. Die bestehenden Beteiligungsmechanismen müssen durch weitere wirksame Mechanismen ergänzt werden, die mit den demokratischen Grundsätzen in Einklang stehen und den Bedürfnissen junger Menschen gerecht werden. Dies kann zu einer besseren und wirksameren Politikgestaltung beitragen.

1.2.

Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) lassen sich junge Menschen über die Bildung mit am besten erreichen. So können sie über alle Teilhabemöglichkeiten informiert werden und ihnen können die europäischen Werte vermittelt werden. Mit bestehenden Programmen zur Unterstützung der formellen und informellen Bildung, wie Erasmus+ und dem Europäischen Solidaritätskorps, ist es gelungen, die Ansichten junger Menschen zu demokratischer Teilhabe und den Werten und Grundsätzen der Europäischen Union zu verbessern.

1.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass es äußerst wichtig ist, junge Menschen im Wege sinnvoller Partizipationsmethoden, die für sie am besten geeignet sind, in die Politikgestaltung einzubeziehen. Anschließend sollte durch Überwachungs- und Bewertungsverfahren und Folgenabschätzungen sichergestellt werden, dass die Ansichten junger Menschen bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Die Einbindung junger Menschen in den gesamten Prozess der Politikgestaltung schafft Vertrauen bei der jungen Generation und darüber hinaus und sorgt dafür, dass sie als relevant und wichtig für diesen Prozess angesehen werden. Die Kommunikation über die Ergebnisse der Beteiligung junger Menschen im Rahmen dieser Verfahren sollte offen und transparent sein. Nur so kann das Vertrauen junger Menschen in die Politik gefördert werden (2). Ferner ist es äußerst wichtig, soziale Inklusion zu gewährleisten und Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen einzubeziehen.

1.4.

Nach Auffassung des EWSA können zivilgesellschaftliche Organisationen entscheidend dazu beitragen, das Engagement junger Menschen mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen zu fördern. Somit können sie für die Beteiligung der Jugend an der Politikgestaltung und am demokratischen Prozess von grundlegender Bedeutung sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen können als Mittler und unterstützende Netzwerke jungen Menschen die Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen erleichtern und es ihnen ermöglichen, sich als aktive Bürgerinnen und Bürger zu engagieren. Der EWSA unterstützt diese Organisationen und junge Menschen dabei und fordert Maßnahmen, die ihnen dies ermöglichen.

1.5.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen und Verfahren einzusetzen, die sicherstellen, dass die Sichtweise der jungen Menschen in allen Politikbereichen berücksichtigt wird, und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich konsequent und fachkundig zu den sich ihnen stellenden Herausforderungen zu äußern. Diese Strukturen sollten auch transparente und sichtbare Follow-up- und Überwachungsmechanismen umfassen und bestehende Instrument für die Partizipation junger Menschen ergänzen. Die Finanzierung darf hingegen nicht gekürzt werden. Für die sinnvolle Einbindung junger Menschen in die Politikgestaltung müssen angemessene Mittel zur Verfügung gestellt werden.

1.6.

Die Einbindung junger Menschen in Politikgestaltungs- und Entscheidungsprozesse kann zu einer besseren Rechtsetzung und besseren Maßnahmen beitragen, da auf diese Weise aktuelle und künftige Entwicklungen, die sich auf das Leben junger Menschen und künftiger Generationen auswirken, erfasst und verstanden werden können. Ferner kann dies die Erarbeitung von Vorschlägen erleichtern, da so qualitativer Input als Ergänzung zu Sekundärdaten zur Verfügung steht.

1.7.

Der EWSA betont, dass der EU-Jugendtest auf den Hauptzielen der EU-Jugendstrategie (3) und des Europäischen Jahres der Jugend aufbaut; bei beiden Initiativen wird hervorgehoben, dass die durchgängige Berücksichtigung der Jugend bei der Politikgestaltung, die einen bereichsübergreifenden Ansatz erfordert, von großer Bedeutung ist. Der Test gehört auch zu den Maßnahmen, die im Bericht über das endgültige Ergebnis (4) der Konferenz zur Zukunft Europas, der von allen stimmberechtigten Teilnehmern der Plenarversammlung der Konferenz und den Bürgerforen gebilligt wurde, vorgesehen sind. Um eine dauerhafte Wirkung und ein Vermächtnis über das Europäische Jahr der Jugend hinaus zu erzielen, müssen junge Menschen in die Lage versetzt werden, den Wandel anzuführen und eine bessere Zukunft zu gestalten.

1.8.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass in der Mitteilung der Europäischen Kommission über die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas (5) auf den EU-Jugendtest verwiesen wird. Allerdings entspricht der Kommissionsvorschlag nicht den Zielen und Mitteln des ursprünglichen Vorschlags, die sinnvolle Zusammenarbeit mit Jugendorganisationen und Fachleuten sowie die durchgängige Berücksichtigung der Jugend in allen Politikbereichen werden nicht thematisiert und die langfristigen Folgen politischer Maßnahmen für künftige Generationen bleiben unberücksichtigt. Der EWSA ist der Ansicht, dass der EU-Jugendtest als eigenständiges Instrument in das Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung aufgenommen werden sollte, da künftige Generationen und junge Menschen besondere Aufmerksamkeit verdienen.

1.9.

Der EWSA ruft zu einer engeren Zusammenarbeit der Organe und Institutionen auf, um bestehende erfolgreiche Initiativen wie den EU-Jugenddialog, „Your Europe, Your Say!“ und das Europäische Jugendevent aufeinander abzustimmen und gemäß der EU-Jugendstrategie mit künftigen Initiativen wie dem EU-Jugendtest zu verknüpfen. Darüber hinaus legt er einige Vorschläge zur Einbindung junger Menschen in die Arbeit des EWSA vor und beabsichtigt, den EU-Jugendtest in seine Arbeit zu integrieren.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.    Die Rolle junger Menschen beim Aufbau des Projekts Europa

2.1.1.

Junge Menschen sind der Motor des Projekts Europa, ihre Kreativität, ihre Energie und ihre Begeisterungsfähigkeit bestimmen die Zukunft Europas. 2022 ist das Europäische Jahr der Jugend. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte dazu: „Europa braucht alle seine jungen Menschen“ und „Unsere Union muss eine Seele und eine Vision haben, von denen sie sich angesprochen fühlen.“ (6)

2.1.2.

Das Projekt Europa lässt sich im gegenwärtigen demokratischen Umfeld nicht wirksam und angemessen verwirklichen, ohne dass der Diskurs über die politische Partizipation junger Menschen (7) im Rahmen demokratischer Traditionen und geopolitischer Zusammenhänge anerkannt wird. Der Vizepräsident für die Förderung unserer europäischen Lebensweise, Margaritis Schinas, betonte: „Das Europäische Jahr der Jugend soll für die Einbeziehung junger Menschen in Politik und Entscheidungsfindung eine Wende einleiten.“ Dahinter steht der Gedanke, jungen Menschen den Zugang zu einer sinnvollen Beteiligung zu ermöglichen und sie dazu zu befähigen (8).

2.1.3.

Eurobarometer-Umfragen (9) zufolge haben weniger als die Hälfte der Europäerinnen und Europäer (47 %) Vertrauen in die EU und lediglich 44 % bewerten das Image der EU als positiv. Die Zukunft des europäischen Aufbauwerks hängt in hohem Maße davon ab, wie stark sich junge Menschen mit den europäischen Werten verbunden fühlen und ob sie bereit sind, eine europäische Identität anzunehmen. Die aktive Einbeziehung junger Menschen in politische Prozesse und Entscheidungsprozesse ist äußerst wichtig, da die Entscheidungen von heute ihre Zukunft bestimmen. Daher sollten Partizipationsinstrumente eingeführt werden, die sicherstellen, dass die Stimmen junger Menschen berücksichtigt werden. Die Beteiligung am bürgerschaftlichen und demokratischen Leben muss auf allen Ebenen verstärkt werden, um Europas künftigen Wohlstand zu sichern; dabei muss anerkannt werden, dass die Modelle für die politischen Partizipation junger Menschen durch demokratische Reife beeinflusst werden (10).

2.1.4.

Die Initiative der EU, eine Konferenz zur Zukunft Europas einzuberufen, hat einen Anreiz geschaffen, einen partizipativen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Union zu fördern. Die Erhöhung der Wirksamkeit bestehender Mechanismen für die Beteiligung der Jugend und die Entwicklung neuer Mechanismen gelten als Weg in die Zukunft. Wie im Bericht über das endgültige Ergebnis der Konferenz zur Zukunft Europas (11) vorgeschlagen wurde, könnte in diesem Zusammenhang ein „Jugendtest“ (12) der Rechtsvorschriften eingeführt werden, der sowohl eine Folgenabschätzung als auch die Konsultation von Jugendvertretern umfasst.

2.1.5.

Der Jugendtest dient bei der Politikgestaltung als Methode der strategischen Vorausschau. Die strategische Vorausschau ist ein wertvolles Konzept, das die Europäische Kommission bei der Politikgestaltung nutzen möchte. Sie beruht auf Grundsätzen wie der strategischen Früherkennung, der Analyse von Megatrends, der Planung von Szenarien und der Zukunftsplanung, daher muss die Sichtweise junger Menschen und künftiger Generationen in diesem Rahmen zwangsläufig berücksichtigt werden. Die vorausschauenden Tätigkeiten stehen unter der Prämisse, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, dennoch werden Informationen über mögliche Szenarien gesammelt und das Ziel ist, für auf mögliche kommende Herausforderungen vorbereitet zu sein. Der Dialog zwischen den Generationen kann wertvolle Mechanismen hervorbringen, mit denen dafür gesorgt wird, dass diese Trends und Zukunftsszenarien bei der Politikgestaltung berücksichtigt werden. Untersuchungen, bei denen die Perspektive junger Menschen und künftiger Generationen berücksichtigt wird, können und sollten zu besseren und besser auf sie zugeschnittenen politischen Maßnahmen beitragen, mit denen die Herausforderungen künftiger Generationen angegangen werden können.

2.1.6.

Damit die Politik besser auf künftige Herausforderungen abgestimmt ist, müssen bei ihrer Gestaltung die Rechte junger Menschen und künftiger Generationen anerkannt und geschützt werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass es nicht zu negativen Folgen für bestimmte Alters- und gesellschaftliche Gruppen kommt. Einige dieser Gruppen werden derzeit häufig übersehen oder als Teil anderer Gruppen betrachtet, was aber nicht der Realität entspricht. Dies hat zur Folge, dass politische Maßnahmen den bestehenden Herausforderungen nicht angemessen Rechnung tragen und stattdessen zu einem Rückgang des Vertrauens und zu einer Verdrossenheit gegenüber den Institutionen beitragen.

2.2.    Die Notwendigkeit einer sinnvollen Einbeziehung junger Menschen

2.2.1.

Bei einer sinnvollen Einbeziehung geht es um die gemeinsame Machtausübung und Beschlussfassung, woran unter transparenten und allen beteiligten Akteuren bekannten Bedingungen auch weitere Interessenträger teilhaben. Eine gut konzipierte Rechenschaftspflicht fördert das Vertrauen aller Interessenträger in Verfahren der politischen Partizipation. Die genauen Zuständigkeiten der einzelnen Akteure sollten allen Interessenträgern vertraut sein.

2.2.2.

Das Vertrauen junger Menschen in öffentliche Institutionen ist seit der internationalen Finanzkrise Ende der 2000er Jahre eingebrochen (13). Die Wahrnehmung ihres politischen Einflusses und ihrer Beteiligung an der Entscheidungsfindung hat sich nicht verändert. Die Partizipation junger Menschen an demokratischen Prozessen kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Die Teilnahme an Wahlen auf kommunaler, nationaler oder europäischer Ebene gilt jedoch weiterhin als das wirksamste Mittel, der Stimme junger Menschen bei Entscheidungsträgern Gehör zu verschaffen (39 %) (14), wobei der Anteil junger Menschen, die Vertrauen in diese Art der demokratischen Teilhabe haben, nach wie vor sehr gering ist. Politikferne junge Menschen begründen dieses Abstandhalten von der Politik mit dem Mangel an sinnvoller Partizipation und fehlendem Vertrauen sowie mit dem Gefühl, dass Engagement wenig Sinn macht, wenn ihr Beitrag nicht berücksichtigt wird. Eines der größten Hindernisse für die Beteiligung junger Menschen ist die Überzeugung, dass politische Entscheidungsträger „Leuten wie ihnen“ nicht zuhören (15). Vertrauensaufbau und ein intensiverer Dialog zwischen jungen Menschen und öffentlichen Institutionen trägt daher entscheidend dazu bei, die Bereitschaft und Resilienz von Gesellschaften beim Umgang mit künftigen Schocks sicherzustellen (16).

2.2.3.

Eine Mehrheit (70 %) (17) der jungen Menschen ist der Ansicht, dass sie kaum oder kein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen, Gesetzen und politischen Maßnahmen haben, die die EU als Ganzes betreffen. 24,8 % (18) der jungen Menschen sind der Auffassung, dass sie keinerlei Einfluss darauf haben, welche Themen in der öffentlichen oder politischen Debatte behandelt werden; weitere 40,8 % geben an, nicht viel Einfluss nehmen zu können. Zudem vertreten zwei Drittel der Befragten die Ansicht, dass junge Menschen mehr Einfluss auf die Politik nehmen könnten, wenn den Politikern die Anliegen junger Menschen stärker bewusst wären, wohingegen über 50 % von ihnen glauben, dass eine prominentere Rolle von Jugendorganisationen in der Politik ebenfalls diesem Zweck dienen würde.

2.2.4.

Die Art der Partizipation junger Menschen hat sich geändert. Sie bevorzugen heute nicht institutionalisierte und insbesondere nicht auf Wahlen beruhende Formen des politischen Engagements (19). Untersuchungen weisen immer stärker darauf hin, dass dies mit einem abnehmenden Vertrauen in öffentliche Einrichtungen und einer Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der repräsentativen Demokratie zusammenhängt. Die unkonventionelle politische Teilhabe junger Menschen ist ganz im Sinne einer „individuellen Lebensführung“ zunehmend dynamisch, individualisiert und personalisiert geworden und erfolgt vorzugsweise bei bestimmten Themen sowie in Form eines direkten Aktivismus und Protests (20). Insgesamt sind junge Menschen politisch hochmotiviert. Experten auf dem Gebiet der politischen Teilhabe befassen sich in Bezug auf die Partizipation junger Menschen heutzutage weniger mit der Frage, ob sich junge Menschen engagieren wollen, sondern vielmehr mit ihrer Entscheidung, wie und wo sie ihre politische Meinung zum Ausdruck bringen (21). Angesichts der vielen Möglichkeiten, wie junge Menschen heute versuchen, Einfluss auf politische Maßnahmen und Entscheidungen zu nehmen, muss der unkonventionellen Art der politischen Teilhabe, der partizipativen Entscheidungsfindung und den verstärkten Kommunikations- und Transparenzmechanismen im demokratischen institutionellen Rahmen unbedingt Rechnung getragen werden. Die Politikgestaltung in öffentlichen Einrichtungen sollte entsprechend angepasst und konzipiert werden, damit sichergestellt werden kann, dass alle Gruppen junger Menschen bei politischen Entscheidungen miteinbezogen werden. Methoden der Partizipation sollten inklusiv sein und so bekannt gemacht werden, dass sie ein vielfältiges Publikum und auch schwer erreichbare Gruppen und Personen ansprechen.

2.2.5.

Von jungen Menschen geführte Organisationen haben Fachwissen und Erfahrungen zu einer Vielzahl von Themen in Verbindung mit den Problemen junger Menschen erworben. Ihre Einbeziehung in die Politikgestaltung wird zu kohärenteren und besser angepassten Regeln und Bestimmungen führen. Dies wird auch dadurch untermauert, dass immer mehr junge Menschen solchen Organisationen beitreten (22).

2.2.6.

Eine sinnvolle Einbindung junger Menschen ist äußerst wichtig. Die Partizipation junger Menschen muss verbessert werden. Dafür müssen insbesondere Mängel bei der demokratischen Vertretung junger Menschen beseitigt werden und dafür gesorgt werden muss, dass die Perspektive junger Menschen auch außerhalb der klassischen Jugendpolitik berücksichtigt wird. Junge Menschen wollen an der Gestaltung der Politik, die sich auf ihr Leben auswirkt, mitwirken. Bei der Generationengerechtigkeit (23) geht es darum, wie Ungleichheit zwischen Generationen in alternden Gesellschaften überwunden werden kann.

2.2.7.

Die bestehenden Instrumente für die Abschätzung der Folgen für junge Menschen, wie das Instrument Nr. 31 des Instrumentariums für eine bessere Rechtsetzung, sehen keine durchgängige Berücksichtigung von Jugendfragen und keine Einbeziehung von Jugendorganisationen und jungen Menschen mit entsprechendem Fachwissen vor, die in der Lage wären, eine systematische Überprüfung der Fragen aus Sicht der Jugend durchzuführen. Zudem geht aus den verfügbaren Veröffentlichungen hervor, dass diese Instrumente weniger häufig eingesetzt werden, als es die Relevanz und Bedeutung der Vorschläge erfordern würde.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.    EU-Jugendtest

3.1.1.

Der Vorschlag beruht auf drei Säulen: Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen (24). Er bietet einen Rahmen für eine bessere Wirksamkeit und Effizienz politischer Maßnahmen durch die stärkere Beteiligung junger Menschen und die Berücksichtigung von Jugendfragen in der Politikgestaltung. Dabei werden auch benachteiligte Gruppen wie junge Menschen mit Behinderungen, junge Menschen, die weder eine Schule besuchen noch eine Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben (NEET) (25), junge Menschen in abgelegenen Gebieten usw. berücksichtigt. Durch die verschiedenen Komponenten des EU-Jugendtests entsteht eine kohärente Struktur für die Gestaltung einer hochwertigen und besseren Politik, mit der potenzielle Probleme für künftige Generationen angegangen werden.

3.1.2.

Der erste Schritt des EU-Jugendtests besteht darin, die Relevanz und die Auswirkungen vorgeschlagener Politikmaßnahmen auf junge Menschen und künftige Generationen zu ermitteln. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob für die betreffende Maßnahme ein vollständiger Jugendtest durchgeführt werden muss. Über eine Checkliste ermitteln die Bewerter, ob der Vorschlag für junge Menschen relevant ist und welche direkten und indirekten Auswirkungen er auf junge Menschen und künftige Generationen haben würde. Wenn eine Relevanz für junge Menschen festgestellt wird, folgen nacheinander eine umfassende Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen. Die Indikatoren der Checkliste werden ausgehend von den Bedürfnissen und Ideen junger Menschen aufgestellt, damit sichergestellt ist, dass die jeweiligen Vorschläge aus deren Sicht bewertet werden.

3.1.3.

Im nächsten Schritt sollen die jeweiligen Bewerter in sinnvoller Weise die Meinungen von Jugendakteuren einholen, damit eine auf systematischem Fachwissen beruhende, gründliche Analyse möglich ist. Auf der Grundlage dieser Beiträge versuchen die Bewerter dann, die Anliegen junger Menschen mit Blick auf mögliche Auswirkungen der vorgeschlagenen Politikmaßnahme zu ermitteln. Die Partizipation muss transparent sein und es einer Vielzahl von Jugendvertretern, von jungen Menschen geführten Organisationen und jungen Menschen mit einschlägigem Fachwissen ermöglichen, Beiträge einzubringen. Auf diese Weise kann ein systematischer Ansatz für die Themen sichergestellt werden, die Gegenstand der vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Durch die Einbeziehung von Jugendorganisationen, Jugendvertretern und jungen Menschen mit einschlägigem Fachwissen entsteht eine äußerst vielfältige und einzigartige Grundlage für die Folgenabschätzung. Durch eine solche sinnvolle Zusammenarbeit können sich die Bewerter auf der Grundlage der übergreifenden Kenntnisse und Kompetenzen dieser jungen Menschen einen umfangreichen Überblick verschaffen. Die Beiträge ermöglichen eine eingehende Folgenabschätzung, über die ermittelt werden kann, auf welche Herausforderungen und Aspekte sich politische Maßnahmen nachteilig auswirken könnten.

3.1.4.

Ausgehend von den im Rahmen dieses Verfahrens eingeholten Daten und den Ergebnissen der Konsultationen können die Bewerter die Folgenabschätzung entsprechend der in der Checkliste genannten Themen vornehmen und zudem eine vorausschauende Analyse für künftige Generationen vorlegen.

3.1.5.

Werden nachteilige Folgen festgestellt, sollte der Bewerter Abhilfemaßnahmen vorschlagen, die in erster Linie auf Gruppen, die sich in einer schwierigen Lage befinden, und auf benachteiligte junge Menschen ausgerichtet sind. Die Bewerter sollten im Rahmen der Konsultation auch Fragen zu möglichen Abhilfemaßnahmen thematisieren, die anschließend in die Analyse einfließen könnten. Es wird empfohlen, in den kommenden Jahren eine Bewertung durchzuführen, um die Folgen der Maßnahmen zu überwachen und zu überprüfen, inwiefern die nachteiligen Folgen durch Abhilfemaßnahmen eingedämmt wurden.

3.1.6.

Der EU-Jugendtest darf eine sinnvolle Zusammenarbeit mit jungen Menschen im Allgemeinen nicht ersetzen und sollte bestehende Methoden der Partizipation ergänzen.

3.1.7.

Der Vorschlag ging aus einer Reihe von Gesprächen mit Europas größten Jugendnetzwerken hervor, wurde aber seit seiner Vorlage auch in mehreren Empfehlungen im Rahmen des EU-Jugenddialogs (sowie zuvor im Rahmen des strukturierten Dialogs) ausdrücklich erwähnt. Junge Menschen haben den starken Wunsch nach einem transparenten Verfahren der Politikgestaltung bekundet, das ihnen die Mitwirkung an der Konzipierung und die Weiterverfolgung der Ergebnisse ermöglicht.

3.1.8.

Der Vorschlag orientiert sich zudem am Aufbau des KMU-Tests, der auf den drei Säulen Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen beruht und ein gutes Beispiel für ein geeignetes Instrument zur Folgenabschätzung auf EU-Ebene darstellt (26). Darüber hinaus soll der EU-Jugendtest wie auch der KMU-Test zu einem eigenständigen Instrument im Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung werden. Auf diese Weise soll entsprechend der Aussage der Präsidentin der Europäischen Kommission die Rolle junger Menschen im Europa der Zukunft gestärkt werden.

3.1.9.

Der Vorschlag stützt sich auf Beispiele für Instrumente zur Abschätzung der Folgen für junge Menschen, die in einigen Mitgliedstaaten (u. a. Österreich, Deutschland, Frankreich und Flandern in Belgien sowie außerhalb der EU, etwa in Neuseeland und Kanada) bereits existieren.

3.1.10.

Die vorgeschlagene Folgenabschätzung bietet eine Möglichkeit, sicherzustellen, dass bei politischen Maßnahmen und ihren Auswirkungen die Bedürfnisse und Erwartungen junger Menschen berücksichtigt werden, dabei wird über den Bereich der klassischen Jugendpolitik hinausgegangen. Lediglich einige wenige Vorschläge der Europäischen Kommission werden aus der Perspektive junger Menschen untersucht. Ein Großteil dieser Vorschläge hat jedoch direkten oder indirekten Einfluss auf die Lebensqualität junger Menschen.

3.1.11.

Es wird vorgeschlagen, den EU-Jugendtest in die öffentlich zugänglichen Folgenabschätzungen im Rahmen der besseren Rechtsetzung zu integrieren und auf dem europäischen Jugendportal zu veröffentlichen. Allerdings sollte näher geprüft werden, welche Vorgehensweise die größte Wirkung hätte. Die Generaldirektion Kommunikation wird gleichwohl aufgefordert, den EU-Jugendtest aktiv zu fördern und so dafür zu sorgen, dass er bekannt gemacht wird. Gleichzeitig sollte das Generalsekretariat seine Einführung in verschiedenen Generaldirektionen unterstützen. Der EU-Jugendtest könnte zudem von den Institutionen veröffentlicht werden, die ihn durchführen wollen, auch auf dem Internetportal des EWSA. Anhand der Veröffentlichung der Folgenabschätzung und der endgültigen Fassung des Vorschlags können die an der Konsultation beteiligten Jugendakteure herausfinden, inwiefern ihr Beitrag berücksichtigt wurde.

3.1.12.

Der EU-Jugendtest ist als Struktur gedacht, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammen mit den Institutionen der Europäischen Union angewendet werden kann.

3.1.13.

Der EU-Jugendtest verfügt über das Potenzial, die Politikgestaltung zu verbessern. Er muss allerdings auf sinnvollen Methoden der Partizipation beruhen, da die Nutzung des in der Gesellschaft vorhandenen Wissens eine Möglichkeit darstellt, Effizienz und Verbesserungen zu bewirken.

3.2.    Einbindung junger Menschen in die Arbeiten des EWSA

3.2.1.

Der EWSA ist sich bewusst, wie wichtig es ist, junge Menschen an der Gestaltung der Zukunft Europas zu beteiligen (27), weswegen er mehrere erfolgreiche Initiativen initiiert hat, z. B. „Your Europe, Your Say!“ und die Jugendklima- und -nachhaltigkeitsdebatten, sowie den Europäischen Jugendklimagipfel, den der EWSA gemeinsam mit dem Europäischen Parlament veranstaltet. Als Folgemaßnahme zu seiner Stellungnahme NAT/788 (28) hat der EWSA im Jahr 2021 erstmals anlässlich der COP26 eine Jugenddelegierte in seine offizielle Delegation für die Vertragsstaatenkonferenzen (COP) der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) aufgenommen. Außerdem werden vor dem Hintergrund des Europäischen Jahres der Jugend mit dem EWSA-Preis der Zivilgesellschaft 2022 wirkungsvolle, innovative und kreative Initiativen ausgezeichnet, deren Ziel es ist, eine bessere Zukunft für und mit jungen Menschen in Europa aufzubauen.

3.2.2.

Der EWSA wird sich bemühen, der Stimme von jungen Menschen und Jugendorganisationen durch stärker strukturierte, sinnvolle und gezielte Methoden der Partizipation noch mehr Gehör zu verschaffen, um Jugendliche und ihre Organisationen besser in seine Arbeit einzubeziehen. Der EWSA sollte daher folgende Schritte einleiten:

Einführung transparenter und bereichsübergreifender Koordinierungsverfahren, um die Sichtweise junger Menschen durchgängig bei der Arbeit und den Legislativtätigkeiten des EWSA zu berücksichtigen;

Rückgriff auf junge Expertinnen und Experten mit einschlägigem Fachwissen für wichtige Stellungnahmen;

im Rahmen des Europäischen Jahres der Jugend Einplanung des Themas Jugend als gemeinsames Thema für die Runde der Initiativstellungnahmen im Herbst;

Durchführung von Debatten mit europäischen Jugendorganisationen und Basisorganisationen, um nationale und europäische Sichtweisen wirksamer miteinander zu verbinden;

jährlich Auswahl jugendbezogener Themen für Studien des EWSA (29);

Berücksichtigung auch der generationsübergreifenden Perspektive in allen Stellungnahmen des EWSA (wie bereits bei der geschlechtsspezifischen Perspektive der Fall);

Aufbau dynamischer Beziehungen zu anderen EU-Institutionen, um Methoden für die Partizipation junger Menschen zu erfassen und die Öffentlichkeitsarbeit mit Blick auf Jugendliche und Jugendorganisationen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu verstärken;

Annahme der Entschließung zur Einbeziehung junger Menschen im Rahmen des EWSA, die von der Koordinierungsgruppe für das Europäische Jahr der Jugend erarbeitet wird;

Aufnahme einer Rubrik „Einbeziehung junger Menschen“ in das Internetportal des EWSA, um auf abgeschlossene, aktuelle und künftige jugendbezogene Tätigkeiten, einschließlich Stellungnahmen, öffentliche Anhörungen, Veranstaltungen usw., hinzuweisen;

Einrichtung einer ständigen Struktur im EWSA, um sicherzustellen, dass die Bemühungen um die Einbeziehung junger Menschen im EWSA und mit den anderen Institutionen nach 2022 fortgesetzt werden.

3.2.3.

Der EWSA wird weiter prüfen und erwägen, wie er das Konzept des EU-Jugendtests in seine Verfahren integrieren kann, um einen kohärenten Ansatz für die Einbindung junger Menschen in die Arbeiten des EWSA zu entwickeln.

3.2.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, auf diese Initiativstellungnahme und den Vorschlag für einen EU-Jugendtest zu reagieren und gemeinsam über die Umsetzung nachzudenken.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Sekundärdatenstudie European Youth in 2021.

(2)  Influencing and understanding political participation patterns of young people, Europäisches Parlament, 2021.

(3)  Entschließung des Europäischen Rates zur EU-Jugendstrategie 2019–2027.

(4)  Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.

(5)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52022DC0404&qid=1660827033223

(6)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/speech_21_4701.

(7)  Deželan, T., Moxon, D., Influencing and understanding political participation patterns of young people: the European perspective, Studie, 2021.

(8)  Bárta, O., Boldt, G., Lavizzari, A., Meaningful youth political participation in Europe: concepts, patterns and policy implications, Forschungsstudie, 2021.

(9)  Eurobarometer 96 — Winter 2021-2022.

(10)  Kitanova, M., Youth political participation in the EU: evidence from a cross-national analysis, Journal of Youth Studies, Vol. 23, Nr. 7, 2020 (Einreichung 2018).

(11)  Konferenz zur Zukunft Europas — Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.

(12)  https://www.youthforum.org/files/YFJ_EU_Youth_Test.pdf.

(13)  OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.

(14)  Flash Eurobarometer zu Jugend und Demokratie, durchgeführt zwischen dem 22. Februar und dem 4. März 2022.

(15)  European Parliament youth survey — report, Europäisches Parlament, September 2021.

(16)  OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.

(17)  European Parliament youth survey — report, Europäisches Parlament, September 2021.

(18)  Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).

(19)  Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).

(20)  Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).

(21)  Deželan, T., Moxon, D., Influencing and understanding political participation patterns of young people: the European perspective, Studie, 2021.

(22)  Flash Eurobarometer Jugend und Demokratie im Europäischen Jahr der Jugend, Europäische Kommission, 2022.

(23)  OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.

(24)  Jugendforum der Europäischen Union, The EU Youth Test: Investing Now in the Union’s Future und EU youth test.

(25)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 27.

(26)  Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung — KMU-Test.

(27)  EWSA-Stellungnahmen „Europäisches Jahr der Jugend 2022“ (SOC/706) (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 122) und „Eine neue EU-Strategie für junge Menschen“ (SOC/589) (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 142).

(28)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44.

(29)  Derzeit wird eine Studie des EWSA zur strukturierten Einbeziehung junger Menschen erstellt: Erfassung lokaler, nationaler, europäischer und internationaler bewährter Verfahren zur Entwicklung der erforderlichen und geeigneten Mechanismen, um sicherzustellen, dass die Stimmen junger Menschen Gehör finden.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag der Technologien zur CO2-Entfernung zur Dekarbonisierung der europäischen Industrie“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/08)

Berichterstatter:

Andrés BARCELÓ DELGADO

Ko-Berichterstatterin:

Monika SITÁROVÁ

Beschluss des Plenums

18.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

24.6.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

229/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt seine ausdrückliche Unterstützung für die im Grünen Deal eingegangenen Verpflichtungen, die Stärkung der strategischen Autonomie bei der Energieversorgung sowie die Führungsrolle der Industrie.

1.2.

Die Auswirkungen des anhaltenden Krieges in der Ukraine auf die Verfügbarkeit von Energie und Rohstoffen dürfen nicht ignoriert werden, und die Lage muss mithilfe des Europäischen Semesters überwacht werden.

1.3.

Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie kann nur gelingen, wenn als Grundlage ein guter Mix aus erneuerbarer Energie in ausreichender Menge für die Elektrifizierung und für die Erzeugung von grünem Wasserstoff zur Verfügung steht. Technologien zur CO2-Entfernung (Carbon Dioxide Removal — CDR), zur CO2-Abscheidung und -Speicherung (Carbon Capture and Storage — CCS) sowie zur CO2-Abscheidung und -Nutzung (Carbon Capture and Use — CCU) werden der Industrie dabei helfen, Klimaneutralität zu erreichen. Der europaweite Einsatz erneuerbarer Energien ist notwendig, um die Ziele des Grünen Deals zu erreichen.

1.4.

Die Dekarbonisierung wird (in den vor uns liegenden 30 Jahren) einen tiefgreifenden Wandel der industriellen Abläufe erfordern. Obwohl es bereits viele CO2-arme Technologien gibt, ist ihr Technologie-Reifegrad (TRL (1)) niedrig. Es werden ehrgeizige Technologiefahrpläne erforderlich sein, um diese bahnbrechenden Technologien auszubauen und in großem Umfang einzusetzen, und die EU muss die Innovation durch die Klima- und Innovationsfonds fördern.

1.5.

Die Entwicklung von Technologien sowie die Ausbildung und Umschulung der Arbeitskräfte sind daher für den grünen Wandel in der verarbeitenden Industrie unverzichtbar. Durch den sozialen Dialog auf europäischer, einzelstaatlicher und regionaler Ebene sollten das Bewusstsein, die Akzeptanz und die Unterstützung für eine grüne und gerechte Umstellung der Industrie gefördert werden. Für einen effektiven industriellen Wandel, bei dem niemand zurückgelassen wird, sind Kompetenzaufbau und Projekte zur Auslotung von Schlüsselkompetenzen wesentlich.

1.6.

Die verstärkte Nutzung alternativer Rohstoffe — insbesondere nachhaltiger Biomasse — kann zu einer dauerhaften Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre beitragen. Dazu müsste die nachhaltige Bewirtschaftung der (land- und forstwirtschaftlichen) Produktionsflächen und die Nutzung von Biomasse in langlebigen Produkten, durch die das CO2 gebunden und somit länger der Atmosphäre entzogen bleibt, vorangetrieben werden. Dies würde zudem dazu beitragen, die Abhängigkeit der EU von importierten Rohstoffen und Ressourcen zu verringern.

1.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gesichert werden muss. Die EU ist zwar ein Vorreiter bei der Verringerung der CO2-Emissionen, doch müssen andere Akteure beim Klimaschutz mitziehen. Da die Klimakrise ein globales Problem ist, muss die Europäische Union ihre diplomatischen Anstrengungen verstärken, um Drittländer davon zu überzeugen, mehr gegen diese Krise zu unternehmen. Die EU hat sich freilich hohe politische Ziel gesetzt. Dennoch dürfte sie immer mehr zu einem Vorreiter der Dekarbonisierung in der Industrie werden, da diese politischen Rückhalt hat und sowohl die Unternehmen als auch ihre Arbeitnehmer über praktisches Wissen hinsichtlich der industriellen Machbarkeit verfügen. Außerdem stehen die erforderlichen Technologien sowie Fähigkeiten zur Antizipierung des Wandels bereit, sodass entsprechende praktische Maßnahmen ergriffen werden können.

1.8.

Wohlstand, gute Arbeitsplätze und ein klimapolitisches Engagement in der europäischen Gesellschaft kann es nur dann geben, wenn eine tragfähige industrielle Basis in der EU erhalten bleibt. Um ihre Wettbewerbsposition abzusichern, muss die europäische Industrie in Europa investieren, und zwar sowohl in Forschung, Entwicklung und Innovation als auch in Anlagen und Ausrüstungen. Dazu braucht sie einen angemessenen Rechtsrahmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Mit dem Europäischen Klimagesetz wurde ein ehrgeiziges Emissionsreduktionsziel für 2030 festgelegt und das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 bekräftigt. Um das Ziel der Europäischen Union zu erreichen, müssen alle Vorgänge, bei denen Treibhausgase (THG) entstehen, analysiert werden, und es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um bis ca. 2050 klimaneutral zu werden.

2.2.

Das verarbeitende Gewerbe verursacht 20 % (2) der Emissionen in Europa. Die CO2-intensiven verarbeitenden Industriezweige in Europa sind Eisen und Stahl, Zement, Chemie und Petrochemie, Zellstoff und Papier, Düngemittel, Glas, Keramik, Ölraffinerien und Nichteisenmetalle (hauptsächlich Aluminium). Zu den von der Industrie emittierten Treibhausgasen zählen Kohlendioxid (CO2) aus dem Energieverbrauch, aus der nichtenergetischen Nutzung fossiler Brennstoffe und aus nicht-fossilen Quellen sowie andere Gase neben CO2.

2.3.

Die Umstellung auf eine grüne Wirtschaft in der verarbeitenden Industrie ist entscheidend für die Einhaltung des Europäischen Klimagesetzes. Der Übergang wird mit einem technologischen Wandel einhergehen, der wiederum Veränderungen bei den Arbeitsmethoden sowie bei den in der Industrie gefragten Fähigkeiten und Kompetenzen nach sich ziehen wird. Allerdings werden auch nachfrageseitige Maßnahmen erforderlich sein, um der Einführung CO2-armer Produkte und neuer Geschäftsmodelle (Industriesymbiose, Kreislaufwirtschaft, Lastteuerung) den Weg zu bahnen.

3.   Verarbeitende Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität

3.1.

Im Mittelpunkt dieser Initiativstellungnahme stehen die Industriesektoren, die unter das Emissionshandelssystem fallen. Energieversorgung, Verkehr und Gebäude werden an dieser Stelle nicht behandelt.

3.2.

Neben der Dekarbonisierung besteht eine unbedingt anzugehende Herausforderung darin, die Energieeffizienz der einzelnen Industriesektoren zu verbessern. Auch wenn die Dekarbonisierung der europäischen Industrie nicht ausreichen wird, kann die Energieeffizienz dazu beitragen, die Emissionen aus dem Energieverbrauch erheblich zu senken. Es wird eine Verlagerung von fossilen Brennstoffen zu Technologien geben, die keine Treibhausgase emittieren, also vor allem zu erneuerbaren Energien. Versorgungsunternehmen und Behörden haben eine Rechenschaftspflicht in Bezug auf die Energiewende von fossilen Brennstoffen zu emissionsfreien Technologien.

3.3.

Mit Blick auf die Dekarbonisierung lassen sich die Industriezweige wie folgt einteilen:

Branchen, die ihre Produktionsprozesse grundlegend ändern müssen: Stahl (integrierte Route), Düngemittel und chemische Industrie;

Branchen, die im Produktionsprozess auf einen anderen Energieträger umstellen müssen: Stahl (Elektrolichtbogenöfen), Glas, Keramik, Papier usw.;

schwer dekarbonisierbare Branchen wie bspw. die Zementindustrie. Hier gilt es, das während des Verarbeitungsprozesses freiwerdende CO2 abzuscheiden und zu speichern (oder weiterzuverwenden), um klimaneutral zu werden;

Branchen, in denen Technologien zur CO2-Abscheidung und -Nutzung eingesetzt werden können, um Produkte mit hoher Wertschöpfung zu entwickeln. Darunter fallen bspw. Erdölraffinerien, Chemie und Petrochemie.

3.4.

Die hocheffiziente industrielle Kopplung von Kraft und Wärme (KWK (3)) wird sicherlich zur Verbesserung der Energieeffizienz beitragen, doch ist sie kein Allheilmittel für die Dekarbonisierung der Industrie. Eine Alternative wäre die Nutzung oberflächennaher Wärme aus der Industrie in Fernwärmenetzen; sie böte eine weitere Möglichkeit, die Energieeffizienz insgesamt zu steigern und könnte während des Übergangs zur vollständigen Dekarbonisierung eingerechnet werden.

3.5.

CDR-Technologien entziehen der Atmosphäre bereits ausgestoßenes CO2 und führen dadurch zu „negativen“ Emissionen. CCS-Technologien wie Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (Bio-Energy with Carbon Capture and Storage — BECCS) und die direkte Abscheidung und Speicherung aus der Luft (Direct Air Carbon Capture and Storage — DACCS) sind wichtige Elemente im Arsenal der Negativemissionstechnologien. Diese Technologien bieten zwar ein Klimaschutzpotenzial, befinden sich derzeit aber erst im Erprobungsstadium. Auch die Förderung natürlicher CO2-Senken durch Aufforstung und Wiederaufforstung sind CDR-Maßnahmen, gehen jedoch über den Rahmen dieser Stellungnahme hinaus.

Mit Blick auf die Zukunft der CDR-Technologien im verarbeitenden Gewerbe wird es vor allem darum gehen, ein Gleichgewicht zu finden, bei dem die CO2-Abscheidung und -Speicherung neben anderen Technologien zur CO2-Verringerung und -Entfernung als Klimaschutzoption eingesetzt wird. Die Verringerung und der Abbau von Treibhausgasen muss den Vorgaben des Übereinkommens von Paris und des europäischen Klimagesetzes folgen. CCS könnte die EU in die Lage versetzen, beim Abbau von Treibhausgasen mit dem notwendigen Tempo voranzukommen. Langfristig sollte eine Speicherung von CO2 allerdings vermieden werden.

3.6.

Wasserstoff, der mithilfe erneuerbarer Energien erzeugt wird (grüner Wasserstoff), scheint sich branchenübergreifend als Lösung für die Dekarbonisierung anzubieten. Beispielsweise wird in einem Projekt in Schweden versucht, die Treibhausgasemissionen der Stahlproduktion mithilfe von erneuerbarem Wasserstoff zu beseitigen. In Finnland soll mit einem Projekt herausgefunden werden, wie blauer und später grüner Wasserstoff gewonnen und CO2 abgeschieden und dauerhaft in der Ostsee gespeichert werden kann.

4.   Die verarbeitende Industrie auf dem Weg zur Dekarbonisierung

4.1.

Das Hauptaugenmerk soll den europäischen Industriebranchen mit großem Verbesserungspotenzial und großen Auswirkungen auf die Verringerung der europäischen CO2-Emissionen gelten. Im verarbeitenden Gewerbe liegt der Schwerpunkt auf Branchen, in denen sich die Dekarbonisierung schwieriger gestaltet. In dieser Stellungnahme geht es vor allem um folgende Branchen: Stahl, Zement, Chemie und Petrochemie, Ölraffinerien, Zellstoff und Papier, Düngemittel, Glas und Keramik.

4.2.

Bevor wir uns Technologien zuwenden, die sich auf die Verringerung und den Abbau von CO2-Emissionen auswirken könnten, müssen wir die Abkehr von fossilen Energieträgern und die Umstellung auf andere emissionsfreie Energiequellen und alternative erneuerbare Quellen ins Auge fassen. Als solche Quellen kommen bspw. Windkraft, Photovoltaik, thermosolare Energie, Wasserkraft, geothermische Energie, Biomasse und Biokraftstoffe in Frage.

4.3.

Einige Branchen müssten ihre Prozesse auf bereits vorhandene bzw. neue Technologien umstellen, um treibhausgasneutral zu werden, sodass eine klimaneutrale Gesellschaft aufgebaut werden kann. Je nach Branche und ihrem derzeitigen THG-Ausstoß kann diese Umstellung in einem oder mehreren Schritten bewerkstelligt werden.

4.4.

Dieser erste Schritt könnte u. U. „nur“ darin bestehen, die Produktions- oder Beschaffungsverfahren der Prozesse zu verändern. In vielen anderen Fällen dürfte weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeit notwendig sein, um bspw. derzeitige Erdgasbrenner auf Wasserstoff umzustellen oder Wärmepumpen einzusetzen. Darüber hinaus muss auch das Zusammenspiel zwischen Wasserstoff und den Materialien bzw. Produkten berücksichtigt werden.

4.5.

Stahlindustrie:

Die Herausforderungen für die traditionelle Stahlindustrie (integrierte Route, die eine Eisenerzreduktion erfordert) haben bereits zur Einführung verschiedener neuer Technologien geführt. Momentan geht es vor allem darum, Hochöfen durch Elektrolichtbogenöfen zu ersetzen, die mit direkt reduziertem Eisen (Direct Reduced Iron — DRI) gespeist werden, das mit grünem Wasserstoff hergestellt wird. Andere bereits untersuchte Alternativen stützen sich auf CCS-Technologien, verfehlen aber das Treibhausgasreduktionsziel. Durch die Elektrolyse von Eisenerz könnte der CO2-Ausstoß gegenüber der derzeitigen integrierten Route um bis zu 87 % gesenkt werden (sofern die Stromversorgung vollständig dekarbonisiert ist). Mit der Wasserstoffplasmareduktion wurde ursprünglich CO2-Neutralität angestrebt. So könnte beim Einsatz von Wasserstoff in der Stahlerzeugung bis zu 95 % weniger CO2 ausgestoßen werden als bei der derzeitigen integrierten Route (sofern dabei vollständig dekarbonisierter Strom genutzt wird). Aufgrund der Energieverluste bei der Wasserstofferzeugung würde dadurch jedoch der Energieverbrauch der Branche erhöht.

Bei der Stahlerzeugung in Elektrolichtbogenöfen fallen nur 14 % der Treibhausgasemissionen an, die bei der integrierten Route entstehen. Hier besteht die wichtigste Herausforderung darin, Erdgas in den Walzöfen durch grünen Wasserstoff oder Induktionsstrom zu ersetzen.

Würde CCU (unter Verwendung der Hochofenabgase) im vollen Umfang eingesetzt, könnten die Emissionen um bis zu 65 % gesenkt werden (die CO2-Reduktion hängt auch vom gesamten Lebenszyklus der hergestellten chemischen Produkte ab). Einige dieser Verfahren befinden sich in einem weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. So wird etwa in der Steelanol-Pilotanlage (TRL 9, derzeit im Bau) Abgas zur Herstellung von Bioethanol verwendet. Im Rahmen des Projekts Carbon2Chem (TRL 7-8) soll Abgas als Rohstoff für Chemikalien verwendet werden.

4.6.

Zementindustrie:

Lediglich 37 % der Emissionen der Zementindustrie sind auf den Brennstoffeinsatz zurückzuführen. Die restlichen 63 % stammen aus der chemischen Reaktion des Rohstoffs (Prozessemissionen). Die Verwendung von Brennstoffen aus erneuerbaren Quellen (Biomasse oder Wasserstoff) wird daher die Emissivität um maximal 35 % verringern. Derzeit werden Technologien erprobt, die in der Zukunft die Abscheidung und das Management oder die Speicherung von CO2 ermöglichen könnten (Aminwäsche und Kalzium-Looping-Verfahren). Eine weitere Möglichkeit zur Emissionsminderung ist die Entwicklung sogenannter klinkerarmer Zemente, deren derzeitiger Technologie-Reifegrad bei 5-7 liegt. Solche Zemente weisen eine um bis zu 30 % geringere Emissivität auf als reine Portlandzemente.

4.7.

Chemische Industrie:

In der chemischen Industrie dient die Elektrifizierung von Produktionsprozessen wie die Elektrifizierung von Dampfspaltern dazu, die CO2-Emissionen pro Anlage um 90 % zu senken. Die Chemieindustrie leistet einen wichtigen Beitrag zu nachhaltigen Kohlenstoffkreisläufen. Chemische Erzeugnisse sind ein massiver Kohlenstoffspeicher, in dem Kohlenstoff 10 bis 40 Jahre lang gebunden werden kann. Heute ist die Menge des in chemischen Produkten gebundenen Kohlenstoffs mit den Gesamtemissionen der Industrie für die Herstellung dieser Produkte vergleichbar. Auch wenn der Großteil dieses Kohlenstoffs in die Atmosphäre gelangt, wenn die Produkte am Ende ihrer Lebensdauer verbrannt werden, ist die Ausarbeitung einer ehrgeizigen Kreislaufwirtschaftsstrategie eine Voraussetzung für die Schaffung nachhaltiger und klimaresilienter Kohlenstoffkreisläufe, da der Kohlenstoff dadurch im Kreislauf gehalten wird. Die Chemieindustrie kann zur Emissionssenkung in anderen Sektoren beitragen, indem sie Kohlenstoff aufnimmt und in Produkten speichert.

4.8.

Zellstoff- und Papierindustrie:

In der Zellstoff- und Papierindustrie dürften eine Kombination aus Prozessverbesserungen, u. a. die Umstellung auf Industrie 4.0, sowie Investitionen in modernste Produktionstechnologien bis 2050 eine Verringerung des CO2-Ausstoßes um 7 Mio. Tonnen ermöglichen. Dank ihrer standortinternen KWK-Anlagen kann sich die Industrie auf dem Energiemarkt engagieren und dazu die Überschüsse aus den fluktuierenden erneuerbaren Energieträgern einsetzen. Damit sind Dekarbonisierungsvorteile von bis zu 2 Mio. Tonnen möglich. Die weitere Umstellung von Industrieanlagen auf CO2-arme oder sogar CO2-freie Energiequellen dürfte zu einer Emissionseinsparung von etwa 8 Mio. Tonnen CO2 führen. Neben einigen der bahnbrechenden Konzepte, die im Rahmen des Projekts „Two Team“ (4) herausgearbeitet wurden, wie z. B. die derzeit in Entwicklung befindliche „Deep Eutectic Solvents“-Technologie, könnten andere innovative und disruptive Lösungen mit etwa 5 Mio. Tonnen CO2 zur Emissionsminderung beitragen.

4.9.

Ölraffinerien:

Ölraffinerien können auf zweierlei Weise zur Energie- und Klimawende der europäischen Wirtschaft beitragen: i) durch eine erhebliche Verringerung des CO2-Fußabdrucks ihrer Herstellungsverfahren und ii) durch die schrittweise Ersetzung von Brennstoffen und anderen Produkten fossilen Ursprungs durch Brennstoffe und andere Produkte auf der Grundlage von biogenem oder recyceltem CO2. Die schrittweise Ersetzung fossiler Energieträger durch Bioenergie in Verbindung mit CCU- und CCS-Technologien wird sogar zu negativen Treibhausgasemissionen führen. Die Netto-Treibhausgasemissionen, die bei der Verwendung von Brennstoffen und anderen Raffinerieerzeugnissen entstehen, können durch die schrittweise Umstellung des Rohstoffs von Rohöl auf nachhaltige Biomasse und recyceltes CO2 drastisch gesenkt werden. Die so gewonnenen Kraftstoffe verursachen bei der Verbrennung keine oder eine nur sehr geringe Netto-CO2-Abgabe in die Atmosphäre und helfen dadurch, den Verkehr, und insbesondere die schwer elektrifizierbaren Verkehrsträger zu dekarbonisieren. Investitionen und neue Projekte in diesen Bereichen sind im Gange. So wurden beispielsweise drei der rund 80 großen Raffinerien in der EU in Bioraffinerien umgewandelt, in denen vollständig von Rohöl auf nachhaltige Biomasse umgestellt wurde (5). Diese klimafreundliche Übergangsstrategie erfordert gegenüber anderen Lösungen einen geringeren finanziellen Einsatz, denn die Raffinerien und die Logistiksysteme für den Vertrieb der Produkte können weitgehend angepasst und neu genutzt werden.

4.10.

Düngemittel:

In der Düngemittelindustrie werden derzeit Möglichkeiten geprüft, den Rohstoff Erdgas durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. EU-weit wird an einer Reihe von Pilotprojekten (6) gearbeitet, und sobald grüner Wasserstoff bereitsteht und die Kostenfrage geregelt ist, wird die Industrie vollständig dekarbonisiert werden können.

4.11.

Zusammenfassend hat die verarbeitende Industrie ein Potenzial zur Dekarbonisierung, das durch eine verbesserte Energieeffizienz, optimierte Prozesse und die Umstellung auf erneuerbare Energieträger ausgeschöpft werden könnte. Um die angestrebte CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen, muss in Forschung, Entwicklung und Innovation investiert werden. CCS- und CCUS-Technologien sind auch für die verarbeitenden Industriezweige wie die Zementindustrie und dort, wo Biomasse als Energiequelle dient, von Bedeutung.

5.   Fähigkeiten und Kompetenzen in der künftigen verarbeitenden Industrie

5.1.

Neue industrielle Verfahren werden zweifellos auch neue Arbeitsweisen mit sich bringen. Industrie und Arbeitnehmer müssen ihre Arbeitsmethoden anpassen, wobei der Schwerpunktdarauf liegen muss, die CO2-Emissionen von den ersten Etappen der Herstellungsverfahren an zu verringern.

5.2.

Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie wird die Produktion in vielerlei Hinsicht verändern; neue Produktionstechnologien werden in vollem Umfang Einzug halten und die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden. Neue Kompetenzen, Weiterbildung und Umschulung werden gefragt sein, um einen gerechten Übergang zu gewährleisten, bei dem niemand zurückgelassen wird. Besonders gilt es, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU, KMU, Sozialunternehmen und regionale Fachleute zu ermuntern, die unvermeidlichen Veränderungen in ihrem Lebensumfeld aktiv mitzugestalten.

5.3.

Die EU muss sicherstellen, dass das Wissen über neue Technologien und deren Umsetzung in den derzeitigen Branchen die Arbeitnehmer in der Industrie erreicht. Behörden und Unternehmen müssen sich im Rahmen des sozialen Dialogs darum bemühen, bereits vorhandene Kompetenzen zu nutzen und die Dekarbonisierungsziele zu erreichen.

5.4.

Der umfassende Einsatz grünen Wasserstoffs in der Industrie wird für viele Branchen ein entscheidender Schritt sein. Darüber hinaus wird die Umsetzung der CDR-Technologien jedoch auch die Fähigkeiten und Kompetenzen in der verarbeitenden Industrie sowie in großem Maße in der Lieferkette beeinflussen.

6.   Maßnahmen und Rahmenbedingungen der EU

6.1.

Der EU-Rechtsrahmen und die nationalen Vorschriften müssen zur Dekarbonisierung der Industrie beitragen. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Möglichkeiten und/oder Ressourcen für Investitionen in diese Umstellung je nach Mitgliedstaat und Region in Europa sehr unterschiedlich ausfallen werden.

6.2.

Der Fonds für einen gerechten Übergang, mit dem Regionen, die in hohem Maße von CO2-intensiven Industriezweigen abhängig sind, unterstützt werden sollen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sein Anwendungsbereich mit der Beschränkung auf Regionen, die stark von Steinkohle, Braunkohle, Torf, Ölschiefer und CO2-intensiven Industriezweigen abhängig sind, ist jedoch zu eng gefasst. Der EWSA schlägt wie das Europäische Parlament vor, den Haushalt des Fonds für einen gerechten Übergang drastisch aufzustocken, um Unterstützung für weitere Branchen bereitzustellen, die von den Auswirkungen der Dekarbonisierung der Industrie betroffen sein werden. Zusätzliche Mittel sollten gezielt für den nahtlosen Arbeitsplatzwechsel, die Schaffung alternativer guter Arbeitsplätze in denselben Regionen und eine angemessene Schulung, Umschulung und Weiterqualifizierung der Arbeitnehmer abgestellt werden.

6.3.

Der grüne Wandel in der Industrie kann nur gelingen, wenn CO2-neutrale Energie und Rohstoffe in großer Menge sowie zu erschwinglichen, stabilen und wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen. In Europa müssen erhebliche Investitionen, auch in die Energieinfrastruktur, getätigt werden, um den Bedarf der Industrie an großen Mengen erneuerbarer Energie zu decken.

6.4.

Der EU-Rechtsrahmen muss so gestaltet sein, dass die EU-Wirtschaft das Ziel der Netto-Klimaneutralität bis 2050 erreichen kann. Dazu müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, um die enormen — finanziellen, technischen und intellektuellen — Ressourcen zu mobilisieren, die notwendig sind, damit zeitnah Investitionen in CO2-arme Technologien (wie bspw. Technologien zur CO2-Entfernung) getätigt werden können.

6.5.

Es bedarf regulärer Anreize, um die CO2-Abscheidung in der verarbeitenden Industrie zu fördern. Dies kann entweder auf europäischer Ebene über den Innovationsfonds oder in den einzelnen Mitgliedstaaten geschehen. Dabei darf allerdings der Binnenmarkt als Eckpfeiler der EU nicht gefährdet werden. Zusätzliche EU-Initiativen werden erforderlich sein, um private Investitionen anzuziehen und zu mobilisieren.

6.6.

Auf europäischer Ebene müssen strategische Bündnisse aufgebaut werden, um die Entwicklung dieser Branche zu beschleunigen, damit die EU eine diesbezügliche Führungsrolle übernehmen kann. Die derzeitigen Vorschriften für staatliche Beihilfen könnten angepasst werden, um dies zu ermöglichen.

6.7.

Besondere Aufmerksamkeit muss den FuE-Tätigkeiten gewidmet werden, wobei ein entsprechender Dialog auf europäischer Ebene stattfinden sollte. Der Innovationsfonds muss das bevorzugte Instrument für die Kanalisierung dieser Tätigkeiten sein.

6.8.

Strategien zur Vergabe öffentlicher Aufträge sollten genutzt werden, um die Märkte für umweltfreundliche Produkte zu fördern, auf denen die Hersteller die Treibhausgasemissionen gegenüber „braunen“ Produkten senken.

6.9.

Angesichts des festgestellten Rückstands bei der Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und des Zeitdrucks sollten zentrale Leistungsindikatoren in die Berichterstattung des Europäischen Semesters und in die länderspezifischen Empfehlungen aufgenommen werden, um die erforderliche Dekarbonisierung der Industrie zu erreichen.

6.10.

In der strategischen Vorausschau sollten in regelmäßigen Abständen Fortschritte, besonders aussichtsreiche Szenarien bzw. Optionen sowie Schwachpunkte bei den Bestrebungen zur Erreichung der Klimaziele geprüft werden. Dies ist umso wichtiger, als dadurch Leitlinien für dringende und risikoreiche Investitionen, aber auch für eine angemessene vertikale und horizontale Bündelung der Ressourcen vorgeben werden können.

6.11.

Es mehren sich die Warnzeichen für ungleiche Wettbewerbsbedingungen und das Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittländer, was die Umstellung auf eine CO2-freie Wirtschaft behindert. Dies unterstreicht erneut, wie wichtig es ist, den Check-up der Wettbewerbsfähigkeit als Instrument zur Risikofilterung und -orientierung einzuführen.

6.12.

Es gibt eine klar messbare Verteilung der Emissionskonzentrationen nach Mitgliedstaaten, Mitgliedstaat pro Kopf, Wirtschaftssektoren und Regionen. Die Zeit drängt, und deshalb sollte Maßnahmen Vorrang gegeben werden, die die schnellsten und größten Fortschritte bei der Dekarbonisierung versprechen. Schwerpunktmäßig muss demnach bei der Metallurgie, mineralischen Stoffe, der Chemie und der Produktion erneuerbarer Kraft- und Brennstoffe angesetzt werden.

Je nach Unternehmensgröße lassen sich Unterschiede in Bezug auf die Fähigkeit zur Entwicklung von Innovationen in der Frühphase sowie in Bezug auf die Bereitschaft zu deren Nutzung und Vermarktung feststellen: Große Unternehmensgruppen sind bei der Innovationsfähigkeit im Vorteil, während KMU bei der Nutzung und Vermarktung vorteilhafter aufgestellt sind. Daher sollte sowohl der branchenübergreifende als auch der vertikale Wissenstransfer durch die Schaffung eines günstigen Unternehmensumfelds gefördert und erleichtert werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  TRL: Technologie-Reifegrade sind unterschiedliche Punkte einer Skala zur Messung des Fortschritts oder Reifegrads einer Technologie.

(2)  Europäische Umweltagentur.

(3)  KWK: Kraft-Wärme-Kopplung.

(4)  https://www.cepi.org/two-team-project-report/

(5)  Bioraffinerien in Gela und Venedig (eni.com) sowie in La Mède (TotalEnergies.com).

(6)  Fertiberia hat die Düngemittelanlage „Impact Zero“ in Puertollano (Spanien) in Betrieb genommen.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Energiewende und Digitalisierung in ländlichen Gebieten“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/09)

Berichterstatter:

John COMER

Ko-Berichterstatter:

Luís MIRA

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

30.6.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

173/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass eine kombinierte Strategie für die Energiewende und die Digitalisierung in ländlichen Gebieten nicht das erwartbare Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten hat. Der EWSA fordert die rasche Umsetzung der von der Kommission verfolgten langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und die Mobilisierung der Interessenträger im Rahmen des EU-Pakts für den ländlichen Raum. Den vulnerabelsten ländlichen Gebieten ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, damit niemand zurückgelassen wird. Dabei muss der Schwerpunkt auf Fragen der Armut bzw. der Energiearmut im ländlichen Raum gelegt werden.

1.2.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass der künftige Erfolg Europas weitgehend von einer im Vergleich zu den städtischen Gebieten ausgewogenen Behandlung der ländlichen Gebiete abhängen wird. Ländliche Gemeinden dürfen nicht benachteiligt werden, wenn es um die Digitalisierung und Optionen für die Energienutzung geht, etwa was die notwendige Nutzung von Privatfahrzeugen aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel angeht.

1.3.

Die Rolle der lokalen Gemeinschaften muss gestärkt werden, um eine gerechte Energiewende in Verbindung mit der kommunalen Entwicklung zu erreichen, und zwar durch den Auf- und Ausbau von Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und Bürgerenergiegemeinschaften, in denen Bürger, lokale Behörden und KMU freiwillig zusammenarbeiten, um soziale und wirtschaftliche Vorteile zu schaffen.

1.4.

Der EWSA fordert, die folgenden politischen Maßnahmen und Instrumente zu verstärken:

Politik im Bereich erneuerbarer Energien: Diese Politik zielt derzeit vornehmlich auf den dringend notwendigen Kapazitätsausbau ab, und nicht auf die Stärkung von Synergien zum Wohle ländlicher Gemeinden. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Kapazitäten im Bereich erneuerbarer Energien zu maximieren, aber auch alle Fragen der ländlichen Entwicklung zu quantifizieren und anzugehen.

Ausschreibungspolitik: Die derzeitige Ausschreibungspolitik für Erneuerbare-Energie-Anlagen ist für ländliche Gemeinden nicht hilfreich, da sie primär auf Kostensenkungen und nicht auf die sozioökonomischen Bedürfnisse der Landbevölkerung ausgerichtet ist. Alle Erneuerbare-Energie-Anlagen sollten so kosteneffizient wie möglich errichtet werden und einen nützlichen Beitrag im Hinblick auf die sozioökonomischen Bedürfnisse der Gemeinden und Bürger im ländlichen Raum leisten.

Stromspeicherung: Der Stromspeichersektor muss ausgebaut werden. Eine der größten Herausforderungen wird in der saisonalen Stromversorgungssicherheit bestehen. Batteriespeicher und intelligente Elektrifizierung in Kombination mit Laststeuerung werden in dieser Hinsicht Abhilfe schaffen. Die Speicherung von grünem Wasserstoff wird als Reserve erforderlich sein.

Spezifische Finanzierung durch Zweckbindung der Mittel im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne: Dadurch wird sichergestellt, dass die Mittel tatsächlich den ländlichen Gebieten zugutekommen.

1.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, zusammen mit dem Gesetz über digitale Märkte und dem Gesetz über digitale Dienste ein Digital Rural Act (Digitalisierungsgesetz für den ländlichen Raum) als dritte Komponente der Digitalstrategie der EU vorzuschlagen. Die Digitalisierung wird neue Möglichkeiten (insbesondere für junge Menschen) eröffnen, was die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen und es den Menschen im ländlichen Raum ermöglichen könnte, von zu Hause aus oder in „Work-Hubs“ zu arbeiten.

1.6.

Der EWSA betont, dass schnelles Internet flächendeckend — auch in dünn besiedelten Regionen — sichergestellt werden muss, damit die Aufbau- und Resilienzpläne der EU oder der Mitgliedstaaten vom Beitrag der ländlichen Gebiete voll und ganz profitieren können. Der EWSA fordert die Regierungen auf, entweder die Voraussetzungen für private Unternehmen zur Erbringung dieser Dienstleistung zu schaffen oder dazu ein staatliches Unternehmen zu nutzen.

1.7.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass Behörden und Dienstleister benutzerfreundliche Anwendungen entwickeln müssen, die an die Lebenswirklichkeit im ländlichen Raum besonders angepasst sind. Die Anwendung entsprechender Technologien wird z. B. den CO2-Fußabdruck der Landwirtschaft (Präzisionslandwirtschaft) verringern und dazu beitragen, die Zugänglichkeit abgelegener Gebiete (Drohnen) zu verbessern. Der öffentliche Sektor muss einspringen, wenn der private Sektor diese Lösungen nicht anbietet.

1.8.

Der EWSA unterstreicht, dass die Menschen im ländlichen Raum unabhängig von ihrem Alter Möglichkeiten für eine angemessene Aus- und Weiterbildung erhalten müssen, um die neue Digitaltechnik nutzen zu können. Durch Inklusion muss in benachteiligten Gebieten auch der Zugang zu den erforderlichen Geräten ermöglicht werden — entweder durch die gemeinsame Nutzung dieser Geräte oder durch staatliche Zuschüsse für ihren Kauf.

1.9.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Einsatz digitaler Technologien in ländlichen Gebieten notwendig ist, um die Energiewende zu unterstützen. Das Energiesystem im ländlichen Raum muss dezentralisiert werden. Das impliziert einen enormen Bedarf an stärkerer und besserer Vernetzung, was wiederum den Einsatz digitaler Technologien erforderlich macht, um Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen und effiziente Energieflüsse zu gewährleisten. Die digitalen Anwendungen müssen in ländlichen Gebieten aufgrund der geringeren Nutzungsrate und der geringeren Bevölkerungsdichte hochgradig energieeffizient sein. Eine IT-Konnektivität mit geringem Energieverbrauch ist eine absolute Notwendigkeit für ländliche Gebiete.

1.10.

Da 30 % der EU-Bevölkerung in ländlichen Gebieten leben, erachtet der EWSA eine gerechte Energiewende in diesen Regionen als Kernelement des gerechten Übergangs zu einer klimaneutralen, nachhaltigen und wohlhabenden EU im Einklang mit der Territorialen Agenda 2030.

1.11.

Der Kommission zufolge sollten Mittel in Höhe von 20 % des Aufbauinstruments NextGenerationEU in die Digitalisierung investiert werden. Der EWSA empfiehlt, dass alle Mitgliedstaaten mindestens 10 % dieser Mittel für die Digitalisierung im ländlichen Raum aufwenden, was jedoch ohne unnötigen Verwaltungsaufwand erfolgen sollte.

2.   Die Energiewende in ländlichen Gebieten

Einleitung

2.1.

Auf wissenschaftlicher Ebene besteht weitgehend Einvernehmen darüber, dass der Mensch am wahrscheinlichsten über die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe Einfluss auf den globalen Klimawandel nimmt.

2.2.

Klimaforscher Michael Mann erklärt in seinem Buch „Propagandaschlacht ums Klima“ (The New Climate War), dass die Erderwärmung unseren Planeten nun in die Gefahrenzone gebracht hat und wir trotzdem noch nicht die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die größte globale Krise unserer Geschichte abzuwenden.

2.3.

Durch den Anstieg der Meeresspiegel ist der Klimawandel an manchen Orten bereits zur realen Gefahr geworden. Venedig und Miami stehen diesbezüglich vor großen Herausforderungen. Im Amazonasgebiet kam es zu massiven Rodungen, und der Klimawandel verursacht Dürren. Anlass zu großer Sorge gibt auch die Tatsache, dass die arktische Eiskappe schneller als erwartet abschmilzt.

2.4.

Nun müssen alle Akteure weltweit tätig werden und unverzüglich Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an seine Folgen ergreifen, um damit die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die rasche Reduzierung des Einsatzes fossiler Brennstoffe muss eine unmittelbare Priorität sein.

Ländliche Gebiete

2.5.

130 Millionen bzw. 30 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger leben in ländlichen Gebieten. Die ländlichen Gebiete sind von einer großen Vielfalt geprägt und stark von ihrer geografischen Lage beeinflusst. In vielen Gebieten insbesondere in Südeuropa wird der Klimawandel Probleme wie Wasserknappheit, Überschwemmungen und Waldbrände mit immer höherer Intensität und Häufigkeit weiter verschärfen. In Nordeuropa können und werden zunehmende Regenfälle und Stürme zu erheblichen und mit hohen Kosten verbundenen Infrastrukturschäden führen. Der Temperaturanstieg wird den Wasserkreislauf verstärken und die Häufigkeit schwerer Stürme erhöhen. Vor diesem Hintergrund müssen Energiewende und Digitalisierung schnellstmöglich Realität werden.

2.6.

Der Energiewende im ländlichen Raum wurde noch nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die eigentlich zu erwarten wäre. Dies überrascht, sind doch die für die Erzeugung erneuerbarer Energien benötigten Ressourcen in hohem Maße mit ländlichen Gebieten verknüpft. Der größte Teil der Infrastruktur für erneuerbare Energien wie Windkraft-, Solar- und Biogasanlagen befindet sich im ländlichen Raum. Auch die Übertragungs- und Leitungsnetze sind ein sichtbares Merkmal der ländlichen Landschaft. Viele Bewohner des ländlichen Raums sind der Ansicht, dass diese Strukturen aufgezwungen werden und dass sie städtischen Gebieten einen größeren Nutzen bringen.

2.7.

Die ländlichen Gebiete haben je nach Lage vielfältige und unterschiedliche Bedürfnisse. Sie lassen sich wie folgt einteilen:

Ländliche Gebiete im Pendler-Einzugsgebiet (im Umkreis von 60 km) einer Stadt, deren Entwicklung mit der Stadt verknüpft ist.

Ländliche Gebiete, die nicht im Arbeitsmarkt-Einzugsgebiet einer Stadt liegen, jedoch Warenströme, Umweltleistungen und andere wirtschaftliche Tätigkeiten für andere Regionen liefern oder von diesen beziehen.

Abgelegene ländliche Gebiete, in denen die lokale Wirtschaft im großen Maße von Exporten des Primärsektors wie landwirtschaftlichen Erzeugnissen abhängen. Diese Gebiete sind insbesondere tendenziell nur spärlich besiedelt und mit öffentlichen Dienstleistungen unterversorgt.

2.8.

Diese verschiedenen ländlichen Gebiete sind bei der Umsetzung der Energiewende mit vielen unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, weshalb ein gerechter Übergang ein wichtiger Faktor für das Erreichen des angestrebten Ziels ist.

2.9.

Viele ländliche Gebiete sind geografisch isoliert, wirtschaftlich kaum diversifiziert und nur spärlich besiedelt. Das niedrige Einkommensniveau und eine alternde Bevölkerung erhöhen die Fragilität ländlicher Gemeinschaften zusätzlich. Bei auf dem Land allein lebenden Menschen, die nur wenige soziale Kontakte haben, gestaltet sich die Umsetzung der Energiewende besonders schwierig. Die Energiearmut ist ein erhebliches Problem in ländlichen Gebieten.

2.10.

Die Einführung intelligenter Zähler ist ein wesentlicher Teil der Energiewende im ländlichen Raum. Bislang schreitet die Einführung solcher intelligenten Zähler auf dem Land offenbar nur langsam voran. Es gilt sicherzustellen, dass auch einkommensschwache Haushalte und Menschen mit geringen Computerkenntnissen den größtmöglichen Nutzen aus intelligenten Zählern ziehen können, denn dies ist Teil einer gerechten Energiewende, bei der niemand zurückgelassen wird. Im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität werden 25 Mrd. EUR für die Förderung von Qualifizierung und Bildung im Digitalbereich bereitgestellt. Die Mitgliedstaaten sollten einen angemessenen Anteil dieser Mittel für Maßnahmen einsetzen, durch die Menschen im ländlichen Raum digitale Kompetenzen erwerben können. In bestimmten Gebieten Europas gibt es keine Internetverbindung: Dieser Mangel ist nicht hinnehmbar und muss so schnell wie möglich behoben werden.

2.11.

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (1) betont, dass die Maßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung und ländliche Entwicklung und die Maßnahmen in den Bereichen Klimawandel und biologische Vielfalt ineinandergreifen müssen. Die Multifunktionalität der Landwirtschaft ist ebenso wichtig wie die Förderung nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeiten (z. B. Unternehmensgründungen im Bereich der sauberen Energie), um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Auch das Potenzial des elektronischen Handels muss ausgelotet werden.

2.12.

Die Mitteilung „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ (2) umfasst einen Pakt für den ländlichen Raum, der darauf abzielt, den territorialen Zusammenhalt zu fördern und durch neue Chancen innovative Unternehmen anzuziehen. Die Umsetzung dieser Vision würde eine gerechte Energiewende in ländlichen Gebieten erheblich erleichtern. Der EWSA hat diesen Ansatz in seiner Stellungnahme „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ begrüßt (3).

Verkehr

2.13.

Die Gewährleistung von Verkehrsdiensten im ländlichen Raum ist ein zentrales Problem, das mit dem geringen Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, der geringen Bevölkerungsdichte und der großen Entfernung zu Geschäften und Dienstleistungen zusammenhängt. Darüber hinaus müssen im ländlichen Raum wohnende Pendler häufig große Entfernungen zu ihrem in der Stadt gelegenen Arbeitsplatz zurücklegen.

2.14.

Dafür muss auf lokaler und nationaler Ebene ein multimodales Verkehrssystem für den Übergang zu erneuerbarer Energie geplant werden. Ein solches Verkehrssystem muss verschiedene Angebote und Alternativen für die Personenbeförderung und den Güterverkehr bieten.

2.15.

Dem Güterverkehr in ländlichen Gebieten muss im Hinblick auf die Energiewende besonderes Augenmerk gewidmet werden. So muss zum Beispiel die Belieferung von Agrarbetrieben mit Gütern und die Abholung landwirtschaftlicher Erzeugnisse von diesen Betrieben ein wichtiger Bestandteil der Planung für die Energiewende sein. Das angestrebte Ziel müssen dabei Lastkraftwagen mit Elektroantrieb oder wasserstoffbetriebene Lkw sein. Kurzfristige Lösungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen liegen auch in nachhaltigen Biokraftstoffen und Hybridfahrzeugen.

2.16.

Online-Bestellungen haben im ländlichen Raum besonders zugenommen, weshalb unbedingt die Treibhausgasemissionen von Lieferwagen gesenkt werden müssen. Der Einsatz von Elektrolieferwagen könnte hier Abhilfe schaffen, sobald eine ausreichende Ladeinfrastruktur vorhanden ist. Zudem sollte der Kauf von Elektrolieferwagen durch die Logistikunternehmen finanziert werden. Als unmittelbare Priorität sollten Maßnahmen eingeleitet werden, um die Emissionen in jeder möglichen Weise zu senken.

2.17.

Vorrang haben muss dabei ein besseres Verkehrsangebot im ländlichen Raum mit weniger Treibhausgasemissionen und mit sozialer Inklusion, das Entwicklungschancen in ländlichen Gebieten schafft. Der öffentliche Verkehr im ländlichen Raum sollte im Zusammenhang mit der Energiewende als öffentliches Gut betrachtet werden. Mithin müssen öffentliche Mittel bereitgestellt werden, um einen nachhaltigen öffentlichen Verkehr zu fördern und zu erleichtern.

2.18.

Privat-Pkw gelten als unverzichtbare Verkehrsmittel im ländlichen Raum, da ein Leben auf dem Lande ohne Auto nicht praktikabel ist. Dabei müssen jedoch die Menschen in ländlichen Gebieten unterstützt und veranlasst werden, ihre privaten Autos im Rahmen des Möglichen weniger zu nutzen und möglichst bald auf emissionsarme Fahrzeuge umzusteigen. Zuschüsse zum Kauf von Elektrofahrzeugen müssen ein zentrales Ziel der Energiewende in ländlichen Gebieten sein.

2.19.

Batteriespeicher sind ein wirksames Mittel zur Abflachung der Nettonachfragekurve für Strom aus erneuerbaren Energiequellen. In dieser Hinsicht wäre eine breite Nutzung von Elektrofahrzeugen zweckdienlich. Wenn Elektrofahrzeuge Strom wieder ins Netz einspeisen können, kann die Elektroflotte zusätzlich zu anderen Formen ebenfalls als Batteriespeicher dienen. Wie in der EWSA-Stellungnahme „Verordnung über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe“ (4) dargelegt wird, muss es für die Verbraucher finanziell attraktiv sein, Strom von Elektrofahrzeugen wieder ins Netz einzuspeisen.

Tourismus

2.20.

Ländliche Gebiete sind oft auf den Tourismus als wichtige Erwerbsquelle angewiesen. Deshalb brauchen ländliche Gebiete eine ausreichende Infrastruktur für alternative Kraftstoffe, um die Tourismuswirtschaft fördern und gleichzeitig die Treibhausgasemissionen senken zu können. Mietwagenunternehmen müssen veranlasst werden, auf emissionsarme Fahrzeuge und vorzugsweise Elektroautos umzusteigen. Die Energiewende im ländlichen Raum erfordert Maßnahmen für höhere Einnahmen aus dem Tourismus.

Strom aus erneuerbaren Quellen

2.21.

Strom aus erneuerbaren Quellen wie Wind- und Solarenergie oder Biogas ist ein wichtiges Element im ländlichen Raum. Die Harmonisierung der Rechtsvorschriften zwischen den Mitgliedstaaten muss dazu dienen, die Interessen der Prosumenten zu fördern und zu schützen und Investitionen in Infrastrukturen für erneuerbare Energien zu mobilisieren. In sämtlichen Mitgliedstaaten muss es ermöglicht werden, die erzeugte Energie an das nationale Netz zu verkaufen. Es bedarf angemessener Ausgleichsregelungen zwischen der von Prosumenten erzeugten erneuerbaren Energie und der verbrauchten Energie zur Gewährleistung der Energieunabhängigkeit der ländlichen Gebiete.

2.22.

In jüngster Zeit gibt es immer mehr Auktionen für die zentrale Beschaffung von Strom aus erneuerbaren Quellen, durch die in vielen Fällen die Kosten für den Bau von Windkraft- und Solarstromanlagen gesenkt werden konnten. Im Allgemeinen zielt der Ausbau des Stromsektors auf dem Land in erster Linie auf die Dekarbonisierung der Energiebranche ab, wobei es keine Synergien mit den Zielen der Entwicklung des ländlichen Raums gibt. Die Bewohner ländlicher Gebiete lehnen entsprechende Projekte häufig ab, da sie sich kaum einen Nutzen für die lokale Gemeinschaft versprechen.

2.23.

Daher müssen bei der Vereinbarung von Standorten für Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen sowohl auf dem Festland als auch vor der Küste lokale Akteure wie Genossenschaften und andere vor Ort angesiedelte Organisationen einbezogen werden. Die lokalen Gemeinschaften müssen Anteile an den Anlagen besitzen und einen Nutzen für ihren Ort aus den Anlagen ziehen.

2.24.

Bei Großprojekten zielt der Ausbau erneuerbarer Energien in erster Linie auf die Dekarbonisierung des Energiesektors ab; die Entwicklung des ländlichen Raums wird weitgehend vernachlässigt. Kleine Windparks, Solar- und Biogasanlagen, die von Genossenschaften und der örtlichen Bevölkerung betrieben werden, können besser auf die Entwicklung des ländlichen Raums ausgerichtet werden und tragen zur sozialen und wirtschaftlichen Inklusion der ländlichen Gemeinden bei. Hier gilt es, eine Ausgewogenheit zwischen diesen beiden Systemen zu erreichen. Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und Bürgerenergiegemeinschaften bieten eine Möglichkeit, eine gerechte Energiewende in Verbindung mit der kommunalen Entwicklung zu erreichen.

2.25.

In einer Fallstudie in einem ländlichen Gebiet in Schweden (Ejdemo und Söderholm, 2015) wurde festgestellt, dass bei fehlenden Programmen mit Anreizen für die Kommunen kaum Beschäftigungschancen im Rahmen der Entwicklung des ländlichen Raums entstanden.

2.26.

Eine Bürgerenergiegemeinschaft ist eine juristische Person, in der sich Bürger, KMU und lokale Gebietskörperschaften als Endnutzer zusammenschließen, um bei der Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Gemeinde Feldheim (ein kleines Dorf südwestlich von Berlin), das inzwischen energieautark ist. Die Einwohner haben in der Nähe Windkraftanlagen errichtet und ein unabhängiges Netz installiert. Ortsansässige zahlen Niedrigpreise für Strom. Durch die Errichtung einer Biogasanlage konnte das Dorf ein Fernwärmenetz aufbauen. Dies ist ein hervorragendes Beispiel für eine funktionierende Gemeinschaft im Bereich der erneuerbaren Energien. Dieses Beispiel zeigt auch, dass ein von unten nach oben gerichteter Ansatz für die Zukunft ländlicher Gebiete von entscheidender Bedeutung ist (5).

2.27.

Durch Laststeuerung wird der Stromverbrauch auf Zeiträume verlagert, in denen das System die Nachfrage decken kann. Mit zunehmender Ökostromerzeugung müssen wir die Nettonachfragekurve für Strom in Spitzenlastzeiten abflachen, um Ausfälle zu vermeiden. Die Nutzung von Batterie- und Hydrospeichern sowie intelligenter Elektrifizierung wird eine flexible Abflachung der Nettonachfragekurve ermöglichen.

2.28.

Die für Energie zuständige Kommissarin Kadri Simson erklärte in Dublin vor Abgeordneten des irischen Parlaments, dass der Krieg in der Ukraine Brüssel dazu gezwungen habe, entschiedener eine schnellere Beendigung russischer Öl- und Gasimporte anzustreben. Man müsse sich noch über Vorschläge einigen, denen zufolge 45 % des Energieverbrauchs der EU bis 2030 durch erneuerbare Energieträger gedeckt werden sollen. Dies sei eine Erhöhung gegenüber dem derzeitigen Ziel von 32 % und mehr als eine Verdoppelung der 22 % von 2020. Der EWSA befürwortet dieses neue Ziel, gibt jedoch zu bedenken, dass es nur erreicht werden kann, wenn die Energiewende in ländlichen Gebieten mit neuen und umfangreicheren Investitionen rasch vorangetrieben wird.

2.29.

Der Wind weht ja nicht immer; deshalb bedarf es einer Reserve: Grüner Wasserstoff kann als Reserve zur Deckung des variierenden Strombedarfs dienen und bis zum Bedarfsfall gespeichert werden.

Landwirtschaft

2.30.

Die Landwirtschaft ist für die Entwicklung und den Wohlstand der meisten ländlichen Gebiete von zentraler Bedeutung. Der Agrarsektor der ländlichen Wirtschaft steht bei der Energiewende vor enormen Herausforderungen.

2.31.

Bislang gab es keine größeren Anstrengungen, um den CO2-Fußabdruck von Landmaschinen zu verringern.

2.32.

In naher Zukunft besteht die beste Möglichkeit zur Verringerung der Emissionen offenbar im Einsatz nachhaltiger Biokraftstoffe, was die Weiterverwendung der existierenden Maschinen ermöglichen würde, wenn diese entsprechend umgerüstet werden.

2.33.

Nachhaltige Biokraftstoffe lassen sich nicht kostengünstig erzeugen und sind manchmal doppelt so teuer wie Diesel. Die Preise könnten jedoch mit der Zeit leicht sinken.

2.34.

Mit der größeren Verfügbarkeit von Landmaschinen mit Elektroantrieb können künftig die Emissionen erheblich gesenkt werden.

2.35.

Landwirtschaft wirft keine großen Gewinne ab, weshalb die Kapitalkosten für den Umstieg auf Maschinen mit Elektroantrieb nur äußerst schwierig zu finanzieren sind. Eines der Grundprobleme bei der Energiewende in ländlichen Gebieten liegt daher in der Lösung der Finanzierungsfrage für den Umstieg auf Maschinen mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb.

2.36.

Durch den Einsatz von Solarpaneelen auf landwirtschaftlichen Gebäuden könnten Landwirte Ökostrom erzeugen und nutzen, denn die Landwirtschaft ist ja ein stromintensiver Sektor. Dies wäre ein erheblicher Gewinn bei der Energiewende. Etwaige Stromüberschüsse könnten ins Netz eingespeist und verkauft werden.

2.37.

Präzisionslandwirtschaft ist ein datengestützter agrarwirtschaftlicher Ansatz, der die Produktion und Erträge verbessern und den CO2-Fußabdruck der Landwirtschaft verringern kann. Ermöglicht wird dies durch Fortschritte bei der Digitaltechnik mit Fernerkundungs-, GPS- und satellitengesteuerten Führungssystemen für Traktoren. Alle diese Aspekte werden für die Energiewende in der Landwirtschaft von Bedeutung sein — in Verbindung mit den notwendigen Investitionen und Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.

2.38.

Landwirte können unter Umständen überschüssigen Strom an das Netz zu verkaufen, denn Milch- und Viehbauern verfügen über großflächige Dächer auf ihren Betriebsgebäuden. Einige Landwirte können sich als Partner an der Errichtung von Biomasseanlagen und dem Verkauf von Gas an das Gasnetz beteiligen. Die Verwendung forstwirtschaftlicher Reststoffe in Biomasseanlagen ist ein wichtiger Beitrag zur besseren Waldbewirtschaftung in den Gebieten, in denen solche Reststoffe verfügbar sind.

2.39.

Aufgrund der Folgen des Ukraine-Kriegs müssen wir uns erneut mit der Ernährungssicherheit in der EU befassen. Flächen müssen vorrangig zur Nahrungsmittelerzeugung genutzt werden. Dabei sollte es nicht zum Wettbewerb mit der Errichtung von Solarpaneelen im industriellen Maßstab und der Produktion von Biomasse für erneuerbare Energien kommen. Vielmehr sollten diese Nutzungsweisen komplementär sein.

Biomethan

2.40.

Biomethan ist ein Biogas, aus dem Kohlendioxid, Schwefelwasserstoff und Wasser abgeschieden wurden und das direkt in das Gasleitungsnetz eingespeist oder in gasbetriebenen Fahrzeugen verwendet werden kann.

2.41.

Die entsprechenden Biogasanlagen müssen in der Nähe geeigneter Güllequellen installiert werden. Überschüsse aus Gras- und Maissilagen können ebenfalls verwendet werden, sofern dies nicht zum Nachteil der Nahrungs- oder Futtermittelerzeugung ist.

2.42.

Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um die Wirksamkeit der Biogasanlagen zu verbessern und die Kosten des Prozesses zu senken.

2.43.

Der Einsatz von Biogasanlagen muss im Rahmen der Energiewende in ländlichen Gebieten gefördert und finanziert werden.

2.44.

Energie aus Biomasse kann zur Erzeugung von Wärme oder Strom genutzt werden. Biomasse wird bei der Produktion von Strom aus erneuerbaren Quellen eine entscheidende Rolle spielen.

Wohngebäude in ländlichen Gebieten

2.45.

In vielen ländlichen Haushalten können Kleinstanlagen zur Energieerzeugung installiert werden, wie zum Beispiel Solarpaneele und kleine Windturbinen, wobei etwaige Stromüberschüsse in das Netz eingespeist werden können.

2.46.

Einkommensschwache Haushalte benötigen finanzielle Unterstützung für die Installation solcher Kleinstanlagen. Dies würde erheblich zur Energiewende in ländlichen Haushalten beitragen.

2.47.

Im ländlichen Gebieten sind Häuser in der Regel weniger gut isoliert und weniger energieeffizient als in städtischen Gebieten. Vielfach handelt es sich um Einzelhäuser an der Witterung ausgesetzten Orten.

2.48.

Im Rahmen der Energiewende ist ein umfangreiches Investitionsprogramm zur Sanierung von Wohngebäuden im ländlichen Raum erforderlich, um ihre Wärmedämmung und Energieeffizienz zu verbessern. Derartige Investitionen bedeuten einen wichtigen Schritt hin zur Senkung des Energieverbrauchs und zur Dekarbonisierung der Wohnraumbeheizung im ländlichen Raum. Eine Zuschussregelung wird erforderlich sein, da die Kapitalkosten für ein umfangreiches Sanierungsprogramm sehr hoch sind. Einkommensschwache Haushalte und Personen, die von Energiearmut betroffen sind, werden für eine solche Sanierung besondere Hilfe benötigen.

3.   Digitalisierung im ländlichen Raum

3.1.

Die Europäische Kommission hat im Jahr 2021 ihre Vision für den digitalen Wandel in Europa bis 2030 vorgestellt. In diesem Zusammenhang betonte sie zunächst, dass die Legislativvorschläge für das Gesetz über digitale Märkte und das Gesetz über digitale Dienste notwendig sind, um einen sichereren digitalen Raum zu gewährleisten, in dem die Grundrechte der Nutzer geschützt sind, sowie um gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Unternehmen in der digitalen Welt zu schaffen.

3.2.

Um eine wachsende Weltbevölkerung mit möglichst geringen Umweltauswirkungen und unter Förderung der CO2-Neutralität ernähren zu können, braucht der ländliche Raum digitale und technische Infrastrukturen, die eine effiziente und zielgenaue Nutzung der Ressourcen in der Landwirtschaft ermöglichen. Obwohl 30 % der europäischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten lebt und diese 80 % des Territoriums der 27 Mitgliedstaaten ausmachen, steht die Digitalisierung im ländlichen Raum vor großen Schwierigkeiten, die die Digitalisierungsziele der EU infrage stellen könnten, wenn sie nicht angegangen werden. Mit dem europäischen Rechtsrahmen für den Digital Rural Act soll diesen Schwierigkeiten begegnet werden, indem Folgendes gefördert wird:

Gewährleistung einer ausgewogenen Breitbandversorgung für alle Regionen Europas: Derzeit gibt es eine gute Abdeckung in den großen städtischen Zentren und Defizite in ländlichen Gebieten. Um die Ziele der Digitalisierung zu erreichen, muss dieses Problem dringend bewältigt werden, damit die Kluft zwischen den verschiedenen Regionen nicht noch größer wird;

Infrastruktur: Gewährleistung privater Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur der letzten Meile unter Berücksichtigung des nichtfinanziellen Nutzens wie externer Effekte auf sozioökonomischer Ebene;

Ausbau von Fähig- und Fertigkeiten: digitale Kompetenz der Bewohner ländlicher Gebiete;

Anpassung: Förderung der Entwicklung von Anwendungen, die den Bedürfnissen der ländlichen und in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung gerecht werden, von der die für städtische Gebiete konzipierten digitalen Dienste kaum genutzt werden.

3.3.

Der Digital Rural Act als Legislativinstrument der Europäischen Kommission bietet zusammen mit dem Gesetz über digitale Märkte und dem Gesetz über digitale Dienste ein Regelwerk mit Rechten, Pflichten und Zuständigkeiten, mit dem sichergestellt werden soll, dass die ländlichen Gebiete in Europa Zugang zu Initiativen, Instrumenten und digitaler Versorgung erhalten, die aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte für private Investitionen wirtschaftlich uninteressant sind. Auf diese Weise wird der Digital Rural Act den digitalen Wandel in den ländlichen Gebieten gewährleisten, in denen der Bedarf in keinem Verhältnis zu der Rendite steht.

3.4.

Und schließlich wird dieses Gesetz auch ein wichtiger Wegbereiter für den europäischen Grünen Deal und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sowie die CO2-Neutralität Europas bis 2050 sein. Der Übergang zu einem fairen, gesunden und umweltschonenden Lebensmittelsystem wird nur möglich sein, wenn entsprechende Technologien und digitale Instrumente zur Verfügung stehen und der ländliche Raum und die Landwirtschaft dazu Zugang haben.

3.5.

Wie in der EWSA-Stellungnahme „Weiterentwicklung einer inklusiven, sicheren und zuverlässigen Digitalisierung für alle“ (6) betont wird, darf die Bedeutung der Digitalisierung nicht unterschätzt werden, da sie „eine stärkere Arbeitsmarktmobilität, die Produktivität und Flexibilität am Arbeitsplatz sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im Fall von Telearbeit wie während der COVID-19-Pandemie fördern“ kann. Dazu bedarf es umfassender digitaler Kompetenzen, unabhängig davon, ob die Arbeitnehmer in städtischen oder ländlichen Gebieten leben. In abgelegenen Gebieten gibt es jedoch zusätzliche komplexe Hürden. Daher fordert der EWSA eine spezifische Agenda für digitale Kompetenzen, um die in ländlichen Gebieten lebenden europäischen Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen. Dieser Ansatz sollte im Mittelpunkt des Digital Rural Act stehen und gleichzeitig dazu beitragen, die digitale Kluft zu überbrücken und die Vorteile des digitalen Wandels der Gesellschaft zu nutzen.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA-Stellungnahme „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 49).

(2)  COM(2021) 345 final.

(3)  EWSA-Stellungnahme „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ (ABl. C 290, vom 29.7.2022, S. 137).

(4)  EWSA-Stellungnahme „Verordnung über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe“ (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 138).

(5)  ERP-Workshop-Bericht (Workshop 21).

(6)  EWSA-Stellungnahme „Weiterentwicklung einer inklusiven, sicheren und zuverlässigen Digitalisierung für alle“ (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 11).


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Öffentliche Investitionen in Energieinfrastruktur als Teil der Lösung der Klimaproblematik“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/10)

Berichterstatter:

Thomas KATTNIG

Ko-Berichterstatter:

Lutz RIBBE

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

162/7/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Konsequenzen der Klimakrise treffen Europa und die Welt massiv. Obwohl die verfügbaren Möglichkeiten zur effektiven Anpassung an den Klimawandel in den letzten Jahren zugenommen haben, weisen Fachleute auf eine nicht ausreichende Mobilisierung von Finanzmitteln, ein zu geringes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und dem Privatsektor sowie das Fehlen von politischer Führung hin.

1.2.

Um den steigenden Bedarf an Strom zu decken und zur Einhaltung der Klimaziele braucht es eine Verdoppelung der Investitionen in das Stromnetz auf 55 Mrd. Euro jährlich und eine Erhöhung der Gelder für die Errichtung von sauberen Erzeugungskapazitäten auf 75 Mrd. Euro pro Jahr (1). Vor diesem Hintergrund kommen öffentlichen Investitionen in intelligente und erneuerbare Energiesysteme sowie Speicherinfrastruktur mit Blick auf die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, die Bekämpfung von Energiearmut, leistbare Preise und die Schaffung von Arbeitsplätzen eine große Bedeutung zu.

1.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Kommissionsvorschläge für eine Beschleunigung und Straffung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und die Festlegung von sogenannten „Zielgebieten“ für solche Projekte. Hier liegt ein wesentliches Potenzial für eine schnellere Energiewende. Umso wichtiger ist es, dass möglichst konkret festgelegt wird, welche Vereinfachungen in den sogenannten „go to-Areas“ gelten.

1.4.

Das europäische Energierecht erkennt Klimaschutz nicht als Ziel der Netzregulierung an. In der Folge haben es auch nationale Regulierungsbehörden schwer, Anreize für einen Umbau, einen Ausbau und eine Modernisierung der Stromverteilnetze zu setzen, die den Anforderungen der Klimaneutralität gerecht werden.

1.5.

Im Hinblick auf die künftige Gestaltung von Energiesystemen und -infrastrukturen hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher — Privathaushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften — aktiv an der Entwicklung intelligenter Energiesysteme beteiligt und Anreize gesetzt werden müssen, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann, aber auch damit sie zur Finanzierung beitragen.

1.6.

Der Anteil der öffentlichen Investitionen in Technologien für saubere Energie, die für die Dekarbonisierung erforderlich sind, ist in der EU im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften am niedrigsten, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefährdet wird. Seit Beginn der Liberalisierung ist die Investitionsentwicklung der Elektrizitätsunternehmen rückläufig. Dieser Rückgang an Investitionen führte zu Engpässen in der Versorgung und hemmt den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Der EWSA unterstützt daher den Vorschlag der Kommission die Konjunkturprogramme und die Fazilität für Konjunkturbelebung und Krisenbewältigung sowie zusätzliches Geld aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Topf für die EU-Agrarpolitik für die Umsetzung des REPowerEU-Plans zu nutzen.

1.7.

Das Design und die Regulierung des Marktes müssen an die neuen Realitäten der zukünftig vorherrschenden erneuerbaren Energien (inkl. dezentralere Produktion und verstärkter Vor-Ort-Verbrauch) angepasst werden, die notwendigen Bedingungen für die einzelnen Akteure schaffen und einen angemessenen Verbraucherschutz sicherstellen. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Optionen zur Optimierung des Strommarktdesigns zu prüfen, und spricht sich nachdrücklich für Marktbewertungen aus, mit denen das Verhalten aller potenziellen Akteure auf dem Energiemarkt und das Energiemarktdesign analysiert werden. In jedem Fall unterstreicht der EWSA die Bedeutung einer umfassenden Folgenabschätzung im Vorfeld jeglicher Vorschläge.

1.8.

Der EWSA empfiehlt zum wiederholten Male, bei öffentlichen Investitionen die „goldene Regel“ anzuwenden, um die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen.

1.9.

Mischfinanzierungen unter Einbeziehung privater Investorinnen und Investoren sind nur dann eine Option, wenn sichergestellt ist, dass die Vergabe transparent erfolgt und der öffentlichen Hand dadurch im Vergleich zu einer öffentlichen Finanzierung keine ungerechtfertigten Zusatzkosten entstehen. Bei gerechtfertigten Zusatzkosten muss vollständige Transparenz herrschen. Umso wichtiger ist es, dass bei derartigen Mischfinanzierungsmodellen Rechte und Pflichten klar definiert, Haftungsfragen geklärt und ein effizientes und schnelles System zur Konfliktlösung vorgesehen werden, um langfristige Zusatzkosten und ungünstige Haftungsfragen zu vermeiden.

1.10.

Der EWSA unterstreicht, dass der gerechte Übergang nicht nur eine Frage der Finanzierung ist. Er umfasst auch das Ziel, menschenwürdige Arbeit und hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen.

1.11.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Definition des Ausbaus der Netze als überragendes öffentliches Interesse, die Aufnahme von Klimaschutz als Regulierungsziel und allgemein eine bessere Synchronität bei der Planung von erneuerbaren Energien und dem Stromnetz besonders zu beachten sind. Hier bedarf es unbedingt konkreter europararechtlicher Vorgaben.

1.12.

Die Entwicklungen der letzten Dekade, die Herausforderungen des Netzausbaus, der massive Preisanstieg bei Energie, die Gefahr von Cyber-Angriffen und nicht zuletzt der Ukraine-Krieg zeigen deutlich auf, worum es im Kern geht: nämlich um die Frage, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen, wie das Energienetz in Zukunft stehen werden. Es gibt also primär ein öffentliches Interesse. Das würde folgerichtig ein öffentliches Eigentum bedingen, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und bestehende Ungleichheiten beseitigt.

1.13.

Die Frage der Vor- und Nachteile von öffentlichem und privatem Eigentum und/oder privater Finanzierung von Energieinfrastruktur für einen gut funktionierenden Energiemarkt ist zweifellos wichtig und sollte bei der von der Kommission geplanten Bewertung der Optionen zur Optimierung des Energiemarktdesigns geprüft werden. Die Ergebnisse einer derartigen Analyse können als wertvolles Entscheidungsinstrument für die Mitgliedstaaten dienen, die für Entscheidungen über das öffentliche oder private Eigentum an Energieinfrastrukturen zuständig sind. Nach Ansicht des EWSA ist Elektrizität nicht nur ein wichtiges strategisches Gut für die gesamte EU-Wirtschaft, sondern auch ein öffentliches Gut. Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, die Auswirkungen des gesamten Privatisierungs- und Liberalisierungsprozesses des europäischen Energiesektors auf dessen Stabilität, die Versorgungssicherheit und das Funktionieren des Strommarkts eingehend zu analysieren und die Ergebnisse dieser Untersuchung in die Neugestaltung des gesamten Energiesektors einfließen zu lassen, einschließlich der Optionen zur Stärkung der Zuständigkeiten des nationalen und des öffentlichen Sektors.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Konsequenzen der Klimakrise treffen schon jetzt Milliarden von Menschen weltweit, aber auch Ökosysteme, wie die letzten Berichte des Weltklimarates (IPCC) deutlich machen. Und dies, obwohl der Temperaturanstieg noch nicht das in Paris gesetzte Ziel von 1,5 Grad erreicht hat. Besonders problematisch: Jene Systeme und Gruppen, die am härtesten von Hitze, Dürre, Überflutung, Krankheiten, Wasser- und Nahrungsmangel betroffen sein werden, haben oft die wenigsten Ressourcen, um damit umzugehen.

2.2.

Die verfügbaren Möglichkeiten zur effektiven Anpassung an den Klimawandel haben in den letzten Jahren zugenommen. Allerdings sind die umgesetzten und geplanten Maßnahmen in vielen Teilen Europas nicht zufriedenstellend. Fachleute weisen auf eine nicht ausreichende Mobilisierung von Finanzmitteln, ein zu geringes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und dem Privatsektor sowie auf das Fehlen von politischer Führung hin.

2.3.

Der Umstand, dass in Europa aktuell — aufgrund des Ukraine-Krieges — schnell große Geldmengen für militärische Zwecke zur Verfügung gestellt werden, legt die Befürchtung nahe, dass damit finanzielle Mittel gebunden werden und Verzögerungen beim Klimaschutz die Folge sein können. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission im REPowerEU-Plan (2) angekündigten Maßnahmen und Instrumente, mit denen die Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen, insbesondere aus Russland, verringert werden soll, indem Energiesparmaßnahmen ergriffen, die Umstellung auf erneuerbare Energie beschleunigt, die Diversifizierung der Lieferanten vorangetrieben und die Kräfte gebündelt werden, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen.

2.4.

Für die Einhaltung der Klimaziele muss die Kapazität an erneuerbarer Energie mehr als verdoppelt werden. Schon heute belaufen sich die Kosten für nicht nutz- bzw. transportierbaren Grünstrom, der abgeregelt werden muss, in großen Ländern wie Deutschland auf Beträge von mehreren hundert Millionen Euro jährlich. Dieser volkswirtschaftliche Verlust wird um ein Vielfaches zunehmen, wenn nicht schnell die Stromnetze und Speicherkapazitäten ausgebaut werden und gleichzeitig die Möglichkeiten, den Strom direkt vor Ort zu nutzen, verbessert werden. Es ist wichtig, in der Netzplanung und -regulierung die Entwicklung der Energienetze an das Ziel der Klimaneutralität auszurichten. Dabei spielen die Verteilnetze die entscheidende Rolle; denn hier werden die meisten Erneuerbare-Energie-Anlagen angeschlossen.

2.5.

Um diese Anforderungen zu erfüllen, braucht es eine Verdoppelung der Investitionen in das Stromnetz auf 55 Mrd. Euro jährlich und eine Erhöhung der Gelder für die Errichtung von sauberen Erzeugungskapazitäten auf 75 Mrd. Euro pro Jahr (3). Der EWSA unterstreicht in diesem Zusammenhang den zusätzlichen Nutzen der Kommissionsvorschläge für rasche Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energieträger und die Festlegung von sogenannten „Zielgebieten“ für solche Projekte. Der EWSA unterstützt eine Beschleunigung und Straffung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Verteilnetze zu legen, denn hier speisen die Erneuerbaren in aller Regel ein.

2.6.

Vor diesem Hintergrund kommt öffentlichen Investitionen in intelligente und erneuerbare Energiesysteme mit Blick auf die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, Bekämpfung von Energiearmut, leistbaren Preisen und Schaffung von Arbeitsplätzen eine große Bedeutung zu. Zweifellos wird die ökologische Transformation im Sinne des europäischen Grünen Deals auf die Beschäftigungssituation in CO2-intensiven Energiesektoren enorme Auswirkungen haben. Gleichzeitig entstehen vielfältige neue Beschäftigungsmöglichkeiten durch eine sinnvolle Ausweitung der öffentlichen Investitionen in klimaneutrale Energiesysteme. Das erfordert entsprechende budgetäre Spielräume durch eine Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens wie der EWSA in seiner Initiativstellungnahme „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang“ vom Oktober 2021 vorgeschlagen hat.

2.7.

Das europäische Energierecht erkennt bisher Klimaschutz nicht als Ziel der Netzregulierung an. In der Folge haben es auch nationale Regulierungsbehörden schwer, Anreize für einen Umbau, einen Ausbau und eine Modernisierung der Stromverteilnetze zu setzen, die den Anforderungen der Klimaneutralität gerecht werden.

2.8.

Im Hinblick auf die künftige Gestaltung von Energiesystemen und -infrastrukturen hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher — Privathaushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften — aktiv an der Entwicklung intelligenter Energiesysteme beteiligt werden müssen. Leider hat es hierzu nur Versprechungen, aber keine erkennbaren Initiativen gegeben. Der EWSA fordert endlich Anreize, um Prosumenten, Gemeinschaften für erneuerbare Energien oder Bürgerenergiegemeinschaften zu aktivieren, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann und die Verbraucher die Möglichkeit haben, sich aktiv am Markt zu beteiligen. Damit kann auch das Problem der immer weiter wachsenden Kosten für die netzengpassbedingte Abregelung von erneuerbaren Energien abgemildert werden.

2.9.

Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen.

2.10.

Die aktuellen Preissteigerungen belasten die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen. Der EWSA bedauert, dass die politischen Entscheidungsträger in der Vergangenheit seiner Forderung (4) nach einer Verringerung der strategischen Abhängigkeit von unzuverlässigen Dritten keine Taten haben folgen lassen und sich diese Abhängigkeit im Gegenteil noch weiter verstärkt hat. Russland ist der größte Exporteur von Erdöl, Erdgas und Kohle in die EU und viele Atomkraftwerke sind von russischen Brennstäben und Technologien abhängig. Die aktuelle Energiepreiskrise hätte die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen weit weniger hart getroffen, wenn Europa die Einfuhr fossiler Brennstoffe wie versprochen bereits reduziert hätte. Der EWSA begrüßt daher die im REPowerEU-Plan dargelegten Bemühungen, diese Abhängigkeit — insbesondere die von Russland — rasch zu verringern. Der EWSA unterstützt die Bemühungen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten, das Preisproblem im Einklang mit dem in der Mitteilung vom Oktober 2021, der Mitteilung über den Strommarkt (COM(2022) 236 final) sowie dem im vorübergehenden Rahmen für staatliche Beihilfen angebotenen Instrumentarium wirksam anzugehen.

2.11.

Vor dem aktuellen Hintergrund macht der EWSA erneut darauf aufmerksam, dass es aber nicht primär um eine Diversifizierung der Abhängigkeiten, sondern möglichst um eine „strategische Energieunabhängigkeit und -autonomie“ gehen muss. Die erneuerbaren Energien und Wasserstoff werden eine treibende Kraft im Dekarbonisierungsprozess sein, und ihre Produktion sollte so weit wie möglich innerhalb der EU angesiedelt sein.

2.12.

Als kurz- bis mittelfristiger Ersatz für russisches Erdgas kommt in einigen Regionen — neben erheblichen Energiesparmaßnahmen — derzeit LNG infrage. Auf lange Sicht ist grüner Wasserstoff eine mit den Klimazielen kompatible Option, wenn er in ausreichender Menge und zu einem vernünftigen Preis verfügbar ist. Soweit Europa nicht das volle Volumen der benötigten Gase selbst produzieren kann — was bei LNG offensichtlich der Fall ist, während bei Wasserstoff die Importunabhängigkeit noch gestaltbar ist — sind die richtigen Lehren aus der russischen Katastrophe zu ziehen. Der EWSA mahnt, dass Europa bei Ressourcen als Ersatz für russisches Gas im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Umwelt und neue Abhängigkeiten von nicht die europäischen Werte wie Demokratiefestigkeit, Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit teilenden Drittländern besondere Vorsicht walten lassen muss.

2.13.

Der Anteil der öffentlichen Investitionen in Technologien für saubere Energie, die für die Dekarbonisierung erforderlich sind, ist in der EU im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften am niedrigsten, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefährdet wird. Zusätzlich warnt der Europäische Rechnungshof, dass durch die Strategie „REPowerEU“ nicht genug Geld mobilisiert werden könnte. Der EWSA unterstützt daher den Vorschlag der Kommission die Konjunkturprogramme und die Fazilität für Konjunkturbelebung und Krisenbewältigung sowie zusätzliches Geld aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Topf für die EU-Agrarpolitik für die Umsetzung des REPowerEU-Plans zu nutzen.

2.14.

Die Auswirkungen des Ukraine-Krieges werden in einigen EU-Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene als endgültiger Anstoß für mehr Energieunabhängigkeit und Klimaneutralität gesehen. Das begrüßt der EWSA. Es zeigt sich jedoch ein gemischtes Bild: Ein vermehrter Einsatz von Flüssiggas und die Rückkehr zu Kohle stehen im Raum und könnten zu einem Rückschritt in der Energiewende führen. Der EWSA sieht dies kritisch, ist sich allerdings bewusst, dass kurzfristig vielseitige Energieerzeugungsmöglichkeiten als Notfallmaßnahme zur Energieversorgungssicherheit beitragen. Neben Wind- und Solarenergie sollte daher die Vielzahl von CO2-armen Energiequellen genutzt werden, die in wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht in ein Energiesystem passen. Gleichzeitig fordert er mehr Anstrengungen beim ökologischen Umbau des Energiesystems.

2.15.

Der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) veröffentlichte einen Bericht (5), der bestätigt, dass die Liberalisierung des Energiesystems nur wenige Antworten auf die fortschreitende Klimakrise gegeben hat. Die weit verbreitete Nutzung praktikabler Alternativen zu kohlenstoffemittierenden Energiequellen wurde größtenteils mit Hilfe erheblicher öffentlicher Subventionen und nicht durch den freien Wettbewerb des Marktes ermöglicht. Der Bericht zeigt, dass ohne eine Änderung des derzeitigen Modells des Energiesystems in Europa die Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen nicht erfüllt werden können.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Aufgrund des rasch voranschreitenden Klimawandels und der aktuellen Energiekrise sind in kurzer Zeit Investitionen in die Infrastruktur notwendig, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen und die Energieversorgung sicherzustellen. Gleichzeitig sind durch den Anstieg der Energiepreise die Schwächen des Energiemarkts zutage getreten. Es sind grundlegende Fragen über die Energiezukunft zu stellen, die eine umweltfreundliche, erschwingliche und zuverlässige Energieversorgung und das Recht auf Energie gewährleisten. Der EWSA verweist explizit auf die Dringlichkeit öffentlicher Investitionen zur Zielerreichung der Energieunabhängigkeit von russischen Gasimporten und unterstützt die von der Kommission im REPowerEU-Plan diesbezüglich vorgeschlagenen Maßnahmen.

3.2.

Dabei muss die Gestaltung des Marktes ebenso berücksichtigt werden wie auch seine Regulierung, die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für einzelne Akteure als auch die Stärkung eines angemessenen Verbraucherschutzes. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Optionen zur Optimierung des Strommarktdesigns zu prüfen, und nimmt die von der Kommission vorgenommene Analyse der Strom- und Gasmärkte und die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewältigung der hohen Energiepreise sowie die Vorschläge zur Verbesserung der Energienetze und der Speicherkapazitäten sowie abermaligen Versprechungen zur Verbesserung des Marktzugangs für kleine Akteure (Prosumer) und zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit zur Kenntnis.

3.3.

Das Design und die Regulierung des Marktes müssen an die neuen Realitäten der zukünftig vorherrschenden erneuerbaren Energien angepasst werden, Stichwort: dezentralere Produktion und verstärkter Vor-Ort-Verbrauch. Dafür müssen aber noch die notwendigen Bedingungen für die einzelnen Akteure geschaffen werden, und ein angemessener Verbraucherschutz ist sicherzustellen. Marktbewertungen, die das Verhalten aller potenziellen Akteure auf dem Energiemarkt und das Energiemarktdesign analysieren, sind notwendig. In jedem Fall unterstreicht der EWSA die Bedeutung einer umfassenden Folgenabschätzung im Vorfeld jeglicher Vorschläge. Der EWSA weist darauf hin, dass die hohen Strompreise, einschließlich der Bündelung von Strom- und Gaspreisen, die sich negativ auf die Wirtschaft der Mitgliedstaaten auswirken, dringend bekämpft werden müssen.

3.4.

Die Frage, bis zu welchem Grad und mit welchem Marktdesign Versorgungssicherheit mit marktlichen Mitteln erreicht werden kann, ist lange Zeit zur Seite geschoben worden. Grundsätzlich verspricht ein Energiesystem, das auf (zu wesentlichen Teilen inländisch erzeugten) erneuerbaren Energien basiert, ein hohes Maß an Versorgungssicherheit. Aber diese wird sich nicht von selbst einstellen — die Voraussetzung hierfür ist das richtige regulatorische Setting. Wichtig sind insbesondere intelligente Netze, die klare Signale an die vielen Millionen Erzeuger und Verbraucher aussenden, damit diese sich systemfreundlich verhalten und auf diese Weise zur Versorgungssicherheit beitragen können.

3.5.

Im Bereich der Finanzierung von Infrastrukturvorhaben stellten sich in der Vergangenheit für die öffentliche Hand immer wieder strikte Haushaltsregeln als die größte Barriere heraus. Ziel muss es daher sein, Projekte rund um den europäischen Grünen Deal, Energieunabhängigkeit sowie den digitalen Sektor von jeglichen Regelungen auszunehmen, die derartige öffentliche Investitionen verhindern. Daher empfiehlt der EWSA im Einklang mit seiner Stellungnahme zur „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU“ (6), bei öffentlichen Investitionen die „goldene Regel“ anzuwenden, um die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen.

3.6.

Mischfinanzierungen unter Einbeziehung privater Investorinnen und Investoren sind nur dann eine Option, wenn sichergestellt ist, dass die Vergabe transparent erfolgt und der öffentlichen Hand dadurch im Vergleich zu einer öffentlichen Finanzierung keine ungerechtfertigten Zusatzkosten entstehen. Bei gerechtfertigten Zusatzkosten muss vollständige Transparenz herrschen. Ein Bericht der Europäischen Investitionsbank stellt fest, dass beispielsweise PPP-Verträge im Straßenverkehr in Europa im Durchschnitt um 24 % teurer waren als vergleichbare Projekte mit traditioneller Finanzierung (7). Umso wichtiger ist es, dass bei derartigen Mischfinanzierungsmodellen Rechte und Pflichten klar definiert, Haftungsfragen geklärt und ein effizientes und schnelles System zur Konfliktlösung vorgesehen werden, um langfristige Zusatzkosten und ungünstige Haftungsfragen zu vermeiden.

3.7.

Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass durch öffentliche Investitionen private Gelder mobilisiert werden können und müssen. Im REPowerEU-Plan wird jedoch nicht auf die Refinanzierung der eingesetzten öffentlichen Mittel eingegangen. Eine Möglichkeit dazu wäre die Abschaffung der Subventionen für fossile Ressourcen, eine andere die Besteuerung von Marktlagengewinnen, die aus der umfassenden Öl- und Gaskrise resultieren und zu extrem hohen Zusatzprofiten vor allem bei großen Ölgesellschaften führen. Der EWSA befürchtet, dass extrem hohe Gewinne bei Energieunternehmen auf der einen Seite und die durch die Energiepreisexplosionen ausgelöste zunehmende Energiearmut auf der anderen Seite ein gefährlicher sozialer Sprengstoff ist. Der EWSA schlägt vor, diese Gewinne mit Hilfe von Steuern abzuschöpfen und als finanziellen Ausgleich an Energieverbraucher, z. B. finanziell schwächere Haushalte oder energieintensive Unternehmen, weiterzugeben sowie für den Ausbau erneuerbarer Energiequellen und der erforderlichen Netzinfrastruktur zu nutzen, was in einigen Mitgliedstaaten bereits diskutiert oder umgesetzt wird. Nach Ansicht des EWSA ist bei der Festlegung einer solchen Besteuerung sehr viel Fingerspitzengefühl erforderlich, damit Energieunternehmen nicht davon abgehalten werden, in CO2-arme Lösungen zu investieren. Er fordert die Kommission auf, unverzüglich entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen.

3.8.

Sinn und Zweck der Infrastruktur ist zuallererst, dass sie funktioniert und nicht, dass sie Strom von A nach B als Selbstzweck transportiert und damit stetige Renditen abwirft. Die Entwicklungen der letzten Dekade, die Herausforderungen des Netzausbaus, der massive Preisanstieg bei Energie, die Gefahr von Cyber-Angriffen und nicht zuletzt der Ukraine-Krieg zeigen deutlich auf, worum es im Kern geht: nämlich um die Frage, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen, wie das Energienetz in Zukunft stehen werden. Es gibt also primär ein öffentliches Interesse. Das würde folgerichtig ein öffentliches Eigentum bedingen, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und bestehende Ungleichheiten beseitigt.

3.9.

Der EWSA unterstreicht, dass der gerechte Übergang nicht nur eine Frage der Finanzierung ist. Er umfasst auch das Ziel, menschenwürdige Arbeit und hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen. Weitere Schlüsselfaktoren für einen gerechten Übergang sind eine aktive und organisierende Rolle des öffentlichen Sektors und die Gewährleistung einer demokratischen Beteiligung der Sozialpartner auf allen Ebenen.

3.10.

Das Energienetz ist Teil der kritischen Infrastrukturen. Ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung dieser Infrastrukturen können verheerende Versorgungsengpässe verursachen und die öffentliche Sicherheit gefährden. Kritische Infrastrukturen wie z. B. Transport und Verkehr, Gesundheitsdienstleistungen, das Finanz- und Sicherheitswesen. um einige Wenige zu nennen, befinden sich in Europa aufgrund der Liberalisierungs- und Privatisierungswelle der letzten Jahrzehnte zunehmend in Hand von privaten Akteuren. Dieser Umstand ist insofern problematisch, als die Sektoren untereinander verbunden sind und die Vulnerabilität eines Sektors die Leistungsfähigkeit der anderen kritischen Infrastrukturen verringert bzw. verhindert (Kaskadeneffekt). Diese gegenseitigen Abhängigkeiten sind einerseits schwer abschätzbar, andererseits ist die Sicherstellung deren Leistungsfähigkeit im Sinne des öffentlichen Gemeinwohls. Speziell bei Disruptionen am Markt oder im Katastrophenfall wird die Bedeutung des Zugriffs von öffentlich koordinierenden Stellen, die die Verfügungsgewalt besitzen, maßgeblich, um eine räumlich koordinierte Resilienz sicherzustellen zu können. Diese Risiken sind im Falle der Elektrizität besonders hoch. Ohne Strom ist das Funktionieren einer modernen Zivilisation im 21. Jahrhundert praktisch undenkbar, und große Stromausfälle würden zum Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft führen.

3.11.

Vor dem Hintergrund, dass Gebäude in Europa rund 40 % des Energieverbrauchs verursachen, ist speziell für die Energiewende und die Steigerung der Energieeffizienz im Sektor Wohnen eine smarte Verbindung aus neuen Technologien, umsetzungseffektiven Sanierungen und der Förderung neuer Bürgerbeteiligungsmodelle maßgeblich. Die Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie fördert diese Beteiligung der Verbraucher bei der Produktion von erneuerbarem Strom und bildet eine wesentliche Grundlage für die Akzeptanz dezentraler Energieerzeugung. In diesem Zusammenhang ist eine Harmonisierung für den gesamten europäischen Raum wichtig, damit möglichst viele Haushalte in Europa an der Energiewende teilnehmen können. Konzepte wie Energy Sharing und Bürgerenergie im Allgemeinen eröffnen sinnvolle Perspektiven für die Nutzung von Energienetzen für die kleinräumliche, bedarfsorientierte netzentlastende Versorgung.

3.12.

Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt, dass das Ziel in einer größtmöglichen Emissionssenkung zu möglichst niedrigen sozioökonomischen Kosten besteht. Er empfiehlt, mit einem gut regulierten Markt kompatible Instrumente und erforderlichenfalls Regulierungsmaßnahmen miteinander zu kombinieren, einschließlich Finanzinstrumenten mit Unterstützung des mehrjährigen Finanzrahmens und des Aufbauinstruments NextGenerationEU, um zu einem effizienteren Energieumfeld beizutragen. Es muss aber auch klar sein: Dort, wo es auf der Basis einer sorgfältigen Analyse gut begründete Hinweise auf ein existierendes oder drohendes Marktversagen gibt, muss die öffentliche Hand diesem Abhilfe schaffen, z. B. durch Investitionen oder Markteingriffe.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Bei Investitionen in die Energieinfrastruktur geht es darum, Versorgungssicherheit und Ausbau der erneuerbaren Energien rasch, effizient und kostengünstig im Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie der Wirtschaft voranzutreiben. In diesem Zusammenhang geht es um eine ganz entscheidende Frage: nämlich darum, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen wie das Energienetz und die Speicherinfrastruktur in Zukunft stehen werden. Seit Beginn der Liberalisierung ist die Investitionsentwicklung der Elektrizitätsunternehmen rückläufig. Dieser Rückgang an Investitionen ins Netz und in die Erzeugung führte zu Engpässen in der Versorgung und hemmt den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien.

4.2.

Betriebswirtschaftlich betrachtet stellt sich die Frage, warum ein Energienetz, das für Investoren eine reizvolle, weil verlässliche Investition darstellt, nicht auch für den Staat attraktiv sein soll. Die jährlich ausgeschütteten Dividenden privater Gesellschaften könnten im Besitz der öffentlichen Hand im Interesse des Gemeinwohls reinvestiert werden und würden öffentliche Haushalte entlasten. Nicht zuletzt da sich bereits bei einigen Teilprivatisierungen in der Vergangenheit herausgestellt hat, dass alleine aus finanziellen Gründen öffentliches Eigentum die klügere Entscheidung gewesen wäre. Eine Reihe von Mitgliedstaaten greift bereits auf öffentliche oder teil-öffentliche Strukturen zurück. Gleichzeitig ist ein Trend zur Re-Kommunalisierung zu verzeichnen. Die Frage der Vor- und Nachteile von öffentlichem und privatem Eigentum und/oder privater Finanzierung von Energieinfrastruktur für einen gut funktionierenden Energiemarkt ist zweifellos wichtig und sollte bei der von der Kommission geplanten Bewertung der Optionen zur Optimierung des Energiemarktdesigns geprüft werden. Die Ergebnisse einer derartigen Analyse können als wertvolles Entscheidungsinstrument für die Mitgliedstaaten dienen, die für Entscheidungen über das öffentliche oder private Eigentum an Energieinfrastrukturen zuständig sind.

4.3.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die lokale und regionale Energieversorgung und die Re-Kommunalisierung von Versorgungsunternehmen an Bedeutung, insbesondere in Zusammenhang mit Dezentralisierungsstrategien. In diesem Zusammenhang spielen öffentliche Investitionen für die dezentrale Energieerzeugung auf Ebene der Kommunen eine maßgebliche Rolle. Weitere Fördermöglichkeiten wie die direkte Bereitstellung von Finanzmitteln über Fonds sollten geprüft werden. Dächer auf öffentlichen Gebäuden eignen sich besonders gut, um ganze Quartiere mit günstiger Solarenergie zu versorgen.

4.4.

In einigen Mitgliedstaaten werden finanzielle Anreize gegeben, um den Photovoltaik-Ausbau zu forcieren. Österreich, Belgien, Litauen, Luxemburg und Spanien fordern in einem Schreiben an die Kommission, dass Verwaltungsgebäude, Supermärkte, Flachdächer und Industrieanlagen unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtend mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden müssen. Auch bei neuen sowie bei sanierten Häusern sollten Photovoltaikanlagen die Norm werden. Sie fordern die Kommission auf, mehr Geld aus dem EU-Budget für den Ausbau zur Verfügung zu stellen. Der EWSA steht dieser Idee positiv gegenüber und fordert die Kommission auf, eine Analyse vorzunehmen, welche Investitionen, Regulierungen und begleitende Maßnahmen wie Forschung und Entwicklung nötig sind, um den Photovoltaik-Ausbau und auch die Produktion in der EU anzukurbeln.

4.5.

Energie als gesellschaftliches Gut: Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auf die Umsetzung der gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hin, die im Protokoll Nr. 26 zum EU-Vertrag und zum AEUV, über Dienste von allgemeinem Interesse, niedergelegt sind. Damit könnte für mehr Effizienz und Leistbarkeit gesorgt sowie Marktversagen verhindert werden.

4.6.

Die aktuelle Energiekrise verdeutlicht die besondere Bedeutung von Energie als gesellschaftlich relevantes Gut. Neben dem Erhalt von qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen und der Beschäftigung, wird die Verknüpfung sozialer und ökologischer Aspekte transparent. Öffentliches Eigentum kann demokratische Kontrolle, öffentliche Investitionen, Versorgungssicherheit und eine gerechte Kostenverteilung des Umbaus der Energiewirtschaft auf erneuerbare Energieträger sicherstellen.

4.7.

Um Falsch- und Fehlinvestitionen zu vermeiden, müssen bestehende Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten über die wesentlichen Strukturen des neuen Energiesystems, über die Marktarchitektur, Marktrollen und Marktregeln ausgeräumt und vor allem die sozialen Auswirkungen auf Beschäftigte und Verbraucherinnen und Verbraucher unverzüglich aufgelöst werden. Dabei spielt eine gerechte Verteilung der Investitionslasten eine zentrale Rolle — gleiches gilt für eine gerechte Verteilung möglicher Gewinne. Die Frage, wie der Investitionsbedarf und die Rentabilität sichergestellt werden können, gehört zu den wichtigen Fragen, die angegangen werden müssen, um langfristig einen optimal funktionierenden Energiemarkt zu gewährleisten. Der EWSA nimmt die diesbezüglichen Schlussfolgerungen der ACER-Studie und der Mitteilung zum Strom- und Gasmarkt zur Kenntnis und begrüßt die Absicht der Kommission, den Strommarkt zu bewerten.

4.8.

Ein wichtiger Aspekt im Zuge der Energiewende wird die Koordinierung und Organisation zwischen Importeuren, regionalen Netzbetreibern, Bürgerenergiegesellschaften, Eigenversorgern und Energiegemeinschaften, die ihren Strom vor Ort nutzen, und Speicherunternehmen sowie Lieferanten sein.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Zu diesem Schluss kommt der Strom-Branchenverband Eurelectric.

(2)  REPowerEU-Plan, COM(2022) 230 final.

(3)  Zu diesem Schluss kommt der Strom-Branchenverband Eurelectric.

(4)  Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).

(5)  A Decarbonised, Affordable and Democratic Energy System for Europe.

https://www.epsu.org/sites/default/files/article/files/Going%20Public_EPSU-PSIRU%20Report%202019%20-%20EN.pdf

(6)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11).

(7)  EIB 2006. „Ex ante construction costs in the European road sector: a comparison of public-private partnerships and traditional public procurement.“ Wirtschafts- und Finanzbericht 2006/01, Blanc-Brude, F., Goldsmith, H., und Välilä, T. https://www.eib.org/attachments/efs/efr_2006_v01_en.pdf


ANHANG

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 2.9

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen.

Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie , einschließlich der Kernenergie, zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen.

Begründung

In einem breiten Spektrum emissionsarmer Technologien spielt die Stromerzeugung aus Kernenergie eine wichtige Rolle und wird dies auch in Zukunft tun, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihren jüngsten Reden hervorgehoben hat.

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:

Ja-Stimmen:

44

Nein-Stimmen:

109

Enthaltungen:

14


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Beitrag zur Stärkung der partizipativen Demokratie in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 486/11)

Berichterstatter:

Krzysztof BALON

Ko-Berichterstatter:

Thomas KATTNIG

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

226/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) durch Organisationen der Zivilgesellschaft sowie direkt durch Bürgerinnen und Bürger gehört zu den effektivsten Instrumenten zur Belebung der partizipativen Demokratie und damit zur Stärkung der europäischen Integration. Aus diesem Grunde schlägt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Europäischen Union in diesem Bereich vor. Ziel ist dabei die weitere Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger und der ihnen gebotenen Leistungen.

1.2.

Insbesondere Krisensituationen, wie neuerdings die russische Aggression gegen die Ukraine und die daraus resultierende Flucht von Millionen von Menschen, meist Frauen und Kinder, verdeutlichen die entscheidende Rolle der Zivilgesellschaft in ihrer sofortigen Leistungsfähigkeit, Modelle und Prozeduren der Ko-Kreation, insbesondere von sozialen und bildungsbezogenen DAI, in Bereichen, wo bereits Erfahrungen mit einer echten Ko-Kreation gemacht wurden, spontan, aber gleichzeitig erfolgreich, miteinander zu verbinden bzw. zu implementieren.

1.3.

Historisch betrachtet haben Akteure der Zivilgesellschaft schon seit jeher soziale und andere Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeboten, wenn die öffentliche Hand die Bedürfnisse noch nicht entdeckt hatte oder kommerzielle Unternehmen ihre Erfüllung als nicht rentabel angesehen haben. Meistens trat der Staat dann später als Erbringer oder Auftraggeber sowie Regulierer und auch als Garant der Qualität der Leistungen auf den Plan. In diesem Zusammenhang ist das in Artikel 5 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankerte Subsidiaritätsprinzip zwischen den Mitgliedstaaten und der EU auch auf DAI anzuwenden. Darüber hinaus sollte das Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf DAI auch ein Leitprinzip für die Beziehungen zwischen allen Ebenen der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten sowie zwischen den Behörden und den Organisationen der Zivilgesellschaft sein.

1.4.

Während die rechtliche und die politische Verantwortung für die Erbringung von DAI nach wie vor bei den gewählten Mandatarinnen und Mandataren der zuständigen Vertretungskörper liegt und regelmäßig einer Bewertung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen unterzogen wird, üben die Behörden die Kontrolle über die adäquate Erbringung von DAI aus. Der EWSA spricht sich für eine gezielte Verwirklichung des Ko-Kreation-Ansatzes aus: DAI sollten gemeinsam mit den Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft gestaltet werden, denn dadurch kann sichergestellt werden, dass sie einerseits den tatsächlichen Bedürfnissen gerecht werden und andererseits die demokratische Teilhabe ermöglichen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn angestellte Arbeitnehmer mit Ehrenamtlichen bzw. mit Selbsthilfestrukturen kooperieren.

1.5.

Daher werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Instrumente zu entwickeln und/oder zu verbessern, die eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen im gesamten Prozess der Bereitstellung von Daseinsvorsorge gewährleisten. Hierzu gehören auch adäquate Rahmenbedingungen für die nicht gewinnorientierten sozialwirtschaftlichen Aktivitäten, wie sie in der EWSA-Stellungnahme „Stärkung gemeinnütziger Sozialunternehmen als wesentliche Säule eines sozialen Europas“ (1) vom 18. September 2020 definiert werden, sowie die Umsetzung von Artikel 77 der Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe (2) in einer Weise, welche den Non-Profit-Organisationen Aufträge für bestimmte in diesem Artikel genannte Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial-, kulturellen und Bildungsbereich vorbehält.

1.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass die qualitativ hochwertige Erbringung der Leistungen der Daseinsvorsorge im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft von ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen abhängt, die es sicherzustellen gilt.

1.7.

Obgleich für die Rahmenbedingungen der Erbringung und damit auch der Ko-Kreation von DAI in erster Linie die Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden zuständig sind, besteht hierzu auch ein dringender Bedarf, die Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Mitgestaltungskonzepten zu ermutigen, indem ein Instrumentarium geschaffen wird, das die Nutzung von Ko-Kreationsmodellen erleichtert. Solche Initiativen sollen alle zuständigen Akteure innerhalb der Mitgliedstaaten ermutigen, Ko-Kreation und Erbringung von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft zu fördern.

1.8.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission hierzu ein Arbeitsdokument als Grundlage für weitere Arbeiten veröffentlicht, das auf die Schaffung eines „Instrumentariums“ abzielt, das die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu einer verstärkten Nutzung von Modellen für die gemeinsame Gestaltung ermutigen und anleiten soll. So ein Dokument sollte u. a. die Abwägungen betreffend Ko-Kreation gegenüber dem Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und dem Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV, unter der Berücksichtigung der europäischen Säule sozialer Rechte, der besonderen Rolle der nicht gewinnorientierten Sozialwirtschaft bei der Ko-Kreation und der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen beinhalten. Des Weiteren soll das Dokument Vorschläge für eine europäische und einzelstaatliche Förderung von innovativen Ko-Kreation-Projekten unter der Berücksichtigung von Forschungskomponenten und eine Sammlung von bewährten Verfahren umfassen. Auf der Grundlage des oben beschriebenen Instrumentariums könnte nach umfassenderer Konsultation auf EU-Ebene ein Grünbuch und anschließend ein Weißbuch auf den Weg gebracht werden.

1.9.

Der EWSA wird seinerseits ein Forum für den Austausch von Ideen und bewährten Verfahren auf diesem Feld unter der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Sozialpartner, von Hochschulen und Forschungsprojekten einrichten, um den Diskussionsprozess auf der europäischen Ebene aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.

2.   Einleitung

2.1.

Die Weiterentwicklung der partizipativen Demokratie in der Europäischen Union bildet eine der wesentlichen Herausforderungen für die Stärkung der europäischen Integration gegen Populismus und Nationalismus. Ko-Kreation von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft sowie direkt durch Bürgerinnen und Bürger wiederum gehört zu den effektivsten Instrumenten zur Belebung der partizipativen Demokratie.

2.2.

Seit mehreren Jahren engagiert sich der EWSA in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft/Forschung zugunsten von Modernisierung und Weiterentwicklung von DAI. Zuständig für diese Arbeiten ist innerhalb des Ausschusses in erster Linie die Ständige Arbeitsgruppe Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.

2.3.

2019 begann eine Zusammenarbeit mit dem Konsortium des Projektes Ko-Kreation der Dienstleistungsinnovation in Europa (CoSIE) (3), bestehend aus Hochschulen, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus neun Mitgliedstaaten (Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Niederlande, Polen, Schweden, Spanien, Ungarn) und aus dem Vereinigten Königreich. Die Ständige Arbeitsgruppe DAI verfolgte innovative Erfahrungen und Schlussfolgerungen des CoSIE-Projektes im Rahmen von zwei Seminaren: „Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse: Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft“ am 15. April 2021 in Brüssel sowie „Citizens serving citizens: Ko-Kreation und Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse durch die Organisationen der Zivilgesellschaft“ am 1./2. Dezember 2021 in Lublin (Polen) in Kooperation mit der Stadt Lublin und unter der Beteiligung von Partnern aus der Ukraine.

2.4.

Die Ko-Kreation ist untrennbar mit umfassenderen Debatten über die Reform der öffentlichen Verwaltung verknüpft. Beim „New Public Management“ (NPM) lag der Schwerpunkt auf der Steigerung der Effizienz, der Übernahme von Managementmodellen aus dem privaten Sektor und dem Aufbau einer Dienstleister/Kunden-Beziehung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, bei der die Bedürfnisse, Anforderungen und Entscheidungen der Nutzer dieser Dienstleistungen als Ausgangspunkt dienten. Dieses Modell war in den 1990er und 2000er Jahren vorherrschend, wurde jedoch kritisiert, weil es weniger wirksam und effizient war als erwartet und nur ein begrenztes Innovationspotenzial barg (4). Bei den Post-NPM-Trends („paradigmettes“ (5)) im Bereich der Innovation in der öffentlichen Verwaltung steht nicht mehr der passive, individuelle Verbraucher, der sein jeweiliges Eigeninteresse verfolgt, im Vordergrund, sondern der aktive Bürger, der sich an der Produktion beteiligt. Außerdem hat sich der Fokus weg von der Vereinzelung hin zu einer besseren Integration und Koordinierung der Netze von Nutzergruppen und Interessenträgern verschoben. Die Ko-Kreation wird in den Post-NPM-Modellen (6) als Schlüsselkonzept betrachtet.

2.5.

Die Ergebnisse der bisherigen Arbeiten des EWSA auf diesem Feld belegen, dass die Ko-Kreation und Erbringung von DAI durch Bürgerinnen und Bürger bzw. ihre Organisationen zur Stärkung der partizipativen Demokratie und überdies zur Weiterentwicklung der Sozialwirtschaft in der Europäischen Union führt, u. a. von wichtigen Funktionen, die die DAI als unverzichtbare Voraussetzung für alle anderen gesellschaftlichen Aktivitäten erfüllen.

3.   Dienstleistungen von allgemeinem Interesse

3.1.

Im Zuge der europäischen Integration wurde in dem dafür charakteristischen Spannungsfeld zwischen „Einheit“ und „Vielfalt“ ein neues Konzept für die durch spezifische Vorschriften und Normen geregelten Dienstleistungen entwickelt. Ziel ist es, sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger und sämtliche Akteure Zugang zu jenen essenziellen Dienstleistungen haben, die jetzt und in Zukunft die Grundlage eines menschenwürdigen Lebens bilden und für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unverzichtbar sind — Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI). DAI können in unterschiedlichen Umfeldern erbracht werden, entweder auf wettbewerbsorientierten Märkten als wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder als nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die von diesen Märkten ausgeschlossen sind. Die Kommission unterscheidet (7) dabei Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, nicht wirtschaftliche Dienstleistungen sowie Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlicher Art). Auf die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) (8) bzw. wirtschaftlicher Art findet Artikel 106 AUEV Anwendung.

3.2.

Das Konzept wurde nach und nach gestärkt und präzisiert.

3.2.1

DAI sind Bestandteil der gemeinsamen europäischen Werte und spielen eine Rolle bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts in der EU. (9) Der EWSA verweist dahingehend auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 AEUV, wie sie im Protokoll Nr. 26 über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Anhang zum EUV und zum AEUV niedergelegt sind. Die weitere Ausgestaltung der hier niedergelegten Grundsätze kann zu mehr Effizienz und zur Beseitigung von Fehlentwicklungen führen.

3.2.2

Diese gemeinsamen Werte umfassen drei Dimensionen: den Ermessensspielraum, über den die nationalen, regionalen und lokalen Behörden verfügen, um den Bedarf der Nutzer zu decken; die Achtung der Vielfalt und Unterschiede in Bezug auf die Bedürfnisse, Präferenzen und demokratischen Entscheidungen der Nutzer sowie der unterschiedlichen geografischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten; ein hohes Maß an Qualität, Sicherheit, Erschwinglichkeit, Gleichbehandlung sowie Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte (10).

3.2.3

Diese Dienste sind ein wesentlicher Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten und insgesamt ein substanzieller Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Europa erwarten zu Recht, dass eine umfangreiche Palette von zuverlässigen, stabilen und effizienten Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichem) Interesse in hoher Qualität und zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist. Diese Dienste sorgen dafür, dass kollektive Bedürfnisse und Interessen — Aufgaben des Gemeinwohls — bedient werden können. Der EWSA weist explizit darauf hin, dass die qualitativ hochwertige Erbringung dieser für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft essenziellen Dienstleistungen von ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen abhängt, die es sicherzustellen gilt.

3.2.4

Der Zugang zu DAWI ist Teil der Grundrechte (11) und der europäischen Säule sozialer Rechte (12). Während in Grundsatz 20 der Säule ausdrücklich die „essenziellen“ DAI erwähnt werden, werden in weiteren ihrer Grundsätze wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge umrissen, wie z. B. Bildung, Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose, Langzeitpflege, Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Gesundheitsvorsorge, um nur einige wenige zu nennen.

3.2.5

Die nicht wirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sind von den Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln ausgenommen; für sie gelten alleine die allgemeinen Grundsätze der EU (Transparenz, Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit) (13).

3.2.6

Die Union und die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, „dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können“ (14).

3.2.7

Die DAWI unterliegen den Bestimmungen der Verträge, insbesondere den Wettbewerbsregeln, soweit deren Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert (15).

3.3.

Ziel von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ist es, den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger und aller Akteure unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung gerecht zu werden. Sie sind per se dynamischer Natur. Sie können beispielsweise Bereiche wie Sicherheit, Gesundheit, soziale Dienste, darunter Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Langzeitpflege, sozialer Wohnungsbau (16), Bildung ebenso wie im Grundsatz 20 der europäischen Säule sozialer Rechte explizit erwähnte Bereiche von essenziellen Dienstleistungen (17) betreffen.

3.4.

In Bezug auf DAI ist das Subsidiaritätsprinzip zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union im Artikel 5 Absatz 3 EUV geregelt. Die EU legt einen allgemeinen Rahmen von Grundsätzen fest, der an den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger sowie aller wirtschaftlichen und sozialen Akteure ausgerichtet ist, während die Mitgliedstaaten und die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften Dienstleistungen von allgemeinem Interesse festlegen und umsetzen. Darüber hinaus sollte das Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf DAI auch ein Leitprinzip für die Beziehungen zwischen allen Ebenen der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten sowie zwischen den Behörden und den Organisationen der Zivilgesellschaft sein.

3.5.

DAI befinden sich im Spannungsfeld zwischen der Wahrung der Grundrechte, den lokalen Zielen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, den Zielen in Bezug auf nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klimaschutz und der Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft, des Binnenmarkts und der Wettbewerbsregeln. Unter Einbeziehung aller Interessenträger muss hierbei auf pragmatische Weise jeweils ein an den Einzelfall angepasstes Gleichgewicht gefunden werden, das den Bedürfnissen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger und Gemeinwesen gerecht wird.

4.   Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse

4.1.

Die Akteure der Zivilgesellschaft haben schon seit jeher soziale und andere Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeboten, weil die öffentliche Hand die Bedürfnisse noch nicht entdeckt hatte oder kommerzielle Unternehmen ihre Erfüllung als nicht rentabel angesehen haben. Meistens trat der Staat dann später als Erbringer und Regulierer und auch als Garant der Qualität der Leistungen auf den Plan.

4.2.

Leistungen der Daseinsvorsorge werden von den Gebietskörperschaften selbst erbracht oder in Auftrag gegeben. Während die politische Verantwortung bei den gewählten Mandataren und Mandatarinnen dieser Gebietskörperschaften liegt und regelmäßig einer Bewertung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen unterzogen wird, üben die Behörden die Kontrolle über die adäquate Erbringung von DAI aus. Es können zwei unterschiedliche Vorgehensweisen verfolgt werden, nämlich Top-Down: Initiativen nationaler, regionaler oder lokaler Behörden, oder Bottom-Up: Ko-Kreation unter der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und/oder der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die vorliegende Stellungnahme bezieht sich auf die letztere Vorgehensweise. Der EWSA spricht sich für die breite Verwirklichung des Ko-Kreation-Ansatzes aus: DAI sollten in Kooperation mit den Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft gestaltet werden, denn so können die Bedürfnisse der Menschen befriedigt und die demokratische Teilhabe ermöglicht werden.

4.3.

In welchen Bereichen und in welchem Ausmaß auf Ko-Kreation gesetzt wird, hängt jedoch von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Nicht alle Dienstleistungen, Gemeinwesen und Dienstleister — insbesondere in kritischen infrastrukturellen Bereichen, wie Energie- und Wasserversorgung — eignen sich für eine radikal neue Herangehensweise an das Thema Dienstleistungen und geteilte Verantwortung, aber jeder Schritt zur Stärkung des Mitspracherechts und zur kollaborativen Förderung wirksamer Lösungen erweist sich als lohnend. Im Hinblick auf eine möglichst umfassende Einbeziehung der Nutzer könnte sich eine „Stufenleiter der Mitgestaltung“ (ladder of co-creation (18)), die eine systematische Einbindung unterschiedlichen Ausmaßes der relevanten öffentlichen und privaten Akteure vorsieht, als empfehlenswert erweisen. Die unterste Stufe entspräche einem geringeren Engagement, bei dem öffentliche Stellen etwa darauf abzielen, die Bürgerinnen und Bürger zu einer erfolgreichen Lebensführung zu befähigen, und diese ermutigen, sich an der Gestaltung des öffentlichen Dienstleistungsangebots zu beteiligen. Auf der höchsten Stufe dieser Leiter würden kollaborative Innovationen auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Ziele und gemeinsam definierter Problemstellungen, durch gemeinsame Gestaltung und Erprobung neuer und bislang noch nicht verwirklichter Lösungen sowie mittels einer koordinierten Umsetzung gefördert, die sich auf öffentliche und private Lösungen stützt.

4.4.

Voraussetzung für Ko-Kreation sind Arbeitsmethoden, bei denen auf die vorhandenen Stärken gesetzt wird. Eine solche Arbeitsmethode nutzt die (materiellen und immateriellen) Ressourcen, die Fähigkeiten und die Wünsche der Dienstleistungsnutzer, anstatt nur ihre Bedürfnisse zu registrieren und zu befriedigen. Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass alle Bürgerinnen und Bürger über wertvolle, häufig nicht erkannte Stärken (Kultur, Zeit, Lebens- und Lernerfahrung, praktisches Knowhow, Vernetzung, Fähigkeiten, Ideen) verfügen, mit denen sie zur Entwicklung und Erbringung von Dienstleistungen beitragen können. Das Instrumentarium für die Ko-Kreation umfasst eine Reihe von Methoden, die von Befragungen zur Zufriedenheit (z. B. im elektronischen Handel) über Umfragen bis hin zu den verschiedenen Formen der Meinungsäußerung mit Hilfe digitaler Instrumente, Fokusgruppen und Panels sowie partizipativen Methoden (z. B. soziale Hackathons, Open-Space-Technologien, LivingLabs, World-Cafés, Service-Blueprints, Design Thinking, User Journeys sowie verschiedene andere partizipative Online-Tools) reichen.

4.5.

Ko-Kreation ist jedoch keine technische Lösung und nicht mittels einer einzigen Methode umzusetzen. Es handelt sich um einen Ansatz, der in den verschiedenen Phasen der Gestaltung und Erbringung von Dienstleistungen greift. In seinen radikaleren Formen erstreckt sich das Instrumentarium auf Formen der Ko-Governance, die eine Machtverschiebung und manchmal eine Eigentumsübertragung von Dienstleistungen auf Menschen und Gemeinschaften fördern. Dazu gehört die formelle Einbeziehung von Menschen mit gelebter Erfahrung in Governance-Vereinbarungen, Gegenseitigkeitsvereinbarungen, Genossenschaften und Gemeinschaftsorganisationen.

4.6.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Ko-Kreation ist, dass alle potenziellen Nutzergruppen eingeladen werden, damit sie ihre Interessen vertreten können. Eine Teilhabe, bei der Bürgerinnen und Bürgern mit mehr Ressourcen oder stärkerer Bereitschaft zur Beteiligung begünstigt werden, könnte zu undemokratischen Prozessen führen.

4.7.

Eine weitere unabdingbare Voraussetzung für Ko-Kreation ist das Vertrauen zwischen den Beteiligten, das zwischen Dienstleistern und Interessenträgern nur aufgebaut werden kann, wenn das Ziel der Ko-Kreation der betreffenden Dienstleistung transparent gemacht und offen gelegt wird, inwieweit die Beteiligten über deren Umfang und Reichweite in Kenntnis gesetzt werden (19).

4.8.

Die Ko-Kreation soll immer im Kontext der nationalen, regionalen und lokalen Bedarfsplanung erfolgen. Den Widersprüchlichkeiten zwischen den verschiedenen Bedarfslagen ist stets Rechnung zu tragen. Werden diese erfasst, können in öffentlichen Beratungen Vorschläge für ihre Hierarchisierung erörtert und Entscheidungsgrundlagen für die zuständigen Vermittlungs- und Beschlussfassungsinstanzen zwecks Gewährleistung einer hohen Qualität, der Erbringungs- und der Zugänglichkeitssicherheit sowie der Gleichbehandlung und der Achtung der Rechte der Nutzerinnen und Nutzer geliefert werden. Der Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes muss in der Tat das ultimative Ziel von DAI bleiben. Der Ko-Kreation-Prozess darf keinesfalls unbeabsichtigt zu einer Verringerung der Qualität der Dienste, zu ungerechtfertigten Preiserhöhungen oder zu einer Einschränkung des Zugangs zu den Diensten führen.

4.9.

Ko-Kreation ist eine dynamische Interaktion zwischen Dienstleistungsanbietern, Dienstleistungsnutzern und anderen Interessenträgern, die verschiedene Phasen umfassen kann:

4.9.1

Ko-Initiierung: von Anbeginn an gemeinsame Festlegung der Ziele und Zwecke der einzelnen Dienstleistungen;

4.9.2

Einbindung der Interessenträger: Beteiligung neuer Akteure (Nutzer, Kunden, Dienstleistungserbringer) und Aufrechterhaltung ihres Engagements über den gesamten Prozess hinweg;

4.9.3

Ko-Design: gemeinsame Gestaltung von Dienstleistungen;

4.9.4

Ko-Implementierung: gemeinsame Erbringung von Dienstleistungen;

4.9.5

Ko-Management: gemeinsame Organisation und Verwaltung von Dienstleistungen;

4.9.6

Ko-Governance: gemeinsame Formulierung von Politiken;

4.9.7

Ko-Evaluierung: gemeinsame Bewertung der Wirksamkeit und Effizienz der Dienstleistungen und der getroffenen Entscheidungen anhand einer Reihe von Kriterien.

4.10.

In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass in der Praxis bereits innovative Modelle existieren, im Rahmen welcher die Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung ohne aktive Mitwirkung von Nutzern überhaupt nicht möglich ist (20).

4.11.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass DAI im Rahmen einer Zusammenarbeit mit Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft entwickelt werden, um sicherzustellen, dass sie den Mehrwert öffentlicher Dienstleistungen schaffen und ausweiten, d. h. für mehr Wohlergehen bzw. ein gemeinsames Verständnis von Gemeinwohl sorgen, das als Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen, Strategien und Dienstleistungen dienen kann. Im Zuge der Ko-Kreation von Dienstleistungen arbeiten Nutzer bei der Gestaltung, Schaffung und Erbringung der Dienstleistung mit Fachleuten zusammen (21). Daher laufen in diesem Prozess die Rollen des Innovators, des Dienstleistungserbringers und des Dienstleistungsnutzers zusammen.

4.12.

Der Mehrwert der Ko-Kreation besteht stets in einer aktiven Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Behörden, die die rechtliche bzw. politische Verantwortung für die Erbringung von DAI tragen, den Dienstleistungserbringern und den Nutzern, die in den demokratisch gestalteten Ko-Kreationsprozess einzubeziehen sind. Damit verbessert die Ko-Kreation die demokratische Legitimation von Entscheidungen, welche durch die Politik getroffen werden.

4.13.

Dieser Mehrwert trägt in einer besonderen Weise zur Stärkung der demokratischen Teilhabe bei, wenn die Dienstleistungserbringer aus dem Kreise der zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. der Non-Profit-Sozialwirtschaft stammen, im Rahmen welcher Hauptamtliche mit Ehrenamtlichen bzw. mit Selbsthilfestrukturen kooperieren, oder wenn die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Interessen von Nutzern vertreten, einen reellen Einfluss auf die öffentlichen bzw. privatwirtschaftlichen Dienstleistungserbringer ausüben können. Darüber hinaus besitzt die Ko-Kreation auch eine moralische Dimension; sie stärkt Gemeinschaften, Zusammenhalt und Vertrauen zwischen den Akteuren (22).

4.14.

Dies ist auch in Krisensituationen wahrnehmbar. Ein aktuelles Beispiel bildet die Erbringung von Dienstleistungen (insbesondere auf den Gebieten Soziales und Bildung) für und unter der Beteiligung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine durch die zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die sofortige Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft, Modelle und Prozeduren der Ko-Kreation spontan, aber gleichzeitig erfolgreich, zu implementieren, hat sich hierbei in Gebieten, in denen bereits erfolgreiche Mitgestaltungsprozesse stattgefunden haben, als entscheidend und praktikabel erwiesen.

5.   Politische Initiativen auf der europäischen Ebene

5.1.

Obgleich für die Rahmenbedingungen der Erbringung und damit auch der Ko-Kreation von DAI in der ersten Linie die Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden zuständig sind, besteht die Notwendigkeit, die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu ermutigen, die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angemessen zu unterstützen. Hierzu besteht ein dringender Bedarf, die Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Mitgestaltungskonzepten zu ermutigen, indem ein Instrumentarium geschaffen wird, das die Nutzung von Mitgestaltungsmodellen erleichtert. Solche Initiativen sollten alle einschlägigen Interessenträger in den Mitgliedstaaten ermutigen, die gemeinsame Konzipierung und Erbringung von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft zu fördern, u. a. weil das Konzept der Ko-Kreation erheblich dazu beiträgt, die Dienstleistungen an die sich wandelnden Bedürfnisse anzupassen, sie zu modernisieren und sie auf die Zukunft auszurichten.

5.2.

Zu diesem Zweck ruft der EWSA die Europäische Kommission auf, einen Querschnittsansatz zu verfolgen, der ihren unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen und allen Interessenträgern Rechnung trägt, um ein Instrumentarium zu erarbeiten, in welches verschiedene Formen der Ko-Kreation, die durchgeführten Pilotprojekte und die daraus zu ziehenden Schlüsse einfließen.

5.3.

Der EWSA schlägt daher insbesondere vor, dass die Kommission hierzu ein Arbeitsdokument als Grundlage für weitere Arbeiten veröffentlicht, das auf die Schaffung eines „Instrumentariums“ abzielt, das die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu einer verstärkten Nutzung von Modellen für die gemeinsame Gestaltung ermutigen und anleiten soll. So ein Dokument sollte u. a. die Abwägungen betreffend Ko-Kreation gegenüber Artikel 14 AEUV, dem Protokoll Nr. 26 zu EUV und AEUV, unter der Berücksichtigung der europäischen Säule sozialer Rechte, der besonderen Rolle der nicht gewinnorientierten Sozialwirtschaft bei der Ko-Kreation und der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen, wie sie in der EWSA-Stellungnahme „Stärkung gemeinnütziger Sozialunternehmen als wesentliche Säule eines sozialen Europas“ (23) vom 18. September 2020 definiert werden, beinhalten. In dem Dokument sollte zudem darauf verwiesen werden, dass Artikel 77 der Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe (24) in einer Weise umzusetzen ist, dass Aufträge für bestimmte in diesem Artikel genannte Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial-, kulturellen und Bildungsbereich Non-Profit-Organisationen vorbehalten sind. Darüber hinaus sollte das Dokument Vorschläge für eine europäische und nationalstaatliche Förderung von innovativen Ko-Kreation-Projekten unter der Berücksichtigung von Forschungskomponenten und eine Sammlung von bewährten Verfahren umfassen. Auf der Grundlage des oben beschriebenen Instrumentariums könnte nach umfassenderer Konsultation auf EU-Ebene ein Grünbuch und anschließend ein Weißbuch auf den Weg gebracht werden.

5.4.

Der EWSA würde seinerseits ein Forum für den Austausch von Ideen und bewährten Verfahren auf diesem Feld unter der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Hochschulen und Forschungsprojekten einrichten, um den Diskussionsprozess auf der europäischen Ebene aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 131.

(2)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0024&from=DE.

(3)  https://cosie.turkuamk.fi.

(4)  Drechsler, W.: Towards a Neo-Weberian European Union? Lisbon agenda and public administration, Halduskultuur — Administrative Culture, 2009, 10(1), S. 6.

(5)  Çolak, Ç. D.: Why the new public management is obsolete: an analysis in the context of the post-new public management trends, Croatian and Comparative Public 2019, 19(4), S. 517, https://doi.org/10.31297/hkju.19.4.1.

(6)  Torfing, J., Sørensen, E., & Røiseland, A.: Transforming the public sector into an arena for co-creation: Barriers, drivers, benefits and ways forward, Administration & Society, 2019, 51(5), S. 795, https://doi.org/10.1177/0095399716680057.

(7)  https://ec.europa.eu/info/topics/single-market/services-general-interest_de.

(8)  Schon im Römischen Vertrag verankert, aktuell Artikel 106 AUEV.

(9)  AEUV — Allgemeine Bestimmungen, Artikel 14.

(10)  Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV.

(11)  Artikel 36 der Grundrechtecharta.

(12)  Ziffer 20 der Säule.

(13)  Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV.

(14)  Artikel 14 AEUV.

(15)  Artikel 106 AEUV.

(16)  Angesichts der sich in vielen Mitgliedstaaten verschärfenden Immobilienkrise kommt bezahlbarem Wohnraum ebenfalls immer mehr Bedeutung als essenzielle Dienstleistung zu.

(17)  „Wasser, Sanitärversorgung, Energie, Verkehr, Finanzdienstleistungen und digitale Kommunikation“.

(18)  Torfing, J., Sørensen, E., & Røiseland, A.: Transforming the public sector into an arena for co-creation: Barriers, drivers, benefits and ways forward, Administration & Society, 2019, 51(5), S. 795, https://doi.org/10.1177/0095399716680057.

(19)  https://cosie.turkuamk.fi/arkisto/index.html

(20)  Wie zum Beispiel in Frankreich „services publics partagés“ („geteilte öffentliche Dienstleistungen“): https://service-public-partage.fr/.

(21)  Social Care Institute of Excellence: Co-production in social care: what it is and how to do it?, 2015, SCIE-Leitfaden 51.

(22)  C. Fox et al. (2021) A New Agenda for Co-Creating Public Services, Turku University of Applied Sciences, https://julkaisut.turkuamk.fi/isbn9789522167842.pdf.

(23)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 131.

(24)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0024&from=DE.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/83


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Thematische Partnerschaften im Rahmen des Abkommens von Ljubljana“

(Sondierungsstellungnahme)

(2022/C 486/12)

Berichterstatter:

David SVENTEK

Ko-Berichterstatter:

Florian MARIN

Befassung

Rat — Tschechischer Ratsvorsitz, 26.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

190/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt nachdrücklich die im Abkommen von Ljubljana enthaltenen Erklärungen zur EU-Städteagenda und begrüßt insbesondere die starke Konzentration auf Partnerschaften sowie Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte bei der nachhaltigen Stadtentwicklung.

1.2.

Thematische Partnerschaften sollten zu konkreten und nachhaltigen Maßnahmen und Ergebnissen führen, die über die Partnerschaften selbst hinausreichen. Dabei gilt es, stets zu prüfen, ob die Ergebnisse nicht auf andere Mitgliedstaaten, Regionen, Städte oder Sektoren übertragen werden können. Die territoriale Verteilung und geografische Ausgewogenheit dieser Möglichkeiten sollte überwacht werden, um sicherzustellen, dass auch schutzbedürftige Regionen und Städten davon profitieren können.

1.3.

Die EU-Städteagenda und die Kohäsionspolitik könnten enger miteinander verknüpft werden. Obwohl es sich um zwei getrennte Strategien und Initiativen mit unterschiedlichen Zielen und Rahmenbedingungen handelt, dürften Synergien bestehen. Es bedarf miteinander verknüpfter Instrumente für eine kohärentere Unterstützung der Städte im Rahmen der Kohäsionspolitik. Zudem ist eine sektorübergreifende und interinstitutionelle Zusammenarbeit und Integration auf strategischer und operativer Ebene erforderlich. Thematische Partnerschaften sollten künftig mehr Legitimität erhalten.

1.4.

Für die Kommunalverwaltungen kleiner und mittlerer Städte und ihre kontinuierliche Einbeziehung in die Städteagenda ist es unabdingbar, über vorhersehbare und finanziell unterstützte Mechanismen sowie über eine angemessene Finanzierung zu verfügen.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Kriterien für die Auswahl von Partnern für thematische Partnerschaften spezifischer, offener und inklusiver sein. Beim Auswahlverfahren sollte nicht die Möglichkeit vernachlässigt werden, die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen neben den städtischen Behörden in diesen Prozess einzubinden. Es ist wichtig, die Ex-ante-Bewertung für die Ökologisierung der Städte und den nachhaltigen Tourismus zu berücksichtigen.

1.6.

Die Arbeitsbedingungen, berufliche Planungssicherheit und der Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen, Chancengleichheit und angemessenen Löhnen sollten bereichsübergreifend angegangen werden. Dabei sollte allen Formen des Dialogs mit und der Konsultation von Interessenträgern, wie dem sozialen Dialog, dem zivilgesellschaftlichen Dialog und Bürgerkonsultationen, Rechnung getragen werden.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, auf einen Bottom-up-Ansatz, thematische Cluster, thematische Netze und Netze zur Entwicklung maßgeschneiderter und ortsbezogener Lösungen abzustellen und daneben insbesondere kleinen und mittleren Städte die Möglichkeit zu bieten, bestehende thematische und Städte-Netzwerke zu nutzen.

1.8.

Die Rolle des EWSA bei der Governance der EU-Städteagenda und des Abkommens von Ljubljana könnte gestärkt werden. Darüber hinaus sollte der EWSA sowohl der Gruppe für städtische Entwicklung als auch der technischen Vorbereitungsgruppe für die Städteagenda angehören sowie in die Sitzung der Generaldirektoren zu städtischen Angelegenheiten einbezogen werden.

1.9.

Partizipative Demokratie, die Ökonomie des Wohlergehens in Städten und Stadt-Land-Verbindungen könnten weitere, im Rahmen thematischer Partnerschaften anzugehende Themen sein, wobei besonderes Augenmerk auf die Jugend gelegt werden sollte.

1.10.

Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, ein spezifisches Sekretariat für die Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit der thematischen Partnerschaften einzurichten, um eine Verknüpfung mit der Städtepolitik auf lokaler Ebene sicherzustellen, technische Hilfe zu gewährleisten und die Schaffung thematischer Gemeinschaften und den Austausch bewährter thematischer Verfahren zu erleichtern. Dies sollte in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Ausschuss der Regionen erfolgen.

2.   Hintergrund

2.1.

Am 26. November 2021 nahmen die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der EU das Abkommen von Ljubljana und sein mehrjähriges Arbeitsprogramm an, mit dem eine neue Phase der EU-Städteagenda eingeleitet wird. Dieses Dokument enthält konkrete Schritte zur Erneuerung der Städteagenda mit dem gemeinsamen Ziel, sie wirksamer und effizienter zu gestalten. Das mehrjährige Arbeitsprogramm ergänzt die politische Erklärung und umfasst die operativen Parameter, die Arbeitsmethode und die Schritte für die Umsetzung der nächsten Phase dieser Multi-Level-Governance- und Multi-Stakeholder-Initiative.

2.2.

Die 14 Schwerpunktthemen (1) der EU-Städteagenda gelten weiterhin: Integration von Migranten und Flüchtlingen, Luftqualität, städtische Armut, Wohnraum, Kreislaufwirtschaft, Arbeitsplätze und Kompetenzen in der lokalen Wirtschaft, Klimaanpassung (einschließlich grüner Infrastrukturlösungen), Energiewende, nachhaltige Landnutzung und naturbasierte Lösungen, urbane Mobilität, innovatives und verantwortungsbewusstes öffentliches Beschaffungswesen, Kultur und Kulturerbe sowie Sicherheit im öffentlichen Raum.

2.3.

Mit dem Abkommen von Ljubljana kommen die folgenden vier Themen zu dieser Prioritätenliste hinzu: gleichberechtigtes Zusammenleben, Lebensmittel, Ökologisierung der Städte und nachhaltiger Tourismus. Diese wurden im Wege der gemeinsamen Gestaltung hinzugefügt und mit der neuen Leipzig-Charta, der EU-Politik, weiteren neuen Stadtentwicklungstrends und dem Bedarf der Städte verknüpft.

2.4.

Der künftige tschechische EU-Ratsvorsitz hat den EWSA ersucht, zu prüfen, wie sich die Änderungen, die sich aus dem neuen Abkommen von Ljubljana ergeben, auf die Bildung neuer thematischer Partnerschaften auswirken könnten. An zwei der vier in Ljubljana vereinbarten Themen wird während des tschechischen EU-Ratsvorsitzes weitergearbeitet: Ökologisierung der Städte und nachhaltiger Tourismus.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die im Abkommen von Ljubljana enthaltenen Erklärungen zur EU-Städteagenda und begrüßt insbesondere die starke Konzentration auf Partnerschaften sowie auf Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte bei der Stadtentwicklung.

3.2.

Gleichzeitig unterstützt er die Fortführung und Weiterentwicklung der EU-Städteagenda unter uneingeschränkter Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Außerdem sollte der Grundsatz der Zusätzlichkeit auf lokaler Ebene sorgfältig angewandt werden.

3.3.

Der EWSA begrüßt, dass im Abkommen von Ljubljana die Bedeutung und die Rolle des EWSA bei der Unterstützung der EU-Städteagenda anerkannt werden. Wie im mehrjährigen Arbeitsprogramm für die EU-Städteagenda festgestellt, ist der EWSA in der Lage und willens, einen Beitrag zur Territorialität der Entwicklung, Partnerschaften, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten der Stadtentwicklung sowie der Verbreitung der EU-Städtepolitik zu leisten und diese zu unterstützen.

3.4.

Die Vielfalt, Komplexität und Nachhaltigkeit der Stadtentwicklungspolitik erfordern Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte, bei denen Partnerschaften im Vordergrund stehen. Im Abkommen von Ljubljana wird die Bedeutung von Partnerschaften für besseres Wissen anerkannt. Thematische Partnerschaften sollten zu konkreten und nachhaltigen Maßnahmen und Ergebnissen führen, die über die Partnerschaften selbst hinausreichen. Dabei gilt es, stets zu prüfen, ob die Ergebnisse nicht auf andere Regionen, Städte oder Sektoren übertragen werden können. Die territoriale Verteilung dieser Möglichkeiten sollte überwacht werden. Die Städte sollten mit entsprechenden Anreizen motiviert werden, europäische Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen und auf EU-Ebene aktiv zu sein.

3.5.

Die Vielfalt der Städte und ihrer Entwicklungspolitik lässt sich nur schwer steuern. Für dieses Problem gibt es derzeit keine allgemeine Lösung in der Stadtentwicklungspolitik der EU. Es bedarf eines maßgeschneiderten Ansatzes, bei dem die Potenziale der Partnerschaften, der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner erschlossen werden. Bei Lösungen für künftige Entwicklungsstrategien gilt es, unterschiedliche Perspektiven, Fachwissen und Disziplinen einzubeziehen. In seiner Stellungnahme zur „Neufassung der Territorialen Agenda der EU, der Leipzig-Charta und der EU-Städteagenda“ (2) empfiehlt der EWSA, für die jeweiligen Gebietsarten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips die am besten geeigneten Förderinstrumente einzusetzen. Dies wird in Risikoregionen zur Verringerung von Unterversorgung, Rückstand und Isolierung führen.

3.6.

Bei der Finanzierung ihrer nachhaltigen Entwicklung sollte für einen fairen Wettbewerb zwischen allen Arten von Städten, d. h. für einen gleichberechtigten Zugang zu Finanzmitteln für kleine und mittlere Städte, gesorgt werden. Auch das Wettbewerbsprinzip sollte an diese Situation angepasst und stets berücksichtigt werden.

3.7.

Ein neues Element im Abkommen von Ljubljana ist die Ex-ante-Bewertung von Themen. Mit diesen Bewertungen soll ein pragmatischer, wirksamer und ergebnisorientierter Ansatz verfolgt werden, um die Wirkung künftiger Ergebnisse der EU-Städteagenda zu erhöhen. Zudem sind dadurch maßgeschneiderte Auswahlkriterien für Partner möglich. Der EWSA empfiehlt den Akteuren der Städtepolitik bei künftigen thematischen Partnerschaften immer auf den Austausch bewährter Verfahren, auch mit Blick auf Partnerschafts- und Kooperationsmodelle, zu achten.

3.8.

Für die Umsetzung der Aktionspläne thematischer Partnerschaften gilt es, mit EU-Mitteln und öffentlichen Geldern finanzierte maßgeschneiderte Instrumente zu schaffen. Es sollte — insbesondere für kleine und mittlere Städte und Organisationen — eine maßgeschneiderte Unterstützung (Finanzierungsinstrumente, Finanzhilfen und Fonds) angeboten werden, um die effiziente Umsetzung der thematischen Partnerschaft sicherzustellen. Zudem sollte der Zugang zu dieser Unterstützung fair sein, damit kleine Organisationen bzw. Städte nicht zurückgelassen werden.

3.9.

Instrumente wie integrierte territoriale Investitionen und von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung sind äußerst erfolgreich und sollten auf der Grundlage stabiler und vorhersehbarer Durchführungsmechanismen weiterhin eingesetzt und ausgebaut werden. Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass auch ein integrierter Ansatz möglich ist (3), bei dem im Interesse sowohl der territorialen als auch der Stadtentwicklung und vorbehaltlich demokratischer Kontrolle, eines transparenten Regierungshandelns und Rechenschaftspflicht öffentliche und private Finanzmittel kombiniert werden können, um die Kapazitäten zu vergrößern und die Risiken zu verteilen.

3.10.

Bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich der nachhaltigen Stadtentwicklung sollten stets auch Innovationen im Blick sein. Es wird empfohlen, den Zugang zu Innovationen sowie die gemeinsame Nutzung und großmaßstäbliche Umsetzung von Innovationsideen bereichsübergreifend in die Kohäsionspolitik für den Zeitraum 2021-2027 und in Partnerschaftsvereinbarungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten aufzunehmen. Die Erprobung neuer relevanter und innovativer Lösungen sollte, vor allem in Bereichen wie Technologien 4.0, Industrie 5.0 oder Web3-Technologien sowie soziale Innovation, nicht vernachlässigt werden. Der Europäischen Stadtinitiative kommt beim Kapazitätsaufbau und der Unterstützung innovativer Maßnahmen eine wichtige Rolle zu.

3.11.

Marginalisierte Regionen und Städte und die dort lebenden benachteiligten Bevölkerungsgruppen sollten mit dem Ziel, die Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger zu verbessern, ein ständiges Anliegen der Entwicklungspolitik sein. Auch die Bekämpfung der Armut sollte hohe Priorität haben. Der Zugang zu hochwertiger und inklusiver Bildung, Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und anderen öffentlichen Dienstleistungen ist von entscheidender Bedeutung, um eine faire Erholung der Städte nach der Pandemie zu gewährleisten. Bei der Entwicklung und Umsetzung thematischer Partnerschaften sollten schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen in den Städten, insbesondere u. a. ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Minderheiten, Einwanderer, Flüchtlinge sowie sozial, wirtschaftlich und kulturell benachteiligte Gruppen, besonders berücksichtigt werden. Ihre Einbeziehung sollte durch Kapazitätsaufbau im Rahmen des Prozesses sichergestellt werden. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, den Abbau neuer Formen sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und territorialer Ungleichheiten zu einer Priorität zu machen. Dafür ist eine gerechte und vielgestaltige Einbeziehung der verschiedenen Interessenträger zu gewährleisten.

3.12.

Im Abkommen von Ljubljana wurden der Bedarf an organisatorischer und fachlicher Unterstützung sowie ein gewisser Unterstützungsbedarf für kleinere Städte ermittelt. Da die EU-Städteagenda nach wie vor eine informelle und freiwillige Initiative ist, sollten die Mitglieder auch zur Unterstützung der Partnerschaften und zur Umsetzung der Maßnahmen beitragen. Nach Auffassung des EWSA sollte bei der im Rahmen der Partnerschaften erforderlichen technischen Unterstützung auch auf die Nachhaltigkeit der Endergebnisse der Partnerschaften geachtet werden. Neben der Erhebung von Daten und ihrer Nutzung für evidenzbasierte Investitionen sollte auch kontinuierlich ein verstärkter, integrierter und partizipatorischer Ansatz in Betracht gezogen werden.

3.13.

Dennoch sind vorhersehbare und finanziell unterstützte Mechanismen, mit denen die europäischen Strategien in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, sowie eine angemessene Finanzierung auf lokaler Ebene für die Behörden kleiner und mittlerer Städte und deren kontinuierliche Einbeziehung in die Städteagenda unabdingbar. Auch bei der Umsetzung thematischer Partnerschaften sollte dieser Grundsatz sorgfältig angewandt werden.

3.14.

Die Kohäsionspolitik bietet eine Vielzahl von Instrumenten für eine nachhaltige Stadtentwicklung im Programmplanungszeitraum 2021-2027. Im Rahmen des neuen politischen Ziels 5 „Ein bürgernäheres Europa“ sollen spezifische Instrumente für die Umsetzung lokaler Entwicklungsstrategien in Städten und Gemeinden aller Größenordnungen entwickelt werden. Die Mindestzweckbindung von EFRE-Mitteln in den einzelnen Mitgliedstaaten für Prioritäten und Projekte, die von den Städten auf der Grundlage dieser Strategien ausgewählt werden, wurde von 5 % auf 8 % erhöht. Darüber hinaus wurde die Europäische Stadtinitiative ins Leben gerufen, um Städten kohärentere Unterstützung zu bieten. Der EWSA empfiehlt, kontinuierlich mehr Möglichkeiten für thematische Partnerschaften auf lokaler Ebene zu schaffen und alle relevanten Interessenträger, einschließlich des EWSA, einzubeziehen. In Zukunft könnte die Zweckbindung von Mitteln für die nachhaltige Stadtentwicklung höher ausfallen.

3.15.

Aufgrund der zunehmenden Volatilität und der vielfältigen Risiken müssen thematische Partnerschaften dazu beitragen, die Resilienz und Reaktionsfähigkeit bei asymmetrischen Schocks wie COVID-19 und vergleichbaren Situationen zu stärken. Der entsetzliche Krieg in der Ukraine beeinträchtigt die Stadtentwicklung in den Grenzländern. Thematische Partnerschaften sollten an kurzfristige Krisen angepasst und mit langfristigen strategischen Ansätzen gekoppelt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Kriterien für die Auswahl von Partnern für die thematischen Partnerschaften spezifiziert werden. Beim Auswahlverfahren sollte die Möglichkeit, die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen neben den städtischen Behörden in diesen Prozess einzubinden, nicht vernachlässigt werden. Das gilt auch für jene Organisationen, die schutzbedürftige Gruppen, wie ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Minderheiten, Einwanderer, Flüchtlinge sowie sozial, wirtschaftlich und kulturell benachteiligte Gruppen vertreten. Diese sollten ermutigt und dazu angehalten werden, sich an Partnerschaften im Rahmen der EU-Städteagenda zu beteiligen.

4.2.

Laut dem Pakt von Amsterdam gehört der EWSA zu seinen Interessenträgern und er wird aufgefordert, im Rahmen seiner Zuständigkeiten einen Beitrag zur Weiterentwicklung der EU-Städteagenda zu leisten. Die Gültigkeit dieses Pakts wurde im Umsetzungsdokument zur neuen Leipzig-Charta und im Abkommen von Ljubljana bekräftigt. Dem EWSA sollte in der EU-Städteagenda und im Abkommen von Ljubljana eine größere Rolle zukommen. Der EWSA ist ein wichtiger europäischer Interessenträger, der für die wirtschaftlichen und sozialen Parameter von Entwicklungsstrategien verantwortlich ist und dank seiner Fähigkeiten, seines Fachwissens und seiner Legitimität einen Beitrag zu den drei Säulen des Abkommens von Ljubljana — bessere Finanzierung, bessere Rechtsetzung und besseres Wissen — leisten kann. Die Rolle des EWSA sollte im Abkommen von Ljubljana offiziell anerkannt werden und in den wichtigsten Leitungsgremien des Abkommens von Ljubljana berücksichtigt werden. Er sollte sowohl in der Gruppe für städtische Entwicklung als auch in der technischen Vorbereitungsgruppe für die Städteagenda vertreten sein und in die Sitzung der Generaldirektoren zum Thema städtische Fragen einbezogen werden.

4.3.

Nach Auffassung des EWSA sollten künftige thematische Partnerschaften Themen wie partizipative Demokratie, Ökonomie des Wohlergehens in Städten und Stadt-Land-Verbindungen (4) umfassen, die mit dem im strategischen Rahmen der EU verwendeten Konzept der territorialen Entwicklung in Einklang stehen. Der EWSA empfiehlt, eine eindeutige Verknüpfung zwischen dem Verfahren zur Auswahl der Partner, der Themenauswahl und den Nachhaltigkeitszielen einerseits und den Beiträgen der Partnerschaft zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele andererseits sicherzustellen.

4.4.

Künftig könnten thematische Partnerschaften in thematischen Clustern, bestehenden thematischen Netzen und Netzen zur Entwicklung maßgeschneiderter und ortsbezogener Lösungen für Städte organisiert werden. Dabei gilt es, einen verbesserten Zugang zu den Netzen, insbesondere für kleine und mittlere Städte, im Auge zu behalten. Die Städte sollten im Zentrum des Bottom-up-Ansatzes der thematischen Partnerschaften stehen, um Synergien zwischen den Gegebenheiten vor Ort und bereits bestehenden thematischen Partnerschaften zu gewährleisten.

4.5.

Der bei den thematischen Partnerschaften genutzte Konsultationsprozess sollte alle Formen des Dialogs und der Konsultation, wie den sozialen Dialog, den Bürgerdialog und den zivilgesellschaftlichen Dialog, umfassen und alle Arten zivilgesellschaftlicher Interessenträger, wie die Sozialpartner, NRO und die Bürgerschaft, einbeziehen.

4.6.

Der EWSA schlägt vor, gemeinsam mit der Kommission und anderen einschlägigen Interessenträgern ein Sekretariat für thematische Partnerschaften einzurichten, um diese zu unterstützen, die Verknüpfung mit der Städtepolitik auf lokaler Ebene sicherzustellen, technische Hilfe zu gewährleisten sowie die Schaffung thematischer Gemeinschaften und den Austausch bewährter thematischer Verfahren zu erleichtern. Es sollten ausreichende Ressourcen bereitgestellt werden, um eine effiziente Verwaltung und wirksame thematische Partnerschaften — insbesondere zur Umsetzung der Aktionspläne — zu ermöglichen.

4.7.

Der EWSA empfiehlt, die EU-Städteagenda und die Kohäsionspolitik enger miteinander zu verknüpfen. Obwohl es sich um zwei getrennte Strategien und Initiativen mit unterschiedlichen Zielen und Rahmenbedingungen handelt, dürften Synergien bestehen, insbesondere bei der Plattform für den Wissensaustausch (5) und den Kapitalisierungsmaßnahmen, die im Rahmen der Europäischen Stadtinitiative entwickelt werden sollen. Bestehende Maßnahmen zur Umsetzung der thematischen Partnerschaften könnten in den operationellen Programmen, in den verschiedenen Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen oder in den Kriterien für die Projektbewertung aufgeführt werden. Die Ergebnisse der Arbeit der thematischen Partnerschaft sollten in die Planung der neuen operationellen Programme im Kohäsionsbereich einfließen.

4.8.

Die auf lokaler Ebene umgesetzte Städtepolitik und die EU-Politik, insbesondere die Kohäsionspolitik, müssen kohärenter sein und stärker ineinandergreifen. Es bedarf miteinander verknüpfter Instrumente für eine kohärentere Unterstützung der Städte im Rahmen der Kohäsionspolitik. Außerdem ist eine sektorübergreifende und interinstitutionelle Zusammenarbeit und Integration auf strategischer und operativer Ebene erforderlich. Zudem muss die regionale Wettbewerbsfähigkeit durch Komplementarität von städtischen und ländlichen Gebieten und durch einen starken sozialen Zusammenhalt im Rahmen der Kohäsionspolitik 2021-2027 ergänzt werden.

4.9.

Arbeitsbedingungen, berufliche Planungssicherheit sowie Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen, Chancen und angemessenen Löhnen sind wichtige Variablen für eine faire und gerechte Stadtentwicklung. Diese Variablen sollten bereichsübergreifend im Rahmen der Ökologisierung der Städte, der Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgungskette, der Kreislaufwirtschaft und des nachhaltigen Tourismus angegangen werden. Investitionen in die Menschen sollten eine der obersten Prioritäten der Entwicklungsstrategien bleiben. Fairer Zugang und Chancengleichheit sowie die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Grundrechte sind für den Erfolg thematischer Partnerschaften unabdingbar.

4.10.

Aufgrund der Konzentration der Ressourcen und des Bedarfs in städtischen Gebieten sollte im Rahmen des Europäischen Semesters ein individuellerer Ansatz für die Wirksamkeit der Stadtentwicklungspolitik verfolgt werden, damit keine Menschen oder Gebiete zurückgelassen werden. Die Kohärenz mit anderen europäischen Instrumenten wie der europäischen Säule sozialer Rechte gilt es dabei stets im Blick zu behalten.

4.11.

Es sind mehr und mehr sehr komplexe Entwicklungsstrategien und -projekte gefragt. Der EWSA schlägt vor, dass die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften für diese Arten von Investitionen die Kapazitäten in den Bereichen Bürgerbeteiligung, strategische Vorausschau und Vorbereitung auf verschiedene Szenarien, strategische Planung und öffentliche Investitionen erhöhen. Nur so ist eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklung der europäischen Städte möglich, die den Menschen wieder zentrale Bedeutung gibt. Dabei sollten der Datenkonvergenz aus verschiedenen Partnerschaften und dem Zugang zu Daten über offene Datenplattformen zusammen mit dem elektronischen Rechtsverkehr und digitaler Demokratie Rechnung getragen werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/regional_policy/policy/themes/urban-development/agenda_en

(2)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 145.

(3)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Neufassung der Territorialen Agenda der EU, der Leipzig-Charta und der EU-Städteagenda“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 145).

(4)  Siehe die Initiativstellungnahme des EWSA „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 49).

(5)  https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/strategy/strategy-2020-2024/our-digital-future/era/knowledge-exchange-platform-kep_de


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bekämpfung der Energiearmut und Resilienz der EU: Herausforderungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

(2022/C 486/13)

Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS

Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes

Schreiben vom 26.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Sondierungsstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

22.6.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

137/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu Energie und einer sicheren Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen muss für die Europäische Union und die Mitgliedstaaten absolute Priorität haben. Aufgrund des drastischen Anstiegs der Energiepreise sind EU-weit immer mehr Bürger und Verbraucher von Energiearmut betroffen. Die Situation derjenigen, die bereits in Energiearmut leben, verschlechtert sich, und Verbraucher, die in der Vergangenheit keine Probleme mit der Begleichung ihrer Energierechnung hatten, drohen in die Armut abzurutschen. Zu dieser Situation tragen auch die derzeitigen geopolitischen Spannungen, einschließlich des Krieges in der Ukraine und der Abhängigkeit der Mitgliedstaaten von Energieimporten, bei. Es sind dringend Maßnahmen erforderlich, um Energiearmut unter den Bürgern und Verbrauchern in der EU vorzubeugen bzw. sie daraus zu befreien.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) räumt ein, dass die EU bei ihren Initiativen der Energiearmut große Bedeutung beimisst, auch bei ihren Rechtsvorschriften und Maßnahmen, insbesondere im Paket „Fit für 55“, bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals und bei der Renovierungswelle. Diese Maßnahmen sind für die langfristige Bekämpfung der Energiearmut und die Gewährleistung der Nachhaltigkeit unerlässlich. Allerdings wird die Resilienz der EU nur daran gemessen werden, wie die EU und die Mitgliedstaaten die entscheidenden sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen meistern, mit denen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen konfrontiert sind.

1.3.

Um die derzeitige Energiearmutskrise bewältigen zu können, fordert der EWSA, ein breites und ehrgeiziges politisches Bündnis zu schließen, um die Energiearmut ganzheitlich zu analysieren und anzugehen, mit dem Ziel, die Energiearmut bis 2030 auf ein Mindestmaß zu reduzieren und auf lange Sicht komplett auszumerzen. Diesem Bündnis sollten die Europäische Kommission und die Beratungsplattform Energiearmut, das Europäische Parlament, der Rat, die Mitgliedstaaten, der Europäische Ausschuss der Regionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Bürgermeisterkonvent sowie Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, Verbraucherverbänden und Organisationen, die die am stärksten von Energiearmut bedrohten Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Die Maßnahmen dieses Bündnisses sollten im Rahmen einer EU-Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut weiterentwickelt werden, und die Kommission sollte die Mitgliedstaaten auffordern, unter Einbeziehung und Abstimmung aller politischen und finanziellen Instrumente auf EU- und nationaler Ebene nationale Pläne oder Konzepte zur Beseitigung der Energiearmut auszuarbeiten.

1.4.

Angesichts der Bedeutung dieses Problems fordert der EWSA die EU auf, eine gemeinsame Herangehensweise an das Thema „Energiearmut“ zu fördern, die für ein konkretes gemeinsames Verständnis von Energiearmut sorgt und die Erhebung statistischer Daten ermöglicht, wobei den Unterschieden und Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden sollte. Eine solche Herangehensweise ist auch erforderlich, um die Lage und die Auswirkungen der EU-weit ergriffenen Maßnahmen zu beobachten.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission bereits erste Vorschläge für sofortige und langfristige Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher und zur Bekämpfung der Energiearmut unterbreitet hat, z. B. mit ihrer Empfehlung zu Energiearmut, ihrer Energiepreis-Toolbox, ihrer Mitteilung „REPowerEU“ und dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität. Die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen mögen von nationalen und lokalen Besonderheiten abhängen, doch müssen die Mitgliedstaaten im Interesse einer resilienten EU in Krisenzeiten unbedingt eine Reihe von Maßnahmen (wie eine direkte finanzielle Unterstützung und soziale Maßnahmen sowie Anreiz- und Fördermaßnahmen zur Verringerung des Energieverbrauchs) ergreifen, um die negativen Auswirkungen der steigenden Preis auf die schutzbedürftigsten Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen abzumildern.

1.6.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, in eine faire und effiziente Energieversorgung zu investieren, um die Energiearmut auf lange Sicht zu lindern. Um dies zu erreichen, muss dafür gesorgt werden, dass mit den Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz sowie umfassende Gebäuderenovierungen die einkommensschwächsten Gruppen unterstützt werden und sichergestellt wird, dass finanziell schwächeren Bürgern die Mittel für Investitionen in Energieeffizienz zur Verfügung stehen und den Gebäuden mit der schlechtesten Energieeffizienz Vorrang eingeräumt wird. Die Kommission sollte eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um zu prüfen, ob die verfügbaren Haushaltsmittel den Bedürfnissen und Anforderungen gerecht werden und welche Optionen zur weiteren Unterstützung der Mitgliedstaaten verfügbar sind.

1.7.

Da Energiearmut auch auf allgemeine Armut zurückzuführen ist, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten weiterhin gezielt auf die Verringerung der Armut insgesamt hinarbeiten. Diese Krise rückt die Notwendigkeit in den Fokus, den Zugang zu Beschäftigung und die soziale Inklusion laufend zu verbessern sowie für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen — wobei Menschen in ländlichen und abgelegenen Gebieten besonders berücksichtigt werden sollten — und das Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten zu fördern.

1.8.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen ein investitionsfreundliches Umfeld für CO2-freie und CO2-arme Energie in Europa gewährleisten. Darüber hinaus werden Umschulung und Weiterbildung beim ökologischen Wandel, bei der Renovierungswelle und bei der Energieeffizienz eine wichtige Rolle spielen. Weitere vorteilhafte Maßnahmen könnten u. a. Aufklärung, Beratung und Konsultationen im Energiebereich sein, die auf lokaler Ebene allgemein verfügbar und erschwinglich sein (z. B. über zentrale Anlaufstellen) müssen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Energiearmut ist für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in der EU ein immer größeres Problem, das zunehmend Anlass zur Sorge gibt. Im Jahr 2020 gaben 8 % der EU-Bevölkerung an, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Wohnung ausreichend zu heizen (1). Mittlerweile dürfte diese Zahl angesichts der seit Mitte 2021 sprunghaft gestiegenen Energiepreise noch höher sein. Im März 2022 erreichte die jährliche Teuerungsrate im Energiebereich in der EU 40,2 %, wobei die höchste Jahresänderungsrate der Energiepreise 99,6 % und die niedrigste 0 % betrug (2). Die Energiepreise werden auch von geopolitischen Spannungen, einschließlich des Krieges in der Ukraine und der Abhängigkeit der EU-Mitgliedstaaten von Energieimporten, beeinflusst (3). Bei einem gleichzeitigen Anstieg der Energie-, Beförderungs- und Lebensmittelpreise verschärft sich die Lage bei allen Verbraucherinnen und Verbrauchern, besonders aber bei einkommensschwachen Haushalten, die häufiger unter Energiearmut leiden. Energiearmut bleibt daher eine große Herausforderung mit erheblichen sozialen Folgen. Es ist eine dringende Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, schutzbedürftige Bürgerinnen und Bürger daraus zu befreien.

2.2.

Energiearmut ergibt sich aus einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter geringes Einkommen, energieineffiziente Gebäude und Geräte sowie mangelnde Informationen über die Senkung des Energieverbrauchs und mangelnder Zugang zu entsprechenden Anreizmaßnahmen. Die hohen Energiepreise wirken sich auch auf die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen aus. Durch die steigenden Energiekosten werden Kleinst-, kleine und mittlere Unternehmen nämlich in eine äußerst prekäre Lage (4) gebracht und sind von Insolvenz bedroht, was zu Arbeitsplatzverlusten führen kann, die wiederum zur Armut beitragen. Auch „finanziell schwächere Kleinstunternehmen“ sind stark von den Preisauswirkungen der Aufnahme von Gebäuden in den Geltungsbereich der Richtlinie 2003/87/EG betroffen und ihnen fehlen die Mittel für eine Renovierung der von ihnen genutzten Gebäude. Infolge des drastischen Anstiegs der Energiepreise erhöhen sich aufgrund eines Kaskadeneffekts bei allen Arten von Waren und Dienstleistungen die Kosten. Europa droht eine Stagflation, d. h. ein geringeres Wirtschaftswachstum gepaart mit einer hohen Inflation, die zusätzliche Armutsfaktoren sind (5).

2.3.

Am stärksten von Energiearmut betroffen sind in Europa Geringverdienende wie erwerbstätige Arme, Rentnerinnen und Rentner mit geringem Einkommen, Studierende, junge Erwachsene, kinderreiche Familien und Alleinerziehende sowie benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit bereits hohen Armutsquoten, darunter Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Migranten und Angehörige der Minderheit der Roma. Frauen sind stärker von Energiearmut und ihren Auswirkungen bedroht, weil sie im Durchschnitt weniger verdienen und stärker auf die Wärme- und Kälteversorgung ihres Zuhauses angewiesen sind, wo sie aufgrund von Betreuungspflichten mehr Zeit verbringen. Des Weiteren leiden die in den östlichen und südlichen Mitgliedstaaten lebenden Menschen im Durchschnitt stärker unter Energiearmut (6).

2.4.

Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs aller Unionsbürgerinnen und -bürger zu sauberer und erschwinglicher Energie stellt eine wesentliche Verpflichtung seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten dar. Nach der europäischen Säule sozialer Rechte hat jede Person das Recht auf Zugang zu essenziellen Dienstleistungen, zu denen auch die Energieversorgung zählt (Grundsatz 20). Der „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle“ gehört auch zu den Zielen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Ziel 7). Eine ausreichende Energieversorgung für Heizung, Kühlung und Beleuchtung sowie den Betrieb von Haushaltsgeräten ist entscheidend für einen angemessenen Lebensstandard und die Gesundheit. Der Zugang zu Energiedienstleistungen ist zudem eine wesentliche Voraussetzung für soziale Inklusion. Insgesamt werden infolge der mit den Maßnahmen gegen Energiearmut einhergehenden vielfachen Vorteile in der EU auch unmittelbar Wirtschaftswachstum und Wohlstand gefördert.

2.5.

In den letzten zehn Jahren hat sich die EU in verschiedenen rechtlichen und politischen Dokumenten mit Energiearmut befasst, bspw. im dritten Energiepaket (2009-2014), in der Strategie für die Energieunion von 2015 und in dem Legislativpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ von 2019, mit dem eine gerechte Energiewende erleichtert werden soll. Die Energiearmut ist auch ein wichtiger Bestandteil jüngerer Initiativen, bspw. des europäischen Grünen Deals, einschließlich der Renovierungswelle und des Pakets „Fit für 55“. Die Energiearmut wird bei mehreren Vorschlägen, die Teil des Pakets sind, berücksichtigt, darunter der Vorschlag für einen neuen Klima-Sozialfonds, mit dem die negativen sozialen Folgen der geplanten CO2-Bepreisung von Verkehr und Gebäuden abgemildert werden sollen, und der Vorschlag für eine Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie, in der eine Definition von Energiearmut vorgeschlagen wird (7). Das Paket umfasst auch einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität, in dem den Mitgliedstaaten spezifische Leitlinien dafür an die Hand gegeben werden, wie sie die einschlägigen beschäftigungs- und sozialpolitischen Aspekte des ökologischen Wandels angehen können, was angesichts der aufgrund der steigenden Energiepreise und des geopolitischen Kontexts beschleunigten Umstellung nun umso wichtiger ist.

2.6.

Im Jahr 2020 nahm die Europäische Kommission eine Empfehlung zu Energiearmut an, die Leitlinien zu geeigneten Indikatoren für die Erfassung der Energiearmut und zur Definition des Begriffs „erhebliche Anzahl von Energiearmut betroffenen Haushalten“ enthält. Sie trägt auch zum Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten bei und zeigt die auf EU-Ebene in Form einer Kombination von Finanzierungsquellen verfügbaren Fördermittel auf, die es den nationalen, regionalen und lokalen Behörden ermöglichen, ihre finanzielle Schlagkraft voll zu nutzen, einschließlich Zuschüssen und subventionierter Renovierungsmaßnahmen, um Vorabinvestitionen zu begrenzen. Weitere wichtige Initiativen sind die Unterstützung lokaler Projekte durch die Beratungsplattform Energiearmut, die in diesem Jahr erstmals technische Hilfe bietet, die Energiepreis-Toolbox, mit der den Mitgliedstaaten geeignete Instrumente an die Hand gegeben werden, um die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen bei der Bewältigung der hohen Energiepreise zu unterstützen, die Unterstützung schutzbedürftiger Haushalte und Unternehmen im Rahmen von REPowerEU (8) und die kürzlich eingesetzte Koordinierungsgruppe „Energiearmut und schutzbedürftige Verbraucher“ (9).

2.7.

Der EWSA stellt jedoch fest, dass die bislang von der Kommission vorgelegten Initiativen ohne eine rasche Umsetzung, ein starkes Engagement und konkrete Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten — einschließlich einer gemeinsamen Herangehensweise, die es ermöglicht, das Thema Energiearmut auf EU-Ebene zu fassen und anzugehen, und die in eine gemeinsame Definition münden könnte, wobei es den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt, maßgeschneiderte Lösungen zu finden — nicht ausreichen werden, um die aktuelle Krise, die immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher trifft, erfolgreich zu meistern.

3.   Ganzheitliche Bekämpfung der Energiearmut: Aufruf zu einem politischen Bündnis und einer Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut

3.1.

Da die Energiearmut das Resultat sozialer, ökologischer, wirtschaftlicher und geopolitischer Faktoren ist, erfordert sie einen ganzheitlichen Ansatz. Hierzu zählen auch eine umfassende Analyse des Problems und die Einbeziehung verschiedener Interessenträger — von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Organisationen der Zivilgesellschaft über die Unternehmen bis hin zu europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Behörden. Der EWSA fordert, hierfür ein breites und ehrgeiziges politisches Bündnis zu schließen. Diesem Bündnis sollten die Europäische Kommission und die Beratungsplattform Energiearmut, das Europäische Parlament, der Rat, die Mitgliedstaaten, der Europäische Ausschuss der Regionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Bürgermeisterkonvent sowie Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, Verbraucherverbänden und Organisationen, die die am stärksten von Energiearmut bedrohten Bevölkerungsgruppen repräsentieren.

3.2.

Die Mitgliedstaaten sollten kontinuierlich mit den Verbrauchern und den zuständigen lokalen und kommunalen Behörden in Kontakt stehen. Die Städte und Regionen sind oft am besten in der Lage, frühzeitig zu erkennen, welche Haushalte von Energiearmut bedroht sind, und so das Problem wirksam anzugehen. Neben den nationalen und lokalen Behörden (einschließlich der Gemeinden und kommunalen Dienste) (10) können bei den Maßnahmen zur Verringerung der Energiearmut auch lokale und nationale Unternehmen als wichtige Akteure fungieren, u. a. indem sie einen Beitrag zur Renovierungswelle leisten. Da es schutzbedürftigen Verbraucherinnen und Verbrauchern in der Regel schwerer fällt, ihr Konsumverhalten rasch anzupassen, sollten sie auf allen Ebenen konsultiert und einbezogen werden. Ihre Erfahrungen und Verhaltensweisen müssen unbedingt bei der Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen berücksichtigt werden.

3.3.

Den Organisationen der Zivilgesellschaft kommt eine Schlüsselrolle bei der Erleichterung des Dialogs zwischen Bürgern, Unternehmen, Arbeitnehmern, Verbrauchern und Entscheidungsträgern zu. Angesichts ihres Fachwissens und ihrer Netzwerke vor Ort müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft in die Entwicklung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Energiearmut einbezogen werden, auch in die Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von Strategien zur Beseitigung der Energiearmut.

3.4.

Der EWSA empfiehlt, dass das Bündnis auf Initiative der Kommission eine EU-Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut entwickelt. Die Strategie sollte auf der Anerkennung des Rechts auf Energie beruhen und ehrgeizige, aber realistische Vorgaben im Hinblick auf die Ziele des Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte enthalten sowie darauf abzielen, die Energiearmut langfristig auszumerzen. Sie sollte energiepolitische und nicht energiebezogene Maßnahmen umfassen, mit denen die Ursachen der Energiearmut angegangen und die Lebensbedingungen der von Energiearmut betroffenen und schutzbedürftigen Verbraucherinnen und Verbraucher verbessert werden. Eine solche Strategie ist auch notwendig, um sicherzustellen, dass die Klima- und die Energiewende so konzipiert und umgesetzt werden, dass sie gerecht, fair und inklusiv sind und niemand zurückgelassen wird. Sie könnte ein jährliches Treffen (zur Überwachung der Fortschritte und zur Sensibilisierung für gemeinsame Maßnahmen) sowie Anforderungen in Bezug auf regelmäßige strukturierte Dialoge mit den Mitgliedstaaten und allen einschlägigen Interessenträgern und deren Sensibilisierung sowie zusätzliche Anreize für Investitionen in die Energiewende umfassen. Bei ihrer Umsetzung und Überwachung könnte der Beratungsplattform Energiearmut eine wichtigere Rolle zuerkannt werden.

3.5.

Parallel hierzu müssen die Europäische Kommission, der Rat, das Parlament und die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene weiterhin dafür sorgen, dass bei den bestehenden und neuen legislativen und politischen Initiativen der Energiearmut angemessen Rechnung getragen wird. Dies sollten sie beispielsweise bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals und der Renovierungswelle tun, indem sie die bei den nationalen Energie- und Klimaplänen und den langfristigen Gebäuderenovierungsstrategien erzielten Fortschritte überprüfen und darüber Bericht erstatten und beim Europäischen Semester größeres Gewicht auf die Energiearmut legen. Auch bei Gesetzgebungsinitiativen und der Überprüfung von Rechtsvorschriften bietet sich die Möglichkeit, stärker auf die Energiearmut einzugehen, z. B. im Rahmen der anstehenden Überarbeitungen der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, der Erneuerbare-Energien-Richtlinie und der Energieeffizienzrichtlinie sowie des Vorschlags für einen Klima-Sozialfonds. Darüber hinaus muss die EU sicherstellen, dass bei allen neuen Initiativen zur Bereitstellung erschwinglicher, sicherer und nachhaltiger Energie weiterhin den Auswirkungen auf die schutzbedürftigsten Verbraucherinnen und Verbraucher besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, um die Folgen der hohen Energiepreise abzumildern. Hierzu gehören Initiativen für eine CO2-arme Wirtschaft und Initiativen zur Beendigung der Abhängigkeit Europas von fossilen Brennstoffen aus Russland, wie z. B. die Mitteilung „REPowerEU“.

3.6.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten auffordern, unter Einbeziehung und Abstimmung aller politischen und finanziellen Instrumente auf EU- und nationaler Ebene nationale Pläne oder Konzepte zur Beseitigung der Energiearmut auszuarbeiten. Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten, die sich im Rahmen ihrer nationalen Energie- und Klimapläne nicht genügend für die Bekämpfung der Energiearmut einsetzen, dazu auf, mithilfe klarer Überwachungs- und Bewertungsrahmen ihre Bemühungen zu verstärken. Da nur wenige belastbare Erkenntnisse darüber vorliegen, wie Energiearmut quantifiziert und überwacht werden sollte, ist eine genaue und bessere Berichterstattung unerlässlich.

4.   Bekämpfung der Energiearmut durch sofortige und langfristige Maßnahmen zur Messung des Phänomens und zum Schutz der Verbraucher

4.1.

Der EWSA fordert die EU nachdrücklich auf, eine gemeinsame Herangehensweise zu fördern, die es ermöglicht, das Thema Energiearmut auf EU-Ebene zu fassen und anzugehen, und die in eine gemeinsame Definition münden könnte. Tatsache ist, dass jeder Mitgliedstaat den Begriff Energiearmut anhand seiner eigenen Kriterien definieren kann, und das Fehlen einer gemeinsamen Herangehensweise könnte dazu führen, dass die Kommission nicht in der Lage ist, die Situation angemessen zu bewerten, und die Mitgliedstaaten nicht dasselbe darunter verstehen und unterschiedlich reagieren. Die im Vorschlag für eine Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie enthaltene Begriffsbestimmung und die zuvor von der Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut (EPOV) (11) festgelegten Indikatoren sind ein guter Anfang. Angesichts der Dringlichkeit dieses Problems hält es der EWSA für erforderlich, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Herangehensweise fördern, die für ein konkretes gemeinsames Verständnis von Energiearmut sorgt und die Erhebung statistischer Daten ermöglicht (12).

4.2.

In ihrer Energiepreis-Toolbox hat die Kommission mehrere Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, die die Mitgliedstaaten zur Abmilderung der Folgen der Energiekosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher ergreifen könnten, wie Preisobergrenzen, Steuererleichterungen und Subventionen für Verbraucher und Unternehmen sowie — unter Berücksichtigung der Situation und der Bedürfnisse schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende und kinderreiche Familien — soziale Maßnahmen, wie z. B. spezielle Beihilfen und vorübergehende Zahlungsaufschübe bei den Energierechnungen. Bis Februar 2022 hatten die Mitgliedstaaten bereits viele der in der Toolbox empfohlenen Maßnahmen ergriffen. So leisteten 18 Mitgliedstaaten Zahlungen an schutzbedürftige Gruppen und elf Mitgliedstaaten hatten die Energiesteuer gesenkt (13). Aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten (und innerhalb der einzelnen Regionen) und der verschiedenartigen Maßnahmen, die ergriffen wurden, schwankt die Zahl der von Energiearmut bedrohten Bürgerinnen und Bürger von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.

4.3.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, weiterhin Sofortmaßnahmen zu ergreifen, wann immer diese erforderlich ist, um Verbraucherinnen und Verbraucher, die von Energiearmut betroffen oder bedroht sind, zu schützen, und dabei den nationalen, regionalen und lokalen Bedürfnissen und Besonderheiten Rechnung zu tragen. Zwar gibt es keine Universallösung, da die Energiepreise innerhalb der EU stark variieren, u. a. weil die Mitgliedstaaten momentan sehr unterschiedlich in die Märkte eingreifen (bspw. durch Steuern und Abgaben, Befreiungen oder Belastungen, die häufig nur bestimmte Verbraucher betreffen) (14), doch müssen die Mitgliedstaaten für eine Unterstützung der schwächsten Bevölkerungsgruppen sorgen. Es sollten eine direkte finanzielle Unterstützung und sozialpolitische Maßnahmen vorgesehen werden, um die negativen Folgen der Preiserhöhungen auf die am stärksten gefährdeten Gruppen abzufedern.

4.4.

Direkte Unterstützungsleistungen für Hilfsbedürftige müssen gezielt erfolgen, nicht nach dem Gießkannenprinzip. Sie müssen die soziale Dimension widerspiegeln und dürfen den ökologischen Wandel nicht behindern. So könnte ein zeitlich begrenzter Zuschuss (z. B. für die ersten 300 kWh Strom pro Person und Haushalt) bis zu einer festzulegenden Einkommensgrenze erwogen werden. Es sollte auch direkte Unterstützung geleistet werden, wenn das Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, sofern unter den konkreten Umständen keine erschwinglichen Alternativlösungen verfügbar sind (15).

4.5.

Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten zur Steigerung der Energieeffizienz und Reduzierung der Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene stärkere Anreize für die Senkung ihres Energieverbrauchs sowie intelligente und nachhaltige Renovierungsmaßnahmen bieten. Solche Maßnahmen sollten von der Kommission gefördert werden. Diese Maßnahmen sollten insofern als Ergänzung betrachtet werden, als sie nicht die finanziellen und sozialen Fördermaßnahmen ersetzen können, die als direktes Sicherheitsnetz für die momentan hart von der Preisvolatilität getroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher dienen müssen.

4.6.

Weitere vorteilhafte Maßnahmen könnten u. a. Aufklärung, Beratung und Konsultationen im Energiebereich sein, die auf lokaler Ebene allgemein verfügbar und erschwinglich sein (z. B. über zentrale Anlaufstellen) und durch Subventionen gefördert werden müssen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher, darunter Gebäudeeigentümer und Mieter, können hierbei auch mithilfe von Maßnahmen wie Gebäuderenovierungspässe (16), Energieausweise und intelligente Zähler unterstützt werden. Die Energieberatung muss auf die Bedürfnisse der Verbraucher zugeschnitten sein, da Lösungen sehr individuell ausfallen. Insbesondere die Verbraucherverbände und die lokalen und regionalen Behörden sollten in die Konzipierung von Maßnahmen und die Bereitstellung von Informationen für die Verbraucher einbezogen werden.

4.7.

Da Energiearmut auch auf allgemeine Armut zurückzuführen ist, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten weiterhin auf die Verringerung der Armut insgesamt hinarbeiten und dabei der bereits von Energiearmut betroffenen Bevölkerung sowie denjenigen besondere Aufmerksamkeit widmen, die von Armut bedroht sind, da sie nicht in der Lage sind, höhere Energiepreise zu zahlen. Diese Krise rückt die Notwendigkeit in den Fokus, den Zugang zu Beschäftigung und die soziale Inklusion laufend zu verbessern sowie für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen — wobei Menschen in ländlichen und abgelegenen Gebieten besonders berücksichtigt werden sollten — und generell das Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten zu fördern. Für bessere Infrastrukturen von allgemeinem Interesse, grundlegende Dienstleistungen und den Verkehr bedarf es einer veränderten Sichtweise. Beschäftigung und KMU sollten unterstützt werden, insbesondere in benachteiligten und ländlichen Gebieten.

4.8.

Peer-Review-Verfahren in den Mitgliedstaaten und der Austausch einschlägiger bewährter Verfahren können sowohl im sozialen als auch im Energiebereich zu erfolgreichen Projekten führen, die in der gesamten Union nachgeahmt werden können. Dazu zählen auch Projekte in den Bereichen Energieeffizienz, Energiekompetenz und saubere Energie (Versorgung der Menschen mit erneuerbaren Energien), aber auch soziale Maßnahmen, mit denen die Energiekosten und die Armut insgesamt verringert werden können.

5.   Bekämpfung der Energiearmut durch Investitionen in eine faire und effiziente Energieversorgung

5.1.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, in eine faire und effiziente Energieversorgung zu investieren, um die Energiearmut auf lange Sicht zu lindern. Investitionen in die Entwicklung neuer sauberer Energien und in umfassende Gebäuderenovierungen in der EU sind mit Blick auf die strukturell unzureichenden langfristigen Investitionen in diesem Bereich sowie deren klimatische, ökologische, wirtschaftliche und soziale Folgen eine Notwendigkeit. Sie wirken sich außerdem hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Innovation positiv auf die Wirtschaft aus und kommen somit kurz-, mittel- und langfristig den Unionsbürgerinnen und -bürgern zugute.

5.2.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, einen europäischen Klima-Sozialfonds einzurichten, um die sozialen Herausforderungen und die Verteilungsprobleme des — zur Bekämpfung des Klimawandels unabdingbaren — ökologischen Wandels zu meistern und Anreize für Maßnahmen zur Abmilderung der sozialen Folgen des Emissionshandels für Gebäude und den Straßenverkehr zu schaffen. Der EWSA hält jedoch fest, dass dieser Fonds allein nicht ausreichen könnte, um allen Anforderungen hinsichtlich Energieeffizienz und -wende gerecht zu werden, und durch entsprechende Maßnahmen im Rahmen der nationalen Partnerschaftsabkommen und der Aufbau- und Resilienzpläne gestärkt werden könnte.

5.3.

Energiearmut kann verringert werden, indem Investitionen erleichtert und Finanzmittel für erneuerbare Energien bereitgestellt werden. Die Kommission sollte eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um zu prüfen, ob die verfügbaren Haushaltsmittel den Bedürfnissen und Anforderungen gerecht werden und welche Optionen zur weiteren Unterstützung der Mitgliedstaaten verfügbar sind (z. B. der von mehreren Mitgliedern des Europäischen Parlaments (17) und vom EWSA befürwortete Vorschlag für einen neuen Klimaanpassungsfonds, der genutzt werden könnte, um die EU besser in die Lage zu versetzen, die Mitgliedstaaten bei einer raschen Reaktion auf Klima-, Umwelt- und Energiekrisen zu unterstützen). Sie sollte der wirtschaftlichen Erholung und der Notwendigkeit einer tragfähigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten und in der EU Rechnung tragen.

5.4.

Auch der neue mehrjährige Finanzrahmen und das Aufbauinstrument NextGenerationEU sollten weiterhin für Maßnahmen gegen Energiearmut nach der COVID-19-Pandemie genutzt werden. Der EWSA stellt fest, dass es infolge der Invasion der Ukraine durch Russland noch dringlicher geworden ist, in der EU für eine rasche Energiewende zu sorgen, um sich aus der Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen zu lösen, die Widerstandsfähigkeit des Energiesystems zu erhöhen, allen Unionsbürgerinnen und -bürgern Zugang zu einer fairen und effizienten Energieversorgung zu geben und zugleich die Klimaziele zu erreichen. Der EWSA weist darauf hin, dass der Krieg in der Ukraine und der aktuelle geopolitische Kontext nicht dazu führen sollten, dass die EU die von ihr angestrebten sozialen und ökologischen Ziele vernachlässigt, die langfristig die Grundlage für Wirtschaftskraft bilden.

5.5.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass mit den verfügbaren Mitteln umfangreiche Investitionen in erneuerbare Energien und die Energieeffizienz, die Gebäuderenovierung, Subventionen für die Wohngebäudedämmung und erschwingliche, energieeffiziente Sozialwohnungen sowie kommunale Wohnungsbauprojekte gefördert werden. Es liegt auf der Hand, dass umfangreiche private Investitionen erforderlich sind. Dazu bedarf es eines förderlichen Regelungs- und Investitionsumfelds. Die Mitgliedstaaten sollten in Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften einer umfassenden Renovierung Vorrang einräumen, die zu Energieeinsparungen von über 60 % führen würde (18), und die Qualifizierung von Arbeitskräften unterstützen.

5.6.

Den Regionen, Städten und Gemeinden, die am stärksten von der Energiewende betroffen sind, könnten Mittel aus dem Kohäsionsfonds und dem Mechanismus für einen gerechten Übergang zur Verfügung gestellt werden. Die Europäische Kommission sollte auch weiterhin im Rahmen von Horizont Europa und des LIFE-Teilprogramms „Energiewende“ Projekte zur Bekämpfung der Energiearmut finanzieren. So könnten beispielsweise Forschungsmittel aus Horizont Europa für die Entwicklung erschwinglicher Geräte und Technologien eingesetzt werden, mit denen sich der Energieverbrauch der Haushalte senken lässt. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten Unternehmen, darunter auch Privatunternehmen, mit EU-Mitteln zu Innovation und zur Entwicklung geeigneter Technologien zur Steigerung der Energieeffizienz motivieren.

5.7.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten ferner auf, dafür zu sorgen, dass mit der Renovierungswelle die einkommensschwächsten Gruppen unterstützt werden und sichergestellt wird, dass finanziell schwächeren Bürgern die Mittel für Investitionen in Energieeffizienz zur Verfügung stehen. Dabei sollte den Gebäuden mit der schlechtesten Energieeffizienz Vorrang eingeräumt und so Ausgrenzung aus dem Wohnungsmarkt vermieden werden. Für die Renovierung von Gebäuden und die dezentrale Erzeugung erneuerbarer Energien sollten insbesondere den Akteuren vor Ort deutlich mehr EU-Mittel zur Verfügung gestellt werden. Vorrangige Begünstigte sollten dabei bereits in Armut lebende oder von Energiearmut bedrohte finanziell schwächere Haushalte sein. Als Ausgleich für die Ausweitung des Emissionshandelssystems müssen daher ausreichende Mittel aus dem Klima-Sozialfonds bereitgestellt werden. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten mehr in erneuerbare Energien und in die Energieeffizienz investieren. So könnten erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie, bei denen nahezu keinerlei variable Kosten anfallen, zu niedrigeren Großhandelspreisen führen (19).

5.8.

Umschulung und Weiterbildung werden beim ökologischen Wandel, bei der Renovierungswelle und bei der Energieeffizienz eine wichtige Rolle spielen. Mit Blick auf die Entwicklung konkreter Strategien zur Überwachung und Antizipation des Bedarfs an Qualifizierung, Weiterbildung und Umschulung der Arbeitnehmer in den betroffenen Sektoren verweist der EWSA auf die Ergebnisse einschlägiger Sozialpartnerprojekte (20).

5.9.

Auch der Privatwirtschaft kommt eine Schlüsselrolle dabei zu, Unternehmertum und Investitionen zu fördern, u. a. mit dem Ziel, die Entwicklung grüner Kompetenzen zur Beschleunigung des ökologischen Wandels und zur Reduzierung der Energiearmut voranzutreiben. Es sollten deutlich mehr öffentlich-private Partnerschaften gegründet und Mittel für Forschung und Entwicklung bereitgestellt werden, und die KMU sollten stärker technisch unterstützt werden, um Umweltnormen wie Energieaudits erfüllen zu können. Zudem sollten die Mitgliedstaaten bewährte Verfahren austauschen, um sie stärker zu verbreiten.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products-eurostat-news/-/ddn-20211105-1

(2)  Quelldatensatz: prc_hicp_manr.

(3)  https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_production_and_imports

(4)  REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (8. März 2022).

(5)  Die Kommission hat auf die negativen Auswirkungen hingewiesen, die die hohen Energiepreise auf die Wirtschaft, einschließlich der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, haben. Laut Schätzungen der Europäischen Zentralbank (noch von vor der russischen Invasion) wird infolge der Energiepreisschocks im Jahr 2022 das BIP-Wachstum um rund 0,5 Prozentpunkte sinken. Siehe REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (8. März 2022).

(6)  Zur Erstellung der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU SILC) für das Jahr 2020 wurden Variablen herangezogen, die auf Angaben der Befragten darüber beruhen, ob sie ihre Wohnung ausreichend heizen können, ob sie in schlechten Wohnverhältnissen leben und ob sie Zahlungsrückstände bei den Energierechnungen haben. Sie hat gezeigt, dass es zwar in der gesamten EU Energiearmut gibt, sie aber in den ost- und südeuropäischen Mitgliedstaaten besonders stark ausgeprägt ist.

(7)  In der Begriffsbestimmung 49 in Artikel 2 der vorgeschlagenen Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie bezeichnet der Ausdruck Energiearmut den „fehlenden Zugang eines Haushalts zu essenziellen Energiedienstleistungen, die einen angemessenen Lebensstandard und Gesundheit gewährleisten, einschließlich einer angemessenen Versorgung mit Wärme, Kälte und Beleuchtung sowie Energie für den Betrieb von Haushaltsgeräten, in dem jeweiligen nationalen Kontext und unter Berücksichtigung der bestehenden sozialpolitischen und anderer einschlägiger Maßnahmen“.

(8)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1511

(9)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32022D0589

(10)  COM(2020) 662 final.

(11)  https://energy-poverty.ec.europa.eu/energy-poverty-observatory/indicators_en

(12)  So wurde in den im Europäischen Parlament über den Vorschlag für einen Klima-Sozialfonds geführten Verhandlungen vorgeschlagen, Energiearmut folgendermaßen zu definieren: „Armut, die Haushalte in den niedrigsten Einkommensdezilen betrifft, deren Energiekosten das Doppelte des Medianverhältnisses zwischen Energiekosten und verfügbarem Einkommen nach Abzug der Wohnkosten übersteigen“.

(13)  Giovanni Sgaravatti, Simone Tagliapietra, Georg Zachmann: National fiscal policy responses to the energy crisis. Bruegel, 8. Februar 2022.

(14)  Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).

(15)  Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).

(16)  https://www.bpie.eu/publication/renovation-passports/

(17)  Regional development MEPs suggest to set-up a Climate Change Adaptation Fund | Aktuelles | Europäisches Parlament (europa.eu).

(18)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019H0786&from=DE

(19)  Schätzungen zufolge hat der Ausbau der erneuerbaren Elektrizität bei sonst gleichen Bedingungen im Zeitraum 2008-2015 in Deutschland zu einem Rückgang der Spot-Strompreise um 24 % und im Zeitraum 2010-2015 in Schweden um 35 % geführt (Hirth, 2018).

(20)  Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/95


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sozialer Dialog im Rahmen des grünen Wandels“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

(2022/C 486/14)

Berichterstatterin:

Lucie STUDNIČNÁ

Befassung

Tschechischer Ratsvorsitz, 26.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

5.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

162/1/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Bewältigung des Klimanotstands ist zu einer der obersten politischen Prioritäten geworden. Das seit der industriellen Revolution bestehende Wirtschaftsmodell bedarf einer grundlegenden Überarbeitung. Die gewaltige Umstellung auf eine digitalisierte klimaneutrale Kreislaufwirtschaft erfordert erhebliche Anpassungsbemühungen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine macht diese Umstellung noch dringender erforderlich, bringt jedoch zugleich enorme Kosten und Belastungen für die Gesellschaft mit sich.

1.2.

Als integraler Bestandteil des europäischen Sozialmodells und als Quelle der europäischen Wettbewerbsfähigkeit muss der soziale Dialog auf allen Ebenen, also auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie in den einzelnen Branchen und auf betrieblicher Ebene, ein maßgebliches Instrument sein. Die Mitgliedstaaten sollten den Wert des sozialen Dialogs anerkennen, also die Tatsache, dass er von erheblichem Nutzen ist und einen wesentlichen Teil des Beschlussfassungsprozesses bildet. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass der soziale Dialog gestärkt und gezielt gefördert werden sollte. Dies bedeutet auch, dass die Sozialpartner mit angemessenen Kompetenzen ausgestattet werden und auch Zugang zu Unterstützung durch Fachleute haben müssen.

1.3.

Der gesamte klimaschutzpolitische Rahmen muss deshalb eine starke Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen durch einen gut etablierten sozialen Dialog und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft umfassen. Die Mitgliedstaaten müssen größere Anstrengungen unternehmen, um die Arbeitnehmer einzubeziehen und für ihre Unterstützung auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu sorgen. Dies gilt nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Institutionen der EU.

1.4.

Gewerkschaften spielen bei der Vorbereitung und Vertretung der Arbeitnehmer im Prozess des sozialen und ökologischen Wandels eine Schlüsselrolle; deshalb muss mit einem aktiven und kohärenten sozialen Dialog sichergestellt werden, dass die Klimaschutzmaßnahmen den Arbeitnehmern etwas bringen, der Übergang gerecht gestaltet wird und wirklich niemand zurückbleibt.

1.5.

Der soziale Dialog muss mit einem ständigen und tragfähigen zivilen Dialog, insbesondere mit der organisierten Zivilgesellschaft, und der Beteiligung der Interessenträger einhergehen. Für eine gerechte Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft ist es wichtig, fairere Gesellschaften aufzubauen, Armut zu beseitigen und die Anpassungsprobleme anzugehen, die mit dem grünen Wandel einhergehen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten Millionen von Menschen in gefährdeten Situationen sowie systematisch ausgegrenzte Menschen und sind deshalb eine wichtige Stimme, die in die Entscheidungen bezüglich des Wandels einbezogen werden muss. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen in dieser Frage würde zudem der regionalen Dimension Rechnung getragen.

1.6.

Der sozialen Gerechtigkeit und der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte muss oberste Priorität eingeräumt werden. Zudem muss die EU auch Tarifverhandlungen fördern und aktiv unterstützen, damit die Arbeitnehmer nachhaltige sowie ökologische, wettbewerbsfähige und gute Arbeitsplätze gestalten können. So wird die EU nicht nur gerechter und stärker von Gleichheit geprägt, sondern auch wettbewerbsfähiger und resilienter.

1.7.

Bei allen Arbeitsplätzen, die im Rahmen des Übergangs geschaffen werden, ist die Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit zu achten. Dazu gehören das Recht auf menschenwürdige Beschäftigung, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Tarifverhandlungen, ein Diskriminierungsverbot, ein Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit sowie von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz.

1.8.

Der EWSA schlägt eine systematische Erfassung der Funktionsweise des sozialen Dialogs auf Ebene der Mitgliedstaaten vor. Weitere vergleichende Studien müssen durchgeführt werden, um die Rolle des sozialen Dialogs in nationalen Energie- und Klimaplänen, wie in den NARP, zu untersuchen.

1.9.

Im Rahmen der allgemeinen Bemühungen um die Stärkung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals müssen die Strukturen des sozialen Dialogs durch Anreize und finanzielle Förderung aktiv unterstützt und ausgebaut werden. Dabei muss den Mitgliedstaaten und Branchen, in denen diese Strukturen nur schwach ausgeprägt sind, besondere Aufmerksamkeit gelten.

1.10.

Im Einklang mit der nicht bindenden Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität betont der EWSA, dass den Mitgliedstaaten Leitlinien dazu an die Hand gegeben werden sollten, wie die sozialen Folgen des Übergangs und seine Auswirkungen auf die Beschäftigung bewältigt werden können. Dabei sollten Vorschläge in Erwägung gezogen werden wie die in der EWSA-Stellungnahme „‚Fit für 55“: auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030“ (1) formulierte Empfehlung, die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Ausschüssen für einen gerechten Übergang zu veranlassen.

1.11.

Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung muss gemäß der einschlägigen Richtlinie (2) auf allen Ebenen der europäischen, nationalen und lokalen Verwaltung gestärkt werden. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

Hintergrund

2.1.

Diese Sondierungsstellungnahme wird auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes im Rahmen der Bewertung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals und insbesondere der Rolle des sozialen Dialogs erarbeitet.

2.2.

Die Bewältigung des Klimanotstands ist zu einer der obersten politischen Prioritäten geworden. Das gesamte Produktions- und Verbrauchssystem muss grundlegend umgestaltet werden. Die Umstellung auf eine digitalisierte klimaneutrale Kreislaufwirtschaft bietet unbestreitbar Vorteile, erfordert jedoch auch erhebliche Anpassungsbemühungen und geht mit beträchtlichen Kosten für die Gesellschaft einher.

2.3.

Der grundlegende Umstrukturierungsprozess, den unsere Volkswirtschaften in wenigen Jahrzehnten durchlaufen müssen, um klimaneutral zu werden, ist ein politischer Prozess, der sich auf Menschen mit unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Hintergründen sowie auf Unternehmen und insbesondere KMU nicht in gleicher Weise auswirken wird. Die politischen Entscheidungsträger tragen eine große Verantwortung für die Bewältigung dieser Auswirkungen.

2.4.

Durch den Klimawandel entstehen zweifellos neue Ungleichheiten; Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen könnten Gewinner und Verlierer hervorbringen, wenn sie nicht mit einer Politik des gerechten Übergangs einhergehen. In Anbetracht dessen wurde zusammen mit der Ankündigung des europäischen Grünen Deals im Jahr 2019 die Verpflichtung eingegangen, „niemanden zurückzulassen“.

2.5.

Der laufende Übergangsprozess wurde durch zwei außergewöhnliche Ereignisse weiter erschwert: die COVID-19-Krise und die grundlegende Veränderung der geopolitischen Lage Europas durch den Überfall Russlands auf die Ukraine. Beides führt kurzfristig zu höheren Belastungen für die Gesellschaft, kann aber gleichzeitig auch zur Beschleunigung des Wandels beitragen.

Sozialer Dialog

2.6.

In den letzten Jahrzehnten haben enorme Veränderungen bei den Produktionsmitteln häufig Probleme in Bezug auf die Anpassung und den Wandel aufgeworfen, insbesondere dann, wenn diese Veränderungen zu unsichereren und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen führen und bewirken, dass viele Menschen, wie Frauen oder benachteiligte Gruppen, keinen Zugang zu guter Arbeit haben. Deshalb muss eine Reihe von Problemen im Zusammenhang mit dem Wandel wie vertragliche Vereinbarungen, prekäre Arbeitsformen, Privatisierung und Umstrukturierung angegangen werden, um eine gerechte Wirtschaft zu schaffen, in der es keine Armut mehr gibt. Dieses Problem wird auch in der Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität behandelt, die auf der Tagung des Rates (Soziale Angelegenheiten) am 16. Juni 2022 angenommen wurde.

2.7.

Die Förderung des sozialen Dialogs ist im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgeschrieben. Mit der Initiative „Neubeginn für den sozialen Dialog“ (2016) wurde die Bedeutung des sozialen Dialogs für Aufschwung und Wettbewerbsfähigkeit anerkannt. Der EWSA hat die Bedeutung des sozialen Dialogs in den einschlägigen Transformationsprozessen jüngst in mehreren Stellungnahmen (3) und in einer Entschließung (4) hervorgehoben.

2.8.

Der soziale Dialog kann erwiesenermaßen einen positiven Beitrag zu einer erfolgreichen Umstrukturierung leisten. Unternehmen mit einem gut funktionierenden Dialog sind leistungsfähiger, wettbewerbsfähiger und resilienter und zahlen höhere Löhne und Gehälter.

2.9.

Der EWSA betont, dass alle Ebenen des sozialen Dialogs auf europäischer, nationaler, sektoraler, regionaler und betrieblicher Ebene entscheidende, aber unterschiedliche Aufgaben bei der Bewältigung und Förderung des grünen Wandels haben. Die Strukturen und Einrichtungen auf diesen Ebenen haben jedoch sehr unterschiedliche Stärken.

2.10.

Der soziale Dialog muss mit einem ständigen und tragfähigen zivilen Dialog, insbesondere mit der organisierten Zivilgesellschaft, und der Beteiligung der Interessenträger einhergehen. Für eine gerechte Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft ist es wichtig, fairere Gesellschaften aufzubauen, Armut zu beseitigen und die Anpassungsprobleme anzugehen, die mit dem grünen Wandel einhergehen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten Millionen von Menschen in gefährdeten Situationen sowie systematisch ausgegrenzte Menschen und sind deshalb eine wichtige Stimme, die in die Entscheidungen bezüglich des Wandels einbezogen werden muss. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen in dieser Frage würde zudem der regionalen Dimension Rechnung getragen.

2.11.

In den einzelnen Mitgliedstaaten haben die Einrichtungen und Akteure des sozialen Dialogs unterschiedliche Kapazitäten und Einflussmöglichkeiten, was zum Teil auf die unterschiedlichen Modelle der sozialen Beziehungen und der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten zurückzuführen ist, doch haben in einigen Fällen die Dezentralisierungsmaßnahmen und -empfehlungen im Anschluss an die Finanzkrise und die Krise im Euro-Währungsgebiet aktiv zu ihrer Schwächung beigetragen. Der EWSA betont, dass ein gut funktionierender sozialer Dialog ein wichtiges Merkmal der europäischen sozialen Marktwirtschaft ist, und begrüßt, dass die Europäische Kommission diese Tatsache anerkannt hat, so zuletzt in den Empfehlungen an den Rat.

2.12.

Im Rahmen der allgemeinen Bemühungen um die Stärkung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals müssen die Strukturen des sozialen Dialogs aktiv unterstützt und ausgebaut werden. Dabei muss den Mitgliedstaaten und Branchen, in denen diese Einrichtungen nur schwach ausgeprägt sind, besondere Aufmerksamkeit gelten.

Gerechter Übergang

2.13.

Ein gerechter Übergang bedeutet, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der Beschäftigungs- und Verteilungseffekte der Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft als wesentlicher Bestandteil der Klimaschutzpolitik (beispielsweise des Pakets „Fit für 55“) und nicht nur als ergänzende Korrekturmaßnahmen betrachtet werden sollten. Hier sind viele Dimensionen zu berücksichtigen, so die Verteilungseffekte der Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen, Arbeitsplatzverluste und Beschäftigungsübergänge, der Schutz der grundlegenden sozialen Rechte sowie die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft in die Entscheidungsfindung.

2.14.

Der Fonds für einen gerechten Übergang und der vorgeschlagene Klima-Sozialfonds im Rahmen des Pakets „Fit für 55“ gehören zu den wichtigsten Maßnahmen der EU, die bislang angekündigt wurden, um die Auswirkungen des Übergangs für die am stärksten betroffenen Regionen sowie schutzbedürftige Personen und Unternehmen abzufedern. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission ferner eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität vorgeschlagen hat, um den Mitgliedstaaten Orientierungshilfen zur Bewältigung der sozialen und beschäftigungsbezogenen Folgen des Übergangs an die Hand zu geben.

2.15.

Der Prüfstein für einen gerechten Übergang muss die Effizienz bei der Bewältigung der Anpassungsprobleme von Unternehmen, Beschäftigten und Bürgern sein, indem also beispielsweise die Umstrukturierung von Geschäftstätigkeiten, die Umschulung und Weiterbildung von Beschäftigten sowie die Verhinderung von Energie- und Mobilitätsarmut gefördert werden, damit niemand zurückgelassen wird, insbesondere die Frage inwieweit die Frauen und Männer, deren Arbeitsplätze wegfallen, an Bedeutung verlieren oder anderweitig bedroht sind, einbezogen werden, ihnen eine sinnvolle, erfüllende und sichere Zukunft mit einer hochwertigen Beschäftigung zugesichert wird und sie bei ihrer eigenen Weiterentwicklung unterstützt werden, um diese Aufgaben wahrnehmen zu können.

2.16.

Das Ausmaß der Herausforderung darf hierbei nicht unterschätzt werden. Dazu gehört auch die Entwicklung gut durchdachter, integrierter, mittel- und langfristiger wirtschaftlicher und sozialer Ziele zur Sicherstellung von Produktivität und Inklusion unter angemessener Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Mitgliedstaaten und unter Einbeziehung der Sozialpartner auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in alle Phasen der Politikgestaltung, gegebenenfalls auch durch sozialen Dialog und Tarifverhandlungen. Diese gehen mit einer gezielten und bewussten Umschichtung der Mittel auf nationaler und zentraler Ebene auf die betroffenen Bereiche und Regionen einher. Neben Anreizen für neue Investitionen durch Zuschüsse, Darlehen und die Bereitstellung von Fachwissen sowie der Hilfe für KKMU können Start-ups durch Kapitalbeteiligung unterstützt werden, und es können neue öffentliche Unternehmen geschaffen werden. Außer der Bereitstellung öffentlicher Mittel wird es auch nötig sein, die Vorschriften über staatliche Beihilfen flexibler zu gestalten und unter bestimmten Umständen sogar auszusetzen.

2.17.

Die umfassende Umstrukturierung, zu der die Umwandlung von Dutzenden Millionen Arbeitsplätzen in Europa gehört, muss in ausgewogener und kontrollierter Weise erfolgen und zukunftsorientiert sein. Dabei ist ein gut funktionierender sozialer Dialog von entscheidender Bedeutung. Der Fonds für einen gerechten Übergang zur Unterstützung von Arbeitnehmern beim Übergang in eine neue Beschäftigung sollte im Hinblick auf die Mittel und den Geltungsbereich ausgeweitet werden und sektorspezifische Maßnahmen umfassen.

2.18.

Die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung, Wirtschaft, Soziales und Umwelt, sind eng miteinander verknüpft und müssen durch die Anwendung eines umfassenden und kohärenten politischen Rahmens berücksichtigt werden. Die Leitlinien der IAO für einen gerechten Übergang aus dem Jahre 2015 enthalten eine Reihe praktischer Instrumente zur Steuerung dieses Transformationsprozesses für Regierungen und Sozialpartner.

2.19.

In den Leitlinien heißt es, dass ein starker sozialer Konsens über das Ziel der Nachhaltigkeit und die zu ihr führenden Wege unerlässlich ist. Der soziale Dialog muss ein wesentlicher Bestandteil des institutionellen Rahmens für die Politikgestaltung und Umsetzung auf allen Ebenen sein. Es sollte eine angemessene, fundierte und kontinuierliche Konsultation aller einschlägigen Interessenträger stattfinden.

Sozialer Dialog im Rahmen des grünen Wandels

2.20.

Der soziale Dialog darf keine bloße Formalität sein, sondern muss auf allen Ebenen, also auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie in den einzelnen Branchen und auf betrieblicher Ebene, ein maßgebliches Instrument sein. Dies bedeutet auch, dass die Sozialpartner mit angemessenen Kompetenzen ausgestattet werden und auch Zugang zu Unterstützung durch Fachleute haben müssen.

2.21.

Der EWSA stellt fest, dass sich die Einrichtungen des sozialen Dialogs in der EU aufgrund der unterschiedlichen nationalen Modelle und Traditionen der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern in den einzelnen Mitgliedstaaten stark unterscheiden.

2.22.

Der EWSA schlägt eine systematische Erfassung und Überwachung der Funktionsweise des sozialen Dialogs auf Ebene der Mitgliedstaaten vor (5) und hält weitere vergleichende Untersuchungen für notwendig, um die Rolle des sozialen Dialogs in den nationalen Energie- und Klimaplänen, wie in den NARP, auszuloten.

2.23.

Nach Ansicht des EWSA sind die bestehenden Initiativen zur Bewältigung der sozialen Herausforderungen des grünen Wandels Stückwerk geblieben. Der Mechanismus für einen gerechten Übergang hat einen begrenzten Umfang und deckt nur einen kleinen Teil des Übergangsprozesses ab. Der vorgeschlagene Klima-Sozialfonds wird einen begrenzten Geltungsbereich und Zweck haben und vor allem die regressiven Verteilungseffekte eines geplanten EHS 2 für Verkehr und Gebäude ausgleichen (siehe insbesondere die Stellungnahme zum Klima-Sozialfonds (6)). Der EWSA begrüßt zwar die Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität, stellt jedoch fest, dass diese unverbindliche Empfehlung nicht die umfassende politische Plattform bietet, die die EU braucht, um die Folgen des Übergangs für die betroffenen Arbeitnehmer, Regionen und sozial schwachen Menschen zu bewältigen.

2.24.

Der EWSA betont, dass die EU einen starken Rahmen zur Sicherstellung gleicher Bedingungen für die Steuerung des Übergangs benötigt. Ein solcher solider EU-Rahmen für einen gerechten Übergang sollte unter anderem die Antizipation und Bewältigung der Veränderungen im Rahmen des grünen Wandels mittels einer sinnvollen Beteiligung der Arbeitnehmer und Unternehmen sowie auch der Bürger angehen.

2.25.

Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden.

2.26.

Der EWSA fordert, den sozialen Dialog und die Einbeziehung der Interessenträger auf allen Ebenen zu fördern. Es muss dafür gesorgt werden, dass neue grüne Arbeitsplätze gute Arbeitsplätze im Einklang mit der Agenda der IAO für menschenwürdige Arbeit und der europäischen Säule sozialer Rechte sind. Der EWSA stellt gemäß dem Geist der Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität und unter Verweis auf seine einschlägige Stellungnahme fest, dass der Klima-Sozialfonds mit gezielten Maßnahmen zur Bekämpfung von Energie- und Verkehrsarmut einer Vielzahl von Verteilungseffekten der Klimapolitik Rechnung tragen und die Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit CO2-armer Technologien für Haushalte mit geringem Einkommen unterstützen und erleichtern sollte.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA hält es für äußerst wichtig, die Komplementarität von Klima-, Umwelt- und Sozialpolitik anzuerkennen. Die soziale Dimension sollte ein wesentlicher Teil einer umfassenden Klimaschutzpolitik von der Gestaltung bis zur Umsetzung sein. Dazu gehören der gesamte europäische Grüne Deal und alle konkreten Umsetzungsmaßnahmen im Rahmen des Pakets „Fit für 55“.

3.2.

Der EWSA stellt ebenfalls fest, dass dieser Umstrukturierungsprozess enorme Folgen für Arbeitsplätze, die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und die Einkommensverteilung haben wird. Alle Ebenen der Gesellschaft und der Wirtschaft, von der transnationalen bis zur betrieblichen Ebene, werden betroffen sein, und der soziale Dialog sollte eine entscheidende Rolle bei einer zukunftsweisenden Steuerung dieses Prozesses spielen.

3.3.

Der EWSA begrüßt die starke und ehrgeizige Klimaschutzpolitik, die die Europäische Kommission mit dem europäischen Grünen Deal geschaffen hat und die durch entsprechende Legislativmaßnahmen unterstützt wird. Er betont jedoch, dass ihre soziale Dimension trotz aller positiven Erklärungen noch nicht ausreichend entwickelt ist.

3.4.

Für die soziale Dimension des europäischen Grünen Deals sind weiterhin in erster Linie die Mitgliedstaaten und die nationalen Sozialpartner zuständig, da sie die Situation am besten kennen und Maßnahmen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vorschlagen können. Die sozialen und beschäftigungsbezogenen Herausforderungen des grünen Wandels haben jedoch viele Dimensionen, zu denen der Wegfall von Arbeitsplätzen und Beschäftigungsübergänge, Umschulung und Weiterbildung der Arbeitnehmer, Verteilungseffekte von Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen sowie der Schutz sozialer Rechte und die Beteiligung der Bürger gehören. Erforderlich sind deshalb koordinierte Maßnahmen auf EU-Ebene zur Begleitung und Unterstützung der nationalen Initiative. Wenn nicht auf geeigneter Ebene angesetzt wird, werden soziale Ungleichheiten durch Klimaschutzmaßnahmen voraussichtlich zunehmen und sich verschärfen.

Einen gerechten Übergang verwirklichen — politische Steuerung und Regulierungsanforderungen zur Stärkung des sozialen Dialogs

3.5.

Arbeitsmarktübergänge, Sozialpläne und Wege hin zu nachhaltigen und guten neuen Arbeitsplätzen mit einer langfristigen Verpflichtung zur regionalen und kommunalen Entwicklung sind wesentliche Aspekte eines Fahrplans für den gerechten Übergang.

3.6.

Ausbildungs- und Schulungsprogramme, die auf die individuellen Bedürfnisse sowie die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zugeschnitten sind und von speziellen Zentren für den Übergang in die Beschäftigung durchgeführt werden, sollten gefördert werden. Dazu muss ein proaktiver sozialer Dialog auf kommunaler und regionaler Ebene in Zusammenarbeit mit allen Interessenträgern geführt werden. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber sollten gemeinsam Programme für den beruflichen Übergang unterstützen.

3.7.

Die sozialen Elemente des Pakets „Fit für 55“ haben im Gegensatz zu den weitreichenden und abgestimmten, verbindlichen Umweltmaßnahmen fragmentarischen Charakter, der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates hat keine rechtlich bindende Wirkung.

3.8.

Diese Aspekte müssen verstärkt werden, und der soziale Dialog muss ein verbindlicher Bestandteil wichtiger nationaler Maßnahmen sein, die zur Verwirklichung der klimapolitischen Ziele bis 2050, einschließlich nationaler Klima- und Energiepläne, nationaler Aufbau- und Resilienzpläne und Pläne für den gerechten Übergang, vorgesehen werden.

3.9.

Damit der soziale Dialog zu Ergebnissen führt, die für alle Beteiligten von Nutzen sind, sind gegenseitiges Vertrauen und ein gemeinsames Ziel wichtig.

3.10.

In einigen Mitgliedstaaten gibt es diese Art des sozialen Dialogs bereits, in anderen nicht. In letzterem Fall sollte der soziale Dialog aktiv unterstützt werden, beispielsweise indem ein rechtzeitiger Austausch bestimmter Informationen vorgeschrieben wird und der soziale Dialog als Mittel zur Lösung etwa verwaltungs- und arbeitsrechtlicher Fragen, zur Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln, zur Vereinfachung von Planungsentscheidungen sowie Baugenehmigungen angeboten wird. Um eine missbräuchliche Verwendung zu verhindern, sollten diese Vergünstigungen an eine Ergebnisverpflichtung geknüpft werden.

3.11.

Der EWSA ist sich bewusst, dass dies in einigen Mitgliedstaaten einen Kulturwandel mit sich bringen und es einige Zeit dauern wird, dies zu erreichen. Der EWSA ist jedoch überzeugt, dass sich die investierte Zeit und Anstrengungen in hohem Maße lohnen werden.

3.12.

Die soziale Dimension des europäischen Grünen Deals muss mit der europäischen Säule sozialer Rechte verknüpf werden und im Prozess des Europäischen Semesters zum Ausdruck kommen.

3.13.

Die Kommission hat im Februar 2021 einen Bericht (7) über die Stärkung des sozialen Dialogs veröffentlicht, der in den Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, der im März 2021 vorgelegt wurde, eingeflossen ist. Der Aktionsplan sieht vor, dass die Europäische Kommission im Jahr 2022 eine Initiative zur Unterstützung des sozialen Dialogs auf EU- und nationaler Ebene unterbreitet. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass diese künftigen Empfehlungen der Kommission einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels leisten werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101.

(2)  ABl. L 80 vom 23.3.2002, S. 29.

(3)  Stellungnahme „Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft in Europa: nötige rechtliche Vorgaben und die Rolle der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft“ (ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 10); Stellungnahme „Kein Grüner Deal ohne sozialen Deal“ (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 23). Stellungnahme „Sozialer Dialog als wichtiger Pfeiler wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und Resilienz von Volkswirtschaften“ (ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 14).

(4)  Entschließung mit den Vorschlägen des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Krise: „Die EU muss sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bildet“ auf der Grundlage der Arbeit des Unterausschusses „Wirtschaftliche Erholung und Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise“ (ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 1)

(5)  Entschließung (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1); Stellungnahme (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 38).

(6)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158.

(7)  Bericht über die Stärkung des sozialen Dialogs von Andrea Nahles.


ANHANG

Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 2.25

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden.

Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte übliche Praxis gemäß der vorgenannten Empfehlung des Rates werden.

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

55/95/0


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/102


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema

„Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen EU-Ratsvorsitzes)

(2022/C 486/15)

Berichterstatterin:

Alena MASTANTUONO

Befassung

Schreiben des tschechischen EU-Ratsvorsitzes vom 26.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Sondierungsstellungnahme

Beschluss des Plenums

21.9.2022

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/73/42 (namentliche Abstimmung, siehe Anlage II)

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Stabile und erschwingliche Energiepreise sind von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung der Kaufkraft der europäischen Haushalte sowie der Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Nach einem Jahrzehnt relativ stabiler Preise für Energieimporte und dem verhältnismäßig geringen jährlichen Anstieg der inländischen Erzeugerpreise für Energie um 0,9 % zwischen 2010 und 2019 ist in Europa seit der zweiten Jahreshälfte 2021 ein starker Anstieg der Energiepreise zu verzeichnen. Die Energiepreisschwankungen und die Unsicherheiten bei der Energieversorgung haben sich durch den Krieg in der Ukraine drastisch verschärft.

1.2.

Europa steht heute vor einer doppelten Herausforderung: Es gilt, den Klimawandel zu bekämpfen und gleichzeitig eine stabile Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen zu gewährleisten. Wie die Kommission in ihrem REPowerEU-Plan festhält, liegt die Herausforderung darin, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland rasch zu verringern, indem wir die Umstellung auf saubere Energien beschleunigen und die Kräfte bündeln, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen. Die Lösung umfasst drei zeitliche Dimensionen. Kurzfristig muss es in erster Linie darum gehen, das Energieversorgungsproblem zu lösen, da eine mögliche Verknappung die Preise weiter in die Höhe treiben könnte. Die derzeitige Marktlage wird von aktuellen und zu erwartenden angebotsseitigen Faktoren beeinflusst. Daher müssen, wie im REPowerEU-Plan dargelegt, alle in der EU verfügbaren Energiequellen genutzt werden. Dieses Krisenszenario dient in erster Linie dazu, die Energieversorgung sicherzustellen. Mittelfristig können Nachhaltigkeitsaspekte und der jeweilige Anteil der Energiequellen am Energiemix stärker berücksichtigt werden, und langfristig wird es möglich sein, ökologische Ziele in den Mittelpunkt zu rücken, sofern die geopolitischen Sicherheitsrisiken abgenommen haben.

1.3.

Die durch den Krieg verursachten zusätzlichen Sicherheitskosten werden vermutlich erheblich zum Anstieg der Energiepreise beitragen. Kurzfristig werden bereits bestehende Kernkraftwerke in den EU-Mitgliedstaaten, die sich dafür entschieden haben, die Kernenergie in ihrem Energiemix zu nutzen, und in denen dies technisch machbar ist, zur Stabilität der Energieversorgung beitragen, was erheblichen Einfluss auf die Preisstabilität hat. Ohne die vorhandenen Kernkraftkapazitäten wäre der durch den russischen Einmarsch in die Ukraine ausgelöste Schock für das Energiesystem sicherlich noch größer.

1.4.

Kernenergie steht als Quelle für emissionsarmen Strom auf Nachfrage zur Verfügung und ergänzt die vorrangig genutzten erneuerbaren Energieträger wie Wind- und Solarenergie bei der Umstellung auf eine klimaneutrale Stromerzeugung. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass Kernkraftwerke als verlässliche Grundlastkraftwerke derzeit zu einer sicheren Versorgung beitragen können. Die Grenzkosten der Kernenergie sind stabil und deutlich niedriger als die von Gas- und Kohlekraftwerken. Kernkraftwerke stoßen im Betrieb keine größeren Mengen an CO2 aus, weshalb ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine CO2-Kosten enthalten. Sie sind deshalb von Schwankungen bei den CO2-Preisen (wie 2021, als der CO2-Preis um mehr als 200 % anstieg) nicht betroffen. Die Schwankungen im EU-EHS wirken sich dagegen erheblich auf die Preise für Gas und Kohle auf dem EU-Markt aus.

1.5.

Der EU-Großhandelsmarkt für Strom ist so geregelt, dass die Preise nach dem Merit-Order-Prinzip gebildet werden, nach dem das letzte Kraftwerk den Preis bestimmt. Im Rahmen des gängigen Marktverhaltens wird der Preis auf einem Spotmarkt in den meisten Fällen von Gas oder Kohle bestimmt. Dies bedeutet, dass die Kernenergie die Energiepreise auf dem Spotmarkt nicht beeinflusst, es sei denn, der Energiemix umfasst einen hohen Anteil emissionsarmer Energiequellen. Allerdings vollzieht sich nur ein Teil der Verkäufe auf dem Spotmarkt. Die Energieunternehmen verkaufen physische Stromlieferungen häufig auf der Grundlage bilateraler Verträge. In diesem Fall tragen unterschiedliche Finanzierungsmodelle und bilaterale Verträge in den EU-Mitgliedstaaten, die in ihrem Energiemix auch Kernenergie vorsehen, zur Stabilisierung der Energiepreise für die Kunden bei.

1.6.

Die derzeitige Energiekrise hat das Funktionieren des EU-Strommarkts beeinträchtigt, da seine Grundregeln durch zahlreiche Maßnahmen zur Abfederung hoher Energiepreise bzw. zur spürbaren Senkung der Nachfrage verzerrt wurden. Hier wird der wichtige Zusammenhang zwischen dem gesunkenen Angebot und der gestiegenen Nachfrage deutlich, was die Energiepreise in die Höhe treibt. Mit einer robuster aufgestellten Versorgung mit stabilen CO2-armen Energiequellen werden die Energiepreise weniger Schwankungen unterworfen sein, und dank der Vernetzung der nationalen Energiemärkte kommt dies der gesamten EU zugute.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA ist die Verlängerung der Betriebsdauer bestehender Kernkraftwerke in der besonderen aktuellen Situation durchaus sinnvoll und wird zugleich zur Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft beitragen. So könnte den gegenwärtigen Erwartungen in Bezug auf die Energieversorgung entsprochen werden, den Einsatz von Gas in der Stromerzeugung und so auch das Risiko von Engpässen bei der Gasversorgung zu verringern. Dadurch könnten auch die beispiellosen, nicht durch wirtschaftliche Faktoren ausgelösten Preisschwankungen abgefedert und die derzeitigen Erwartungen an die Energieversorgung erfüllt werden. Der EWSA legt den Mitgliedstaaten nahe, Lösungen für Speicherkapazitäten zu entwickeln und die Verbindungsleitungen auszubauen, um langfristig wirksam auf Ausfälle bei erneuerbaren Energien und kurzfristig bei der Gasversorgung reagieren zu können.

1.8.

Der EWSA empfiehlt dem tschechischen Ratsvorsitz, das Thema Preisstabilität in der Kernenergiebranche sowie die Bedeutung der Kernenergie für eine stabilere Versorgung mit Blick auf das Ziel einer geringeren Abhängigkeit der EU von russischem Gas im Rahmen des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) zu erörtern. Der EWSA würde es begrüßen, wenn er in diese Diskussionen einbezogen würde.

1.9.

Der EWSA schlägt vor, die bilaterale Zusammenarbeit mit internationalen Partnern in der Kernenergiebranche zu verstärken und in diesem Rahmen Innovationsergebnisse und Fortschritte bei neuen Technologien auszutauschen. Der EWSA empfiehlt dem tschechischen EU-Ratsvorsitz, eine Konferenz über kleine modulare Reaktoren (small modular reactors — SMR) zu veranstalten, etwa in Form eines hochrangigen Forums EU-USA, und die vielversprechenden Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet zu prüfen.

2.   Hintergrund und Erläuterungen

2.1.

In Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind die Rechtsgrundlagen für die Energiepolitik der EU festgelegt. Besondere Bestimmungen sind in anderen Artikeln wie Artikel 122 AEUV (Versorgungssicherheit), Artikel 170 bis 172 AEUV (Energienetze), Artikel 114 AEUV (Energiebinnenmarkt) und Artikel 216 bis 218 AEUV (externe Energiepolitik) enthalten. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom-Vertrag) bildet die Rechtsgrundlage für die meisten EU-Maßnahmen im Kernenergiebereich.

2.2.

Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird den Mitgliedstaaten zudem das Recht eingeräumt, die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen zu bestimmen, frei zwischen verschiedenen Energiequellen zu wählen und die allgemeine Struktur ihrer Energieversorgung festzulegen (1).

2.3.

Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels der EU, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, ist eine Energiewende hin zu emissionsfreien und emissionsarmen Energiequellen. Die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix muss mit einer Absicherung durch derzeit stabile und verfügbare Energiequellen wie fossile Energieträger und Kernenergie einhergehen. Zudem muss in mit nichtfossilem Gas betriebene Kraftwerke investiert werden, um die Produktionsschwankungen bei den erneuerbaren Energien ausgleichen zu können. Darüber hinaus sind dringend Speicherkapazitäten erforderlich, um Stromausfälle zu vermeiden und den steigenden Energieverbrauch aufgrund der Elektrifizierung zu decken. Unter den aktuellen stabilen Energiequellen ist die Kernenergie die einzige emissionsarme Quelle, die eine Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas ermöglichen könnte.

2.4.

Die Kernenergie, die in 32 Ländern über Kapazitäten im Umfang von 413 Gigawatt verfügt, trägt zur Senkung der CO2-Emissionen und zur Verringerung der Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe bei, indem durch ihren Einsatz 1,5 Gigatonnen an globalen Emissionen und 180 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr eingespart werden (2). Kernenergie steht als Quelle für emissionsarmen Strom auf Nachfrage zur Verfügung und ergänzt die vorrangig genutzten, nicht gleichmäßig verfügbaren erneuerbaren Energieträger wie Wind- und Solarenergie bei der Umstellung auf eine emissionsfreie Stromerzeugung. Nach Angaben der Internationalen Energie-Agentur würde ein Zurückfahren der Stromerzeugung aus Kernenergie die Umsetzung der Ziele in Sachen Klimaneutralität erschweren und verteuern, und es wird von einer Verdoppelung der Kernkraftkapazitäten weltweit bis 2050 ausgegangen.

2.5.

In der Delegierten Verordnung (EU) 2022/1214 der Europäischen Kommission (3) wird das Potenzial der Kernenergie, einen Beitrag zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union zu leisten, anerkannt und die Kernenergie als CO2-arme Tätigkeit betrachtet. Im Abschlussbericht der Sachverständigengruppe für nachhaltiges Finanzwesen vom März 2020 (4) wurde darauf hingewiesen, dass die Kernenergie in der Phase der Stromerzeugung nahezu keine Treibhausgasemissionen verursacht und dass zahlreiche und eindeutige Nachweise für einen potenziell wesentlichen Beitrag der Kernenergie zu Klimaschutzzielen vorliegen. Die Taxonomie sieht zusätzliche und strengere Anforderungen an die Abfallentsorgung, die Finanzierung und die Stilllegung vor.

2.6.

Stabile und erschwingliche Energiepreise sind von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung der Kaufkraft der europäischen Haushalte sowie der Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Nach einem Jahrzehnt relativ stabiler Preise für Energieimporte (mit Ausnahme des Rückgangs um 31 % im Jahr 2020) und dem verhältnismäßig geringen jährlichen Anstieg der inländischen Erzeugerpreise für Energie um 0,9 % zwischen 2010 und 2019 (2020 sanken die Erzeugerpreise für Energie um fast 10 %) ist in Europa seit Herbst 2021 ein starker Anstieg der Energiepreise zu verzeichnen (5).

2.7.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte sieht sich die Europäische Union mehreren ernsthaften Risiken im Zusammenhang mit der Energieversorgung, der Energieversorgungssicherheit und drastisch gestiegenen Energiepreisen gegenüber. Einer der Gründe dafür ist, dass einige Mitgliedstaaten nicht umsichtig genug waren oder externem Druck nachgegeben haben und somit all ihre Reservekapazitäten zu schnell abgebaut haben, wobei sicherlich ausländische Einflussnahme eine Rolle gespielt hat.

2.8.

Eine sprunghafte und volatile Entwicklung der Energiepreise gab es schon vor dem Krieg, seit dem Herbst 2021, ausgelöst durch verschiedene Unterbrechungen der Lieferketten sowie den weltweiten Anstieg der Nachfrage nach Erdgas. Der Grund für die ungewöhnlich hohen Energiepreise seit letztem Herbst ist der enorme weltweite Anstieg der Gasnachfrage aufgrund einer Reihe von Schlüsselfaktoren: die konjunkturelle Erholung, die Drosselung der Lieferungen in die EU, mangelnde Investitionen sowie schlechte Witterungsbedingungen, die zu einer geringeren Erzeugung aus erneuerbaren Energiequellen geführt haben. In einigen Fällen hat Spekulation zur Entleerung der Gasspeicher geführt (6). Die derzeitigen Schwankungen der Energiepreise sind hauptsächlich durch die Auswirkungen der russischen Aggression gegen die Ukraine, die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer möglichen Eskalation in anderen Ländern und die Bemühungen um eine möglichst rasche Verringerung der Abhängigkeit der EU von Energieeinfuhren aus Russland bedingt.

2.9.

Die durch den Krieg verursachten zusätzlichen Sicherheitskosten werden vermutlich erheblich zum Anstieg der Energiepreise beitragen. Die nächste Stufe der Diversifizierung des Energieeinsatzes der EU, verbunden mit massiven Investitionen in neue Infrastrukturen (z. B. LNG-Terminals, Wasserstofffernleitungen) und Anpassungen des bestehenden Energieversorgungsnetzes, könnte mit einem weiteren Preisanstieg einhergehen. Die Lage wird zudem durch einen erheblichen Rückgang bei der Stromerzeugung aus Kernenergie verschärft, die 2022 voraussichtlich um 12 % (über 100 Terawattstunden) sinken wird. Laut dem Strommarktbericht der IEA vom Juli 2022 ist dieser Rückgang auf die zeitweilige geringere Verfügbarkeit von Anlagen in Frankreich, die Abschaltung von Kernkraftwerken mit einer Kapazität von 4 Gigawatt in Deutschland und die Auswirkungen der russischen Invasion auf die Kernkraftwerke der Ukraine zurückzuführen.

2.10.

Zumindest bis die grundlegende Energiewende in der EU weiter vorangeschritten ist, hat die Nutzung bereits vorhandener Energiequellen, die im gesamten Unionsgebiet verfügbar sind und sofort ungehindert und im Rahmen der bereits vorhandenen Infrastrukturen eingesetzt werden können, unter den gegenwärtigen Umständen höchste Priorität. Zugleich gehen die Lieferungen von Energierohstoffen aus Russland bereits zurück, womit auch die Gefahr verbunden ist, dass die Lieferung von Brennstäben für Kernkraftwerke eingeschränkt wird, und die Sicherstellung einer stabilen Energieversorgung für alle Europäer bedeutet eine Herausforderung in Bezug auf die Einhaltung der Klimaziele.

2.11.

Kernkraft ermöglicht bis zu einem gewissen Grad eine Anpassung der Stromerzeugung, je nachdem, wie viel Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Kernkraftwerke sind weniger flexibel als Gaskraftwerke, bringen jedoch eine gewisse Stabilität in das System, da sie erheblich zur Energiegrundlast beitragen. Die derzeitige Rechtslage in einigen EU-Mitgliedstaaten ermöglicht zudem flexible Regelungen für den Betrieb von Kernkraftwerken.

2.12.

Aus den bereits vorhandenen nuklearen Quellen kann der höhere Strombedarf unmittelbar und mit geringen Betriebskosten gedeckt werden. Bei nuklearen Quellen sind die Stromgestehungskosten insgesamt recht hoch (bei Gas allerdings noch höher (7)), insbesondere aufgrund der enormen, mit den hohen Sicherheitsmaßnahmen einhergehenden Investitionskosten. Gleichzeitig gibt es angesichts des Krieges in der Ukraine keine Gewissheit, dass wir weiterhin mit russischem Gas oder russischen Brennstäben versorgt werden, bis alternative Lieferquellen gefunden werden.

2.13.

Kernkraft ist die einsatzfähige CO2-arme Technologie mit den niedrigsten erwarteten Kosten für 2025. Nur große Wasserspeicher können einen ähnlichen Beitrag zu vergleichbaren Kosten leisten, doch ist dieser Faktor nach wie vor stark von den natürlichen Gegebenheiten der einzelnen Länder abhängig. Im Vergleich zur Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen dürften Kernkraftwerke erschwinglicher sein als Kohlekraftwerke. Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerke (CCGT) sind zwar in einigen Regionen wettbewerbsfähig, ihre Stromgestehungskosten hängen jedoch stark von den Preisen für Erdgas und CO2-Emissionen in den jeweiligen Regionen ab. Strom, der im Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken durch eine Verlängerung der Laufzeit erzeugt wird, ist sehr wettbewerbsfähig und bleibt nicht nur die kostengünstigste Option für eine CO2-arme Stromerzeugung (im Vergleich zum Bau neuer Kraftwerke), sondern für die Stromerzeugung insgesamt (8).

2.14.

Ähnlich wie bei erneuerbaren Quellen sind die Betriebskosten der Kernenergie gering. Die variablen Kosten sind praktisch unabhängig vom globalen Energierohstoffmarkt. Kernkraftwerke bieten ihren Strom deshalb zu stabilen Preisen auf dem Strommarkt an. Der Brennstoffpreis und generell die Bepreisung von CO2-Emissionen wirken sich am stärksten auf die Stromerzeugungskosten aus. Diese variablen Kosten oder Grenzkosten sind je nach Technologie sehr unterschiedlich. Die Grenzkosten von Kernkraftwerken hängen vom Preis für Kernbrennstoff ab, der deutlich unter dem Preis von Gas oder Kohle liegt. Da in Kernkraftwerken erhebliche Energiemengen erzeugt werden, kann der Brennstoffpreis auf ein großes Produktionsvolumen, d. h. viele Megawattstunden, umgelegt werden. Da Kernkraftwerke kein CO2 ausstoßen, enthalten ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine Kosten für CO2-Zertifikate.

2.15.

Der EU-Großhandelsmarkt für Strom ist so geregelt, dass die Preise nach dem Merit-Order-Prinzip gebildet werden, nach dem das letzte Kraftwerk den Preis bestimmt. Im Rahmen des gängigen Marktverhaltens wird der Preis auf einem Spotmarkt in den meisten Fällen von Gas oder Kohle bestimmt. Dies bedeutet, dass die Kernenergie die Energiepreise auf dem Spotmarkt nicht beeinflusst, es sei denn, der Energiemix umfasst einen hohen Anteil emissionsarmer Energiequellen, was das künftige europäische Modell sein soll. Das Standardmarktmodell ist durch den angebotsseitigen Schock nun hinfällig, insbesondere im Gassektor, der von den anderen verfügbaren Quellen flankiert werden muss, damit ein Marktgleichgewicht und Preisstabilität hergestellt werden, sowie von ordnungspolitischen Eingriffen wie der Senkung der Nachfrage in der gesamten Union (9).

2.16.

Auf dem Spotmarkt vollzieht sich nur ein Teil der Verkäufe. Die Energieunternehmen verkaufen physische Stromlieferungen häufig auf der Grundlage bilateraler Verträge. In diesem Fall tragen unterschiedliche Finanzierungsmodelle und bilaterale Verträge in den EU-Mitgliedstaaten, die in ihrem Energiemix auch Kernenergie vorsehen, zur Stabilisierung der Energiepreise für die Kunden, aber nicht zwangsläufig zu ihrer Senkung bei. Zudem ist zwischen den verschiedenen Ebenen des Strommarkts (Groß- und Einzelhandel) zu unterscheiden. Die Einzelhandelsmärkte in der EU hängen von vielen Faktoren wie dem Grad des Wettbewerbs ab, aber auch von Faktoren, die den Endpreis bestimmen. Die von Haushaltskunden in der EU gezahlten Strompreise enthalten Steuern und Abgaben. Nach Angaben von Eurostat liegt der durchschnittliche Anteil der von Haushaltskunden für Strom gezahlten Abgaben und Steuern in der EU bei 36 %.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist sich der ernsten Lage bewusst und erkennt diese an. Unter den derzeitigen Umständen sind zuverlässige Energielieferungen zu einem akzeptablen Preis im Rahmen des Krisen- und Notfallmanagements überlebenswichtig. Daher sollten alle verfügbaren und potenziell verlässlichen Quellen genutzt werden — nicht nur, um die Nachfrage zu decken, sondern auch, um in diesen sehr unsicheren Zeiten zur Preisstabilität beizutragen.

3.2.

Der EWSA unterstützt voll und ganz den europäischen Grünen Deal und die Umstellung auf eine klimaneutrale europäische Wirtschaft bis 2050. Gleichzeitig muss die Klimawende mit den fünf Säulen der Energieunion in Einklang stehen, insbesondere mit den Säulen Versorgungssicherheit und Erschwinglichkeit der Energiepreise. Künftige Maßnahmen sollten darauf abzielen, die hohe Importabhängigkeit zu verringern, wie der EWSA in mehreren Stellungnahmen hervorgehoben hat.

3.3.

Mit Blick auf die wichtigsten Ziele der Mitteilung der Europäischen Kommission REPowerEU gibt es bei den Bemühungen um stabile Energiepreise in der EU zwei Phasen: die erste Phase bis zum sichtbaren Erfolg der ersten Schritte zur Verringerung der Abhängigkeit der EU von Russland und die zweite Phase ab dem Zeitpunkt der vollständigen Energieunabhängigkeit der EU von Russland. Der EWSA räumt ein, dass Kernenergie aus vorhandenen EU-Quellen in der ersten Phase, in der es auf Stabilität und Sicherheit ankommt, von Bedeutung sein wird (wie auch im REPowerEU-Plan (10) hervorgehoben wird), zumal es nicht einfach werden wird, das Energiesystem der EU für den nächsten Winter zu rüsten (Schaffung ausreichender Gaslagerbestände und -reserven, allmähliche Diversifizierung der Energielieferungen, verstärkte Nutzung von Wasserstoff und Methan, massive zusätzliche Investitionen in Vorhaben im Bereich erneuerbare Energien und Energieeffizienz), wie aus den Empfehlungen der Internationalen Energie-Agentur (IEA) von März 2022 (11) hervorgeht. In der zweiten Phase könnte eine erneute Konzentration auf die Schwerpunktbereiche des Grünen Deals möglich sein, wenn alle mit der Versorgungssicherheit verbundenen Risiken beseitigt sind.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Lieferung von Brennstäben an Kernkraftwerke in EU-Ländern mit WWER-Reaktoren (Bulgarien, Tschechische Republik, Ungarn, Finnland und Slowakei) aufgrund des Krieges in der Ukraine gefährdet sein könnte. Gleichzeitig begrüßt er, dass alternative Lieferungen möglich sind (12), und legt den betreffenden Mitgliedstaaten nahe, möglichst bald mit der Suche nach alternativen Lieferanten zu beginnen. Kernkraftwerke benötigen keine großen Lagerkapazitäten und können problemlos Brennstoff für drei bis fünf Jahre lagern, sodass es möglich ist, zu einem anderen Lieferanten zu wechseln oder Brennstoff zu einem günstigen Preis zu kaufen.

3.5.

Der EWSA betont, dass die Stabilität des EU-Energiemarktes zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolute Priorität hat, da dadurch die Schwankungen der Energiepreise eingedämmt werden können. Die Kernenergie als äußerst stabile Grundlastenergiequelle (Absicherung der nicht kontinuierlich verfügbaren erneuerbaren Energieträger) kann in Zeiten außergewöhnlicher Risiken wesentlich zur Stabilität beitragen.

3.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Kernenergie nicht vom Risiko schwankender EU-EHS-Preise betroffen ist, die Anfang Februar 2022 auf ein Rekordhoch von 100 Euro pro Tonne CO2 gestiegen sind. Da Kernkraftwerke kein CO2 ausstoßen, enthalten ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine CO2-Kosten. Die Schwankungen im EU-EHS wirken sich dagegen erheblich auf den Gaspreis auf dem EU-Markt aus.

3.7.

Insgesamt ist Kernenergie mit hohen Investitionskosten, aber relativ niedrigen Betriebskosten verbunden. Wir fangen jedoch nicht bei null an, und bestehende (erweiterte) nukleare Kapazitäten können zur Stabilisierung des Marktes genutzt werden. Den Mitgliedstaaten sollte mit entsprechenden Maßnahmen die Möglichkeit gegeben werden, die Laufzeit bestehender Kraftwerke zu verlängern, da ein langfristiger Betrieb von Kernkraftwerken die bei weitem kostengünstigste Lösung bis 2030 und danach ist, die einen reibungslosen Übergang zur Klimaneutralität ermöglicht. Maßnahmen, die sich negativ auf bestehende CO2-arme Kapazitäten auswirken oder Investoren davon abhalten könnten, in die erforderlichen Technologien zu investieren, müssen vermieden werden.

3.8.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Rolle der Kernenergie bei der künftigen Gestaltung der Strommarktvorschriften berücksichtigt werden. Kernkraftwerke können Strom zu einem festen Endkundenpreis bereitstellen, zumal verschiedene europäische Länder diverse Vertragsmodelle nutzen, mit denen Stabilität für die Verbraucher gewährleistet wird. Ein fixer Kaufpreis gewährleistet eine Kapitalrendite und geringere Kapitalkosten und trägt teilweise zu einem festen Strompreis für die Endkunden bei.

3.9.

In der EU wurden 2020 rund 25 % des Stroms aus Kernenergie erzeugt. Mehr Solidarität und bessere Verbindungsleitungen auf dem Energiemarkt werden dazu beitragen, langfristig wirksam auf Schwankungen bei erneuerbaren Energien und kurzfristig auch auf Unterbrechungen der Gasversorgung zu reagieren. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten ferner auf, an Speicherkapazitäten zu arbeiten und für Kraftwerke bestimmtes Gas durch Energie aus CO2-armen Quellen zu ersetzen. Bestimmungen zur Neugestaltung des Strommarkts sollten Anreize für Investitionen in CO2-arme Technologien schaffen, die erforderlich sind, um die Energiewirtschaft auf sichere und erschwingliche Weise zu dekarbonisieren.

3.10.

Der EWSA betont, dass ein weiterer Faktor für die Preisstabilität bei der Kernenergie die stabile Versorgung ist. Im Gegensatz zu Gaskraftwerken benötigen Kernkraftwerke keine großen Lagerkapazitäten und können problemlos Brennstoff für einen Zeitraum von drei Jahren lagern (13). Längere Nachfüllintervalle und längere Lagerkapazitäten ermöglichen den Erwerb von Brennstoffen zu günstigeren Bedingungen und erleichtern einen Lieferantenwechsel. Deshalb legt er den fünf Mitgliedstaaten mit WWER-Technologien nahe, nach alternativen Anbietern zu suchen.

3.11.

Eine künftige geringere Energieabhängigkeit der EU von Russland wird eine gute Grundlage dafür sein, nicht nur theoretisch über das Innovationspotenzial im Bereich Kernenergie nachzudenken, sondern auch ganz konkret in der Praxis darauf zurückzugreifen, namentlich durch die Nutzung nuklearer Quellen zur Erzeugung von Wasserstoff und zur Verwertung von Abfällen im Rahmen einer Kreislaufwirtschaftskette. Die Nutzung von Strom aus Kernenergie zur Erzeugung von Wasserstoff und Wärme eröffnet laut der Internationalen Energie-Agentur neue Möglichkeiten. Überschüssige Kernenergie könnte im Jahr 2050 für die Erzeugung von schätzungsweise 20 Millionen Tonnen Wasserstoff genutzt werden, und KWK-Wärme aus Kernkraftwerken könnte Fernwärme und andere mit Wärme verbundene Nutzungen ersetzen (14), wenngleich die Baukosten derzeit noch zu hoch sind, als dass solche Anwendungen wettbewerbsfähig wären.

3.12.

Der EWSA empfiehlt dem tschechischen Ratsvorsitz, das Thema Preisstabilität in der Kernenergiebranche sowie die Bedeutung der Kernenergie für eine stabile Versorgung mit Blick auf das Ziel einer geringeren Abhängigkeit der EU von russischem Gas im Rahmen des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) zu erörtern. Der EWSA möchte eng in diese Debatte einbezogen werden.

3.13.

Der EWSA schlägt vor, die bilaterale Zusammenarbeit mit internationalen Partnern im Nuklearsektor, vor allem mit den USA, zu verstärken, um Innovationsergebnisse und Fortschritte bei neuen Technologien auszutauschen. Der EWSA empfiehlt dem tschechischen EU-Ratsvorsitz, eine Konferenz über kleine modulare Reaktoren (SMR) zu veranstalten, etwa in Form eines hochrangigen Forums EU-USA, und die vielversprechenden Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet zu prüfen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist sich der Gefahren im Zusammenhang mit der Nutzung der Kernenergie bewusst und hält weitere Forschung für erforderlich, um die Kernkraft noch sicherer zu machen. Die Risiken zu leugnen, wäre töricht. Kernkraft wird seit den 1950er-Jahren zur Energieerzeugung genutzt, und seitdem wurde das Sicherheitsniveau, d. h. die Widerstandsfähigkeit gegen externe Extremereignisse (natürliche sowie menschengemachte) wie Flugzeugabstürze oder Detonationen, ständig verbessert. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Forschung und Innovation in diesem Bereich nicht einzustellen und die strengen Vorschriften in den Bereichen Sicherheit und Abfallentsorgung einzuhalten.

4.2.

Die derzeitige Lage auf dem Energiemarkt wirkt sich auch auf die Uranpreise aus, die durch eine bessere Diversifizierung der Lieferanten oder längerfristig durch den Bau von Kraftwerken mit längeren Nachfüllintervallen stabilisiert werden können. Bei Kraftwerken, die auf kleinen modularen Reaktoren basieren, müssen die Brennelemente unter Umständen weniger häufig ausgetauscht werden (alle drei bis sieben Jahre gegenüber ein bis zwei Jahren bei konventionellen Kraftwerken). Bestimmte kleine modulare Reaktoren sind sogar darauf ausgelegt, bis zu 30 Jahre ohne Brennelementwechsel auszukommen. Darüber hinaus kann mit dem Bau von Kernkraftwerken der Generation III den Bedürfnissen von Ländern mit hohem Energiebedarf und entwickelten Netzen Rechnung getragen werden (wie laufende oder geplante Programme in verschiedenen Ländern zeigen).

4.3.

Kleine modulare Reaktoren sind in der Regel einfacher konzipiert, und ihr Sicherheitskonzept basiert häufig mehr auf passiven Systemen und den inhärenten Sicherheitsmerkmalen des Reaktors wie geringe Leistung und niedriger Betriebsdruck. Durch kleine modulare Reaktoren können Kosten und Bauzeit eingespart werden. Außerdem können sie schrittweise eingesetzt werden, um den steigenden Energiebedarf zu decken.

4.4.

Die für Kernkraftwerke benötigten Brennstoffmengen sind im Vergleich zum Bedarf von Kraftwerken, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, eher gering. Aus einem kleinen, fünf Gramm schweren Urandioxidpellet kann dieselbe Energiemenge erzeugt werden wie aus einer Tonne Kohle oder etwa 480 Kubikmetern Erdgas. Kernkraftwerke benötigen keine großen Lagerkapazitäten und können problemlos Brennstoff für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren lagern. Die Lagerkapazität kann als Stabilitätsfaktor des Kraftwerks angesehen werden, da dadurch die Abhängigkeit von einem bestimmten Lieferanten verringert wird und die Möglichkeit besteht, Brennstoffe bei günstiger Preislage einzukaufen.

4.5.

Die in diesem Bereich getätigten Investitionen implizieren auch, dass Modernisierungen dem grünen Wandel zugutekommen können. Nukleartechnologien und -methoden werden eingesetzt, um in zwei wesentlichen Bereichen zur Umstellung auf ein zunehmend wasserstoffbasiertes Energiesystem beizutragen: i) Wasserstofferzeugung durch nuklearunterstützte thermische/chemische Wasserspaltung und ii) Beitrag kerntechnischer Methoden und Techniken zu einem besseren Verständnis der Stoffe im Hinblick auf deren anschließende Anpassung, um den Anforderungen an die Wasserstoffspeicherung und -umwandlung besser gerecht zu werden (15).

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Artikel 194 Absatz 2 AEUV.

(2)  https://iea.blob.core.windows.net/assets/0498c8b8-e17f-4346-9bde-dad2ad4458c4/NuclearPowerandSecureEnergyTransitions.pdf.

(3)  Delegierte Verordnung (EU) 2022/1214 der Kommission vom 9. März 2022 zur Änderung der Delegierten Verordnung (EU) 2021/2139 in Bezug auf Wirtschaftstätigkeiten in bestimmten Energiesektoren und der Delegierten Verordnung (EU) 2021/2178 in Bezug auf besondere Offenlegungspflichten für diese Wirtschaftstätigkeiten (ABl. L 188 vom 15.7.2022, S. 1).

(4)  Der Bericht der Sachverständigengruppe ist (nur auf Englisch) abrufbar unter: TEG final report on the EU taxonomy | European Commission (europa.eu).

(5)  Eurostat-Daten von Februar 2022, abrufbar unter https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products-eurostat-news/-/edn-20220210-2.

(6)  Weitere Einzelheiten hierzu sind der Stellungnahme TEN/761 zu entnehmen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).

(7)  Internationale Energie-Agentur (IEA)/Kernenergie-Agentur (NEA), 2020.

(8)  https://iea.blob.core.windows.net/assets/ae17da3d-e8a5-4163-a3ec-2e6fb0b5677d/Projected-Costs-of-Generating-Electricity-2020.pdf.

(9)  Verordnung (EU) 2022/1369 des Rates vom 5. August 2022 über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage (ABl. L 206 vom 8.8.2022, S. 1).

(10)  REPowerEU-Plan, COM(2022) 230 final.

(11)  IEA 10-Point Plan to European Union for reducing reliance on Russian supplies by over a third while supporting European Green Deal, with emergency options to go further, März 2022.

(12)  Das Kernkraftwerk Temelín in der Tschechischen Republik hat alternative Lieferanten gefunden.

(13)  Laut dem Jahresbericht 2020 der Euratom-Versorgungsagentur reichen die Uranbestände aus, um die Kernreaktoren der Anlagen in der EU durchschnittlich 2,75 Jahre lang mit Brennstoff zu versorgen.

(14)  https://iea.blob.core.windows.net/assets/0498c8b8-e17f-4346-9bde-dad2ad4458c4/NuclearPowerandSecureEnergyTransitions.pdf.

(15)  IAEA-TECDOC-1676.


ANHANG I

Die folgende abgelehnte Gegenstellungnahme erhielt mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 71 Abs. 7 GO):

ÄNDERUNGSANTRAG 7

TEN/776

Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU

Die gesamte von der Fachgruppe TEN vorgelegte Stellungnahme durch folgenden Text ersetzen (Erläuterung/Begründung am Ende des Dokuments):

von:

DIRX, Jan

HERNÁNDEZ BATALLER, Bernardo

IZVERNICEANU, Ileana

KATTNIG, Thomas

KUPŠYS, Kęstutis

LOHAN, Cillian

MOSTACCIO, Alessandro

NABAIS, João

NIKOLOPOULOU, Maria

RIBBE, Lutz

SCHMIDT, Peter

SCHWARTZ, Arnaud


Änderung

1.   Schlussfolgerung und Empfehlung

1.1.

Die Antwort auf die Frage des tschechischen Ratsvorsitzes lautet, kurz gesagt, dass die Kernenergie bei der derzeitigen Gestaltung des Strommarkts keinen Einfluss auf die Preisstabilität haben kann. Der Grund dafür ist, dass gegenwärtig das Merit-Order-Prinzip gilt (siehe Ziffer 2.8). Nur wenn die Gestaltung des Markts zusätzlich zur privaten Finanzierung mit erheblichen staatlichen Beihilfen angepasst wird, ist eine Stabilisierung der Preise mithilfe der Kernenergie möglich.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt dem tschechischen Ratsvorsitz, einen strukturierten Dialog auf EU-Ebene einzuleiten, um eine neue Gestaltung des Strommarkts zu vereinbaren, die Preisstabilität gewährleistet.

2.   Einleitende Bemerkungen

2.1.

Vor der Übernahme des EU-Ratsvorsitz (zweite Jahreshälfte 2022) hatte Tschechien den EWSA um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zur Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU ersucht.

2.2.

Der EWSA kommt diesem Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes gerne nach, da es die Gelegenheit bietet, diese Bedeutung sachlich und unmissverständlich zu beschreiben.

2.3.

Preisstabilität ist eine der Voraussetzungen, um den Stromkunden, also sowohl Unternehmen als auch Verbrauchern, kurz- und mittelfristige Kostensicherheit bieten zu können. Stabile Energiepreise spielen deshalb eine entscheidende Rolle für die Leistungsfähigkeit der europäischen Unternehmen sowie für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen.

2.4.

Preisstabilität ist auch für alle Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, erforderlich, damit diese zeitnah realistische Angebote und Prognosen erstellen können.

2.5.

Um dem tschechischen Ratsvorsitz so sachlich und eindeutig wie möglich antworten zu können, werden wir in dieser Sondierungsstellungnahme nicht auf andere Aspekte eingehen, die ebenfalls von Interesse, aber für die Frage, die dieser Sondierungsstellungnahme zugrunde liegt, nicht von Bedeutung sind. Dies bedeutet erstens, dass wir nicht das Recht der Mitgliedstaaten infrage stellen, eigene Entscheidungen über die Art und Weise ihrer Stromerzeugung zu treffen. Und zweitens werden wir NICHT zu den tatsächlichen und möglichen Vor- und Nachteilen der Kernenergie Stellung nehmen.

2.6.

Auch die Frage der Versorgungssicherheit fällt nicht in die Thematik dieser Sondierungsstellungnahme, sondern verdient eine eigene Stellungnahme. Unbestreitbar ist jedoch, dass es unter den derzeitigen Bedingungen eines Krieges in Europa, in dem Gas und Öl als geopolitische Waffen eingesetzt werden, wichtig ist, die vorhandenen Kraftwerke so weit wie möglich in Betrieb zu halten und bei der vorübergehenden Nutzung fossiler und emissionsarmer Brennstoffe Flexibilität an den Tag zu legen. Wie bereits erwähnt, erkennt der EWSA das Recht aller Mitgliedstaaten an, eigene Entscheidungen in Bezug auf die Art und Weise ihrer Stromerzeugung zu treffen. Der EWSA bekräftigt seine nachdrückliche Unterstützung dessen, was die Kommission in ihrem REPowerEU-Plan festhält, dass nämlich die Herausforderung darin liegt, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland rasch zu verringern, indem wir den Übergang zu sauberen Energien beschleunigen und die Kräfte bündeln, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen.

2.7.

Zwar ist es verlockend, auch die Höhe der Energiepreise zu erörtern, doch werden wir dies nicht tun, da die Stabilität der Preise nicht von ihrer Höhe abhängt. Stabilität bzw. Instabilität kann es auf jedem Preisniveau geben.

2.8.

Hier die Erläuterung einiger Fachbegriffe:

Marktgestaltung: die Art und Weise, wie der Strompreis auf dem Markt gebildet wird.

Grenzkosten: die Kosten, die durch die Produktion einer zusätzlichen Mengeneinheit eines Produktes entstehen.

Spotmarkt: der Markt, auf dem Rohstoffe wie Strom gehandelt werden und der durch unverzügliche Zahlung und Lieferung gekennzeichnet ist.

Merit-Order-Prinzip: Einsatzreihenfolge von Kraftwerken auf der Grundlage ihrer Grenzkosten, beginnend mit den niedrigsten und endend mit den höchsten Grenzkosten. Das heißt, es werden so lange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten dazugeschaltet, bis die Nachfrage gedeckt ist. Die Reihenfolge lautet: Erneuerbare, Kernenergie, Kohle, Öl und Gas. So, wie der Strommarkt gegenwärtig gestaltet ist, wird der Preis von den Grenzkosten des gemäß dem Merit-Order-Prinzip zuletzt zugeschalteten Kraftwerks (zumeist Gaskraftwerk) bestimmt.

3.   Beantwortung der Frage

3.1.

Natürlich ist jedes Kraftwerk wichtig für den Strommarkt. So hat sich der kürzliche Ausfall vieler französischer Kernkraftwerke und die daraus resultierende Notwendigkeit, mehr Strom einzuführen, ganz eindeutig auf die Preisentwicklung niedergeschlagen. In dieser Sondierungsstellungnahme gehen wir jedoch nicht auf diese mehr oder weniger temporären Fälle ein, sondern auf strukturelle Aspekte der Funktionsweise des Strommarkts.

3.2.

Wir konzentrieren uns auf den Spotmarkt, da in erster Linie er den Preis bestimmt, den die Verbraucher zahlen müssen. Und wie bereits erwähnt, funktioniert der Spotmarkt nach dem Merit-Order-Prinzip.

3.3.

Die Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU hängt von zwei Variablen ab, nämlich davon, ob es sich um bereits vorhandene oder neue Kernkraftwerke sowie ob es sich um die derzeitige Gestaltung oder um eine neue Gestaltung des Strommarkts handelt. Durch Kombination dieser Variablen ergeben sich vier unterschiedliche Fälle.

3.4.

Um eine möglichst klare Antwort zu geben, ist es deshalb erforderlich, vier verschiedene Szenarien für diese vier unterschiedlichen Fälle zu unterscheiden:

A

: Vorhandene Kernkraftwerke bei derzeitiger Gestaltung des Strommarkts,

B

: Vorhandene Kernkraftwerke bei neuer Gestaltung des Strommarkts,

C

: Neue Kernkraftwerke bei derzeitiger Gestaltung des Strommarkts,

D

N: eue Kernkraftwerke bei neuer Gestaltung des Strommarkts.

3.5.   A: Vorhandene Kernkraftwerke bei derzeitiger Gestaltung des Strommarkts

3.5.1.

In fast allen Mitgliedstaaten hat Strom, der in Kernkraftwerken erzeugt wird, keine Bedeutung für die Preisstabilität im Stromsektor und kann dies auch nicht haben. Grund hierfür ist die aktuelle Gestaltung des Strommarkts nach dem Merit-Order-Prinzip, nach dem die Anlage mit den höchsten Grenzkosten (fast immer Gas, sogar in Frankreich) den Preis bestimmt. Eine Ausnahme gibt es in der EU, nämlich Schweden aufgrund seines speziellen Strommixes (fast 60 % Erneuerbare, vor allem Wasserkraft, und etwa 30 % Kernenergie) (1).

3.6.   B: Vorhandene Kernkraftwerke bei neuer Gestaltung des Strommarkts

3.6.1.

Es ist grundsätzlich vorstellbar, dass Kernkraftwerke in diesem Fall eine preisstabilisierende Wirkung haben, z. B. bei einer Gestaltung des Strommarkts, bei der der Preis auf den Durchschnittskosten beruht und/oder die Kernenergie beim Merit-Order-Prinzip nicht berücksichtigt wird. Es ist jedoch fraglich, wie ein solcher Markt aussehen und funktionieren sollte. Im Vereinigten Königreich etwa wird derzeit ein neues Modell umgesetzt, bei dem der Markt in zwei Segmente geteilt wird: Strom, der auf Nachfrage erzeugt wird, und Strom, der unabhängig von der Nachfrage erzeugt wird. Im ersten Segment (hauptsächlich Gas mit Restkohle und einer geringen Menge an Biomasse) soll das Grenzkostenmodell angewandt werden, und das zweite Segment soll vollständig auf Kostenbasis funktionieren (eine Art regulierte Kapitalrendite in Form eines Differenzvertrags). Diesen Weg hat das Vereinigte Königreich bereits mit seinem Kernkraftwerk Hinkley Point C eingeschlagen (2). Das bedeutet, dass der Staat die betreffenden Kernkraftwerke subventionieren muss, wenn der Strompreis auf dem Markt niedriger ist als der auf der Grundlage der regulierten Kapitalrendite vereinbarte Betrag.

Der neu gestaltete Markt würde also zwei Elemente umfassen: ein Marktsegment, in dem die bisherige Regelung gilt (= Merit-Order-Prinzip auf der Grundlage der Grenzkosten), und ein zweites Segment, in dem es de facto nur Differenzverträge gibt. Infolgedessen hat der im Rahmen der Differenzverträge erzeugte Strom einen stabilen Preis, was sich in mehr Preisstabilität für die Verbraucher niederschlägt. Der Preis, den die Verbraucher zahlen müssen, wird jedoch nach wie vor schwanken, da ein Teil des Strompreises weiterhin nach dem Merit-Order-Prinzip gebildet wird.

3.7.   C: Neue Kernkraftwerke bei derzeitiger Gestaltung des Strommarkts

3.7.1.

Kernkraftwerke können zur Stabilisierung der Preise beitragen, wenn eine ausreichende Zahl solcher Kraftwerke gebaut wird, sodass diese in der Regel die letzten Kraftwerke in der Merit-Order-Rangfolge sind. Wir müssten also fossile Kraftwerke durch Kernkraftwerke ersetzen, das heißt Hunderte neue Kernkraftwerke in Europa bauen! Und ja, dann würde die Kernkraft den Preis bestimmen, und zwar in einer Höhe (siehe Hinkley Point C), die etwa dem Doppelten des Preises von Strom aus erneuerbaren Quellen entspricht. Aufgrund des Grenzkostenprinzips wäre die unvermeidliche Folge, dass die neuen Kernkraftwerke nicht in der Lage sind, sich auf dem Markt zu finanzieren, und deshalb Subventionen benötigen würden.

3.8.   D: Neue Kernkraftwerke bei neuer Gestaltung des Strommarkts

3.8.1.

Die Kernkraftwerke sollten nicht dem Merit-Order-Prinzip, sondern einem Kosten-(aufschlags-)System unterliegen. Dies bedeutet, dass neben den Investitionen der öffentlichen Hand auch der Privatsektor hinzugezogen werden und eine faire Rendite erhalten muss. Das System umfasst also die Kosten plus einen Gewinnaufschlag. (siehe auch Ziffer 3.5.1)

4.   Zusammenfassung

4.1.

Die Antwort auf die Frage des tschechischen Ratsvorsitzes lautet, kurz gesagt, dass die Kernenergie bei der derzeitigen Gestaltung des Strommarkts keinen Einfluss auf die Preisstabilität haben kann. Nur wenn die Gestaltung des Markts zusätzlich zur privaten Finanzierung mit erheblichen staatlichen Beihilfen angepasst wird, ist eine Stabilisierung der Preise mithilfe der Kernenergie möglich.

4.2.

Der EWSA empfiehlt dem tschechischen Ratsvorsitz deshalb, einen strukturierten Dialog auf EU-Ebene einzuleiten, um eine neue Gestaltung des Strommarkts zu vereinbaren, die Preisstabilität gewährleistet.


Begründung

In ihrer Erklärung vom 8. September forderten Präsidentin Christa Schweng und die TEN-Vorsitzende Baiba Miltovica im Namen des EWSA gemeinsame Maßnahmen der EU zur Sicherstellung stabiler Strompreise und eine unverzügliche Reform des Energiemarkts. Genau darum geht es in diesem Änderungsantrag, mit dem wir eine eindeutige und ehrliche Antwort auf die Frage des tschechischen Ratsvorsitzes geben wollen.

Der Stellungnahmeentwurf TEN/776 befasst sich nämlich nicht mit dem Anliegen des tschechischen Ratsvorsitzes, also der Frage, welche Bedeutung die Kernenergie für die Stabilität des Strompreises hat, sondern zunächst vor allem mit der Versorgungssicherheit. Darüber hinaus wird für die Kernenergie geworben. Natürlich ist auch die Versorgungssicherheit sehr wichtig, aber darum ging es dem Vorsitz nicht.

Und leider sind zahlreiche Ungenauigkeiten und fragwürdige Aussagen in der Stellungnahme der Berichterstatterin. Wir haben stellvertretend 20 dieser Punkte in einem Memorandum aufgeführt, das wir vor der Sitzung der Fachgruppe TEN Anfang dieses Monats vorgelegt haben.

Wir möchten betonen, dass Preisstabilität eine der Voraussetzungen ist, um den Stromkunden, also sowohl Unternehmen als auch Verbrauchern, kurz- und mittelfristige Kostensicherheit zu bieten. Stabile Energiepreise spielen deshalb eine entscheidende Rolle für die Leistungsfähigkeit der europäischen Unternehmen sowie für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen.

Wir haben deshalb diesen Änderungsantrag ausgearbeitet und bitten das Präsidium des EWSA, ihn als Gegenstellungnahme zu erachten.

Mit diesem Änderungsantrag geben wir eine klare und eindeutige Antwort auf die Frage, um die es in der Stellungnahme gehen sollte, nämlich welche Bedeutung die Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU hat. Wir werden deshalb NICHT die Vor- und Nachteile der Kernenergie und auch nicht die Höhe der Preise erörtern, da es auf jedem Preisniveau Stabilität geben kann oder auch nicht.

Es ist wichtig zu verstehen, dass nur dann Einfluss auf die Strompreise genommen werden kann, wenn das derzeitige Preissystem auf dem Energiemarkt geändert wird. Diese Erkenntnis wird heute vielerorts in Europa formuliert, unter anderem auch von Ursula von der Leyen und vom Rat „Energie“ in seiner Sitzung vom 9. September 2022. Auch wir haben dies im Rahmen der Erarbeitung der Stellungnahme wiederholt festgestellt.

Wir haben in diesem Änderungsantrag deshalb vier Szenarien entworfen, mit deren Hilfe untersucht werden soll, bei welcher Marktgestaltung die Kernenergie zur Stabilisierung der Energiepreise betragen kann und wann dies nicht der Fall ist. Wir kommen zu dem Schluss, dass die Kernenergie in zwei der Szenarien keine stabilisierende Wirkung haben kann, in den beiden anderen jedoch unter bestimmten Bedingungen zur Stabilisierung beitragen kann.

Unsere Auffassung wurde von den drei Sachverständigen unterstützt, die vom Vorsitzenden der Studiengruppe und der Berichterstatterin zu einer Sitzung der Studiengruppe eingeladen wurden:

Prof. Keppler: „Kernenergie (und auch ein Anstieg um 10 oder 20 %) hat keine nennenswerten Auswirkungen auf den Strompreis!“

Herr Cometto (Internationale Atomenergie-Organisation, IAEA): „Kurzfristig kann die Kernenergie in begrenztem Maße zum Sinken der Energiepreise beitragen.“

Herr Goicea (FORATOM): „Die Kernenergie kann theoretisch für Stabilität bei den Endkundenpreisen für Strom sorgen, jedoch hängt dies nach wie vor von der Marktgestaltung ab.“


Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

98

Nein-Stimmen:

135

Enthaltungen:

27


(1)  https://sweden.se/climate/sustainability/energy-use-in-sweden

(2)  https://www.gov.uk/government/collections/hinkley-point-c


ANHANG II

 

MITGLIED

GRUPPE

ABSTIMMUNG

Stimmrechtsübertragung

1

ANDERSEN, Dorthe

II

A

SORGENFREY, Bente

2

ANDERSSON, Jan Torsten

III

N

 

3

ANDERSSON, Krister

I

Y

 

4

ANGELOVA, Milena

I

Y

 

5

ANTONIOU, Michalis

I

Y

 

6

ARDHE, Christian

I

Y

 

7

ATS, Kerli

III

Y

 

8

BABRAUSKIENE, Tatjana

II

A

 

9

BACK, Thord Stefan

I

Y

 

10

BALDZENS, Egils

II

Y

 

11

BARBUCCI, Giulia

II

A

 

12

BARCELÓ DELGADO, Andrés

I

Y

 

13

BARRERA CHAMORRO, Maria Del Carmen

II

N

 

14

BARTELS, Holger

II

N

 

15

BÄUMLER, Christian

II

N

 

16

BERNIS CASTELLS, Jaume

III

Y

 

17

BERTOLINI, Silvestre

II

Y

 

18

BIEGON, Dominika

II

N

 

19

BLANC, Patricia

III

Y

 

20

BLIJLEVENS, Réné

I

A

 

21

BOGUSZ, Malgorzata Anna

III

N

 

22

BOLAND, Séamus

III

N

 

23

BOLLON, Pierre

I

Y

 

24

BORSANI, Matteo Carlo

I

Y

 

25

BRISHOUAL, Rachel

III

A

 

26

BRONIARZ, Wincenty Slawomir

II

A

 

27

BRZOBOHATÁ, Zuzana

III

N

 

28

BYRNE, Peter

I

Y

 

29

CABRA DE LUNA, Miguel Ángel

III

Y

 

30

CALDERONE, Marina Elvira

III

N

 

31

CALISTRU, Elena-Alexandra

III

A

 

32

CAÑO AGUILAR, Isabel

II

N

 

33

CATSAMBIS, Constantine

I

Y

 

34

CHAMPAS, Panagiotis

III

Y

 

35

CHARRY, Philippe

II

Y

DESIANO, Carole

36

CHOIX, Bruno

I

Y

 

37

CLEVER, Peter

I

Y

HEMMERLING, Udo

38

COMER, John

III

Y

 

39

CORAZZA, Chiara

III

Y

 

40

COULON, Pierre Jean

II

Y

 

41

COUMONT, Raymond

II

Y

 

42

CSER, Ágnes

III

Y

 

43

DE FELIPE LEHTONEN, Helena

I

Y

 

44

DE LEEUW, Rudy

II

N

ULENS, Miranda

45

DE LOTTO, Pietro Francesco

I

Y

 

46

DE MELLO, Vasco

I

Y

 

47

DE MÛELENAERE, Robert

I

Y

 

48

DEGUARA, Jason

II

N

 

49

DEL RIO, Cinzia

II

N

 

50

DESTOM, Joël

III

Y

 

51

DIAMANTOUROS, Konstantinos

I

Y

 

52

DIMITRIADOU, Stavroula

II

N

 

53

DIRX, Jan

III

N

NEISINGH, Ody

54

DOZ ORRIT, Javier

II

Y

 

55

DROBINSKI-WEIß, Elvira

III

N

 

56

DUFEK, Bohumír

II

Y

 

57

DULEVSKI, Lalko

III

N

 

58

DUTTO, Diego

III

N

 

59

EDELÉNYI, András

I

Y

 

60

FELSZEGHI, Sára

II

Y

 

61

FORNEA, Dumitru

II

Y

 

62

GARAT PÉREZ, Francisco Javier

III

Y

 

63

GARCÍA DEL RIEGO, Antonio

I

Y

SABATINI, Giovanni

64

GARCÍA SALGADO, Manuel

II

Y

 

65

GARDIAS, Dorota

II

Y

 

66

GAVRILOVS, Vitalijs

I

Y

 

67

GEISEN, Norbert

III

Y

 

68

GKOFAS, Panagiotis

III

Y

 

69

GOBINŠ, Andris

III

N

 

70

GONDARD-ARGENTI, Marie-Françoise

I

Y

 

71

GRABO, Louise

III

Y

KILIM, Irma

72

HÄGGLUND, Sam

II

A

 

73

HÄGGMAN, Maria

II

A

 

74

HAJNOŠ, Miroslav

II

Y

 

75

HAUKANÕMM, Monika

III

N

 

76

HEALY, Joe

III

Y

 

77

HERNÁNDEZ BATALLER, Bernardo

III

N

 

78

HOFFMANN, Reiner Gerd

II

N

 

79

HOLST, Sif

III

A

 

80

IOANNIDIS, Athanasios

III

Y

 

81

IZVERNICEANU DE LA IGLESIA, Ileana

III

N

 

82

JAHIER, Luca

III

N

 

83

JOHANSSON, Benny

II

A

 

84

JONUŠKA, Alfredas

I

Y

 

85

JOÓ, Kinga

III

Y

 

86

JUODKAITE, Dovile

III

N

 

87

KÁLLAY, Piroska

II

A

 

88

KATTNIG, Thomas

II

N

BUZEK, Tanja

89

KIUKAS, Vertti

III

Y

 

90

KLIMEK, Jan

I

Y

 

91

KOKALOV, Ivan

II

Y

 

92

KOLBE, Rudolf

III

N

 

93

KOLYVAS, Ioannis

III

N

 

94

KOMORÓCZKI, István

I

Y

 

95

KONTKANEN, Mira-Maria

I

Y

 

96

KOUTSIOUMPELIS, Stavros

II

Y

 

97

KROPIL, Rudolf

III

Y

 

98

KROPP, Thomas

I

Y

GERSTEIN, Antje

99

KRUPAVICIENE, Kristina

II

Y

 

100

KÜKEDI, Zsolt

III

Y

 

101

KUNYSZ, Maciej Dawid

III

A

 

102

LADEFOGED, Anders

I

Y

 

103

LE BRETON, Marie-Pierre

I

Y

 

104

LEFÈVRE, Christophe

II

Y

 

105

LEITANE, Katrina

III

A

 

106

LOBO XAVIER, Gonçalo

I

A

 

107

LOHAN, Cillian

III

N

 

108

LUSTENHOUWER, Colin

I

N

 

109

MACHYNA, Emil

II

Y

 

110

MADSEN, Niels

I

Y

 

111

MALLIA, Stefano

I

Y

 

112

MANOLOV, Dimitar

II

Y

 

113

MARCHIORI, Alberto

I

Y

 

114

MARIN, Florian

II

N

 

115

MARTINOVIC DŽAMONJA, Dragica

I

Y

 

116

MASCIA, Sandro

I

Y

 

117

MASTANTUONO, Alena

I

Y

LEMCKE, Freya

118

MATSAS, Andreas

II

Y

 

119

MAVROMMATIS, Manthos

I

Y

 

120

MEDINA, Felipe

I

Y

 

121

MENSI, Maurizio

III

A

 

122

MERLO, Nicoletta

II

Y

 

123

MESKER, August Pierre

I

N

 

124

MEYNENT, Denis

II

N

 

125

MILTOVICA, Baiba

III

Y

 

126

MINCHEVA, Mariya

I

Y

PANGL, Andreas

127

MIRA, Luís

I

Y

 

128

MISSLBECK-WINBERG, Christiane

I

Y

 

129

MITOV, Veselin

II

Y

 

130

MONE, Andrea

II

A

 

131

MOOS, Christian

III

A

 

132

MORENO DÍAZ, José Antonio

II

A

 

133

MORKIS, Gintaras

I

Y

 

134

MOSTACCIO, Alessandro

III

N

 

135

MUREȘAN, Marinel Dănuț

I

Y

 

136

MURGUÍA ESTEVE, Aitor

II

N

 

137

NIKOLOPOULOU, Maria

II

N

 

138

NIKOLOV, Bogomil

III

N

 

139

NOWACKI, Marcin

I

Y

 

140

NYGREN, Ellen

II

A

 

141

OCHEDZAN, Justyna Kalina

III

A

 

142

O'CONNOR, Jack

II

A

 

143

ÖNGÖRUR, Berivan

II

A

 

144

OSTROWSKI, Krzysztof

I

A

 

145

PADURE, Decebal-Ștefăniță

I

Y

HAUNERT, Nora

146

PAIDAS, Ioannis

II

Y

 

147

PALMIERI, Stefano

II

A

 

148

PARTHIE, Sandra

I

A

 

149

PATER, Krzysztof

III

Y

 

150

PAVIĆ-ROGOŠIĆ, Lidija

III

A

 

151

PENTTINEN, Markus

II

Y

 

152

PETRAITIENE, Irena

II

Y

 

153

PIETKIEWICZ, Janusz

I

Y

 

154

PILAWSKI, Lech

I

Y

 

155

PLOSCEANU, Aurel Laurentiu

I

N

 

156

POCIVAVŠEK, Jakob Krištof

II

A

 

157

POPELKOVÁ, Hana

II

Y

VAN KELLE, Lottie

158

POTTIER, Jean-Michel

I

Y

 

159

POTYRALA, Dariusz Miroslaw

II

Y

 

160

PREDA, Bogdan

I

Y

VUORI, Timo

161

PROUZET, Emilie

I

Y

 

162

PUECH d’ALISSAC, Arnold

I

Y

 

163

PUXEU ROCAMORA, Josep

I

Y

 

164

QUAREZ, Christophe

II

Y

 

165

RAMMO, Alari

III

Y

 

166

RAVNIK, Branko

III

Y

 

167

REALE, Maurizio

I

Y

 

168

REDING, Jean-Claude

II

N

 

169

REISECKER, Sophia

II

A

RUSU, Sabin

170

RELIC, Danko

III

A

 

171

REPANŠEK, Neža

III

N

 

172

RIBBE, Lutz

III

N

 

173

RISTELÄ, Pekka

II

A

 

174

ROBYNS, Wautier

I

Y

 

175

ROCHE RAMO, José Manuel

III

N

 

176

RÖPKE, Oliver

II

N

KLUGE, Norbert

177

SAKAROVÁ, Dana

II

Y

 

178

SALIS-MADINIER, Franca

II

N

 

179

SAMMUT BONNICI, Dolores

I

A

 

180

SCHAFFENRATH, Martin Josef

III

N

 

181

SCHLÜTER, Bernd

III

A

 

182

SCHMIDT, Peter

II

N

 

183

SCHWARTZ, Arnaud

III

N

 

184

SCHWENG, Christa

I

A

 

185

SERRA ARIAS, Ricardo

III

Y

 

186

SIBIAN, Ionut

III

N

 

187

SILVA, Carlos

II

N

 

188

SILVA, Francisco

III

N

 

189

SILVA, João

II

N

 

190

SINKEVICIUTE, Elena

III

Y

 

191

SIPKO, Juraj

III

A

 

192

ŠIRHALOVÁ, Martina

I

Y

 

193

SMOLE, Jože

I

N

 

194

SÕBER, Kristi

I

Y

 

195

SOETE, Paul

I

Y

 

196

STOEV, Georgi

I

Y

 

197

STUDNICNÁ, Lucie

II

A

MILIĆEVIĆ-PEZELJ, Anica

198

SÜLE, Katalin Elza

I

Y

 

199

SVENTEK, David

I

Y

 

200

SZALAY, Anton

II

Y

 

201

SZYMANSKI, Mateusz

II

Y

 

202

TCHOUKANOV, Stoyan

III

N

 

203

TEDER, Reet

I

Y

MAJETIĆ, Davor

204

THURNER, Andreas

III

N

 

205

TIAINEN, Simo

III

Y

 

206

TOPOLÁNSZKY, Ákos

III

A

 

207

TRINDADE, Carlos Manuel

II

N

MAURICIO DE CARVALHO, Fernando

208

TUPILUȘI, Tudorel

III

Y

 

209

TZOTZE-LANARA, Zoe

II

N

 

210

ULGIATI, Luigi

Non-insc.

Y

 

211

UNGERMAN, Jaroslav

Non-insc.

Y

 

212

VADÁSZ, Borbála

I

Y

 

213

VARDAKASTANIS, Ioannis

III

N

 

214

VASK, Kaia

II

Y

 

215

VERNICOS, George

I

Y

 

216

VIIES, Mare

II

Y

 

217

VILARES DIOGO, Edgar

III

N

 

218

VON BROCKDORFF, Philip

II

N

 

219

VORBACH, Judith

II

N

 

220

VYYRYLÄINEN, Tiina

III

Y

 

221

WAGENER, Marco

II

N

WOLFF, Romain

222

WAGNSONNER, Thomas

II

N

 

223

WILLEMS, Heiko

I

Y

 

224

WILLEMS, Marie Josiane

III

A

 

225

WRÓBLEWSKI, Tomasz Andrzej

I

Y

 

226

WYCKMANS, Ferdinand

II

N

 

227

YIAPANIS, Anastasis

III

Y

 

228

YILDIRIM, Ozlem

II

Y

 

229

YLIKARJULA, Janica

I

Y

 

230

ZARINA, Katrina

I

Y

 

231

ZIELENIECKI, Marcin Antoni

II

Y

 

232

ZORKO, Andrej

II

N

 

233

ZVOLSKÁ, Marie

I

Y

HARTMAN RADOVÁ, Jana

234

ZYCH, Tymoteusz Adam

III

N

 


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022

21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten: Das Potenzial von Gesundheitsdaten für die Allgemeinheit, für Patientinnen und Patienten und für Innovation erschließen“

(COM(2022) 196 final)

und

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den europäischen Raum für Gesundheitsdaten“

(COM(2022) 197 final — 2022/0140 (COD))

(2022/C 486/16)

Berichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Befassung

Europäisches Parlament, 6.6.2022

Rat, 13.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

198/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission über den europäischen Raum für Gesundheitsdaten. Die COVID-19-Krise und einige gute Beispiele für die Zusammenarbeit, darunter das COVID-Zertifikat der EU, verdeutlichen, dass die EU und ihre Bürgerinnen und Bürger von sicheren, harmonisierten und gemeinsamen Daten profitieren würden. Diese könnten außerdem alle Bereiche der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten stärken. Der EWSA teilt die Auffassung, dass der digitale Wandel entscheidend zu einer besseren Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürgern beiträgt. Er kann zu stärkeren und widerstandsfähigeren Gesundheitssystemen sowie zur langfristigen Wettbewerbsfähigkeit und zu Innovationen im Ökosystem der europäischen Medizinindustrie beitragen und die EU bei der Erholung von der Pandemie unterstützen.

1.2.

Aus Sicht des EWSA ist es entscheidend, dass die Chancen, die sich aus Innovation und Digitalisierung ergeben, genutzt werden, um das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger zu fördern und die Qualität der Gesundheitsdienste zu verbessern. Gleichzeitig weisen die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner darauf hin, dass die digitale Kompetenz in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgeprägt ist, was bei der Umsetzung der Strategie im Auge behalten werden muss. In diesem Zusammenhang ist der Anspruch, niemanden zurückzulassen, wichtiger denn je.

1.3.

Der EWSA sieht in dem vorgeschlagenen europäischen Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space — EHDS) eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Bürger zu befähigen, auf ihre personenbezogenen Gesundheitsdaten zuzugreifen und sie zu kontrollieren. Der EWSA ist ebenso der Auffassung, dass diese Strategie einen kohärenten Rahmen für die Nutzung personenbezogener Gesundheitsdaten im Rahmen der FuE-Politik gewährleisten würde. Um beide Ziele zu erreichen, muss unbedingt für Vertrauen und Sicherheit in Bezug auf diesen Prozess gesorgt werden. Daher unterstützt der EWSA eine breit angelegte Kommunikationskampagne, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich der Vorteile bewusst sein, die mit dem Datenaustausch verbunden sind. Nach Ansicht des EWSA sollten die unmittelbaren Vorteile für Bürger und Verbraucher hervorgehoben werden, so wie dies für andere Interessenträger bereits der Fall war. Dabei muss jedoch klar sein, dass — insbesondere für Fragen der Genehmigung und Anonymität — verbindliche Qualitätsanforderungen gelten.

1.4.

Nach Einschätzung des EWSA dürften vom EHDS erhebliche positive Impulse für die Grundrechte in puncto Schutz personenbezogener Daten und Freizügigkeit ausgehen. Wenn der EHDS angemessen mit dem Datenraum der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft (EOSC) und der einschlägigen europäischen Dateninfrastruktur für Biowissenschaften (1) verknüpft wird, könnten Forscher, Innovatoren und politische Entscheidungsträger die Daten wirksamer, sicherer und unter Wahrung der Privatsphäre nutzen. Insofern teilt der EWSA die Auffassung, dass dieser Vorschlag eine weitere nützliche Anstrengung ist, den Binnenmarkt und sein Potenzial zur Verbesserung des Lebens der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

1.5.

Der EWSA unterstützt zwar diese Agenda, macht aber deutlich, dass die Appelle der EU an die Öffentlichkeit, den europäischen Raum für Gesundheitsdaten zu unterstützen, verhallen werden, wenn nicht einmal für die eigentliche Gesundheitsversorgung ausreichend Mittel bereitgestellt werden. COVID-19 war ein harter Schlag für die öffentlichen Gesundheitssysteme. Die EU muss sich bewusst sein, dass sie die Schäden beheben und die öffentlichen Gesundheitssysteme mit angemessenen Haushaltsmitteln ausstatten muss, bevor sie dieses sicherlich begrüßenswerte Projekt konkret in Angriff nimmt. Anstelle eines Haushalts für eine „Agenda“ muss die EU nach Ansicht es EWSA zuerst Mittel für die Stärkung der Gesundheitssysteme bereitstellen. Erst dann könnte sie dieses interessante Projekt in Angriff nehmen.

1.6.

Der EWSA betont, dass die Öffentlichkeit über die Primär- und Sekundärnutzung der Daten aufgeklärt werden muss. Damit die Menschen kooperieren, müssen sie dem System vertrauen und die Vorteile sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft insgesamt verstehen. Für den EWSA stellen sich die größten Fragen bei der Sekundärnutzung der Daten. Es muss klargestellt werden, wie die Daten genutzt werden, und ebenso, welche Grenzen gelten, welche Stelle die Daten kontrolliert und validiert und welche Sanktionen bei Verstößen greifen. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner im Rahmen einer angemessenen Teilhabe dazu beitragen können, diese Botschaften zu erläutern und zu vermitteln. Die Mitgliedstaaten könnten de facto von zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort profitieren, um das Gemeinwesen in diesen Bereichen zu unterstützen und so sicherzustellen, dass niemand vom Fortschritt ausgeschlossen wird. Ebenso sind die von den Patienten gewählten Allgemeinmediziner und behandelnden Ärzte wichtige Glieder in der Kette des Vertrauens zwischen Patienten und Nutzern von Gesundheitsdaten. Der EWSA empfiehlt, diese Fachleute in die Kommunikationsstrategie in besonderem Maße einzubeziehen.

1.7.

Der EWSA spricht sich zwar generell für diesen Vorschlag aus, fordert die Kommission jedoch auf, vor weiteren Schritten die Vor- und Nachteile der Initiative zur Verringerung der Risiken eingehend zu überdenken. Es gilt zu berücksichtigen, dass im Bereich der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten allzu viele Herausforderungen bestehen. Dazu gehören unterschiedliche Geschwindigkeiten und Auffassungen bezüglich der öffentlichen und privaten Gesundheitssysteme. Außerdem müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass dieser Vorschlag mit Investitionen und politischen Entscheidungen einhergeht. Den Bürgern muss klar sein, dass der Vorschlag Teil einer Strategie und einer Fortentwicklung ist, die einen Mehrwert schaffen, anstatt das System zu unterminieren. Es bedarf der Kommunikation, um Missverständnisse in der Öffentlichkeit zu vermeiden.

1.8.

Mit Blick auf die Förderung eines besseren Zugangs zu Versicherungsschutz für alle, der ein besseres Verständnis der betreffenden Datennachweise seitens der Versicherer voraussetzt, fordert der EWSA, das absolute Verbot der Sekundärnutzung von Daten durch Versicherer zu überdenken. Angesichts der damit einhergehenden Gefahren einer Individualisierung der Versicherungsprämien sowie einer Risikoselektion schließt er sich jedoch der Auffassung der Europäischen Kommission an, der zufolge die Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten auf die völlig legitimen Ziele der Verbesserung und Durchführung der Politik im Bereich der öffentlichen Gesundheit sowie auf Forschungszwecke beschränkt werden sollte. Der EWSA fordert ferner, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, diese Daten den Versicherern für Forschungszwecke zugänglich zu machen, sofern sie vollständig mit der DSGVO und den vorgenannten Zielen des öffentlichen Interesses vereinbar sind sowie von den zuständigen Behörden in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft überwacht werden.

1.9.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass der EHDS Einzelpersonen, Angehörigen der Gesundheitsberufe, Gesundheitsdienstleistern, Forschern, Regulierungsbehörden und politischen Entscheidungsträgern zugutekommen wird. Dies wird aber nur dann der Fall sein, wenn Bürger und Interessenträger an den kontinuierlichen Investitionen in das nationale Gesundheitswesen beteiligt sind. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger dürfte gering sein, wenn sie spüren, dass ihre Belange nicht im Mittelpunkt dieses Prozesses stehen. Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, die Organisationen der Zivilgesellschaft zum Zweck einer erfolgreichen Umsetzung der Strategie einzubeziehen. Die Erfahrungen dieser Organisationen könnten genutzt werden, um über die Transparenz und die Zuverlässigkeit der Initiative zu informieren. Investitionen in diesen Bereichen sind entscheidend.

1.10.

Der EWSA unterstützt die Idee, dass eine Kombination von Investitionen aus dem Programm „Digitales Europa“, der Fazilität „Connecting Europe“ und „Horizont Europa“ von den Mitgliedstaaten und den am EHDS beteiligten Einrichtungen zur Umsetzung der Strategie genutzt werden kann. Darüber hinaus wird das Programm „Digitales Europa“ den Aufbau der Infrastruktur unterstützen, die für die sichere grenzübergreifende Bereitstellung von Gesundheitsdaten in der EU und die Entwicklung gemeinsamer Datenräume erforderlich ist. Der EWSA weist jedoch auch darauf hin, dass diese Investitionen zeitaufwendig und nicht unmittelbar mit dem Zeitplan der Strategie verzahnt sind. Die Erwartungen der Bürger müssen daher mit dem Investitionszeitraum in Einklang gebracht werden. Anderenfalls sind Enttäuschungen vorprogrammiert und die Akzeptanz für die Strategie und den Datenaustausch im Allgemeinen werden verhalten bleiben.

1.11.

Schließlich fordert der EWSA die Kommission auf, konsequent in Cybersicherheitssysteme zu investieren, mit denen in allen Mitgliedstaaten weitreichende Probleme vermieden werden können. Die Menschen müssen in dieser Hinsicht Vertrauen haben können. Die jüngsten Probleme und Vorfälle in vielen Teilen der EU haben ein Gefühl der Unsicherheit und Angst in Bezug auf Datenschutz und Systemsicherheit geschaffen. Es bedarf eines koordinierten Ansatzes der EU, der beim Umgang mit derart sensiblen Investitionen einen entscheidenden Vorteil bieten kann.

2.   Allgemeiner Rahmen

2.1.

Die Europäische Kommission hat den EHDS als einen zentralen Baustein einer starken europäischen Gesundheitsunion ins Leben gerufen. Der EHDS bildet einen Rahmen für den Austausch von Gesundheitsdaten mit klaren Regeln und Verfahren, einer Infrastruktur und einer Governance für die Nutzung elektronischer Gesundheitsdaten durch Patienten sowie für Forschung, Innovation, Politikgestaltung und Regulierung. Gleichzeitig gewährleistet er die uneingeschränkte Einhaltung der hohen Datenschutzstandards der EU.

2.2.

Der EHDS wird der EU zu einem Quantensprung bei der Gesundheitsversorgung in ganz Europa verhelfen. Er wird die Menschen befähigen, ihre Gesundheitsdaten in ihrem Heimatland oder in anderen Mitgliedstaaten zu kontrollieren und abzurufen. Er fördert einen echten Binnenmarkt für digitale Gesundheitsdienste und -produkte.

2.3.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Patientenkurzakten, elektronische Verschreibungen, Laborergebnisse und Krankenhausentlassungsberichte in einem gemeinsamen europäischen Format erstellt und akzeptiert werden. Interoperabilität und Sicherheit werden zu verbindlichen Anforderungen. Um sicherzustellen, dass die Rechte der Bürger gewahrt werden, müssen alle Mitgliedstaaten digitale Gesundheitsbehörden benennen. Diese Behörden werden sich an der grenzüberschreitenden digitalen Infrastruktur (MyHealth@EU) beteiligen, die dem Patienten den grenzüberschreitenden Zugriff auf seine Daten gestatten.

2.4.

Weiterhin baut der EHDS auf der Datenschutz-Grundverordnung (DSGV), dem vorgeschlagenen Daten-Governance-Gesetz, dem Entwurf des Datengesetzes und der Richtlinie zur Cybersicherheit auf. Er ergänzt diese Initiativen und bietet auf den Gesundheitssektor zugeschnittene Vorschriften.

2.5.

Die primäre Nutzung elektronischer Gesundheitsdaten gestattet es, diese Daten für eine bessere nationale und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung einzusetzen. Medizinische Daten werden in der Regel in elektronischen Patientenakten gespeichert, die Auszüge der Krankengeschichte eines Patienten enthalten (zentral oder unter Beteiligung verschiedener Gesundheitsdienstleister). Der EHDS wird es den Menschen ermöglichen, auf ihre Gesundheitsdaten zuzugreifen und ihre Daten dem Gesundheitsdienstleister ihrer Wahl zur Verfügung zu stellen, auch im Ausland und in der Sprache des Gesundheitsdienstleisters. So kann der Patient eine bessere Diagnose und Behandlung mit weniger ärztlichen Fehlern erhalten und unnötige Diagnoseverfahren vermeiden.

2.6.

Eine Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten liegt vor, wenn diese Daten als Informationen und zur Bewertung gesundheitspolitischer Maßnahmen oder zu Forschungszwecken herangezogen werden. Dies kann die Patientensicherheit erhöhen und zu einem Entwicklungsschub bei neuen Arzneimitteln, Medizinprodukten, personalisierten Arzneimittel und Produkten, die auf künstlicher Intelligenz beruhen, führen. Im Zusammenhang mit dem europäischen Raum für Gesundheitsdaten werden die Ergebnisse dieser Forschung in aggregierter Form und unter Wahrung des Datenschutzes veröffentlicht.

2.7.

Der EHDS ist als ein gesundheitsbezogenes Ökosystem aus Vorschriften, gemeinsamen Standards, Verfahren, Infrastrukturen und einem Governance-Rahmen zu verstehen. Es dient den folgenden Zielen:

a)

Stärkung der Handlungskompetenz des Bürgers durch besseren digitalen Zugriff auf bzw. Kontrolle über elektronische personenbezogene Daten sowie Unterstützung des freien Austauschs dieser Daten;

b)

Förderung eines echten Binnenmarkts für elektronische Patientendatensysteme, einschlägige Medizinprodukte und Hochrisiko-KI-Systeme;

c)

Schaffung eines kohärenten, vertrauenswürdigen und effizienten Rahmens für die Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation, Politikgestaltung und Regulierung.

3.   Das Nutzungspotenzial von Gesundheitsdaten: Vertrauen als das Kernstück der Strategie

3.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission bezüglich eines EHDS, der die Lebensqualität der Bürger verbessern, Innovationen fördern und ein sicheres Umfeld für Datenschutz und Datenaustausch zu schaffen kann.

3.2.

Nach der COVID-19-Krise haben alle Mitgliedstaaten unter der Belastung ihrer nationalen Gesundheitssysteme gelitten. Diese Initiative der Kommission kommt demnach zum richtigen Zeitpunkt.

3.3.

Der EWSA ist überzeugt, dass trotz einiger positiver Ergebnisse in vielen verschiedenen Ländern generell Misstrauen in Bezug auf die Solidität des Systems herrscht. Von den Patienten gewählte Allgemeinmediziner und behandelnde Ärzte sind wichtige Glieder in der Kette des Vertrauens zwischen Patienten und Nutzern von Gesundheitsdaten. Sie sollten nach Auffassung des EWSA aktiv beteiligt werden, wenn es darum geht, die Bürgerinnen und Bürger darüber zu informieren, welchen Nutzen der Austausch von Gesundheitsdaten für sie persönlich und für die Allgemeinheit hat.

3.4.

Um das Potenzial von Gesundheitsdaten zu nutzen, hat die Kommission einen Legislativvorschlag zur Schaffung eines europäischen Raums für Gesundheitsdaten vorgelegt. Der einzelne Bürger soll die Kontrolle über seine Gesundheitsdaten erhalten. Die Daten sollen für eine bessere Gesundheitsversorgung genutzt werden können. Die EU soll in die Lage versetzen werden, das Potenzial des sicheren Austauschs, der sicheren Nutzung und der Weiterverwendung von Gesundheitsdaten unter Ausschaltung der bestehenden Hindernisse voll auszuschöpfen. Der EWSA unterstützt diese allgemeine Idee.

3.5.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU werden in Echtzeit auf ihre Daten zugreifen und diese austauschen können, und zugleich mehr Kontrolle über sie erlangen. Der EHDS wird eine wirksamere, leichter zugängliche und resilientere Gesundheitsversorgung und höhere Lebensqualität ermöglichen, dem Einzelnen Kontrolle über seine Gesundheitsdaten geben und die Datenwirtschaft voranbringen. Der EWSA und die organisierte Zivilgesellschaft bekräftigen, dass sich die EU den Umstand zunutze machen muss, dass die Menschen offen für eine derartige Initiative sind, sofern sie das Projekt und die Vorteile des Konzepts verstehen.

4.   Herausforderungen im Zusammenhang mit der Nutzung von Gesundheitsdaten: Risiken und Chancen

4.1.

Nach Auffassung des EWSA müssen sich die Mitgliedstaaten darüber im Klaren sein, dass Investitionen zur Förderung dieses Projekt erforderlich sind, und dass es derzeit mehrere konkurrierende strategische Prioritäten gibt.

4.2.

Die Tatsache, dass der europäische Gesundheitsdatenraum auf der DSGVO (2), dem Daten-Governance-Gesetz (3), dem Entwurf eines Datengesetzes (4) und der Richtlinie zur Cybersicherheit (5) aufbaut, schafft für die Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen und Transparenz. Als horizontaler Rahmen enthält er Vorschriften (und Sicherheitsmechanismen) für das Gesundheitswesen. Allerdings sind Gesundheitsdaten besonders sensibel, was angemessen berücksichtigt werden muss.

4.3.

Über die Hälfte der Mitgliedstaaten verfügen über keine spezifischen Rechtsvorschriften für die Weiterverwendung elektronischer Gesundheitsdaten, etwa zu Forschungs-, Politikgestaltungs- oder Regulierungszwecken. Sie stützen sich auf die allgemeinen Bestimmungen der DSGVO, und holen dabei häufig die Einwilligung für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten ein (6). Dies hat zur Folge, dass die Gesundheitsdaten nicht optimal genutzt werden. Nicht alle Mitgliedstaaten haben eine für den Zugang zu Gesundheitsdaten zuständige Stelle. Wo allerdings eine solche Stelle besteht, werden immer mehr Anträge auf Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke oder die Politikgestaltung gestellt (7). Dies belegt das Interesse an einem solchen System und spricht für das Ausmaß der ungedeckten Nachfrage. Der EWSA anerkennt das zugrundeliegende Konzept und ist der Auffassung, dass es eine solche Strategie rechtfertigt.

4.4.

Der EHDS wird innovative Ansätze zur Erfassung von Krebserkrankungen eröffnen und mögliche Alternativen zur Sammlung aktueller, geolokalisierter Informationen über die verschiedenen Krebsarten bieten. Dies würde einen aktuellen EU-weiten Überblick über Krebserkrankungen ermöglichen. Gleichzeitig könnten Tendenzen, Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen aufgedeckt werden.

4.5.

Wichtig ist auch, dass dadurch Problemfelder und spezifische Handlungsbereiche ermittelt werden können, in denen Investitionen und andere Maßnahmen auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene erforderlich sind. Beispielsweise würde dadurch auch die Krebsvorsorge und -behandlung gezielter, wirksamer und leichter zugänglich.

4.6.

Cybersicherheit ist für das Leben der Menschen von zentraler Bedeutung. Die Vorteile der Technologie sind enorm und im Falle personenbezogener Daten potenziell noch bedeutender, was aber auch für das Risiko des Verlusts wichtiger und wertvoller Informationen gilt. Der EWSA ist sich der einschlägigen Risiken bewusst; die jüngsten Vorfälle in verschiedenen Mitgliedstaaten zeigen, dass gehandelt werden muss. Von entscheidender Bedeutung ist eine koordinierte Strategie zur Bekämpfung von Cyberattacken und zur Erhöhung der Cybersicherheit. Ohne derartige Investitionen ist der Vorschlag nutzlos.

5.   Governance, Finanzierung und Verzahnung mit anderen gesundheitspolitischen Maßnahmen

5.1.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass dieses Projekt eine Gelegenheit ist, die EU zu stärken und von stärkeren Rechten und Garantien in Bezug auf Gesundheitsdaten in der EU zu profitieren. Es wird davon ausgegangen, dass der Zugang bzw. der Austausch von Gesundheitsdaten mit anderen Gesundheitsdienstleistern erleichtert wird, wodurch sich die unnötige Wiederholung der gleichen diagnostischen Verfahren vermeiden lässt. Gleichzeitig unterstützt der leichtere Zugang zu interoperablen Daten von hoher Qualität auch die Innovation sowie die Entwicklung neuer Therapien, neuer Impfstoffe und der personalisierten Medizin. Zur Verwirklichung dieses Ziels ist deshalb eine angemessene Koordinierung zwischen allen Interessenträgern — öffentlichen Gesundheitssystemen, Regierungen, Bürgern, politisch Verantwortlichen und Kommunikatoren — erforderlich.

5.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass Investitionen in die Digitalisierung zugleich Investitionen in eine bessere Gesundheitsversorgung sind und die Resilienz der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten verbessern. Der EWSA weist allerdings auch darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der europäischen Finanzprogramme — insbesondere der Aufbau- und Resilienzfazilität als Hauptsäule des europäischen Aufbauplans NextGenerationEU — bereitgestellten Finanzmittel besser nutzen könnten. Mit diesen Mitteln sollen die Mitgliedstaaten dabei unterstützt werden, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu bekämpfen und die Resilienz der europäische Wirtschaft gegen künftige Schocks zu erhöhen.

5.3.

Der EWSA macht auf die Vorteile kombinierter Infrastrukturinvestitionen aufmerksam, die die Digitalisierung und den Fortschritt in alle Regionen bringen. Es ist sinnlos, ein Projekt dieser Größenordnung zu lancieren, ohne über entsprechende Netze oder Infrastrukturen zu verfügen bzw. ohne in die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung und die digitale Kompetenz der Bürger zu investieren.

5.4.

Der EWSA unterstützt die Idee, dass die Mitgliedstaaten und die am EHDS beteiligten Einrichtungen Investitionen in Höhe von mehr als 480 Mio. EUR aus dem Programm „Digitales Europa“, der Fazilität „Connecting Europe“ und „Horizont Europa“ nutzen können, um die Umsetzung der Strategie zu unterstützen. Das Programm „Digitales Europa“ wird den Aufbau der Infrastruktur unterstützen, die erforderlich ist, um Gesundheitsdaten in der EU grenzübergreifend und sicher bereitzustellen und gemeinsame Datenräume zu schaffen. Der EWSA stellt fest, dass diese Investitionen zeitaufwendig sind. Es gilt, die Erwartungen der Bürger mit dem Zeitrahmen dieser Investitionen in Einklang zu bringen.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen hat durch seine Strategiepläne den Aufbau einer europäischen Forschungsinfrastruktur für Gesundheitsforschungsdaten, das Anlegen von Biobanken, Daten zur bildgebenden Medizin usw. erleichtert. Näheres unter: https://roadmap2021.esfri.eu/.

(2)  ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1.

(3)  ABl. L 152 vom 3.6.2022, S. 1.

(4)  Vorschlag für eine Verordnung über harmonisierte Vorschriften für einen fairen Datenzugang und eine faire Datennutzung (Datengesetz), COM(2022) 68 final.

(5)  ABl. L 194 vom 19.7.2016, S. 1.

(6)  Hansen J. et al, Assessment of the EU Member States‘ rules on health data in the light of GDPR, verfügbar unter https://ec.europa.eu/health/system/files/2021-02/ms_rules_health-data_en_0.pdf.

(7)  Gemäß der Folgenabschätzung, die den Vorschlag begleitet (S. 15), erscheint demnächst.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/129


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz geografischer Angaben für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse und zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1001 und (EU) 2019/1753 des Europäischen Parlaments und des Rates und des Beschlusses (EU) 2019/1754 des Rates“

(COM(2022) 174 final — 2022/0115 (COD))

(2022/C 486/17)

Berichterstatter:

Paulo BARROS VALE

Befassung

Rat der Europäischen Union, 11.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 118 Absatz 1 und Artikel 207 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

227/2/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative der Kommission zum Schutz geografischer Angaben (im Folgenden „g. A.“) für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse auf EU-Ebene, um die hier bestehende rechtliche Lücke zu füllen. Regionale Identität und traditionelles Know-how sollten geschützt werden. In diesem Zusammenhang sind Rechtsvorschriften ein wichtiges Instrument zur Entwicklung der Regionen, da der Schutz geografischer Angaben auch ein Schutz der Erzeuger und Verbraucher ist.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Schutz von g. A. die Entwicklung der Regionen, insbesondere jener mit Entwicklungsrückstand, fördert, und zwar durch Anreize für Erzeuger (indem die Anerkennung ihrer Erzeugnisse und der Schutz vor Nachahmungen gewährleistet werden), durch die Anziehung und Bindung der Bevölkerung (indem höherwertige und besser bezahlte Arbeitsplätze bereitgestellt werden), und durch die Stärkung eines nachhaltigen Tourismus, namentlich eines auf dem Ruf der Region beruhenden Nischentourismus.

1.3.

Die Kommission hat einen Vorschlag für eine Verordnung über den Schutz von g. A. für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse vorgelegt. Der EWSA ist sich nicht sicher, ob diese Option tatsächlich der Option vorzuziehen ist, die darin besteht, den geltenden Rechtsrahmen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel, Weine und Spirituosen auf industrielle und handwerkliche Erzeugnisse auszuweiten. Mit dieser zweiten Option könnte die Fragmentierung der Rechtsvorschriften, Verfahren und Zuständigkeiten vermieden werden, indem ein für alle Arten von Erzeugnissen geltendes einheitliches System zum Schutz von g. A. geschaffen würde.

1.4.

Der EWSA hält es für wesentlich, dass das zu verwendende Zeichen für g. A. attraktiv ist und den neuen Kommunikationsformen gerecht wird, die sich von traditionellen Etiketten bis zur modernen digitalen Kommunikation erstrecken. Das Zeichen sollte den Verbrauchern das Gefühl geben, dass das Erzeugnis hochwertig und vertrauenswürdig ist, und die Erzeuger bei ihrer Kommunikationsarbeit unterstützen. Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Aktualisierung des derzeitigen Zeichens für geschützte g. A. gemäß der Definition im Anhang der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 664/2014 der Kommission vom 18. Dezember 2013 (1) und die Erstellung eines Handbuchs für Marken ins Auge gefasst werden könnten.

1.5.

Der EWSA hält es für wesentlich, dass der Übergang vom Schutz von g. A. auf nationaler Ebene zum Schutz auf EU-Ebene rasch und einfach erfolgen muss. Die beiden Systeme sollten nicht länger nebeneinander bestehen, da dies zu Verwirrung sowohl bei den Verbrauchern als auch bei den Erzeugern führt. Gleichzeitig sollten aber die Mitgliedstaaten, die bereits den geografischen Schutz im Rahmen des Lissabonner Abkommens nutzen, schnellstmöglich das EU-Zeichen einführen können, um ihren Erzeugnissen ein Qualitätsimage zu verleihen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, im Zuge der Zertifizierungsverfahren ggf. auftretende Konflikte, insbesondere mit Drittländern, aufmerksam zu verfolgen und dabei ihre Verhandlungsbefugnisse zu nutzen. Es ist klar, dass die Zertifizierungsentscheidung vom Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) getroffen werden muss, das als die für gewerbliches Eigentum zuständige EU-Behörde gilt. Allerdings muss ein Kommunikationskanal zwischen EUIPO und Kommission eingerichtet werden, um Zweifelsfälle, die zu Differenzen führen könnten, zu untersuchen. Für den Schutz von Erzeugern und Verbrauchern ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein Konsens erzielt wird, was sich in grenzüberschreitenden Regionen (innerhalb und außerhalb der EU) schwierig gestalten kann.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Ziel des Kommissionsvorschlags ist es, den Schutz geografischer Angaben („g. A.“) (2) für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse auf Unionsebene zu gewährleisten. Handwerkliche und industrielle Erzeugnisse sind vom derzeitigen Schutzmechanismus für g. A. ausgeschlossen, der nur für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Lebensmittel, Weine und Spirituosen gilt. In der EU gibt es viele handwerkliche und industrielle Erzeugnisse mit einzigartigen Merkmalen, die mit ihrer Herkunftsregion zusammenhängen und die immer wieder nachgeahmt und gefälscht werden und deshalb dringend zu schützen sind.

2.2.

Das Fehlen eines EU-weiten Schutzmechanismus und die Rechtsunsicherheit, die sich aus den Unterschieden zwischen den einzelstaatlichen Gesetzen bzw. der Inexistenz solcher Gesetze ergibt, erschweren den Schutz handwerklicher und industrieller Erzeugnisse, die einzigartige, mit ihrer Herkunftsregion verbundenen Merkmale aufweisen. Diese Defizite können dazu führen, dass Erzeugnisse vom Markt verschwinden und die damit verbundenen Kompetenzen verloren gehen. Einzigartige regionale Produkte, die Teil der Tradition und Identität einer Region sind, müssen geschützt und genutzt werden, um die Entwicklung der Region zu fördern, das entsprechende Know-how weiterzugeben sowie neue Einwohner anzuziehen und zu binden.

2.3.

Im November 2019 trat die EU der Genfer Akte des Lissabonner Abkommens über Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben bei (3). Nun geht es darum, einen Rechtsrahmen zu schaffen, damit die EU eine Liste ihrer geografischen Angaben erstellen kann, die unter diese Regelung fallen, und damit die europäischen Erzeuger in den Genuss dieses Schutzes kommen können.

2.4.

Wie bereits erwähnt (4), hält der EWSA den Schutz von g. A. für ein wertvolles Instrument für die europäischen Erzeuger und befürwortet die Einführung eines harmonisierten Systems zum Schutz von g. A. für nichtlandwirtschaftliche Erzeugnisse. Der EWSA weist darauf hin, dass dieses System den Erzeugern hilft, ihre Qualitätserzeugnisse in einem globalisierten, liberalisierten und wettbewerbsorientierten Markt besser zu vermarkten, und dass es sich besonders positiv auf die weniger entwickelten Regionen auswirkt.

2.5.

Dieser Standpunkt wurde vom EWSA bereits 2015 in seiner Stellungnahme zu g. A. der EU für nichtlandwirtschaftliche Erzeugnisse der EU formuliert (5). Der EWSA begrüßt die Ausdehnung des Schutzes von g. A. auf nichtlandwirtschaftliche Erzeugnisse durch eine Verordnung auf EU-Ebene, wünscht jedoch, dass die neue Regelung so weit wie möglich an den bestehenden Rahmen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel, Weine und Spirituosen angelehnt wird.

2.6.

Der Schutz von g. A. für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse kann sich in mehrfacher Hinsicht positiv auswirken: auf die Qualität der Erzeugnisse, die den Kriterien für den Schutz von g. A. entsprechen muss, um das Vertrauen der Verbraucher zu stärken; auf die Anziehung neuer Einwohner und die Verhinderung ihrer Abwanderung durch die Schaffung von besser bezahlten höherwertigen Arbeitsplätzen und durch den Stolz auf die Zugehörigkeit zu einer renommierten Region mit einzigartigen Merkmalen; durch die Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus und den Schutz vor Schäden durch Nachahmung und Fälschung.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der Vorschlag der Kommission stützt sich auf die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über geistiges Eigentum und die gemeinsame Handelspolitik (6). Er zielt darauf ab, ein gemeinsames Schutzsystem für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse (einheitliches europäisches Recht des geistigen Eigentums) zu schaffen und zentralisierte Zulassungs-, Koordinierungs- und Aufsichtsregelungen auf Unionsebene festzulegen, die an das Lissabonner System angepasst sind, um das mit der Unterzeichnung der Genfer Akte geschlossene Abkommen umsetzen. Bei dem gewählten Instrument handelt es sich um eine eigenständige Verordnung, die mit der bestehenden Verordnung für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel, Weine und Spirituosen im Einklang steht. Die Interessenträger wurden konsultiert und haben die Einführung einer spezifischen Regelung für g. A. allgemein befürwortet.

3.2.

In der Folgenabschätzung wurden neben der Beibehaltung des derzeitigen Rechtsrahmens (der fragmentiert ist und auf internationaler Ebene nur wenig Schutz bietet) drei Politikoptionen geprüft: Option 1: Ausweitung des Systems zum Schutz von g. A. für landwirtschaftliche Erzeugnisse auf handwerkliche und industrielle Erzeugnisse; Option 2: Eigenständige EU-Verordnung für einen spezifischen Schutz von g. A.; Option 3: Reform des Markensystems.

3.3.

Die Wahl fiel auf Option 2 mit einem Vorschlag für eine Verordnung über den Schutz geografischer Angaben für handwerkliche und industrielle Erzeugnisse. Der EWSA ist sich nicht sicher, ob dies die beste Option ist; da vorgeschlagen wird, eine Regelung einzuführen, die mit der geltenden Regelung für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, Weine und Spirituosen identisch ist, könnte es einfacher sein, den bestehenden Rahmen auf handwerkliche und industrielle Erzeugnisse auszuweiten (Option 1). Diese neue Kategorie von Erzeugnissen könnte bei der laufenden Überarbeitung der Vorschriften für den Agrar- und Lebensmittelsektor aufgenommen werden, wobei die Verfahren zur Anerkennung der g. A. harmonisiert werden, ohne dass es zu einer Fragmentierung der Rechtsvorschriften, Verfahren und zuständigen Stellen kommt.

3.4.

In Bezug auf die räumliche Dimension unterstützt der EWSA die Entscheidung der Kommission für eine geschützte geografische Angabe (g. g. A.) anstelle einer geschützten Ursprungsbezeichnung (g. U.). Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass alle Stufen der Erzeugung, Verarbeitung und Zubereitung eines Erzeugnisses ausschließlich in einer bestimmten Region erfolgen, um den Schutz zu erhalten. Die Identität eines handwerklichen oder industriellen Erzeugnisses geht nicht verloren, wenn einige dieser Phasen in einer anderen Region stattfinden, da sie aus der jeweiligen Tradition oder Produktionsmethode resultiert.

3.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein zweistufiges System am besten geeignet ist, in dem erst auf nationaler Ebene und dann auf EU-Ebene Maßnahmen ergriffen werden. Denn die Mitgliedstaaten kennen die Merkmale ihrer Gebiete und die Erzeugnisse, die für den Schutz von g. A. in Frage kommen, am besten; zudem gibt es auf dieser Ebene keine Sprachbarrieren. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass das nationale System flexibel und kosteneffizient sein und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Erzeuger unabhängig von ihrer Herkunft gewährleisten muss.

3.6.

Der EWSA befürwortet die Wahl des EUIPO (7) als zuständige Stelle für die Eintragungsphase auf EU-Ebene. Das EUIPO verfügt über umfangreiche Erfahrungen auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes und über die Kompetenzen für die Erfüllung dieser Aufgaben wie auch über die erforderlichen Instrumente für Eintragungen. Die Entscheidung für das EUIPO ist umso wichtiger, als sie es ermöglicht, die Kompatibilitätskonflikte von g. A.-Eintragungen mit Marken- und Patenteintragungen zu überprüfen.

3.7.

Der EWSA ist damit einverstanden, dass Erzeugergemeinschaften direkt beim EUIPO die Eintragung, Löschung oder Änderung einer Spezifikation für eine g. A. beantragen können, wenn sie aus einem Mitgliedstaat stammen, der um Befreiung von der Pflicht zur Benennung einer zuständigen Behörde für die Verwaltung der nationalen Phase der Eintragung und anderen Verfahren für diese Produktkategorie ersucht hat. Erzeuger, die Anspruch auf Schutz haben, dürfen nämlich nicht von der Regelung zum Schutz von g. A. ausgeschlossen werden, nur weil ihr Herkunftsland es nicht für notwendig hält, in dieses Instrument zu investieren.

3.8.

Der EWSA begrüßt die Möglichkeit einer Eigenerklärung zur Überprüfung der Einhaltung der g. A.-Spezifikationen. In solchen Fällen ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten Stichprobenkontrollen durchführen. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass solche Kontrollen schwierig durchzuführen sind und sogar zu Kompetenzkonflikten führen können, wenn sich die g. A. auf mehr als einen Mitgliedstaat oder insbesondere ein Drittland erstreckt.

3.9.

Der EWSA begrüßt, dass handwerkliche und industrielle Erzeugnisse durch einen europäischen Rechtstitel geschützt werden sollen, der die bestehenden nationalen Regelungen ersetzt. Ein solcher einheitlicher Ansatz verhindert die Koexistenz zweier Systeme (eines europäischen und eines nationalen). Um den Schutz in grenzüberschreitenden Regionen zu erleichtern, ist es besonders wichtig, die Verfahren zu vereinheitlichen.

3.10.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der in Artikel 3 des Verordnungsvorschlags enthaltenen Definition handwerklicher und industrieller Erzeugnisse. Über diese Definition sollte ein breiter Konsens zwischen den Beteiligten bestehen, um die Erzeugnisse, die durch eine g. A. geschützt werden können, zweifelsfrei bestimmen zu können.

3.11.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Faktor Innovation in die Produktspezifikation aufgenommen werden sollte, da er zum Schutz und zur Entwicklung des kulturellen Erbes beitragen kann. Eine innovationsbedingte technologische oder verfahrenstechnische Änderung einer Produktionsmethode, die sich nicht auf Qualität, Echtheit, Ansehen oder auf den geografischen Ursprung zurückzuführende Eigenschaften des Erzeugnisses auswirkt, sollte nicht zum Entzug des Schutzes führen oder eine erneute Beantragung erforderlich machen.

3.12.

Der EWSA hat die Sorge, dass die Wahl und/oder Verwendung des Namens einer Region sowie die Kontrollen nach der Zertifizierung zu Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere mit Drittländern führen könnten. Bei einer grenzüberschreitenden g. A. gibt es möglicherweise keinen Konsens über die anzuwendende Nomenklatur; auch könnten einige Erzeuger am Zugang zu diesem Schutz gehindert werden. In diesem Falle muss die Kommission politisch befugt sein, einen Konsens auszuhandeln. Diese Befugnis der Kommission ist im Hinblick auf die Überwachung nach der Zertifizierung besonders wichtig, damit auf beiden Seiten der Grenze faire Kriterien für die Konformitätsbewertung festgelegt werden können.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. L 179 vom 19.6.2014, S. 17.

(2)  Eine geografische Angabe (g. A.) ist jede Angabe, die sich auf ein Erzeugnis bezieht, das aus einer bestimmten Region stammt und dessen spezifische Qualität, Ansehen oder andere Merkmale wesentlich mit seinem geografischen Ursprung zusammenhängen.

(3)  Die Genfer Akte des Lissabonner Abkommens, die von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) verwaltet wird, ermöglicht es den Vertragsparteien, von einem schnellen, umfassenden und unbefristeten Schutz von g. A. zu profitieren. Mit der Genfer Akte wird das Lissabonner Abkommen aktualisiert und sein Anwendungsbereich auf alle g. A. ausgeweitet.

(4)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 59.

(5)  ABl. C 251 vom 31.7.2015, S. 39.

(6)  Art.o 118 und Art.o 207 AEUV.

(7)  EUIPO — Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/133


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“

(COM(2022) 209 final — 2022/0155 (COD))

und „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine digitale Dekade für Kinder und Jugendliche: die neue europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder (BIK+)“

(COM(2022) 212 final)

(2022/C 486/18)

Berichterstatter:

Veselin MITOV

Befassung

Rat der Europäischen Union, 22.7.2022

Europäisches Parlament, 12.9.2022

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

233/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (1) und die Strategie „Eine digitale Dekade für Kinder und Jugendliche: die neue europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder (BIK+)“ (2).Da das Internet von Kindern inzwischen früher und nahezu täglich genutzt wird und Europol eine zunehmende Nachfrage nach kinderpornografischem Material festgestellt hat, kommen diese Texte genau zum richtigen Zeitpunkt.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Bildungskomponente der Strategie, denn es ist von maßgeblicher Bedeutung, die digitalen Kompetenzen und Fähigkeiten sowie die Sensibilisierung für die Nutzung personenbezogener Daten zu stärken, damit alle Kinder unabhängig von ihrer Situation das Internet sachkundig nutzen und sich vor potenziellen Gefahren zu schützen wissen.

1.3.

Die Vermittlung von Kompetenzen bei den Erziehungsberechtigten sowie im schulischen, pädagogischen und sportlichen Umfeld usw. ist ebenfalls unabdingbar, da viele Erwachsene nicht über die erforderlichen Kompetenzen verfügen. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Medienkompetenzkampagnen für Kinder und ihre Erziehungsberechtigten durchzuführen und dabei auf die genannten Netze und Multiplikatoren zurückzugreifen. Er spricht sich nachdrücklich dafür aus, diese auf andere Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft auszuweiten, um ihre Wirkung zu erhöhen und kreative Lösungen zu entwickeln, da zivilgesellschaftliche Organisationen in einigen Mitgliedstaaten über langjährige Erfahrungen vor Ort und an vorderster Front verfügen. Deshalb sollten sie bei ihren Tätigkeiten auch finanziell unterstützt werden.

1.4.

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagene Verordnung grundsätzlich, hat jedoch Vorbehalte im Zusammenhang mit der Unverhältnismäßigkeit der geplanten Maßnahmen und der Gefahr eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung. Die Technologieunternehmen werden nämlich gezwungen, die online veröffentlichten Nachrichten, Fotos und Videos zu überprüfen, um mögliche Missbrauchsfälle von Kindern aufzudecken und bei „Gewissheit“ im Nachhinein eine vom jeweiligen Mitgliedstaat benannte „Koordinierungsbehörde“ einzuschalten, die befugt ist, beim nationalen Richter oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde den Erlass einer Aufdeckungsanordnung zu beantragen.

1.5.

Die Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet ist gerechtfertigt und erforderlich. Die Auferlegung eines privaten Systems prima facie, um eine bestimmte Art von Inhalten aufzuspüren (unabhängig davon, wie illegal oder gefährlich sie sind), birgt jedoch die Gefahr einer allgemeinen Überwachung des gesamten virtuellen Austauschs.

1.6.

Die vorgeschlagene Verordnung sieht vor, dass die Unternehmen Sprachmuster im Zusammenhang mit sexuellem Kindermissbrauch aufspüren, indem sie künstliche Intelligenz einsetzen, um Kontakte zu analysieren, bei denen Erwachsene Grooming praktizieren. Dabei lässt sich in unserem digitalen Leben leicht feststellen, dass algorithmische Kontrollen nicht unfehlbar sind. Sie müssen also unbedingt umsichtig und geregelt genutzt werden.

1.7.

Der EWSA verfolgt das Ziel, die Interessen aller Menschen zu wahren. Dazu gehören das Briefgeheimnis und der Schutz der Privatsphäre, die verfassungsrechtlich verankert sind (3). Eine generelle Kontrolle der Hosting- und Kommunikationsdienste stellt ein Risiko insbesondere für die End-zu-End-Verschlüsselung des Online-Austauschs dar. Er fordert von der Kommission einen verbesserten und präziseren Wortlaut mit dem Ziel, das Briefgeheimnis und den Schutz der Privatsphäre zu wahren.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung einer neuen europäischen Agentur, deren Zuständigkeiten zwei wesentliche Bereiche (operativer Bereich sowie Forschung und Analyse) umfassen, da die Bekämpfung von Kinderpornografie und Pädophilie im Internet angesichts ihres internationalen Ausmaßes eine Koordinierung der Maßnahmen und Analysen erfordert.

1.9.

Der EWSA würde die Beteiligung von Eurojust im Rahmen der von der Kommission geplanten Struktur begrüßen, da koordinierte Ermittlungen und koordinierte gerichtliche Untersuchungen zusammengehören.

2.   Von der Kommission geplante Maßnahmen

2.1.

Am 11. Mai 2022 hat die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (4) sowie die Strategie „Eine digitale Dekade für Kinder und Jugendliche: die neue europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder (BIK+)“ (5) vorgelegt.

2.2.

Dieses Paket beruht auf der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. November 2019 zu den Rechten des Kindes anlässlich des 30. Jahrestags des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (6), den Schlussfolgerungen des Rates zur Medienkompetenz und der Empfehlung des Rates vom 14. Juni 2021 zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder (7).

Die in der Mitteilung enthaltene Strategie

2.3.

Die europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder von 2012 hat insbesondere dank des Netzes der Safer-Internet-Zentren (SIC) und des Portals betterinternetforkids.eu beim Schutz von Kindern und bei der Stärkung ihrer Online-Kompetenzen eine zentrale Rolle gespielt. Mittlerweile ist sie jedoch überholt, denn heutzutage nutzen Kinder das Smartphone oder den Computer früher und häufiger und sind auch für ihre Schul- und Freizeitaktivitäten zunehmend darauf angewiesen.

2.4.

Die COVID-19-Pandemie und die Lockdown-Maßnahmen haben deutlich gemacht, was bei der digitalen Bildung im Hinblick auf die potenziellen Gefahren des Internets für Kinder, Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher auf dem Spiel steht. Europol zufolge ist die Nachfrage nach kinderpornografischem Material in einigen Mitgliedstaaten um 25 % gestiegen. Berichte über die Kontaktaufnahme mit Kindern in Missbrauchsabsicht (Grooming) sind zwischen 2020 und 2021 um mehr als 16 % gestiegen.

2.5.

Die von der Kommission im Mai 2022 vorgeschlagene Strategie beruht auf drei Säulen:

Schutz der Kinder vor illegalen und schädlichen Online-Inhalten und Verbesserung ihres Wohlergehens im Internet;

Stärkung der digitalen Kompetenz, damit Kinder die Kompetenzen erwerben, die sie brauchen, um sich im Online-Umfeld zu bewegen und sich dort sicher und verantwortungsbewusst auszudrücken;

aktive Teilhabe der Kinder, indem ihnen Äußerungsmöglichkeiten im digitalen Umfeld eingeräumt werden, mit mehr innovativen Aktivitäten zur Förderung digitaler Erfahrungen.

2.6.

Die Strategie stützt sich auf eine umfassende Konsultation (8) (#DigitalDecade4YOUth), die von März bis August 2021 vom Europäischen Schulnetz mit Unterstützung des Insafe-Netzes europäischer Zentren für sichereres Internet durchgeführt und durch ausgedehnte Konsultationen ergänzt wurde. Sie beruht auf dem Recht der Kinder, in allen sie berührenden Entscheidungsverfahren angehört zu werden (9).

2.7.

Die Strategie wurde im April und Mai 2021 durch einen offenen Online-Kurs (MOOC) für Lehrkräfte zum Thema „Besseres Internet für Kinder“ ergänzt. Dabei ging es um digitale Kompetenz und Sicherheit im Internet sowie um die Frage, inwiefern die Pandemie unsere Kompetenzen auf die Probe gestellt hat.

2.8.

Darüber hinaus konnten EU-Bürgerinnen und -Bürger (Eltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher usw.) an einer Online-Umfrage teilnehmen, die dieselben Fragen enthielt wie die Konsultation #DigitalDecade4YOUth.

2.9.

Die Schlussfolgerungen der EU-Kids-Online-Umfrage (10) aus dem Jahr 2020 zeigen, dass eine Mehrzahl von Kindern ihr digitales Werkzeug fast täglich, früher und länger nutzt.

2.10.

Die COVID-19-Pandemie und die Lockdown-Maßnahmen haben deutlich gemacht, was bei der digitalen Bildung für Kinder und Erziehungsberechtigte auf dem Spiel steht (siehe Aktionsplan für digitale Bildung 2021–2027 (11)).

2.11.

So geht aus den gesammelten Informationen hervor, dass Kinder häufig schädlichen, sitten- oder gar gesetzeswidrigen Inhalten, Verhaltensweisen und Kontakten ausgesetzt sind. Bei der Nutzung sozialer Medien und interaktiver Spiele lauern Gefahren wie ungeeignete Inhalte, Mobbing, Grooming oder sexueller Kindesmissbrauch.

2.12.

In den ersten drei Monaten der COVID-19-Krise hat die Nachfrage nach kinderpornografischem Material in den Mitgliedstaaten laut Europol (12) um bis zu 25 % zugenommen. Beim US-amerikanischen Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder (National Center for Missing and Exploited Children) sind 2021 fast 30 Millionen Meldungen über mutmaßliche sexuelle Ausbeutung von Kindern eingegangen und den Strafverfolgungsbehörden wurden über 4 000 neue Fälle minderjähriger Opfer gemeldet. Zwischen 2020 und 2021 ist die Anzahl der gemeldeten Grooming-Fälle bei Kindern um mehr als 16 % gestiegen. Besonders gefährdet sind Kinder mit Behinderungen: Bis zu 68 % der Mädchen und 30 % der Jungen mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung werden vor Vollendung ihres 18. Lebensjahrs Opfer sexueller Gewalt (13).

2.13.

Trotz des geltenden EU-Rechts (AVMD-Richtlinie und DSGVO) sind die Vorkehrungen für die Altersüberprüfung und die elterliche Zustimmung in vielen Fällen unwirksam, denn im Allgemeinen müssen die Nutzer lediglich bei der Erstellung ihres Online-Profils ihr Geburtsdatum angeben.

2.14.

Mit der vorgeschlagenen Verordnung werden Anbieter von Hosting- oder Kommunikationsdiensten verpflichtet, jegliches Material im Zusammenhang mit online verübtem sexuellem Kindesmissbrauch aufzuspüren, zu melden und zu entfernen.

2.15.

Die Verordnung sieht auch die Einrichtung einer Europäischen Agentur vor, um sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern und zu bekämpfen, die Aufdeckung, Meldung und Entfernung von sexuellen Kindesmissbrauch darstellenden Inhalten im Internet zu erleichtern, die Opfer zu unterstützen und eine Drehscheibe für Wissen, Sachkenntnis und Forschungsarbeiten im Bereich der Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu schaffen.

Allgemeine Bemerkungen zum Verordnungsvorschlag

2.16.

Laut dem Vorschlag obliegen den Anbietern von Hosting- und interpersonellen Kommunikationsdiensten, bereits bevor ein nationaler Richter oder eine vom Mitgliedstaat benannte unabhängige Verwaltungsbehörde eine Aufdeckungsanordnung erlässt, bestimmte Risikobewertungs- und Risikominderungspflichten.

2.17.

Der EWSA unterstützt den Grundsatz des Vorschlags, der die bestehenden Maßnahmen ergänzt und wirksamer macht, da er Strafmaßnahmen gegen Anbieter von Hosting- und interpersonellen Kommunikationsdiensten vorsieht und ihnen die Verantwortung für die Prima-facie-Verfolgung von Fotos und Videos von Kindesmisshandlung auferlegt.

2.18.

Allerdings hat er Vorbehalte hinsichtlich der Risiken für den Schutz der Privatsphäre und der Verschlüsselung von Gesprächen. Die mögliche Überwachung des virtuellen Austauschs durch private Betreiber und eventuelle haltlose Anschuldigungen könnten der Unschuldsvermutung zuwiderlaufen.

3.   Besondere Bemerkungen

Die in der Strategie vorgesehene Bildungskomponente

3.1.

Die Vermittlung von Kompetenzen über die Nutzung sozialer Medien und anderer digitaler Werkzeuge ist für Kinder und ihre Erziehungsberechtigten von grundlegender Bedeutung. Kinder nutzen oft digitale Produkte und Dienste, die für Erwachsene ausgelegt sind. Die Zielgruppenausrichtung durch Marketingmethoden und Algorithmen kann dabei dazu führen, dass sie Inhalte öffnen, mit denen ihre Naivität und geringe Kenntnis digitaler Werkzeuge missbraucht und Kontakte zu gefährlichen Personen hergestellt werden, die sich hinter Spiele-Apps oder anderen von Kindern genutzten Werkzeugen verstecken.

3.2.

Häufig sind sich weder die Kinder noch die Eltern der Menge personenbezogener Daten bewusst, die sie in den sozialen Medien teilen. Digitale Fähigkeiten und Kompetenzen sowie die Sensibilisierung für die Nutzung personenbezogener Daten sind unabdingbar, damit sich Kinder sachkundig in der virtuellen Welt bewegen können.

3.3.

Auch Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte sowie Verantwortliche von Vereinen und Freizeitstrukturen benötigen diese Fähigkeiten, damit sie Kinder anleiten können.

3.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Bildungskomponente wichtig ist, um Kinder in ihrem digitalen Leben zu schützen und sie zu autonomen Teilnehmern der virtuellen Welt zu machen.

3.5.

Viele Lehrkräfte, Eltern und Erzieher verfügen nicht über die erforderlichen Kompetenzen und es fällt ihnen schwer, mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten.

Diese Bildungsmaßnahmen müssen auch ein Modul zu den Online-Rechten von Kindern umfassen, da die Rechte des Kindes online und offline identisch sind.

3.6.

Dieser Teil der Strategie muss auf einer engen Kooperation auf europäischer und internationaler Ebene sowie auf einer stärkeren Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft und insbesondere mit den Schulen beruhen.

Die nationalen Lehrpläne müssen unbedingt praktische und verpflichtende Kurse über die Online-Navigation und die damit einhergehenden Risiken umfassen und gleichzeitig inklusiv sein sowie der Vielfalt im Allgemeinen und der Barrierefreiheit im Besonderen gerecht werden.

3.7.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Medienkompetenzkampagnen für Kinder und ihre Erziehungsberechtigten durchzuführen und dabei auf die genannten Netze und Multiplikatoren zurückzugreifen. Er spricht sich nachdrücklich dafür aus, diese auf andere Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft auszuweiten, um ihre Wirkung zu erhöhen und kreative Lösungen zu entwickeln, da zivilgesellschaftliche Organisationen in einigen Mitgliedstaaten über langjährige Erfahrungen vor Ort und an vorderster Front verfügen. Der EWSA ist der Auffassung, dass hier die Vermittlung von Kompetenzen eine entscheidende Rolle spielt, da sie das Pendant zu Prävention sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet ist.

3.8.

Der EWSA schließt sich der Absicht der Kommission an, eine aktive Rolle der Kinder in den sie betreffenden politischen Debatten zu fördern, indem ihnen ein Versammlungs- und Vereinigungsrecht auf sozialen Online-Plattformen eingeräumt und sie in die Entwicklung der Digitalen Agenda einbezogen werden. Er begrüßt daher die Einrichtung der neuen EU-Plattform für die Beteiligung von Kindern und ruft dazu auf, der Stimme der Kinder nicht nur Gehör zu schenken, sondern ihr Folge zu leisten.

4.   Im Verordnungsvorschlag vorgesehene Strafmaßnahmen

4.1.

Bislang decken Anbieter von Hosting- und interpersonellen Kommunikationsdiensten illegale Inhalte im Internet freiwillig auf. Die Kommission bedauert implizit, dass die Selbstregulierung gescheitert ist, und schlägt vor, die Anbieter zum Handeln zu zwingen, und zwar unter Androhung von Strafen infolge eines von den nationalen Behörden eingeleiteten Untersuchungsverfahrens. Konkret bedeutet dies, dass die Anbieter und Hosts grundsätzlich zunächst einmal alles, was auf ihren Servern zirkuliert, prima facie überprüfen müssen.

4.2.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Kommission nicht die Bürgerinnen und Bürger um ihr Recht auf das Briefgeheimnis bringen will, ist jedoch besorgt über den möglicherweise unangemessenen Einsatz invasiver Technologien, die den Schutz der Privatsphäre beeinträchtigen könnten, wenn sie nicht angemessen konzipiert und ausreichend geregelt werden. Dabei geht es zum einen darum, den sexuellen Missbrauch von Kindern mithilfe von Technologien zu verhindern, und zum anderen, eine allgemeine Überwachung der Korrespondenz durch private Betreiber mithilfe von Algorithmen zu vermeiden.

4.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Verfahren zur Entwicklung, Erprobung und Verwendung von Algorithmen geregelt werden müssen, indem die Akteure angehalten oder sogar verpflichtet werden, für eine geeignete und wirksame algorithmische Governance zu sorgen, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren ihrer Werkzeuge zu gewährleisten. Er hält Erklärbarkeitsmethoden für erforderlich, um die Werkzeuge besser verstehen, Verzerrungen und Fehlfunktionen deutlich machen und so das Problem beheben zu können, bevor es dem Nutzer schadet.

4.4.

Der EWSA stellt fest, dass im Vorschlag koordinierte Untersuchungen unter der Kontrolle nationaler Gerichte vorgesehen sind, ruft die Kommission jedoch nachdrücklich auf, diesen zu verbessern, um die individuellen Freiheiten zu wahren.

4.5.

Der EWSA betont, dass ein ausgewogener Ansatz wichtig ist, zumal das geplante System die Analyse von Nachrichten, Fotos oder Videos vorsieht, um möglichen Kindesmissbrauch aufzudecken und bei „Gewissheit“ die zuständigen Behörden einzuschalten. Im Rahmen des Warnmechanismus ist dafür Sorge zu tragen, dass die geplanten Maßnahmen notwendig, wirksam, verhältnismäßig und ausgewogen sind.

4.6.

Der EWSA verweist auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Schrems I (14), wonach eine Regelung, die es den Behörden gestattet, generell auf den Inhalt elektronischer Kommunikation zuzugreifen, den Wesensgehalt des durch die Charta der Grundrechte garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens verletzt. Die Digitalisierung von auf einem Server gespeicherten Inhalten, die mit einer Analyse aller über einen Server laufenden Mitteilungen einhergeht, wirft deshalb Zweifel auf.

4.7.

Die Verantwortung für die Rückverfolgung wird bei den Plattformen und/oder sozialen Medien liegen, die unter Androhung von Strafzahlungen in Höhe von 6 % ihres weltweiten Umsatzes aufgefordert werden könnten, Material über Kindermissbrauch aufzuspüren. Sie müssten auf künstliche Intelligenz zurückgreifen und Sprachmuster aufdecken, um Kontakte blockieren zu können, in denen Erwachsene Grooming betreiben. Eine angemessene Verwendung algorithmischer Kontrollen ist daher unabdingbar, um Fehler zu vermeiden, die zu unbegründeten Anschuldigungen führen, denn derartige Kontrollen sind nicht unfehlbar.

4.8.

Die Kommission beabsichtigt ferner, die Plattformen zu verpflichten, das Risiko zu bewerten, dass ihre Dienste für die Verbreitung kinderpornografischer Bilder oder für Grooming genutzt werden, und einen „umfassenden EU-Verhaltenskodex für altersgerechte Gestaltung“ (15) mit allgemeinen Bedingungen zu fördern, die beim EWSA Bedenken hervorrufen.

4.9.

So sollen die Mitgliedstaaten eine unabhängige Behörde benennen, die darüber wachen soll, dass die Plattformen ihren Verpflichtungen nachkommen. Gegebenenfalls können diese Behörden den nationalen Richter oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde ersuchen, eine zeitlich begrenzte Aufdeckungsanordnung zu erlassen, die auf eine bestimmte Art von Inhalt in einem bestimmten Dienst abzielt. Außerdem können sie das betreffende Unternehmen auffordern, jegliche Inhalte im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern oder Grooming aufzuspüren.

4.10.

Sollten diese unabhängigen Behörden einen Dienst als zu risikoreich für Kinder einstufen, könnten sie die Anbieter von Hosting- und interpersonellen Kommunikationsdiensten auffordern, dessen Inhalt und den dort stattfindenden Austausch über einen bestimmten Zeitraum zu digitalisieren. Der EWSA legt nahe, die Anwendung dieser Regelung der wirksamen und vorherigen Kontrolle durch den nationalen Richter als Hüter der individuellen Freiheiten zu unterziehen, und zweifelt die Vereinbarkeit dieser Art von Anordnung mit der Charta der Grundrechte an.

4.11.

Wird der Vorschlag ohne Änderung angenommen, dann werden die Technologieunternehmen gemäß der Verordnung ihre Plattformen mithilfe von Algorithmen überwachen müssen, um Kindermissbrauch aufzudecken.

4.12.

Das Ziel ist zwar lobenswert, nach Ansicht des EWSA besteht jedoch die Gefahr, dass die private Online-Korrespondenz, das Recht auf Privatsphäre und der Schutz personenbezogener Daten beeinträchtigt werden, und das gilt es unbedingt zu vermeiden.

4.13.

Der EWSA verfolgt das Ziel, die Interessen aller Menschen zu wahren, da einige dieser Interessen verfassungsrechtlich verankert sind. Dazu gehören das Briefgeheimnis und der Schutz der Privatsphäre (16).

4.14.

Er betont, dass die Aussicht auf eine generelle Kontroll-Verpflichtung für Hosting- und Kommunikationsdienste ein Risiko für alle technischen Methoden darstellt, mit denen die Vertraulichkeit der Korrespondenz gewährleistet werden soll, wie z. B. die End-zu-End-Verschlüsselung.

4.15.

Die Kommission räumt im Übrigen ein, dass das Aufspüren von Kontakten, bei denen Erwachsene Grooming praktizieren, im Allgemeinen am stärksten in die Privatsphäre der Nutzer eingreift, weil sie das automatische Lesen der Privatkommunikation voraussetzt.

5.   Einrichtung einer neuen europäischen Agentur

5.1.

Der Vorschlag für eine Verordnung sieht die Einrichtung einer unabhängigen EU-Agentur mit Sitz in Den Haag vor, die Europol unterstützt und mit einem Budget von 26 Mio. Euro ausgestattet ist. Sie soll die Meldungen illegalen Materials analysieren, die Datenbanken für digitale Fingerabdrücke und illegales Material koordinieren und die Unternehmen bei der Suche nach zuverlässigen Technologien unterstützen.

Außerdem soll sie als Kontaktstelle zwischen Technologieunternehmen, Strafverfolgungsbehörden und Opfern dienen.

5.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Zuständigkeiten der Agentur in zwei wesentliche Bereiche (operativer Bereich sowie Forschung und Analyse) unterteilt sind, da die Bekämpfung von Kinderpornografie und Pädophilie im Internet eine Koordinierung der Maßnahmen und Analysen erfordert.

5.3.

Der operative Aspekt ist grundlegend und rechtfertigt eine enge Zusammenarbeit mit Europol, dessen Wirksamkeit außer Zweifel steht. Das europäische und internationale Ausmaß der Online-Sexualdelikte an Kindern rechtfertigt die Einrichtung der Agentur.

5.4.

Der EWSA würde die Beteiligung von Eurojust an den Arbeitsabläufen im Rahmen der von der Kommission geplanten Struktur begrüßen, da koordinierte Ermittlungen und koordinierte gerichtliche Untersuchungen zusammengehören.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2022) 209 final.

(2)  COM(2022) 212 final.

(3)  La constitutionnalisation du droit au respect de la vie privée.

(4)  COM(2022) 209 final — 2022/0155 (COD).

(5)  COM(2022) 212 final.

(6)  ABl. C 232 vom 16.6.2021, S. 2.

(7)  ABl. L 223 vom 22.6.2021, S. 14.

(8)  https://europa.eu/!XXv6kx.

(9)  Artikel 12 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen.

(10)  EU Kids Online.

(11)  COM(2020) 624 final.

(12)  https://europa.eu/!Jh78ux.

(13)  Children with disabilities.

(14)  Rechtssache C-362/14, Absatz 94.

(15)  COM(2022) 212 final.

(16)  La constitutionnalisation du droit au respect de la vie privée.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/139


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/83/EU in Bezug auf im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 2002/65/EG“

(COM(2022) 204 final — 2022/0147(COD))

(2022/C 486/19)

Berichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Befassung

Europäisches Parlament, 18.5.2022

Rat der Europäischen Union, 23.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

8.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

229/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative der Kommission zur Änderung der Richtlinie 2011/83/EU in Bezug auf im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/65/EG. Diese ist angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen und veränderten Verhaltensmuster, neuer technischer Lösungen und der Stärkung des Binnenmarkts, durch die sowohl der freie Verkehr von Finanzdienstleistungen als auch Verbraucherschutzvorschriften gewährleistet werden sollen, erforderlich. Die COVID-19-Krise hat die Widerstandsfähigkeit der EU in erheblicher Weise auf die Probe gestellt und neue Trends und Ideen hervorgebracht, die es nun weiterzuverfolgen gilt. Der EWSA unterstützt den Kommissionsvorschlag auch in dieser Hinsicht.

1.2.

Zwar befürwortet der EWSA den Vorschlag, doch bekräftigt er zugleich die Notwendigkeit von Investitionen in die digitale und finanzielle Bildung, um die Verbraucher in die Lage zu versetzen, ihre Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit im Fernabsatz geschlossenen Finanzdienstleistungsverträgen richtig zu verstehen. Dies gilt insbesondere für das Widerrufsrecht und das Recht, vor Vertragsabschluss weitere Informationen zu erhalten. Die Mitgliedstaaten müssen in ein Programm für strategische Kommunikation investieren, um das Potenzial des Binnenmarkts im Einklang mit den grundlegenden Verbraucherrechten zu steigern.

1.3.

Der EWSA merkt an, dass es unbedingt eines Ansatzes bedarf, der auf einem ausgewogenen Verhältnis zwischen digitalen und traditionellen Vertriebskanälen beruht. Der EWSA begrüßt die durch technologische Innovationen ermöglichten Fortschritte, betont jedoch auch, dass der menschliche Kontakt nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist, wenn Erklärungen nötig sind oder es um Datenschutzfragen geht. Digitalisierung und Modernisierung spielen bei der Verbesserung des Wohlergehens der Bürgerinnen und Bürger eine wesentliche Rolle. Hier gibt es jedoch nach wie vor viele Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und sogar zwischen den Regionen. So wird z. T. gefordert, zur Unterstützung der lokalen Bevölkerung bestimmte Elemente der physischen Infrastruktur beizubehalten. Nach Ansicht des EWSA könnte es außerdem zur Unterstützung der lokalen Bevölkerung beitragen, wenn die lokalen Gebietskörperschaften in die Entscheidungsprozesse von Finanzunternehmen einbezogen werden, insbesondere in Bezug auf die physische Infrastruktur in ländlichen Gebieten. Der EWSA fordert die Gewährleistung des Rechts, bei im Fernabsatz geschlossenen Finanzdienstleistungsverträgen ein „menschliches Eingreifen“ zu verlangen.

1.4.

Der EWSA und die in ihm vertretenen zivilgesellschaftlichen Organisationen sind der Überzeugung, dass der Binnenmarkt als Instrument zur Stärkung des Projekts Europa ein großes Potenzial birgt. Bei der Unterstützung der Gesellschaft im Bereich der Finanzdienstleistungen für Verbraucher stellt die Stärkung des Vertrauens in unsere Finanzsysteme ein grundlegendes Prinzip dar. In diesem Zusammenhang weist der EWSA ferner darauf hin, dass konsequent in die Cybersicherheit investiert werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich der Risiken bewusst sein, die mit dem Abschluss von Verträgen im Fernabsatz einhergehen. Wenn wir allerdings den Binnenmarkt und den freien Verkehr von Finanzdienstleistungen fördern wollen, was vor allem nach der COVID-19-Krise und insbesondere angesichts der Entwicklung des elektronischen Handels und digitaler Dienstleistungen zunehmend an Bedeutung gewinnt, müssen die Bürgerinnen und Bürger auch Vertrauen in das System haben.

1.5.

Der EWSA weist die Kommission darauf hin, dass der Vorschlag mit der Richtlinie über die Rechte der Verbraucher in Einklang gebracht werden muss. Nach den zahlreichen Erfolgen im Zusammenhang mit der Richtlinie über die Rechte der Verbraucher und angesichts der Einführung der neuen Verbraucheragenda (1) kommt dieses spezifische Dossier über im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträgen zum richtigen Zeitpunkt, um die Achtung der Verbraucherrechte zu stärken und Unternehmensinvestitionen in diesem Bereich zu fördern. Der EWSA fordert, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in die einschlägigen Verfahren einbezogen werden, um die Vorbereitungen auf die künftige Umsetzung der Richtlinie sowie deren Überwachung zu begünstigen. Hierbei handelt es sich um ein gutes Beispiel für einen Bereich, in dem zivilgesellschaftliche Organisationen zu einem besseren Umfeld und einem positiven Ansatz beitragen können.

1.6.

Auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Mechanismen können ein sicheres und zuverlässiges Umfeld für diesen Richtlinienvorschlag sicherstellen. Der EWSA ist sich bewusst, welches Potenzial die Innovation für die Gesellschaft birgt, und spricht sich dafür aus, alle verfügbaren Mittel zu nutzen, um Verbrauchern und Unternehmen in diesem speziellen Bereich eine sichere und moderne Nutzung zu ermöglichen. Der EWSA hat sich mit diesem Bereich bereits befasst und empfiehlt nachdrücklich die Nutzung von KI zum Aufbau eines besseren und stärker integrierten Binnenmarkts, der den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommt und sichere Geschäfte innerhalb des Finanzsystems gewährleistet (2).

1.7.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die EU unter Berücksichtigung der Ziele und Grundsätze des Binnenmarkts bewährte Verfahren für die Regulierung von im Fernabsatz geschlossenen Finanzdienstleistungsverträgen festlegen kann. Wenngleich der Kommissionsvorschlag einschlägige Maßnahmen für Unternehmen und Verbraucher vorsieht, weist der EWSA nachdrücklich darauf hin, dass Klärungsbedarf hinsichtlich der Tätigkeiten von außerhalb der EU ansässigen Unternehmen besteht, die Auswirkungen für die europäischen Bürgerinnen und Bürger haben können. Nach Ansicht des EWSA gilt es ferner, der Notwendigkeit einer Harmonisierung Rechnung zu tragen und entsprechend tätig zu werden.

1.8.

Der EWSA fordert Maßnahmen in Bezug auf Vorschriften und Regeln über die Informationspflichten für die sensiblen Vorgänge im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen aus der Ferne. Die Vorschriften für die Bewerbung solcher Dienstleistungen müssen unbedingt harmonisiert werden, um unlauteren Wettbewerb sowie eine Schwächung des Systems zu vermeiden. Sofern ein starkes Zeichen gesetzt werden kann, dürften die Ergebnisse sowohl den Unternehmen als auch den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen und sich — auch in puncto Nachhaltigkeit — positiv auf das Verbraucherverhalten auswirken. Ferner fordert der EWSA mit Nachdruck, dass die Verbraucherorganisationen einbezogen werden, um einen besseren Dialog zwischen Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen.

1.9.

Schließlich vertritt der EWSA die Auffassung, dass Investitionen in die Infrastruktur von entscheidender Bedeutung sind, um die Richtlinie besser umsetzen, von den darin vorgesehenen Grundsätzen tatsächlich profitieren und letztlich bessere Ergebnisse erzielen zu können. Bessere und transparentere Dienstleistungen kommen den Bürgerinnen und Bürger zweifellos zugute. Dies setzt allerdings einen 5G-Zugang, eine lückenlose Netzabdeckung sowie andere Infrastruktureinrichtungen in sämtlichen Bereichen voraus. All dies ist im Großen und Ganzen bei Weitem noch nicht erreicht. Der EWSA fordert, dass die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität vorgesehenen Finanzmittel besser und effizienter genutzt werden, um diese Investitionen zu tätigen und sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Richtlinie 2002/65/EG über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher zielt darauf ab, den freien Verkehr von Finanzdienstleistungen im Binnenmarkt sicherzustellen, indem bestimmte Verbraucherschutzvorschriften in diesem Bereich harmonisiert werden, und ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten. Es sei darauf hingewiesen, dass in jüngster Zeit bereits mit einer Reihe von Richtlinien und Verordnungen hohe Verbraucherschutzstandards eingeführt wurden. Der Vorschlag für eine neue Richtlinie bietet ein Sicherheitsnetz für die Fälle, in denen ein solcher Schutz fehlt oder möglicherweise mangelhaft ist. Soweit es keine produktspezifischen EU-Rechtsvorschriften oder keine horizontalen EU-Vorschriften für Finanzdienstleistungen für Verbraucher gibt, gilt die Richtlinie horizontal für jede aktuelle oder künftige Erbringung einer Bank-, Kredit-, Versicherungs-, privaten Altersvorsorge-, Investment- oder Zahlungsdienstleistung, für die im Wege der Fernkommunikation (d. h. ohne gleichzeitige physische Anwesenheit des Unternehmers und des Verbrauchers) ein Vertrag abgeschlossen wird. Die Richtlinie legt Informationen fest, die dem Verbraucher vor Abschluss des Fernabsatzvertrags zur Verfügung zu stellen sind (vorvertragliche Informationen), gewährt dem Verbraucher für bestimmte Finanzdienstleistungen ein Widerrufsrecht und enthält Vorschriften für unaufgefordert erbrachte Dienstleistungen und unerbetene Nachrichten.

2.2.

In den letzten 20 Jahren hat sich der Fernabsatz von Finanzdienstleistungen für Verbraucher rasant verändert. So nutzen Finanzdienstleister und Verbraucher nicht länger Faxgeräte, und es sind neue Akteure, wie etwa FinTech-Unternehmen, mit neuen Geschäftsmodellen und neuen Vertriebskanälen, wie z. B. dem Online-Verkauf von Finanzdienstleistungen, auf den Plan getreten.

2.3.

Der Kommissionsvorschlag zielt darauf ab, den Rechtsrahmen zu vereinfachen und zu modernisieren, indem die bestehende Richtlinie aufgehoben wird und gleichzeitig einschlägige Aspekte der Verbraucherrechte in Bezug auf im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträge in den Anwendungsbereich der horizontal anwendbaren Verbraucherrechterichtlinie aufgenommen werden.

2.4.

Das übergeordnete Ziel der Rechtsvorschriften — nämlich die Förderung der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Binnenmarkt bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus — bleibt unverändert. Dieses Ziel wird durch fünf verschiedene Faktoren erreicht, und zwar durch

eine vollständige Harmonisierung: In allen EU-Mitgliedstaaten werden für alle Finanzdienstleister ähnliche Vorschriften gelten und den Verbrauchern die gleichen Rechte garantiert;

vorvertragliche Informationen: Wenn Verbraucher rechtzeitige klare und verständliche Schlüsselinformationen erhalten, sei es elektronisch oder auf Papier, so gewährleistet dies die erforderliche Transparenz und stärkt die Mündigkeit der Verbraucher. In diesem Zusammenhang soll der Vorschlag regeln, wie und wann vorvertragliche Informationen mit welchem Inhalt bereitzustellen sind;

das Widerrufsrecht Hierbei handelt es sich um ein grundlegendes Verbraucherrecht, das besonders Bereich der Finanzdienstleistungen wichtig ist, da bestimmte Produkte und Dienstleistungen komplex und möglicherweise schwer zu verstehen sind;

Fairness im Internet: Finanzdienstleistungsverträge werden zunehmend auf elektronischem Wege geschlossen. Um ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, enthält der Vorschlag deshalb besondere Vorschriften zum Schutz der Verbraucher, wenn sie auf elektronischem Wege Finanzdienstleistungsverträge schließen; sowie

Durchsetzung: mit dem Vorschlag werden die derzeit geltenden Durchsetzungs- und Sanktionsvorschriften der Richtlinie 2011/83/EU über die Rechte der Verbraucher auf im Fernabsatz geschlossene Finanzdienstleistungsverträge ausgeweitet.

3.   Finanzdienstleistungen und Binnenmarkt

3.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die gesamte EU nach der COVID-19-Krise sowie angesichts der Aggression Russlands gegen die Ukraine und einer drohenden Finanzkrise vor großen Herausforderungen steht. Es steht außer Frage, dass das Vertrauen der Verbraucher in Mitleidenschaft gezogen wurde. Darüber hinaus gilt es, die nach wie vor hohe Verschuldung der privaten Haushalte anzugehen. Diese Umstände müssen bei sämtlichen finanzpolitischen Maßnahmen berücksichtigt werden. Damit Vertrauen aufgebaut und die Erholung unserer Volkswirtschaften und unserer Gesellschaft sichergestellt werden kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Verbraucher sich auf das System verlassen können.

3.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass Harmonisierungsbedarf besteht. Allerdings darf eine solche Harmonierung nicht zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen oder diese in irgendeiner Weise beeinträchtigen. Wichtig ist das Bewusstsein, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger bei der Digitalisierung im gleichen Tempo vorankommen und dass bei diesem Prozess niemand zurückgelassen werden darf. Nach Ansicht des EWSA sollten Investitionen in die finanzielle Bildung eine eng in den Richtlinienvorschlag eingebundene Priorität darstellen.

3.3.

Dabei ist unbedingt dafür zu sorgen, dass dem Datenschutz in diesem Prozess eine zentrale Rolle zukommt. Die Menschen in Europa müssen das Vertrauen haben, Daten für rechtliche und verbraucherrechtliche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Dies kann nur durch ein solides und zuverlässiges System erreicht werden. Datenschutz ist heutzutage ein vorrangiges Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Ferner stellt Cybersicherheit ein entscheidendes Element dar, wenn es darum geht, die Kommunikationsprozesse im Zusammenhang mit dem Fernabsatz von Finanzdienstleistungen zu stärken.

3.4.

Es gilt unbedingt sicherzustellen, dass der Kommissionsvorschlag mit der Richtlinie über die Rechte der Verbraucher in Einklang gebracht wird. Zudem muss zwingend gewährleistet werden, dass die Grundsätze der neuen Verbraucheragenda (3) ein zentraler Bestandteil dieses Konzepts sind. Der EWSA ist der Auffassung, dass die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner in diesem Prozess eine positive Rolle spielen können. So können sie insbesondere die Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen, ihre Rechte geltend zu machen, zugleich aber auch für ein gutes Umfeld sorgen, in dem Unternehmen miteinander konkurrieren und so bessere und transparentere Dienstleistungen für Verbraucher anbieten können.

3.5.

Auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Mechanismen sind im Zusammenhang mit dem Kommissionsvorschlag von entscheidender Bedeutung. Sie könnten die Verbraucher unterstützen, indem sie die Geschäftsprozesse und die damit verbundenen Anforderungen erleichtern. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Bürgerinnen und Bürger, die über weniger Vorkenntnisse oder eine geringere digitale Kompetenz verfügen. Der EWSA fordert, die entsprechenden Instrumente näher zu definieren und zu nutzen, damit die künftige Umsetzung erfolgreicher gestaltet werden kann.

3.6.

Der EWSA spricht sich dafür aus, in diesem Bereich für gleiche Wettbewerbsbedingungen zu sorgen, damit jedes Unternehmen zuverlässige Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger anbieten kann. Daher ist es unerlässlich, in Transparenz und klare Kommunikation zu investieren, um zu verhindern, dass die mit diesem Richtlinienvorschlag angestrebten positiven Auswirkungen durch unlauteren Wettbewerb aus Drittländern untergraben werden könnten.

4.   Auswirkungen auf Verbraucher und Unternehmen: Online- und Offline-Vorgänge

4.1.

Die Digitalisierung ist notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und den Menschen das Leben zu erleichtern. Nach Ansicht des EWSA sollte unbedingt sichergestellt werden, dass alle Akteure unter angemessenen Bedingungen handeln können und einen gleichen Kenntnisstand aufweisen. Dies entspricht jedoch bei Weitem nicht der Realität.

4.2.

Der EWSA fordert eine „intelligente Digitalisierung“, in deren Rahmen die Technologie im Dienste der Bürgerinnen und Bürger steht, die Kommunikation erleichtert und dem Wohlergehen der Menschen dient. Die Digitalisierung an sich ist allerdings nicht die Lösung aller Probleme, sondern muss vielmehr mit anderen Prioritäten abgestimmt werden. Der Kenntnisstand der Menschen bezüglich der Nutzung von Technologien ist in der EU nach wie vor sehr unterschiedlich, weshalb diesbezüglich Investitionsbedarf besteht. Schließlich weist der EWSA die Kommission darauf hin, dass die Nutzung von Technologien zwar wichtig ist, dass das jedoch auch für das Recht auf Nichterreichbarkeit gilt, was bei der Ausgestaltung einschlägiger Maßnahmen zu berücksichtigen ist.

4.3.

Finanzunternehmen müssen sicherstellen, dass Veränderungen klar vom Markt wahrgenommen werden. Eine angemessene Kommunikation ist daher von entscheidender Bedeutung, um Ergebnisse zu erzielen und den Transformationsprozess maßgeblich mitzugestalten.

4.4.

Der EWSA unterstützt entschieden Technologien und Innovationen, die den Verbrauchern bessere Nutzungsbedingungen bieten und ihnen das Leben erleichtern können. Das veränderte Verbraucherverhalten bietet die Gelegenheit, für positive Veränderungen zu sorgen und widerstandsfähigere und nachhaltigere Vorgänge im Bereich der im Fernabsatz geschlossenen Finanzdienstleistungsverträge zu fördern. Nach Ansicht des EWSA müssen die Vorschriften über die Informationspflichten klar formuliert und auf andere damit verbundene Maßnahmen mit möglichen Auswirkungen für die Verbraucher abgestimmt sein. Dabei gilt es, die Rechte und Pflichten der Verbraucher zu wahren.

4.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Kommissionsvorschlag mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und somit auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die in diesem Bereich gegen Unternehmen und Verbraucher verhängten Sanktionen im Einklang steht. Nach Ansicht des EWSA handelt es sich hierbei um einen sehr positiven Punkt, den es hervorzuheben gilt. Der EWSA hält es für ein grundlegendes Prinzip, dass die Schwere von Sanktionen das Ausmaß des Verstoßes — d. h. in diesem Fall der Verletzung des Verbraucherschutzes im Sinne des Richtlinienvorschlags — widerspiegeln sollte.

4.6.

Für den EWSA ist es von größter Bedeutung, in Bezug auf das Recht, bei im Fernabsatz geschlossenen Finanzdienstleistungsverträgen menschliche Unterstützung zu verlangen, für einen ausgewogenen Ansatz zu sorgen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist nach wie vor auf eine derartige Unterstützung angewiesen. Banken und Institutionen müssen sich dieser einschränkenden Erfordernisse bewusst sein und diese bei Entscheidungen über Investitionen in bestimmte physische Dienste bzw. über deren Aufrechterhaltung berücksichtigen.

4.7.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass nicht nur Banken, sondern alle Finanzinstitute in Schulungs- und Fortbildungssysteme investieren müssen, um ihre Beschäftigten im Bereich der Kundenbetreuung zu fördern. Aus der Ferne erbrachte Finanzdienstleistungen sind äußerst wichtig, doch es kommt ebenso auf die Beschäftigten an, die in diesem Bereich beratend tätig sind. Diese müssen über eine angemessene Ausbildung und Kompetenz verfügen, um Kunden entsprechend beraten zu können. Abschließend ist festzuhalten, dass selbst beim Einsatz von KI zur Unterstützung bestimmter Dienstleistungen ein menschliches Eingreifen erforderlich ist, um eine wirksame Interaktion mit den Kunden sicherzustellen.

5.   Folgenabschätzung — die Rolle der Zivilgesellschaft

5.1.

Der EWSA weist die Kommission und die Mitgliedstaaten erneut darauf hin, dass die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft möglichst in die Kommunikation über diese Richtlinie sowie in deren Umsetzung einbezogen werden sollten. Die Organisationen der Zivilgesellschaft können nicht nur aufgrund ihres Fachwissens, sondern insbesondere aufgrund ihrer Präsenz vor Ort dazu beitragen, für eine angemessene Kommunikation zu sorgen. Auf diese Weise können beispielsweise wichtige Teile der Bevölkerung erreicht werden, die in ländlichen Gebieten leben oder Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationskanälen für die breite Öffentlichkeit haben. Die im EWSA vertretenen zivilgesellschaftlichen Organisationen können zur ordnungsgemäßen Umsetzung der vorgeschlagenen Richtlinie beitragen, wodurch bessere Ergebnisse erzielt und die Bürgerinnen und Bürger stärker in den Prozess eingebunden werden können.

6.   Finanzdienstleistungen und Aufbau- und Resilienzfazilität — weiteres Vorgehen

6.1.

Die Aufbau- und Resilienzfazilität ist die wichtigste Säule von NextGenerationEU, dem Aufbauinstrument der EU zur finanziellen Unterstützung der Mitgliedstaaten. Damit sollen die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abgefedert und die Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gegen künftige Schocks gestärkt werden. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten dieses Instrument auch wirksam zur Verbesserung des Systems nutzen und den Menschen das Leben in diesem Bereich auf diese Weise erleichtern können.

6.2.

Investitionen in digitale und finanzielle Kompetenzen sind von größter Bedeutung, um die Verbraucherbildung und den Verbraucherschutz zu verbessern. Die digitalen und finanziellen Kenntnisse der Verbraucher müssen unbedingt gestärkt werden, damit die Ziele der Digitalen Agenda, wie etwa die Entwicklung eines leistungsfähigen Marktes und die Verbesserung des Verbraucherschutzes, erreicht werden können. Der EWSA ist sich der Bedeutung des Datenschutzes bewusst und unterstützt das Recht der Verbraucher auf dessen umfassende Gewährleistung. Der EWSA ist davon überzeugt, dass eine ausgewogene Entwicklung des Fernabsatzes von Finanzprodukten nur dann erreicht werden kann, wenn die Mitgliedstaaten genügend Ressourcen bereitstellen, um die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen, und das Vertrauen gegenüber dem Online-Vertrieb von Finanzdienstleistungen stärken. Darüber hinaus sollten sie die Fortschritte in diesem Bereich messen und der Kommission diesbezüglich Bericht erstatten. Die Kommission wird die Ergebnisse anschließend bewerten und bewährte Verfahren empfehlen.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 45.

(2)  ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 61.

(3)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 45.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 und der Verordnung (EU) 2021/1060 im Hinblick auf zusätzliche Flexibilität zur Bewältigung der Folgen des militärischen Angriffs durch die Russische Föderation — FAST-CARE (Flexible Assistance for Territories — Flexible Unterstützung für Gebiete)“

(COM(2022) 325 final — 2022/0208 (COD))

(2022/C 486/20)

Berichterstatterin:

Elena-Alexandra CALISTRU

Befassung

Europäisches Parlament, 4.7.2022

Rat der Europäischen Union, 15.7.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 177 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

189/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Kommission hat mit ihrem FAST-CARE-Vorschlag dringend benötigte zusätzliche Schritte unternommen, um die Mitgliedstaaten, die lokalen Behörden und die Partner der Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der Folgen der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine zu unterstützen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt dieses neue umfassende Paket, mit dem die bereits im Rahmen von CARE geleistete Hilfe durch zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen und mehr Flexibilität bei der Verwendung kohäsionspolitischer Mittel verstärkt wird.

1.2.

Der EWSA stellt ferner fest, dass die direkten und indirekten Auswirkungen der grundlosen Invasion vom 24. Februar in allen Mitgliedstaaten, insbesondere an den EU-Außengrenzen, zu einem kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Flüchtlinge geführt haben und weiteres Handeln erforderlich machen. Die derzeitige Situation ist beispiellos und erfordert daher alle denkbaren Maßnahmen, die auf die besondere Lage zugeschnitten sein müssen. Nach Ansicht des EWSA reagiert die Kommission mit FAST-CARE auf diese besondere Lage und stellt zusätzliche Mittel für die migrationsbedingten Herausforderungen bereit, die sich aus der militärischen Aggression Russlands ergeben. Gleichzeitig trägt dieser Vorschlag dazu bei, die Verzögerungen bei der Durchführung von Projekten aufgrund der kombinierten Auswirkungen von COVID-19 sowie der hohen Energiekosten und des Mangels an Rohstoffen und Arbeitskräften infolge des Krieges aufzufangen.

1.3.

Der EWSA hat immer wieder betont, dass eine sofortige und wirksame Reaktion mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erforderlich ist. Die fortgesetzten Bemühungen um Flexibilität bei der Finanzierung sollten eine möglichst effiziente Umsetzung der kohäsionspolitischen Investitionen im Rahmen des MFR 2014-2020 sowie einen reibungslosen Start der Programme für den Zeitraum 2021-2027 gewährleisten. Der EWSA begrüßt die befristete Möglichkeit eines Kofinanzierungssatzes von 100 % aus dem EU-Haushalt für die Durchführung kohäsionspolitischer Programme. Er befürwortet ferner die Möglichkeit zusätzlicher Übertragungen zwischen dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Kohäsionsfonds sowie zwischen Regionenkategorien.

1.4.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich, dass die Kommission die große Belastung anerkennt, die die lokalen Gebietskörperschaften und die in den lokalen Gemeinschaften tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der Migrationsherausforderungen infolge der militärischen Aggression Russlands zu tragen haben. Der EWSA begrüßt die Bestimmung, dass im Rahmen der einschlägigen Prioritäten mindestens 30 % der Mittelausstattung für die lokalen Gebietskörperschaften, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft vorbehalten wird, um sicherzustellen, dass diese Begünstigten einen ihrer aktiven Rolle bei Maßnahmen zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen angemessenen Anteil der Mittel erhalten. Dieser Prozentsatz könnte jedoch für Länder, die eine große Zahl von Flüchtlingen aufnehmen, zu niedrig sein; daher sollte die Möglichkeit einer Erhöhung dieses Anteils für die an die Ukraine angrenzenden Länder weiter geprüft werden.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass den NRO und den Sozialpartnern sowohl als durchführende Organisationen als auch als wertvolle Partner bei der Überwachung der Umsetzung solcher Programme eine entscheidende Rolle zukommt. Der EWSA ist daher bereit, weitere Diskussionen darüber zu fördern, wie die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner sowohl in der EU als auch in der Ukraine einbezogen werden können. Die Zivilgesellschaft hat in den ersten Phasen des Krieges ihre unmittelbare Reaktionsfähigkeit unter Beweis gestellt. Mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet, wird sie eine wichtige Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen vor Ort und den einschlägigen politischen Überlegungen auf hoher Ebene bilden. Angesichts des andauernden Krieges bemüht sich der EWSA weiterhin um eine stärkere Einbindung in die unmittelbare Reaktion und um eine bessere langfristige Beteiligung an der Festlegung der Integrationsagenda.

1.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zur Einhaltung der Anforderungen an die thematische Konzentration für den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 zu entbinden und ihnen angesichts der sich rasch verändernden Lage vor Ort die Möglichkeit zu geben, Mittel zwischen thematischen Zielen innerhalb derselben Priorität desselben Fonds und derselben Regionenkategorie umzuschichten. Der EWSA begrüßt ferner die Bestimmung, dass außergewöhnliche Ausgaben für abgeschlossene oder vollständig durchgeführte Vorhaben ab dem Zeitpunkt der Invasion förderfähig sein können.

1.7.

Der EWSA nimmt den Mix aus umfassenden Maßnahmen zur Kenntnis, die den Bedürfnissen auf Mikro- bzw. Einzelebene (z. B. die Verlängerung der Geltungsdauer und Erhöhung der neu ermittelten Einheitskosten, um die Grundbedürfnisse und die Unterstützung von Personen zu decken, denen vorübergehender Schutz gewährt wurde) sowie auf Makro- bzw. Mitgliedstaatenebene Rechnung tragen (z. B. die Erleichterung der Möglichkeit, Vorhaben im Rahmen der Programme des Zeitraums 2014-2020 im Rahmen der Programme des Zeitraums 2021-2027 weiterzuführen, damit mehr Vorhaben, bei denen Verzögerungen auftreten, durchgeführt werden können, wobei die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Anforderungen an die thematische Konzentration und die Klimaschutzbeiträge nicht beeinträchtigt werden).

1.8.

Auch die Bestimmungen zur Verringerung des Verwaltungsaufwands für die Mitgliedstaaten nimmt er gebührend zur Kenntnis, ebenso wie die Zusage der Europäischen Kommission, Begünstigten und Interessenträgern durch zusätzliche Unterstützung und Beratung zu helfen (beispielsweise bei Beschaffungsaufträgen, bei denen es zu Kostenüberschreitungen kommt), sowie andere nichtlegislative Maßnahmen und Beratung. Der EWSA fordert die Kommission auf, mit den Mitgliedstaaten, den lokalen Behörden und der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um alle unnötigen Verwaltungslasten zu beseitigen und gleichzeitig für vollständige Transparenz bei der Zuweisung und Durchführung von Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen des Krieges in der Ukraine zu sorgen. In diesem Zusammenhang unterstreicht der EWSA auch, dass die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner aus der EU und der Ukraine aktiver einbezogen werden müssen, um eine wirksame Planung, Verwaltung und Überwachung der Mittel zu gewährleisten und sicherzustellen, dass sie diejenigen erreichen, die sie am dringendsten benötigen, und zwar dort, wo der Bedarf am größten ist.

1.9.

Der EWSA schließt sich der Auffassung an, dass alle möglichen Maßnahmen im Rahmen des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) ergriffen werden sollten. In diesem Zusammenhang befürwortet der Ausschuss die Absicht der Kommission, die MFR-Verordnung dahingehend zu ändern, dass die verbleibenden Mittel für 2014-2020 bestmöglich genutzt werden und ein reibungsloser Übergang zum Programmplanungszeitraum 2021-2027 ermöglicht wird. Der EWSA hat zwar stets ein Höchstmaß an Flexibilität auf allen Ebenen — vom Beginn bis zum Abschluss der Programme — gefordert (1), damit die verfügbaren Mittel möglichst umfassend genutzt werden, doch angesichts der zunehmenden direkten und indirekten Folgen des Krieges in der Ukraine ist er der Ansicht, dass möglicherweise auch neue innovative Finanzinstrumente (2) zum Einsatz kommen müssen. Eine denkbare Lösung, die der EWSA bereits früher empfohlen hat, ist ein gesonderter EU-Fonds für den Wiederaufbau und die Entwicklung der Ukraine, um die Bemühungen zur Unterstützung der vom Krieg betroffenen Mitgliedstaaten zu ergänzen. (3)

1.10.

Der EWSA fordert den Rat und das Europäische Parlament auf, die Verordnung rasch anzunehmen, damit sie so bald wie möglich in Kraft treten kann. Das Ausmaß der Herausforderung erfordert eine gemeinsame und besser koordinierte Reaktion, vor allem angesichts der bevorstehenden kalten Jahreszeit.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Kommission hat seit dem 24. Februar im Rahmen der Kohäsionsmaßnahmen für Flüchtlinge in Europa (CARE) eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt, um sicherzustellen, dass die im Rahmen der Kohäsionspolitik 2014-2020 und des Europäischen Fonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD) verfügbaren Mittel sowie die Vorschusszahlungen im Rahmen der REACT-EU-Programme zügig mobilisiert werden, um die unmittelbaren Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu bewältigen. Gleichzeitig soll sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten ihre Bemühungen um eine umweltverträgliche, digitale und stabile Erholung ihrer Volkswirtschaften von der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Krise fortsetzen können.

2.2.

Da der Bedarf jedoch weiter steigt, haben der Europäische Rat, das Europäische Parlament und die EU-Regionen die Kommission aufgefordert, innerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens neue Initiativen zur Unterstützung der Mitgliedstaaten in ihren diesbezüglichen Bemühungen vorzulegen. Jetzt ist Unterstützung erforderlich, um die längerfristigen Bedürfnisse der vertriebenen Zivilbevölkerung zu decken und ihnen durch die Bereitstellung von Unterkünften und medizinischer Versorgung sowie durch den Zugang zu Beschäftigung und Bildung in den EU-Mitgliedstaaten die Integration zu erleichtern. Es sei darauf hingewiesen, dass Gemeinschaften, die bereits stark von der COVID-19-Pandemie betroffen sind (z. B. in Bezug auf die Belastung des Gesundheitssystems), nun vor der Aufgabe stehen, die längerfristigen Bedürfnisse der Flüchtlinge zu decken, aber auch mit neuen Problemen konfrontiert sind, wie den geschlechtsspezifischen Aspekten politischer Maßnahmen (z. B. besuchen zu wenige Kinder eine Schule, was die berufliche Integration von Frauen erheblich behindert).

2.3.

Der Krieg hat zu Engpässen in den Lieferketten und zu Arbeitskräftemangel geführt. Außerdem haben die Preise für Rohstoffe sowie für Energie und Werkstoffe stark angezogen. Diese Situation verschärft die Folgen der Pandemie und verursacht zusätzlichen Druck auf die öffentlichen Haushalte und weitere Verzögerungen bei Investitionen, insbesondere in die Infrastruktur.

2.4.

Mit dem FAST-CARE-Paket werden mehrere wesentliche Änderungen an den kohäsionspolitischen Rechtsvorschriften für die Zeiträume 2014-2020 und 2021-2027 vorgenommen mit dem Ziel, die Unterstützung der Mitgliedstaaten für die Integration von Drittstaatsangehörigen weiter zu beschleunigen und zu vereinfachen und gleichzeitig den Regionen bei der Erholung von der COVID-19-Pandemie zur Seite zu stehen.

2.5.

Die Mitgliedstaaten, lokalen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Vertriebene aufnehmen, sollen durch folgende Maßnahmen besser unterstützt werden:

die Vorfinanzierungen werden um weitere 3,5 Mrd. EUR aufgestockt, die 2022 und 2023 ausgezahlt werden sollen, wodurch allen Mitgliedstaaten rasch zusätzliche Liquidität zur Verfügung gestellt wird;

die Möglichkeit einer Kofinanzierung von 100 % durch die EU im Zeitraum 2014-2020 wird nun auf Maßnahmen zur Förderung der sozioökonomischen Integration von Drittstaatsangehörigen ausgeweitet;

diese Möglichkeit wird auch auf die Programme des Zeitraums 2021-2027 ausgeweitet und soll Mitte 2024 überprüft werden;

die vereinfachten Einheitskosten zur Deckung der Grundbedürfnisse von Flüchtlingen, die im Rahmen von CARE auf 40 EUR pro Person und Woche festgesetzt wurden, sollen auf 100 EUR angehoben werden, wobei diese Kosten für bis zu 26 Wochen (statt bisher 13 Wochen) geltend gemacht werden können;

die bereits im Rahmen von CARE gewährte Möglichkeit einer Querfinanzierung zwischen dem EFRE und dem ESF wird ausgeweitet. Dies bedeutet, dass nun auch Mittel aus dem Kohäsionsfonds bereitgestellt werden können, um die Folgen der Migrationsherausforderungen zu bewältigen;

die Ausgaben für Vorhaben zur Bewältigung der Migrationsherausforderungen können nun rückwirkend geltend gemacht werden, auch wenn die Maßnahme bereits abgeschlossen ist.

2.6.

Um sicherzustellen, dass die Investitionen dorthin fließen, wo sie am dringendsten benötigt werden, werden durch FAST-CARE zwei wesentliche Änderungen eingeführt:

Mindestens 30 % der im Rahmen der Flexibilitätsregelung bereitgestellten Mittel sollten für Vorhaben gewährt werden, die von lokalen Behörden und in lokalen Gemeinschaften aktiven Organisationen der Zivilgesellschaft durchgeführt werden, damit diejenigen, die die Hauptlast tragen, angemessen unterstützt werden.

Da Flüchtlinge häufig innerhalb eines Mitgliedstaats umziehen, können nun Vorhaben unterstützt werden, die außerhalb des geografischen Geltungsbereichs des jeweiligen Programms, aber innerhalb des Mitgliedstaats durchgeführt werden.

2.7.

Was die praktische Unterstützung zur Lösung des Problems der verzögerten Umsetzung betrifft, so können Projekte über 1 Mio. EUR (insbesondere Infrastrukturprojekte), die im Rahmen der Programme 2014-2020 unterstützt wurden, aber aufgrund von Preissteigerungen und Engpässen bei Rohstoffen und Arbeitskräften nicht rechtzeitig abgeschlossen werden konnten, im Rahmen der Programme des Zeitraums 2021-2027 weiterhin gefördert werden, auch wenn sie gemäß den Förderfähigkeitsregeln für den Zeitraum 2021-2027 nicht förderfähig wären.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission, geeignete und wirksame Mechanismen zur finanziellen Unterstützung zu schaffen, um die Folgen der militärischen Aggression Russlands, die weiter zunehmen und immer stärker zu spüren sind, zu bewältigen. Infolgedessen sind die Mitgliedstaaten mit einem kontinuierlichen Zustrom von Menschen konfrontiert, die vor der russischen Aggression fliehen. Hinzu kommen die Folgen der COVID-19-Pandemie, wie die Unterbrechung von Wertschöpfungsketten. Dies alles stellt eine Herausforderung für die öffentlichen Haushalte dar, die auf die Erholung der Wirtschaft ausgerichtet waren, und birgt gleichzeitig die Gefahr, dass sich Investitionen insbesondere in die Infrastruktur verzögern.

3.2.

Der EWSA erkennt ferner an, dass es angesichts der in allen Mitgliedstaaten zunehmenden direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges in der Ukraine von entscheidender Bedeutung ist, die Mechanismen zur Bewältigung der migrationsbedingten Herausforderungen und Marktstörungen durch einen Mix aus Finanzierung, Verfahren und technischer Hilfe in Verbindung mit Flexibilität, Reaktionsfähigkeit und raschem Handeln sicherzustellen.

3.3.

Der EWSA teilt uneingeschränkt die Auffassung, dass durch eine gezielte Überarbeitung des derzeitigen Finanzrahmens Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, um die Unterbrechung von Finanzierungen zu verhindern, die für die wichtigsten Maßnahmen zur Abfederung der Krise und zur Unterstützung der Bedürftigen notwendig sind. Der EWSA hat bereits in früheren Stellungnahmen (4) empfohlen, den Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel als unmittelbare Vorschüsse zuzuweisen.

3.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Möglichkeit einer Kofinanzierung dieser Maßnahmen von bis zu 100 % auf das am 30. Juni 2022 endende Geschäftsjahr ausgeweitet wurde, um zur Entlastung der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten beizutragen, sowie die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten durch eine erhebliche Aufstockung der Vorfinanzierungen (5) aus REACT-EU-Mitteln mit der notwendigen Liquidität zur Deckung des dringendsten Bedarfs versehen wurden.

3.5.

Der EWSA begrüßt ferner, dass die Kommission vorgeschlagen hat, im Rahmen der Programme für den Zeitraum 2021-2027 einen Kofinanzierungssatz von bis zu 100 % für Prioritäten zur Förderung der sozioökonomischen Integration von Drittstaatsangehörigen einzuführen. Diese Regelung ist zwar bis zum 30. Juni 2024 befristet, soll jedoch im Hinblick auf ihre Anwendung einer Überprüfung unterzogen werden. Sollte sie sich als effizient erweisen, könnte sie verlängert werden und damit einen Ausblick auf mehr Flexibilität und Liquidität bieten, wenn dringender Finanzierungsbedarf aufkommt.

3.6.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Bestimmung, dass mindestens 30 % der Unterstützung im Rahmen der einschlägigen Prioritäten lokalen Behörden, Sozialpartnern oder in lokalen Gemeinschaften aktiven Organisationen der Zivilgesellschaft gewährt werden sollten, um sicherzustellen, dass diese Begünstigten einen ihrer aktiven Rolle bei Maßnahmen zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen angemessenen Anteil dieser Mittel erhalten. Dennoch könnte der Prozentsatz für die an die Ukraine angrenzenden Länder, die eine wesentlich höhere Zahl von Flüchtlingen aufnehmen, zu niedrig sein. Daher sollte, auch wenn es sich um einen Mindestsatz handelt, eine höhere Mittelzuweisung angestrebt und mindestens 50 % der Fördermittel im Rahmen der jeweiligen Priorität an lokale Behörden und Organisationen der Zivilgesellschaft, die in lokalen Gemeinschaften tätig sind, vergeben werden.

3.7.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass die ursprünglichen kohäsionspolitischen Ziele gewahrt werden müssen und dass die Kohäsionspolitik nicht zu einem Allheilmittel für alle möglichen Notfälle werden darf. In diesem Sinne ist es nachvollziehbar, dass der im Rahmen der Prioritäten für die Integration von Flüchtlingen in einem Mitgliedstaat vorgesehene Gesamtbetrag durch entsprechende Bestimmungen auf 5 % der ursprünglichen Mittelzuweisung an den Mitgliedstaat aus dem EFRE und dem ESF+ zusammengenommen begrenzt wird. Diese Schwellenwerte sollten jedoch früher überprüft werden, damit im Bedarfsfall ausreichend Spielraum bleibt, insbesondere für die angrenzenden Länder. Es liegt auf der Hand, dass die Länder, die die große Mehrheit der Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen, vor größeren Herausforderungen stehen als andere EU-Mitgliedstaaten. Daher sollten die prozentualen Obergrenzen den Gegebenheiten vor Ort und den Unterschieden zwischen den Herausforderungen, mit denen die einzelnen Mitgliedstaaten konfrontiert sind, Rechnung tragen.

3.8.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, eng mit den Mitgliedstaaten, den lokalen Behörden und den Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um die durch FAST-CARE geschaffenen Möglichkeiten zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge möglichst wirksam und rasch zu nutzen. Die Mitgliedstaaten müssen laut Verordnung im abschließenden Durchführungsbericht über die Einhaltung der 30 %-Bedingung Rechenschaft ablegen, der EWSA fordert jedoch eine kontinuierliche Berichterstattung sowie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Überwachung der Umsetzung dieser Bestimmungen.

3.9.

Die vorstehenden Erwägungen gelten auch für die Planung, Umsetzung und Überwachung von Programmen im Zusammenhang mit der Umsetzung der Kohäsionspolitik sowie für die Auswahl der durchzuführenden Projekte. Vor diesem Hintergrund muss bewertet werden, inwieweit die Kohäsionspolitik Gefahr läuft, zu einem Bündel unzusammenhängender Notfallmaßnahmen zur Bewältigung der aktuellen Krisen in Europa zu werden.

3.10.

Die Schaffung klarer Synergien zwischen den kohäsionspolitischen Grundsätzen und Kernzielen einerseits und den neuen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Gegebenheiten in Bezug auf Arbeitskräftemangel, Schwierigkeiten in den Versorgungsketten und steigende Preise und Energiekosten andererseits sollte ein zentrales Anliegen sein, wenn es darum geht, eine angemessene Ausschöpfungsquote zu erreichen, die deutlich macht, dass die vorhandenen Ressourcen optimal genutzt werden.

4.

Der EWSA nimmt die Entscheidung der Kommission, die n+3-Regel für den Zeitraum 2014-2020 nicht um ein weiteres Jahr zu verlängern, sowie ihre Einschätzung zur Kenntnis, dass FAST-CARE unabhängig von der vorzeitigen Bereitstellung von Mitteln für Zahlungen für die Kalenderjahre 2022 und 2023 (hauptsächlich aufgrund von Vorfinanzierungen) im Zeitraum 2021-2027 insgesamt haushaltsneutral ist und keine Änderung der im mehrjährigen Finanzrahmen vorgesehenen jährlichen Obergrenzen für Verpflichtungen und Zahlungen erfordert. Der EWSA fordert die Kommission jedoch nachdrücklich auf, die Auswirkungen der Änderungen zu überwachen und Raum für neu entstehende oder sich ausweitende Bedürfnisse oder Prioritäten zu lassen.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Siehe das Positionspapier des EWSA zum Thema COVID-19: Europäische Struktur- und Investitionsfonds — außerordentliche Flexibilität.

(2)  In seinen Stellungnahmen hat der EWSA immer wieder betont, dass der MFR 2021-2027 die Möglichkeit bieten muss, über die bestehenden Instrumente (Aufbau- und Resilienzfazilität ( ABl. C 364 vom 28.10.2020); COVID-19: Europäische Struktur- und Investitionsfonds — außerordentliche Flexibilität; Verordnung über die Investitionsinitiative zur Bewältigung der Coronavirus-Krise; Europäischer Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD)/COVID-19-Krise) hinaus neue innovative Finanzierungsinstrumente einzuführen.

(3)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum 8. Kohäsionsbericht (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 54).

(4)  EWSA-Positionspapier zu REACT-EU.

(5)  Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen immer wieder darauf hingewiesen, dass eine prozentuale Erhöhung der Vorschusszahlungen bzw. der Vorfinanzierung begrüßenswert ist, dass aber mehr unternommen werden muss, um die Finanzmittel so schnell wie möglich bereitzustellen. Vgl. zum Beispiel das EWSA-Positionspapier zum Thema Finanzielle Unterstützung für Mitgliedstaaten, die von einer Notlage größeren Ausmaßes im Bereich der öffentlichen Gesundheit schwer betroffen sind.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Menschenwürdige Arbeit weltweit“

(COM(2022) 66 final)

(2022/C 486/21)

Berichterstatterin:

Maria del Carmen BARRERA CHAMORRO

Befassung

Europäische Kommission, 2.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

132/23/33

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die Kommission eine Strategie zur Förderung menschenwürdiger Arbeit weltweit — und nicht nur innerhalb der EU — aufstellt. Er betont, dass die Kommission zusammen mit dem Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen eine Mitteilung über menschenwürdige Arbeit weltweit für einen globalen gerechten Übergang und eine nachhaltige Erholung vorgelegt hat. Darin wird die Entschlossenheit der EU bekräftigt, menschenwürdige Arbeit durch Vorschriften, handels- und investitionspolitische Maßnahmen und ein Instrument zum Verbot der Einfuhr von Produkten in die EU, die außerhalb des Binnenmarkts in Zwangsarbeit hergestellt werden, wirksamer zu verteidigen. Der EWSA begrüßt, dass der neue Rahmen Verbote mit einem System von Durchsetzungsgarantien kombiniert, das auf internationalen Standards sowie auf Sorgfalts- und Transparenzpflichten beruht. Die Kommission sollte jedoch eine Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen, insbesondere in Bezug auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU), vornehmen.

1.2.

Der EWSA stellt fest, dass trotz Verbesserungen menschenwürdige Arbeit für viele Menschen in der Welt nach wie vor keine Realität ist. Angesichts dieses besorgniserregenden Szenarios weist die Kommission darauf hin, dass die COVID-19-Pandemie und die durch die technologischen Entwicklungen, den Klimawandel, den demografischen Wandel und die Globalisierung ausgelösten Veränderungen in der Arbeitswelt die Unternehmen vor große Herausforderungen stellen. Diese Herausforderungen können auch die wirksame Einhaltung von Arbeits- und Sozialschutznormen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weltweit beeinträchtigen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU ihre Rolle als sozial verantwortungsvolle Führungsmacht in der Welt weiter stärken muss, indem sie alle zur Verfügung stehenden — auch legislativen — Instrumente nutzt und weiterentwickelt. Er teilt die Ansicht der Kommission, dass die Verbraucher zunehmend inklusiv, nachhaltig und fair hergestellte Waren und Dienstleistungen verlangen, bei denen gewährleistet ist, dass sie unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen — auch für die in der informellen Wirtschaft Beschäftigten — hergestellt wurden.

1.3.

Der EWSA begrüßt, dass in der Kommissionsmitteilung zur Förderung menschenwürdiger Arbeit in allen Branchen und Tätigkeitsbereichen ein globaler Ansatz für alle Werktätigen auf nationalen Märkten, in Drittstaaten und in globalen Lieferketten verfolgt wird. Er betont, dass die EU ihre gesamte, interne und externe Politik (einschließlich der Handelspolitik) einsetzen muss, um weltweit menschenwürdige Arbeit zu fördern und zu gewährleisten. Es gilt, dieses Ziel in den Mittelpunkt einer nachhaltigen und inklusiven Erholung und des digitalen Wandels zu stellen.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die EU ein umfassendes Paket von Maßnahmen und Instrumenten vorschlägt, die zur Förderung der vier strategischen Ziele des universellen Konzepts der menschenwürdigen Arbeit beitragen. Das Konzept wurde in der Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008 in der 2022 geänderten Fassung entwickelt und spiegelt sich in den Nachhaltigkeitszielen wider. Die vier Ziele lauten Beschäftigungsförderung; Standards zur Gewährleistung der Arbeitnehmerrechte, einschließlich der Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit; angemessener Sozialschutz; sozialer Dialog und Dreigliedrigkeit, wobei die Gleichstellung der Geschlechter als bereichsübergreifendes Ziel definiert wird.

1.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, bestimmte Aspekte des Grundsatzes der menschenwürdigen Arbeit weiterzuentwickeln, die heute von besonderem sozialem und wirtschaftlichem Gewicht sind. So stellt der EWSA neben der Gleichstellung der Geschlechter und der Nichtdiskriminierung (Förderung einer Gleichstellungsperspektive beim Ziel menschenwürdiger Arbeit) die Bekämpfung des Risikos der Ausgrenzung der am stärksten gefährdeten Gruppen, z. B. Menschen mit Behinderung, auf den Arbeitsmärkten, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die Nachhaltigkeit der Beschäftigung vor dem Hintergrund des grünen Wandels heraus. Dies sind alles Querschnittsziele der IAO und der Agenda 2030. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Änderung der Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, mit der das Recht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld aufgenommen wurde.

1.6.

Der EWSA begrüßt die in der Kommissionsmitteilung vorgeschlagene verstärkte Durchsetzung der bestehenden Instrumente sowie die Einführung neuer Instrumente einschließlich rechtlicher Art im Rahmen der vier strategischen Ziele der Agenda für menschenwürdige Arbeit. Im Hinblick auf den ersten Bereich — EU-Maßnahmen, die sich auf Drittstaaten beziehen — begrüßt der EWSA, dass die EU weltweit wegweisende Standards für soziale Verantwortung, Transparenz und nachhaltige Unternehmenstätigkeit fördert. Er begrüßt ferner, dass das Europäische Parlament die Entschließung (1) zu einem neuen Instrument zum Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, angenommen hat.

1.7.

Als Teil des Pakets für eine faire und nachhaltige Wirtschaft legte die Kommission auch einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vor (siehe Stellungnahme INT/973). Der EWSA betrachtet diesen Vorschlag als wichtigen Schritt zur Förderung der Achtung der Menschenrechte, die für die Unternehmen und ihre Führungskräfte zur Pflicht wird. Er ist jedoch der Auffassung, dass der Vorschlag nach wie vor viele Mängel aufweist (z. B. die begrenzten individuellen Pflichten, da er direkt nur für Großunternehmen und für KMU nur indirekt gilt; die geringe Rolle der Arbeitnehmervertretungen) und unklare Rechtsbegriffe enthält (z. B. das Erfordernis „etablierter“ Geschäftsbeziehungen), die von den einzelstaatlichen Behörden und Gerichten unterschiedlich ausgelegt werden und zu Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmer und Unternehmen führen können. Er fordert daher einen ausgewogenen Dialog zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat, um diese Mängel zu beheben und für eine bessere Wirksamkeit des dann angenommenen Rechtsinstruments zu sorgen.

1.8.

Der EWSA nimmt die Schwierigkeiten zur Kenntnis, die einige Unternehmen haben, ihre gesamte Wertschöpfungskette zu kontrollieren und dabei menschenwürdige Arbeit zu gewährleisten. Damit dies gelingt, sollten nach Auffassung des EWSA jedoch nicht die vorgesehenen Garantien verringert werden, da dies nur die Wirksamkeit der Maßnahme schwächt, Rechtsunsicherheit für die Unternehmen schafft und unlauterem Wettbewerb Tür und Tor öffnet. Nach Ansicht des EWSA besteht der geeignete Weg, diese Probleme der globalen Kontrolle ohne solche nachteiligen Folgen zu lösen, vielmehr in angemessenen Unterstützungs- und Kooperationsinstrumenten, die die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Instrumente gewährleisten. Dabei können neben öffentlichen Unterstützungs- und Orientierungsinstrumenten die Möglichkeiten der Beteiligung von Arbeitnehmervertretern entlang der gesamten Wertschöpfungskette und im sozialen Dialog auf den verschiedenen entsprechenden Ebenen eine entscheidende Rolle spielen. Nach Ansicht des EWSA erleichtert diese verbesserte Wirksamkeit der Governance bei der Sorgfaltspflicht in der gesamten Wertschöpfungskette die Arbeit der Unternehmen. Sie ist zudem ein gewichtiger Grund dafür, die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern anzuerkennen und zu gewährleisten.

1.9.

Im Bereich der bilateralen und regionalen Beziehungen begrüßt der EWSA insbesondere den Vorschlag der EU, die Handelspolitik als Instrument zur Förderung der Einhaltung internationaler Arbeitsnormen durch Unternehmen aus Drittstaaten einzusetzen und menschenwürdige Arbeit in allen Unternehmen und Ländern, auch in Nachbarländern, zu fördern. In diesem Zusammenhang hebt der EWSA den Vorschlag zur Reform der EU-Verordnung über das Allgemeine Präferenzsystem hervor. Er betont, dass eines der Ziele darin besteht, Einfuhren aus Ländern zu erleichtern, deren Unternehmen soziale, arbeitsbezogene und ökologische Anforderungen, einschließlich im Hinblick auf menschenwürdige Arbeit, erfüllen. Er ist überzeugt, dass dies zur Verbesserung eines Modells der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit führt, das nicht nur auf sozialer Gerechtigkeit, sondern auch auf einem fairen Wettbewerb zwischen allen Unternehmen beruht.

1.10.

Der EWSA unterstützt den Beschluss der EU, sich aktiv an der Reform der Welthandelsorganisation (WTO) zu beteiligen, um angesichts der enormen Herausforderungen (digitaler und grüner Wandel, Bevölkerungsalterung, Prävention künftiger Pandemien) beim globalen Wirtschaftswachstum der sozialen Dimension Rechnung zu tragen. Sollen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Gewinne optimiert werden, um mehr Wohlstand, Beschäftigung und Wohlergehen zu schaffen, bedarf es Rahmenbedingungen und politischer Maßnahmen für einen gerechten Übergang, mit denen menschenwürdige und nachhaltige Arbeit in der Welt gewährleistet und gefördert wird. Die Ausrichtung auf einen gerechten Übergang sollte nach dem bewährten Ansatz des sozialen Dialogs erfolgen.

1.11.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Aufnahme von Mechanismen, um die Einhaltung der Richtlinie über die Sorgfaltspflicht zu bewerten und zu überwachen. Er stellt jedoch mit Besorgnis fest, dass bei diesen Mechanismen kein Dialog zwischen den Sozialpartnern vorgesehen ist. Er fordert die Kommission daher auf, derartige Mechanismen im vorgeschlagenen Rechtstext klar festzulegen.

1.12.

Zudem fordert der EWSA sowohl die Unterstützung der EU für ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte als auch die Ausarbeitung eines IAO-Übereinkommens für menschenwürdige Arbeit in Lieferketten.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Die Gewährleistung und Förderung menschenwürdiger Arbeit und die soziale Gerechtigkeit stehen im Mittelpunkt der dreiseitig vereinbarten Rahmenabkommen und politischen Maßnahmen der IAO-Agenda für menschenwürdige Arbeit, der 1998 angenommenen Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (in der 2022 geänderten Fassung) und der Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der IAO für die Zukunft der Arbeit von 2019. Mit den Verpflichtungen, die die internationale Gemeinschaft im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 und insbesondere, jedoch nicht nur, in Ziel Nr. 8 übernommen hat, soll ebenfalls sichergestellt werden, dass menschenwürdige Arbeit weltweit zur Norm wird. Dieses Ziel fördert ein dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das produktive Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle schafft.

2.2.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass diese Strategie zum Schutz und zur Förderung menschenwürdiger Arbeit weltweit nicht nur ein geeigneter, sondern auch notwendiger Schritt im Rahmen des Modells einer nachhaltigen Erholung ist, das mit NextGenerationEU eingeführt und finanziert wird. Die von der Kommission und der IAO vorgelegten Zahlen haben gezeigt, dass menschenwürdige Arbeit trotz Verbesserungen für viele Menschen auf der ganzen Welt noch immer keine Realität ist. Schätzungen der IAO zufolge haben vier Milliarden Menschen keinen Zugang zum Sozialschutz und sind 205 Millionen Menschen arbeitslos. Jedes zehnte Kind weltweit (insgesamt 160 Millionen) verrichtet Kinderarbeit, 25 Millionen Menschen müssen Zwangsarbeit leisten. Im Durchschnitt wird etwa jedes vierte Opfer von Zwangsarbeit außerhalb seines Herkunftslands ausgebeutet, wobei es zwischen den einzelnen Situationen deutliche Unterschiede gibt. Obwohl Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz ein grundlegender Aspekt menschenwürdiger Arbeit ist, sterben laut IAO jede Minute weltweit mehr als fünf Menschen infolge von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten.

2.3.

Der EWSA begrüßt, dass die EU mit neuen Impulsen ein Modell wirtschaftlicher Erholung fördern will, bei dem die Schaffung von Wohlstand und Beschäftigungsmöglichkeiten weltweit mit der Garantie und Förderung der Wahrung der Menschenrechte, menschenwürdiger Arbeit und der Umwelt in Einklang gebracht wird. In der gemeinsamen Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat über die Stärkung des Beitrags der EU zum regelbasierten Multilateralismus wird darauf hingewiesen, dass der Weg zu diesen Zielen angesichts der durch die Pandemie verursachten Krise, unter der Bürger, Unternehmen und Staaten leiden, schwierig ist. Daher wurde in der Mitteilung vorgeschlagen, Rechtsvorschriften, Maßnahmen und Investitionen voranzutreiben, mit denen eine digitale, grüne und inklusive Erholung der Wirtschaft sichergestellt und gefördert wird.

2.4.

In diesem Rahmen hat die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem EWSA die Mitteilung „Menschenwürdige Arbeit weltweit für einen globalen gerechten Übergang und eine nachhaltige Erholung“ [COM(2022) 66 final vom 23. Februar 2022] vorgelegt und einen Vorschlag für eine Richtlinie über Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit unterbreitet, der Gegenstand einer gesonderten Stellungnahme des EWSA (INT/973) ist, die derzeit erarbeitet wird.

2.5.

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass Unternehmen zunehmend grenzüberschreitend tätig sind. Multinationale Unternehmen mit ihren globalen Lieferketten sind dabei die Hauptakteure, aber auch KMU spielen hier zunehmend eine Rolle. Der EWSA hat rechtliche und politische Initiativen vorgeschlagen, um die Nachhaltigkeit zu verbessern, die Achtung der Menschenrechte sicherzustellen und menschenwürdige Arbeit in den Wertschöpfungsketten von Unternehmen zu fördern. (2)

2.6.

Der EWSA anerkennt die Bedeutung der Instrumente für soziale Unternehmensverantwortung mit dem Ziel einer gerechten Entwicklung, die Anreize für positive Verhaltensänderungen im Hinblick auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit geben. Er hat jedoch auch auf den Verbesserungsbedarf in diesem Bereich hingewiesen. Deshalb fordert er die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, für eine effizientere Umsetzung der bestehenden internationalen Instrumente für ein nachhaltiges, faires und widerstandsfähiges Wachstum und eine ebensolche Erholung nach der COVID-19-Krise zu sorgen. Dabei muss die menschenwürdige Arbeit im Mittelpunkt stehen. Der EWSA hat sowohl die Unterstützung der EU für ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (3) als auch die Prüfung der Ausarbeitung eines IAO-Übereinkommens über menschenwürdige Arbeit in Lieferketten gefordert. Er hat sich auch für einen wirksamen und kohärenten verbindlichen EU-Rahmen für die Sorgfaltspflicht und die Verantwortung der Unternehmen ausgesprochen, der auf dem Dialog zwischen den Sozialpartnern und einem Multi-Stakeholder-Ansatz beruht.

2.7.

Der EWSA erkennt den Nutzen eines harmonisierten Rechtsrahmens der EU zu Sorgfaltspflichten und Nachhaltigkeit an. Zu den Vorteilen gehört, dass dies ein Klima fairen Wettbewerbs unter allen Unternehmen, auch aus Drittstaaten, die in der EU tätig sind, voraussetzt, da für sie gleiche Bedingungen gelten, und größere Rechtssicherheit besteht. Ein solcher harmonisierter Rechtsrahmen wird Unternehmen und Arbeitnehmern den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft unter Bedingungen der sozialen und beschäftigungsbezogenen Gerechtigkeit für alle globalen Ketten erleichtern. Er fordert daher einen kohärenten und ausgewogenen EU-Rechtsrahmen für die Sorgfaltspflicht von Unternehmen, der auch wirksam und verhältnismäßig sein sollte.

2.8.

Der EWSA ist sich vollauf bewusst, dass in allen Mitgliedstaaten dringend ein Mechanismus für die finanzielle Erholung nach der Pandemie eingeführt werden muss. Ferner gilt es, im Rahmen des sozialen Dialogs und der dreigliedrigen Governance-Modelle weltweit alle postpandemischen Erholungsprozesse sowie die verschiedenen Übergänge zu einer grünen (CO2-neutralen und kreislauforientierten) und innovativen (digitalen) Wirtschaft unter umfassenden Bedingungen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit zu unterstützen. Er hofft, dass dies in der neuen Mitteilung und Empfehlung zur Zukunft des sozialen Dialogs berücksichtigt wird.

2.9.

Der EWSA nimmt die Untersuchungen zur Kenntnis, die internationale Beobachter der Menschenrechte, darunter die Internationale Arbeitsorganisation, der Europarat und der Internationale Gewerkschaftsbund (Global rights index), durchgeführt haben und die bestätigen, dass Mängel bei Menschenrechtsgarantien (einschließlich bei individuellen und kollektiven Rechten der Arbeitnehmer) und umweltbezogene Verstöße weiterhin weltweit zunehmen. Die Pandemie hat die Lage in mehreren Ländern der Welt verschlimmert und prekäre Lebensbedingungen und Ausbeutung noch verschärft. Kinderarbeit und Zwangsarbeit haben ebenfalls zugenommen.

2.10.

Dem EWSA zufolge zeigen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, dass Unternehmensleitungen zunehmend den Grundsatz der sozialen Unternehmensverantwortung aufgreifen und ihre Geschäftsmodelle im Einklang mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und den Nachhaltigkeitszielen entwickeln. Er ist wie die Kommission der Auffassung, dass es hier noch Verbesserungspotenzial besteht. Zudem wurden Fortschritte nicht nur langsamer, sondern auch sehr uneinheitlich erzielt. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Fortschritte auf dem Weg zu harmonisierten Regelungsrahmen der EU, die durch technische Unterstützung und praktische Leitlinien der Kommission ergänzt werden, insbesondere KMU zugutekommen. Die Verpflichtungen werden so wirksamer sein, den auf dem EU-Markt tätigen Unternehmen nützen und ihnen mehr Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen bieten.

3.   Wichtigste Maßnahmenvorschläge der Kommission zur Förderung menschenwürdiger Arbeit

3.1.

Die Überwachung der Fortschritte auf dem Weg zu menschenwürdiger Arbeit ist seit Langem ein Anliegen der IAO, die sich für Indikatoren zur Messung tatsächlicher Fortschritte einsetzt. Der EWSA hält dies für wichtig, zumal die Kommission bereits vor Jahren eine Mitteilung (4) hierzu veröffentlicht hat. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, eine ehrgeizige und innovative Agenda entsprechend umzusetzen und wirksam dafür zu sorgen, dass Wettbewerbsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Er betont ferner, dass menschenwürdige Arbeit nicht nur eine Frage der Beschäftigung und des Sozialschutzes, sondern auch der Governance ist, zu der auch der soziale Dialog mit den Sozialpartnern auf allen Ebenen der globalen Kette und auf allen Stufen der Produktionsprozesse gehören muss.

3.2.

Der EWSA begrüßt, dass die EU weiterhin ihre eigene Agenda für die Schaffung einer Arbeitswelt vorantreibt, in der alle Elemente, die das universelle Konzept menschenwürdiger Arbeit der IAO ausmachen, tatsächlich verwirklicht werden und die mehr als nur eine förmliche Erklärung ist. Diese Vision steht im Einklang mit der Aufnahme aller Bestandteile des internationalen Standards für menschenwürdige Arbeit der Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998) (5).

3.3.

Der EWSA hält es für inakzeptabel, dass menschenwürdige Arbeit für Hunderte von Millionen Menschen weltweit nach wie vor noch keine Realität ist. Dadurch wird es für die internationale Gemeinschaft schwierig, die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zu erreichen. Wenngleich die Nachhaltigkeitsziele in das Konzept der menschenwürdigen Arbeit eingebettet sind, wird das Ziel der menschenwürdigen Arbeit für alle (Nachhaltigkeitsziel 8 und damit zusammenhängende Ziele) durch die jüngsten Krisen und die enormen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit täglich bedroht.

3.4.

Die Beseitigung von Kinderarbeit und Zwangsarbeit stehen im Mittelpunkt der Bemühungen. Die Zahl der von Kinderarbeit betroffenen Minderjährigen nahm zwischen 2016 und 2020 um mehr als acht Millionen zu, was eine Umkehrung des bisherigen Abwärtstrends bedeutet. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, neue und wirksamere rechtliche und andere Maßnahmen im Rahmen der Politik der Nulltoleranz gegenüber Kinderarbeit zu entwickeln. Dies umfasst auch ein Verbot der Vermarktung in der EU von Produkten, die durch Zwangsarbeit oder Kinderarbeit hergestellt oder vertrieben werden. Nach seiner Auffassung muss dieser neue Rahmen durch eine Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen der verschiedenen legislativen und nichtlegislativen Maßnahmen ergänzt werden. Er fordert auch, die neue Handelspolitik der EU als einen Motor des Wirtschaftswachstums zu stärken, um der Verpflichtung zur Achtung der internationalen Menschenrechte, ihrer Instrumente und der Bekämpfung von Kinder- und Zwangsarbeit in der gesamten Lieferkette nachzukommen. Auf diese Weise werden die neuen Maßnahmen auf ein Modell der wirtschaftlichen Erholung und der weltweiten und inklusiven Wettbewerbsfähigkeit abgestimmt.

3.5.

Der EWSA begrüßt sowohl den Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflicht als auch die neuen Rechtsgarantien für eine wirksamere Bekämpfung von Zwangs- und Kinderarbeit in der gesamten globalen Wertschöpfungskette. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass die Behörden allein den Kampf gegen Zwangsarbeit nicht gewinnen können. Er begrüßt ferner, dass das Europäische Parlament die Entschließung zu einem neuen Instrument zum Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, angenommen hat (6). Viele Privatunternehmen haben sich bereits zu diesen Zielen verpflichtet. Sie müssen jedoch noch weitere Schritte unternehmen im Einklang mit dem Vorschlag für die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, damit dieser kohärente EU-Rahmen wirksam und verhältnismäßig wird und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert.

3.6.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die Nutzung eines kohärenten EU-Rechtsrahmens und einer sozial verantwortlichen Vergabepolitik als wirkungsvolle Instrumente für menschenwürdige Arbeit und gegen Zwangs- und Kinderarbeit fördert. Er ist gleichwohl der Ansicht, dass der Rechtsrahmen wirksam angewandt werden muss, um die tatsächliche Effizienz der Sozial- und Umweltklauseln bei der internen Vergabe öffentlicher Aufträge durch die EU und beim fairen Handel zu steigern.

3.7.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine neue Verordnung der EU für ein Allgemeines Präferenzsystem (APS-Verordnung) zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in einkommensschwachen Ländern für 2024-2034. Er begrüßt auch, dass die EU mit dem neuen APS über mehr Möglichkeiten verfügt, Handelspräferenzen zur Schaffung wirtschaftlicher Chancen und für eine nachhaltige Entwicklung unter Gewährleistung menschenwürdiger Arbeit zu nutzen. Durch die Aufnahme von Governance-Vereinbarungen wie die Vereinbarung über die dreiseitige Konsultation wird der soziale Dialog aufgewertet.

3.8.

Der EWSA nimmt die Verpflichtung zur Kenntnis, im Rahmen von Maßnahme 2 menschenwürdige Arbeit als Priorität des neuen Instruments „NDICI/Europa in der Welt“ zu behandeln (7). Dieses Programm für Menschenrechte und Demokratie sieht spezifische Maßnahmen zur Förderung menschenwürdiger Arbeit für alle, insbesondere auf nationaler und regionaler Ebene, vor, einschließlich der Bekämpfung von Zwangs- und Kinderarbeit. Er begrüßt, dass das neue Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit (NDICI) die Förderung des sozialen Dialogs und eine größere Autonomie der Sozialpartner sowie den Dialog mit den Partnerländern umfassen. Dies trägt zur Ratifizierung und Umsetzung aktueller IAO-Übereinkommen, insbesondere der grundlegenden und der die Governance betreffenden Übereinkommen, bei.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA teilt die Besorgnis der IAO, dass die Unternehmen und Arbeitnehmer, die am stärksten von den seit 2008 aufeinanderfolgenden Krisen betroffen sind, am wenigsten von den verbesserten wirtschaftlichen und technologischen Bedingungen profitieren. Denn bei den Erholungsbemühungen werden bestimmte Wirtschafts- und Arbeitsmarktsektoren begünstigt, während andere zurückbleiben.

4.2.

Der EWSA bekräftigt, dass der weltweite Schutz menschenwürdiger Arbeit eine Voraussetzung für die Achtung der Menschenwürde ist. Deshalb hält der EWSA diesen Vorschlag für einen wichtigen Schritt zur Achtung und Förderung der Menschenrechte in der Wirtschaft.

4.3.

Er hofft, dass dies ein Startschuss für weitere Fortschritte ist. Seiner Auffassung nach gibt es jedoch noch viele Unzulänglichkeiten und unklare Rechtsbegriffe, die von den einzelstaatlichen Behörden und Gerichten unterschiedlich ausgelegt werden können. Dies führt zu Rechtsunsicherheit für die Arbeitnehmer und für die Unternehmen. Z. B. wird die Wirksamkeit der Richtlinie durch vage Begriffe wie „etablierte Geschäftsbeziehung“ oder rein „vertragliche Zusicherungen“ der „Einhaltung von Verhaltenskodexen“ beeinträchtigt. Der EWSA schlägt der Kommission zum einen vor, diese Rechtsbegriffe klarer zu definieren und die Unzulänglichkeiten der geplanten Regelung für die Schadenshaftung auszuräumen. Zum anderen sollte sie Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Vertretung der Unternehmen auf der geeigneten Ebene vorsehen, damit die Vorschriften wirksamer eingehalten werden.

4.4.

Der EWSA nimmt den Ansatz der Beteiligung der Interessenträger zur Kenntnis, der dem gesamten Vorschlag zugrunde liegt. Eine wirksame Mitwirkung der Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter ist für den Erfolg maßgeblich. Gleichwohl bedauert er, dass dieser Aspekt in dem Vorschlag nicht ausreichend berücksichtigt wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass dieser Mangel aufgrund seiner kollektiven Auswirkungen sowohl auf die Arbeitnehmer als auch die Unternehmen nachteilig ist. In diesem Zusammenhang sollte die bestehende Beteiligung von Arbeitnehmervertretern, beispielsweise auf der Grundlage der Arbeit der Europäischen Betriebsräte oder internationaler Rahmenvereinbarungen, eine angemessene Orientierung und Unterstützung für den neuen Rechtsrahmen bieten.

4.5.

Der EWSA begrüßt den Gesamtansatz für menschenwürdige Arbeit, der in der Mitteilung der Europäischen Kommission vertreten wird. Mit dem Ansatz wird dem Wunsch der Verbraucher nach Modellen der Produktion und des Vertriebs von Waren und Dienstleistungen, die den Bedingungen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit besser gerecht werden, Rechnung getragen. Die Kommission hat festgestellt, dass die Mehrzahl der Verbraucher, auch im elektronischen Handel, Erzeugnisse bevorzugt, bei denen menschenwürdige Arbeitsbedingungen und ein ökologisches Gleichgewicht berücksichtigt wurden. Er fordert daher, diese sozial verantwortliche Rolle von Verbrauchern durch bessere Information und Schulung zu fördern. Dadurch könnte die Wirksamkeit der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Sicherstellung und Förderung menschenwürdiger Arbeit weltweit erhöht werden.

4.6.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission der Aufforderung des Europäischen Parlaments nachgekommen ist, einen Vorschlag für eine Richtlinie über Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vorzulegen (INT/973). Er stellt fest, dass die Kommission den Kreis der unter den Richtlinienvorschlag fallenden begrenzt hat und dadurch der vom Europäischen Parlament geforderte Geltungsbereich eingeschränkt wird. Er ruft die drei europäischen Organe auf, sich in einem Dialog auf einen kohärenten Rechtsrahmen zu einigen. Es gilt, u. a. den Anwendungsbereich der künftigen Richtlinie angemessen zu erweitern und dadurch ihre Wirksamkeit, auch im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb zwischen allen Unternehmen, zu optimieren, und einige Regelungslücken im vorgeschlagenen Text zu beseitigen, damit die Unternehmen mehr Rechtssicherheit erhalten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA nimmt die von der Kommission vorgeschlagenen Bemühungen zur Kenntnis, dafür zu sorgen, dass die EU alle in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Instrumente, Maßnahmen und Mittel (Vergabe öffentlicher Aufträge, Handelsabkommen, Entwicklungspolitik, Investitionspolitik, Fonds usw.) zur Förderung menschenwürdiger Arbeit weltweit nutzt. Er fordert insbesondere eine wirksamere Entwicklung und Anwendung des Instrumentariums zur Gewährleistung und Förderung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und die Ratifizierung internationaler Arbeitsnormen, einschließlich der Reformen, die erforderlich sind, um die Erholung der Wirtschaft, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen und ihre Fähigkeit zur Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze in der Welt zu unterstützen.

5.2.

Der EWSA stellt fest, dass im Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit besonderes Augenmerk auf Verfahren der sozialen Unternehmensverantwortung wie unilateralen Verhaltenskodizes liegt. Bei diesen Instrumenten wird dem Standpunkt der Arbeitnehmer nicht Rechnung getragen. Seiner Ansicht nach sollten auch Verfahren der kollektiven Governance aufgenommen werden, um sinnvolle Wege für die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern an der Gestaltung und Überwachung von Verpflichtungen im Hinblick auf menschenwürdige Arbeit in der gesamten Wertschöpfungskette zu fördern. Wie in Ziffer 4.4 dargelegt, sollten internationale Rahmenabkommen eine angemessene Orientierung und Unterstützung bieten.

5.3.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass mehr und bessere Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung von Zwangsarbeit ergriffen werden müssen. Er unterstützt die Kommission, zu diesem Zweck so bald wie möglich ein Verbot von (einheimischen und eingeführten) Produkten, die in Zwangsarbeit, einschließlich Kinderarbeit, hergestellt wurden, auf dem Binnenmarkt umzusetzen. Gleichzeitig empfiehlt er eine Analyse der verschiedenen Maßnahmen und eine umfassende Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen der verschiedenen Szenarien. Das Verbot muss sowohl mit fairen Handelsbedingungen als auch mit den Verpflichtungen der EU im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik und der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas im Einklang stehen.

5.4.

Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, um Kinderarbeit wirksam zu bekämpfen, zumal die ihr zugrunde liegenden Faktoren sehr komplex sind (z. B. finanzielle Schwierigkeiten, mangelnde Bildungsmöglichkeiten, örtliche Gepflogenheiten in Bezug auf die Rolle der Kinder in der Gesellschaft usw.). Gleichzeitig fordert er eine konsequente Anwendung und Durchsetzung der bestehenden internationalen Instrumente. Zur Beseitigung von Kinderarbeit ist also ein umfassender (ganzheitlicher) Ansatz für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung auf der Grundlage der Norm für menschenwürdige Arbeit erforderlich. Dies beinhaltet Mittel für eine hochwertige Bildung sowie ein Einkommen und ausreichender Sozialschutz für alle.

5.5.

Der EWSA misst auch der Überarbeitung der EU-Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels (8) besondere Bedeutung bei, der zufolge die Mitgliedstaaten den Menschenhandel per Gesetz untersagen müssen; ein weiteres Ziel ist der Schutz vor Zwangsarbeit (von der unter anderem Frauen und Mädchen und insbesondere Einwanderer unverhältnismäßig stark betroffen sind). Der EWSA hat bereits den umfassenden und integrierten Ansatz zum Schutz von Menschen, die Opfer des Menschenhandels sind, begrüßt (9).

5.6.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über europäische grüne Anleihen [COM(2021) 391 final], mit dem das Potenzial des Binnenmarkts und der Kapitalmarktunion, zur Verwirklichung der Klima- und Umweltziele der EU gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c des Pariser Klimaschutzübereinkommens von 2016 und gemäß dem europäischen Grünen Deal beizutragen, besser genutzt werden soll. Der EWSA hat von Anfang die Ansicht vertreten, dass der Grüne Deal nur dann Erfolg haben kann, wenn er auch ein sozialer Deal ist. Er fordert, den Begriff der „Sozialinvestitionen“ genauer zu definieren, um die Rechtssicherheit für Märkte und Unternehmen zu erhöhen (10).

5.7.

Der EWSA unterstützt die Arbeit der Europäischen Kommission an einer neuen APS-Verordnung für den Zeitraum 2024-2034. Er nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission die Einhaltung internationaler Arbeitsnormen in den APS-begünstigten Ländern verstärkt fördert, indem sie zwei neue Übereinkommen über Arbeitnehmerrechte (IAO-Übereinkommen Nr. 89 über die Arbeitsaufsicht und Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen) aufgenommen hat. Er stellt fest, dass die Ausfuhr von Waren, die durch Kinder- und Zwangsarbeit hergestellt wurden, zur Rücknahme von Handelspräferenzen berechtigt. Der EWSA empfiehlt, in den Entwurf der APS-Verordnung für 2024-2034 die Erklärung der IAO von 1998 in der 2022 geänderten Fassung aufzunehmen.

5.8.

Zudem begrüßt der EWSA die Absicht der Kommission, die Reform der WTO voranzubringen, um einen weiteren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten, die soziale Dimension der Globalisierung zu integrieren und Vereinbarungen in der WTO zu unterstützen, mit denen menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit gefördert werden. Er hofft, dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen sozialen Zielen und den Zielen der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in offenen Verhandlungsprozessen erreicht werden kann.

5.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zur Aufnahme von Mechanismen, mit denen der Grad der Einhaltung der Richtlinie über die Sorgfaltspflichten bewertet und überwacht wird, einschließlich eines Europäisches Netzes der Aufsichtsbehörden, das die Umsetzung der Richtlinie unterstützen soll. Er stellt jedoch mit Besorgnis fest, dass das Mandat (die Zuständigkeit) dieses Überwachungsgremiums nicht deutlich festgelegt ist und diese Mechanismen keinen sozialen Dialog vorsehen. Er fordert die Kommission daher auf, derartige Mechanismen im vorgeschlagenen Rechtstext klar festzulegen.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0245_DE.html

(2)  Stellungnahme des EWSA „Nachhaltige Lieferketten und menschenwürdige Arbeit im internationalen Handel“, CESE 2020/02161, (ABl. C 429, vom 11.12.2020, S. 197).

(3)  Der EWSA hat sich bereits in seiner Stellungnahme REX/518 eingehend mit dieser Frage befasst: „Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte“ (ABl. C 97, vom 24.3.2020, S. 9).

(4)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52006DC0249

(5)  www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:62:0::NO:62:P62_LIST_ENTRIE_ID:2453911:NO

(6)  https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0245_DE.html

(7)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A32021R0947

(8)  Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates (ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1).

(9)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 50.

(10)  Der EWSA erarbeitet derzeit eine Initiativstellungnahme zu diesem Thema. Siehe ECO/581 — „Soziale Taxonomie — Herausforderungen und Chancen“ (siehe Seite 15 dieses Amtsblatts).


ANHANG

Die folgenden abgelehnten Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 43 Abs. 2 der Geschäftsordnung):

ÄNDERUNGSANTRAG 3

SOC/727

Menschenwürdige Arbeit weltweit

Ziffer 2.6

Ändern:

von:

BLIJLEVENS René

GERSTEIN Antje Sabine

KONTKANEN Mira-Maria

MINCHEVA Mariya

MURESAN Marinel Dănuț

POTTIER Jean-Michel


Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA anerkennt die Bedeutung der Instrumente für soziale Unternehmensverantwortung mit dem Ziel einer gerechten Entwicklung, die Anreize für positive Verhaltensänderungen im Hinblick auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit geben. Er hat jedoch auch auf den Verbesserungsbedarf in diesem Bereich hingewiesen. Deshalb fordert er die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, für eine effizientere Umsetzung der bestehenden internationalen Instrumente für ein nachhaltiges, faires und widerstandsfähiges Wachstum und eine ebensolche Erholung nach der COVID-19-Krise zu sorgen. Dabei muss die menschenwürdige Arbeit im Mittelpunkt stehen. Der EWSA hat sowohl die Unterstützung der EU für ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (1) als auch die Prüfung der Ausarbeitung eines IAO-Übereinkommens über menschenwürdige Arbeit in Lieferketten gefordert . Er hat sich auch für einen wirksamen und kohärenten verbindlichen EU-Rahmen für die Sorgfaltspflicht und die Verantwortung der Unternehmen ausgesprochen, der auf dem Dialog zwischen den Sozialpartnern und einem Multi-Stakeholder-Ansatz beruht.

Der EWSA anerkennt die Bedeutung der Instrumente für soziale Unternehmensverantwortung mit dem Ziel einer gerechten Entwicklung, die Anreize für positive Verhaltensänderungen im Hinblick auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit geben. Er hat jedoch auch auf den Verbesserungsbedarf in diesem Bereich hingewiesen. Deshalb fordert er die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, für eine effizientere Umsetzung der bestehenden internationalen Instrumente für ein nachhaltiges, faires und widerstandsfähiges Wachstum und eine ebensolche Erholung nach der COVID-19-Krise zu sorgen. Dabei muss die menschenwürdige Arbeit im Mittelpunkt stehen. Der EWSA hat sowohl die EU aufgefordert, ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (1) zu unterstützen, als auch die IAO aufgerufen, die Entwicklung und künftige Annahme relevanter und geeigneter Instrumente  (2) für menschenwürdige Arbeit in Lieferketten zu prüfen . Er hat sich auch für einen wirksamen und kohärenten verbindlichen EU-Rahmen für die Sorgfaltspflicht und die Verantwortung der Unternehmen ausgesprochen, der auf dem Dialog zwischen den Sozialpartnern und einem Multi-Stakeholder-Ansatz beruht.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

65

Nein-Stimmen:

97

Enthaltung:

13

ÄNDERUNGSANTRAG 4

SOC/727

Menschenwürdige Arbeit weltweit

Ziffer 2.7

Ändern:

von:

BLIJLEVENS René

GERSTEIN Antje Sabine

KONTKANEN Mira-Maria

MINCHEVA Mariya

MURESAN Marinel Dănuț

POTTIER Jean-Michel


Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA erkennt den Nutzen eines harmonisierten Rechtsrahmens der EU zu Sorgfaltspflichten und Nachhaltigkeit an. Zu den Vorteilen gehört, dass dies ein Klima fairen Wettbewerbs unter allen Unternehmen, auch aus Drittstaaten, die in der EU tätig sind, voraussetzt, da für sie gleiche Bedingungen gelten, und größere Rechtssicherheit besteht. Ein solcher harmonisierter Rechtsrahmen wird Unternehmen und Arbeitnehmern den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft unter Bedingungen der sozialen und beschäftigungsbezogenen Gerechtigkeit für alle globalen Ketten erleichtern. Er fordert daher einen kohärenten und ausgewogenen EU-Rechtsrahmen für die Sorgfaltspflicht von Unternehmen, der auch wirksam und verhältnismäßig sein sollte.

Der EWSA erkennt den Nutzen eines harmonisierten Rechtsrahmens der EU zu Sorgfaltspflichten und Nachhaltigkeit an. Zu den Vorteilen gehört, dass dieser innerhalb seines Geltungsbereichs ein Klima fairen Wettbewerbs unter allen Unternehmen, auch aus Drittstaaten, die in der EU tätig sind, voraussetzt, da für sie gleiche Bedingungen gelten, und größere Rechtssicherheit besteht. Ein solcher harmonisierter Rechtsrahmen wird Unternehmen und Arbeitnehmern den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft unter Bedingungen der sozialen und beschäftigungsbezogenen Gerechtigkeit für alle globalen Ketten erleichtern. Er fordert daher einen kohärenten und ausgewogenen EU-Rechtsrahmen für die Sorgfaltspflicht von Unternehmen, der auch wirksam und verhältnismäßig sein sollte.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

73

Nein-Stimmen:

100

Enthaltung:

14

ÄNDERUNGSANTRAG 5

SOC/727

Menschenwürdige Arbeit weltweit

Ziffer 4.6

Ändern:

von:

BLIJLEVENS René

GERSTEIN Antje Sabine

KONTKANEN Mira-Maria

MINCHEVA Mariya

MURESAN Marinel Dănuț

POTTIER Jean-Michel


Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission der Aufforderung des Europäischen Parlaments nachgekommen ist, einen Vorschlag für eine Richtlinie über Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vorzulegen (INT/973). Er stellt fest, dass die Kommission den Kreis der unter den Richtlinienvorschlag fallenden begrenzt hat und dadurch der vom Europäischen Parlament geforderte Geltungsbereich eingeschränkt wird. Er ruft die drei europäischen Organe auf, sich in einem Dialog auf einen kohärenten Rechtsrahmen zu einigen. Es gilt, u. a. den Anwendungsbereich der künftigen Richtlinie angemessen zu erweitern und dadurch ihre Wirksamkeit , auch im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb zwischen allen Unternehmen, zu optimieren, und einige Regelungslücken im vorgeschlagenen Text zu beseitigen, damit die Unternehmen mehr Rechtssicherheit erhalten.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission der Aufforderung des Europäischen Parlaments nachgekommen ist, einen Vorschlag für eine Richtlinie über Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vorzulegen (INT/973). Er stellt fest, dass die Kommission den Kreis der unter den Richtlinienvorschlag fallenden begrenzt hat und dadurch der vom Europäischen Parlament geforderte Geltungsbereich eingeschränkt wird. Er ruft die drei europäischen Organe auf, sich in einem Dialog auf einen kohärenten Rechtsrahmen zu einigen. U. a müssen die politischen Entscheidungsträger die schwierige Situation der KKMU mitbedenken und darauf achten, dass Instrumente zu ihrer Unterstützung auf europäischer und nationaler Ebene zur Verfügung stehen, sobald die Rechtsvorschriften über die Sorgfaltspflicht in Kraft treten  (1). Es gilt, die Wirksamkeit der künftigen Richtlinie, auch im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb zwischen allen Unternehmen, dadurch zu optimieren, und einige Regelungslücken im vorgeschlagenen Text zu beseitigen, damit die Unternehmen innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie mehr Rechtssicherheit erhalten.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

68

Nein-Stimmen:

97

Enthaltung:

15

ÄNDERUNGSANTRAG 1

SOC/727

Menschenwürdige Arbeit weltweit

Ziffer 1.7

Ändern:

von:

BLIJLEVENS René

GERSTEIN Antje Sabine

KONTKANEN Mira-Maria

MINCHEVA Mariya

MURESAN Marinel Dănuț

POTTIER Jean-Michel


Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Als Teil des Pakets für eine faire und nachhaltige Wirtschaft legte die Kommission auch einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vor (siehe Stellungnahme INT/973). Der EWSA betrachtet diesen Vorschlag als wichtigen Schritt zur Förderung der Achtung der Menschenrechte, die für die Unternehmen und ihre Führungskräfte zur Pflicht wird. Er ist jedoch der Auffassung, dass der Vorschlag nach wie vor viele Mängel aufweist (z. B. die begrenzten individuellen Pflichten, da er direkt nur für Großunternehmen und für KMU nur indirekt gilt ; die geringe Rolle der Arbeitnehmervertretungen) und unklare Rechtsbegriffe enthält (z. B. das Erfordernis „etablierter“ Geschäftsbeziehungen), die von den einzelstaatlichen Behörden und Gerichten unterschiedlich ausgelegt werden und zu Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmer und Unternehmen führen können. Er fordert daher einen ausgewogenen Dialog zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat, um diese Mängel zu beheben und für eine bessere Wirksamkeit des dann angenommenen Rechtsinstruments zu sorgen.

Als Teil des Pakets für eine faire und nachhaltige Wirtschaft legte die Kommission auch einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit vor (siehe Stellungnahme INT/973). Der EWSA betrachtet diesen Vorschlag als wichtigen Schritt zur Förderung der Achtung der Menschenrechte, die für die Unternehmen und ihre Führungskräfte zur Pflicht wird. Er ist jedoch der Auffassung, dass der Vorschlag nach wie vor viele Mängel aufweist (z. B. ist zu befürchten, dass die Bestimmungen der Richtlinie, die sich nicht ausdrücklich auf KKMU erstreckt, de facto indirekt ausgeweitet werden  (1); die geringe Rolle der Arbeitnehmervertretungen) und unklare Rechtsbegriffe enthält (z. B. das Erfordernis „etablierter“ Geschäftsbeziehungen), die von den einzelstaatlichen Behörden und Gerichten unterschiedlich ausgelegt werden und zu Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmer und Unternehmen führen können. Er fordert daher einen ausgewogenen Dialog zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat, um diese Mängel zu beheben und für eine bessere Wirksamkeit des dann angenommenen Rechtsinstruments zu sorgen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

72

Nein-Stimmen:

107

Enthaltung:

12

ÄNDERUNGSANTRAG 2

SOC/727

Menschenwürdige Arbeit weltweit

Ziffer 1.12

Ändern:

von:

BLIJLEVENS René

GERSTEIN Antje Sabine

KONTKANEN Mira-Maria

MINCHEVA Mariya

MURESAN Marinel Dănuț

POTTIER Jean-Michel


Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Zudem fordert der EWSA sowohl die Unterstützung der EU für ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte als auch die Ausarbeitung eines IAO-Übereinkommens für menschenwürdige

Arbeit in Lieferketten.

Zudem fordert der EWSA sowohl die EU auf, ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte zu unterstützen, als auch die IAO, die Entwicklung und künftige Annahme relevanter und geeigneter Instrumente  (1) für menschenwürdige Arbeit in Lieferketten zu prüfen.

Ergebnis der Abstimmung: Über diesen Änderungsantrag wurde nicht abgestimmt, da er mit dem obenstehenden Änderungsantrag zu Ziffer 2.6 identisch ist.

Ja-Stimmen:

Neinstimmen:

Enthaltung:


(1)  Der EWSA hat sich bereits in seiner Stellungnahme REX/518 eingehend mit dieser Frage befasst: „Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte“, https://webapi2016.EESC.europa.eu/v1/documents/eesc-2019-01278-00-01-ac-tra-de.docx/content.

(1)  Der EWSA hat sich bereits in seiner Stellungnahme REX/518 eingehend mit dieser Frage befasst: „Ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte“, https://webapi2016.EESC.europa.eu/v1/documents/eesc-2019-01278-00-01-ac-tra-de.docx/content.

(2)   REX/462 „Menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“, Ziffer 1.9 (https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/decent-work-global-supply-chains-own-initiative-opinion).

(1)   INT/973 „Nachhaltige Unternehmensführung“ (https://www.eesc.europa.eu/en/our-work/opinions-information-reports/opinions/sustainable-corporate-governance), Ziffer 1.6.

(1)   INT/973 „Nachhaltige Unternehmensführung“ (https://www.eesc.europa.eu/en/our-work/opinions-information-reports/opinions/sustainable-corporate-governance), Ziffer 4.9.

(1)   REX/462 „Menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“, Ziffer 1.9 (https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/decent-work-global-supply-chains-own-initiative-opinion).


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/161


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum

„Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“

(COM(2022) 241 final)

(2022/C 486/22)

Berichterstatterin:

Mariya MINCHEVA

Befassung

Rat der Europäischen Union, 14.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 148 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.9.2022

Verabschiedung im Plenum

22.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

146/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält die vorgeschlagenen Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten für angemessen, da sie auf die dringendsten Probleme auf dem Arbeitsmarkt eingehen.

1.2.

Der EWSA weist auf die zunehmende Unsicherheit der aktuellen geopolitischen Lage hin. Ihre Auswirkungen auf die künftige Nachfrage dürften die Investitionsentscheidungen der Unternehmen und die Arbeitsplatzsicherheit beeinträchtigen und die Umsetzung von Investitionsplänen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor verzögern. Angesichts der hohen Inflation, der gestiegenen Energiepreise, die sich erheblich auf die Kaufkraft auswirken, und der erwarteten Rezession ist es umso mehr geboten, eine wettbewerbsfähige Grundlage für nachhaltige Investitionen zu schaffen. Die Mitgliedstaaten sollten auf einen wirklich integrierten Binnenmarkt hinarbeiten und kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in ihrer Entwicklung unterstützen.

1.3.

In diesen turbulenten Zeiten müssen Schritte unternommen werden, um sowohl die Rolle der Sozialpartner als auch ihre Teilhabe an der Gestaltung und Umsetzung beschäftigungs-, sozial- und wirtschaftspolitischer Reformen und Strategien — u. a. durch den Aufbau ihrer Kapazitäten — zu stärken. Dies ist auch für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne wichtig. Zivilgesellschaftliche Organisationen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales, Bildungsanbieter und Sozialdienstleister, Sozialunternehmen und Wohlfahrtsorganisationen benötigen günstige Rahmenbedingungen für die Erbringung ihrer Dienstleistungen für schutzbedürftige Gruppen.

1.4.

Da der Arbeitskräftemangel wieder zunimmt, sollten wirksame Maßnahmen ergriffen werden, damit sich die Sozialpartner auf nationaler Ebene mit dem Qualifikationsbedarf befassen. Dafür ist ein auf die einzelnen Sektoren und die lokalen Gegebenheiten zugeschnittenes Vorgehen erforderlich. Aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung und des grünen und des digitalen Wandels veralten zuvor erworbene Fähigkeiten und Kompetenzen immer schneller. Gleichzeitig wird der lebenslange Erwerb relevanter Fähigkeiten und Kompetenzen für Arbeitnehmer und Unternehmen immer wichtiger. Die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU und die legale Arbeitskräftemigration sollten gefördert werden.

1.5.

Der EWSA hält eine Kombination verschiedener politischer Instrumente und von den Sozialpartnern ausgehandelter Maßnahmen für erforderlich, um die Erwerbstätigenarmut zu verringern. Neben angemessenen Löhnen, einschließlich angemessener Mindestlöhne, können diese politischen Instrumente auch gut konzipierte und befristete finanzielle Anreize umfassen, die von gezielten und wirksamen Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen flankiert werden. Die Mitgliedstaaten sollten dazu angehalten und dabei unterstützt werden, diese Instrumente koordiniert umzusetzen.

1.6.

Gezielte Unterstützung ist vor allem für Langzeitarbeitslose und/oder Nichterwerbstätige wichtig, da sie deren Chancen auf einen Eintritt (bzw. eine Rückkehr) in den Arbeitsmarkt erhöhen und einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten können. Junge Menschen wurden von der Pandemie besonders hart getroffen. Deshalb sind speziell auf sie ausgerichtete, inklusive und zukunftsorientierte Strategien entscheidend, um sicherzustellen, dass junge Menschen nicht zurückgelassen werden.

1.7.

Zur Senkung der Nichterwerbsquote müssen arbeitsmarktferne Menschen wieder in die Beschäftigung gebracht werden. Verschiedene Arbeitsformen, Flexibilität und Telearbeit könnten bei angemessener Regulierung durch Rechtsvorschriften oder Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene wichtige Faktoren zur Unterstützung schutzbedürftiger Gruppen bei der Arbeitssuche sein. Die öffentlichen Arbeitsverwaltungen sollten gestärkt werden, u. a. durch die Digitalisierung ihrer Dienste und die Förderung der Zusammenarbeit mit privaten Arbeitsvermittlungen und anderen relevanten Arbeitsmarktakteuren.

1.8.

Die Mitgliedstaaten, insbesondere jene, die auf dem sozialpolitischen Scoreboard schlecht abschneiden, sollten auch mittels konsequenter Nutzung von EU-Mitteln zur Schaffung günstiger Rahmenbedingungen angehalten werden, um Arbeitgeber zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu veranlassen, oder ggf. Selbstständigkeit zu fördern. Einrichtungen der Sozialwirtschaft sind für die Unterstützung und Umsetzung diesbezüglicher Beschäftigungsprojekte von zentraler Bedeutung.

1.9.

Das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern muss beseitigt und die tieferen Ursachen dieses Problems sollten angegangen werden. Der Vorschlag für eine Richtlinie über Lohntransparenz, über den derzeit beraten wird, sollte dazu beitragen, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen für gleichwertige Arbeit als eine der Maßnahmen zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles zu stärken. Gleichzeitig muss den Bedenken hinsichtlich zusätzlicher Belastungen für Unternehmen und insbesondere KMU weiterhin Rechnung getragen werden.

1.10.

Angesichts der zunehmenden Bevölkerungsalterung, der steigenden Lebenserwartung und der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung müssen die Herausforderungen im Zusammenhang mit den Sozial- und Gesundheitssystemen in den Mitgliedstaaten sorgfältig geprüft werden, damit die Altersvorsorge angemessen und finanziell tragfähig bleibt. Es gilt, die Zahl der Erwerbstätigen durch inklusivere Arbeitsmärkte zu erhöhen, unter anderem durch Aktivierung von Gruppen, die derzeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder dort unterrepräsentiert sind.

1.11.

Unmittelbar nach Inkrafttreten der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz haben die Mitgliedstaaten rasch gehandelt und ihre nationalen Rechtsrahmen angepasst, um ukrainische Flüchtlinge und in der Ukraine lebende Drittstaatsangehörige, die infolge des Krieges nach Europa geflohen sind, unterstützen zu können. Jedwede Engpässe müssen beseitigt werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen und Hintergrund

2.1.

Das Europäische Semester kehrte im Zyklus 2022 zur umfassenden Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zurück. Dabei wurden weitere Anpassungen mit Blick auf die Anforderungen an die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität vorgenommen. Die im Mai 2022 veröffentlichten Länderberichte (1) enthalten eine Bewertung der Fortschritte bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und ihres Aktionsplans, der soziale Ziele und Indikatoren vorgibt. Diese sind integraler Bestandteil des Europäischen Semesters und der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne. Der Verweis auf das sozialpolitische Scoreboard macht es möglich, die Umsetzung des Aktionsplans gezielt zu überprüfen. Die länderspezifischen Empfehlungen wurden gestrafft.

2.2.

2021 waren die im Anhang des Beschlusses (EU) 2020/1512 enthaltenen Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten ohne jedwede Änderungen übernommen worden. 2022 hat die Europäische Kommission nun eine Reihe von Änderungen vorgeschlagen, die den jüngsten politischen Initiativen Rechnung tragen und mit denen neue Elemente im Zusammenhang mit der russischen Invasion in der Ukraine hinzugefügt werden. Der EWSA begrüßt, dass sich die Kommission auf das Umfeld nach der COVID-19-Pandemie konzentriert und nachhaltiges Wachstum sicherstellen möchte.

2.3.

Der Krieg in der Ukraine hat Versorgungsunterbrechungen und die Unsicherheit weiter verschärft. Die EU-Wirtschaft ist auch indirekt von der COVID-19-bedingten Gesundheitslage in anderen Regionen betroffen. Den Wirtschaftsprognosen für die EU zufolge ist nun insbesondere im Jahr 2022 mit einem geringeren Wachstum und einer höheren Inflation zu rechnen (2). Die Unternehmen (und deren Wettbewerbsfähigkeit) und die Haushalte (und deren Kaufkraft) geraten durch die hohen Inflationsraten und den starken Anstieg der Energie- und Gaspreise weiter unter Druck. Dies wird zwangsläufig die Fähigkeit einiger Unternehmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beeinträchtigen und die Sozialsysteme in den kommenden Monaten vor Probleme stellen. Daher sind gezielte Maßnahmen zur Unterstützung von Arbeitsmarktübergängen erforderlich.

2.4.

Die Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten sollte nicht nur darauf abzielen, Inklusion und Fairness zu gewährleisten, sondern auch den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen Rechnung tragen. Die Auswirkungen der Arbeitsmarktpolitik sind sorgfältig zu prüfen. Es gilt sicherzustellen, dass sie zu einem nachhaltigen Aufschwung führt — und nicht zu niedrigeren Beschäftigungsquoten, qualitativ schlechteren Arbeitsplätzen und geringerer Kaufkraft. Dem Arbeits- und Fachkräftemangel sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Anschließend sollten spezifische politische Empfehlungen und Initiativen im Einklang mit dem Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte vorgeschlagen werden.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.    Leitlinie 5: Ankurbelung der Nachfrage nach Arbeitskräften

3.1.1.

Nachhaltiges Wachstum, die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und die Erwerbsbeteiligung (auch von älteren und jüngeren Menschen, Frauen, arbeitsmarktfernen Menschen, Nichterwerbstätigen usw.) sind nach wie vor wichtige wirtschaftliche und soziale Herausforderungen in Europa. Diesbezüglich ist die Wettbewerbsgrundlage für Investitionen zu gewährleisten, wobei das Potenzial des grünen und des digitalen Wandels ausgeschöpft werden muss. Der EWSA unterstützt die Aufforderung der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, ein Unternehmensumfeld zu schaffen, mit dem verantwortungsvolles Unternehmertum und echte Selbständigkeit gefördert, Bürokratie abgebaut, ein wirklich integrierter und gut funktionierender Binnenmarkt angestrebt und KMU beim Wachstum unterstützt werden können. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass Kleinstunternehmen auch weiterhin unter Leitlinie 5 fallen.

3.1.2.

Die Nachfrage nach Arbeitskräften in der gesamten EU kann durch folgende Maßnahmen gesteigert werden: Erhöhung der Investitionen, insbesondere der produktiven Investitionen in Schlüsselsektoren der Wirtschaft; Verringerung der Belastung durch die Besteuerung des Faktors Arbeit, ohne den Sozialschutz zu schwächen und die Einkünfte für tragfähige Sozialsysteme zu schmälern; verstärkte Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Schattenwirtschaft; Ermöglichung vielfältiger, durch den Gesetzgeber oder tariflich regulierter Arbeitsformen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei gleichzeitiger Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den neuen Arbeitsformen, damit sie für die Arbeitnehmer attraktiv sind.

3.1.3.

Die zunehmende Unsicherheit der geopolitischen Lage und ihre Auswirkungen auf die künftige Nachfrage dürften sich auf die Investitionsentscheidungen der Unternehmen und die Arbeitsplatzsicherheit auswirken und die Umsetzung von Investitionsplänen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor verzögern. Aufgrund der Inflation sinken die Wachstumsraten und werden die Reallöhne voraussichtlich fallen, jedoch im nächsten Jahr wieder leicht ansteigen. Der EWSA nimmt die Auffassung der Kommission zur Kenntnis, dass in einigen Branchen bei Lohnvereinbarungen Sorgen über die Arbeitsplatzsicherheit weiterhin stärker ins Gewicht fallen werden als Lohnerhöhungen (3). Die Inflation übt Druck auf Lohnsteigerungen und die Kaufkraft aus. Um eine sehr gefährliche Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden und die Produktivität zu steigern, müssen die Sozialpartner ausreichend Spielraum haben, um die Tarifbindung und -praktiken auf Branchen- und Unternehmensebene zu verbessern. Dort könnten konkrete Maßnahmen ergriffen werden.

3.1.4.

Gleichzeitig sind strukturelle Arbeitsmarktmaßnahmen erforderlich, um hochwertige Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU und die legale Arbeitskräftemigration sollten gefördert werden. Der EWSA erwartet, dass das Paket „Legale Migration — Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern“ der Kommission vom 27. April 2022 eine wichtige Unterstützung für den EU-Arbeitsmarkt sein wird.

3.1.5.

Der EWSA begrüßt sowohl die Hervorhebung der Kreislaufwirtschaft als Sektor mit Potenzial für neue Arbeitsplätze als auch das Unterstützungsangebot für Branchen und Regionen, die aufgrund ihrer sektoralen Spezialisierung bzw. der regionalen Konzentration bestimmter Branchen besonders stark vom grünen Wandel betroffen sind.

3.1.6.

Der EWSA verweist auch auf die auf der 110. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz angenommene Entschließung über die Aufnahme des Grundsatzes einer sicheren und gesunden Arbeitsumgebung in die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation. Er betont zudem, dass ständig in die Kultur der Verhütung von Unfällen, Berufskrankheiten und Risiken am Arbeitsplatz investiert werden muss.

3.1.7.

Der EWSA sieht in angemessenen, entweder gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegten Mindestlöhnen ein wertvolles Instrument zur Bekämpfung der Erwerbstätigenarmut. Sie allein sind jedoch nicht ausreichend, es bedarf einer Kombination verschiedener politischer Instrumente. Diese politischen Instrumente können gut konzipierte und befristete finanzielle Anreize und ggf. eine Neugestaltung der Umverteilungswirkung des Steuersystems usw. umfassen. Finanzinstrumente sollten mit gezielten und wirksamen Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen kombiniert werden, da Geringqualifizierte einem höheren Erwerbstätigenarmutsrisiko ausgesetzt sind als Hochqualifizierte (19 % gegenüber 4,9 %) (4). Die Mitgliedstaaten sollten dazu angehalten und dabei unterstützt werden, diese Instrumente koordiniert umzusetzen.

3.1.8.

Die Autonomie der Sozialpartner und ihr Recht, auf freiwilliger Basis Tarifverhandlungen zu führen, sollten geachtet werden. Tarifverhandlungen und eine bessere tarifvertragliche Abdeckung bleiben das beste Instrument, um bei der Lohnfestsetzung ein angemessenes Gleichgewicht bezüglich der Fairness und der Anpassung der Löhne an Produktivitätsentwicklungen, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Sozialabgaben zu finden. Auch mit Blick auf gesetzliche Mindestlöhne ist eine wirksame Einbeziehung der Sozialpartner wichtig, um unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Gegebenheiten geeignete Strategien zur Förderung einer sozioökonomischen Aufwärtskonvergenz zu finden. Bei einer geringen tarifvertraglichen Abdeckung sollten die Mitgliedstaaten bestrebt sein, günstige Bedingungen für die Sozialpartner anzustreben, damit diese sie dann verbessern können.

3.1.9.

Die Einbeziehung der Sozialpartner hat sich während der COVID-19-Krise als äußerst hilfreich erwiesen. In diesen turbulenten Zeiten müssen Schritte unternommen werden, um sowohl die Rolle der Sozialpartner als auch ihre Teilhabe an der Gestaltung und Umsetzung beschäftigungs-, sozial- und wirtschaftspolitischer Reformen und Strategien — u. a. durch den Aufbau ihrer Kapazitäten — zu stärken. Dies ist auch für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne wichtig. Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen ist ebenfalls zu berücksichtigen.

3.2.    Leitlinie 6: Verbesserung des Arbeitskräfteangebots und des Zugangs zu Beschäftigung sowie des lebenslangen Erwerbs von Fähigkeiten und Kompetenzen

3.2.1.

Der EWSA begrüßt die Titeländerung der Leitlinie, um das Konzept des lebenslangen Lernens aufzunehmen. Aufgrund des raschen technologischen Wandels und des grünen und des digitalen Wandels veralten zuvor erworbene Kompetenzen und Fähigkeiten immer schneller. Der lebenslange Erwerb relevanter Fähigkeiten und Kompetenzen wird sowohl für Arbeitnehmer als auch für Unternehmen immer wichtiger. Deshalb ist es notwendig, die gemeinsame Verantwortung für lebenslanges Lernen am Arbeitsplatz zu bestimmen.

3.2.2.

Der EWSA begrüßt den vorgeschlagenen Ansatz, umfassende Unterstützungsmaßnahmen anzubieten, damit die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt besser bewältiget werden können. Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten (5) sind von entscheidender Bedeutung, um mit den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt Schritt halten zu können, und müssen während des gesamten Berufslebens gewährleistet und zugänglich sein (Grundsatz 1 der europäischen Säule sozialer Rechte). Der Mangel an Motivation für die Teilnahme an Schulungen ist jedoch nach wie ein ernstes Problem, für das Lösungen gesucht werden müssen. Den Sozialpartnern kommt bei der Bewertung des Kompetenzbedarfs besondere Bedeutung zu. Ausbildungsfonds sind für die Finanzierung arbeitsbezogener Schulungen wichtig. Bewährte nationale Verfahren sollten gefördert und zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden (6).

3.2.3.

Gezielte Unterstützung ist vor allem für Langzeitarbeitslose und/oder Nichterwerbstätige wichtig, da sie deren Chancen auf einen Eintritt (bzw. eine Rückkehr) in den Arbeitsmarkt erhöhen und einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten können. Die Mitgliedstaaten sollten ermutigt werden, den Zeitraum der Arbeitslosigkeit von 18 Monaten der Arbeitslosigkeit, der für die Kontaktaufnahme zu Langzeitarbeitslosen festgelegt wurde, zu verkürzen. Dringend erforderlich sind gezielte Maßnahmen, um junge Menschen für bestimmte Berufe zu gewinnen.

3.2.4.

Nach einem Rückgang während der COVID-19-Krise nimmt der Arbeitskräftemangel wieder zu (7). Das Fehlen zuverlässiger Kompetenzprognosen ist für Arbeitgeber in der gesamten EU ein enormes Problem. Investitionen in eine eng an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausgerichtete Erwachsenenbildung und Kompetenzentwicklung können für die wirtschaftliche Erholung und den Aufbau eines sozialen Europas maßgeblich sein.

3.2.5.

Dies gilt auch mit Blick auf die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Neben Sprachkursen sind Maßnahmen zur Erleichterung der Anerkennung bereits erworbener und für die Integration in den Arbeitsmarkt notwendiger Qualifikationen erforderlich. Daher begrüßt der EWSA die Leitlinien der Kommission für den Zugang zum Arbeitsmarkt, die berufliche Aus- und Weiterbildung und die Erwachsenenbildung für Menschen, die vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fliehen (8).

3.2.6.

Die für die Umsetzung der REPowerEU-Initiative erforderlichen Investitionen werden eng mit dem Bedarf an ausgebildeten Arbeitskräften verbunden sein. Bezüglich individueller Lernkonten (9) bekräftigt der EWSA seinen Standpunkt, dass die Entscheidung darüber, ob diese ein Instrument für die Bereitstellung und Finanzierung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sein sollten, vollständig Sache der Mitgliedstaaten bleiben muss. In jedem Fall muss der Zugang zu anerkannten und validierten Ausbildungskursen durch individuelle Lernkonten unterstützt werden. Die Rolle der Sozialpartner bei der Gestaltung und/oder Verwaltung einschlägiger Ausbildungsfonds ist äußerst wichtig.

3.2.7.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass das allgemeine Qualifikationsniveau in allen Mitgliedstaaten angehoben werden muss. Dies gilt insbesondere für die ersten Stufen im Bildungsweg, aber auch für sämtliche Phasen des Berufslebens. Wie im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2022 (10) zu Recht festgestellt, hat sich der positive Trend des Rückgangs der Quote der frühen Schulabgänger verlangsamt und ist zwischen 2015 und 2020 nur um 1,1 Prozentpunkte gesunken. Besonders wichtig ist es, die Systeme der Mitgliedstaaten für die berufliche Aus- und Weiterbildung am Arbeitsplatz und die Arbeitsmarktrelevanz der tertiären Bildung zu verbessern. Ebenso muss die Zahl der Absolventen — insbesondere weiblicher — von MINT-Programmen sowohl in der beruflichen Aus- und Weiterbildung als auch in der tertiären Bildung erhöht werden.

3.2.8.

Die Pandemie hat junge Menschen besonders hart getroffen: sie gehören zu den von der Wirtschafts- und Sozialkrise im Gefolge der Pandemie am stärksten beeinträchtigten Gruppen. Die COVID-19-Krise hat eine Dekade der Fortschritte bei der Beschäftigung junger Menschen zunichtegemacht. Um sich angemessen auf den Wandel der Arbeitswelt (Globalisierung, Klimakrise, demografischer Wandel und technologischer Fortschritt) vorzubereiten, müssen die Staaten und Institutionen die Auswirkungen jedes einzelnen Megatrends berücksichtigen. Speziell auf junge Menschen ausgerichtete, inklusive und zukunftsorientierte Maßnahmen sind entscheidend, um sicherzustellen, dass junge Menschen nicht zurückgelassen werden (11).

3.2.9.

Das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern ist in der EU weiterhin ein Problem. Dieses Gefälle ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, und seine Ursachen müssen beseitigt werden. Hierzu zählen die Segregation auf den Arbeitsmärkten und im Bildungswesen, Geschlechterstereotype, der mangelnde Zugang zu Kinderbetreuungs- und sonstigen Pflege- und Betreuungseinrichtungen und die ungleiche Verteilung von Haushalts- und Pflege- und Betreuungspflichten. Es gilt, sämtliche Formen von Lohndiskriminierung (auch altersbedingter) zu beseitigen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Lohntransparenz, der derzeit erörtert wird, sollte die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen für gleichwertige Arbeit als eine der Maßnahmen zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles zu stärken. Gleichzeitig muss er den Bedenken hinsichtlich zusätzlicher Belastungen für Unternehmen und insbesondere KMU Rechnung tragen.

3.3.    Leitlinie 7: Verbesserung der Funktionsweise der Arbeitsmärkte und der Wirksamkeit des sozialen Dialogs

3.3.1.

Um die Funktionsweise der Arbeitsmärkte zu verbessern, müssen die Aufgaben und Zuständigkeiten der verschiedenen Akteure (öffentliche Arbeitsverwaltungen und Sozialdienste) neu geordnet werden. Es muss geprüft werden, ob Partnerschaften eingerichtet werden können zwischen sozialen Diensten (Aktivierung arbeitsmarktferner Personen und deren Vorbereitung auf Schulungsprogramme), öffentlichen Arbeitsverwaltungen (maßgeschneiderte aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen mit Mechanismen zur Arbeitsplatzerhaltung und Orientierungs- und Beratungsdiensten) und privaten Arbeitsvermittlungen (gemeinsame und/oder ergänzende Maßnahmen, z. B. gemeinsame Datenbank für offene Stellen). Die Effizienz der Strategien muss bewertet und diese müssen ggf. überdacht und neu gestaltet werden. Die Kapazitäten der öffentlichen Arbeitsverwaltungen sollten, u. a. durch die Digitalisierung ihrer Dienste, verbessert werden. Die Zusammenarbeit mit privaten Arbeitsvermittlungen und anderen relevanten Arbeitsmarktakteuren sollte ebenfalls gefördert werden.

3.3.2.

Den Sozialpartnern kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, insbesondere auf den lokalen Arbeitsmärkten und in Branchen, die sich im Wandel befinden. Dort können sie zu reibungslosen Übergängen zwischen Branchen, Arbeitsplätzen und/oder Berufen beitragen. Auch die Organisationen der Zivilgesellschaft spielen eine wichtige Rolle, da sie über spezifisches Fachwissen in verschiedenen Beschäftigungsformen (insbesondere für schutzbedürftige Gruppen) und sozialen Fragen verfügen. Zudem erbringen sie Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in den Bereichen Bildung und Soziales.

3.3.3.

Die Nichterwerbsquote ist in der gesamten EU immer noch relativ hoch (12). Nun gilt es, arbeitsmarktfernere Menschen wieder in die Beschäftigung zu bringen. Verschiedene Arbeitsformen, Flexibilität und Telearbeit sind bei angemessener Regulierung auf nationaler Ebene durch Rechtsvorschriften oder Tarifverhandlungen, die faire Arbeitsbedingungen gewährleisten, wichtige Faktoren zur Unterstützung insbesondere schutzbedürftiger Gruppen bei der Arbeitssuche. Soziale Infrastrukturen und Dienste wie Kinderbetreuung oder Langzeitpflege ermöglichen es Menschen mit Betreuungs- und Pflegepflichten, den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erwägen.

3.3.4.

Die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern ist Voraussetzung, um faire, transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten zu fördern. Der EWSA teilt die Auffassung, dass Beschäftigungsverhältnisse mit informellen und unsicheren Arbeitsbedingungen verhindert werden sollten. Dies betrifft auch die Plattformarbeit, für die derzeit über einen Richtlinienvorschlag verhandelt wird. Nach Auffassung des EWSA sollten sämtliche Maßnahmen zur Regulierung neuer Arbeitsmodelle wie etwa der Plattformarbeit auf der jeweils entsprechenden europäischen bzw. nationalen Ebene flexible Arbeitsregelungen regulieren und zugleich die grundlegenden Garantien für einen angemessenen Arbeitnehmerschutz vorsehen. Auch hier ist der wichtigen Funktion der Sozialpartner Rechnung zu tragen.

3.4.    Leitlinie 8: Förderung von Chancengleichheit für alle, Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung der Armut

3.4.1.

Die Förderung der Chancengleichheit aller sowie inklusiver Arbeitsmärkte ist gerade jetzt, da sich Europa in einer Reihe von Krisen befindet, besonders wichtig. Dies gilt sowohl im Hinblick auf das im Aktionsplan für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte festgelegte Ziel, dass 78 % der Erwerbsbevölkerung einer Beschäftigung nachgehen, als auch für die Bewältigung des Arbeitskräftemangels. Dies gilt zudem für alle auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentierten Menschen, aber auch angesichts der großen Zahl von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Unmittelbar nach Inkrafttreten der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz haben die Mitgliedstaaten rasch gehandelt und ihre nationalen Rechtsrahmen angepasst, um ukrainische Flüchtlinge und in der Ukraine lebende Drittstaatsangehörige, die infolge des Krieges nach Europa geflohen sind, unterstützen zu können. Jedwede Engpässe müssen beseitigt werden.

3.4.2.

Es bedarf eines maßgeschneiderten Konzepts für verschiedene schutzbedürftige Gruppen (d. h. ältere Arbeitnehmer, (junge) Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Betreuungs- und Pflegepflichten, Langzeitarbeitslose und Menschen mit lückenhafter Erwerbsbiografie, Personen, die weder arbeiten noch eine Schule besuchen oder eine Ausbildung absolvieren (NEET), Migranten usw.). Den Beschäftigungsunterschieden zwischen ländlichen und städtischen Gebieten sollte ebenfalls Rechnung getragen werden. Die EU-Mittel sollten als Hebel eingesetzt werden, um die Mitgliedstaaten, insbesondere jene, die auf dem sozialpolitischen Scoreboard schlechter abschneiden, zu ermutigen, Arbeitgeber durch Anreize zu veranlassen, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit zu fördern. Gute Arbeit ist das beste Mittel zur Armutsbekämpfung und zur Wahrung der Menschenwürde.

3.4.3.

Befristete Sozialleistungen und Einkommensbeihilfen sollten so lange wie notwendig gezahlt werden, um Arbeitslose oder Geringverdiener zu neuen und besseren Beschäftigungsmöglichkeiten zu führen. Lohnergänzungsleistungen (13) können zusammen mit strukturellen Maßnahmen die Eingliederung schutzbedürftiger Gruppen in den Arbeitsmarkt erleichtern, sollten jedoch als Übergangsmaßnahme zur Soforthilfe und ergänzend eingesetzt werden, da vielmehr eine angemessene Lohnpolitik, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, gefördert und unterstützt werden sollte.

3.4.4.

Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind wichtig, insbesondere als Arbeitsplatz für Berufseinsteiger aus den schwächsten Bevölkerungsgruppen und für die Erbringung von Dienstleistungen auf regionaler Ebene. Der EWSA begrüßt den EU-Aktionsplan für die Sozialwirtschaft und fordert die Kommission auf, Initiativen zur Bewertung der besten Projekte auf nationaler Ebene vorzusehen.

3.4.5.

Der Schwerpunkt auf Kinder wird besonders begrüßt. Kinderarmut sollte durch umfassende und integrierte Maßnahmen bekämpft und die Umsetzung der Garantie für Kinder sollte gefördert werden. Der Ausschuss stimmt voll und ganz zu, dass das Angebot erschwinglicher, zugänglicher und hochwertiger Dienstleistungen wie frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung, außerschulische Betreuung, allgemeine Bildung, Berufsbildung, Wohnraum sowie Gesundheitsdienste und Langzeitpflege, entscheidende Voraussetzungen sind, um Kinderarmut zu verringern und Chancengleichheit zu gewährleisten. Der wirksame Zugang zu hochwertigen, auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittenen sozialen Dienstleistungen sollte generell verbessert werden. Die COVID-19-Krise hat ein Schlaglicht auf dieses Thema geworfen, nach Ende der Pandemie darf es nicht in Vergessenheit geraten.

3.4.6.

Gleichzeitig erschweren der grüne Wandel im Zuge der Energiewende und insbesondere der jüngste Anstieg der Energiepreise das Leben für schutzbedürftige Gruppen zusätzlich (14). Trotz politischer Zusagen bleibt noch viel zu tun, um die Energiearmut zu bekämpfen und sicherzustellen, dass die ergriffenen Maßnahmen zielgerichtet und wirksam sind.

3.4.7.

Die zunehmende Bevölkerungsalterung und die gestiegene Lebenserwartung führt gepaart mit der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung dazu, dass immer mehr ältere Menschen finanziell abhängig sein werden, wenn es uns nicht gelingt, die Erwerbsbevölkerung durch integrativere Arbeitsmärkte auszuweiten und dabei auch Gruppen zu aktivieren, die derzeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bzw. dort unterrepräsentiert sind. Die Probleme der Sozial- und Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten müssen durch entsprechende Maßnahmen bewältigt werden. Angemessene und finanziell tragfähige Rentensysteme für alle sind in allen Mitgliedstaaten eine zentrale politische Herausforderung. Der EWSA begrüßt den von der Kommission vorgeschlagenen umfassenden Ansatz für die Chancengleichheit von Männern und Frauen beim Erwerb von Rentenansprüchen. Notwendig sind Strategien für aktives Altern, um die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen zu fördern und das geschlechtsspezifische Rentengefälle zu verringern. Der EWSA betont, dass fragmentierte Beschäftigungszeiten während des aktiven Arbeitslebens der Menschen vermieden werden müssen, um die Sozialversicherungssysteme durch regelmäßige Beiträge zu unterstützen und sicherzustellen, dass die Menschen im Ruhestand auch Anspruch auf angemessene Rentenbezüge haben.

Brüssel, den 22. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäisches Semester 2022: Länderberichte.

(2)  European Economic Forecast. Spring 2022.

(3)  Spring 2022 Economic Forecast: Russian invasion tests EU economic resilience.

(4)  Gemeinsamer Beschäftigungsbericht 2022.

(5)  Siehe auch ABS-Studie The work of the future: ensuring lifelong learning and training of employees.

(6)  EWSA-Stellungnahme „Paket ‚Lernen und Beschäftigungsfähigkeit‘“ (ABl. C 323 vom 26.8.2022, S. 62).

(7)  Gemeinsamer Beschäftigungsbericht 2022.

(8)  C(2022) 4050 final.

(9)  Empfehlung des Rates zu individuellen Lernkonten.

(10)  Annahme durch den Rat am 14. März 2022.

(11)  Der EWSA erarbeitet derzeit einen Informationsbericht über die „Gleichbehandlung junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt“.

(12)  Die höchste Nichterwerbsquote ist in Italien zu verzeichnen (über 37 % im Jahr 2021). Auch Kroatien, Rumänien, Griechenland und Belgien weisen Nichterwerbsquoten von über 30 % auf. Weitere Daten zur nicht erwerbstätigen Bevölkerung in Europa sind hier verfügbar.

(13)  Die OECD definiert Lohnergänzungsleistungen als dauerhafte Steuergutschriften, Steuervergünstigungen oder gleichwertige Systeme für arbeitsbedingte Leistungen, die dem doppelten Zweck dienen, Erwerbstätigenarmut zu verringern und die Arbeitsanreize für einkommensschwache Arbeitnehmer zu erhöhen.

(14)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Klima-Sozialfonds“ (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158).


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/168


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung“

(COM(2022) 349 final)

(2022/C 486/23)

Hauptberichterstatter:

Maurizio MENSI

Ko-Hauptberichterstatter:

Jan PIE

Befassung

Rat, 22.7.2022

Europäisches Parlament, 12.9.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 173 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beratende Kommission für den industriellen Wandel

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/1/13

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung des Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (im Folgenden „das Instrument“), um die Verteidigungsindustrie und die Verteidigungsfähigkeiten Europas angesichts der unmittelbaren Herausforderungen, die sich aus der russischen Invasion der Ukraine ergeben, rasch zu stärken.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Ziele des Instruments, die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung (EDTIB) im Hinblick auf Effizienz und rasche Reaktion auf Notfälle für eine resilientere Union zu verbessern und die Zusammenarbeit und Interaktion der Mitgliedstaaten bei der Beschaffung von Verteidigungsgütern zu fördern. Beide Ziele sind wichtiger denn je in einer Situation, in der in Europa wieder Krieg herrscht und die Gesellschaft im Allgemeinen auch mit Blick auf mögliche künftige Spannungen auf strategischer Ebene angemessen geschützt werden muss.

1.3.

Der EWSA hält das Instrument für nützlich, um die derzeitige hohe Nachfrage nach dringend benötigten marktüblichen Standardausrüstungen besser zu strukturieren und zu ordnen. Es kann aber nicht als Vorläufer eines künftigen Programms für europäische Verteidigungsinvestitionen betrachtet werden, da es in industriepolitischer Hinsicht eher schwache Impulse gibt.

1.4.

Der EWSA stimmt zu, dass Maßnahmen erforderlich sind, um die Anpassung der Industrie an strukturelle Veränderungen, einschließlich des Ausbaus ihrer Produktionskapazitäten, in kooperativer Weise zu beschleunigen, damit die europäische Industrie die gestiegene Nachfrage der Mitgliedstaaten zeitnah befriedigen kann.

1.5.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass eine gemeinsame Beschaffung erforderlich ist, um zu verhindern, dass höhere nationale Investitionen im Verteidigungsbereich die Fragmentierung des europäischen Verteidigungssektors vertiefen, das Kooperationspotenzial schmälern, externe Abhängigkeiten verstärken und die Interoperabilität beeinträchtigen. Es muss vielmehr sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten ihren dringendsten Bedarf an Fähigkeiten, der durch die Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine offenbart oder verschärft wurde, rasch decken können.

1.6.

Gleichzeitig meint der EWSA, dass die Wiederauffüllung der Bestände häufig bedeutet, dass in die Ukraine versandte Erzeugnisse durch genau dieselben Produkte ersetzt werden. Solche Käufe haben womöglich weder eine wesentliche strukturierende Wirkung auf die Industrie noch treiben sie die technische Innovation voran. Der EWSA fragt sich daher, ob das Instrument von seiner Konzeption her ohne Weiteres auf ein künftiges Programm für europäische Verteidigungsinvestitionen (EDIP) ausgedehnt werden sollte.

1.7.

Der EWSA begrüßt den Ansatz, Anreize für eine gemeinsame Beschaffung durch direkte finanzielle Unterstützung aus dem EU-Haushalt zu geben. Er bezweifelt jedoch, dass die Finanzausstattung von 500 Mio. Euro ausreicht, um die Mitgliedstaaten in ihren Beschaffungsentscheidungen zu beeinflussen.

1.8.

Der EWSA fragt sich, ob es sinnvoll ist, die finanzielle Unterstützung für technische und administrative Hilfe bei der Durchführung des Instruments einzusetzen oder auch Zuschüsse in Form von nicht an Kosten geknüpften Finanzierungen zu gewähren; er ruft die beiden gesetzgebenden Organe daher auf, diese Methode zu präzisieren, damit die Wirksamkeit der EU-Ausgaben sichergestellt ist.

1.9.

Der EWSA begrüßt, dass sich die finanzielle Unterstützung der EU auf die Beschaffung von Verteidigungsgütern beschränkt, die in der EU oder assoziierten Ländern hergestellt werden, und befürwortet die besonderen Bedingungen für von Drittländern kontrollierte EU-Unternehmen. Eine solche Beschränkung liegt im Interesse der europäischen Steuerzahler und ist notwendig, um das Ziel der Stärkung der industriellen Fähigkeiten Europas im Bereich der Verteidigung zu erreichen, und steht im Einklang mit dem Ziel der strategischen Autonomie.

1.10.

Gleichzeitig dringt der EWSA auf eine flexible Auslegung des Erfordernisses, dass das Verteidigungsgut keiner Beschränkung durch ein nicht assoziiertes Drittland (oder eine Einrichtung eines solchen Landes) unterliegen darf. Angesichts dessen, dass sich das Instrument auf die Beschaffung marktüblicher Standardausrüstung bezieht und den dringendsten Produktbedarf decken soll, hält der EWSA diese Anforderung für das Instrument für weniger relevant als für den Europäischen Verteidigungsfonds, der auf die Entwicklung künftiger Fähigkeiten abzielt. Sie sollte daher umsichtig eingesetzt werden, wobei das Streben nach mehr Autonomie gegen die Dringlichkeit der Beschaffung und die Notwendigkeit der Interoperabilität mit bestehenden Ausrüstungen abzuwägen ist.

1.11.

Der EWSA befürwortet die geplante Umsetzung im Rahmen der direkten Mittelverwaltung. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass die zuständigen Dienststellen der Kommission rechtzeitig das erforderliche Personal erhalten, damit sie die damit verbundene Arbeitsbelastung bewältigen können.

1.12.

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten auf, eng mit der von der Europäischen Kommission und dem Hohen Vertreter/Leiter der Europäischen Verteidigungsagentur eingerichteten Task Force für die gemeinsame Beschaffung im Verteidigungsbereich zusammenzuarbeiten, um die erfolgreiche Umsetzung des Instruments zu gewährleisten.

2.   Hintergrund

2.1.

Auf ihrer Tagung vom 11. März 2022 in Versailles erklärten die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Absicht, angesichts der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine „die Verteidigungsfähigkeiten Europas zu stärken“. In der Erklärung von Versailles heißt es, dass die Mitgliedstaaten die Verteidigungsausgaben steigern, die Zusammenarbeit durch gemeinsame Projekte intensivieren, Defizite beheben und Fähigkeitenziele erreichen, Innovationen fördern, auch durch zivil-militärische Synergien, und die Verteidigungsindustrie der EU stärken sollten. Überdies ersuchte der Rat die Kommission, „in Abstimmung mit der Europäischen Verteidigungsagentur eine Analyse der Defizite bei den Verteidigungsinvestitionen bis Mitte Mai vorzulegen und jegliche weiteren Initiativen vorzuschlagen, die erforderlich sind, um die industrielle und technologische Basis der europäischen Verteidigung zu stärken.“

2.2.

Auf dieses Ersuchen hin legten die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter am 18. Mai 2022 eine gemeinsame Mitteilung über die Analyse der Defizite bei den Verteidigungsinvestitionen und die nächsten Schritte vor. In der Gemeinsamen Mitteilung wird darauf hingewiesen, dass jahrelang erhebliche unzureichende Investitionen in die Verteidigung zu Defiziten bei der Industrie und den Fähigkeiten in der EU und zu den derzeitigen niedrigen Beständen an Verteidigungsgütern führten. Die Verbringungen von Verteidigungsgütern in die Ukraine führten in Verbindung mit an Friedenszeiten angepassten Beständen zum Entstehen dringlicher, kritischer Defizite bei Rüstungsgütern.

2.3.

In der Gemeinsamen Mitteilung wird darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten angesichts der Sicherheitslage und der bereits erfolgten Verbringungen in die Ukraine die Verteidigungsfähigkeit dringend wiederherstellen müssen. Die Wiederauffüllung der Materialbestände würde es ihnen auch ermöglichen, der Ukraine weitere Hilfe zu leisten. Gleichzeitig werden die Mitgliedstaaten in der Gemeinsamen Mitteilung aufgefordert, die Beschaffung der erforderlichen Verteidigungsgüter und des erforderlichen Materials gemeinsam vorzunehmen. Durch die gemeinsame Beschaffung dringend benötigter Produkte ließe sich ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis erreichen und die Interoperabilität verbessern, und zudem würde vermieden, dass es den exponierten EU-Mitgliedstaaten nicht möglich ist, das Benötigte zu beschaffen, weil kollidierende Nachfragen bei der Verteidigungsindustrie eingehen, die einen solchen Nachfrageschub auf die Schnelle nicht erfüllen kann.

2.4.

Vor diesem Hintergrund wird in der Gemeinsamen Mitteilung vorgeschlagen, durch ein spezielles kurzfristiges Instrument über den EU-Haushalt Anreize für eine gemeinsame Beschaffung zu geben. Die durch das Instrument bereitgestellte finanzielle Unterstützung durch die EU soll Verfahren zur kooperativen Beschaffung von Verteidigungsgütern durch die Mitgliedstaaten fördern, der technologischen und industriellen Basis der europäischen Verteidigung zugutekommen und zugleich die Handlungsfähigkeit der Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten, die Versorgungssicherheit und eine größere Interoperabilität sicherstellen.

2.5.

Angesichts der Dringlichkeit der Lage hat die Kommission am 19. Juli 2022 einen Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung des Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung vorgelegt. Die Kommission hofft auf eine rasche Annahme der Verordnung und ihr Inkrafttreten noch vor Ende 2022.

2.6.

Im Anschluss an die Einrichtung des Instruments wird die Kommission eine Verordnung über ein Programm für europäische Verteidigungsinvestitionen (European Defence Investment Programme, EDIP) vorschlagen. Diese EDIP-Verordnung könnte, so die Kommission, als Dreh- und Angelpunkt für künftige gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte von hohem gemeinsamen Interesse für die Sicherheit der Mitgliedstaaten und der Union und, in Fortführung der Logik des kurzfristigen Instruments, für damit zusammenhängende mögliche Finanzbeiträge der Union zur Stärkung der industriellen Basis der europäischen Verteidigung dienen, insbesondere bei Projekten, die kein Mitgliedstaat allein entwickeln oder beschaffen könnte.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der geopolitische Kontext der Union hat sich mit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine radikal verändert. Dass auf europäischem Boden wieder territoriale Konflikte ausgetragen werden und intensive Kampfhandlungen stattfinden, zwingt die Mitgliedstaaten, ihre Verteidigungspläne und -kapazitäten zu überdenken. Dies muss mit einer Anpassung der zugrundeliegenden industriellen und technologischen Basis einhergehen, die befähigt werden muss, die Streitkräfte der Mitgliedstaaten als grundlegendes Instrument einer gefestigten Demokratie zum Schutz der Freiheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen und zu stärken.

3.2.

Der EWSA begrüßt die angekündigten Erhöhungen der Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten, um dringende militärische Lücken rasch zu schließen. Ohne Koordinierung und Zusammenarbeit drohen diese Ausgabenerhöhungen jedoch die Fragmentierung des europäischen Verteidigungssektors zu vertiefen, das Potenzial für eine Zusammenarbeit während des gesamten Lebenszyklus der beschafften Ausrüstung zu schmälern und die Interoperabilität zu beeinträchtigen. Darüber hinaus haben Entscheidungen über kurzfristige Ankäufe häufig eine längerdauernde Wirkung auf die Marktstärke der technologischen und industriellen Basis der europäischen Verteidigung und auf ihre Marktchancen in den nächsten Jahrzehnten.

3.3.

Der EWSA unterstützt daher die Initiative, Anreize für die gemeinsame Beschaffung der am dringendsten benötigten Verteidigungsgüter zu schaffen. Besonders wichtig erscheint eine gemeinsame Beschaffung in der aktuellen Situation, in der ein plötzlicher Anstieg der Nachfrage nach ähnlichen Produkten auf eine weiter auf Friedenszeiten zugeschnittene industrielle Angebotsseite trifft, die folglich Schwierigkeiten hat, die Nachfrage zu befriedigen. Die Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Verteidigungsgütern ist daher notwendig, um die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, die Interoperabilität zu verbessern, Verdrängungseffekte zu verhindern und die Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben zu erhöhen.

3.4.

Ebenso wichtig ist es, die Industrie bei der Anpassung an die strukturellen Veränderungen des neuen Sicherheitsumfelds zu unterstützen. Da die nötige Stärkung der militärischen Fähigkeiten Europas eine langfristige Aufgabe ist und die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine über längere Zeit erforderlich sein kann, müssen die Produktionskapazitäten der EDTIB hochgefahren werden. Dies ist unumgänglich, um die derzeit hohe Nachfrage zu bewältigen, aber auch in anderer Hinsicht.

3.5.

In diesem Zusammenhang hält der EWSA das vorgeschlagene Instrument in seinem Ansatz, seinem Anwendungsbereich und seiner Finanzausstattung für zu begrenzt, als dass es spürbar zur Stärkung der industriellen Kapazitäten Europas beitragen könnte. Die Bestandsauffüllung begrenzt an sich schon die Auswahl von Produkten und Lieferanten, und 500 Mio. Euro für 27 Mitgliedstaaten über einen Zeitraum von zwei Jahren sind eine eher bescheidene Investition.

3.6.

Kurz gesagt ist der EWSA der Auffassung, dass die vorgeschlagene Verordnung einen nützlichen Beitrag zur besseren Strukturierung und Steuerung der derzeitigen hohen Nachfrage nach dringend benötigen marktüblichen Standardausrüstungen leisten kann, dass sie aber in industriepolitischer Hinsicht eher schwache Impulse gibt. Daher meint der EWSA, dass das Instrument nicht unbedingt als Vorläufer eines künftigen Programms für europäische Verteidigungsinvestitionen betrachtet werden kann, das laut Ankündigung der Unterstützung der gemeinsamen Beschaffung gemeinsam entwickelter Systeme während ihres gesamten Lebenszyklus dienen soll.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Gemäß dem Vorschlag wird das Instrument die Arbeit der von der Kommission und dem Hohen Vertreter/Leiter der Europäischen Verteidigungsagentur eingesetzten Task Force für die gemeinsame Beschaffung im Verteidigungsbereich berücksichtigen. Die Task Force soll die Koordinierung des sehr kurzfristigen Beschaffungsbedarfs der Mitgliedstaaten erleichtern und mit den Mitgliedstaaten und den Herstellern von Verteidigungsgütern in der EU zusammenarbeiten, um die gemeinsame Beschaffung zur Bestandsauffüllung zu unterstützen. Die Arbeit dieser Task Force ist daher für den Erfolg des Instruments von ausschlaggebender Bedeutung, weswegen der EWSA die Mitgliedstaaten auffordert, sie in vollem Umfang zu nutzen.

4.2.

Der EWSA bezweifelt, dass die vorgeschlagene Mittelausstattung groß genug ist, um die Beschaffungsentscheidungen der Mitgliedstaaten erheblich zu beeinflussen. Gleichzeitig ist sich der Ausschuss des finanziellen Drucks auf den derzeitigen MFR und der Notwendigkeit zusätzlicher Mittel für ein künftiges EDIP voll und ganz bewusst. Vor diesem Hintergrund wird es ganz besonders darauf ankommen, die begrenzten Mittel des Instruments auf die wichtigsten gemeinsamen Beschaffungen zu konzentrieren.

4.3.

Im Hinblick auf Haushaltszwänge und Projektauswahl ist aus Sicht des EWSA fraglich, wie das Konzept der nicht an Kosten geknüpften Finanzierungen in der Praxis auf die in dem Instrument anvisierten Ankäufe angewandt werden kann. Der EWSA fragt sich auch, ob es sinnvoll ist, das Budget für technische und administrative Hilfe für die Durchführung des Instruments einzusetzen.

4.4.

Der EWSA befürwortet die geplante Umsetzung im Rahmen der direkten Mittelverwaltung. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass die zuständigen Dienststellen der Kommission rechtzeitig das erforderliche Personal erhalten, damit sie die damit verbundene Arbeitsbelastung bewältigen können.

4.5.

Der EWSA stimmt den Förderkriterien der vorgeschlagenen Verordnung zu, insbesondere der Möglichkeit, bereits bestehende Beschaffungsverträge auszuweiten.

4.6.

Der EWSA unterstützt auch die zusätzliche Bedingung, die EU-Finanzierung auf die Beschaffung von Ausrüstung zu beschränken, die in der EU oder in assoziierten Ländern hergestellt wurde, auch durch von Drittländern (oder dort ansässigen Einrichtungen) kontrollierte Unternehmen, die Sicherheitsgarantien des Mitgliedstaats, in dem sie ansässig sind, bieten können. Diese Bedingung entspricht den einschlägigen Bestimmungen des Europäischen Verteidigungsfonds und dient der Verwirklichung des Ziels der Stärkung der technologischen und industriellen Basis der europäischen Verteidigung.

4.7.

Gleichzeitig hinterfragt der EWSA das Erfordernis, dass das Verteidigungsgut keiner Beschränkung durch ein nicht assoziiertes Drittland (oder eine Einrichtung eines solchen Landes) unterliegen darf. Angesichts dessen, dass sich das vorgeschlagene Instrument auf die Beschaffung von Ausrüstung aus den Beständen bezieht und den dringendsten Produktbedarf decken soll, ist diese Anforderung für das Instrument weniger relevant als für den Europäischen Verteidigungsfonds, der auf die Entwicklung künftiger Fähigkeiten abzielt und bei dem die technologische Souveränität ein erklärtes Ziel ist. Der EWSA dringt daher auf eine flexible Auslegung dieser Bestimmung, so dass es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, das Streben nach operationeller Freiheit gegen die Dringlichkeit der Beschaffung und die Interoperabilität mit bestehenden Ausrüstungen abzuwägen.

4.8.

Schließlich hinterfragt der EWSA die Eignung bestimmter vorgeschlagener Zuschlagskriterien, insbesondere derjenigen, die die positive Wirkung der Beschaffung auf die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung betreffen. Da der Schwerpunkt auf dem dringendsten Bedarf und der Beschaffung auf dem Markt schnell verfügbarer Standardausrüstung liegt, ist diese Wirkung für die Mitgliedstaaten wahrscheinlich kein gewichtiges Kriterium, es sei denn, der Auftragnehmer hat seinen Sitz in ihrem Hoheitsgebiet. Darüber hinaus wird es für den beschaffenden Mitgliedstaat sicher schwierig sein, die positiven Auswirkungen auf die EDTIB nachzuweisen, insbesondere wenn Eile geboten ist.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/172


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Programms der Union für sichere Konnektivität für den Zeitraum 2023-2027“

(COM(2022) 57 final — 2022/0039 (COD))

und „Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Ein Ansatz der EU für das Weltraumverkehrsmanagement — Ein Beitrag der EU zur Bewältigung einer globalen Herausforderung“

(JOIN(2022) 4 final)

(2022/C 486/24)

Berichterstatter:

Pierre Jean COULON

Befassung

Europäische Kommission, 2.5.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 189 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

222/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass die Mitteilung und der Vorschlag, die den Anfang des europäischen Weltraumpakets bilden, gerade jetzt notwendig und unverzichtbar sind. Er empfiehlt, in der Gemeinsamen Mitteilung im Zuge einer aktiven Diplomatie nachdrücklich ein multilaterales Weltraumverkehrsmanagement (STM) unter dem Dach der Vereinten Nationen — namentlich des Weltraumausschusses (COPUOS) und der Abrüstungskonferenz — zu fördern, da die Regelungen in diesem Bereich nicht ausreichen.

1.2.

Da das Management des Weltraumverkehrs (einschließlich des Weltraummülls) absolute Priorität hat, ist die Beteiligung aller Akteure auf europäischer Ebene notwendig. Wie in der Gemeinsamen Mitteilung festgestellt und in dieser Stellungnahme dargelegt, besteht das Hauptproblem des Flickenteppichs der STM-Programme in der fehlenden internationalen Normung. Es liegt deshalb auf der Hand, dass internationale Normen, Leitlinien und bewährte Verfahren entwickelt werden müssen.

1.3.

Der EWSA befürwortet die konkrete Umsetzung eines Weltraumüberwachungssystems, um die langfristige Nachhaltigkeit des Weltraums für alle Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Der zweite maßgebliche Grundsatz des Weltraumrechts ist nämlich die Verantwortung der einzelnen Akteure für ihre Weltraumaktivitäten. Es handelt sich hierbei um die internationale Verantwortung für die Kontrolle der Aktivitäten und um die Haftung für durch diese Weltraumaktivitäten entstandene Schäden. In der Gemeinsamen Mitteilung geht es also um Fragen der internationalen Verantwortung für die Kontrolle dieser Tätigkeiten.

1.4.

Der EWSA bedauert das Fehlen einer internationalen Normung und empfiehlt, auf europäischer Ebene unter Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft Normen (u. a. für den Umgang mit Satellitenschrott) sowie Leitlinien festzulegen.

Die Konkurrenz zwischen den bisher hauptsächlich staatlichen Weltraumakteuren und jenen privaten oder öffentlichen Akteuren, die eine solche maßgebliche Rolle anstreben, erfordert eine tiefgreifende Reform der internationalen Normen, die noch aus der Zeit stammen, als nur eine kleine Gruppe technologischer und industrieller Mächte im Weltraum aktiv war.

1.5.

In der ergänzenden Stellungnahme CCMI/196 zum Thema „New Space“ wird Folgendes betont:

Es sollten Synergien mit dem Europäischen Verteidigungsfonds entwickelt und die Interaktion zwischen der zivilen, der Weltraum- und der Verteidigungsindustrie gestärkt werden.

Das Rahmenprogramm Horizont Europa sollte genutzt werden, um den Weltraummarkt zu stimulieren, die Entwicklung innovativer kommerzieller Lösungen für den nach- und vorgelagerten Weltraumsektor der EU zu unterstützen und die erforderlichen Schlüsseltechnologien schneller verfügbar zu machen.

Bildungs- und Ausbildungstätigkeiten sind für den Erwerb fortgeschrittener Kompetenzen in weltraumbezogenen Bereichen von wesentlicher Bedeutung, und die im Rahmen früherer Konstellationsprojekte wie Galileo und Copernicus gesammelten Erfahrungen können zur Verbesserung des weltraumgestützten Konnektivitätssystems genutzt werden.

Hinsichtlich der Governance dürfte die Zuweisung von Zuständigkeiten an die besten Akteure auf der Grundlage nachgewiesener Kompetenz und unter Einhaltung der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge eine wirksame Programmdurchführung gewährleisten und zugleich die Entstehung eines „New Space“ fördern.

Darüber hinaus bildet die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die Grundlage der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit zugunsten von KMU, Start-up- und innovativen Unternehmen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Der Weltraum ist heute in vielerlei Hinsicht ein zusätzliches Wirtschaftsgebiet. Durch beschleunigte öffentliche und private Investitionen kommt es zu einer Verdichtung der Aktivitäten im Weltraum, der nunmehr eine große geostrategische Herausforderung darstellt. Der technologische Wettbewerb, die Gründung von Start-ups im Weltraumsektor, die Erschließung neuer Märkte und Dienstleistungen sowie das Bestreben von Staaten und privaten Betreibern, die Weltraumaktivitäten zu verstärken, führen zu einer intensiveren Nutzung des Weltraums.

2.2.

Trotz der strategischen Bedeutung des Weltraums fehlen eine globale Behörde, verbindliche Gesetze für niedrige und geostationäre Umlaufbahnen ebenso wie eine Regulierung bzw. ein Managementsystem für den Weltraumverkehr, während die Zahl der Satelliten im Orbit zunimmt.

2.3.

Bislang beruht das Weltraumverkehrsmanagement lediglich auf freiwilligen und unverbindlichen, nicht immer adäquat gesteuerten bzw. angewandten bewährten Verfahren, mit denen die statistischen Risiken von Kollisionen zwischen Satelliten und Weltraummüll begrenzt werden sollen. Demnach darf Weltraummüll nicht vorsätzlich erzeugt werden, müssen Satelliten nach Ablauf ihrer Betriebszeit unter Verbrauch ihres Restkraftstoffs passiviert werden, ist für Satelliten in niedriger Umlaufbahn die 25-Jahre-Regel einzuhalten (Rückkehr in die Erdatmosphäre innerhalb von 25 Jahren nach Ablauf der Betriebszeit), und müssen ungenutzte geostationäre Satelliten auf dem „Friedhofsorbit“ gelagert werden. Diese Vorschriften reichen aber nicht mehr aus, um die Kollisionsrisiken zu begrenzen.

2.4.

Hinzu kommen neue operative Konzepte: Beobachtung und Verfolgung von Objekten im Weltraum (Space Surveillance and Tracking, SST), Koordinierung des Weltraumverkehrs (Space Traffic Coordination, STC), Koordinierung und Management des Weltraumverkehrs (Space Traffic Coordination and Management, STCM). (1)

2.5.

Somit sind effektive Rechtsvorschriften über Weltraumtätigkeiten und den Satellitenverkehr für die langfristige Nachhaltigkeit des Weltraums dringend erforderlich und auch strategisch wichtig, ebenso wie der Einsatz künstlicher Intelligenz, um Kollisionsrisiken zu vermeiden.

2.6.

Zu Jahresbeginn hat die Europäische Kommission den Startschuss für das Projekt Spaceways gegeben, mit dem die Grundlage für ein Weltraumverkehrsmanagementsystem geschaffen werden soll, indem „Verkehrsregeln“ und die Voraussetzungen für die Erteilung von Lizenzen und Fluggenehmigungen festgelegt werden.

2.7.

Ziel der Projekte Spaceways und des im Januar 2021 ins Leben gerufenen EUSTM (European Space Traffic Management) ist es, dass der Europäischen Kommission bis Juni bzw. August 2022 Empfehlungen und Leitlinien zum Weltraumverkehrsmanagement sowie eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Bewertung mit abschließenden Empfehlungen und Leitlinien für die Umsetzung vorliegen (2).

2.8.

Die Gemeinsame Mitteilung der Kommission und des Hohen Vertreters trägt der Notwendigkeit eines Ansatzes der EU Rechnung und sieht eine Konsultation sowie regelmäßige Beratungen und Dialoge mit allen einschlägigen zivilen und militärischen Interessenträgern der Union im Verkehrsbereich, insbesondere der Luftfahrt, und in der europäischen Raumfahrtindustrie vor, wobei es den Verteidigungs- und Sicherheitsbedarf mit Unterstützung der Europäischen Verteidigungsagentur zu berücksichtigen gilt. Der EWSA spricht sich dafür aus, nicht nur die Industrie, sondern auch die gesamte Gesellschaft in diesen Prozess einzubeziehen.

2.9.

In der Mitteilung wird der Einsatz des EU-SST-Konsortiums (3) erwogen, um die für das künftige Weltraumverkehrsmanagement der EU wesentlichen operativen Fähigkeiten aufzubauen, wozu die Verbesserung seiner Leistung, die Entwicklung von Diensten zur Beobachtung und Verfolgung von Objekten im Weltraum (SST) sowie neue Technologien durch künstliche Intelligenz und Quantentechnologien, die Unterstützung von Maßnahmen zur Eindämmung des Weltraummülls und Instandhaltungsmaßnahmen im Orbit sowie die Schaffung von Finanzierungssynergien zwischen der EU, nationalen Fonds, der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), Horizont Europa und dem Europäischen Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich (EDIDP) gehören.

2.10.

Die bessere Abdeckung des Luftraums durch außerhalb des europäischen Kontinents befindliche Ressourcen ist ein Kernelement des Programms der Union für sichere Konnektivität für den Zeitraum 2023-2027. Die EU ist auf internationale Einrichtungen, insbesondere auf das Büro der Vereinten Nationen für Weltraumfragen (UNOOSA), und auf nationale Stellen angewiesen, wenn es darum geht, Normen für das Weltraummanagement auszuarbeiten, dabei die Entwicklung gemeinsamer Normen in einem spezifischen Forum anzuregen und einen integrierten Ansatz in den internationalen Normungsorganisationen zu fördern.

2.11.

Die genannten Ziele können nur dann erreicht werden, wenn die Industrie kurzfristig bestimmte Verpflichtungen eingeht und die Mitgliedstaaten mittelfristig einen Legislativvorschlag ausarbeiten, um der Fragmentierung der nationalen Ansätze entgegenzuwirken und Wettbewerbsverzerrungen durch außerhalb der EU angesiedelte Wirtschaftsbeteiligte zu vermeiden, indem der Grundsatz der Gleichbehandlung durchgesetzt wird. Zudem werden unverbindliche Maßnahmen wie Leitlinien erwogen.

Der Legislativvorschlag wäre der erste Schritt; anschließend müssen die europäischen Organisationen für sämtliche Akteure geltende technische Anforderungen, d. h. Normen oder Leitlinien, festlegen.

2.12.

Der Mitteilung zufolge wird die EU einen multilateralen Ansatz im Rahmen der Vereinten Nationen bevorzugen, indem sie den Dialog mit dem Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums (COPUOS) und der Abrüstungskonferenz fördert. Sie muss deshalb die für die Durchführung ihrer Maßnahmen zuständigen UN-Gremien — es geht ja um die Zukunft der Menschheit — bestimmen, darunter auch die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO).

In der Mitteilung ist ein Bottom-up-Ansatz vorgesehen: Dabei wird ausgehend von den nationalen und regionalen Beiträgen ein Konsens über die geplanten Regeln und Normen angestrebt, und anschließend werden die regionalen Komponenten in das globale Management integriert, dessen Governance noch festzulegen ist.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

In der Mitteilung der Kommission werden die Erfordernisse im Bereich des Weltraumverkehrsmanagements bewertet und ein weltweit anwendbares europäisches Konzept für die Nutzung des Weltraums für zivile und andere Zwecke vorgeschlagen. Die Entwicklung der Weltraumaktivitäten, die Zunahme der Zahl und Art der Akteure der Weltraumnutzung sowie die Abhängigkeit aller Branchen von Satellitentechnologien und -diensten haben allmählich zur Übernutzung der Umlaufbahnen und zur Auslastung des Frequenzspektrums geführt, so dass die Frequenzen nunmehr rationeller genutzt werden müssen.

3.2.

Die Erdumlaufbahnen gelten nach internationalem Recht (Internationale Fernmeldeunion, ITU) als begrenzte natürliche Ressourcen. Den für die Nutzung der Erdumlaufbahnen geltenden Grundsätzen Freiheit und Nichtaneignung stehen Anträge auf Frequenzzuteilung und die zunehmende Zahl von Satellitensystemen von Ländern und Unternehmen gegenüber, die teilweise nicht die ITU-Regeln einhalten.

3.3.

Die Konkurrenz zwischen den bisher hauptsächlich staatlichen Weltraumakteuren und denen, die einen solchen Status anstreben, darunter private Akteure, erfordert eine tiefgreifende Reform der internationalen Normen, die noch aus der Zeit stammen, als nur eine kleine Gruppe technologischer und industrieller Mächte im Weltraum aktiv war.

3.4.

Abgesehen von rechtlichen Fragen ist die Weltraumnutzung vom Wiederaufkommen internationaler geopolitischer Spannungen geprägt, wie auch die aktuellen Entwicklungen zeigen: Dies gilt insbesondere für koorbitale Einschüchterungsoperationen, Machtdemonstrationen im technologischen Wettrüsten und Tests mit Antisatellitenwaffen, die ein Klima des Misstrauens zwischen den Staaten erzeugt haben.

3.5.

Infolge der Herausforderungen durch die Auslastung der Umlaufbahnen und des Frequenzspektrums sowie der Bedrohung durch immer mehr Weltraummüll haben die Mitgliedstaaten, die ESA und das EU-SST-Konsortium (4) eine bessere Koordinierung der Beobachtungsinstrumente und -technologien erwogen. Der EWSA fordert strenge Regelungen angesichts der Zunahme privater Konstellationen und möglicher Sperrgebiete.

3.6.

In der Gemeinsamen Mitteilung wird deutlich, wie kompliziert die Wiederaufnahme des internationalen Dialogs ist, wenn es darum geht, einen Verhaltenskodex zu schaffen und Maßnahmen, auch legislativer Natur, für eine nachhaltige Weltraumnutzung zu ergreifen.

Rechtliche und politische Erwägungen

3.7.

Der EWSA unterstützt die in der Mitteilung und dem Verordnungsvorschlag dargelegten operativen Ziele und möchte auf rechtliche und politische Erwägungen hinweisen, die angesichts der diesbezüglichen Herausforderungen berücksichtigt werden müssen.

3.8.

Der Begriff „Weltraumrecht“ ist nicht leicht zu definieren. Es herrscht kein Konsens über die Frage der räumlichen Abgrenzung, jedoch wird anerkannt, dass für das Weltraumrecht insbesondere dessen Leitprinzipien kennzeichnend sind.

3.9.

Auch wenn durch fünf internationale Verträge und acht internationale Resolutionen (5) wichtige Grundsätze angenommen wurden, bleibt dennoch die Frage der Definition des Weltraumrechts unbeantwortet, da am Anfang der Weltraumnutzung primär die Aneignung der Himmelskörper durch die ersten Weltraummächte verhindert werden sollte, wobei der Gegenstand dieses Rechts nicht ausdrücklich definiert wurde.

3.10.

Die Grundsätze des Weltraumrechts wurden bereits in der Resolution der Vereinten Nationen 1962 (XVIII) vom 13. Dezember 1963 festgelegt und im ersten Weltraumvertrag von 1967 bekräftigt.

Sie umfassen folgenden Aspekte:

Erforschung und Nutzung des Weltraums zum Wohle der gesamten Menschheit,

Freiheit, den Weltraum zu erforschen und zu nutzen,

Nichtaneignung,

friedliche Nutzung,

Verantwortung der Staaten für ihre Weltraumaktivitäten,

Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung,

Hoheitsgewalt und Kontrolle der Staaten über ihre Weltraumobjekte,

Haftung der Staaten für Schäden,

Status von Astronauten als „Boten der Menschheit“.

3.11.

Zwei weitere Grundsätze des Weltraumrechts zeugen von seiner friedlichen Ausrichtung.

Der erste ist die Verpflichtung zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung für alle Staaten, die an der Erforschung und Nutzung des Weltraums beteiligt sind. Dies setzt einen effektiven und transparenten Dialog zwischen den Weltraummächten voraus, um langfristige und sichere Tätigkeiten zu gewährleisten. Heute liegt der Schwerpunkt dieses Dialogs auf der Problematik des Weltraummülls, wie aus der Mitteilung hervorgeht.

3.12.

Das zweite Kernprinzip des Weltraumrechts besteht in der Verantwortung der Staaten und neuen Akteure für ihre Weltraumaktivitäten. Es handelt sich hierbei um die internationale Verantwortung für die Kontrolle der Aktivitäten und um die Haftung für durch diese Weltraumaktivitäten entstandene Schäden. In der Gemeinsamen Mitteilung geht es also um Fragen der internationalen Verantwortung für die Kontrolle der Tätigkeiten.

3.13.

Bei der Ausarbeitung der wesentlichen Weltraumverträge standen die Themen Weltraummüll und Auslastung der Umlaufbahnen und Frequenzen nicht auf der Tagesordnung, aber mittlerweile hat die Abhängigkeit unserer Gesellschaften von satellitengestützten Diensten zu immer mehr Raumflugkörpern im All geführt und die Frage der Umlaufbahnen und Frequenzzuweisungen zu einer echten strategischen Herausforderung gemacht.

3.14.

Nach sechzig Jahren Weltraumnutzung ist ein beispielloser Anstieg der Sicherheitsprobleme im Zusammenhang mit den Umlaufbahnen zu beobachten. Seit dem chinesischen ASAT-Test im Januar 2007 haben die verschiedenartigen Machtdemonstrationen im Weltraum um ein Vielfaches zugenommen. Es besteht auch das Problem der Militarisierung des Weltraums.

Im Völkerrecht ist dies eine Grauzone, da noch nicht definiert ist, was ein Angriffsmittel oder eine Aggression im Weltraum ist. Die Möglichkeiten eines Angriffs aus dem Weltraum sind durchaus vielfältig, u. a. Raketenangriffe, Blendangriffe durch Laser, Cyberangriffe auf Kommunikationsknotenpunkte und koorbitale Manöver.

3.15.

Dagegen liegen die Probleme auf den geostationären Umlaufbahnen in der Frequenzüberlastung und dem Interferenzrisiko. Die geostationäre Umlaufbahn ist ein kritisches Gebiet für die Aufrechterhaltung der Telekommunikationsdienste aller Staaten der Erde. Hierbei treten eine Reihe rechtlicher Schwierigkeiten auf, da die Erschließung der geostationären Umlaufbahnen zu einem neuen Wirtschaftsmarkt und sogar zu Spekulationen geführt hat.

3.16.

Vor diesem Hintergrund ist der EWSA daher der Ansicht, dass in der Gemeinsamen Mitteilung im Zuge einer aktiven Diplomatie ein multilaterales Weltraumverkehrsmanagement (STM) im Rahmen der Vereinten Nationen, insbesondere des Weltraumausschusses (COPUOS) und der Abrüstungskonferenz, nachdrücklich gefördert werden muss, da die Regelungen in diesem Bereich nicht ausreichen.

Das Weltraumverkehrsmanagement als Herausforderung für die europäische Governance

3.17.

Das Weltraumverkehrsmanagement ist kein neues Konzept. Aufgrund der Art und Bedeutung der Herausforderungen für die Sicherheit und Nachhaltigkeit der Weltraumaktivitäten hat das Weltraumverkehrsmanagement (STM) jedoch unter den Weltraumakteuren und den Staaten, die sich ihrer Abhängigkeit von den Weltraumgütern bewusst sind, eine beispiellose Priorität erlangt. Nur Staaten mit entsprechenden technologischen Kapazitäten verfügen bereits über Programme zur Beobachtung und Verfolgung von Objekten im Weltraum (SST) sowie zur Weltraumlage-Erfassung (Space Situational Awareness, SSA).

3.18.

Das US-Verteidigungsministerium nutzt derzeit das fortschrittlichste System. Durch das Space Surveillance Network (SSN) mit seinen terrestrischen und weltraumgestützten Radarsystemen verfügen die Vereinigten Staaten über ein einzigartiges Erkennungs- und Identifizierungsinstrument, das sie auch zur Einflussnahme auf ihre Verbündeten und Partner nutzen.

Andere Staaten wie Russland, China, Japan, Indien und einige europäische Länder (Frankreich, Deutschland) haben ebenfalls Weltraumüberwachungsprogramme entwickelt. Aufgrund ihrer strategischen Funktion unterliegen die meisten dieser Programme der militärischen Kontrolle, die von den Weltraumagenturen unterstützt wird.

In der EU haben Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Portugal, Rumänien und Spanien das EU-SST-Konsortium gegründet, um das Risiko von Kollisionen im Orbit und eines unkontrollierten Wiedereintretens von Weltraummüll in die Erdatmosphäre kostenlos zu bewerten und Fragmentierungen im Orbit zu ermitteln. Im Jahr 2023 soll das EU-SST-Konsortium zu einer Partnerschaft mit mehr Mitgliedstaaten ausgebaut werden und dann einen Dienst zur Bewertung der Kollisionsrisiken für europäische und globale Satellitenbetreiber bereitstellen.

Zudem haben einige Privatunternehmen ihre eigenen SST-/SSA-Systeme eingerichtet, die kommerzielle Daten und Dienste bereitstellen sollen.

3.19.

Wie in der Gemeinsamen Mitteilung festgestellt und in dieser Stellungnahme dargelegt, besteht das Hauptproblem des Flickenteppichs der STM-Programme in der fehlenden internationalen Normung. Es liegt deshalb auf der Hand, dass internationale Normen, Leitlinien und bewährte Verfahren entwickelt werden müssen.

3.20.

Die globalen Initiativen und Entscheidungen zum STM können zu einem schwierigen Umfeld für Europa und seine Weltraumakteure führen. Die amerikanische Politik hat bereits proaktiv angekündigt, dass die USA dem Rest der Welt den Weg weisen sollten: durch die Erarbeitung besserer Normen für die Daten und die Erfassung der Weltraumlage, die Entwicklung einer Reihe normierter Techniken zur Minderung der Kollisionsrisiken und die internationale Förderung eines Bündels technischer Normen, Verfahren und Sicherheitsstandards für Weltraumoperationen.

3.21.

Die EU ist sich der strategischen, kommerziellen und geopolitischen Dimension des Weltraumverkehrsmanagements bewusst, bei dem es nicht nur um die Nachhaltigkeit des Weltraums geht, sondern auch um die künftige Autonomie Europas beim Zugang zum Weltraum und seiner Nutzung.

Die europäischen Weltraumakteure haben bereits eine Reihe von Maßnahmen und Initiativen zur direkten oder indirekten Bewältigung der Probleme des Weltraumverkehrsmanagements entwickelt. Allerdings hat der Rückstand Europas bei gemeinsamen Lösungen für diese Probleme Folgen.

3.22.

So könnte nämlich die künftige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Satellitenproduktion beeinträchtigt werden, wenn die Unternehmen auf die Daten des amerikanischen STM zurückgreifen oder eine Lizenz des amerikanischen STM vorlegen müssen, die unter Umständen verweigert wird. Auch für europäische Anbieter von Trägersystemen sind die Risiken erheblich.

Was das neue europäische Programm zur Weltraumlage-Erfassung von 2021 (Space Situational Awareness, SSA) betrifft, so sind viele europäische Akteure auf die mit den Vereinigten Staaten unterzeichneten Vereinbarungen über die gemeinsame Datennutzung angewiesen. Dazu gehören Ministerien und Streitkräfte (6), europäische zwischenstaatliche Organisationen (ESA, EUMETSAT), kommerzielle Satellitenbetreiber und Anbieter von Trägersystemen.

3.23.

Nach Ansicht des EWSA muss die EU durch den Erlass entsprechender Vorschriften nicht nur ein zertifiziertes Leistungsniveau, sondern auch die langfristige Verfügbarkeit weltraumgestützter Dienste gewährleisten. Darüber hinaus muss Europa in einer Zeit, in der es eine glaubwürdige gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik anstrebt, zu der Weltraumgüter einen wesentlichen und sogar entscheidenden Beitrag leisten, die höchsten Anforderungen erfüllen, was die Sicherheit staatlicher Nutzer und die Verteidigung betrifft.

3.24.

Der EWSA stellt fest, dass der auf einer starren und kostspieligen Strategie beruhende Ansatz der EU in der Vergangenheit hauptsächlich auf den physischen Schutz der Weltraumgüter ausgerichtet war, die jüngsten EU-Initiativen jedoch die Umstellung auf einen stärker resilienzorientierten Ansatz vorsehen. Die EU tritt heute im Bereich Sicherheit von Weltrauminfrastrukturen für eine Strategie der Antizipierung ein. Hierfür hat sie zwei wichtige Initiativen auf den Weg gebracht: den Vorschlag für einen internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten und das europäische Weltraumüberwachungsprogramm.

3.25.

Der EWSA bedauert jedoch, dass sich die Kapazitäten einiger Mitgliedstaaten mit eigenen Überwachungs- und Kontrollinstrumenten zunächst schlecht koordinieren lassen. Derzeit ist es schwierig, einen Konsens über die Ziele eines europäischen STM-Programms zu erzielen. Die Frage des Weltraumverkehrsmanagements macht sehr gut deutlich, wie schwierig sich eine echte europäische Governance im Weltraumsektor gestaltet, auch wenn alle Mitgliedstaaten aufgrund eigener Weltraumkapazitäten oder als Nutzer von Weltraumressourcen vor den gleichen Fragen der nachhaltigen und sicheren Nutzung des Weltraums stehen.

3.26.

Diese Schwierigkeiten beeinträchtigen ebenfalls die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Weltraumindustrie auf internationaler Ebene. Langfristig könnten das Fehlen europäischer Normen und die mangelnde Vereinbarkeit mit anderen Normen den freien Zugang zum Weltraum gefährden. Eigene Trägerkapazitäten reichen nicht aus. Darüber hinaus ist es notwendig, Satelliten unabhängig von den festgelegten Normen außerhalb Europas einzusetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu erhalten. Dies zeigt sich am Erfolg der in diesem Jahr ersten Ariane-5-Mission am 22. Juni 2022 zur Beförderung von zwei Satelliten (eines malaysischen und eines indischen) in die Erdumlaufbahn. Die nächste Etappe dürfte bald Wirklichkeit werden: Ariane 6 ist flexibler und kostengünstiger als Ariane 5 (und damit gegenüber dem amerikanischen Konkurrenten SpaceX wettbewerbsfähiger); der erste Flug ist für 2023 geplant.

3.27.

Im Zusammenhang mit dieser Mitteilung möchte der EWSA bekräftigen,

dass er die zivilen Anwendungen von Galileo im Schienen-, See- und Straßenverkehr unterstützt und

eine rasche Umsetzung der von Kommissionsmitglied Breton vorgeschlagenen kritischen Infrastrukturen für wünschenswert hält.

3.28.

Von einigen Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene entwickelte Normen und Standards mögen für die Entwicklung gemeinsamer Bestimmungen zwar hilfreich sein, doch wird sich die EU trotzdem als Entscheidungsinstanz für Normungsmaßnahmen durchsetzen müssen. Folglich ist unabdingbar, dass die EU- und die ESA-Mitgliedstaaten Ziele und Grundsätze der europäischen STM-Bemühungen vereinbaren, Konsultations- und Koordinierungsinstrumente festlegen, die Aufgaben klar voneinander abgrenzen, die Zuständigkeiten eindeutig zuordnen und die Tätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Interessenträgern transparent aufteilen, ohne dass dies den Systemen in anderen Ländern zuwiderläuft.

3.29.

Nach Ansicht des EWSA erfolgt mit der Gemeinsamen Mitteilung die späte, jedoch begrüßenswerte Anerkennung der Tatsache, dass die aus den zunehmenden Weltraumaktivitäten resultierenden Herausforderungen auf mehreren Ebenen bewältigt werden müssen, denn ohne einen diesbezüglichen verbindlichen Rahmen könnte das globale Gleichgewicht gefährdet werden.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  JOIN(2022) 4 final.

(2)  Das Projekt Spaceways, das aus dem Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ finanziert wird, setzt sich aus 13 zentralen europäischen Akteuren zusammen. Dabei handelt es sich um Hersteller von Satelliten und Anbieter von Trägersystemen, Dienstebetreiber und -anbieter sowie politischen und juristischen Forschungszentren und -einrichtungen.

EUSTM umfasst 20 zentrale europäische Akteure.

(3)  Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Portugal, Rumänien und Spanien.

(4)  https://www.eusst.eu

(5)  I. Chalaye, „Le statut des orbites terrestres et leur utilisation à la lumière des principes du droit spatial“, Institut d’études de géopolitique appliquée (IEGA), Paris, Oktober 2021.

(6)  https://www.esa.int/Safety_Security/SSA_Programme_overview


ANHANG

Die zusätzliche Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel — CCMI/196 — New Space befindet sich auf den folgenden Seiten:

„Stellungnahme der Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) zum Thema ‚Weltraumgestützte sichere Konnektivität und New Space: ein Weg für die europäische Industrie zu Souveränität und Innovation‘

(zusätzliche Stellungnahme zu TEN/775)

Berichterstatter:

Maurizio MENSI

Ko-Berichterstatter:

Franck UHLIG

Beschluss des Plenums

22.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 56 Absatz 1 der Geschäftsordnung

 

Zusätzliche Stellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

24.6.2022

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

21/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Initiativen der Europäischen Kommission für eine weltraumgestützte sichere Konnektivität und einen ‚New Space‘ zur Stärkung der industriellen und operativen Souveränität der Mitgliedstaaten. Die Gewährleistung der Autonomie ist nicht nur für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Industrie von überragender Bedeutung, sondern auch für die Gewährleistung der strategischen Unabhängigkeit und Widerstandsfähigkeit (1) , wie der Mangel an elektronischen Komponenten der jüngsten Zeit gezeigt hat, insbesondere nach der COVID-19-Krise und dem Krieg in der Ukraine, die die europäische Weltraumindustrie schwer treffen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine sichere, zugängliche und erschwingliche Konnektivität nicht nur ein wesentliches Instrument für das Funktionieren der partizipativen Demokratie, sondern auch eine Voraussetzung für die ordnungsgemäße Umsetzung der Grundrechte und eine Chance für eine stärkere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft ist.

1.3.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung des Weltraums für unsere Wirtschaft und Gesellschaft sowie seine strategische Relevanz aus sicherheits- und verteidigungspolitischer Sicht, was auch der russisch-ukrainische Krieg deutlich macht. Darüber hinaus sind die physische Sicherheit und die Cybersicherheit sowohl der Boden- als auch der Weltrauminfrastrukturen zusammen mit den damit verbundenen Daten ausschlaggebend für die Kontinuität der Dienste und das ordnungsgemäße Funktionieren der Systeme.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Förderung des europäischen Weltraum-Ökosystems ausschlaggebend dafür ist, den zweifachen Wandel voranzubringen und große globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen. Er verweist zudem auf die möglichen Vorteile der Einbeziehung im Weltraumsektor tätiger Start-up-Unternehmen und KMU in die Weltraumprogramme der EU, einschließlich ihres Beitrags zur Widerstandsfähigkeit und strategischen Autonomie der EU.

1.5.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass ein wirkungsvolles, angemessenes Maß an Koordinierung gegeben sein muss, da die Lenkung eines sicheren und autonomen weltraumgestützten Konnektivitätssystems (im Folgenden: ‚das Programm‘) die Zusammenarbeit verschiedener Stellen erfordert.

1.6.

Nach Ansicht des EWSA sollte das bereits bestehende Rahmenprogramm Horizont Europa genutzt werden, um den Weltraummarkt zu stimulieren, die Entwicklung innovativer kommerzieller Lösungen für den nach- und vorgelagerten Raumfahrtsektor der EU zu unterstützen und die für das Programm erforderlichen Schlüsseltechnologien im Zusammenhang mit der Initiative EuroQCI (2) und dem Projekt ENTRUSTED (3) schneller verfügbar zu machen. Insbesondere würde ein europäisches System von Komponenten, Systemen und Teilsystemen massive und langfristige Anstrengungen für ein Wiedererstarken der europäischen Industrie erfordern.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, Synergien mit dem Europäischen Verteidigungsfonds und im Rahmen des Aktionsplans der Kommission für die Interaktion zwischen der zivilen, der Verteidigungs- und der Weltraumindustrie zu entwickeln.

1.8.

Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Weltraumwirtschaft sicherzustellen, sollte das Programm nach Auffassung des EWSA zum Erwerb fortgeschrittener Kompetenzen in weltraumbezogenen Bereichen beitragen und Bildungs- und Ausbildungstätigkeiten unterstützen, damit die Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger der Union in diesem Bereich voll zur Geltung kommen können. Dies würde die wichtige soziale Dimension des Programms verbessern.

1.9.

Der EWSA betont, dass alle Weltraumfähigkeiten bei der Modernisierung der vorhandenen Weltraumressourcen (Galileo (4), Copernicus (5)) sowie bei der Entwicklung künftiger Konstellationen und Dienste berücksichtigt werden müssen. Dies wird die Widerstandsfähigkeit der weltraumgestützten Systeme der EU erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie stärken. Die Zuweisung von Aufgaben auf der Grundlage nachgewiesener Kompetenzen dürfte eine wirksame Programmdurchführung gewährleisten.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt fördern und die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit der EU-Weltraumwirtschaft unterstützen muss, insbesondere im Hinblick auf KMU, Start-up-Unternehmen und innovative Unternehmen, um auf diese Weise vor- und nachgelagerte Wirtschaftstätigkeiten zu fördern. Forschungs- und Innovationsprogramme spielen nämlich eine grundlegende Rolle bei der Stärkung der technischen Fähigkeiten der Union und ihrer Mitglieder.

2.   Hintergrund der Stellungnahme und des betreffenden Legislativvorschlags

2.1.

Der Vorschlag der Europäischen Kommission zielt darauf ab, ein Programm für die Bereitstellung einer garantierten und widerstandsfähigen Satellitenkommunikation zu entwickeln. Die Kommission ist entschlossen, Innovationen im Raumfahrtsektor zu fördern und weiter zur Entwicklung eines florierenden New-Space-Ökosystems der EU beizutragen, was zu den wichtigsten Prioritäten ihres Weltraumprogramms gehört. Zu diesem Zweck hat die Kommission die CASSINI-Initiative ins Leben gerufen (6). Sie soll insbesondere sicherstellen, dass staatlichen Nutzern weltweit zuverlässige, sichere und kosteneffiziente Satellitenkommunikationsdienste zur Verfügung stehen, die den Schutz kritischer Infrastrukturen, die Überwachung, das auswärtige Handeln und das Krisenmanagement unterstützen, was die Widerstandsfähigkeit der Mitgliedstaaten erhöhen würde.

2.2.

Die Initiative soll vom Fachwissen der europäischen Weltraumindustrie profitieren, und zwar sowohl von der etablierten Industrie als auch vom New-Space-Ökosystem. Die globale Satellitenkonnektivität ist somit zu einer strategischen Ressource für Gefahrabwehr, Sicherheit und Widerstandsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten geworden. Der Vorschlag zielt ferner darauf ab, die kommerzielle Verfügbarkeit von Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetzen in ganz Europa zu ermöglichen, Lücken in der Kommunikationsabdeckung zu beseitigen und den Zusammenhalt zwischen den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten zu stärken. Außerdem soll die Konnektivität auch in geografischen Gebieten von strategischem Interesse außerhalb der Union ermöglicht werden, wie z. B. in Afrika und der Arktis. Nach Galileo und Copernicus wird sich die vorgeschlagene dritte Konstellation auf drei neue Unterscheidungselemente stützen: konzeptionsintegrierte Sicherheit (‚security by design‘ durch den Einsatz neuer Technologien wie der Quantentechnologie) für sensible Kommunikation (Verteidigung), eine Konstellation mit mehreren Umlaufbahnen und eine auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruhende Architektur (um die kommerzielle Dimension weiter auszubauen).

2.3.

Der Vorschlag steht im Einklang mit einer Reihe weiterer EU-Maßnahmen und laufender Gesetzgebungsinitiativen in Bezug auf Daten (wie die INSPIRE-Richtlinie (7) und die Richtlinie über offene Daten (8)), Cloud Computing und Cybersicherheit. Insbesondere würde die Erbringung staatlicher Dienste im Einklang mit den Digital- und Cybersicherheitsstrategien der EU den Zusammenhalt stärken, indem die Integrität und Widerstandsfähigkeit der europäischen Infrastrukturen, Netze, Kommunikationsvorgänge und Daten sichergestellt wird. Der Vorschlag wird auch die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der Weltraumwirtschaft innerhalb der EU unterstützen und einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass Europa in den kommenden Jahren einen autonomen und erschwinglichen Zugang zum Weltraum erhält, während er sich entscheidend und tiefgreifend positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Trägerraketen-Nutzungsmodelle auswirken wird (9).

2.4.

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21./22. März 2019 wurde betont, dass die Union bei der Entwicklung einer wettbewerbsfähigen, sicheren, inklusiven und ethischen digitalen Wirtschaft mit Konnektivität von Weltrang noch weitergehen muss (10). Insbesondere soll der ‚Aktionsplan für Synergien zwischen der zivilen, der Verteidigungs- und der Weltraumindustrie‘ der Kommission vom 22. Februar 2021‚Hochgeschwindigkeitsanbindungen für jedermann in Europa zugänglich machen und für ein widerstandsfähiges Konnektivitätssystem sorgen, das es Europa ermöglicht, unter allen Umständen die Anbindung nicht zu verlieren‘ (11).

2.5.

Das Programm wäre eine Ergänzung zu den bestehenden EU-GOVSATCOM-Regelungen (12) für die Zusammenführung und Aufteilung der bereits vorhandenen staatlichen Satellitenkommunikationskapazitäten. Da Satelliten nur eine begrenzte Lebensdauer haben, müssen einige der unter GOVSATCOM zusammenzuführenden und aufzuteilenden staatseigenen Infrastrukturen im kommenden Jahrzehnt erneuert werden (13).

2.6.

Angesichts der erhöhten Bedrohung durch hybride Angriffe und Cyberangriffe und der größeren Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Naturkatastrophen suchen staatliche Akteure nach sichereren, zuverlässigeren und leichter verfügbaren passenden Satellitenkommunikationslösungen. Auch von Quantencomputern geht eine Gefahr aus, da diese Computer in der Lage sein werden, derzeit verschlüsselte digitale Inhalte zu knacken.

2.7.

In den USA, China und Russland wurden zahlreiche staatlich geförderte oder subventionierte Projekte zum Aufbau von Megakonstellationen gestartet. Zu dem Mangel an verfügbaren Frequenzanmeldungen und Orbital-Slots kommt hinzu, dass die GOVSATCOM-Kapazitäten nur eine begrenzte Lebensdauer haben. Die Einrichtung eines weltraumgestützten sicheren EU-Konnektivitätssystems ist daher also dringend notwendig. Das Programm würde die Kapazitäts- und Fähigkeitslücken bei den staatlichen Satellitenkommunikationsdiensten schließen.

2.8.

Im Rahmen des Programms sollte dem privaten Sektor auch die Erbringung kommerzieller Satellitenkommunikationsdienste gestattet sein. In der Folgenabschätzung wurde eine öffentlich-private Partnerschaft für das am besten geeignete Durchführungsmodell zur Verwirklichung der Ziele des Programms erachtet. Sie würde insbesondere Innovationen in allen Bereichen der europäischen Weltraumwirtschaft (große Systemintegratoren, unabhängige Unternehmen mit mittlerer Kapitalisierung, KMU und Start-ups) fördern.

2.9.

Da die Abhängigkeit der Staaten, Bürger und EU-Institutionen von Konnektivität immer weiter zunimmt, erfordern ihre Bedürfnisse Lösungen für mehr Sicherheit, niedrige Latenz (14) und höhere Bandbreite, weshalb ein garantierter Zugang zu widerstandsfähigen Lösungen durch innovative Technologien sowie neue industrielle Entwicklungen und Ansätze erforderlich sind. Das geplante System wird somit, wie im Vorschlag hervorgehoben, ein Wegbereiter für Technologie sein.

2.10.

Damit das Programm kosteneffizient ist und Größenvorteile nutzen kann, sollte das Verhältnis zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach staatlichen Diensten optimiert werden.

2.11.

Denn Satellitenkommunikation bietet eine flächendeckende Versorgung in Ergänzung zu terrestrischen Netzen. Sie wird zunehmend als ein strategisches Gut behandelt, woraus ein zunehmender globaler Bedarf an staatlichen Diensten zur Sicherung einer widerstandsfähigen Konnektivität erwächst, die nicht nur zur Unterstützung ihrer Sicherheitsvorgänge dient, sondern auch zur Vernetzung kritischer Infrastrukturen, zur Erleichterung einer effizienten und wirksamen grenz- und sektorübergreifenden elektronischen Interaktion zwischen europäischen öffentlichen Verwaltungen, Unternehmen und Bürgern, zur Schaffung leistungsfähigerer, vereinfachter und nutzerfreundlicher elektronischer Behördendienste (15) auf nationaler, regionaler und kommunaler Verwaltungsebene und zur Bewältigung von Krisen sowie zur Unterstützung der Grenz- und Meeresüberwachung.

2.12.

Bei der Aufstellung des Programms wird im Interesse der Qualität schrittweise vorgegangen. Mit der Entwicklung und Einführung könnte ab 2023 begonnen werden, die Bereitstellung erster Dienste und ein In-Orbit-Test der Quantenkryptografie sind bis 2025 möglich. Mit der umfassenden Bereitstellung der Weltraumkonstellation mit der integrierten Quantenkryptografie würde die volle Betriebsfähigkeit im Jahr 2028 erreicht. Die Gesamtkosten werden mit 6 Milliarden Euro angegeben, die Mittel werden aus verschiedenen Quellen des öffentlichen Sektors (EU-Haushalt, Beiträge der Mitgliedstaaten und der ESA) und Investitionen des Privatsektors stammen. Die EU-Förderung beeinträchtigt nicht die Umsetzung bestehender Raumfahrtkomponenten der EU-Weltraumverordnung, insbesondere Galileo und Copernicus.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA sieht in der weltraumgestützten Konnektivität in der heutigen digitalen Welt eine entscheidende und strategische Ressource für moderne Gesellschaften. Sie ermöglicht wirtschaftliche Macht, eine Führungsrolle im digitalen Bereich sowie technologische Souveränität, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt. Indem den Raumfahrtakteuren eine größere Bedeutung zugemessen wird, zielt das Programm darauf ab, hochwertige, sichere Weltraumdaten und -dienste zu gewährleisten, die den Bürgern und Unternehmen in Europa sozioökonomische Vorteile bringen, die Sicherheit und Autonomie der EU verbessern und die Führungsposition der EU in der Raumfahrt stärken können, damit sie im Wettbewerb gegen andere führende Weltraumwirtschaften und aufstrebende Raumfahrtnationen bestehen kann. Darüber hinaus ist sie auch ein wichtiges technisches Instrument, das das Recht auf freie Meinungsäußerung und den freien Verkehr von Ideen ermöglicht.

3.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine sichere, zugängliche und erschwingliche Konnektivität nicht nur ein wesentliches Instrument für das Funktionieren der partizipativen Demokratie, sondern auch eine Voraussetzung für die widerstandsfähige Umsetzung der Grundrechte und eine Chance für eine stärkere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft ist. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind zunehmend auf Weltraumtechnologien, -daten und -dienste angewiesen. Dies erfordert insbesondere die Einhaltung der Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten. Darüber hinaus spielt die Raumfahrt eine immer wichtigere Rolle für das Wirtschaftswachstum, die Sicherheit und das geopolitische Gewicht der EU. In diesem Sinne kann zuverlässige und sichere Konnektivität als öffentliches Gut für Staaten und Bürger gelten.

3.3.

Der EWSA empfiehlt die Nutzung einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) als geeignetes Durchführungsmodell zur Verwirklichung der Ziele des Programms. Die direkte Beteiligung der Privatwirtschaft schafft günstige Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung von Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetzen und nahtloser Konnektivität in ganz Europa. Dies geschieht, indem Lücken in der Kommunikationsabdeckung geschlossen werden und der Zusammenhalt zwischen den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten gestärkt wird. Außerdem wird die Konnektivität auch in geografischen Gebieten von strategischem Interesse ermöglicht.

3.4.

Im Rahmen eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens kann die Kommission einen Konzessionsvertrag schließen, um die erforderliche Lösung zu finden und die Interessen der Union und der Mitgliedstaaten zu schützen. Durch die Einbeziehung der Industrie über eine solche Konzession hätte der private Partner die Möglichkeit, mit zusätzlichen eigenen Investitionen die Infrastruktur des Programms durch zusätzliche Fähigkeiten zu ergänzen.

3.5.

Diesbezüglich betont der EWSA, dass die Rolle des öffentlichen Sektors bei der künftigen Lenkung des Programms angemessen zum Tragen kommen muss, wobei besonderes Augenmerk auf die Sicherheit der Infrastruktur und eine sorgfältige Kontrolle der Kosten, des Zeitplans und der Leistung zu legen ist. Die Kommission wird die Programmverwaltung für die Einrichtung und Überwachung der Konzession übernehmen. Die EU-Agentur für das Weltraumprogramm wird mit der Bereitstellung der staatlichen Dienste betraut, die Europäische Weltraumorganisation (ESA) übernimmt die Überwachung der Entwicklungs- und Validierungstätigkeiten. Der EWSA ist der Auffassung, dass KMU auch für Innovation und das Ökosystem in der entstehenden neuen Weltraumwirtschaft von großer Bedeutung sind. Daher sollte die Entwicklung von KMU-Weltraumdiensten sowie deren Beschaffung durch öffentliche Auftraggeber und den privaten Sektor aktiv gefördert werden. So würden Arbeitsplätze geschaffen, die technischen Kompetenzen erweitert und die Wettbewerbsfähigkeit Europas gesteigert, die für den doppelten Übergang der EU zu einer nachhaltigen und digitalen Wirtschaft immer wichtiger werden. Dies würde einen wirksamen und transparenten Wettbewerb gewährleisten und die technologische Autonomie der EU durch spezifische Anforderungen in Bezug auf Sicherheit, Kontinuität und Zuverlässigkeit der Dienste stärken.

3.6.

Nach Auffassung des EWSA sollten im Vergabeverfahren spezielle Kriterien für die Konzessionsvergabe festgelegt werden, die die Beteiligung von Start-up-Unternehmen und KMU entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Konzession fördern und dadurch Anreize für die Entwicklung innovativer und disruptiver Technologien schaffen. Wo die Hinzuziehung von Anbietern aus Drittstaaten aus sicherheitspolitischer und strategischer Sicht Probleme aufwerfen könnte, sollten geeignete Beteiligungsregeln festgelegt werden.

3.7.

KMU sollten ermutigt werden, die vielfältigen Fördermöglichkeiten der EU zu nutzen, um das Weltraumökosystem zu stärken, da dies zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Verbesserung der technischen Kompetenzen und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beitragen würde.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die strategische Souveränität der EU und der Mitgliedstaaten in erster Linie auf technologischer Autonomie und den technologischen Fähigkeiten der europäischen Industrie sowie auf der Sicherheit der Satellitenkommunikation beruht, insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen. Der EWSA unterstützt daher nachdrücklich Initiativen zur Stärkung der industriellen und technologischen Souveränität der EU-Mitgliedstaaten.

4.2.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag und sieht in den potenziellen Synergien zwischen staatlichen Tätigkeiten und zivilen kommerziellen Tätigkeiten in wirtschaftlicher Hinsicht eine große Chance, auch für die zusätzlichen Dienstleistungen, die den europäischen Bürgern mit einer weltweiten Zunahme öffentlicher und privater Investitionen in Weltraumaktivitäten angeboten werden.

4.3.

Der EWSA betont, wie wichtig die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationskraft der Weltraumwirtschaft in der Union ist. Dies wird einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass sich Europa in den kommenden Jahren einen autonomen und erschwinglichen Zugang zum Weltraum sichert, während es sich entscheidend und tiefgreifend positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Trägerraketen-Nutzungsmodelle auswirken wird.

4.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Programm Telekommunikationsbetreibern die Möglichkeit bieten sollte, von der erhöhten Kapazität und von zuverlässigen und sicheren Diensten zu profitieren. Darüber hinaus würde es aufgrund der kommerziellen Dimension für Endkundendienste möglich sein, EU-weit mehr private Nutzer zu erreichen.

4.5.

Ein Blick auf die Lenkung des Programms (Kapitel V der vorgeschlagenen Verordnung) zeigt, dass vier maßgebliche Akteure, nämlich die Kommission, die Agentur der Europäischen Union für das Weltraumprogramm (im Folgenden: ‚die Agentur‘), die Mitgliedstaaten und die Europäische Weltraumorganisation (ESA), die Hauptrolle bei dem Programm übernehmen werden.

4.6.

In diesem Zusammenhang hält der EWSA der eine klare Aufteilung der Aufgaben, Rollen und Zuständigkeiten sowie eine angemessene Koordinierung zwischen den verschiedenen Akteuren für das reibungslose Funktionieren des Programms für unerlässlich. Daher dürfte eine genaue Zuweisung der Verantwortlichkeiten auf der Grundlage ihrer nachgewiesenen Kompetenz auch die effiziente Durchführung des Programms im Hinblick auf Kosten und Fristen gewährleisten. Ein effizientes Weltraumverkehrsmanagement ist angesichts der zunehmenden Menge an Weltraummüll ebenfalls von grundlegender Bedeutung, um die Sicherheit zu verbessern.

4.7.

Der EWSA betont, dass die Cybersicherheit sowohl der Boden- als auch der Weltrauminfrastrukturen von entscheidender Bedeutung für den Betrieb und die Widerstandsfähigkeit der Systeme ist.

4.8.

Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Weltraumwirtschaft zu sichern, sollte das Programm nach Auffassung des EWSA zum Erwerb fortgeschrittener Kompetenzen in weltraumbezogenen Bereichen beitragen und Bildungs- und Ausbildungstätigkeiten unterstützen, wobei es Chancengleichheit, Gleichstellung der Geschlechter und Teilhabe der Frauen zu fördern gilt, damit die Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger der Union in diesem Bereich voll zur Geltung kommen können.

4.9.

Der EWSA betont, dass an der Einführung und Nachrüstung der Infrastrukturen verschiedene industrielle Partner in mehreren Ländern beteiligt sein können, deren Arbeiten effizient koordiniert werden müssen, damit Systeme geschaffen werden, die insbesondere mit Blick auf die Sicherheit und die Cybersicherheit zuverlässig und vollständig integriert sind.

Brüssel, den 24. Juni 2022

Der Vorsitzende der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel

Pietro Francesco DE LOTTO“


(1)  Die europäische Weltraumwirtschaft ist die zweitgrößte weltweit und beschäftigt mehr als 231 000 Fachkräfte. Ihr Wert wird auf 53-62 Milliarden Euro geschätzt (Studie zum Weltraummarkt, Europäisches Parlament, November 2021).

(2)  Initiative ‚Europäische Quantenkommunikationsinfrastruktur‘ (EuroQCI).

(3)  Forschungsprojekt im Bereich der sicheren Satellitenkommunikation (SatCom) für staatliche Akteure in der EU. ENTRUSTED: ‚European Networking for satellite Telecommunication Roadmap for the governmental Users requiring Secure, inTeroperable, innovativE and standardiseD services‘ (Europäischer Fahrplan für die satellitengestützte Telekommunikation für staatliche Nutzer, die sichere, interoperable, innovative und standardisierte Dienste benötigen).

(4)  Das europäische globale satellitengestützte Navigationssystem, das seit Dezember 2016 in Betrieb ist, erbringt seitdem Dienste für Behörden, Unternehmen und Bürger.

(5)  Das Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union. Es bietet Erdbeobachtungsdaten, die von Diensteanbietern, Behörden und internationalen Organisationen genutzt werden.

(6)  Die Europäische Kommission hat die Initiative ‚Competitive Space Start-ups for Innovation‘ mit dem Ziel der Förderung des Unternehmertums im Weltraumsektor konzipiert. Ihr Hauptziel ist die Unterstützung von Start-ups und KMU in verschiedenen Phasen ihres Wachstums mit einer Reihe von Instrumenten und Finanzmitteln.

(7)  Richtlinie 2007/2/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INSPIRE) (ABl. L 108 vom 25.4.2007, S. 1).

(8)  Richtlinie (EU) 2019/1024 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über offene Daten und die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors (ABl. L 172 vom 26.6.2019, S. 56).

(9)  Mit 18 Satelliten derzeit in der Umlaufbahn und über 30 geplanten in den nächsten 10 bis 15 Jahren ist die EU gleichfalls der größte institutionelle Abnehmer für Trägerdienste in Europa. Trägerraketen sind nach kommerziellen Satelliten der zweitgrößte Bereich der Raumfahrtindustrie in Europa und somit ein Motor für die europäische Industrie. Die Kommission wird den Bedarf der EU-Programme an Trägerdiensten bündeln und als kluger Abnehmer von europäischen verlässlichen und kostengünstigen Trägerlösungen handeln. Es ist von großer Bedeutung, dass Europa weiterhin über moderne, effiziente und flexible Starteinrichtungen verfügt.

(10)  Im Juni 2019 haben die Mitgliedstaaten die Erklärung zur europäischen Quantenkommunikationsinfrastruktur (EuroQCI) unterzeichnet und vereinbart, gemeinsam mit der Kommission und mit Unterstützung der ESA an der Entwicklung einer Quantenkommunikationsinfrastruktur für die gesamte EU zu arbeiten.

(11)  COM(2021) 70 final.

(12)  Die EU nahm die GOVSATCOM-Komponente der Verordnung (EU) 2021/696 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. April 2021 an, um die langfristige Verfügbarkeit von zuverlässigen, sicheren und kosteneffizienten Satellitenkommunikationsdiensten für GOVSATCOM-Nutzer sicherzustellen. In der Verordnung (EU) 2021/696 ist vorgesehen, dass in einer ersten Phase der GOVSATCOM-Komponente, etwa bis 2025, vorhandene Kapazitäten genutzt werden. In diesem Rahmen sollte die Kommission GOVSATCOM-Kapazitäten von Mitgliedstaaten mit nationalen Systemen und Raumfahrtkapazitäten sowie von kommerziellen Satellitenkommunikations- oder Satellitendienstanbietern beziehen, wobei den grundlegenden Sicherheitsinteressen der Union Rechnung zu tragen ist.

(13)  Tatsächlich ist die staatliche Satellitenkommunikation eine eng mit der nationalen Sicherheit verbundene strategische Ressource, die von den meisten Mitgliedstaaten genutzt wird. Öffentliche Nutzer neigen dazu, entweder staatseigene (zu den Eigentümern staatlicher Satellitenkommunikation gehören Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, Spanien) oder öffentlich-private Lösungen (wie die deutsche Satcom BW oder Luxemburgs GovSat) zu bevorzugen oder auf die Lösungen bestimmter akkreditierter privater Anbieter zurückzugreifen. Die staatliche Satellitenkommunikation (GOVSATCOM) wurde bereits 2013 (Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 19./20. Dezember 2013) als vielversprechendes Gebiet für Initiativen der Union ausgemacht, auf dem ein spürbarer Beitrag zu den Zielen einer starken, sicheren und widerstandsfähigen Europäischen Union geleistet werden kann. Sie ist nun integraler Bestandteil der Weltraumstrategie für Europa (Weltraumstrategie für Europa COM(2016) 705 final), des Europäischen Verteidigungs-Aktionsplans (Europäischer Verteidigungs-Aktionsplan COM(2016) 950 final) und der Globalen Strategie der Europäischen Union.

(14)  Eine geringe Latenz bezieht sich auf eine minimale Verzögerung bei der Verarbeitung von Computerdaten über eine Netzwerkverbindung. Je geringer die Verarbeitungslatenz, desto näher kommt man einem Echtzeit-Zugriff. Eine Netzwerkverbindung mit geringer Latenz ist eine Verbindung, die sehr kurze Verzögerungszeiten aufweist.

(15)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ergebnisse der Zwischenbewertung des Programms ISA (Interoperabilitätslösungen für europäische öffentliche Verwaltungen), 23. September 2019, COM(2019) 615 final.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/185


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — REPowerEU-Plan“

(COM(2022) 230 final)

und

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/241 in Bezug auf REPowerEU-Kapitel in den Aufbau- und Resilienzplänen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1060, der Verordnung (EU) 2021/2115, der Richtlinie 2003/87/EG und des Beschlusses (EU) 2015/1814“

(COM(2022) 231 final — 2022/0164(COD))

(2022/C 486/25)

Berichterstatter:

Stefan BACK

Thomas KATTNIG

Lutz RIBBE

Befassung

Europäisches Parlament, 6.6.2022

Europäischer Rat, 3.6.2022

Europäische Kommission, 28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union; Artikel 194 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

21.9.2022

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/01/07

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Bevor sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) zum Inhalt des REPowerEU-Plans äußert, möchte er als Vertreter der Zivilgesellschaft, die von den derzeitigen dramatischen Preiserhöhungen übermäßig betroffen ist, darauf hinweisen, dass viele der Probleme, die jetzt gelöst werden müssen, hätten vermieden oder zumindest eingegrenzt werden können, wenn die Abhängigkeit von Energieimporten, wie von der Kommission in den vergangenen Jahren vorgeschlagen, verringert worden wäre. Der EWSA verweist auf die Europäische Strategie für Energieversorgungssicherheit von 2014 und die Strategie für die Energieunion von 2015, wonach die EU nach wie vor anfällig für externe Energieschocks ist. Die politischen Entscheidungsträger auf nationaler und EU-Ebene wurden darin aufgefordert, den Bürgern zu vermitteln, welche Entscheidungen mit der Verringerung unserer Abhängigkeit von bestimmten Brennstoffen, Energielieferanten und Versorgungswegen verbunden sind. Die meisten Politiker und große Teile unserer Gesellschaft haben sich jedoch durch die billige Versorgung mit fossilen Brennstoffen blenden lassen und keinerlei Vorsorge getroffen. Dass wir uns nun in dieser Lage befinden, ist dieser Nachlässigkeit zuzuschreiben. Der EWSA bedauert, dass uns erst der Krieg in der Ukraine und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit russischen Energielieferungen dieses grundlegende Problem der Energieversorgungssicherheit vor Augen geführt haben und den Anstoß für die im REPowerEU-Plan vorgeschlagenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland geben mussten.

1.2.

Der EWSA begrüßt das Ziel des REPowerEU-Plans, die EU unabhängig von Gas- und Erdölimporten aus Russland zu machen, und stimmt dem Ansatz zu, der in die vier Bereiche Energieeinsparungen, Diversifizierung der Gaseinfuhren, Substitution fossiler Brennstoffe durch den beschleunigten Einsatz erneuerbarer Energien und Finanzierungslösungen gegliedert ist. Der EWSA nimmt die Unterscheidung zwischen kurz- und mittel- bis langfristigen Maßnahmen zur Kenntnis.

1.3.

Der EWSA betont, dass die Versorgungssicherheit zu möglichst erschwinglichen Kosten sowohl für die Verbraucher als auch für die Industrie gewährleistet werden muss, und weist darauf hin, dass eine Energieversorgung, die sich im Wesentlichen auf erneuerbare Energien und CO2-arme Energiequellen in Europa stützt, erheblich zur Energieversorgungssicherheit beitragen würde.

1.4.

Der EWSA verweist in diesem Zusammenhang auf die Fördermöglichkeiten, die der geplante Klima-Sozialfonds und (für Unternehmen) der befristete Krisenrahmen für staatliche Beihilfen bieten. Ziel muss es sein, den Übergang zu erleichtern.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die im Plan vorgesehenen Anstrengungen angesichts der Dringlichkeit der Versorgungslage als angemessen anzusehen sind. Er teilt deshalb die Auffassung, dass Flexibilität bei der vorübergehenden Nutzung fossiler und CO2-armer Brennstoffe, Kohle und Kernenergie vonnöten ist. Der Übergangszeitraum muss so kurz wie möglich gehalten werden, er darf nicht zu neuen Abhängigkeiten führen und die Bemühungen um das Erreichen der Klimaneutralität so bald wie möglich, spätestens jedoch bis 2050, nicht beeinträchtigen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Status der Kernenergie offen und diese Frage derzeit den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt.

1.6.

Angesichts der Dringlichkeit der Lage und des Risikos unvorhergesehener Störungen der Energielieferungen durch Russland hält der EWSA Maßnahmen für wichtig, die unverzüglich umgesetzt werden können, insbesondere massive Energieeinsparungen, die durch Partnerschaftsabkommen und die frühzeitige Umsetzung neuer Initiativen ergänzt werden. Der EWSA weist auf die Gefahr hin, dass das Zusammenspiel der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der derzeitigen Krise das demokratische System in Mitleidenschaft ziehen könnten, wenn keine geeigneten Lösungen gefunden werden.

1.7.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, das im Paket „Fit für 55“ vorgeschlagene Energieeffizienzziel von 9 % bis 2030 auf 14 % zu erhöhen, und begrüßt die allgemeinen Anstrengungen zur Einsparung von Gas bis 2030 um geschätzt 30 %. Der EWSA begrüßt ferner die kürzlich angenommene Verordnung des Rates über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Nachfrage nach Erdöl und Erdgas um 15 % im Winter 2022/2023 und weist darauf hin, dass die diesbezüglichen Kapazitäten der Mitgliedstaaten unterschiedlich gelagert sind. Die höhergesteckten Ziele der neuen Vorschläge zeigen auch, dass erst die neue Situation infolge des Kriegs in der Ukraine nötig war, um deutlich zu machen, dass verstärkte Anstrengungen unternommen werden müssen. Der EWSA unterstützt insbesondere frühzeitige Energiesparmaßnahmen wie Energieeinsparungen der einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher, die von der Kommission in Partnerschaft mit der IEA angeregt wurden, marktorientierte Maßnahmen wie umgekehrte Auktionen und Laststeuerungsmaßnahmen.

1.8.

Der EWSA fordert die beiden gesetzgebenden Organe ferner auf, der Forderung der Kommission nachzukommen, das von ihr im Rahmen des Plans vorgeschlagene erweiterte Energieeinsparziel in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen, um Zeit zu gewinnen, was in der derzeitigen Lage essenziell ist.

1.9.

Mit Blick auf die Diversifizierung der Einfuhren macht der EWSA auf die Möglichkeiten aufmerksam, die eine freiwillige gemeinsame Beschaffung über die EU-Energieplattform und neue Energiepartnerschaften bieten, die als Optionen unmittelbar umgesetzt werden können. Der EWSA fordert die Kommission dennoch auf, eine geopolitische Strategie für Energieimporte zu entwickeln und dabei den Energie- und Klimanotstand zu berücksichtigen, bevor sie Energiepartnerschaften mit nichtdemokratischen oder politisch instabilen Ländern abschließt.

1.10.

Der EWSA spricht sich für eine Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix der EU aus und unterstützt nachdrücklich die Forderung der Kommission, den im Plan vorgeschlagenen Anteil von 45 % in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen.

1.11.

Um diese höhergesteckten Ziele zu erreichen, muss einiges an technischer Ausrüstung importiert werden, da die EU nicht mehr über Produktionskapazitäten verfügt. Beispielsweise werden Solarpaneele hauptsächlich aus China importiert. Fossile Energieträger hängen somit nicht nur von Einfuhren, sondern auch von der erforderlichen Ausrüstung ab. Der EWSA fordert alle politischen Entscheidungsträger auf, den Ausbau von Produktionsstätten für die Ausrüstung für erneuerbare Energien in Europa, auch für die Batteriespeicherung, massiv zu fördern. Die EU-Allianz für die Solarindustrie könnte ein erster Schritt sein.

1.12.

Allerdings sind massive Investitionen erforderlich, um den Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix der EU zu erhöhen. Gleichwohl ist der Anteil der öffentlichen Investitionen in die Erforschung und Entwicklung von Technologien zur Verringerung der CO2-Emissionen in der EU niedriger als in anderen großen Volkswirtschaften, was die Wettbewerbsfähigkeit der EU bei Schlüsseltechnologien der Zukunft gefährdet. Der EWSA weist darauf hin, dass der ökologische Wandel und die Versorgungssicherheit den richtigen Mix aus erneuerbaren Energien erfordern, damit die Elektrifizierung und die Erzeugung von grünem Wasserstoff, die Entwicklung von Speichertechnologien und die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung erfolgreich sind. Deshalb muss nach wie vor erheblich in Forschung und Entwicklung investiert werden.

1.13.

Der EWSA unterstreicht den Mehrwert der Vorschläge in Bezug auf beschleunigte Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien und die Ausweisung von „go to“-Gebieten für solche Projekte. Der EWSA betont erneut, dass er die Empfehlung, diese Grundsätze frühzeitig anzuwenden, für sinnvoll hält.

1.14.

In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, wie wichtig es ist, erneuerbare Energien, einschließlich Wasserstoff, in Europa selbst zu erzeugen, betont aber auch, dass einige der vorrangigen erneuerbaren Energieträger, wie Wasserstoff, möglicherweise nicht sofort in ausreichender Menge und/oder zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen werden. Um mittelfristig ohne die in Ziffer 1.3 beschriebenen Übergangslösungen auszukommen, ist es wichtig, eine europäische Dekarbonisierungsstrategie mit besonderem Schwerpunkt auf Bereichen, in denen Einsparungen schwer möglich sind (energieintensive Industrien, aber auch Mieter in Wohnblöcken und im Verkehr) zu konzipieren. Praktische Instrumente (z. B. CO2-Differenzverträge und kollektiver Eigenverbrauch) stehen bereits zur Verfügung. Diese Instrumente müssen unter Berücksichtigung der sozialen Auswirkungen und der Notwendigkeit, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern, möglichst rasch zum Einsatz kommen.

1.15.

In Bezug auf die Möglichkeiten für die Entwicklung erneuerbarer Energien weist der EWSA auf das Potenzial des Eigenverbrauchs, der Erneuerbare-Energien-Gemeinschaften und der gemeinsamen Nutzung von Energie hin, das im Plan genannt wird. Leider wird dort jedoch nicht erläutert, wie die einschlägigen Hindernisse beseitigt werden sollen.

1.16.

Der EWSA verweist ferner auf die Bedeutung nationaler Verhaltensmuster und Traditionen, die Entscheidungen hinsichtlich eines nachhaltigen Energiemixes beeinflussen. Der EWSA spricht sich für eine stärkere Nutzung der verfügbaren Ressourcen für die Entwicklung erneuerbarer Energien aus. Angesichts unterschiedlicher Entscheidungen der Mitgliedstaaten sollte auf Flexibilität gesetzt und daher eine große Vielfalt erneuerbarer und CO2-armer Energiequellen genutzt werden, die wirtschaftlich und ökologisch in ein neues Energiesystem passen, das sich vorrangig auf europäische Energiequellen stützt. Der EWSA weist darauf hin, dass der Status der Kernenergie bislang ungeklärt ist und diese Frage derzeit den einzelnen Mitgliedstaaten zur Beurteilung überlassen bleibt.

1.17.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass erneuerbare Energien, ihre Speicherung und Verteilernetze als im überwiegenden öffentlichen Interesse liegend behandelt werden sollten, hätte sich jedoch eingehendere Erläuterungen dazu gewünscht, was dies genau bedeutet. Er hat bereits in früheren Stellungnahmen auf das große Potenzial von Elektroautos als „strategische Stromspeicher“ hingewiesen. Bedauerlicherweise wird auch dies im Plan nicht erwähnt.

1.18.

In Bezug auf Investitionen weist der EWSA darauf hin, dass die möglichen positiven Auswirkungen auf die Beschäftigung und die regionale Wirtschaft stärker in den Mittelpunkt gerückt und dass energie- und klimabezogene Aspekte mit dem sozialen und regionalen Zusammenhalt verknüpft werden müssen.

1.19.

Der EWSA bedauert, dass nicht ausreichend darauf eingegangen wird, wie die öffentlichen Mittel, die als Startkapital dienen könnten, um private Investitionen in die Energieunabhängigkeit zu mobilisieren, zu refinanzieren sind. Eine Möglichkeit könnte eine spezielle Steuer auf Marktlagengewinne aufgrund hoher Öl- und Gaspreise sein. Der EWSA ist sich bewusst, dass bei einer solchen Maßnahme mit Fingerspitzengefühl vorgegangen werden muss, damit Investoren, die in erneuerbare und CO2-arme Energiequellen investieren wollen, nicht abgeschreckt werden.

1.20.

Die im Juli vorgelegte Verordnung des Rates über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage und die dazugehörige Mitteilung „Gaseinsparungen für einen sicheren Winter“ sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung einer besseren Krisenvorsorge, doch würde der EWSA einen allgemeiner gehaltenen Krisenrahmen vorziehen, der für die Bewältigung einer Krise des Ausmaßes geeignet ist, wie es die aktuelle Krise infolge des Krieges in der Ukraine aufweist.

1.21.

Der EWSA nimmt die jüngsten Bemerkungen der Kommissionspräsidentin zur Unzulänglichkeit der derzeitigen Struktur des EU-Energiemarkts und zum Reformbedarf des Strommarkts zur Kenntnis. Der EWSA begrüßt die Absicht, Optionen zur Optimierung des Strommarkts auszuloten, betont jedoch, dass jedem Vorschlag eine umfassende Folgenabschätzung vorausgehen muss.

1.22.

Der Plan, der ohnehin erhebliche Mittel erfordern wird, wird im Rahmen des derzeitigen Finanzrahmens sehr schwer zu finanzieren sein. In diesem Zusammenhang betont der EWSA, wie wichtig es ist, eine goldene Regel für Investitionen in das sozioökologische Verhalten unserer Gesellschaft einzuführen (1).

2.   Hintergrund

2.1.

Mit ihrem REPowerEU-Plan (2) schlägt die Europäische Kommission ein umfassendes Paket von Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen aus Russland vor, indem die Energiewende beschleunigt und gemeinsam daran gearbeitet wird, ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu schaffen. Der Plan gliedert sich in vier Bereiche.

2.2.

Der erste Bereich betrifft Energieeinsparungen: Ziel ist eine weitere Reduzierung des Energieverbrauchs um 5 % bis 2030 über die im Paket „Fit für 55“ vorgeschlagene Senkung um 9 % hinaus. Erreicht werden soll dies durch die Steigerung der Energieeffizienz (3). Der Gasverbrauch soll mit dem Paket „Fit für 55“ bis 2030 um insgesamt 30 % gesenkt werden. Die Kommission hat die beiden gesetzgebenden Organe ersucht, diesen Vorschlag in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen, bevor es verabschiedet wird. Als kurzfristige Sofortmaßnahme sollte die Kommission gemeinsam mit der Internationalen Energieagentur (IEA) eine an Einzelpersonen und Unternehmen gerichtete Kampagne für Energieeinsparungen starten, und sie empfiehlt den Mitgliedstaaten, die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente, einschließlich der verstärkten Umsetzung und Aktualisierung der nationalen Energie- und Klimapläne, in vollem Umfang zu nutzen (4). Der EWSA nimmt die vor kurzem vom Rat angenommene Verordnung zur Kenntnis, die eine Verringerung des Gasverbrauchs im Winter 2022/2023 um 15 % ausgehend vom durchschnittlichen Verbrauch der letzten fünf Jahre in allen Mitgliedstaaten vorgibt (5). Zusammen mit der Verordnung wurde eine Mitteilung mit Vorschlägen für die Umsetzung vorgelegt (6).

2.3.

Der zweite Bereich betrifft die Verringerung der Abhängigkeit von russischem Erdgas um zwei Drittel bis Ende dieses Jahres, und spätestens 2027 soll gar kein Erdgas mehr aus Russland importiert werden. Gelingen soll dies durch die Diversifizierung der Gaseinfuhren, höhere LNG-Importe (+ 50 Mrd. m3) aus den USA, Ägypten, Israel und afrikanischen Ländern südlich der Sahara sowie durch Einfuhren über Pipelines aus anderen Ländern als Russland (+ 10 Mrd. m3). Darüber hinaus wird die im April eingerichtete EU-Energieplattform die Nachfrage bündeln, die freiwillige gemeinsame Beschaffung erleichtern, die Nutzung der Infrastruktur optimieren und langfristige internationale Partnerschaften initiieren. Die Erdgasförderung innerhalb der EU wird ausgebaut, und mittelfristig werden Alternativen wie Biomethan und erneuerbarer Wasserstoff eingesetzt. Die Diversifizierung umfasst auch Kernbrennstoffe, bei denen einige Mitgliedstaaten derzeit von russischen Quellen abhängig sind.

2.4.

Der dritte Bereich betrifft die Substitution fossiler Brennstoffe und die Beschleunigung der Energiewende in Europa. Als erstes wird das Ziel der Erneuerbare-Energien-Richtlinie von 40 % auf 45 % bis 2030 angehoben. Der Schwerpunkt liegt auf Schlüsseltechnologien wie Solarstrom (Ziel: bis 2025 Installation von über 320 GW Solarstromanlagen, also doppelt so viele wie 2022 vorhanden, und bis 2030 Installation von 600 GW Solarstromanlagen, die EU-Strategie für Solarenergie, die neue europäische Solardachinitiative), Windenergie (Beschleunigung der Genehmigungsverfahren etwa durch „go-to“-Gebiete), Wärmepumpen (Verdoppelung des derzeitigen Einsatzes, das heißt in den nächsten fünf Jahren Einbau von insgesamt 10 Millionen Geräten) und Elektrolyseure. Die beiden gesetzgebenden Organe werden aufgefordert, die Teilziele für erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs im Rahmen der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (75 % Industrie, 5 % Verkehr) anzugleichen, die Entwicklung der Wasserstofftechnologie durch Verdoppelung der Zahl der Wasserstofftäler zu beschleunigen und die Bewertung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse (IPCEI) im Bereich Wasserstoff bis zum Sommer abzuschließen, um die Infrastruktur für die Erzeugung, Einfuhr und Beförderung von 20 Millionen Tonnen Wasserstoff bis 2030 zu schaffen (7). Es sollen neue Partnerschaften für Wasserstoff (mit dem Mittelmeerraum und der Ukraine) geschlossen werden. Die Erzeugung von Biomethan soll bis 2030 auf 35 Mrd. m3 steigen. Für die Umrüstung bestehender Biogasanlagen sind in diesem Zeitraum Investitionen in Höhe von 37 Milliarden Euro erforderlich. Um die Elektrifizierung und die Nutzung von Wasserstoff in der Industrie zu unterstützen, wird die Kommission CO2-Differenzverträge und spezielle REPowerEU-Fenster im Rahmen des Innovationsfonds einführen und eine EU-Allianz für die Solarindustrie ins Leben rufen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Biomasse sowie Reststoffen aus der Land- und Forstwirtschaft. Die Kommission ersucht die beiden gesetzgebenden Organe, die ausstehenden Vorschläge zu alternativen Kraftstoffen und weiteren verkehrsbezogenen Dossiers zur Unterstützung einer grünen Mobilität rasch anzunehmen. Eine Initiative zur Ökologisierung des Güterverkehrs ist für 2023 geplant. Die Kommission weist darauf hin, dass die Genehmigungsverfahren auch durch eine frühzeitige Anwendung ausstehender Vorschläge beschleunigt werden müssen.

2.5.

Der vierte Bereich betrifft intelligente Investitionen: Bis 2027 werden weitere Investitionen in Höhe von 210 Milliarden Euro zusätzlich zu dem Betrag benötigt, der für die Umsetzung des Pakets „Fit für 55“ erforderlich ist. Für die Finanzierung von LNG und Pipelinegas anderer Lieferanten werden bis 2030 10 Milliarden Euro benötigt. Für Investitionen in das Stromnetz sind bis 2030 weitere 29 Milliarden Euro erforderlich. Zur Finanzierung dieser Investitionen setzt die Kommission insbesondere auf die Aufbau- und Resilienzpläne, die Versteigerung von Zertifikaten im Rahmen des Emissionshandelssystems sowie auf Mittel der Kohäsionspolitik, der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Fazilität „Connecting Europe“, des Programms „InvestEU“, des Innovationsfonds, und auf steuerliche Maßnahmen.

2.6.

Die Kommission hat eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/241 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität, des Beschlusses (EU) 2015/1814, der Richtlinie 2003/87/EG und der Verordnung (EU) 2021/1060 vorgelegt, damit Mittel aus der Fazilität für die Umsetzung der Ziele des REPowerEU-Plans genutzt werden können.

2.7.

Generell kann es erforderlich sein, während eines Übergangszeitraums weiterhin Erdöl, andere fossile Brennstoffe und Kohle zu verwenden. Auch die Kernenergie kann eine Rolle spielen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Bevor sich der EWSA zum Inhalt des REPowerEU-Plans äußert, möchte er als Vertreter der Zivilgesellschaft, die von den derzeitigen dramatischen Preiserhöhungen übermäßig betroffen ist, darauf hinweisen, dass viele der Probleme, die jetzt gelöst werden müssen, hätten vermieden oder zumindest eingegrenzt werden können, wenn die Abhängigkeit von Energieimporten, wie von der Kommission in den vergangenen Jahren vorgeschlagen, verringert worden wäre. Der EWSA verweist auf die Europäische Strategie für Energieversorgungssicherheit von 2014 und die Strategie für die Energieunion von 2015, wonach die EU nach wie vor anfällig für externe Energieschocks ist. Die politischen Entscheidungsträger auf nationaler und EU-Ebene wurden darin aufgefordert, den Bürgern zu vermitteln, welche Entscheidungen mit der Verringerung unserer Abhängigkeit von bestimmten Brennstoffen, Energielieferanten und Versorgungswegen verbunden sind. Die meisten Politiker und große Teile unserer Gesellschaft haben sich jedoch durch die billige Versorgung mit fossilen Brennstoffen blenden lassen und keinerlei Vorsorge getroffen. Dass wir uns nun in dieser Lage befinden, ist dieser Nachlässigkeit zuzuschreiben. Der EWSA bedauert, dass uns erst der Krieg in der Ukraine und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit russischen Energielieferungen dieses grundlegende Problem der Energieversorgungssicherheit vor Augen geführt haben und den Anstoß für die im REPowerEU-Plan vorgeschlagenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland geben mussten.

3.2.

Eine Folge der von Russland am ukrainischen Volk begangenen Gräueltaten sind Sanktionen gegen Öl- und Gaseinfuhren aus Russland sowie die Drosselung der Energieausfuhren aus Russland in einige EU-Mitgliedstaaten. Deshalb ist es notwendig, die Energieimporte aus Russland rasch zu verringern. Der EWSA unterstützt alle diesbezüglichen Initiativen vorbehaltlos. Ziel muss es sein, alle Energieeinfuhren aus Russland so bald wie möglich, im Idealfall innerhalb der nächsten drei Jahre einzustellen.

3.3.

Der EWSA unterstützt den REPowerEU-Plan daher grundsätzlich in vollem Umfang. Der Plan verfolgt das richtige Ziel, nämlich die Abhängigkeit Europas von russischen Energieimporten so bald wie möglich zu beenden, und umfasst ein geeignetes Paket kurz- und mittelfristiger Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels.

3.4.

Die Situation ist sehr dramatisch, vor allem aus internationaler Sicht. Solange Europa Erdgas und Öl aus Russland einführt, leistet es einen Beitrag zum Aggressionskrieg Putins. Europa braucht russisches Gas, um seine Industrie am Laufen zu halten und die Wohnungen seiner Bürger zu heizen, was die diplomatischen Handlungsmöglichkeiten der EU einschränkt. Während Russland über die Mengen an Gas, die es nach Europa liefert, den Großhandelspreis für Gas manipulieren kann, leiden die Bürger und die Industrie in Europa unter hohen Preisen. Zudem drohen erhebliche wirtschaftliche Folgen, wenn Russland die Gaslieferungen gänzlich einstellt. Die aktuelle Lage wirkt sich also sowohl auf die Preise als auch auf die Versorgungssicherheit negativ aus, Unternehmen wie auch Verbraucher werden als Geiseln genommen. Tatsächlich sind einige Unternehmen aufgrund der hohen Energiepreise bereits gezwungen, ihre Produktion einzuschränken oder einzustellen, auch mit negativen Folgen für die Beschäftigung. Gleichzeitig wissen Haushalte oft nicht, wie sie ihre Energierechnungen bezahlen sollen. Diese Situation belastet auch das demokratische System der EU, weshalb möglichst rasch eine Lösung gefunden werden muss.

3.5.

Geht der REPowerEU-Plan womöglich nicht weit genug? Wenn man berücksichtigt, dass das wesentliche Ziel darin besteht, die Abhängigkeit von russischen Gas- und Erdöleinfuhren schrittweise zu beenden und die EU energiepolitisch unabhängig von Russland zu machen, insbesondere durch die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien, die Steigerung der Energieeffizienz und alternative Einfuhren, aber erforderlichenfalls auch durch die Nutzung fossiler, CO2-armer Energie und Energie auf Kohlebasis als Übergangslösungen für sehr kurze Zeit, müssen die Anstrengungen als angemessen betrachtet werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Europa, vor allem die Mitgliedstaaten, alles in ihren Kräften Stehende tun, um auf Importe von russischem Erdgas so bald wie möglich verzichten zu können. Mit Blick allein auf den REPowerEU-Plan und unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse über die Ergebnisse des Gesetzgebungsverfahrens zum Paket „Fit für 55“ erscheint dies zweifelhaft.

3.6.

Nur zwei vollkommen überzeugende Optionen tragen unmittelbar dazu bei, Erdgas langfristig zu ersetzen, und entsprechen uneingeschränkt den strategischen Zielen von „Fit für 55“: der massive Ausbau der erneuerbaren Energien sowie die drastische Reduzierung der Nachfrage.

3.7.

Angesichts des finanziellen und zeitlichen Aufwands, der für die Entwicklung der wichtigsten mittel- bis langfristigen Lösungen erforderlich ist, unterstreicht der EWSA die Bedeutung von Maßnahmen, die sofort ergriffen werden können, z. B. Entscheidungen von Einzelpersonen und Unternehmen, freiwillige gemeinsame Beschaffungen über die EU-Energieplattform, Bildung neuer Energiepartnerschaften mit zuverlässigen Partnern, Gasspeicherung, Befolgung der Empfehlungen für eine frühzeitige Anwendung schneller Genehmigungsverfahren, Ausweisung von „go-to“-Gebieten und verstärkte Produktion von Biomethanol. Um Zeit zu gewinnen, könnten die beiden gesetzgebenden Organe unverzüglich auf die Forderung der Kommission eingehen, die Ziele der Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien von 40 % auf 45 %, der Steigerung der Energieeffizienz um weitere 5 % und der Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden — wie in gesonderten Vorschlägen dargelegt — in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen. Die beiden gesetzgebenden Organe könnten ferner der Forderung nach einer zügigen Annahme entsprechender Vorschläge nachkommen.

3.8.

Der EWSA begrüßt zudem die kürzlich vorgelegte Verordnung des Rates über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage im Winter 2022/2023.

3.9.

Angesichts der extremen Dringlichkeit der Lage begrüßt der EWSA auch die Art und Weise, wie im REPowerEU-Plan darauf eingegangen wird, dass während eines Übergangszeitraums möglicherweise auch auf fossile und CO2-arme Brennstoffe und Kohle zurückgegriffen werden muss. Dieser Zeitraum sollte möglichst kurz gehalten werden, um zu vermeiden, dass diese Quellen nur Neige gehen. Der EWSA begrüßt ferner, dass die Nutzung der Kernenergie bisher den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt.

3.10.

Der EWSA begrüßt die Einrichtung des Klima-Sozialfonds, mit dem die negativen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen gemindert und den Mitgliedstaaten Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen, um ihre Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen auf finanziell schwächere Haushalte, Kleinstunternehmen und Straßenverkehrsnutzer zu unterstützen. Gleichzeitig weist der EWSA darauf hin, dass der vorgeschlagene Finanzrahmen für den Klima-Sozialfonds nicht ausreichen wird, um die mit dem Erreichen der Klima- und Mobilitätsziele verbundenen sozioökonomischen Auswirkungen verantwortungsbewusst zu bewältigen. Dafür ist eine entsprechend umfassende Mittelausstattung erforderlich. Der EWSA weist ferner darauf hin, dass nicht alle Mitgliedstaaten gleichermaßen in der Lage sind, private Mittel zu mobilisieren und zu verwalten.

3.11.

Die Mitgliedstaaten sollten auch die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere finanziell schwache Haushalte sowohl kurzfristig in den nächsten beiden Wintern als auch auf lange Sicht unterstützen.

3.12.

Bei Energieeinsparungen strebt die Kommission eine sofortige Verringerung des Erdgasverbrauchs um 5 % (rund 13 Mrd. m3) und des Ölverbrauchs (rund 16 Mio. t) an. Dies ist alles andere als ehrgeizig und wird dem Ausmaß der Krise, die durch den Krieg gegen die Ukraine ausgelöst wurde, nicht gerecht. Die politische Realität sieht jedoch immer noch so aus, dass auf der Tagung des Rates „Energie“ vom 27. Juni 2022 die von der Kommission im Jahr 2021 vorgeschlagene Verringerung um 9 % akzeptiert wurde, ohne dass den Vorschlägen des REPowerEU-Plans Rechnung getragen worden wäre, den Vorschlag in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen.

3.13.

In Deutschland ist der Gasverbrauch zwischen Januar und Mai 2022 bereits um fast 15 % zurückgegangen (8). Laut Marktstudien könnten Privathaushalte sogar noch mehr einsparen. Dies zeigt deutlich, dass die Lage und die Handlungsbereitschaft oder Handlungsfähigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten unter Umständen sehr unterschiedlich sind und dass Maßnahmen, die dieser Tatsache Rechnung tragen, wohl die besten Erfolgsaussichten haben, wie die Verordnung des Rates über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage vom 26. Juli 2022 zeigt, die auch den Bedürfnissen der Industrie gebührend Rechnung trägt.

3.14.

Kampagnen zum Thema Energie sollten nicht nur Appelle zur Energieeinsparung beinhalten, sondern Maßnahmen umfassen, die unmittelbare Auswirkungen haben, wie z. B. umgekehrte Auktionen, dass also eine zentrale Behörde (entweder die Regulierungsbehörde oder der Betreiber) eine Ausschreibung für gewerbliche Verbraucher durchführt, die auf der Grundlage ihrer spezifischen Kosten ein Angebot abgeben können, das auf einem möglichst geringen Gasverbrauch beruht. Dies könnte dazu beitragen, die erforderlichen Füllmengen von Gasspeichern zu erreichen, und würde dazu führen, dass die EU bei einem Szenario ohne russisches Gas mit größerer Wahrscheinlichkeit ohne allzu großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden durch den Winter käme. Der EWSA weist auf das Potenzial der Laststeuerung als Mittel zur Senkung der Nachfrage hin.

3.15.

In Bezug auf erneuerbare Energien scheint das von der Kommission festgelegte übergeordnete Ziel, anstelle der 2021 vorgeschlagenen 40 % erneuerbare Energien einen höheren Anteil von 45 % zu erreichen, bisher auf taube Ohren gestoßen zu sein, zumindest bei der Tagung des Rates „Energie“ vom 27. Juni 2022, trotz der Forderung der Kommission, den Vorschlag in das Paket „Fit für 55“ aufzunehmen. Der EWSA bedauert dies, da die gewünschte Entwicklung auf diese Weise verzögert Wirkung zeigen wird. Der EWSA begrüßt trotz alledem den im Mai 2022 unterbreiteten gesonderten Vorschlag, die Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien zu beschleunigen und spezielle „go-to“-Gebiete für solche Projekte einzuführen und somit ein großes Hindernis für den raschen Einsatz erneuerbarer Energien, insbesondere für Solar- und Windenergieprojekte, zu beseitigen. Der EWSA begrüßt deshalb auch die in der Mitteilung REPowerEU ausgesprochene Empfehlung, beschleunigte Genehmigungsverfahren und „go-to“-Gebiete unverzüglich umzusetzen, bis der Vorschlag der Kommission angenommen ist.

3.16.

Um diese höhergesteckten Ziele zu erreichen, muss einiges an technischer Ausrüstung importiert werden, da die EU nicht mehr über Produktionskapazitäten verfügt. Solarpaneele werden beispielsweise hauptsächlich aus China eingeführt. Fossile Energieträger hängen somit nicht nur von Einfuhren, sondern auch von der erforderlichen Ausrüstung ab. Der EWSA fordert alle politischen Entscheidungsträger auf, den Ausbau von Produktionsstätten für die Ausrüstung für erneuerbare Energien in Europa massiv zu fördern. Die EU-Allianz für die Solarindustrie könnte ein erster Schritt sein.

3.17.

Allerdings sind massive Investitionen erforderlich, um den Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix der EU zu erhöhen. Gleichwohl ist der Anteil der öffentlichen Investitionen in die Erforschung und Entwicklung von Technologien zur Verringerung der CO2-Emissionen in der EU niedriger als in anderen großen Volkswirtschaften, was die Wettbewerbsfähigkeit der EU bei Schlüsseltechnologien der Zukunft gefährdet. Der EWSA weist darauf hin, dass der ökologische Wandel und die Versorgungssicherheit den richtigen Mix aus erneuerbaren Energien erfordern, damit die Elektrifizierung und die Erzeugung von grünem Wasserstoff, die Entwicklung von Speichertechnologien und die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung erfolgreich sind und Konzepte wie virtuelle Kraftwerke endlich einsetzbar sind. Deshalb muss nach wie vor erheblich in Forschung und Entwicklung investiert werden.

3.18.

Konzepte wie Eigenverbrauch, Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und die gemeinsame Nutzung von Energie, die im Paket „Saubere Energie“ umfassende Anerkennung gefunden haben und die der EWSA seit jeher unterstützt, sind wichtig für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Es besteht ein massiver Investitionsbedarf. Die Bürgerinnen und Bürger sind bereit, in den Eigen- oder Gemeinschaftsverbrauch zu investieren, wenn ihnen bewusst gemacht wird, dass auch sie hiervon profitieren. Sie sollten eher ermutigt als abgeschreckt werden. In vielen Mitgliedstaaten ist allerdings nach wie vor Letzteres der Fall. In der Solarstrategie der EU, die im Zusammenhang mit dem REPowerEU-Plan steht, wird dies anerkannt und die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED II) inhaltlich wieder aufgenommen, ohne im Einzelnen anzugeben, wie die Mitgliedstaaten letztlich zur Beseitigung einschlägiger Hindernisse verpflichtet werden können.

3.19.

Es ist sinnvoll, erneuerbare Energien und ihre Speicherung als im überwiegenden öffentlichen Interesse liegend zu definieren, aber die unmittelbaren Auswirkungen sind nach wie vor unklar. Auch das Verteilernetz, das die einzelnen Anlagen mit den Verbrauchern verbindet, muss als im überwiegenden öffentlichen Interesse liegend eingestuft werden.

3.20.

Selbst bei einer massiven Verringerung des Energiebedarfs (siehe Ziffern 3.7 bis 3.9) und dem Ausbau der erneuerbaren Energien (siehe Ziffern 3.10 bis 3.12) wird die EU offensichtlich weder kurz- noch mittelfristig in der Lage sein, die nötige Energieautarkie herzustellen. Diese scheint zwar langfristig möglich, allerdings ist offen, ob sie überhaupt wünschenswert ist. Die schlechten Erfahrungen mit der Abhängigkeit von Russland zeigen, dass ein durchdachter Ansatz für die Frage gebraucht wird, mit welchen Ländern/Regionen in Zukunft zusammengearbeitet werden soll. Einerseits sind angesichts der Dringlichkeit des Problems rasche Entscheidungen in Bezug auf Importe von LNG und (grünem) Wasserstoff zu treffen, andererseits sollten langfristige Verbindlichkeiten ohne eine vorherige umfassende Risikoanalyse vermieden werden. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine geopolitische Strategie für Energieimporte zu entwickeln, bevor sie Energiepartnerschaften mit nichtdemokratischen oder politisch instabilen Ländern vorschlägt. Der Klimaschutz und der Energienotstand sind dabei zu berücksichtigen.

3.21.

LNG ist für viele Mitgliedstaaten sicher eine Lösung, muss jedoch angesichts seines CO2-Fußabdrucks als Brückentechnologie betrachtet werden und darf nur für möglichst kurze Zeit genutzt werden. Innerhalb der nächsten 20 Jahre muss jede neu gebaute LNG-Infrastruktur entweder wieder abgebaut werden oder für den Transport und die Verteilung von grünem Wasserstoff geeignet sein. Dies muss grundlegende Voraussetzung für alle Investitionsentscheidungen sein, die in den nächsten Monaten zu treffen sind. Die Eignung für die künftige Verwendung mit Wasserstoff (H2-Readiness) wird häufig als Kategorie für die Einstufung verwendet, tatsächlich ist jedoch vollkommen unklar, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutet. Ähnlich wie bei der Definition von grünem Wasserstoff im einschlägigen delegierten Rechtsakt muss die Kommission den Begriff H2-Readiness definieren, um für Investitionssicherheit im Verein mit klaren Klimazielen zu sorgen. Die Taxonomie sollte entsprechend geändert werden.

3.22.

Dies zeigt, wie wichtig es ist, nationale Verhaltensmuster und Konzepte bei der Prüfung eines nachhaltigen Energiemixes zu berücksichtigen. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission in ihrem REPowerEU-Plan die Rolle der Kernenergie kurz erwähnt, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese Option in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Der EWSA befürwortet eine verstärkte Nutzung der in der EU zur Verfügung stehenden Ressourcen, einschließlich vor allem eines raschen und massiven Ausbaus der erneuerbaren Energien, wie von der Kommission vorgeschlagen. Vielseitige Optionen der Energieerzeugung tragen zur Sicherheit der Energieversorgung bei. Neben Wind- und Solarenergie sollte deshalb das ganze Spektrum der CO2-armen Energiequellen genutzt werden, die in das neue Energiesystem passen, das in erster Linie auf fluktuierenden europäischen Energiequellen beruht.

3.23.

Im Bereich „Intelligente Investitionen“ werden die richtigen Prioritäten festgelegt. Der EWSA bekräftigt jedoch, dass eine klimaneutrale, dezentrale und digitalisierte Energieversorgungsstruktur mit dem richtigen Ansatz ganz erhebliche positive Auswirkungen auf die Beschäftigung und die regionale Wirtschaft haben kann (siehe TEN/660). Die Europäische Union braucht in der derzeitigen Krise einen allgemeinen energiepolitischen Ansatz, der die spezifischen energie- und klimabezogenen Themen mit den Zielen der Politik des sozialen und regionalen Zusammenhalts verbindet. Dieser Aspekt wird in der Solarstrategie, die die Kommission zusammen mit dem REPowerEU-Plan vorgelegt hat, weitgehend ignoriert.

3.24.

Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass durch öffentliche Investitionen private Gelder mobilisiert werden können und müssen. Im REPowerEU-Plan wird jedoch nicht auf die Refinanzierung der eingesetzten öffentlichen Mittel eingegangen. Eine Möglichkeit dazu wäre die Abschaffung der Subventionen für fossile Ressourcen, eine andere die Besteuerung von Marktlagengewinnen, die aus der umfassenden Öl- und Gaskrise resultieren und zu extrem hohen Zusatzprofiten vor allem bei großen Ölgesellschaften führen. Der EWSA schlägt vor, diese Gewinne mit Hilfe von Steuern abzuschöpfen und als finanziellen Ausgleich an Energieverbraucher, z. B. finanziell schwächere Haushalte oder energieintensive Unternehmen, weiterzugeben sowie für den Ausbau erneuerbarer Energiequellen und der erforderlichen Netzinfrastruktur zu nutzen, was in einigen Mitgliedstaaten bereits diskutiert oder umgesetzt wird. Nach Ansicht des EWSA ist bei der Festlegung einer solchen Besteuerung sehr viel Fingerspitzengefühl erforderlich, damit Energieunternehmen nicht davon abgehalten werden, in CO2-arme Lösungen zu investieren. Er fordert die Kommission auf, unverzüglich entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen.

3.25.

Da es wahrscheinlich sinnvoll ist, Lösungen zu fördern, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind, unterstützt der EWSA uneingeschränkt den Vorschlag der Kommission, die Aufbau- und Resilienzpläne und die Aufbau- und Resilienzfazilität zur Umsetzung des REPowerEU-Plans zu nutzen.

3.26.

Der Plan, der ohnehin erhebliche Mittel erfordern wird, wird im Rahmen des derzeitigen Finanzrahmens sehr schwer zu finanzieren sein. In diesem Zusammenhang betont der EWSA, wie wichtig es ist, eine goldene Regel für Investitionen in das sozioökologische Verhalten unserer Gesellschaft einzuführen (9).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Biomethan kann dazu beitragen, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas zu verringern bzw. zu beenden. Für seine Erzeugung sollten jedoch insbesondere bestehende Biogasanlagen modernisiert werden, auch um eine Gefährdung der biologischen Vielfalt zu vermeiden. Biogasanlagen werden derzeit häufig nur zur Stromerzeugung im Grundlastbereich, d. h. rund um die Uhr, eingesetzt. Die dabei entstehende Wärme wird selten genutzt. Dies ist ineffizient. Entweder sollte das gewonnene Biogas verarbeitet und direkt ins Gasnetz eingespeist werden, oder es sollte auch für die Wärmeversorgung in Form von lokalen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen verwendet werden. Kleinere Gasspeicheranlagen könnten zur Stromerzeugung beitragen, wenn zu wenig Wind oder Sonne vorhanden sind. Es muss in die Nachrüstung bestehender Anlagen investiert werden. In der Mitteilung werden zwar die jeweiligen Anreize genannt, Einzelheiten fehlen jedoch und müssen dringend nachgeliefert werden

4.2.

Wie in Ziffer 3.14 dargelegt, muss kurz- und mittelfristig auch auf LNG gesetzt werden. Im REPowerEU-Plan sind Bewertungen und Planung, freiwillige gemeinsame Beschaffungen und eine bessere Koordinierung vorgesehen. Einzelne Mitgliedstaaten werden jedoch bereits jetzt tätig. Es bedarf europäischer Solidarität, und die Kommission muss sicherstellen, dass kein Mitgliedstaat gegen die Interessen eines anderen Mitgliedstaats verstößt, wie dies in der Verordnung (EU) 2017/1938 über die sichere Erdgasversorgung vorgesehen ist.

4.3.

Die Verordnung über die sichere Erdgasversorgung sieht auch einen umfassenden europäischen Solidaritätsmechanismus für den Fall eines Gasnotstands vor. Die kürzlich vorgelegte Verordnung des Rates über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage und die dazugehörige Mitteilung „Gaseinsparungen für einen sicheren Winter“ sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung einer besseren Krisenvorsorge, doch würde der EWSA einen allgemeiner gehaltenen Krisenrahmen vorziehen, der auf die Bewältigung einer Krise des Ausmaßes ausgerichtet ist, wie es die aktuelle Krise infolge des Krieges in der Ukraine aufweist.

4.4.

Die Erzeugung von Wärme durch elektrische Energie und Wärmepumpen, auch zur Fernwärmeversorgung, wird wohl zu den vielversprechendsten Ansätzen gehören, wenn es darum geht, Erdgas für Wärmezwecke zu ersetzen. Es gibt jedoch zahlreiche Hindernisse (angefangen von den benötigten Fachkräften bis hin zu sozialen Fragen, insbesondere in Stadtvierteln mit einem hohen Mieteranteil). Diese Punkte werden in der Mitteilung nicht berücksichtigt. Dafür bedarf es eines detaillierteren und auch kritischeren Blicks, der auch die Zivilgesellschaft einbezieht.

4.5.

Der massive Anstieg der Energiepreise hat die Schwächen des Energiemarktes offengelegt. Kommissionspräsidentin von der Leyen selbst hat erklärt, dass der Strommarkt nicht mehr funktioniert und reformiert werden muss. Die Zukunft der Energieversorgung erfordert die Beantwortung grundlegender Fragen, etwa wie eine umweltfreundliche, erschwingliche und zuverlässige Energieversorgung und das Recht auf Energie gewährleistet werden können. Gestaltung und Regulierung müssen an die neuen Gegebenheiten der vorherrschenden erneuerbaren Energiequellen angepasst werden, die notwendigen Voraussetzungen für die einzelnen Akteure sicherstellen und einen angemessenen Verbraucherschutz stärken. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Optionen zur Optimierung der Gestaltung des Strommarkts zu prüfen, und unterstützt nachdrücklich Marktbewertungen, bei denen das Verhalten aller potenziellen Akteure am Energiemarkt sowie die Gestaltung des Energiemarkts analysiert werden. Ohnehin betont der EWSA, dass eine umfassende Folgenabschätzung zu erfolgen hat, bevor Vorschläge vorgelegt werden. Er weist darauf hin, dass die hohen Strompreise, einschließlich der Bündelung von Strom- und Gaspreisen, die sich negativ auf die Wirtschaft der Mitgliedstaaten auswirken, dringend angegangen werden müssen.

4.6.

Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass zunehmend eine systematische Prognose der steigenden Energienachfrage aufgeschlüsselt nach Gebieten und Energiearten unter Berücksichtigung der Umwandlung von Energiearten sowie eine konzeptionelle Planung der Architektur des künftigen Energiesystems notwendig sind, um sicherzustellen, dass die Investitionen an der richtigen Stelle getätigt werden und die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Die Kommission sollte einen entsprechenden Überblick erstellen und ihn umfassend bekannt machen, da es in der Gesellschaft oft an Wissen darüber mangelt, in welchem Umfang sich Europa selbst mit Energie versorgen kann.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Stellungnahme des EWSA ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11.

(2)  COM(2022) 230 final.

(3)  COM(2022) 222 final.

(4)  COM(2022) 240 final.

(5)  Ratsdokument 11625/22.

(6)  COM(2022) 360 final.

(7)  COM(2022) 230 final, S. 7, und SWD(2022), S. 26.

(8)  Industrie spart Gas, Sparpotenzial bei Verbrauchern nicht gehoben (handelsblatt.com).

(9)  Stellungnahme des EWSA ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/194


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema

„Vorübergehende Entlastung der Flughäfen von den Vorschriften für Zeitnischen aufgrund von COVID-19“

(COM(2022) 334 final)

(2022/C 486/26)

Hauptberichterstatter

Thomas KROPP

Befassung

Europäische Kommission, 12.7.2022

Europäisches Parlament, 19.7.2022

Rat: 4.8.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

143/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass die Luftfahrt innerhalb der EU und weltweit für Konnektivität sorgt, die eine grundlegende Voraussetzung für Handel und Tourismus und damit auch für den wirtschaftlichen Wohlstand Europas ist. Die Luftfahrtbranche leidet nach wie vor unter dem Zusammenspiel der Auswirkungen mehrerer globaler Krisen: der COVID-19-Pandemie, der Schließung des Luftraums mehrerer europäischer Handelspartner (insbesondere Chinas), des Krieges in der Ukraine, der enormen Inflation, der steigenden Wahrscheinlichkeit einer weltweiten Rezession und des Mangels an Arbeitskräften in verschiedenen Wirtschaftszweigen, nicht zuletzt in der Luftfahrt selbst. Andere Regionen der Welt verfolgen aufmerksam, wie die europäische Luftfahrt mit diesen Herausforderungen umgeht. Benachbarte Drehkreuze in Istanbul, Dubai, Doha und London werden von der eingeschränkten Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Drehkreuze und der international tätigen europäischen Netzwerk-Carrier profitieren. Der EWSA hat deshalb immer wieder darauf hingewiesen, dass jegliche Regulierungsmaßnahmen, die den Luftverkehr betreffen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas nicht beeinträchtigen dürfen. Es wäre für die Umwelt und für die in Europa beschäftigten Arbeitskräfte schädlich, wenn die Passagierströme nicht mehr über internationale Verbindungen in Europa liefen, sondern über Drehkreuze außerhalb der EU zu internationalen Destinationen gelangen würden. Die vorgeschlagenen Änderungen der Zeitnischenverordnung sind auch in diesem umfassenderen Kontext zu sehen.

1.2.

In der Verordnung (EWG) Nr. 95/93 (1) sind die Verfahren und Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der EU festgelegt. Gemäß Artikel 10 dieser Verordnung müssen Luftfahrtunternehmen mindestens 80 % der ihnen zugewiesenen Zeitnischen innerhalb einer bestimmten Flugplanperiode nutzen, um in der entsprechenden Flugplanperiode des darauffolgenden Jahres ihr Anrecht auf dieselbe Abfolge von Zeitnischen zu wahren.

1.3.

Angesichts des unerwarteten Ausmaßes und Andauerns der Pandemie hat die Kommission die Zeitnischenverordnung seit dem Beginn der Pandemie zweimal geändert und die „Use-it-or-lose-it“-Regel praktisch ausgesetzt. Zudem wurde der Kommission die Befugnis übertragen, delegierte Rechtsakte zu erlassen, um unerwarteten weiteren Entwicklungen Rechnung zu tragen. Diese Maßnahmen zur Entlastung von der Zeitnischenregelung laufen am 29. Oktober 2022 aus, die der Kommission übertragenen Befugnisse sind bereits am 21. Februar 2022 ausgelaufen. Eine weitere Überprüfung und zusätzliche Anpassungen sind nun dringend erforderlich, um den Gegebenheiten auf dem Markt Rechnung zu tragen.

1.4.

Auf der Grundlage der Prognosen von EUROCONTROL geht die Kommission davon aus, dass der Luftverkehrsmarkt allmählich wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreichen wird. Diese Annahme könnte sich jedoch als zu optimistisch erweisen (2). Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag zwar gut gemeint ist, aber nicht die notwendigen Vorkehrungen enthält, um unbeabsichtigte Rückschläge für die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu verhindern.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Zielsetzung des neuen Kommissionsvorschlags, die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Luftverkehrsmarkt in möglichst hohem Maße zu erhalten. Die Marktanalyse der Kommission und die von ihr prognostizierte Marktentwicklung in den kommenden drei Saisons sind jedoch nicht belastbar genug, um die vorgeschlagene Rückkehr zur 80:20-Regel zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Die Einschätzung der Kommission, dass der Luftverkehrsmarkt derzeit wieder zum „Normalzustand“ zurückkehre, kann der EWSA nicht teilen. Auf der Grundlage der Daten der Kommission wäre eine niedrigere Schwelle, z. B. 70:30, angemessener, bis sich der Markt stabilisiert hat.

1.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, den Anwendungsbereich der Regel für gerechtfertigte Ausnahmen von der Zeitnischennutzung auch auf politische Unruhen und Naturkatastrophen auszuweiten, wenn diese Umstände zu eindeutig beschriebenen Beschränkungen für den Luftverkehr führen. Der EWSA ist jedoch nicht überzeugt, dass die vorgeschlagenen Änderungen der derzeitigen Regeln für gerechtfertigte Ausnahmen von der Zeitnischennutzung sinnvoll sind. Die von der Kommission vorgesehenen Verfahren bringen unnötige Komplikationen mit sich. Tatsächlich können die Abweichungen von den derzeitigen Verfahren nicht mehr als Notmaßnahmen eingestuft werden und führen somit zu Rechtsunsicherheit in einer Zeit, in der die gesamte Branche dringend einen stabilen Rechtsrahmen benötigt.

1.7.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Transparenz der Zeitnischenzuweisung zu verbessern, indem die Rolle der European Airport Coordinators Association gestärkt wird und die Koordinatoren verpflichtet werden, die Destinationen, für die die Ausnahmen gelten, zu veröffentlichen.

1.8.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Abmilderung der anhaltenden und vorhersehbaren Auswirkungen, die der militärische Angriff Russlands auf die Ukraine auf die europäische Luftfahrt hat. Die Annahme der Kommission, dass die normalen Regelungen vier Monate nach dem Ende der Feindseligkeiten wieder in Kraft treten können, erscheint jedoch zu optimistisch.

1.9.

Der EWSA unterstützt die Anliegen der Kommission zwar uneingeschränkt, ist jedoch der Auffassung, dass trotz des offensichtlichen Zeitmangels eine Folgenabschätzung angebracht gewesen wäre, um die Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderungen der bestehenden Zeitnischenverordnung besser abschätzen zu können. In Ermangelung einer Folgenabschätzung zur Untermauerung der Vorschläge stützt sich die Kommission auf Prognosen von EUROCONTROL, die nicht unbedingt die Komplexität der aktuellen Marktentwicklungen widerspiegeln.

1.10.

Eine Folgenabschätzung ist nicht nur erforderlich, um Änderungen der bestehenden Zeitnischenverordnung zu begründen. Wie der EWSA bereits betont hat (3), sollten die Maßnahmen der EU eng mit dem Worldwide Airport Slot Board (WASB) abgestimmt werden, um zu verhindern, dass in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Ansätze in derselben Frage verfolgt werden.

1.11.

Die anhaltenden globalen Krisen müssen vor dem Hintergrund ihrer kumulativen Auswirkungen auf den internationalen Luftverkehr gesehen werden. Da die Eindämmung dieser Auswirkungen derzeit schwierig ist, sollte die Kommission den Vorschlag nach Ansicht des EWSA überprüfen, um die Änderungen an den bestehenden Regelungen möglichst gering zu halten und so ihren Charakter als „Notfallbestimmungen“ zu wahren. Die derzeitige Notlage ist keinesfalls bewältigt, weshalb die Notfallbestimmungen zumindest für den von der Kommission vorgesehenen Zeitraum verlängert werden sollten. Für die Planung von Änderungen, wie sie die Kommission vorschlägt, ist es sicherlich zu früh.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Wie die Kommission in ihrer Begründung darlegt, besteht die regulatorische Herausforderung im Zusammenhang mit der Zeitnischenverordnung darin, die Nutzung der angestammten Zeitnischen sicherzustellen. Die Kommission hat die Verordnung zweimal geändert, um die „Use-it-or-lose-it“-Regel anzupassen. Der Kommission wurde auch die Befugnis übertragen, delegierte Rechtsakte zu erlassen, mit denen die Schwelle für die Nutzung von Zeitnischen entsprechend dem anhaltenden Rückgang der Nachfrage angepasst werden kann.

2.2.

Diese Maßnahmen zur Entlastung von der Zeitnischenregelung laufen am 29. Oktober 2022 aus, die der Kommission übertragenen Befugnisse sind bereits am 21. Februar 2022 ausgelaufen. In Bezug auf die Grundregel „Use-it-or-lose-it“ schlägt die Kommission nun vor, ab dem 29. Oktober 2022 wieder die Standardnutzungsrate von 80 % anzuwenden. Als Begründung wird angeführt, dass das Verkehrsaufkommen laut Prognosen von EUROCONTROL vom Juni 2022 in der Wintersaison 2022/2023 wieder 90 % des Niveaus von 2019 erreichen werde.

2.3.

Der EWSA hält dieses Argument nicht für überzeugend. Infolge des militärischen Angriffs Russlands auf die Ukraine hat die Zahl der Militärflüge ebenso wie der umgeleiteten Überflüge erheblich zugenommen, wobei beide Kategorien von Flügen für die Slot-Zuweisung nicht von Bedeutung sind. Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen der Beförderung von Luftfracht, die während der Krise nicht wesentlich zurückgegangen ist, und dem Fluggastverkehr, der im Gegensatz dazu deutlich zurückgegangen ist. Eine weitere Unterscheidung ist auf dem Passagiermarkt zu treffen: Infolge der Einführung des EU-COVID-Zertifikats hat sich der innereuropäische Verkehr wesentlich schneller wieder erholt und steuert auf die Zahlen vor der Pandemie zu. Der Inlands- und der Langstreckenflugverkehr hingegen befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Erholung. Der Geschäftsreiseverkehr dürfte sich deutlich langsamer erholen als der Urlaubsreiseverkehr (4). Es ist keineswegs sicher, dass sich letzterer stetig erholen wird; ein Teil der Zunahme ist auf den Nachfragestau bei Ferienreisen nach zwei Jahren COVID-19 zurückzuführen. Die großen europäischen Linienfluggesellschaften haben ihr großes Langstreckenflugzeug, den Airbus 380, noch nicht wieder reaktiviert, gerade weil die Airlines mit hohen Treibstoffkosten konfrontiert sind und weil sie nicht mit einem spürbaren und stetigen Anstieg der Nachfrage rechnen. Aus den von den Interessenträgern vorgelegten Daten geht hervor, dass der Flugverkehr voraussichtlich auf 90 % des Niveaus von 2019, die Passagiernachfrage jedoch nur auf 78 % steigen wird. Ist die Auslastung der Flugzeuge geringer, werden die Fluggesellschaften wahrscheinlich mehrere Flüge desselben Tages zusammenfassen, um weiterhin rentabel fliegen zu können (5). Die Nachfrage wird durch steigende Inflationsraten und das zunehmende Rezessionsrisiko in mehreren Ländern beeinflusst. Prognosen sollten sich deshalb nicht auf die Regionen stützen, die bei der Erholung vorn liegen, sondern auch besonders stark betroffene Teilmärkte berücksichtigen.

2.4.

Der EWSA ist deshalb überzeugt, dass die Erholung des Luftverkehrsmarktes möglicherweise mühsamer sein wird, als von der Kommission angenommen. Die einzelnen Marktsegmente erholen sich nach wie vor in unterschiedlichem Tempo: Frachtverkehr 6 % im Vergleich zu 2019, Billigfluggesellschaften - 9 % und Netzwerkfluggesellschaften 21 %. Dies ist umso wichtiger, als sich die Schwellenwerte auf ganze Abfolgen von Zeitnischen beziehen, was bedeutet, dass die Abfolge von Slots (z. B. Flüge zur Hauptreisezeit) über der 80 %-Schwelle liegen muss. Vor der Pandemie lag die Zeitnischennutzungsrate bei 95 % und die niedrigste Nutzungsrate bei 80 %. Wenn EUROCONTROL eine durchschnittliche Zeitnischennutzungsrate von 90 % prognostiziert, ist davon auszugehen, dass die Abfolgen von Zeitnischen (im Durchschnitt) unter 80 % liegen. Aus diesen Gründen ist es viel zu früh, zu einem Schwellenwert von 80:20 zurückzukehren. Sinnvoller wäre es wohl, ein Verhältnis von 70:30 festzulegen, bis belastbarere Daten vorliegen, die eine nachhaltige Erholung des Marktes belegen. Außerdem zeigen auch die Probleme, mit denen die europäischen Flughäfen konfrontiert sind, deutlich, dass die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie noch nicht bewältigt sind. Große Drehkreuze innerhalb der EU wie Frankfurt und außerhalb der EU wie London Heathrow haben die Zahl der Starts und Landungen gedeckelt, was zur massenhaften Annullierung von Flügen geführt hat, um den Druck auf den Flugbetrieb auf diesen Flughäfen zu verringern, der durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren verursacht wird, wie z. B. Personalmangel. Dies deutet darauf hin, dass die Schwellenwerte für die Zeitnischennutzungsrate vor der Pandemie noch nicht wieder erreicht werden können (6).

2.5.

Ein Verhältnis von 70:30 entspräche den von der britischen Regierung beschlossenen Schwellenwerten und den ihnen zugrunde liegenden Überlegungen (7). Obwohl dies von der Luftverkehrsbranche heftig kritisiert wurde, wird damit nach Ansicht des EWSA ein fundiertes Gleichgewicht zwischen der Rückkehr zum Status quo ante und der Einsicht gefunden, dass angesichts der anhaltenden großen Herausforderungen für die Branche nach wie vor ein (wenn auch verringerter) Schutz von Zeitnischen erforderlich ist. Darüber hinaus wird dadurch der Schwellenwert der EU-Zeitnischenverordnung an den der Nachbarländer angeglichen, und es werden gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Drehkreuze der EU-Luftfahrtunternehmen und den Flughafen London Heathrow, das größte internationale Drehkreuz in Europa, geschaffen.

2.6.

Darüber hinaus schlägt die Kommission vor, dass ihr die Befugnis übertragen wird, im Zeitraum vom 29. Oktober 2022 bis zum 26. März 2024 die Zeitnischennutzungsrate jederzeit von sich aus durch einen delegierten Rechtsakt in einer Spanne zwischen 0 % und 70 % zu ändern, sofern EUROCONTROL-Daten zeigen, dass der wöchentliche Luftverkehr in vier aufeinanderfolgenden Wochen im Vergleich zu den entsprechenden Wochen im Jahr 2019 unter 80 % fällt und dass der Rückgang des Verkehrsaufkommens wahrscheinlich anhalten wird. Die Kommission schlägt ferner vor, dass Luftfahrtunternehmen eine gerechtfertigte Ausnahme von der Zeitnischennutzung in Anspruch nehmen können, wenn Behörden zur Bewältigung epidemiologischer Lagen, politischer Unruhen oder Naturkatastrophen Beschränkungen erlassen und diese sich nachteilig auf den Luftverkehr auswirken.

2.7.

Der EWSA unterstützt die Kommission in ihren Bemühungen, dafür zu sorgen, dass sie unter klar definierten außergewöhnlichen Umständen flexibel und transparent auf delegierte Rechtsakte zurückgreifen kann, um die Berechnung der Zeitnischennutzungsraten anzupassen und so die Schwellenwerte zum Schutz von Zeitnischen zu ändern. Dieses Ziel wird mit dem neuen Entwurf jedoch in mehrfacher Hinsicht verfehlt.

2.7.1.

Im Gegensatz zur Kommission ist der EWSA der Auffassung, dass Fluggesellschaften in den Genuss von gerechtfertigten Ausnahmen von der Zeitnischennutzung kommen sollten, wenn öffentliche Empfehlungen gegen Reisen ausgesprochen werden. Selbst wenn Reisewarnungen keine unmittelbare rechtliche Wirkung haben, so beeinflussen sie sehr wohl die Nachfrage nach Flugreisen, was angemessen berücksichtigt werden sollte.

2.7.2.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Anforderung, das wöchentliche Flugaufkommen vier aufeinanderfolgende Wochen lang zu überwachen, bevor Abhilfemaßnahmen ergriffen werden können, eine zu große Bürde darstellt und rechtliche Maßnahmen unnötig verzögern könnte. Es erscheint willkürlich, ohne richtige Begründung eine vierwöchige Überwachungsphase festzulegen. Wesentlich wichtiger ist es, eine transparente Entscheidungsfindung zu gewährleisten.

2.7.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Regelung für gerechtfertigte Ausnahmen von der Zeitnischennutzung für den Start- und Zielflughafen gilt, denn beide bilden ein untrennbar miteinander verbundenes Paar, wenn es um die Wiederherstellung des früheren Slot-Portfolios auf bestimmten Routen geht. Aktuell hat die Kommission dies nicht als verbindliche Anforderung festgelegt.

2.7.4.

Die Kommission hat nicht ausreichend begründet, warum die Berechnung der Zeitnischennutzungsrate geändert werden sollte: In Artikel 10 Absatz 4 der Zeitnischenverordnung ist vorgesehen, dass geschützte Zeitnischen als genutzte Zeitnischen betrachtet werden, während die Kommission nun vorschlägt, diese nicht zu berücksichtigen. Die Kommission geht ohne weiteren Nachweis davon aus, dass die normalen Zeitnischenregeln 16 Wochen nach der Wiedereröffnung des ukrainischen Luftraums wieder in Kraft gesetzt werden können. Angesichts der anhaltenden Feindseligkeiten, des Ausmaßes der Zerstörung der Infrastruktur und der Unsicherheiten in Bezug auf Inhalt und Solidität einer Vereinbarung zwischen beiden Seiten erscheint dies zu optimistisch. 16 Wochen sind eine willkürliche Zahl, die nicht die Grundlage für eine gesetzgeberische Entscheidung über die Rückkehr zur Normalität bilden sollte.

2.8.

Der EWSA hat sich stets dafür ausgesprochen, dass die Kommission darauf hinarbeitet, die Zeitnischenverordnung so weit wie möglich an die internationalen Praktiken und Strategien anzupassen. An den Konsultationen über die Anpassung der Zeitnischenvorschriften an Krisen, mit denen sich der Markt konfrontiert sieht, sind alle relevanten Interessenträger beteiligt.

2.9.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgeschlagenen Verbesserungen in Bezug auf die Art und Weise der Zusammenarbeit der Zeitnischenkoordinatoren. Mehr Transparenz im Verfahren verhindert unnötige Verwirrung bei allen Marktteilnehmern.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EWG) Nr. 95/93 des Rates vom 18. Januar 1993 über gemeinsame Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft (ABl. L 14 vom 22.1.1993, S. 1).

(2)  Ankündigung weiterer Flugannullierungen durch die Lufthansa angesichts der anhaltenden Krise: https://www.airliners.de/lufthansa-streicht-winterflugplan/65956.

(3)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 37, siehe Ziffer 1.5.

(4)  https://www.airliners.de/prognose-globaler-geschaeftsreiseverkehr-erholt-deutlich/65958.

(5)  Die Passagierzahlen und Prognosen für den Flughafen München zeigen, dass die Rückkehr zum Verkehrsaufkommen aus der Zeit vor der Pandemie länger als erwartet dauern wird: https://www.airliners.de/wachsendes-passagieraufkommen-bayerns-flughaefen-weit-entfernt-corona-niveau/65950.

(6)  In der Begründung erwähnt die Kommission den Personalmangel an wichtigen Flughäfen, betrachtet ihn jedoch als kurzfristiges Phänomen. Dies ist jedoch fraglich, da der Personalmangel viele Branchen und nicht nur den Luftverkehr betrifft. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass dieses Problem in der Luftfahrt in naher Zukunft gelöst sein wird.

(7)  Am 24. Januar 2022 passte die britische Regierung die Zeitnischennutzungsrate mit Wirkung vom 27. März 2022 auf 70:30 an. Damit sollte die Rückkehr zu den üblichen Regeln ermöglicht und die Branche zugleich vor künftigen Unsicherheiten geschützt werden, wie der britische Verkehrsminister Grant Shapps erläuterte.


21.12.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 486/198


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die geopolitischen Auswirkungen der Energiewende“

(JOIN(2022) 23 final)

(2022/C 486/27)

Berichterstatter:

Tomasz Andrzej WRÓBLEWSKI (PL-I)

Ko-Berichterstatter:

Ioannis VARDAKASTANIS (EL-III)

Befassung

28.6.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Plenums

21.9.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Befassung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

14.9.2022

Verabschiedung im Plenum

21.9.2022

Plenartagung Nr.

572

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

229/1/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

2022 wird als Jahr tiefgreifender weltweiter geopolitischer und energiebezogener Veränderungen in die Geschichte eingehen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission und der einzelnen Mitgliedstaaten, die den Prozess der Befreiung aus der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen beschleunigt haben. Der EWSA erachtet es angesichts der Dynamik des Krieges in der Ukraine dennoch als notwendig, diesen Prozess dadurch voranzutreiben, dass ein strenges Embargo verhängt wird, das mit dem raschen Ausbau alternativer sauberer Energien einhergehen muss.

1.2.

Diese Stellungnahme trägt der Befassung im Zusammenhang mit der Mitteilung „Auswärtiges Engagement der EU im Energiebereich in einer Welt im Wandel (JOIN(2022) 23 final) Rechnung, die von der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission und dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik am 18. Mai 2022 gemeinsam vorgelegt wurde.

1.3.

Der EWSA wertet es positiv, dass Europa weiterhin zu den Spitzenreitern der Energiewende zählt. Er weist jedoch darauf hin, dass die Veränderungen innerhalb der EU nicht ausreichen, um die Auswirkungen der globalen Emissionen auszugleichen, und dass — sowohl im Hinblick auf den Klimawandel als auch auf den Wirtschaftsaufschwung zur Gewährleistung einer nachhaltigen weltweiten Entwicklung — ein internationales Vorgehen eindeutig im europäischen Interesse liegt.

1.4.

Der EWSA begrüßt eine Reihe von EU-Initiativen zur Stärkung der internen Resilienz der Union, wie z. B. REPowerEU, oder zur Förderung der politischen Stabilität, wie z. B. die Partnerschaft für eine gerechte Energiewende, Global Gateway und die grüne Agenda für den Westbalkan.

1.5.

Gleichzeitig hält der EWSA aufgrund der aktuellen politischen Spannungen eine noch aktivere Zusammenarbeit mit einigen Ländern für erforderlich, die in der Lage sind, Europa mit Öl und Gas zu versorgen. Dazu gehören die Vereinigten Staaten sowie in unterschiedlichem Maße südamerikanische und afrikanische Länder, deren Exporte fossiler Brennstoffe durch Wissenstransfer und Technologien für erneuerbare Energien flankiert werden sollten, um so ihre Klimawende beschleunigen zu können.

1.6.

Der EWSA begrüßt die Initiative zur Anbindung der Republik Moldau und der Ukraine an das europäische Energienetz, fordert aber auch eine regelmäßige Überprüfung der geopolitischen Lage, die durch die dynamischen Veränderungen der Energiestrukturen in Ländern wie Armenien, Georgien und Kasachstan geprägt ist.

1.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass besondere Beziehungen zu Ländern aufgebaut werden müssen, die wichtige Lieferanten von für saubere Energietechnologien benötigten Schwermetallen und Rohstoffen sind und gefährdet sein könnten. Dies erfordert die Entwicklung einer ganz neuen Sparte im Rahmen der internationalen Beziehungen: die europäische Energiediplomatie.

1.8.

Aufgrund der jüngsten Erfahrungen mit der übermäßigen Abhängigkeit Europas von Rohstoffen aus unsicheren Quellen fordert der EWSA die EU auf, ihre ehrgeizigen Pläne für die Energiewende so flexibel wie möglich zu gestalten. Dabei sollte genügend Zeit vorgesehen werden, um die geopolitischen Auswirkungen bestimmter Entscheidungen zu analysieren und diese anzupassen, wenn sie zu unerwünschten bzw. unerwarteten Spannungen in der Welt führen.

2.   Einleitung

2.1.

Seit vielen Jahren stehen Fragen im Zusammenhang mit der Energiewende weltweit ganz oben auf der politischen Agenda. Die EU ist mit dem europäischen Grünen Deal ein Vorreiter bei der Energiewende, wobei sie sich auf ihre Werte Nachhaltigkeit, Solidarität und internationale Zusammenarbeit stützt. Da die EU jedoch nur für etwa 8 % (mit abnehmender Tendenz) der weltweiten Emissionen verantwortlich ist, reicht eine interne Politik nicht aus — so ehrgeizig sie auch sein mag.

2.2.

Laut den Schlussfolgerungen der Konferenz zum Thema „Die geopolitische Dimension des europäischen Grünen Deals“ (1) ist Multilateralismus ein Schlüsselfaktor für die Bewältigung der gemeinsamen grenzüberschreitenden Bedrohungen durch den Klimawandel; und nur Multilateralismus ermöglicht es, die globale Krise zu meistern — nicht aber eine spaltende Geopolitik. Diese Auffassung wird auch in der EWSA-Stellungnahme Die neue EU-Strategie für die Anpassung an den Klimawandel  (2) vertreten, in der der EWSA die von der Kommission verlangte „Intensivierung internationaler Maßnahmen zur Stärkung der Klimaresilienz“ befürwortete und mit ihr darin übereinstimmte, dass „unsere Ziele in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel […] unserer weltweiten Führungsrolle beim Klimaschutz gerecht werden“ müssen.

2.3.

Da der Klimawandel und die einschlägigen Maßnahmen enorme geopolitische und industrielle Veränderungen — im Zuge eines Booms bei den erneuerbaren Energien — bewirken und damit die internationalen Beziehungen stark beeinflussen, ist der EWSA zu dem Schluss gelangt, dass die geopolitischen Auswirkungen im Mittelpunkt einer umfassenden Rahmenstellungnahme zum Klimawandel stehen sollten.

2.4.

Zwar besteht ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre reduziert werden müssen, doch können in der Klimapolitik die zunehmenden positiven und negativen Verflechtungen zwischen den einschlägigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen nicht ausgeblendet werden.

2.5.

Funktionsweise und Parameter des Energiemarkts stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der politischen Situation in den einzelnen Regionen. Hinzu kommt, dass die Versorgung mit fossilen Brennstoffen durch eine hohe Abhängigkeit von einigen wenigen Förderländern geprägt ist.

2.6.

Wie aus der EWSA-Stellungnahme Externe Dimension der EU-Energiepolitik  (3) hervorgeht, hat die Dominanz bestimmter Lieferländer, die nicht das gleiche marktwirtschaftliche und politische Modell wie die EU haben, die Energiesicherheit zu einer vordringlichen Frage auf der Tagesordnung der EU gemacht. Zwar wurde damals auf die Folgen der 2008 in Georgien verübten militärischen Aggression Bezug genommen, doch sind angesichts der derzeitigen Lage in der Ukraine, die sich stark in der Beurteilung von Fragen der Energieversorgungssicherheit und der Geopolitik niederschlägt, die damaligen Umstände bemerkenswert aktuell.

2.7.

Mittelfristig wird die weltweite Energielandschaft völlig anders aussehen als heute. Die Energiewende wird grundlegende Auswirkungen auf die Geopolitik haben und sowohl Bedrohungen als auch Chancen mit sich bringen. Die Art dieser Auswirkungen wird von vielen Faktoren abhängen. Ein Beispiel dafür ist, dass die Dekarbonisierung zu einer größeren Abhängigkeit von Gasimporten führen kann, was die Beziehungen zwischen der EU und Russland noch komplexer machen könnte.

2.8.

Mit dem Wandel des Energiesystems wird sich auch die Energiepolitik ändern. In einer Welt der sauberen Energien wird es neue Gewinner und Verlierer geben. Einige betrachten die sauberen Energien als „Wettlauf ins All“. Länder oder Regionen, die saubere Technologien einsetzen, umweltfreundliche Energien exportieren oder weniger fossile Brennstoffe importieren, können von dem neuen System profitieren. Hingegen könnten Länder oder Regionen, die auf den Export fossiler Brennstoffe angewiesen sind, einen Machtverlust erleben.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Wenn man unter „Energiewende“ systemische Aktionen und Maßnahmen versteht, die darauf abzielen, die den Klimawandel beschleunigende Freisetzung von Kohlenstoffverbindungen in die Atmosphäre zu verringern, dann sollte man neben der Energiewende auch optimale Lösungen hinsichtlich der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft, der Biosequestrierung, Viehzucht oder -nutzung sowie der Möglichkeiten durch die Entwicklung der Technologie zur CO2-Abscheidung und -Speicherung ermitteln und umsetzen.

3.2.

In Anbetracht der Höhe der von den EU-Ländern verursachten Treibhausgasemissionen im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften der Welt muss für die Einbindung anderer Länder in das Klimaschutzbündnis gesorgt werden, um die notwendigen Ergebnisse zu erzielen. Die EU sollte die verschiedenen Formen der internationalen Zusammenarbeit, u. a. Investitions-, Handels- und Innovationspartnerschaften, gezielt nutzen, um weltweit, insbesondere in Entwicklungsländern, Anpassungsmaßnahmen zu fördern.

3.3.

Die Handelsaktivitäten der Mitgliedstaaten hinterlassen einen erheblichen CO2-Fußabdruck auch außerhalb der EU. Es ist Aufgabe der EU, sich mit dieser externen Dimension der Umsetzung des europäischen Grünen Deals zu befassen, wobei sie u. a. bei der bilateralen und regionalen Entwicklungszusammenarbeit den Übergang fördern und sich im Rahmen ihrer Handelspolitik mit den negativen ausstrahlenden Effekten auseinandersetzen sollte.

3.4.

Die Geopolitik trägt maßgeblich zum Erfolg des europäischen Grünen Deals bei, da der grüne Wandel offensichtlich gravierende Folgen für die internationalen Beziehungen haben wird. Eine erhebliche Schwierigkeit besteht in den Prioritätsunterschieden zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, denn der europäische Grüne Deal wird sich auf die einzelnen Länder ungleich stark auswirken. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen sollten die Industrieländer alles dafür tun, um die Folgen für die Länder mit niedrigem Einkommensniveau abzumildern und ihnen zu zeigen, dass sie beim europäischen Grünen Deal nicht zurückgelassen werden.

3.5.

Ein Beispiel für Aktivitäten, die sich auf die Einbeziehung globaler Partner konzentrieren, ist die Partnerschaft für eine gerechte Energiewende, die auf dem COP26-Gipfel von den Regierungen Südafrikas, Frankreichs, Deutschlands, des Vereinigten Königreichs und der USA sowie der EU ins Leben gerufen wurde. Ziel der Initiative ist es, Südafrika dabei zu unterstützen, seine Wirtschaft zu dekarbonisieren, von der Kohle abzurücken und zu einer emissionsarmen, klimaresistenten Wirtschaft auf der Grundlage sauberer, umweltfreundlicher Energieträger und Technologien zu gelangen.

3.6.

Ein weiteres Beispiel ist das Global Gateway — die neue europäische Strategie mit dem Ziel, intelligente, saubere und sichere Verbindungen in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr zu fördern und die Gesundheits-, Bildungs- und Forschungssysteme weltweit zu stärken. Global Gateway soll zwischen 2021 und 2027 Investitionen in Höhe von bis zu 300 Mrd. EUR mobilisieren, um eine dauerhafte weltweite Erholung unter Berücksichtigung der Bedürfnisse unserer Partner und der eigenen Interessen der EU zu unterstützen.

3.7.

Ein weiteres Beispiel, das im Kontext der Geopolitik von besonderer Bedeutung ist, ist die grüne Agenda für den Westbalkan, mit der ein umfassender ökologischer Wandel hin zu einer emissionsarmen und nachhaltigen Kreislaufwirtschaft im Westbalkan unterstützt werden soll. Insbesondere kann die grüne Agenda für den Westbalkan das Potenzial der Kreislaufwirtschaft erschließen, mehr Arbeitsplätze schaffen und neue Wachstumsperspektiven eröffnen. Eine angemessene Finanzierung durch die EU, die nationalen Regierungen und den Privatsektor wird für die Unterstützung dieses ökologischen Wandels entscheidend sein. In der EWSA-Stellungnahme Energie als Faktor für die Entwicklung und die Vertiefung des Beitrittsprozesses des Westbalkans  (4) heißt es, dass Energie als Vektor für die Entwicklung und den Verbund der Region aufgefasst und den Bürgerinnen und Bürgern der Westbalkanländer klar vermittelt werden sollte, welche wirtschaftlichen und umweltbezogenen Vorteile ein EU-Beitritt hätte.

3.8.

Laut den Schlussfolgerungen der oben erwähnten Konferenz Die geopolitische Dimension des europäischen Grünen Deals wird die Energiewende mit einer erheblichen Volatilität der Energiepreise einhergehen. All das stellt eine geopolitische Herausforderung dar, zu deren Bewältigung die EU und ihre globalen Partner beitragen sollten, indem sie die mit der Förderung und Ausweitung der Nutzung sauberer Energien verbundenen Risiken verringern und eine Verschärfung bereits bestehender Ungleichheiten vermeiden.

3.9.

Dies wurde bereits in der EWSA-Stellungnahme Die neue EU-Strategie für die Anpassung an den Klimawandel  (5) zum Ausdruck gebracht. Der EWSA forderte darin die Kommission auf, den Aspekt der Klimagerechtigkeit künftig bei der Gestaltung der Maßnahmen zur Klimafolgenanpassung besser zu berücksichtigen. Außerdem erkannte der EWSA an, dass der Klimawandel unterschiedliche soziale, wirtschaftliche, gesundheitliche und andere negative Auswirkungen auf Gemeinschaften haben kann, und sprach sich dafür aus, bestehende Ungleichheiten durch langfristige Eindämmungs- und Anpassungsstrategien zu beseitigen, damit niemand zurückgelassen wird. Der EWSA forderte die Kommission dringend auf, klarzustellen, wie genau sie die Hemmnisse beseitigen will, auf die die am stärksten gefährdeten Länder, Gemeinschaften und Sektoren weltweit beim Zugang zu Finanzmitteln stoßen, und wie dies mit der Förderung der Geschlechtergleichstellung und der Bekämpfung von Ungleichheiten auf regionaler und lokaler Ebene verknüpft werden kann.

3.10.

Die EU sollte bei ihrer Außenpolitik zur Bekämpfung des Klimawandels nicht nur darauf setzen, dass die Mitgliedstaaten „externe“ Argumente vorbringen und die Umsetzung einer ehrgeizigen Klimawendestrategie unterstützen, sondern sich auch auf das Fachwissen aus Drittstaaten stützen (z. B. im Zuge der Zusammenarbeit mit dem American Natural Resources Conservation Service (NCRS) und anderen ähnlichen Organisationen). Nicht weniger wichtig sind jedoch der interne Austausch bewährter Methoden und die Entwicklung eines systemischen Ansatzes für die Herausforderungen der Energiewende als Teil von Initiativen wie etwa dem Aufbau des gemeinsamen Energiemarkts.

3.11.

Die dynamische Entwicklung der erneuerbaren Energien erfordert die parallele Modernisierung der Übertragungsinfrastruktur und eine Integration des Energiesystems sowie eine Abkehr von der zentralen Stromerzeugung und -versorgung. Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip müssen lokale Initiativen zur Deckung des Energiebedarfs konsequent gefördert werden. In der EWSA-Stellungnahme Eine EU-Strategie zur Integration des Energiesystems  (6) wurde festgestellt, dass die Kommission bei den Nachbarländern der EU, vor allem den Staaten der Östlichen Partnerschaft, dafür werben sollte, dem Plan zur Systemintegration zu folgen, die nicht nur für die Erreichung der Klimaneutralität, sondern auch für eine stabile Versorgungssicherheit und für erschwingliche Preise für private Verbraucher und die Wirtschaft wichtig ist. Es ist zu prüfen, ob hierfür eine CO2-Grenzsteuer hilfreich ist.

3.12.

Eine Strategie, mit der veranschaulicht werden soll, dass Klimaschutz auch außerhalb der EU betrieben werden muss, lässt sich nur dann glaubwürdig und wirksam umsetzen, wenn die Transformationsprozesse innerhalb der EU-Mitgliedstaaten angemessen angegangen werden. Wie der EWSA in seiner Stellungnahme Niemanden bei der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zurücklassen  (7) betonte, bedeutet „niemanden zurückzulassen“, dass alle Mitglieder der Gesellschaft und insbesondere diejenigen, die weiter zurückliegen, eine echte Chance haben, die Möglichkeiten für sich zu nutzen, und dass sie gut für die Bewältigung der Risiken gerüstet sind. Vor diesem Hintergrund muss den schwächsten Gruppen der Gesellschaft und den am stärksten benachteiligten Regionen und Gebieten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

3.13.

Wenn die EU wirksame und sozialverträgliche Lösungen für Fragen der vielfältigen Auswirkungen der Klimapolitik auf einzelne ihrer Mitgliedstaaten findet, kann sie auf glaubwürdige Weise weltweit eine Führungsrolle in Sachen Nachhaltigkeit beanspruchen. Gleichzeitig trägt ein Eintreten für Nachhaltigkeit auf globaler Ebene auch dazu bei, politische Ziele der EU in anderen Politikfeldern (zum Beispiel Bekämpfung der Fluchtursachen, fairer Welthandel, Verringerung der außenpolitischen Abhängigkeit von erdölreichen Staaten usw.) zu erreichen.

3.14.

Wie in der vorgenannten Stellungnahme dargelegt, verfolgt die Europäische Kommission bereits einen Ansatz zur Internalisierung externer Effekte. So räumt sie beispielsweise ein, dass erneuerbare Energien benachteiligt werden, solange sich die externen Kosten fossiler Ressourcen nicht vollständig in den Marktpreisen widerspiegeln, oder sie bemüht sich darum, negative externe Effekte im Verkehrssektor einzupreisen.

3.15.

Von wesentlicher Bedeutung sind Bildung und Wissenstransfer sowohl im Bereich der allgemeinen Pflichtschulbildung als auch im Bereich der an die breite Öffentlichkeit gerichteten Kommunikation, unter besonderer Berücksichtigung der von der Energiewende unmittelbar betroffenen Gesellschaftsgruppen. Es gilt, klar und deutlich die sich uns bietende zivilisatorische Alternative aufzuzeigen, um wirksam die These verfechten zu können, dass mit den derzeitigen Transformationsanstrengungen eines Teils der Gesellschaft weitaus höhere Kosten vermieden werden, die im Falle von Untätigkeit von der gesamten internationalen Gemeinschaft getragen werden müssen.

3.16.

Die Energiewende und die Entwicklung neuer umweltfreundlicher Technologien tragen zum Erwerb einzigartiger Kenntnisse und Kompetenzen und zur Schaffung hoch qualifizierter Arbeitsplätze bei. Diese Entwicklungsrichtung der europäischen Volkswirtschaften ist auch eine einzigartige Entwicklungschance, denn sie ermöglicht es den EU-Mitgliedstaaten, ihre Stellung als technologische Spitzenreiter der Energiewende im Sinne von Emissionsminderung zu stärken. Durch den Beitritt weiterer Drittländer zum Bündnis gegen die negativen Folgen des Klimawandels können Märkte für Technologien aus europäischen Volkswirtschaften entstehen.

3.17.

Der schrittweise Ausstieg aus fossilen Brennstoffen wird zu zunehmenden Spannungen zwischen den EU-Ländern — als Importeure dieser Rohstoffe — und Nicht-EU-Ländern — als Lieferanten — führen. In diesem Zusammenhang sollte insbesondere Russland als lokaler Brennstofflieferant Rechnung getragen werden, dessen Haushaltseinnahmen in erheblichem Maße aus dem Verkauf dieser Rohstoffe stammen. Darüber hinaus könnten Länder der MENA- und Subsahara-Region, deren Einnahmen in hohem Maße von der Ausfuhr fossiler Brennstoffe abhängen, mit erheblichen politischen und sozialen Folgen konfrontiert sein, die wiederum zu Flüchtlingswellen und Migration nach Europa führen könnten. Eine Änderung des Kooperationsmodells kann aus politischer Sicht durchaus als Bedrohung für die Position eines Landes gesehen werden, dessen Wirtschaft und Staatsführung von den Einnahmen aus der Lieferung fossiler Brennstoffe abhängig sind. Investitionen und kollaborative Lösungen zur Förderung umweltfreundlicher Energien könnten als Chance zur Unterstützung des Übergangs dieser Volkswirtschaften genutzt werden.

3.18.

Die Erfahrungen mit dem im 21. Jahrhundert in Europa geführten Krieg geben Anlass zu Überlegungen über eine verantwortungsvolle Nutzung der Kernenergie und zu überarbeiteten Taxonomieregeln, die nicht zu den negativen Auswirkungen des Klimawandels beitragen.

3.19.

Ein mögliches Embargo auf russische Öl-, Gas- und Kohleeinfuhren zur Sanktionierung Russlands vor dem Hintergrund der Aggression gegen die Ukraine oder ein Importstopp aufgrund der Notwendigkeit, der Unterstützung des Putin-Regimes dienende Finanztransfers auszusetzen, wird dazu beitragen, die erwarteten geopolitischen Auswirkungen der Aussetzung der Brennstoffeinfuhren aus Russland zu beschleunigen. Gleichzeitig könnte es notwendig sein, das Tempo des Ausstiegs aus den in EU-Ländern verfügbaren Brennstoffen zu überdenken.

3.20.

Eine Integration zur Schaffung einer Gasunion der EU-Mitgliedstaaten erscheint gerechtfertigt. Ein solcher Ansatz würde gemeinsame Beschaffungsverfahren ermöglichen und zu günstigen Wirtschaftsbedingungen beitragen, während gleichzeitig die Entscheidungen über die Aussetzung des Imports dieses Rohstoffs aus dem Osten koordiniert werden könnten, was angesichts der politischen Dimension eines solchen Beschlusses zu einer kohärenten Außenpolitik der EU-Länder führen würde.

4.   Chancen und Herausforderungen

4.1.

Die Klimapolitik der EU wird je nach Region und außenpolitischen Maßnahmen zur Minderung der ermittelten Risiken und zur Verbesserung der Übergangsprozesse unterschiedliche Auswirkungen haben.

4.2.

In Bezug auf den Westbalkan werden große Hoffnungen an die Energiemarktaktivitäten im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess geknüpft. Das könnte ein wichtiger, positiver Faktor bei der Gestaltung der geopolitischen Bedingungen in dieser Region sein. Mit der Unterzeichnung der Erklärung von Sofia zur grünen Agenda haben sich die Regierungen der Länder des Westbalkans verpflichtet, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen und sich vollständig an den europäischen Grünen Deal anzupassen. Insbesondere kann die grüne Agenda für den Westbalkan das Potenzial der Kreislaufwirtschaft erschließen, mehr Arbeitsplätze schaffen und neue Wachstumsperspektiven eröffnen. Eine angemessene Finanzierung durch die EU, die nationalen Regierungen und den Privatsektor wird für die Unterstützung dieses ökologischen Wandels entscheidend sein.

4.3.

In Bezug auf Afrika sollte zunächst betont werden, dass Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels für die Länder dieses Kontinents keine Priorität darstellen. Die EU sollte daher mit Afrika zusammenarbeiten, wie es auch bei anderen Entwicklungsländern der Fall ist, um mithilfe eines Bottom-up-Ansatzes sicherzustellen, dass alle Initiativen vor Ort akzeptiert werden und mit den Prioritäten der Partnerländer im Einklang stehen. Andernfalls könnten klimapolitische Maßnahmen bei der lokalen Bevölkerung, die mit elementaren Problemen zu kämpfen hat, auf Unverständnis und Widerstand stoßen. Wie in der EWSA-Stellungnahme EU und Afrika: Nachhaltigkeit und gemeinsame Werte als Grundlage einer Entwicklungspartnerschaft auf Augenhöhe  (8) festgestellt wurde, sind die Herausforderungen für die Entwicklungsländer in Afrika sehr komplex und müssen mittels eines sensiblen und mehrdimensionalen Ansatzes angegangen werden. Darüber hinaus wird sich der Energiebedarf des Kontinents bis 2050 voraussichtlich verdoppeln — bei weiterhin hohen Armutsquoten. Hierdurch würden die Probleme in Bezug auf die ökologische und sozioökonomische Nachhaltigkeit nicht nur andauern, sondern möglicherweise sogar verschärft werden. Dennoch könnten sich Chancen ergeben, da die afrikanischen Länder eine führende Rolle bei der Fotovoltaiktechnologie und der Massenproduktion synthetischer Brennstoffe spielen. Konkrete Möglichkeiten für gemeinsame Projekte, Geschäftstätigkeiten und politische Maßnahmen könnten zu einem neuen sozioökologischen marktwirtschaftlichen Ansatz führen.

4.4.

Im Hinblick auf die Östliche Partnerschaft ist eine enge Zusammenarbeit mit Ländern, die wie die EU in hohem Maße von fossilen Brennstoffen abhängig und daher starken Preisschwankungen ausgesetzt sind, besonders wichtig, vor allem angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen in der Ukraine. Was die Ukraine, Moldau und Georgien angeht, so sollten diese Länder dabei unterstützt werden, von den Lieferungen fossiler Brennstoffe aus Russland unabhängig zu werden. Auch sollte die Integration ihrer Stromnetze in das europäische Netz ermöglicht werden. Die vorgenannten Aktivitäten spiegeln sich in der jüngsten Erklärung über eine schnelle Integration in das EU-Stromnetz wider, wobei gemeinsame Anstrengungen der Entscheidungsinstanzen und der Fernleitungsnetzbetreiber erforderlich sind.

Brüssel, den 21. September 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://www.eesc.europa.eu/de/agenda/our-events/events/geopolitics-european-green-deal

(2)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 84.

(3)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 28.

(4)  ABl. C 32 vom 28.1.2016, S. 8.

(5)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 84.

(6)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 22.

(7)  ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 30.

(8)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 105.