ISSN 1977-088X |
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Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486 |
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Ausgabe in deutscher Sprache |
Mitteilungen und Bekanntmachungen |
65. Jahrgang |
Inhalt |
Seite |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen |
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STELLUNGNAHMEN |
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss |
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572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022 |
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2022/C 486/01 |
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2022/C 486/02 |
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2022/C 486/03 |
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2022/C 486/04 |
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2022/C 486/05 |
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2022/C 486/06 |
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2022/C 486/07 |
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2022/C 486/08 |
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2022/C 486/09 |
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2022/C 486/10 |
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2022/C 486/11 |
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2022/C 486/12 |
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2022/C 486/13 |
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2022/C 486/14 |
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2022/C 486/15 |
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III Vorbereitende Rechtsakte |
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss |
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572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022 |
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2022/C 486/16 |
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2022/C 486/17 |
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2022/C 486/18 |
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2022/C 486/19 |
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2022/C 486/20 |
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2022/C 486/21 |
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2022/C 486/22 |
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2022/C 486/23 |
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2022/C 486/24 |
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2022/C 486/25 |
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2022/C 486/26 |
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2022/C 486/27 |
DE |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen
STELLUNGNAHMEN
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
572. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 21.9.2022-22.9.2022
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/1 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „KMU, sozialwirtschaftliche Unternehmen, Handwerk und freie Berufe — Fit für 55“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/01)
Berichterstatterin: |
Milena ANGELOVA |
Ko-Berichterstatter: |
Rudolf KOLBE |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
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Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch |
Annahme in der Fachgruppe |
27.6.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
143/1/0 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU) wie traditionelle Unternehmen, Familienunternehmen, Händler, Unternehmen der Sozialwirtschaft, Handwerksbetriebe oder freie Berufe tragen maßgeblich zu einer wettbewerbsfähigen, klimaneutralen, kreislauforientierten und inklusiven EU-Wirtschaft bei, sofern richtige und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Mittels Verbesserung ihrer Umweltleistungen und durch die Bereitstellung von Fachwissen und Lösungen für andere Unternehmen, Bürger und den öffentlichen Sektor tragen KKMU zu einer positiven Entwicklung bei. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) anerkennt und betont die Vielfalt und die unterschiedlichen Bedürfnisse von KKMU, wobei allerdings den kleinsten und am stärksten gefährdeten Unternehmen besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. |
1.2. |
Vielen KKMU mangelt es an Wissen über die sich ständig weiterentwickelnden rechtlichen Anforderungen in puncto Klimaneutralität und darüber, wie darauf zu reagieren ist. Zudem haben sie Schwierigkeiten, potenzielle Geschäftsvorteile und Chancen zu erkennen, die sich aus dem grünen Wandel ergeben. Der EWSA betont daher, dass KKMU dringend dabei unterstützt werden müssen, den grünen Wandel bestmöglich zu verstehen und zu meistern. |
1.3. |
Der EWSA fordert umfassende und gezielte Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Diese sollten von der Kommission und den Mitgliedstaaten in koordinierter und komplementärer Weise gemeinsam mit Unternehmensverbänden, Kammern, Sozialpartnern und anderen einschlägigen Interessenträgern realisiert werden. |
1.4. |
Der EWSA fordert ferner ein umfassendes Programm, um KKMU bei allen Problemen, auf die sie im Geschäftsbetrieb und bei ihren Tätigkeiten im Rahmen der Ökologisierung und der Einhaltung der Rechtsvorschriften stoßen, zu unterstützen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Natur von KKMU sind maßgeschneiderte Lösungen, Strategien und Maßnahmen erforderlich. |
1.5. |
Eine sofortige und gezielte kurzfristige Unterstützung für KKMU ist von zentraler Bedeutung, um ihre wirtschaftliche Erholung von der Pandemie voranzutreiben und sie bei der Bewältigung der Folgen der russischen Invasion in die Ukraine wie hohe Energiepreise und mangelnde Versorgung mit Materialien und Produkten zu unterstützen. Angesichts der außergewöhnlichen Umstände sollten nach Auffassung des EWSA die Zeitpläne für den europäischen Grünen Deal bis zum Ende der Krise flexibel gestaltet werden. Dabei ist sicherzustellen, dass seine Ziele keinesfalls aufgegeben werden. |
1.6. |
Der EWSA schlägt vor, in verschiedenen Regionen „Hubs for Circularity“ einzurichten, um die Ressourceneffizienz von KKMU zu verbessern. Dies dürfte die sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen verbessern und die Entwicklung neuer Praktiken und Verfahren, einschließlich der Demonstration neuer Technologien, erleichtern. KKMU-Verbände, Kammern, Hochschulen, Sozialpartner und andere einschlägige Interessenträger sollten integraler Bestandteil des Prozesses sein. |
1.7. |
Nach Ansicht des EWSA müssen Vertreter von KKMU in die Ausarbeitung sektoraler Klimaschutzpläne auf nationaler Ebene sowie in die Gestaltung der Übergangspfade auf EU-Ebene für verschiedene Unternehmensökosysteme eingebunden werden. So werden auch der Austausch bewährter Verfahren, eine angemessene Ressourcenallokation und eine effiziente Umsetzung gefördert. |
1.8. |
Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, grüne Investitionen von KKMU zu beschleunigen, indem für ein günstiges, berechenbares und förderliches Regelungsumfeld gesorgt wird. Dazu gehören auch reibungslose Genehmigungsverfahren und die Vermeidung übermäßiger Verwaltungspflichten. Zudem muss ein schneller, problemloser, einfacher und nachvollziehbarer Zugang zu Finanzmitteln, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse aller verschiedenen Arten von KKMU zugeschnitten sind, gewährt werden. |
1.9. |
Der EWSA fordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und KKMU bei der Gestaltung der Ausbildung, damit die für den grünen Wandel der Wirtschaft erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, auch durch Weiterqualifizierung und Umschulung von Arbeitnehmern und Unternehmern, vermittelt werden. Außerdem fordert der EWSA, die Innovationstätigkeiten von KKMU zu unterstützen mittels Anreizen und Erleichterungen für die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, ihren Organisationen, Kammern, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. |
1.10. |
Der EWSA fordert, den Handel mit umweltfreundlichen Lösungen, die von KKMU — auch im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge — erarbeitet werden, zu fördern. Dafür sollten KKMU gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt erhalten, und ihr Zugang zu ausländischen Märkten für umweltfreundliche Produkte, Technologien und Dienstleistungen sollte erleichtert werden. Es muss ein wettbewerbsorientiertes Geschäftsumfeld für EU-Unternehmen in Bezug auf Drittländer sichergestellt werden, indem alle diplomatischen Instrumente — auch in den Bereichen Klima-, Ressourcen- und Handelspolitik — genutzt werden. Besonderes Augenmerk ist dem Vorgehen Chinas und anderer aufstrebender Märkte zu widmen. |
2. Grüner Wandel und KKMU
2.1. |
KKMU tragen zu einer arbeitsplatzintensiven und nachhaltigen Wirtschaft bei. Sie sorgen für einen starken Zusammenhalt unserer Gesellschaften. Häufig kombinieren sie wirtschaftliche und soziale Aufgaben und stärken so die Grundlagen von Demokratie, Einheit und Inklusivität. Sie spielen überall in der EU eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche und soziale Erholung und den Wohlstand, insbesondere in abgelegenen und ländlichen Gebieten, wo sie häufig die einzigen Träger lokaler Wirtschaftstätigkeiten sind. |
2.2. |
Der Klimawandel ist der treibende Faktor für die nachhaltige Energiewende, aber vor allem für die gesamte Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft und allgemeiner Nachhaltigkeit. Er geht einher mit extremen Wetterphänomenen und Naturkatastrophen und ist verbunden mit anderen großen ökologischen Herausforderungen wie dem Verlust an Artenvielfalt, der Umweltverschmutzung und der Schädigung der natürlichen Ressourcen. |
2.3. |
Das Paket „Fit für 55“ zielt vor allem auf die Eindämmung des Klimawandels ab und umfasst zahlreiche, die KKMU auf unterschiedliche Weise betreffende Rechtsvorschriften. Es ist Teil der Umsetzung der EU-Leitinitiative — des europäischen Grünen Deals —, die sich mit nachhaltigem Wachstum in den Bereichen Industrie, Handel, Dienstleistungen und Energie, Verkehr, Gebäude und Lebensmittelsysteme befasst. KKMU spielen in all diesen Sektoren eine zentrale Rolle. |
2.4. |
KKMU sind ein wesentlicher Teil der Lösung bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals, sofern richtige und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Diese positiven Auswirkungen werden zum einen dadurch erzielt, dass die Leistungsfähigkeit der vielgestaltigen KKMU verbessert wird. Zum anderen bieten die Aktivitäten dieser KKMU Fachwissen und Lösungen für andere Unternehmen, Bürger und den öffentlichen Sektor. |
2.5. |
Der grüne Wandel ist eng mit dem digitalen Wandel verbunden. KKMU müssen diesen doppelten Wandel meistern — eine sehr anspruchsvolle zweifache Herausforderung aufgrund des erheblichen Ressourcenbedarfs. Die Digitalisierung ist ein Instrument zur Steigerung der Effizienz der Geschäftstätigkeit und hilft bei der Internationalisierung und der Erschließung neuer Märkte. Sie birgt erhebliche Potenziale für die Verringerung von Emissionen, Abfall und Einsatz natürlicher Ressourcen. Digitale Dienste und Ausrüstungen haben aber auch Umweltauswirkungen, die gleichzeitig bewältigt werden müssen. |
2.6. |
KKMU müssen nicht nur den grünen und digitalen Wandel meistern, sondern sie müssen sich auch von der Pandemie erholen und haben mit den Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine zu kämpfen. Hohe Energiepreise und die mangelnde Versorgung mit Materialien und Produkten gehören zu den jüngsten Problemen, die KKMU und ihre Geschäftstätigkeit erheblich beeinträchtigen. Ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie die der EU-Wirtschaft insgesamt werden weiter gefährdet durch das unerwartete Verhalten Chinas und anderer aufstrebender Märkte, die davon profitieren, dass sie Sanktionen gegen Russland vermeiden und niedrigeren Klima- und Umweltanforderungen unterliegen. |
2.7. |
Klima- und umweltpolitische Fragen betreffen nicht nur die ökologische Nachhaltigkeit, sondern maßgeblich auch die Wettbewerbsfähigkeit, Rentabilität und allgemeine Wirtschaftsleistung der Unternehmen. KKMU stützen sich nicht nur auf ihre eigenen Werte und allgemeinen Überzeugungen, sondern erfüllen auch mittels unterschiedlicher Mechanismen die Anforderungen und Erwartungen in puncto Klima und Umwelt, wie
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2.8. |
Viele KKMU sind sich weder der Auswirkungen spezifischer Klima- und Umweltmaßnahmen und -anforderungen auf ihre Unternehmen und ihre Liefer- und/oder Wertschöpfungsketten noch der Frage voll bewusst, inwieweit sie Produkte und Dienstleistungen frühzeitig anpassen oder umwandeln müssen, um spätere Verluste oder sogar eine Verdrängung vom Markt zu verhindern. Darüber hinaus verfügen sie über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen für den laufenden Geschäftsbetrieb und die Entwicklung ihrer Unternehmen. Es besteht die Gefahr, dass sie aufgrund ihrer begrenzten Größe von der vorausgesetzten oder erforderlichen Vielzahl unterschiedlicher Fachkenntnisse überfordert sind. Eine erhebliche Anzahl von Unternehmen hat Schwierigkeiten aufgrund der komplexen und sich ständig weiterentwickelnden Rechtsvorschriften, des Verwaltungsaufwands, der Finanzvorschriften und hohen Kosten, des Mangels an spezifischem Fachwissen im Umweltbereich und Wissen für die Wahl der richtigen Maßnahmen (1), gepaart mit Schwierigkeiten u. a. beim Zugang zu neuen Wertschöpfungsketten, Finanzen, Personalressourcen und neuen Geschäftsmodellen. |
2.9. |
Zum einen sind das mangelnde Bewusstsein für die Anforderungen und die Möglichkeiten, auf sie zu reagieren, ein großes Problem. Zum anderen haben KKMU auch Schwierigkeiten bei der Ermittlung potenzieller wirtschaftlicher Vorteile und Chancen wie verringerte Energie- und Materialkosten, verbesserter Zugang zu Finanzmitteln, höhere Nachfrage und neue Märkte sowie ein besseres Image unter den Interessenträgern. |
2.10. |
KKMU mit einem Nutzenversprechen in den Bereichen Kreislaufwirtschaft, Klima, biologische Vielfalt, erneuerbare Energien und anderen Themen des Grünen Deals haben ein ureigenes Interesse daran, neue Geschäftsmöglichkeiten in diesen Bereichen zu sondieren, darin zu investieren und sie zu nutzen. Ihnen bieten sich viele Möglichkeiten, z. B. bei der Renovierung von Gebäuden, bei der Planung und beim Bau von Infrastruktur, bei der industriellen Produktion und Wartung von Ausrüstungen, bei der Erbringung von Rechts- und Buchhaltungsdiensten und bei der Entwicklung digitaler Lösungen. Der Übergangsprozess hängt in hohem Maße von ihren intelligenten Lösungen ab, die von den Fachleuten, die sie beschäftigen, geschaffen werden. Dies unterstreicht die Bedeutung einer hochwertigen und relevanten allgemeinen und beruflichen Bildung sowie einer kontinuierlichen Weiterbildung. |
2.11. |
Die potenziell am stärksten gefährdeten KKMU, die auch den größten Informationsbedarf haben, sind dagegen diejenigen, die den Grünen Deal lediglich für eine zusätzliche Rechtsvorschrift halten, die den Verwaltungsaufwand weiter erhöht, ihr derzeitiges Geschäftsmodell unter Druck setzt und die Rentabilität in einem Szenario mit unveränderten Rahmenbedingungen einschränkt. Dies unterstreicht, dass alle KKMU-Kategorien, unabhängig davon, ob es sich um gefährdete Nachzügler, Mitläufer oder Vorreiter handelt, eine spezielle, unmittelbar auf sie zugeschnittene Unterstützung benötigen (2). |
2.12. |
Nicht nur bezüglich Kapazitäten und Grad der Vorbereitung gibt es viele Unterschiede zwischen KKMU, sondern auch in Bezug auf Art und Ausmaß der Klima- und Umweltfragen, die an sie gerichteten Anforderungen und Erwartungen und die sich ihnen eröffnenden Chancen. Die Unterschiede hängen von verschiedenen Faktoren ab: der Intensität der Nutzung natürlicher Ressourcen durch das Unternehmen, der Unternehmensgröße, der Position des Unternehmens in Lieferketten und Geschäftsökosystemen, dem Standort des Unternehmens, der Art von Kunden, den Quellen der Produktionsfaktoren und den geografischen Märkten des Unternehmens. |
2.13. |
Dies macht maßgeschneiderte Lösungen und zielgerichtete Strategien und Maßnahmen erforderlich, die den Unterschieden Rechnung tragen, wie sie zwischen mittleren Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, Unternehmen des Gastgewerbes und des Einzelhandels, Familien- und Traditionsunternehmen, innovativen Start-ups, sozialwirtschaftlichen Unternehmen, Handwerk und freien Berufen bestehen. |
2.14. |
Trotz der vielen Unterschiede zwischen den einzelnen KKMU beginnt eine erfolgreiche Bewältigung des grünen Wandels in jedem Unternehmen bei einem angemessenen Bewusstsein für und dem Wissen über aktuelle Themen und Trends. So können sie ihre Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken erkennen und festlegen, wie sie sich beim grünen Wandel positionieren möchten. |
2.15. |
Die meisten konkreten Anstrengungen auf Unternehmensebene betreffen die Planung, Organisation und Überwachung der gesamten Geschäftstätigkeit, einschließlich der Produktion von und des Handels mit Waren und Dienstleistungen, der Beförderung und der Logistik und der Beschaffung von Energie, Rohstoffen und anderen Produktionsfaktoren. Klima- und Umweltaspekte sind auch ein integraler Bestandteil der Innovationstätigkeiten, der Kompetenzentwicklung und der Einbeziehung aller Mitarbeiter sowie der Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Interessenträgern. |
3. Strategien und Maßnahmen zur Unterstützung von KKMU im Rahmen von „Fit für 55“
3.1. |
Um „Fit für 55“ werden und den grünen Wandel erfolgreich meistern zu können, müssen KKMU umfassend informiert und unterstützt werden, um die Auswirkungen der neuen und komplexen Legislativvorschläge besser verstehen zu können (3). Dies erfordert weitreichende und gezielte Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen, die von der Kommission und den Mitgliedstaaten, die in diesem Bereich entscheidende Verantwortung tragen, koordiniert werden und die sich gegenseitig ergänzen müssen. Die Unternehmensverbände und Kammern spielen auch eine zentrale Rolle bei der Information und Unterstützung ihrer Mitglieder, flankiert durch Bildungs- und Ausbildungsanbieter, regionale Entwicklungsämter, Clusterorganisationen, Sozialpartner und einschlägige zivilgesellschaftliche Organisationen. |
3.1.1. |
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine werden die politischen Maßnahmen des Grünen Deals aufgrund der neuen außergewöhnlichen Umstände und der Abhängigkeit der EU von Energie und Nahrungsmitteln aus Russland und der Ukraine nun im Hinblick auf die Zeitpläne Gegenstand einer offenen Konsultation sein. Der EWSA anerkennt die außergewöhnlichen Umstände und Abhängigkeiten und ist der Auffassung, dass die grünen Ziele keinesfalls aufgegeben werden sollten. Allerdings sollte bis zum Ende der Krise ein vernünftiges Maß an Flexibilität eingeräumt werden. |
3.1.2. |
Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, bei allen Gesetzesinitiativen angemessene Folgenabschätzungen durchzuführen und einen umfassenden, klaren und eindeutigen Leitfaden zu allen bestehenden und geplanten klimabezogenen Anforderungen und ihren Auswirkungen auf KKMU vorzulegen. Dieser sollte Folgendes umfassen:
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3.1.3. |
Der EWSA fordert entsprechende Leitlinien für Rechtsvorschriften auch zu anderen wichtigen Umweltfragen. Ganz allgemein sollten solche Leitfäden zur gängigen Praxis werden und alle künftigen Initiativen im Bereich des europäischen Grünen Deals begleiten. KKMU brauchen einen stabilen Rechtsrahmen, der klare Perspektiven und Planbarkeit für ihre Investitionen bietet. Daher müssen plötzliche Veränderungen wie die kürzlich im REPowerEU-Plan vorgeschlagene Änderung der Ziele für erneuerbare Energien und Energieeffizienz vermieden werden, da sie das ohnehin schon hochkomplizierte und unsichere Umfeld nochmals erschweren. |
3.2. |
Angesichts des breiten Anwendungsbereichs und der Detailgenauigkeit des europäischen Grünen Deals zeichnet sich ein Umbau der Wirtschaft auf allen Ebenen ab. Nach dem Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ ist ein umfassendes und breit angelegtes Programm zur Unterstützung und Entwicklung von Fähigkeiten erforderlich, damit KKMU nicht einfach schließen müssen. Ziel ist die Unterstützung von KKMU bei der Bewältigung all ihrer Probleme im Zuge der Ökologisierung ihres Geschäftsbetriebs und ihrer Tätigkeiten und der Einhaltung von Rechtsvorschriften. |
3.2.1. |
Der EWSA sieht ein großes Interesse der Kommission und des Europäischen Parlaments, an die bereits bestehenden Initiativen zur Förderung der KMU-Strategie anzuknüpfen und weitere Möglichkeiten für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie auszuloten. Der EWSA fordert, dieses Interesse in allen möglichen Bereichen politisch wirksam umzusetzen. Er betont die unverzichtbare Rolle der Mitgliedstaaten, die in Zusammenarbeit mit KKMU-Organisationen, Kammern, Sozialpartnern und anderen einschlägigen Interessenträgern handeln müssen. |
3.2.2. |
Der unternehmerische Nachwuchs ist der Schlüssel für das künftige weitere Wachstum der KKMU und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ihre Verbraucherorientierung und ihre Attraktivität für junge Arbeitnehmer sowie ihr größeres Augenmerk für den grünen Wandel müssen z. B. in den Aufbauplänen genauer erkannt und berücksichtigt werden. Um das Potenzial der gesamten Gesellschaft voll auszuschöpfen und die Unternehmensvielfalt zu erhöhen, müssen darüber hinaus alle Hindernisse für die unternehmerische Initiative von Frauen beseitigt werden. Auch in benachteiligten Gruppen wie Menschen mit Behinderungen, Migranten und Minderheiten muss Unternehmergeist angeregt und gefördert werden. |
3.2.3. |
Um Synergien bei der Digitalisierung und der Ökologisierung in KKMU zu stärken, sind bei der Gestaltung von Strategien und Maßnahmen beide Trends gleichzeitig zu berücksichtigen. Da weder der grüne noch der digitale Wandel eine rein technische oder finanzielle Angelegenheit sind, müssen wichtige persönliche und geschäftliche Fragen behandelt werden, damit die große Mehrheit der KKMU einen langfristigen und zukunftsfähigen doppelten Übergang meistern kann (4). |
3.2.4. |
Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten ebenfalls auf, die Auswirkungen im Zuge der Umsetzung des grünen und des digitalen Wandels auf die Versorgungs- und/oder Wertschöpfungsketten und die jeweiligen regionalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu überwachen, um eventuellen negativen Auswirkungen auf KKMU und Beschäftigung frühzeitig entgegenzuwirken. |
3.3. |
Um die Entwicklung der täglichen Geschäftstätigkeit von KKMU, wie etwa die Produktion von Waren und Dienstleistungen, Energieerzeugung und -nutzung sowie die logistische Organisation zu unterstützen, bedarf es angemessener Dienste für die praktische Beratung sowie der Kooperationsplattformen. |
3.3.1. |
Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, Unterstützungsdienste für KKMU in den Bereichen Technologie und Management aufzubauen und zu fördern. Es gilt, das volle Potenzial der verschiedenen Instrumente — insbesondere bei der Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und der Partnerschaftsvereinbarungen — auszuschöpfen. Die Unternehmen müssen dabei unterstützt werden, die Energie- und Materialeffizienz zu optimieren und die Entstehung von Emissionen und Abfällen zu verringern, um sowohl die Kosten als auch die Umweltauswirkungen zu minimieren. Zudem fordert der EWSA, Umweltaspekte in die Beratungsdienste im digitalen Bereich einzubeziehen. |
3.3.2. |
Der EWSA schlägt vor, in verschiedenen Regionen „Hubs for Circularity“ einzurichten, um die Ressourceneffizienz von KKMU zu verbessern. Dadurch dürfte die sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen Unternehmen verbessert und die Entwicklung neuer Verfahren für das Recycling und die Wiederverwendung von Abfällen und Nebenprodukten, einschließlich der Demonstration neuer Technologien, erleichtert werden. |
3.3.3. |
Der EWSA fordert die Einbeziehung der KKMU und ihrer Vertreter in die Ausarbeitung sektoraler Fahrpläne für Klimaschutzmaßnahmen auf nationaler Ebene sowie in die Gestaltung der Übergangspfade auf EU-Ebene für verschiedene Unternehmensökosysteme. Dadurch würde auch das Wissen über den Austausch bewährter Verfahren, die Ressourcenzuweisung und die wirksame Durchführung verbessert werden. |
3.4. |
Um Investitionen in die Ökologisierung von KKMU, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt zu fördern und zu unterstützen, müssen günstige Investitionsbedingungen und die Voraussetzungen für einen angemessenen Zugang von KKMU zu Finanzmitteln sichergestellt werden. |
3.4.1. |
Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, die Investitionen von KKMU zu beschleunigen durch
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3.4.2. |
Der EWSA fordert die Kommission auf, den indirekten Auswirkungen der Kriterien für ein nachhaltiges Finanzwesen auf KKMU gebührend Rechnung zu tragen. Dies gilt auch für die Solvabilitätsanforderungen für Banken und alle anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen, die sich indirekt auf die Investitions- und Geschäftsfähigkeit von KKMU auswirken, die zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beitragen. |
3.4.3. |
Der EWSA fordert, bei der Vergabe öffentlicher Mittel für grüne Investitionen die Regeln für einen gesunden Wettbewerb einzuhalten. Der EWSA betont ferner, dass die Finanzströme anhand geeigneter Indikatoren überwacht werden müssen. Es ist wichtig, KKMU gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Aufträgen und Investitionen, z. B. in die allgemeine Infrastruktur, zu gewähren und Investitionen in die Ökologisierung der KKMU selbst zu fördern, z. B. durch den Einsatz öffentlicher Mittel zur Hebelung privater Investitionen. |
3.4.4. |
Nach den jüngsten Entwicklungen auf den Energiemärkten hat die Kommission das zunehmende Risiko der Energiearmut für KKMU erkannt. (5) Der EWSA begrüßt den Begriff „finanziell schwächeres Kleinstunternehmen“ und fordert zusätzliche Anstrengungen, um sie bei der Bewältigung dieser Belastung angemessen zu unterstützen. |
3.5. |
Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, den Handel von KKMU mit grünen Lösungen durch die Entwicklung und Gewährleistung angemessener Marktbedingungen zu fördern. Dabei gilt es,
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3.6. |
Zur Stärkung der Rolle von KKMU bei der Entwicklung neuer grüner Lösungen für Unternehmen, Verbraucher und die Gesellschaft insgesamt fordert der EWSA, dass:
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3.7. |
Um die für die Entwicklung und Führung von Unternehmen im Einklang mit dem grünen Wandel erforderlichen Fähigkeiten bereitzustellen (6), fordert der EWSA,
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3.8. |
Der EWSA fordert die Schaffung geeigneter Indikatoren und praktischer Instrumente zur systematischen Überwachung von Unternehmensaktivitäten und deren Auswirkungen im Zusammenhang mit dem grünen Wandel. Dies dürfte auch der Kommunikation mit einem breiten Spektrum von Interessenträgern dienen. Unterdessen fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger in der EU auf, von aufwendigen Überwachungs- und Berichterstattungspflichten für KKMU abzusehen und auch die indirekten Auswirkungen der für Großunternehmen konzipierten Berichtspflichten auf KKMU zu berücksichtigen. |
4. Besondere Bemerkungen zu freien Berufen, Handwerk und sozialwirtschaftlichen Unternehmen
4.1. |
Für die Gewährleistung eines fairen grünen Wandels, bei dem niemand zurückgelassen wird, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die EU-Politik ihre potenziellen Auswirkungen auf den Handel und das Handwerk berücksichtigt. Diese Wirtschaftsakteure sind wichtig für die lokale Wirtschaft. Sie stellen unentbehrliche Güter und Dienstleistungen bereit, die auf die Bedürfnisse der Verbraucher zugeschnitten sind und versorgen auch Gebiete mit schlechterer Anbindung an städtische Zentren. Der Dialog mit ihren Vertretern, wie Unternehmensverbänden und Kammern, ermöglicht vernünftige politische Entscheidungen, die den möglichen Auswirkungen vor Ort Rechnung tragen. |
4.2. |
Unabhängiges Fachwissen ist erforderlich, um optimale innovative Lösungen für den Klimawandel und andere umweltspezifische Herausforderungen zu finden. Dieser Bedarf in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft wird von den freien Berufen abgedeckt, die technische, rechtliche, finanzielle und nichtfinanzielle Fachkenntnisse und Beratung bereitstellen. Der EWSA dringt auf EU-weite Maßnahmen, um die Mitgliedstaaten zur Förderung berufsständischer Regelungen zu veranlassen, durch die die ordnungsgemäße Umsetzung des grünen und digitalen Wandels gewährleistet wird, z. B. mit komplexen technischen Ansätzen, um die am stärksten marktorientierten und innovativsten Lösungen nach vorn zu bringen. |
4.3. |
Die Nachhaltigkeit der lokalen und regionalen Raumplanung kann durch die Verbesserung der Beratungsdienste für Kommunen erhöht werden. Zudem muss das Konzept der strategischen Umweltprüfung hin zu einer (ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen) Nachhaltigkeitsprüfung weiterentwickelt werden. Die Vergabeverfahren in der gesamten EU sollten klimabezogene und andere qualitätsorientierte Kriterien beinhalten, dadurch die Innovation von KKMU fördern und ihnen den Zugang zu Projekten erleichtern, insbesondere im Bereich der Planungsdienste. |
4.4. |
Der Übergang zur Kreislaufwirtschaft erfordert neue Techniken, Produkte und Verfahren. Im Baugewerbe sind dies beispielsweise das Recycling von Abfällen bei Renovierung und Neubau, die Wiederverwendung von Elementen und die Einführung neuer Baumaterialien, einschließlich der Anerkennung qualitätszertifizierter Sekundärbaumaterialien, sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen Herstellern, Handwerk, Fachleuten und der Recyclingindustrie. Die regionalen Wertschöpfungsketten und die Schaffung von Clustern sind ebenso durch die Einbeziehung des Handwerks zu stärken. |
4.5. |
Die ökologischen Herausforderungen für sozialwirtschaftliche Unternehmen sind in Bezug auf die betreffenden Themen im Wesentlichen dieselben wie für andere Unternehmen. Den besonderen Bedingungen dieser Unternehmen muss jedoch im Einklang mit den zahlreichen Stellungnahmen des EWSA mit gezielten Maßnahmen auf der Grundlage des aktuellen EU-Aktionsplans für die Sozialwirtschaft gebührend Rechnung getragen werden. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Daten aus Flash Eurobarometer 498. SMEs, green markets and resource efficiency, S. 46, März 2022.
(2) Smit, S.J., SME focus — Long-term strategy for the European industrial future, EP Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, PE 648.776 — April 2020.
(3) Das Paket „Fit für 55“ umfasst eine Vielzahl von Gesetzgebungsinitiativen, deren endgültige Ausgestaltung von den Verhandlungen zwischen den Organen abhängt. Solange dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, verfügen die KKMU nur über bruchstückhafte Informationen und sind mit Unsicherheiten über die Zukunft konfrontiert.
(4) SME focus, EP-Fachabteilung, April 2020.
(5) COM(2021) 568 final, 14.7.2021, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:52021PC0568.
(6) Siehe auch ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 1.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/9 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Unternehmensübertragungen als treibende Kraft einer nachhaltigen Erholung und eines nachhaltigen Wachstums von KMU“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/02)
Berichterstatterin: |
Mira-Maria KONTKANEN |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch |
Annahme in der Fachgruppe |
8.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
143/0/0 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Unternehmensübertragungen sind ein wichtiger strategischer Prozess, der den Fortbestand von Unternehmen sicherstellt und Arbeitsplätze sichert. Daher sollte nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) die Förderung von Unternehmensübertragungen in der Konjunktur- und Wachstumspolitik der Europäischen Union (EU) und der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle spielen. |
1.2. |
Unternehmensübertragungen sichern das soziale Gefüge ländlicher Gebiete, in denen KKMU (Kleinstunternehmen, kleine und mittlere Unternehmen) stark vertreten sind. Der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen ist für die Erhaltung der Lebensgrundlagen und der Wirtschaft ländlicher und monoindustrieller Gebiete von entscheidender Bedeutung. Der EWSA ist der Ansicht, dass dies auch bei der Umsetzung der langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und im EU-Aktionsplan für den ländlichen Raum berücksichtigt werden sollte. |
1.3. |
Erfolgreiche Unternehmensübertragungen sichern bestehende und schaffen neue Arbeitsplätze sowie Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten in puncto Beschäftigungskontinuität und berufliche Entwicklung. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren zur Förderung der Übertragung eines Unternehmens an Arbeitnehmer, beispielsweise in Form einer Genossenschaft (1) und anderer sozialwirtschaftlicher Unternehmen in Arbeitnehmerhand, auszutauschen. |
1.4. |
Je früher sich Unternehmer auf die Übertragung vorbereiten, desto erfolgreicher verläuft sie in der Regel. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Sensibilisierungsaktivitäten zu Unternehmensübertragungen verstärken sowie Unternehmen und andere Unterstützungsorganisationen dazu befähigen, Übertragungen von KKMU auf den Weg zu bringen und zu begleiten. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten außerdem auf, Frühwarnmechanismen (2) für KKMU einzuführen und weiterzuentwickeln, um die Resilienz, Rentabilität und letztendlich die Übertragbarkeit des Unternehmens zu unterstützen. |
1.5. |
Der Erwerb eines bestehenden Unternehmens sollte als ebenso attraktive Möglichkeit für Existenzgründer wie die Gründung eines Start-ups aktiv gefördert werden. Fachwissen über den Unternehmenserwerb und -nachfolge sollte im Rahmen der unternehmerischen Ausbildung in der Sekundar- und Hochschulbildung vermittelt werden. Daher fordert der EWSA die Entwicklung von Anreizen für die Übertragung von Kleinunternehmen an junge Unternehmer. Solche Anreize könnten Sensibilisierung, Beratungsdienste, Mentoring und Zugang zu Finanzmitteln umfassen. Außerdem könnte das Verständnis junger Unternehmer für den sozialen Dialog weiter gestärkt werden, um sicherzustellen, dass alle Interessenträger von erfolgreichen Unternehmensübertragungen profitieren. Ebenso sollten weitere Anreize für Unternehmensübertragungen für Unternehmerinnen entwickelt werden, um die aktuell noch zu geringe Anzahl von Unternehmerinnen zu erhöhen. |
1.6. |
Die Finanzierung bleibt ein Hindernis für erfolgreiche Unternehmensübertragungen, und die meisten Unternehmensübertragungen erfordern eine externe Finanzierung. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass Finanzinstitute zur Unterstützung von Unternehmensübertragungen im Bereich der KKMU — beispielsweise durch Bereitstellung von Sicherheiten für Bankdarlehen — zur Verfügung stehen. |
1.7. |
Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, nationale Stakeholder-Foren für Unternehmensübertragungen einzurichten, in denen sowohl öffentliche als auch private Interessenträger vertreten sind. Foren für Unternehmensübertragungen stellen einen systematischen und langfristigen Ansatz zur Förderung von Unternehmensübertragungen dar. Sie bieten auch Raum für den ständigen Dialog zwischen nationalen Experten und tragen zur effizienteren Nutzung von Ressourcen bei. |
1.8. |
Der EWSA ist der Ansicht, dass in allen EU-Mitgliedstaaten Online-Plattformen für Unternehmensübertragungen entwickelt werden sollten, zu denen auch Kleinst- und Kleinunternehmen Zugang haben sollten. Zwischen verschiedenen Online-Plattformen in den Mitgliedstaaten sollten Verknüpfungen und Synergien entwickelt werden, und die Europäische Kommission könnte die Verknüpfung verschiedener digitale Marktplätze in der EU erleichtern. |
1.9. |
Die Daten zu Unternehmensübertragungen sind häufig fragmentiert, unzureichend, veraltet und nicht in allen Mitgliedstaaten vergleichbar. Der EWSA empfiehlt daher der Kommission und den Mitgliedstaaten, die Datenbank zu Unternehmensübertragungen weiter zu verbessern. |
1.10. |
Die Situation der Unternehmensübertragungen in Europa sollte regelmäßig überprüft werden, beispielsweise mithilfe eines EU-weiten Barometers für Unternehmensübertragungen, das auch zu faktengestützter Politikgestaltung beitragen würde. Die jährliche KMU-Versammlung der EU sollte als regelmäßiges Forum für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Übertragungen von KKMU genutzt werden. Schließlich sollten verschiedene Sensibilisierungsinitiativen in Betracht gezogen werden, wie z. B. die Einführung einer nationalen und/oder Europäischen Woche der Unternehmensübertragung. |
2. Einleitung
2.1. |
Eine Erhöhung der Zahl erfolgreicher Unternehmensübertragungen hätte unmittelbare Vorteile für die Beschäftigung, den Fortbestand der Unternehmen und die europäische Wirtschaft insgesamt. Gemäß den im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas geäußerten Vorschlägen (3) tragen Unternehmensübertragungen zu widerstandsfähigeren Gesellschaften mit stärkerem Zusammenhalt bei. |
2.2. |
Unternehmensübertragungen spielen bei der strategischen Entwicklung, der Erneuerung und dem Wachstum von KKMU eine immer bedeutsamere und selbstverständlichere Rolle. Die Bevölkerung Europas altert und die Zahl der Unternehmer, die sich aus dem Geschäft zurückziehen wollen, nimmt zu. Deshalb werden erfolgreiche Unternehmensübertragungen für die europäische KKMU-Wirtschaft immer wichtiger. |
2.3. |
Jedes Jahr werden in ganz Europa etwa 450 000 Unternehmen mit zwei Millionen Beschäftigten übertragen. Schätzungen zufolge laufen jedes Jahr etwa 150 000 Unternehmensübertragungen Gefahr, fehlzuschlagen, wodurch rund 600 000 Arbeitsplätze gefährdet werden. Bei Kleinunternehmen ist die Gefahr am größten, dass die Übertragung fehlschlägt (4). |
2.4. |
Unternehmensübertragungen können aufgrund finanzieller, verwaltungstechnischer, regulatorischer, administrativer oder marktbezogener (z. B. im Hinblick auf die Zusammenführung von Käufer und Verkäufer) Herausforderungen ein komplexer Prozess sein. Zugleich findet ein Großteil aller Unternehmensübertragungen bei Kleinstunternehmen mit begrenzten Ressourcen statt. Besonders schwierig ist oftmals auch die Übertragung von Kleinunternehmen, in denen der Inhaber eine dominierende Rolle spielt (5). |
2.5. |
Ein gut funktionierendes Ökosystem für Unternehmensübertragungen ist für den Erfolg der Übertragungen grundlegend und hilft beim Aufbau dynamischer Märkte für Unternehmensübertragungen. Ökosysteme für Unternehmensübertragungen umfassen verschiedene öffentliche und private Akteure: Käufer, Verkäufer, Vorgänger, Nachfolger, Unternehmensberater (wie Unternehmensmakler), Buchhalter, Rechtsanwälte und -berater, Vermittler, Finanzinstitute, Organisationen zur Unterstützung von Unternehmen, politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler. Sensibilisierungsaktivitäten mit dem Ziel, die Vorbereitung auf Unternehmensübertragungen zu verbessern, spielen in einem solchen Ökosystem eine wichtige Rolle. Nach wie vor bestehen bei Unternehmensübertragungen erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Regionen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten. Dies lässt den Ökosystemen für Unternehmensübertragungen in ganz Europa Raum für wechselseitiges Lernen und für Verbesserungen. Letztlich liegt die Verantwortung für die Unternehmensübertragung jedoch immer beim Unternehmer. |
2.6. |
Ein erfolgreicher Inhaberwechsel kann zu einem resilienteren, innovativeren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen führen. Wenn Unternehmen mit neuen Inhabern vermehrt grüne und digitale Geschäftsmodelle übernehmen, tragen auch Unternehmensübertragungen zum grünen und digitalen Übergang im Bereich der KKMU bei. |
2.7. |
Auch die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Resilienz europäischer Unternehmen gestärkt und eine bessere Vorsorgeplanung sichergestellt werden muss. Das Unternehmen und sein Geschäftsmodell sollten gegenüber externen Schocks gesund und resilient sein, damit die Übertragung erfolgreich ist. Finanzielle Solidität und Resilienz erhöhen die Chancen auf eine erfolgreiche Übertragung. |
3. Hintergrund
3.1. |
Unternehmensübertragungen sind seit Anfang der 1990er-Jahre Teil der Unternehmenspolitik der EU. 1994 verfasste die Europäische Kommission eine Empfehlung (6) zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten. In diesen Empfehlungen wurde den Mitgliedstaaten eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für Unternehmen vorgeschlagen, die sich auf eine Übertragung vorbereiten. Zu diesen Maßnahmen gehören Sensibilisierungs- und Vorbereitungsaktivitäten, die Verbesserung des finanziellen Umfelds für Unternehmensübertragungen, die Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für Umstrukturierungen, die Bereitstellung rechtlicher Mittel, durch die die Kontinuität der Personengesellschaften beim Tod des Gesellschafters oder Unternehmers gesichert wird, die Gewährleistung, dass Erbschaft- und Schenkungssteuern Unternehmensübertragungen nicht im Wege stehen, und die Erleichterung der Übertragung von Unternehmen an Dritte durch geeignete Steuervorschriften. |
3.2. |
Die Kommission hat diese Empfehlung 2006 überprüft und die Mitteilung „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang“ (7) veröffentlicht. Die Überprüfung machte deutlich, dass die Umsetzung der Empfehlung von 1994 weitere Anstrengungen erforderte. Neben der Aufforderung zur Umsetzung der Empfehlung von 1994 umfasste die Mitteilung von 2006 weitere Empfehlungen zur Förderung von Unternehmensübertragungen: das politische Augenmerk auf Unternehmensübertragungen verstärken, spezielle Unterstützung und Mentoring anbieten, transparente Märkte für Unternehmensübertragungen einrichten sowie nationale, regionale und lokale Förderinfrastrukturen zur Förderung von Übertragungen aufbauen. |
3.3. |
2013 nahm die Kommission eine Bewertung der Fortschritte im Hinblick auf die Empfehlungen von 2006 vor. Dabei kam sie zu dem allgemeinen Schluss, dass seit der Mitteilung von 2006 keine hinreichenden Fortschritte bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmensübertragungen gemacht wurden. Die in der Bewertung aufgeführten Unzulänglichkeiten betrafen beispielsweise die steuerliche Behandlung von Dritten oder Beschäftigten und das Angebot an speziellen Unterstützungs- und Finanzierungsinitiativen. Die Bewertung zeigte außerdem auf, dass Unternehmensübertragungen im Gegensatz zu Unternehmensgründungen weder auf Ebene der EU noch auf Ebene der Mitgliedstaaten genügend politische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. |
3.4. |
Im Jahr 2020 veröffentlichte die Kommission eine KMU-Strategie der EU (8), in der sie ihre Zusage bekräftigte, ihre Arbeiten zur Erleichterung der Übertragung von Unternehmen fortzusetzen und die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen um die Schaffung eines übertragungsfreundlichen Unternehmensumfelds zu unterstützen. In letzter Zeit hat die Kommission ihr Augenmerk auf die Verbesserung der Faktengrundlage in Bezug auf Unternehmensübertragungen gerichtet und hierzu 2021 einen Bericht (9) veröffentlicht. Informationen zu den Maßnahmen der Kommission und zu von der EU finanzierten bewährten Verfahren findet man auf der Website der Kommission (10). |
3.5. |
Auch der EWSA hat die Bedeutung von Übertragungen von KKMU anerkannt und fordert rasche Maßnahmen zur Erleichterung und Straffung solcher Transaktionen zu erschwinglichen Kosten (11). In seiner Stellungnahme zur KMU-Strategie der EU fordert der EWSA außerdem, ein besonderes Augenmerk auf grenzüberschreitende Übertragungen von KKMU zu legen, um die hohen Kosten, die mit diesen Transaktionen verbunden sind, und die erheblichen Unterschiede zwischen den nationalen Vorschriften zu verringern (12). In der Folgestellungnahme des EWSA zur KMU-Strategie der EU (13) wird das Potenzial erfolgreicher Unternehmensübertragungen veranschaulicht, wenn es darum geht, die Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Unternehmen im Einklang mit den Zielen der EU für den grünen und den digitalen Wandel voranzutreiben. |
4. Allgemeine Bemerkungen
4.1. |
Unternehmensübertragungen werden aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in Europa und der Alterung der Unternehmerschaft zu einem immer wichtigeren Thema für KKMU. Rund 90 % der Unternehmensübertragungen betreffen Kleinstunternehmen (14). |
4.2. |
Die Erhöhung der Anzahl erfolgreicher Unternehmensübertragungen hat unmittelbare Vorteile für die europäische Wirtschaft. Im Vergleich zu Neugründungen schneiden erfolgreich übertragene Unternehmen in Bezug auf Fortbestand, Umsatz, Gewinn, Innovationskraft und Beschäftigung besser ab (15). Nach Angaben der Europäischen Kommission erhalten bestehende Unternehmen im Durchschnitt fünf Arbeitsplätze, während ein neugegründetes Unternehmen im Durchschnitt nur zwei Arbeitsplätze schafft (16). Die Förderung von Unternehmensübertragungen stellt somit die bestmögliche Förderung des unternehmerischen Wachstums dar. |
4.3. |
Unternehmensübertragungen schützen das soziale Gefüge ländlicher Gebiete, in denen es viele KKMU gibt. Schätzungen zufolge sind mindestens ein Drittel der europäischen KKMU in ländlichen Gebieten angesiedelt. Sie sichern den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt dieser Gebiete durch ihre Dienstleistungen für Bürger, Verbraucher und lokale Wirtschaftsaktivitäten sowie durch die Arbeitsplätze, die sie bieten (17). Unternehmensübertragungen helfen, den Verlust handwerklichen Könnens vor Ort zu vermeiden. Oft tragen das lokale Handwerk und der Einzelhandel positiv zu den vielfältigen Wahlmöglichkeiten für die Verbraucher auf dem Markt bei und bieten eine Alternative zu einheitlichen Einzelhandelsketten. Für die Verbraucher schlägt sich eine erfolgreiche Unternehmensübertragung im Fortbestand des Angebots an häufig verbesserten Dienstleistungen und Produkten nieder. Der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen ist für die Erhaltung der Lebensgrundlagen und der Wirtschaft monoindustrieller und ländlicher Gebiete von entscheidender Bedeutung. Dies betrifft insbesondere den Agrar- und Lebensmittelverarbeitungssektor. Erfolgreiche Unternehmensübertragungen stellen auch eine Möglichkeit dar, die grüne und digitale Wende in ländlichen Gebieten durch einen durch den Inhaberwechsel eingeleiteten Wandel zu beschleunigen. Der EWSA ist der Ansicht, dass der Aufbau gut funktionierender Ökosysteme und Unterstützungsdienste für Unternehmensübertragungen auch bei der Umsetzung der langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und des EU-Aktionsplans für den ländlichen Raum berücksichtigt werden sollte. |
4.4. |
Die Förderung von Unternehmensübertragungen kommt auch den Beschäftigten zugute, da dadurch Arbeitsplätze und der Fortbestand der Unternehmen gesichert werden. Gerade im Falle der KKMU sind die Beschäftigten das wertvollste Kapital, das an die neuen Eigentümer übertragen wird. Daher ist es wichtig, bei Unternehmensübertragungen das Wohlergehen der Beschäftigten sicherzustellen. Oft machen sich neue Inhaber nach der Übertragung mit Enthusiasmus daran, das Unternehmen weiterzuentwickeln und auszubauen. Dies schlägt sich auch in besseren Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten in puncto Beschäftigungskontinuität und berufliche Entwicklung nieder. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, bewährte Verfahren für Übertragungen auszutauschen, bei denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter beschäftigt bleiben und die Unternehmenstätigkeiten weiterentwickeln können, indem sie ihr Unternehmen übernehmen, beispielsweise in Form einer Genossenschaft oder anderen Unternehmensformen in der Sozialwirtschaft in Arbeitnehmerhand (18), die ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisensituationen unter Beweis gestellt haben. Auch durch Förderung des sozialen Dialogs und einer Bereitstellung von Informationen im Vorfeld werden Übernahmen durch Arbeitnehmer erleichtert. Dies steht im Einklang mit der EWSA-Stellungnahme INT/925 (19), in der Übernahmen von Unternehmen durch Arbeitnehmer als bewährtes Verfahren für den Neustart von krisenbehafteten Unternehmen und für die Übertragung von KMU, deren Inhaber keine Nachfolger haben, hervorgehoben werden. |
4.5. |
Der Förderung von Unternehmensübertragungen muss in der Konjunktur- und Wachstumspolitik der EU und der Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle zugewiesen werden. Der EWSA unterstützt die langjährigen und strategischen Bemühungen, die die Kommission sowie Organisationen zur Unterstützung von Unternehmensübertragungen wie Transeo (20) unternommen haben, um in Europa ein übertragungsfreundlicheres Umfeld zu schaffen. Es besteht jedoch noch Verbesserungsbedarf. Der Grad der Beachtung, die derzeitige Gesamtfunktionalität des Ökosystems für Unternehmensübertragungen und der Umfang der Maßnahmen zur Förderung von Unternehmensübertragungen unterscheiden sich erheblich zwischen den Mitgliedstaaten. In einem sich schnell entwickelnden Unternehmensumfeld müssen Unternehmerinnen und Unternehmer Wachstumschancen nutzen, sowohl innerhalb des eigenen Unternehmens als auch durch Akquisitionen. Alle Arten von Eigentumsübertragungen sollten in Betracht gezogen werden, einschließlich der familieninternen Nachfolge, des Management-Buy-ins und -Buy-outs, der strategischen Akquisition und der Übernahme durch die Arbeitnehmer. |
4.6. |
Damit Europas Übergang zu einer digitalen und grünen Wirtschaft gelingt, müssen KKMU mit ins Boot geholt werden. Unternehmensübertragungen sind ein natürlicher Weg, um das Geschäftsmodell von KKMU in ein grüneres und stärker digitalisiertes Geschäftsmodell umzuwandeln. Außerdem unterstützen sie den digitalen und den grünen Wandel. Ein erfolgreicher Inhaberwechsel kann zu einem resilienteren, innovativeren und wettbewerbsfähigeren Unternehmen führen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Ressourceneffizienz ist der Kauf eines bestehenden Unternehmens mitsamt Produktionsanlagen oftmals umweltfreundlicher als der Kauf neuer Produktionsanlagen. |
4.7. |
Gerade wenn das Unternehmen von einem älteren Unternehmer auf einen jüngeren übertragen wird, ist es wahrscheinlich, dass Letzterer besser gerüstet ist, um neue Technologien, Produktionsmethoden und nachhaltige Geschäftsmodelle in das erworbene Unternehmen zu integrieren. Daher fordert der EWSA, dass weitere Anreize wie Sensibilisierung, Beratungsdienste, Mentoring und Zugang zu Finanzmitteln für die Übertragung von KKMU auf Jungunternehmer entwickelt werden. Außerdem könnte das Verständnis junger Unternehmer für den sozialen Dialog weiter gestärkt werden, indem beispielsweise entsprechende Lernmodule in die unternehmerische Bildung integriert werden. Der Start als Unternehmer durch den Kauf eines bestehenden Unternehmens sollte als ebenso attraktive Möglichkeit wie der Einstieg als Firmengründer aktiv beworben werden. Ebenso sollten weitere Anreize für Unternehmensübertragungen für Unternehmerinnen entwickelt werden, um die aktuell noch zu geringe Anzahl von Unternehmerinnen zu erhöhen. |
4.8. |
Bei der überwiegenden Mehrheit der Unternehmensübertragungen werden externe Finanzmittel benötigt. Mit Blick auf die zunehmenden regulatorischen Anforderungen im Finanzsektor sind zwei wichtige Finanzinstrumente hervorzuheben, mit denen Unternehmensübertragungen gefördert werden können. Erstens werden offenkundig Sicherheiten für die Finanzierung von Unternehmensübertragungen benötigt. Der Anteil an immateriellem Betriebsvermögen nimmt jedoch zu und der Bankensektor muss sich an immer strengere Regeln halten. Jeder Mitgliedstaat benötigt einen Marktteilnehmer oder eine Organisation, der bzw. die Sicherheiten für Bankdarlehen stellt. Zweitens verstärkt die Entwicklung des EU-Regulierungsrahmens die Nachfrage nach Eigenkapitalbeschaffung. Verschiedene Käufer wären für die Führung des zu übernehmenden Unternehmens qualifiziert, aber es mangelt ihnen an Eigenkapital. Der EWSA legt der Kommission nahe, bei der Förderung der Entwicklung dieser beiden Finanzinstrumente in den Mitgliedstaaten eine proaktive Rolle zu übernehmen. |
4.9. |
Eine wachsende Zahl von KKMU in Familienbesitz wird in Zukunft an Dritte übertragen werden. Um Drittkäufer anzuziehen, müssen sich Unternehmen in einem existenzfähigen, wirtschaftlich soliden und attraktiven Zustand befinden. Je früher sich Unternehmer auf die Übertragung vorbereiten, desto erfolgreicher verläuft sie in der Regel. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Sensibilisierungsaktivitäten zu Unternehmensübertragungen verstärken sowie die Unternehmen und andere Unterstützungsorganisationen dazu befähigen, Übertragungen von KKMU auf den Weg zu bringen und zu unterstützen. Unterstützende Frühwarnmechanismen für finanziell angeschlagene Unternehmen durch eine frühzeitige Warnung können ebenfalls wichtig sein, um einem Unternehmer zu helfen, das Unternehmen wieder auf einen finanziell tragfähigen Weg zu führen und auf eine Übertragung vorzubereiten. Daher fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, einen unterstützenden Frühwarnmechanismus für KKMU einzuführen und weiterzuentwickeln. |
In einer aktuellen Studie zur Förderung von Unternehmensübertragungen in europäischen Ländern (21) werden Praktiken zur Förderung von Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten dargelegt, die von anderen Ländern übernommen werden könnten. Der EWSA unterstützt die in der Studie an die Mitgliedstaaten gerichtete Empfehlung, nationale Stakeholder-Foren für Unternehmensübertragungen einzurichten, in denen sowohl öffentliche als auch private Interessenträger vertreten sind. Die Zusammenarbeit der Interessenträger ist auf allen Ebenen erforderlich: regional, national und international. Foren für Unternehmensübertragungen bieten — durch den ständigen Dialog zwischen nationalen Experten — einen systematischen und langfristigen Ansatz zur Förderung von Unternehmensübertragungen und ermöglichen eine effizientere Nutzung der Ressourcen. Schließlich könnte ein von der Europäischen Kommission geförderter grenzübergreifender Dialog zwischen verschiedenen nationalen Foren zum Austausch bewährter Verfahren der Förderung von Unternehmensübertragungen in den Mitgliedstaaten eingerichtet werden.
4.10. |
Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten die umfassende Nutzung digitaler Technologien bei der Förderung von Unternehmensübertragungen. Online-Plattformen für Unternehmensübertragungen, die sich in den meisten Fällen im Besitz privater Interessenträger befinden und von diesen verwaltet werden, sollten in allen Mitgliedstaaten entwickelt werden und auch für Kleinst- und Kleinunternehmen zugänglich sein. Zwischen verschiedenen Online-Plattformen in den Mitgliedstaaten sollten Verknüpfungen und Synergien entwickelt werden, und die Kommission könnte den Zugang zu verschiedenen Online-Marktplätzen in den Mitgliedstaaten erleichtern. Darüber hinaus nimmt die Zahl der grenzüberschreitenden Unternehmensübertragungen bei Kleinunternehmen zu. Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen nationalen Online-Plattformen wäre ein kostengünstiger Weg, um es Kleinunternehmen zu ermöglichen, sich über potenziell interessierte Übernehmer in anderen Mitgliedstaaten zu informieren. |
4.11. |
Eine erfolgreiche europäische Politikgestaltung im Bereich der Unternehmensübertragung erfordert eine verbesserte Datenerhebung. Die Daten über Unternehmensübertragungen sind nach wie vor fragmentiert und nicht vergleichbar. Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, die empfohlenen Schritte zu unternehmen, um die Datenbank zu Unternehmensübertragungen zu verbessern. Diese Schritte werden in dem kürzlich vorgelegten Bericht Improving the evidence base on transfer of business in Europe (22) (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa) umrissen. Der EWSA empfiehlt außerdem die Entwicklung eines EU-weiten Barometers für Unternehmensübertragungen, auf dessen Grundlage alle vier Jahre Bericht erstattet werden soll mit dem Ziel, mit besseren Daten zu einer faktengestützten Politikgestaltung beizutragen. Zudem sollten verschiedene Sensibilisierungsinitiativen erwogen werden, wie z. B. die Einrichtung einer nationalen und/oder europäischen Woche der Unternehmensübertragungen. |
4.12. |
Der EWSA legt der Kommission nahe, neben der Entwicklung einer besseren Datenerhebung regelmäßig die Situation bei Unternehmensübertragungen in Europa zu überprüfen. Die jährliche KMU-Versammlung der EU sollte als regelmäßiges Forum für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Unternehmensübertragungen im Bereich der KKMU genutzt werden. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Beispielsweise gibt es in Frankreich einen Rahmen, um die Übertragung eines Unternehmens an Arbeitnehmer zu organisieren und zu erleichtern und die Wirtschaftstätigkeit vor Ort zu stärken, indem die Übertragung von KKMU erleichtert wird.
(2) Der Frühwarnmechanismus ist ein Beratungs- und Unterstützungsdienst für finanziell angeschlagene Unternehmen, der auf ein frühzeitiges Eingreifen abzielt, um Insolvenzen bestandsfähiger Unternehmen zu verhindern.
(3) Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.
(4) Europäische Kommission: Business Dynamics: Start-ups, business transfers and bankruptcy (Unternehmensdynamik: Start-up-Unternehmen, Unternehmensübertragung und Konkurs), 2011.
(5) Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang, 2006, COM(2006) 117 final, S. 4.
(6) Empfehlung der Kommission vom 7. Dezember 1994 zur Übertragung von kleinen und mittleren Unternehmen (94/1069/EG).
(7) Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft für Wachstum und Beschäftigung — Unternehmensübertragung — Kontinuität durch Neuanfang, 2006, COM(2006) 117 final.
(8) Mitteilung der Kommission: Eine KMU-Strategie für ein nachhaltiges und digitales Europa, 2020, COM(2020) 103 final.
(9) Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Final report (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Abschlussbericht), Amt für Veröffentlichungen, 2021.
(10) ec.europa.eu/growth/smes/supporting-entrepreneurship/transfer-businesses_en.
(11) ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 1.
(12) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 210.
(13) ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 7.
(14) Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Executive summary (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Zusammenfassung), Amt für Veröffentlichungen, 2021.
(15) Tall, Varamäki & Viljamaa, Business Transfer Promotion in European Countries, Seinäjoki 2021, S. 8.
(16) Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2006), Unternehmensübertragung: Kontinuität durch Neuanfang, Brüssel, S. 3.
(17) SMEunited, Position on long-term vision for the EU’s rural area, April 2022.
(18) Zum Beispiel Arbeitnehmergesellschaften („sociedades laborales“) in Spanien.
(19) ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 13.
(20) Transeo ist eine internationale Vereinigung ohne Erwerbszweck, die Experten für Übertragungen und Übernahmen von KMU aus Europa und darüber hinaus zusammenbringt.
(21) Tall, Varamäki & Viljamaa, Business Transfer Promotion in European Countries, Seinäjoki 2021, S. 8.
(22) Europäische Kommission, Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen: Improving the evidence base on transfer of business in Europe — Final report (Verbesserung der Faktengrundlage zu Unternehmensübertragungen in Europa — Abschlussbericht), Amt für Veröffentlichungen, 2021.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/15 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Soziale Taxonomie — Herausforderungen und Chancen“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/03)
Berichterstatterin: |
Judith VORBACH |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt |
Annahme in der Fachgruppe |
9.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
22.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
123/26/12 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) beleuchtet in dieser Stellungnahme den Gedanken einer Sozialtaxonomie und möchte damit die Debatte anregen. Der EWSA fordert die Kommission auf, den überfälligen Bericht mit den Bestimmungen zu veröffentlichen, die erforderlich wären, um den Anwendungsbereich der Taxonomie auf „andere Nachhaltigkeitsziele, wie etwa soziale Ziele“, auszuweiten, wie dies in der Taxonomieverordnung (1) (im Folgenden „Verordnung“) gefordert wird. Der EWSA spricht sich für eine praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die Chancen zu nutzen und zugleich die Herausforderungen zu meistern. Die EU-Taxonomie sollte auf einen ganzheitlichen Ansatz ausgerichtet sein, der sowohl die ökologische als auch die soziale Nachhaltigkeit umfasst. Angesichts der Herausforderungen des ökologischen Wandels, der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden geopolitischen Spannungen bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik und einer stärkeren Fokussierung auf soziale Ziele. |
1.2. |
Der in der Verordnung vorgesehene Mindestschutz ist sehr zu begrüßen und sollte sorgfältig umgesetzt werden. Er reicht jedoch nicht aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten. Eine EU-Taxonomie würde durch die Mobilisierung von Investition dazu beitragen, den dringenden Investitionsbedarf im Sozialbereich zu decken. Sie wird sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Gerechtigkeit und Inklusion ausgerichteten Politik ist. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte die seit Langem erwarteten Leitlinien liefern. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Prognose über den Mittelbedarf für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte vorzulegen. Alles in allem werden öffentliche Investitionen für die öffentlichen Dienstleistungen weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Gleichwohl könnte eine gemeinsam vereinbarte Sozialtaxonomie Leitlinien für Investitionen mit positiven sozialen Auswirkungen enthalten. |
1.3. |
Der EWSA empfiehlt, den von der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen (2) (im Folgenden „die Plattform“) vorgeschlagenen mehrstufigen und vielfältigen Ansatz auch im Bericht der Kommission zu berücksichtigen. Die Integration einer Sozialtaxonomie in den EU-Rechtsrahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen und eine nachhaltige Unternehmensführung wäre sinnvoll, wird jedoch noch viel Arbeit erfordern. Insbesondere wäre der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen eine wichtige Ergänzung zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer die Maßnahmen beurteilt und bewertet werden könnten. Eine gut konzipierte Sozialtaxonomie würde auch dazu beitragen, das potenzielle Problem des Social Washing anzugehen. Der EWSA empfiehlt, mit einfachen und klaren Leitlinien zu beginnen, einfache und transparente Verfahren vorzusehen und diese zu einem späteren Zeitpunkt schrittweise zu ergänzen. Letztlich sollte eine enge Integration der Sozial- und Umwelttaxonomie angestrebt werden, doch in einem ersten Schritt könnte gegenseitiger Mindestschutz sinnvoll sein. |
1.4. |
In der EU-Taxonomie sollten Tätigkeiten und Unternehmen aufgeführt werden, die einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten und einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über die bestehenden Rechtsvorschriften hinausgehen. Der EWSA begrüßt die von der Plattform vorgeschlagenen Ziele: menschenwürdige Arbeit, einen angemessenen Lebensstandard sowie inklusive und nachhaltige Gemeinschaften. Zwar sollten verschiedene internationale und europäische Grundsätze als Grundlage dienen, doch empfiehlt der EWSA insbesondere die Bezugnahme auf die europäische Säule sozialer Rechte und die einschlägigen Ziele für nachhaltige Entwicklung, z. B. auf Ziel 8 „Menschenwürdige Arbeit“. In jedem Fall muss die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte eine Grundbedingung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht ist von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz (3) darstellen. Leitlinien mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, sollten als taxonomiekonform gelten. Es ist zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert und in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen ist — ein Problem, das mit der Mindestlohnrichtlinie angegangen wurde. |
1.5. |
Der EWSA fordert die Gesetzgeber auf, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend in die Gestaltung der Sozialtaxonomie einzubeziehen, da sie zum einen betroffen sind und Berichtspflichten nachkommen müssen. Zum anderen muss ihre Teilhabe gewahrt bleiben. Der EWSA hält die übermäßige Nutzung delegierter Rechtsakte im Bereich der Taxonomie für fragwürdig, weil eine große Bandbreite politischer Fragen angeschnitten wird. Ziel der Taxonomie ist es, Transparenz für Investoren, Unternehmen und Verbraucher zu schaffen. Ihre mögliche Nutzung durch staatliche Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme sollte künftig angemessen bewertet und erörtert werden. Jede breitere Verwendung muss Gegenstand eines geeigneten Entscheidungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden. Schließlich muss die Gefahr des Social Washing gebannt werden. Es sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden, und die zuständigen nationalen Behörden sollten stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen. |
1.6. |
Der EWSA möchte weitere Vorteile einer Sozialtaxonomie hervorheben. Erstens sollte die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen durch eine zuverlässige Taxonomie unterstützt werden, die ein kohärentes Konzept zur Messung der sozialen Nachhaltigkeit darstellt. Zweitens könnten sozial schädliche Tätigkeiten wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Eine Taxonomie könnte dazu beitragen, diese Risiken möglichst gering zu halten. Drittens ist Transparenz von entscheidender Bedeutung für die Effizienz des Kapitalmarkts und könnte auch zum sozialen Binnenmarkt im Sinne von Artikel 3 AEUV beitragen. Sie würde gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern, unlauteren Wettbewerb verhindern und Unternehmen und Organisationen, die zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, mehr Sichtbarkeit geben. Viertens sollte die EU auf ihren Stärken aufbauen und bestrebt sein, ein Vorbild und Vorreiter in Sachen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit zu werden. Die Debatte über eine EU-Ratingagentur sollte wieder aufgenommen werden. Außerdem bekräftigt der EWSA seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten. |
1.7. |
Der EWSA weist auch auf Herausforderungen und mögliche Lösungen hin. Erstens gibt es Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung. Investitionen beruhen jedoch auch auf anderen Kriterien, wie der erwarteten Rendite, die gewichtiger als die Nachhaltigkeitsziele sein könnten, und es gibt auch viele Fälle von Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure. In jedem Fall sollte die Kommission klarstellen, dass fehlende Taxonomiekonformität nicht als schädlich angesehen werden darf. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden. Zweitens wird es Kontroversen darüber geben, was in die Taxonomie aufgenommen werden sollte. Genau aus diesem Grund sollte diese Festlegung mithilfe einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung geklärt werden. Auf diese Weise könnte eine gemeinsame und verlässliche Vorstellung von Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure beziehen können und sollen. Der Erfolg der Taxonomie hängt von ihrer Glaubwürdigkeit ab, und die von ihr erfassten Tätigkeiten müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen. Drittens könnte eine Sozialtaxonomie zusätzliche Berichtspflichten nach sich ziehen. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese auf ein Minimum zu reduzieren und gleichzeitig Überschneidungen zu vermeiden. Beratung und die Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Taxonomie durch eine gesetzlich berechtigte Stelle könnten insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Geschäftsmodelle von Nutzen sein. Darüber hinaus sollten Finanzinstitute ermutigt werden, Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorzulegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun. |
2. Hintergrund der Stellungnahme
2.1. |
Der EU-Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen soll dazu beitragen, private Finanzströme in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu lenken. Der Aktionsplan 2018 für ein nachhaltiges Finanzwesen setzt sich aus einer Taxonomie, einem Offenlegungssystem für Unternehmen und Anlageinstrumenten einschließlich Benchmarks, Standards und Gütesiegeln zusammen. Der Schwerpunkt der erneuerten Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen von 2021 liegt hingegen auf der Finanzierung des Übergangs der Realwirtschaft zur Nachhaltigkeit sowie auf Inklusivität, Resilienz, dem Beitrag des Finanzsektors sowie auf globalen Zielen. In diesem Rahmen hat die EU an verschiedenen Gesetzesinitiativen gearbeitet, bei denen die EU-Taxonomie eine Schlüsselrolle spielt. Der EWSA verweist auf seine einschlägigen Stellungnahmen (4). |
2.2. |
Die EU-Taxonomie soll für Investoren und Unternehmen Transparenz schaffen und ihnen bei der Ermittlung nachhaltiger Investitionen helfen. Die Verordnung stellt ein Klassifizierungssystem dar, das sich auf sechs Umweltziele in den Bereichen Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Wasser, biologische Vielfalt, Vermeidung von Umweltverschmutzung und Kreislaufwirtschaft konzentriert. Eine ökologisch nachhaltige Investition muss einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung eines oder mehrerer dieser Ziele leisten, darf keines dieser Ziele erheblich beeinträchtigen (DNSH-Grundsatz) und muss bestimmte Schwellenwerte bezüglich der Leistung („technische Bewertungskriterien“) einhalten. Sie muss auch einen Mindestschutz in den Bereichen Soziales und Unternehmensführung Rechnung tragen (Artikel 18). Deshalb müssen Unternehmen ihre Tätigkeiten mit den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen, den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit sowie der Internationalen Charta der Menschenrechte in Einklang bringen. |
2.3. |
Gemäß Artikel 26 der Verordnung ist die Kommission verpflichtet, bis Ende 2021 einen Bericht zu veröffentlichen, in dem die für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf „andere Nachhaltigkeitsziele wie soziale Ziele“ erforderlichen Bestimmungen erläutert werden. Dies zeigt zwar die Absicht, den Anwendungsbereich auszuweiten, verlangt aber noch nicht die Einführung einer sozialen Taxonomie. Im Einklang mit der Verordnung wurde die Untergruppe „Soziale Taxonomie“ der Plattform beauftragt, die Ausweitung der Taxonomie auf soziale Ziele zu prüfen. Ihr Abschlussbericht über die Sozialtaxonomie (5) wurde im Februar 2022 veröffentlicht, später als angekündigt, und die Kommission wird voraussichtlich auf dessen Grundlage ihren Bericht erstellen. Darüber hinaus soll die Plattform die Kommission zur Anwendung des Artikels 18, d. h. zu der Frage, wie Unternehmen die Mindestschutzvorschriften einhalten können, und einer möglicherweise erforderlichen Ergänzung der Anforderungen des Artikels beraten. |
2.4. |
Die Plattform schlägt vor, die Struktur für eine soziale Taxonomie in den derzeitigen EU-Rechtsrahmen für nachhaltige Finanzierungen und eine nachhaltige Unternehmensführung zu integrieren. Im Falle der Einführung einer Sozialtaxonomie würden weitere Bestimmungen ein ordnungspolitisches Umfeld schaffen, darunter der Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen — mit der die Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen ersetzt und verbindliche EU-Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingeführt werden sollen —, die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten und die Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit. Insbesondere müssen sich die Unternehmen laut dem Richtlinienvorschlag zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen auch mit Informationen zu sozialen Themen und zur Berichterstattung über die Unternehmensführung auseinandersetzen. Es wird auch erwartet, dass die Richtlinie die Offenlegung in Bezug auf soziale Belange verbessert. Die Richtlinie wäre daher ein wichtiges Gegenstück zu einer Sozialtaxonomie, anhand derer diese Aspekte gemessen und bewertet werden können. |
2.5. |
Trotz einiger Unterschiede regt die Plattform an, sich strukturell an die Umwelttaxonomie anzulehnen. Sie schlägt drei Hauptziele vor, die durch Unterziele ergänzt werden. Unter den Zielvorschlag „menschenwürdige Arbeit“ fallen Unterziele wie die Stärkung des sozialen Dialogs, die Förderung von Tarifverhandlungen und existenzsichernde Löhne, die ein menschenwürdiges Leben garantieren. Das Ziel „angemessener Lebensstandard“ umfasst gesunde und sichere Produkte, eine hochwertige Gesundheitsversorgung und hochwertigen Wohnraum. Mit dem Ziel „inklusive und nachhaltige Gemeinschaften“ sollten auch Gleichheit und integratives Wachstum sowie tragfähige Existenzgrundlagen gefördert werden. Beim vorgeschlagenen Mindestschutz wird auf Ziele in den Bereichen Umwelt, Unternehmensführung und Soziales abgestellt, um Unvereinbarkeiten zu vermeiden, wie z. B. bei einem Unternehmen, das nachhaltige Tätigkeiten ausübt und in Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist. Dabei gilt es zudem, den relevanten Interessenträgern gerecht zu werden, d. h. den in dem betreffenden Unternehmen und der Wertschöpfungskette Beschäftigten, den Verbrauchern und den betroffenen Gemeinschaften. Ferner werden sozialbezogene DNSH-Kriterien und die Auflistung schädlicher Tätigkeiten vorgeschlagen. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Der EWSA dringt auf eine Wirtschaftspolitik, die mit den in Artikel 3 des EU-Vertrags festgelegten Zielen und den Zielen für nachhaltige Entwicklung im Einklang steht. Er hält eine ausgewogene Fokussierung auf zentrale Politikziele für erforderlich, namentlich ökologische Nachhaltigkeit, nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, Verteilungsgerechtigkeit, Gesundheit und Lebensqualität, Geschlechtergleichstellung, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel auf Basis einer fairen und wettbewerbsfähigen Industrie- und Wirtschaftsstruktur und stabile öffentliche Finanzen. Darüber hinaus verweist der EWSA auf die Agenda für wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit mit ihren vier Komponenten — ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Stabilität —, die den gleichen Stellenwert haben, um so Verstärkungseffekte zu erzielen und den grünen und digitalen Wandel erfolgreich zu bewältigen (6). Angesichts des durch die russische Aggression ausgelösten Krieges in der Ukraine betont der EWSA seine Forderung nach einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Konflikts. Er erinnert an die Erklärung in der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1919, wonach soziale Gerechtigkeit eine wesentliche Voraussetzung für einen dauerhaften Weltfrieden ist. |
3.2. |
Der EWSA beleuchtet den Gedanken einer Sozialtaxonomie in der Absicht, die Debatte anzuregen und auf das Thema aufmerksam zu machen. Der EWSA spricht sich für eine gut durchdachte, praktikable und konzeptionell solide Sozialtaxonomie aus, um die erheblichen Chancen zu nutzen und zugleich die erheblichen Probleme zu bewältigen (siehe unten). Ebenso wie die Wirtschaftspolitik insgesamt sollte auch das finanzbezogene Nachhaltigkeitskonzept und insbesondere die EU-Taxonomie auf einen ganzheitlichen und mehrdimensionalen Ansatz abgestimmt werden, bei dem die Gleichrangigkeit von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit angestrebt wird. Außerdem kann der grüne Wandel in sozialer Hinsicht schädliche Konsequenzen haben. Daher müssen die Standards im sozialen Bereich bewahrt und angehoben werden und es ist darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Ein gerechter Übergang erfordert nachhaltige soziale Bedingungen, und eine Sozialtaxonomie könnte dafür Leitlinien liefern. |
3.3. |
Der EWSA betrachtet eine Sozialtaxonomie als wichtige und notwendige Ergänzung der sozialen Dimension der EU. Er fordert die Kommission auf, den Bericht gemäß Artikel 26 fristgerecht vorzulegen. Der mehrstufige und vielfältige Ansatz des Berichts der Plattform sollte beibehalten werden. Das Perfektionsstreben und die gleichzeitige Berücksichtigung sämtlicher Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit könnte jedoch zu erheblichen Verzögerungen bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie führen und birgt sogar die Gefahr, dass das ganze Vorhaben aufgegeben wird. Daher empfiehlt der EWSA, rechtzeitig mit einfachen und klaren Leitlinien sowie leicht anzuwendenden Transparenzverfahren zu beginnen und diese dann Schritt für Schritt kontinuierlich zu ergänzen. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Umwelttaxonomie und einer Sozialtaxonomie sollte Kohärenz und eine enge Integration der beiden Ansätze angestrebt werden. Dennoch könnte in einem ersten Schritt gegenseitiger Mindestschutz zweckmäßig sein. |
3.4. |
Der EWSA begrüßt, dass die Plattform einen Entwurf ihres Berichts zu Artikel 18 der Verordnung veröffentlicht hat, um den Unternehmen eine Orientierungshilfe für die Umsetzung der Anforderungen des Artikels zu geben und gegebenenfalls dessen Änderung zu ermöglichen. Insbesondere ist es im Zusammenhang mit sozialer Nachhaltigkeit unabdingbar, die tatsächliche Leistung eines Unternehmens in puncto Menschenrechte, Arbeitsbeziehungen und menschenwürdige Arbeit zu bewerten. Wenngleich der Mindestschutz im Rahmen der Umwelttaxonomie sehr zu begrüßen ist und gründlich umgesetzt werden sollte, könnte er niemals eine Sozialtaxonomie ersetzen. Er reicht nicht annähernd aus, um soziale Nachhaltigkeit für Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften zu gewährleisten (7). Darüber hinaus empfiehlt der EWSA die Zusammenarbeit mit den örtlichen Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft und Sozialunternehmen, um die positive Wirkung der Wirtschaftstätigkeiten auf die Interessenträger zu beobachten und zu fördern. |
3.5. |
Die Sozialtaxonomie wird an Bedeutung gewinnen, wenn sie Teil einer allgemeinen, auf soziale Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik ist, die mit angemessenen Bestimmungen einhergeht, z. B. in Bezug auf die Sorgfaltspflicht im Bereich Menschenrechte. Sie kann jedoch niemals eine solide staatliche Regulierung und Sozialpolitik ersetzen. Die staatliche Finanzierung von Sozialleistungen und stabile Sozialschutzsysteme sind nach wie vor grundlegend. Die Taxonomie sollte nicht als Mittel der Verdrängung oder Privatisierung dienen. Öffentlichen Investitionen kommt nach wie vor eine entscheidende Rolle bei öffentlichen Dienstleistungen zu und oft werden dadurch auch weitere private Investitionen angestoßen. Allerdings könnten durch die soziale Taxonomie allen Investoren Nachhaltigkeitskriterien in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, allgemeine und berufliche Bildung sowie Sozialwohnraum an die Hand gegeben werden, um sozial nachhaltige Investitionen in die Realwirtschaft zu ermöglichen und Social Washing zu vermeiden. In Zukunft könnte die Taxonomie auch von staatlichen Einrichtungen als Referenz für Hilfs- und Finanzierungsprogramme genutzt werden. Dies wird ordentlich bewertet und erörtert werden müssen. |
3.6. |
Eine Sozialtaxonomie würde eine detaillierte Aufgliederung der positiven und negativen sozialen Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten bieten. Viele der in Betracht gezogenen Punkte sind eng mit Themen verknüpft, die traditionell unter Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft diskutiert werden. Der EWSA dringt auf die volle Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die Gestaltung der Sozialtaxonomie, insbesondere mit Blick auf die (Unter-)Ziele, DNSH-Kriterien und Schutzprinzipien. Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbraucher, andere Interessenträger und Gemeinschaften sind von der Zielformulierung betroffen und/oder müssen Berichtspflichten nachkommen. Der EWSA verweist auch auf das Beispiel der Pensionsfonds, bei denen Arbeitnehmer die Begünstigten von Investitionen sind. Die Einbindung der Interessenträger ist wichtig, um die Teilhabe zu wahren. Der EWSA geht davon aus, dass eine Sozialtaxonomie durch eine Überarbeitung der Verordnung eingeführt werden könnte, sodass ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchgeführt würde. Der übermäßige Rückgriff auf delegierte Rechtsakte im Kontext eines nachhaltigen Finanzwesens und insbesondere bei der Einführung der Taxonomie ist fragwürdig, da diese Thematik zahlreiche politische Fragen umfasst, die weit über technische Spezifikationen hinausgehen. |
3.7. |
Nach Ansicht des EWSA ist es wichtig, die Qualität der Informationen im Bereich sozial nachhaltiger Investitionen zu erhöhen und Desinformation über die soziale Lage zu verhindern, um negative Auswirkungen auf alle Interessenträger zu vermeiden. Eine gut durchdachte Sozialtaxonomie würde erheblich zur Lösung solcher Probleme beitragen, indem Tätigkeiten und Unternehmen bzw. Organisationen, die wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, eindeutig benannt werden. Sie sollte einen Goldstandard darstellen, der Ansprüche widerspiegelt, die über bereits bestehende Rechtsvorschriften hinausgehen, wobei das richtige Gleichgewicht zwischen einem zu umfassenden und einem zu engen Ansatz gefunden werden muss. Während Umweltkriterien eher auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen, würde eine Sozialtaxonomie, wie sie die Plattform vorschlägt, eher auf Standards und weltweit anerkannten Rahmen beruhen, die vielleicht nicht verbindlich sind, sondern als Leitlinien dienen, mit denen sozial nachhaltige Tätigkeiten angeregt werden. |
3.8. |
Die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte muss eine Voraussetzung für die Konformität mit der Taxonomie sein. Ebenso ist die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren im Einklang mit dem jeweiligen nationalen und europäischen Recht von zentraler Bedeutung und sollte einen DNSH-Grundsatz darstellen. Darüber hinaus sollten Leitlinien für einfache und transparente Verfahren mit positiven sozialen Auswirkungen, die auf der Vereinbarung der Sozialpartner beruhen, als taxonomiekonforme Wirtschaftstätigkeit gelten. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass der Umfang der tarifvertraglichen Abdeckung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark variiert — von nur 7 % in Litauen bis zu 98 % in Österreich. Seit dem Jahr 2000 ist der Grad der Abdeckung durch Tarifverträge in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen, laut Schätzungen sind heute mindestens 3,3 Millionen Arbeitnehmer weniger tarifvertraglich abgesichert. Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Sozialtaxonomie spielt die neue Richtlinie über Mindestlöhne und die Ausweitung der Anwendung von Tarifverträgen (8). Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, in dem vorgeschlagenen Rechtsakt selbst klare Hinweise zur Umsetzung der Mindeststandards zu geben und sich dabei vielleicht auf den Bericht der Plattform bezüglich Artikel 18 der Verordnung zu stützen. |
3.9. |
Verschiedene internationale und europäische Standards und Grundsätze können als Grundlage für die Sozialtaxonomie dienen. Für die (Unter-)Ziele empfiehlt der EWSA, auf die europäische Säule sozialer Rechte und den damit verbundenen Aktionsplan sowie auf die einschlägigen Nachhaltigkeitsziele abzustellen, insbesondere auf Ziel 8 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum), Ziel 1 (Keine Armut), Ziel 2 (Kein Hunger), Ziel 3 (Gesundheit und Wohlergehen), Ziel 4 (Hochwertige Bildung), Ziel 5 (Geschlechtergleichheit), Ziel 10 (Weniger Ungleichheiten) und Ziel 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden). Von den Sozialpartnern vereinbarte Rahmenregelungen könnten ebenfalls eine wichtige Quelle sein. Der EWSA hält die von der Plattform vertretene Idee, auf der Grundlage der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze einen Mindestschutz einzuführen, für grundlegend. Darüber hinaus wären auch die Europäische Sozialcharta, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Europäische Menschenrechtskonvention und der Richtlinienvorschlag zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit wertvolle Orientierungspunkte für eine soziale Taxonomie. Abschließend ist zu sagen, dass Tätigkeiten, die als erheblich beeinträchtigend angesehen werden, d. h. solche, die grundsätzlich und unter allen Umständen Nachhaltigkeitszielen entgegenstehen und deren Schädlichkeit sich nicht verringern lässt, ausgeschlossen werden sollten. Dies sollte auch für durch internationale Abkommen geächtete Waffen wie Streubomben oder Antipersonenminen gelten. Der EWSA empfiehlt zudem, ein Konzept für den Umgang mit aggressiven und kriegerischen Regimen zu entwickeln. |
4. Chancen einer Sozialtaxonomie
4.1. |
Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, das Potenzial der Taxonomie zu nutzen, um Investitionen in sozial nachhaltige Aktivitäten und Einrichtungen zu lenken und gute Arbeitsplätze zu schaffen. Weit mehr als 20 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind von Armut bedroht; die Pandemie hat die Ungleichheiten vertieft, und der Krieg in der Ukraine wird die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen weiter verschärfen. Weltweit werden schätzungsweise etwa 3,3 bis 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigt, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Waren, die unter Verletzung arbeitsbezogener Menschenrechte hergestellt werden, sind durch Import mit dem EU-Binnenmarkt verbunden. Auch in der EU besteht ein dringender Bedarf an sozialen Investitionen, z. B. in die Armutsbekämpfung, lebenslanges Lernen oder Gesundheit (9). Schätzungen zufolge beträgt die Lücke bei den Investitionen in die soziale Infrastruktur im Zeitraum 2018 bis 2030 mindestens rund 1,5 Billionen EUR (10). Der EWSA fordert die Kommission zur Vorlage einer aktualisierten Schätzung des Investitionsbedarfs auf, um die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen und die Kernziele der EU für 2030 zu erreichen. Zur Durchsetzung sozialer Nachhaltigkeit werden beträchtliche öffentliche und private Mittel benötigt. |
4.2. |
Anhand einer Sozialtaxonomie könnten Investoren und Unternehmen die sozialen Auswirkungen ihrer Investitionen oder Tätigkeiten beurteilen und dies freiwillig als wesentliches Ziel ansehen. Der EWSA weist auf die steigende Nachfrage nach sozial ausgerichteten Investitionen hin und begrüßt die Offenheit der Investoren für sozial nachhaltige Finanzierungen. Hingegen mangelt es an Definition und Standardisierung, und auch die Analyse von Umwelt- Sozial- oder Governance-Ratings und der damit verbundenen Ergebnisse weist je nach Anbieter der Ratings grundlegende Unterschiede auf, was sozial nachhaltige Investitionen erschwert. Eine Sozialtaxonomie wäre ein kohärentes Konzept für die Definition und Förderung der sozialen Nachhaltigkeit und die Messung der Fortschritte. Sie bietet die Möglichkeit, die Rechenschaftspflicht zu verbessern und eine klare Orientierung zu geben. Sie würde daher die Ambitionen der Investoren entscheidend unterstützen und könnte weiteren Marktteilnehmern Anreize geben, in diesem Bereich zu investieren. Gleichzeitig würde sie dazu beitragen, Social Washing zu verhindern. |
4.3. |
Sozial schädliche Tätigkeiten können auch wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen. Wird ein Unternehmen mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht, könnte es boykottiert und im Falle der Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass es aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in kostspielige Rechtsstreitigkeiten verwickelt wird oder die Lieferketten durch Streiks unterbrochen werden. Außerdem könnten die wirtschaftlichen und politischen Risiken aufgrund der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich Investitionen beeinträchtigen. Diese Risiken ließen sich durch Investitionsentscheidungen, die auch auf einer Sozialtaxonomie fußen, auf ein Minimum reduzieren. Der EWSA verweist auch auf die Maßnahmen der EZB zur Stärkung der Überwachung und des Managements von durch die Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bedingten Systemrisiken. Der EWSA betont, dass Umweltrisiken häufig mit sozialen Risiken einhergehen, z. B. wenn Menschen aufgrund von Hochwasser ihr Zuhause verlieren. Alles in allem sollten Risiken für die soziale Nachhaltigkeit explizit angegangen werden und Teil der Maßnahmen der EZB zu Nachhaltigkeitsrisiken sein. |
4.4. |
Der EWSA weist ferner darauf hin, dass Transparenz ein wesentliches Element der Markteffizienz ist. Das gilt nicht nur für Kapitalmärkte. Eine soziale Taxonomie könnte auch dazu dienen, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und Sozial- und Arbeitnehmerrechten zu unterstützen (11). Durch mehr Transparenz könnte sie gemäß Artikel 3 AEUV zum sozialen Binnenmarkt beitragen und einen fairen Wettbewerb fördern. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auch gleiche Wettbewerbsbedingungen fördern und Unternehmen, die die Menschen- und Arbeitnehmerrechte einhalten und wesentlich zur sozialen Nachhaltigkeit beitragen, stärker ins Blickfeld rücken, was ihnen helfen würde, Investoren zu finden. Die Taxonomie kann durchaus eine transformative Rolle spielen, die durch ihre bessere Bekanntmachung gestärkt werden würde. In diesem Zusammenhang weist der EWSA erneut auf die positive Rolle hin, die Finanzinstrumente bei der Entwicklung von Sozialunternehmen spielen können (12). |
4.5. |
Schließlich ist die EU im ökologisch nachhaltigen Finanzwesen international führend und trägt aktiv zu den entsprechenden weltweiten Bemühungen bei. Der EWSA begrüßt diese Bemühungen, erinnert die Kommission jedoch daran, dass auch die soziale Nachhaltigkeit vorangebracht und die Nachhaltigkeitsziele gefördert werden müssen. Die EU sollte auch im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit als Vorbild dienen und zu einem Vorreiter werden, indem sie das Thema in internationalen Foren zur Sprache bringt. Gerade in Zeiten von Krieg und internationalen Spannungen gilt es, bei der internationalen Architektur eines nachhaltigen Finanzwesens auch die soziale Nachhaltigkeit zu berücksichtigen. |
5. Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten
5.1. |
Die Absichten von Finanzinvestoren, sozial und ökologisch nachhaltige Investitionen zu tätigen, sind sehr begrüßens- und unterstützenswert. Allerdings stützen Finanzmarktteilnehmer ihre Investitionsentscheidungen im Allgemeinen auf Erwartungen im Hinblick auf Rendite, Risiko, Liquidität und Laufzeit. Diese Motive könnten den Zielen anderer Interessenträger entgegenstehen und den ökologischen oder sozialen Zielen zuwiderlaufen oder sie sogar verdrängen. Der EWSA weist jedoch auch auf viele mögliche Synergien zwischen den Interessen der Investoren und denen anderer Akteure hin. So können beispielsweise Verbesserungen bei der Arbeitnehmerbeteiligung auch die Produktivität der Unternehmen steigern oder eine Wirtschaftstätigkeit kann zum Wohl von Gemeinschaften beitragen. In jedem Fall dürfen Wirtschaftstätigkeiten oder Unternehmen bzw. Organisationen, die möglicherweise nicht taxonomiekonform sind, nicht automatisch als schädlich angesehen werden. Hier bestehen Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung, und der EWSA ersucht die Kommission um Klarstellung und einen ausgewogenen Ansatz. Es sollte ein stärkerer Schwerpunkt auf die Auswirkungen nachhaltiger Investitionen auf die Realwirtschaft gelegt werden. |
5.2. |
Unvereinbarkeiten können entstehen, weil soziale Fragen auf Ebene der Mitgliedstaaten und zwischen den Sozialpartnern geregelt werden. Die organisierte Zivilgesellschaft ist indes als Ganzes bestrebt, an sozial-, umwelt- und anderen politischen Fragen beteiligt zu werden. Der EWSA begrüßt jedoch, dass im Bericht der Plattform die Gefahr von Verstößen gegen andere Vorschriften erkannt wird. Er geht außerdem davon aus, dass die Kommission in ihrem Vorschlag darauf achten wird, widersprüchliche Überschneidungen und Eingriffe in die nationalen Sozialsysteme, Arbeitsbeziehungen und Vorschriften zu vermeiden. Darüber hinaus würde eine Sozialtaxonomie auf gemeinsamen internationalen und europäischen Erklärungen und Prinzipien — wie der europäischen Säule sozialer Rechte — beruhen und wäre der Ausgangspunkt für eine freiwillige Beschlussfassung, ohne eine bestimmte Sozialpolitik vorzugeben. Eine etwaige breitere Verwendung der Taxonomie über den genannten Rahmen hinaus müsste jedoch Gegenstand eines geeigneten Beschlussfassungsprozesses sein. Übermäßige Eingriffe in das nationale Recht und die Autonomie der Sozialpartner sind zu vermeiden und Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsmarktmodellen und Tarifverhandlungssystemen sind anzuerkennen. |
5.3. |
Die Entwicklung einer Sozialtaxonomie und damit einer strukturierten Übersicht über sozial nachhaltige Tätigkeiten und Sektoren berührt auch politische Werte. Es wird schwierig sein, festzulegen, welche Wirtschaftstätigkeit und/oder welcher Sektor als taxonomiekonform gilt. Doch gerade deshalb sollte die Erarbeitung einer Taxonomie Gegenstand einer politischen Debatte und einer demokratischen Entscheidungsfindung sein (13). Nur unter diesen Bedingungen kann eine gemeinsame Vorstellung von sozialer Nachhaltigkeit entwickelt werden, auf die sich die einzelnen Akteure stützen und beziehen können und sollten. Der EWSA betont, dass der Erfolg der Taxonomie auch im sozialen Bereich von einer breiten Akzeptanz abhängt. Die von der Taxonomie erfassten Tätigkeiten und Branchen müssen einer allgemein anerkannten Definition von Nachhaltigkeit entsprechen und auf allgemein anerkannten Werten wie Menschenwürde, Geschlechtergleichstellung, Fairness, Inklusion, Nichtdiskriminierung, Solidarität, Erschwinglichkeit, Wohlergehen und Vielfalt beruhen. Die Glaubwürdigkeit der Taxonomie ist von großer Bedeutung, um das Projekt nicht insgesamt zu gefährden. |
5.4. |
Zudem besteht die Sorge, dass eine soziale Taxonomie die Unternehmen durch zusätzliche Berichtspflichten und das Erfordernis, komplexe und komplizierte Informationen bereitzustellen, in Verbindung mit kostspieligen Prüfungsverfahren überlasten könnte. Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Belastungen so gering wie möglich zu halten sowie einfache und leicht zu beobachtende Kriterien aufzustellen und dabei auch Überschneidungen mit anderen Berichtspflichten zu berücksichtigen. Der EWSA begrüßt den Ansatz der Plattform, die Ziele der Sozialtaxonomie nach dem Vorbild des Richtlinienvorschlags zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen zu strukturieren. Alles in allem fordert der EWSA ein geordnetes und kohärentes Regelwerk ohne übermäßige Komplexität und Überschneidungen, damit es in der Praxis funktioniert und gleichzeitig das erforderliche Maß an Transparenz bietet. Die Beratung und die Erbringung taxonomiebezogener Dienstleistungen durch eine gesetzlich berechtigte Stelle für Unternehmen und sonstige Organisationen, die sich taxonomiekonform verhalten wollen, könnten ebenfalls sinnvoll sein. Dadurch hätten auch Unternehmen, die weniger Mittel für die Berichterstattung aufwenden können, Zugang zur Taxonomie. Allerdings können Finanzinstitute nach wie vor Bewertungen der sozialen Auswirkungen von Investitionen vorlegen, wie dies derzeit wertebasierte Banken auf der ganzen Welt tun. |
5.5. |
Obwohl es der Zweck der Taxonomie ist, einen verlässlichen Rahmen für sozial nachhaltige Investitionen zu schaffen, kann die Gefahr des Green Washing oder des Social Washing nicht ausgeschlossen werden. Der EWSA stimmt mit der Plattform darin überein, dass die bloße Überprüfung von Zusagen und Strategien weder eine Garantie für eine wirksame Umsetzung und den Schutz der Menschenrechte ist noch die Entwicklung sozial nachhaltiger Tätigkeiten unterstützt. Es ist sehr schwierig, die Einhaltung der erklärten Ziele der sozialen Nachhaltigkeit durch ein Unternehmen zu überwachen und durchzusetzen und seine Leistung entlang der heute oft sehr komplexen Lieferketten zu beurteilen. Andererseits weist die Plattform auf vielversprechende Entwicklungen im Bereich quantifizierbarer Sozialdaten hin, beispielsweise im Zusammenhang mit dem überarbeiteten sozialpolitischen Scoreboard und den Nachhaltigkeitszielen. Alles in allem muss die soziale Taxonomie transparent und zuverlässig sein und ständig aktualisiert werden. Der EWSA schlägt ferner vor, hier auch Betriebsräte und Organisationen der Zivilgesellschaft einzubeziehen. |
5.6. |
Der EWSA regt an, die Debatte über eine EU-Ratingagentur, die sich nun auf Nachhaltigkeit konzentrieren könnte, neu zu beleben und so die Vorreiterrolle der EU in diesem Bereich zu festigen. Außerdem bekräftigt er seine Forderung nach einer angemessenen Regulierung und Beaufsichtigung der Anbieter von Finanz- und Nichtfinanzdaten. Für den Fall falscher Erklärungen der Taxonomiekonformität sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften, Betriebsräte, Verbraucherorganisationen und weitere Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft vorgesehen werden. Der EWSA erkennt an, dass die konkreten Maßnahmen sowie Sanktionen für Verstöße laut Verordnung den Mitgliedstaaten obliegen. In jedem Fall sollten die zuständigen nationalen Behörden (14) stärker in die Verantwortung genommen werden, ihren Kontrollaufgaben nachzukommen, und hinzukommen sollte die Pflicht, ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft Bericht zu erstatten. |
Brüssel, den 22. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) ABl. L 198 vom 22.6.2020, S. 13.
(2) Platform on Sustainable Finance | Europäische Kommission (europa.eu).
(3) DNSH (do no significant harm) = ohne wesentliche Beeinträchtigung anderer Ziele.
(4) ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72.
(5) Final Report on Social Taxonomy (europa.eu).
(6) ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50.
(7) ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 97.
(8) Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU, Artikel 4 Absatz 2, vorläufige Einigung. Die dort festgelegte Schwelle von 80 % an tarifvertraglicher Abdeckung, mit der die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollen, Maßnahmen zur Erhöhung des Prozentsatzes zu ergreifen, sollte in einer sozialen Taxonomie unterstützt werden.
(9) Final Report on Social Taxonomy (europa.eu).
(10) Europäische Kommission, Boosting Investment in Social Infrastructure in Europe, Diskussionspapier 074/Januar 2018.
(11) ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 50.
(12) ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 39.
(13) Siehe oben, Abschnitt 3.
(14) Siehe Artikel 21 der Taxonomie-Verordnung.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/23 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanzierung des Klimaanpassungsfonds durch Kohäsionsmittel und NextGenerationEU“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/04)
Berichterstatter: |
Ioannis VARDAKASTANIS |
Ko-Berichterstatterin: |
Judith VORBACH |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt |
Annahme in der Fachgruppe |
9.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
139/3/3 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die Europäische Union unternimmt wichtige Schritte zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Verringerung der Treibhausgasemissionen. Die Klima-, Umwelt- und Energiepolitik der EU folgen einem langfristigen Plan, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimanotstands auf unserem Planeten verhindern zu helfen. Allerdings könnte das immer noch zu wenig sein. |
1.2. |
Obwohl die EU mit beträchtlichem Engagement zu Werke geht, sind die Folgen des Klimawandels und der Ressourcenknappheit bedauerlicherweise bereits spürbar. Daher gilt es, sich an eine neue Realität anzupassen. Zwar setzt sich die EU zu Recht dafür ein, eine Verschlechterung der Lage zu vermeiden, doch ist sie auf unvorhergesehene Klimanotstände, Energiekrisen und Naturkatastrophen nicht vorbereitet. |
1.3. |
Seit 2021 kam es zu zwei sehr großen Katastrophen, für die sich die EU-Finanzierungsmechanismen als ungeeignet erwiesen haben. Die erste waren die Verwüstungen durch Überschwemmungen und Waldbrände in ganz Europa im Sommer 2022. Die zweite ist die aktuelle Energiekrise und das Erfordernis der Energieautonomie der EU aufgrund der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022. |
1.4. |
Der derzeitige Mechanismus der EU zur Reaktion auf Naturkatastrophen ist der Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF). Die jährliche Finanzausstattung des EUSF ist jedoch angesichts der Kosten für die Schäden infolge der jüngsten Naturkatastrophen viel zu gering und muss drastisch aufgestockt werden. Die EU-Mittel für die Energiewende sind umfangreicher, tragen aber nicht dem dringenden Bedarf der EU an Energieautonomie und dem enormen Risiko der Energiearmut Rechnung, wie der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in seiner Stellungnahme „Bekämpfung der Energiearmut und Resilienz der EU: Herausforderungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht“ (1) darlegt. |
1.5. |
Nach Ansicht des EWSA benötigt die EU einen neuen Finanzierungsmechanismus, über den die Mitgliedstaaten in Notlagen wie den oben genannten sofort und substanziell unterstützt werden können. Der EWSA schlägt daher vor, einen neuen Klimaanpassungsfonds einzurichten. Diese Mittel sollten aus bestehenden EU-Fonds, insbesondere aus dem Kohäsionsfonds und der Aufbau- und Resilienzfazilität abgezweigt, aber über diesen neuen Fonds effizient und kohärent verwaltet werden. |
1.6. |
Bei der Modernisierung des Finanzierungsumfelds könnten auch der Anwendungsbereich der bestehenden Programme erweitert, ihre Mittel aufgestockt und NextGenerationEU als Vorbild für ein neues Finanzierungsinstrument betrachtet werden. |
1.7. |
Angesichts des erheblichen Investitionsbedarfs empfiehlt der EWSA der Kommission auch, zu prüfen, ob sich der Klimaanpassungsfonds nicht durch die Mobilisierung von Investitionen und Beiträgen der Privatwirtschaft aufstocken lässt. Insbesondere im Hinblick auf Naturkatastrophen sollten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten zudem darum bemühen, insbesondere in Risikogebieten den Versicherungsschutz zu erhöhen und zu erleichtern sowie über die Versicherungen Gelder in die Verbesserung der Klimaresilienz zu lenken, um die Abhängigkeit von EU-Mitteln zu verringern. |
1.8. |
Der Klimaanpassungsfonds muss adaptiv, flexibel und in der Lage sein, auf neue und sich abzeichnende Krisen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu reagieren. |
1.9. |
Die Funktionsweise des verstärkt auf rasche und dringende Reaktionen ausgerichteten Klimaanpassungsfonds muss unbedingt mit der übergeordneten Klima-, Umwelt- und Energiepolitik der EU in Einklang stehen, die langfristig die Abhängigkeit von Notfallmaßnahmen verringert sowie Mensch und Natur schützt. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1. |
Der EWSA erkennt an, dass die Bewältigung der Klimakrise mit den Verpflichtungen der EU im Rahmen des europäischen Grünen Deals zur Umsetzung des Übereinkommens von Paris und der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Einklang steht. Die Eindämmung der Ursachen des Klimawandels sollte in der EU-Klimapolitik zwar prioritär sein. Gleichzeitig gilt es jedoch nach Ansicht des EWSA, parallel zu den Plänen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen robuste und gestraffte Finanzierungsmechanismen zur Verfügung zu stellen, um den Klima- und den Energienotstand zu bewältigen, mit denen die Menschen in der EU bereits jetzt konfrontiert sind. |
2.2. |
Der EWSA strebt einen neuen Fonds für die Anpassung an den Klimawandel an. Dieser Vorschlag wird von mehreren Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterstützt (2). Der entsprechende Mechanismus sollte mit verfügbaren Mitteln der Kohäsionspolitik und der Aufbau- und Resilienzfazilität ausgestattet werden. Diese sollten in einem einzigen Fonds zusammengefasst werden, um die Effizienz und die Reaktionszeiten zu verbessern und die zentrale Überwachung der Bereiche zu erleichtern, in denen Finanzmittel am dringendsten benötigt werden. Dank dieses Mechanismus sollte die EU eher in der Lage sein, die Mitgliedstaaten bei der raschen Reaktion auf Klima-, Umwelt- und Energienotstände zu unterstützen. Derzeit würde er der Bewältigung von zwei der größten aktuellen Notstände dienen: der Erholung nach immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen und dem dringlichen Erfordernis von Energiewende und Übergang zur Energieautonomie Europas. Gleichwohl muss er flexibel sein, um damit wir für künftige Krisen gewappnet sind. |
2.3. |
Es werden bereits EU-Mittel für die Energiewende und den Wiederaufbau nach Katastrophen verwendet, allerdings wird ihre Wirksamkeit durch verschiedene Probleme beeinträchtigt. Die Mittel des Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF), der eingerichtet wurde, um beim Wiederaufbau nach Naturkatastrophen zu helfen, reichen einfach nicht aus, um auf das Ausmaß moderner Klimakatastrophen reagieren zu können. Die für die Energiewende vorgesehenen Finanzmittel sind umfangreicher, aber bei Weitem noch nicht ausreichend. Zudem werden die Mittel über mehrere unterschiedliche Fonds verwaltet, was die Gefahr von Inkohärenz oder Überschneidungen birgt. Zudem werden bei der Mittelverwaltung extrem kurzfristige Ziele mit langfristigeren Zielen zur Bekämpfung des Klimawandels vermischt. Die aufgrund der Invasion der Ukraine durch Russland notwendige Stärkung der Energieautonomie der EU hat deutlich gemacht, wie sehr unsere Energieabhängigkeit von feindlich gesinnten Ländern unsere Fähigkeit schwächt, entschlossen auf internationale Ereignisse zu reagieren. |
2.4. |
Der EWSA fordert daher die Einrichtung eines Klimaanpassungsfonds, der speziell dazu dient, auf drohende Umwelt-, Klima- und Energiekrisen zu reagieren, und über den die EU bei der Anpassung an eine neue Realität leider immer häufiger auftretender Krisen unterstützt wird. Der Klimaanpassungsfonds sollte als Finanzierungsreserve dienen, die in Zeiten eines akuten Investitionsbedarfs aktiviert werden kann. |
2.5. |
Der Fonds muss flexibel und robust genug für rasche und ehrgeizige Investitionen sein, mit denen der unmittelbare Bedarf der EU gedeckt werden kann. Gleichzeitig muss er mit der langfristigen Klima- und Energiepolitik in Einklang stehen. In diesem Fonds würden die klimabezogenen Mittel aus dem Kohäsionsfonds, EUSF-Mittel und die für Umweltreformen vorgesehenen Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität gebündelt. Durch die Bündelung dieser Mittel in einem einzigen Fonds mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf Sofortmaßnahmen lässt sich effizienter reagieren und der dringendste Investitionsbedarf leichter überwachen. Ferner dürfte es einfacher sein, das Geld unverzüglich dorthin zu lenken, wo es dringend benötigt wird. |
2.6. |
Die Modernisierung des Finanzierungsumfelds könnte auch eine Ausweitung des Anwendungsbereichs und eine Aufstockung der bestehenden Programme umfassen. Angesichts des gemeinsamen Interesses und der dringenden Notwendigkeit, den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen zu bekämpfen, muss nach Ansicht des EWSA künftig auch die Finanzierungsmethode verbessert werden. Selbst wenn — ganz zu Recht — eine goldene Regel für grüne Investitionen eingeführt würde, wären einige Mitgliedstaaten vielleicht immer noch nicht in der Lage, die erforderlichen massiven Investitionen aufzubringen, ohne die langfristige Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen zu gefährden. Daher empfiehlt der EWSA auch NextGenerationEU als Modell für die Finanzierung des Klimaanpassungsfonds. Zuschüsse und/oder Darlehen aus diesem Fonds sollten unter der Bedingung gewährt werden, dass der Mitgliedstaat oder die Region, der bzw. die sie erhält, in die Bekämpfung des Klimawandels oder seiner Folgen, d. h. beispielsweise in erneuerbare kohlenstofffreie Energien, investiert. Sämtliche derartigen politischen Maßnahmen sind unter Wahrung des in der Kohäsionspolitik verankerten Partnerschaftsprinzips an die obligatorische Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft zu knüpfen. |
2.7. |
Der EWSA weist darauf hin, dass der Klimaanpassungsfonds allein nicht ausreicht, um die Folgen von Naturkatastrophen zu bewältigen und die Kosten für die Anpassung an den Klimawandel im Sinne einer größeren Resilienz zu decken. In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die Lücke beim Klimaversicherungsschutz hin, d. h. auf den Anteil der nicht versicherten wirtschaftlichen Verluste infolge klimabedingter Katastrophen. Der Versicherungsschutz gegen Naturkatastrophen ist in Europa nach wie vor gering: er deckte zwischen 1980 und 2017 nur etwa 35 % der Verluste aufgrund von Naturkatastrophen ab (3). Daher ist es wichtig, Versicherungen gegen Naturkatastrophen in den Mitgliedstaaten zu untersuchen und zu fördern sowie nationale Katastrophenversicherungssysteme zu unterstützen, die die Nutzer darin bestärken, in Anpassungsmaßnahmen zu investieren. So werden weniger EU-Mittel beansprucht und proaktive Investitionen gefördert. Durch den Dialog zwischen den Interessenträgern und innovative Versicherungsprodukte können neuartige Risikotransferlösungen innerhalb des Versicherungs- und Rückversicherungssystems entwickelt und gleichzeitig Finanzmarktstabilität und Verbraucherschutz Vorrang gegeben werden (4). So könnten die anstehenden Herausforderungen mit dem Klimaanpassungsfonds besser bewältigt werden. |
2.8. |
Zudem spielen EU-Fonds eine wichtige Rolle als Startkapital für die Mobilisierung privater Investitionen, auch für Anpassungen im Hinblick auf größere Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel. |
3. Der Klimaanpassungsfonds als Instrument für Katastrophenbewältigung und -vorsorge
3.1. |
In einer interinstitutionellen EU-Studie wird die Dringlichkeit der Bewältigung der Klimakatastrophe verdeutlicht: „Eine Erhöhung um 1,5 oC ist das Maximum, das die Erde aushalten kann. Sollten die Temperaturen nach 2030 weiter ansteigen, wird es zu noch mehr Dürren, Überschwemmungen, extremer Hitze und Armut für hunderte Millionen Menschen kommen. Das würde wahrscheinlich den Tod der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen bedeuten.“ (5) |
3.2. |
Es zeigt sich immer mehr, dass wir auf die Herausforderungen des Klimawandels viel zu wenig vorbereitet sind. 2021 kam es in den EU-Mitgliedstaaten zu beispiellosen Verwüstungen aufgrund von Naturkatastrophen, die von tödlichen Überschwemmungen in Deutschland und den Benelux-Ländern bis hin zu katastrophalen Waldbränden in Griechenland und Spanien reichten. Verwüstungen und Naturkatastrophen werden aufgrund der Klimakrise und anderer Ursachen der Umweltzerstörung wahrscheinlich nicht mehr die Ausnahme sein, sondern zur Regel werden. Je mehr wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise und der Umweltzerstörung aufgeschoben, abgeschwächt oder verhindert werden, desto größer werden die Gefahren. |
3.3. |
Bei den Überschwemmungen in Westeuropa im Sommer 2021 (6) kamen mindestens 240 Menschen ums Leben und unzählige mehr wurden evakuiert und verloren ihr Zuhause. In Griechenland wurden bei einer Hitzewelle nicht weniger als 500 Waldbrände verzeichnet (7). |
3.4. |
Nicht nur das Ausmaß der Verwüstungen und die Zahl der Todesfälle aufgrund von Umweltkatastrophen im Jahr 2021 sind beispiellos, sondern auch die finanziellen Kosten für die betroffenen Gemeinschaften. Schätzungen zufolge verursachten die Überschwemmungen in Westeuropa Schäden in Höhe von 38 Mrd. EUR (8). In Griechenland genehmigte der Ministerpräsident ein Hilfspaket in Höhe von 500 Mio. EUR für die am stärksten von den Bränden betroffene Insel Evia (9). |
3.5. |
Kein Teil der Welt ist gegen die zunehmenden Gefahren von Naturkatastrophen gefeit. Ebenso ist kein EU-Mitgliedstaat ausreichend gerüstet, um solch massive Herausforderungen zu bewältigen — weder in Bezug auf Ressourcen und Material für die Bewältigung von Dürren, Waldbränden und Überschwemmungen noch in Bezug auf die Finanzmittel, die für den Wiederaufbau der betroffenen Gebiete nötig sind. |
3.6. |
Investitionen aus dem Klimaanpassungsfonds zur Bewältigung von Naturkatastrophen sollten dazu beitragen, die laufenden Ausgaben der europäischen Strukturfonds für die Katastrophenvorsorge und -vorbeugung zu ergänzen. Es sind enorme Investitionen erforderlich, um Klimaresilienz zu erlangen, z. B. in den Bau von Deichen und hochwasserresistenten Gebäuden, den Schutz vor Küstenerosion, Ausrüstung zur Überwachung und Eindämmung von Waldbränden sowie Technologien, die unter anderem zur Einsparung und Speicherung von Süßwasser in von Dürren betroffenen Gebieten beitragen. Während die Strukturfonds im Vorfeld wirksam sein sollten, um mögliche Schäden zu verringern, sollte der Klimaanpassungsfond rasch aktiv werden, wenn bestimmte Schäden mit solchen Präventivmaßnahmen nicht abgewehrt werden konnten. |
3.7. |
Der EWSA betont, dass die prognostizierten Auswirkungen der Klimakrise einen wesentlich robusteren Unterstützungsmechanismus als den derzeit bestehenden erfordern. Die Mittel des EUSF sind auf insgesamt 500 Mio. EUR pro Jahr begrenzt (10). Seit seiner Einrichtung im Jahr 2002 wurden 28 verschiedene europäische Länder mit mehr als 7 Mrd. EUR über diesen Fonds unterstützt (11). Das ist beeindruckend, würde aber keinesfalls ausreichen, um die Kosten für die allein im Jahr 2021 durch Naturkatastrophen entstandenen Schäden zu decken. |
3.8. |
Bei Naturkatastrophen besteht in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die die betroffenen Gebiete nicht so einfach verlassen können, ein höheres Risiko für Todesfälle. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Kinder. Es müssen gezielte Investitionen getätigt werden, um sicherzustellen, dass die Rettungsdienste über das Material und die Unterstützung durch zusätzliche Rettungskräfte verfügen, um allen Menschen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, zu helfen. Darüber hinaus sind Personen mit geringeren Ressourcen aufgrund der mit der Suche nach alternativen Unterkünften verbundenen Kosten und ihres eingeschränkten Zugangs zu eigenen Fahrzeugen weniger in der Lage, die betroffenen Gebiete zu verlassen. Dieses Problem sollte mit dem Klimaanpassungsfonds angegangen werden. |
4. Der Beitrag des Klimaanpassungsfonds zur Energiewende
4.1. |
Nach Ansicht des EWSA geht es bei der Klimaanpassung auch um die Anpassung an neue Gegebenheiten der nachhaltigen Energieerzeugung. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen steht die EU vor großen und dringenden Herausforderungen bezüglich der Unabhängigkeit bei der Energieversorgung, die bei der Konzipierung des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), von NextGenerationEU und des Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung nicht vorgesehen waren. Bezüglich des REPowerEU-Plans (12) der Kommission und der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates stimmt der EWSA voll und ganz zu, dass nach der Invasion der Ukraine durch Russland die Unabhängigkeit der Energieversorgung, einschließlich des Ausbaus erneuerbarer Energien, wichtiger ist denn je. |
4.2. |
Nach Ansicht des EWSA gilt es, sich darauf zu konzentrieren, welche Rolle die grünen und kohlenstofffreien Energietechnologien, eine größere Energieeffizienz und eine geringere Energienachfrage dabei spielen können, dass mehr und erschwinglichere Energie in der EU zur Verfügung steht. Dadurch steigt der Schutz vor Preissteigerungen, die das Wirtschaftswachstum behindern, zu Energiearmut führen, Ungleichheiten verschärfen, die Produktionskosten erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU beeinträchtigen. Der EWSA begrüßt insbesondere die beschleunigte Einführung innovativer wasserstoffbasierter Lösungen und kostengünstiger Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen in der Industrie. |
4.3. |
Es muss dringend massiv in die Entwicklung einer umweltfreundlicheren Energieerzeugung in den EU-Mitgliedstaaten investiert werden. Während die grüne Energieerzeugung und die Energieautonomie nach wie vor ein langfristiges Ziel für die EU sein sollte, benötigt diese derzeit dringend erschwingliche Energie aus alternativen Quellen, darf aber ihre energiepolitischen Ziele dabei nicht gefährden. Der dringend erforderliche Investitionsbedarf, um den Bürgerinnen und Bürgern erschwingliche Energie aus alternativen Quellen zur Verfügung stellen zu können, ließe sich mit Hilfe des Klimaanpassungsfonds wirksamer und effizienter angehen als mit bestehenden Mechanismen. |
4.4. |
Nach Ansicht des EWSA wird immer klarer, dass die Energieabhängigkeit die Reaktionsmöglichkeiten der EU gegenüber Ländern wie Russland schwächt, wie die Reaktion der EU auf die Invasion der Ukraine deutlich macht. Die derzeitige übermäßige Abhängigkeit von russischem Gas untergräbt massiv die Fähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten, rasch Maßnahmen zu ergreifen, ohne ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger der Gefahr von Engpässen bei fossilen Brennstoffen und Energiearmut auszusetzen. Leider stellen die Pläne zur Beschaffung von Erdgas aus den USA keine nachhaltige oder umweltverträgliche Lösung dar (13). |
4.5. |
Mit dem Klimaanpassungsfonds sollte der dringende Bedarf an in der EU erzeugter grüner und kohlenstofffreier Energie finanziert werden, indem ehrgeizige öffentliche Aufträge für bestehende Technologien vergeben und Investitionen in die Entwicklung neuer Technologien für eine emissionsfreie Wirtschaft getätigt werden. Der EWSA mahnt, dass der Krieg in der Ukraine nicht zur Vernachlässigung der von der EU angestrebten ökologischen und sozialen Ziele führen darf, da diese langfristig die Grundlage für Wirtschaftskraft bilden. |
4.6. |
Die Fortschritte der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Senkung des Energieverbrauchs sind sehr unterschiedlich. 2018 lag der inländische Gesamtbedarf an Energie in nur elf der 27 Mitgliedstaaten unter ihrem für 2020 gesteckten Ziel. Alles in allem ist die EU weit von ihren Zielen für 2030 entfernt, weshalb zusätzliche Anstrengungen nötig sind. Zum Glück ist der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch in der EU stetig gestiegen. Im Paket „Fit für 55“ wurde vorgeschlagen, den Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch bis 2030 auf 40 % zu erhöhen. Nicht nur beim Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch gibt es innerhalb der EU große Unterschiede, sondern aufgrund von Haushaltszwängen und geografischen Gegebenheiten auch bei der Fähigkeit zu ihrer Erzeugung. In einigen Ländern ist die Photovoltaik-Leistung pro Kopf trotz großer Potenziale recht gering. Andere Länder erzielen aufgrund der günstigen geografischen Möglichkeiten für Wasserkraftanlagen einen hohen Anteil erneuerbarer Energien. |
4.7. |
Angesichts der Energiekrise und des wachsenden Bedarfs an Energieautonomie der EU muss die Energiewende dringend beschleunigt werden, wofür neue Finanzmittel benötigt werden. Ehrgeizigere Vorschläge im Rahmen der Initiative „Fit für 55“ mit höheren Zielwerten und früheren Fristen für erneuerbare Energien, z. B. durch die Einführung von Solar- und Windenergie und die Verbesserung der Energieeffizienz, erfordern eine solide Finanzierung. Die Kommission plant, diesen Finanzierungsbedarf im Rahmen der REPowerEU-Vorschläge (14) auf der Grundlage einer Kartierung des Bedarfs in den Mitgliedstaaten sowie der Anforderungen für grenzüberschreitende Investitionen zu bewerten. Der EWSA begrüßt dies, äußert aber auch die Sorge, dass die derzeitigen Finanzierungsinstrumente auf EU- und nationaler Ebene nicht ausreichen. Er weist darauf hin, dass gehandelt werden muss, damit erneuerbare Energien jetzt eine Lösung sind. Die Ausgaben für erneuerbare Energien über den Klimaanpassungsfonds sollten auch durch die Mobilisierung privater Investitionen gehebelt werden, wobei der Fonds als Anbieter von Startkapital fungieren sollte. |
4.8. |
Bei der Aufstockung der Investitionen zur Erhöhung der Energieautonomie der EU sollte der Schwerpunkt auf der Umstellung auf grüne und erneuerbare Energien liegen. Damit dies gelingt, benötigt die EU zusätzlich zu rascheren Investitionen über den Klimaanpassungsfonds auch erhebliche langfristige Investitionen in Forschung und Innovation sowie neue Formen der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs, um mehr saubere und erschwingliche Energie für alle bereitstellen zu können. Die Forschungs- und Innovationsagenda der EU ist bereits deutlich auf dieses Ziel ausgerichtet und birgt das Potenzial für greifbare Fortschritte. Dieser Forschungsschwerpunkt muss jedoch mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten einhergehen, umweltfreundlichere Formen der Energieerzeugung zu übernehmen, und mit ihrer Fähigkeit, von traditionelleren Formen der Energieerzeugung abzurücken, insbesondere in Mitgliedstaaten, die nach wie vor stark auf Kohle setzen. |
4.9. |
Der EWSA begrüßt zwar die im MFR und in NextGenerationEU bereits für die Klimapolitik vorgesehenen Mittel, betont aber auch, dass sich die unmittelbarsten Umweltgefahren für die Menschen in der EU seit der Budgetierung der vorgenannten Instrumente geändert haben und deshalb neue Ansätze erforderlich sind. Neben der Einrichtung dieses neuen Fonds fordert der EWSA die Kommission auf, das Finanzierungsumfeld zu überprüfen, um Finanzierungslücken und zusätzlichen Finanzierungsbedarf im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Klimapolitik zu ermitteln. |
5. Die Robustheit bestehender klima- und energiepolitischer Maßnahmen der EU und die Komplementarität des Klimaanpassungsfonds sicherstellen
5.1. |
Der Klimaanpassungsfonds wäre die Antwort auf einen sehr spezifischen Bedarf an EU-Mitteln, d. h. er würde für ausreichende Mittel sorgen, um rasch auf Klima-, Umwelt- und Energiekrisen reagieren zu können. Allerdings muss dieser Fonds kohärent und auf die übergeordnete Strategie der EU in diesen Bereichen abgestimmt sein. |
5.2. |
Die Klimakrise ist ein systemisches, grenzübergreifendes Problem. Das bedeutet, dass unser Wirtschaftssystem geändert werden muss und sich die Regierungen unbedingt zu systemischen Lösungen verpflichten müssen, statt lediglich die Symptome zu behandeln. |
5.3. |
Die Tatsache, dass Einzelpersonen und Gruppen völlig unterschiedlich engagiert und betroffen sind, verschärft das Problem des Klimawandels weiter. Diese Unterschiede beziehen sich auf den CO2-Fußabdruck, wobei die CO2-Emissionen pro Kopf in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und -Regionen sehr stark variieren. Unterschiedlich sind auch die Folgen des Klimawandels, die Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen sowie schließlich die Auswirkungen klimapolitischer Maßnahmen und die bevorstehenden tiefgreifenden strukturellen Veränderungen. |
5.4. |
Innerhalb der EU weichen die Klimaeffekte in und zwischen den Mitgliedstaaten je nach deren geografischen Gegebenheiten und Wirtschaftslage und -struktur stark voneinander ab. Während bspw. 7 % der EU-Bevölkerung in Gebieten mit hohem Überschwemmungsrisiko wohnen, leben über 9 % in Gebieten, in denen es 120 Tage nicht regnet. |
5.5. |
Zudem sind für einen gerechten Übergang tragfähige soziale Bedingungen im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen und der europäischen Säule sozialer Rechte erforderlich. Darüber hinaus fordert der EWSA einen ganzheitlichen Ansatz für ökologische Nachhaltigkeit und verweist auf die Taxonomie-Verordnung, in der sechs Umweltziele festgelegt sind: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. |
5.6. |
Die Kohäsionspolitik ist mit genehmigten Haushaltsmitteln von über 330 Mrd. EUR im laufenden Programmplanungszeitraum das größte und wichtigste gemeinsame Investitionsinstrument in Europa und spielt daher bei der Bewältigung der Klimakrise eine entscheidende Rolle. Die mit der Kohäsionspolitik abzubauenden Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten werden sehr wahrscheinlich auch durch den Klimawandel und seine Folgen beeinflusst. Im Aufbau- und Resilienzplan wiederum wird auch großes Gewicht auf das Klima gelegt. Es ist zwar ein deutliches Investitionsengagement zu erkennen, doch ist eine klare und strukturierte Übersicht darüber nötig, welche Mittel für die Bewältigung des Klimawandels bestimmt sind und wie sie verwaltet werden. |
5.7. |
Außerdem betont der EWSA, dass sich die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften politisch klar zur Verwirklichung der Klimaziele bekennen müssen. Der Mehr-Ebenen-Dialog zwischen den nationalen, regionalen und lokalen Behörden über die Planung und Umsetzung nationaler Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels auf regionaler und lokaler Ebene, über den direkten Zugang der lokalen Behörden zu Finanzmitteln und über die Überwachung der Fortschritte bei den beschlossenen Maßnahmen muss dringend vertieft werden. Die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft müssen in diesen Prozess einbezogen werden, um einen ausgewogenen Ansatz zu gewährleisten, der den Interessen aller Gruppen Rechnung trägt. |
5.8. |
Der EWSA unterstreicht die zentrale Rolle der lokalen und regionalen Partner sowie der Sozialpartner bei der Bewältigung der Folgen des Klimawandels. Leider reicht die Unterstützung, die viele dieser Akteure zur Finanzierung ihrer Aktivitäten erhalten, bei Weitem nicht aus, um die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen sie stehen. So muss u. a. der Fonds für einen gerechten Übergang aufgestockt werden, um bessere Unterstützung bieten zu können. |
5.9. |
Der EWSA besteht darauf, dass der Übergang zu ökologischer Nachhaltigkeit inklusiv sein und mit den Nachhaltigkeitszielen und der europäischen Säule sozialer Rechte in Einklang stehen muss. Hierbei müssen der Erhalt und die Schaffung hochwertiger grüner Arbeitsplätze zu den Schlüsselkriterien gehören, ebenso wie Aus- und Weiterbildungs- und inklusive Sozialmaßnahmen. Dadurch werden alternative klimaneutrale Wirtschaftssektoren zugunsten der regionalen Bevölkerung entwickelt. Es gilt, potenzielle regressive Effekte klimapolitischer Maßnahmen und struktureller Veränderungen auszugleichen. So sollten die Vergabe öffentlicher Aufträge und staatliche Beihilfen für Unternehmen an die Schaffung guter Arbeitsplätze und die Achtung der Arbeitnehmerrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen gekoppelt werden. Ferner gilt es, schutzbedürftige Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu bewahren und dabei auf alle Fälle Energiearmut zu vermeiden. Schließlich verweist der EWSA auf den Grundsatz der „Vermeidung erheblicher Beeinträchtigungen“ der EU-Taxonomie, wonach durch die Umsetzung der unterschiedlichen politischen Maßnahmen keine Umweltziele beeinträchtigt werden dürfen. |
5.10. |
Da formale und nichtformale Bildung wichtige Mechanismen zur Bekämpfung der Klimakrise sind, ist es unabdingbar, in zugängliche Bildungsmaßnahmen im Zusammenhang mit Klimawandel und aktiver Bürgerschaft zu investieren. Nachhaltigkeitserziehung ist ein wirksames Instrument, um junge Menschen in die Lage zu versetzen, bei der konkreten Ausrichtung der Klimapolitik mitzureden. Die Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung bei der Bekämpfung des Klimawandels wird zunehmend anerkannt. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/tackling-energy-poverty-and-eus-resilience-challenges-economic-and-social-perspective (siehe Seite 88 dieses Amtsblatts).
(2) Regional development MEPs suggest to set-up a Climate Change Adaptation Fund | Aktuelles | Europäisches Parlament.
(3) Economic losses from climate-related extremes in Europe — Europäische Umweltagentur.
(4) Ein klimaresilientes Europa aufbauen — die neue Strategie zur Anpassung an den Klimawandel (COM(2021) 82 final, Abschnitt 2.2.3) und Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft (COM(2021) 390 final, Teile II und III, Maßnahme 2 Buchstabe c), Dashboard zu Versicherungslücken und Diskussionspapier der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA).
(5) ESPAS_Report.pdf, S. 8.
(6) https://www.brusselstimes.com/belgium-all-news/199487/europes-summer-floods-amount-to-worlds-second-most-costly-natural-disaster-of-2021.
(7) https://www.reuters.com/world/europe/greece-starts-count-cost-after-week-devastating-fires-2021-08-09/.
(8) Europe's summer floods amount to world's second-most costly natural disaster of 2021 (brusselstimes.com).
(9) https://www.reuters.com/world/europe/greece-starts-count-cost-after-week-devastating-fires-2021-08-09/.
(10) Solidaritätsfonds der Europäischen Union.
(11) Solidaritätsfonds der Europäischen Union.
(12) REPowerEU-Plan, COM(2022) 230 final.
(13) U.S., EU strike LNG deal as Europe seeks to cut Russian gas | Reuters.
(14) COM(2022) 230 final.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/30 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kryptowerte — Herausforderungen und Chancen“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/05)
Berichterstatter: |
Philip VON BROCKDORFF |
Ko-Berichterstatterin: |
Louise GRABO |
Beschluss des Plenums |
24.3.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt |
Annahme in der Fachgruppe |
9.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
22.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
148/0/3 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der EWSA nimmt die wachsende Marktkapitalisierung von Kryptowerten zur Kenntnis und unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte, mit der dieser Bereich in der EU reguliert werden soll. Die beiden gesetzgebenden Organe haben am 30. Juni 2022 darüber eine vorläufige politische Einigung (1) erzielt. |
1.2. |
Der EWSA fordert auch einen soliden regulatorischen und operativen Rahmen, um eine bessere Verfolgung der Finanzströme der Transaktionen und die Einhaltung der Steuervorschriften bei Kryptowerten zu erreichen. |
1.3. |
Der EWSA empfiehlt den Behörden mit Nachdruck, sich an den Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ zu halten. Dafür müssen im Falle von Unternehmensgeschäften mit Kryptowerten, bei denen ähnliche Risiken wie bei Geschäften mit herkömmlichen Vermögenswerten abzudecken sind, die bereits bestehenden Regulierungsrahmen als Grundlage herangezogen werden. Der EWSA hält dies für notwendig, um Asymmetrien zu vermeiden zwischen analogen Diensten und Vermögenswerten, die aufgrund technischer Aspekte unter unterschiedliche Regulierungsrahmen fallen könnten. |
1.4. |
Ein Regulierungsrahmen für Kryptowerte muss in allen Rechtsordnungen und nicht nur innerhalb der EU einheitlich sein. Zum Schutz der Kunden sollten innerhalb und außerhalb der EU Standards auf der Grundlage gleicher Wettbewerbsbedingungen festgelegt werden. Der EWSA begrüßt die Geldtransferverordnung (2), die allerdings in einigen Punkten über den Bereich der traditionellen Finanztransaktionen hinausgeht. Der EWSA spricht sich sehr wohl für Innovationen in der EU aus. Jedoch sollten normale, vom Wesen her nicht finanzielle Produkte, die auf Blockchain-Technologien beruhen, nach dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ genau so wie entsprechende, auf nicht digitaler Grundlage beruhende Produkte und nicht wie Finanzinstrumente behandelt werden. |
1.5. |
Der EWSA weist angesichts der Klimaverpflichtungen der EU im Rahmen des Grünen Deals mit Besorgnis auf die ökologischen Folgen von Kryptowerten und dem damit verbundenen Schürfen hin. Neu aufkommende DLT wie Blockchain sollen zwar zu einer nachhaltigen Infrastruktur für eine kohlenstoffarme Zukunft beitragen können, allerdings gibt es noch keine schlüssigen Beweise dafür. |
1.6. |
Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Blockchain-Technologie als wichtigste Technologie im Bereich Kryptowerte zur Bewältigung der derzeit vorherrschenden Marktrisiken beitragen kann. Die potenziellen Vorteile der Blockchain reichen von Transaktionen in Echtzeit, mit denen eine Risikominderung und ein besseres Kapitalmanagement ermöglicht wird, bis hin zu einer verbesserten regulatorischen Wirksamkeit, beispielsweise durch die Verwendung von Blockchain für Geldwäsche-Kontrollen im Rahmen des KYC-Konzepts (Know-your-Customer). |
1.7. |
Der EWSA weist überdies darauf hin, dass technologische Entwicklungen dazu beigetragen können, bestehende Defizite bei der Einhaltung der Steuervorschriften zu beseitigen und so die Transparenz und Qualität der Daten zu verbessern, die zu Kontrollzwecken an die Steuerbehörden gesendet werden, sowie gegen Steuerbetrug und illegale Transaktionen vorzugehen. |
1.8. |
Weitere technologische Entwicklungen in Blockchain könnten auch Banken dazu veranlassen, innerhalb des Blockchain-Ökosystems zu kooperieren. Über eine Blockchain-basierte Handelsfinanzierungsplattform könnten sie Informationen und Erfahrungen mit der breiteren Blockchain-Gemeinschaft austauschen. |
1.9. |
Schließlich unterstützt der EWSA uneingeschränkt die Rolle der EZB bei der Überwachung der Entwicklungen im Kryptowerte-Bereich und ihrer möglichen Auswirkungen auf die Geldpolitik und der potenziellen Risiken von Kryptowerten für das reibungslose Funktionieren der Marktinfrastrukturen und Zahlungen sowie für die Stabilität des Finanzsystems. |
2. Hintergrund
2.1. |
Die Marktkapitalisierung von Kryptowerten hat sich im Jahr 2021 zwar auf 2,6 Billionen US-Dollar mehr als verdreifacht, dennoch machen Kryptowerte nur einen kleinen Teil der gesamten Vermögenswerte des globalen Finanzsystems aus (3). Zahlenmäßig sind Kryptowerte mit einigen etablierten Anlageklassen vergleichbar, reichen aber bei Weitem nicht an die Bedeutung von Staatsanleihen, Aktien und Derivaten heran. Das schnelle Wachstum von Kryptowerten hat mehrere neue Akteure im Ökosystem auf den Plan gerufen, wobei das Angebot an solchen Werten, die z. T. als „virtuelle Währungen“ oder digitale „Coins“ oder „Token“ bezeichnet werden, stetig zunimmt. Zu den bislang bekanntesten Kryptowerten zählen Bitcoin und Ether, auf die zusammen rund 60 % der gesamten Marktkapitalisierung von Kryptowerten entfallen. |
2.2. |
Im vergangenen Jahr hat die Nachfrage nach Stablecoins (4) (einer Klasse von Kryptowerten) durch technologische Entwicklungen, insbesondere Blockchain, ein beispielloses Wachstum erfahren. Konkret wurden fast alle anderen Kryptowerte im Handelsvolumen von Stablecoins übertroffen, die umfassend zur Abwicklung von Spot- und Derivategeschäften an Börsen verwendet werden. Die relative Preisstabilität von Stablecoins schützt die Inhaber solcher Kryptowerte auch vor der für andere Kryptowerte charakteristischen Volatilität. |
2.3. |
Das dezentrale Finanzwesen (DeFi) (5), das auf der Blockchain-Technologie basiert und Finanzdienstleistungen unter Verwendung von Stablecoins und anderen Kryptowerten erbringt, ist einer der Hauptgründe für die steigende Nachfrage nach Kryptowerten, da die Nutzer dabei ohne Zwischenhändler mit solchen Werten handeln können. Es ist auch keine Kreditrisikobewertung des Kunden während einer Transaktion erforderlich. Interessanterweise sind an solchen Transaktionen hauptsächlich institutionelle Akteure aus entwickelten Volkswirtschaften beteiligt, in denen Stablecoins handelsüblich sind (6). |
2.4. |
Die Blockchain- oder Distributed-Ledger-Technologie (DLT) kann als eine große öffentliche Datei beschrieben werden, die über ein riesiges Netzwerk von Computern geteilt und gespeichert wird, die sämtliche in Kryptowerten getätigte Transaktionen enthält. Da sie öffentlich geteilt und ihr Inhalt ebenso validiert wird, ist es unmöglich, Transaktionen rückgängig zu machen oder zu manipulieren. Die bei der Nutzung von DLT erstellte öffentliche Datei verhindert also betrügerische Transaktionen. |
2.5. |
Während des Höhepunkts der COVID-19-Krise, einer Zeit schwieriger Marktbedingungen, erreichte der Wert von Bitcoin Mitte Februar 2020 einen Höchststand von 10 367,53 USD und fiel Mitte März desselben Jahres auf 4 994,70 USD. Der starke Wertanstieg und -verfall hatte jedoch kaum etwas mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf den Aktienmarkt zu tun (7). Das scheinbar unberechenbare Verhalten des Bitcoin-Wertes ist ein Ergebnis des Phänomens, das Schürfer und Experten als „Halbierung“ bezeichnen. Die Halbierung von Bitcoin erfolgt alle vier Jahre oder jedes Mal, wenn 210 000 Blocks geschürft worden sind. Dies ereignete sich im Jahr 2012 mit den gleichen vorhersehbaren Schwankungen der Bitcoin-Preise. Dieses Muster hat sich seit 2012 kaum verändert. |
2.6. |
Aus heutiger Sicht scheinen Kryptowerte kein wesentliches Risiko für die Finanzstabilität darzustellen, wie der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board — FSB) in seinem Bericht von 2018 feststellte. Allerdings äußerte der FSB Bedenken hinsichtlich der Risiken, die eine erhöhte Marktkapitalisierung mit sich bringen könnte, insbesondere Risiken hinsichtlich des Anlegervertrauens, Risiken, die sich aus der direkten und indirekten Exposition von Finanzinstituten ergeben, und Risiken aus der Verwendung von Kryptowerten für Zahlungen und Tauschgeschäfte. |
2.7. |
Die gleichen Bedenken wurden von den Europäischen Aufsichtsbehörden (EBA, ESMA und EIOPA) geäußert. Sie haben die Verbraucher davor gewarnt, dass viele Kryptowerte sehr riskant und spekulativ und für die meisten Kleinanleger oder als Zahlungs- oder Tauschmittel nicht geeignet sind. Ihrer Ansicht nach besteht die sehr reale Möglichkeit, dass die Verbraucher ihr gesamtes investiertes Geld verlieren, wenn sie risikoreiche Kryptowerte kaufen. Sie empfehlen Verbrauchern auch dringend, gegenüber der Gefahr irreführender Werbung — einschließlich über soziale Medien und Influencer — wachsam zu sein. Die Verbraucher sollten besonders achtsam sein, wenn ein Produkt schnelle oder hohe Renditen verspricht. |
2.8. |
Die direkten Verbindungen zwischen Kryptowerten und systemrelevanten Finanzinstituten und Kernfinanzmärkten nehmen zwar rasch zu, sind aber derzeit begrenzt. Dennoch hat das Engagement der Institute auf den Märkten für Kryptowerte sowohl als Anleger als auch als Dienstleister im letzten Jahr zugenommen, wenn auch auf einem niedrigen Ausgangsniveau. Wenn das derzeitige Wachstum des Umfangs und der Verflechtung von Kryptowerten mit diesen Instituten anhält, könnte das Auswirkungen auf das globale Finanzsystem haben. |
2.9. |
Durch die Zunahme des Umfangs und der Verflechtung von Kryptowerten wird es zunehmend notwendig und wichtig, Kryptowerte konsequenten, vergleichbaren und objektiven Prüfungen zu unterziehen, um über die Genauigkeit und Vollständigkeit der Finanzinformationen Aufschluss zu erhalten, die der Öffentlichkeit übermittelt werden. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission im September 2020 einen Legislativvorschlag zur Harmonisierung und Legitimierung der Regulierung von Kryptowährungen in Kryptowerten vorgelegt (8). Der Vorschlag bietet einen umfassenden Rahmen für die Regulierung und Beaufsichtigung von Emittenten und Anbietern von Kryptowerten und Dienstleistungen für Kryptowerte, um die Verbraucher sowie die Integrität und Stabilität des Finanzsystems zu schützen. Am 30. Juni 2022 haben die beiden gesetzgebenden Organe eine vorläufige politische Einigung erzielt. Der endgültige Rechtsakt soll in den kommenden Monaten veröffentlicht werden und in Kraft treten. Der Standpunkt des EWSA hierzu ist in seiner Stellungnahme zu Kryptowerten und Distributed-Ledger-Technologie enthalten (9). |
3. Risiken durch Kryptowerte
3.1. |
Das schnelle Wachstum der Kryptowerte war im Allgemeinen durch eine inadäquate operative Struktur, ein schwaches Cyber-Risikomanagement und einen schwachen politischen Steuerungsrahmen gekennzeichnet. Durch die Kombination dieser drei Faktoren nehmen die Risiken für Kunden zu, wobei Cybersicherheit ein Problem im Bereich Kryptowerte ist. Gestohlene Kryptowerte werden in der Regel auf illegalen Märkten angeboten und zur Finanzierung weiterer krimineller Aktivitäten verwendet. In ähnlicher Weise verlangen Kriminelle im Zusammenhang mit Ransomware-Angriffen von ihren Opfern häufig Lösegeldzahlungen in Kryptowährungen wie Bitcoin (10). Die beiden gesetzgebenden Organe haben sich unlängst auf eine Verordnung über die Betriebsstabilität digitaler Systeme des Finanzsektors (DORA) geeinigt, die derzeit fertiggestellt wird und in Kürze veröffentlicht werden soll. In dieser Verordnung werden einheitliche Anforderungen für die Sicherheit von Netz- und Informationssystemen festgelegt, die die Geschäftsprozesse von Finanzunternehmen — darunter Krypto-Dienstleister — unterstützen, die zur Erreichung eines hohen gemeinsamen Niveaus digitaler Betriebsstabilität erforderlich sind. |
3.2. |
Das Kryptowerte-Ökosystem ist in gewissem Maße auch einem Konzentrationsrisiko ausgesetzt, da der Handel von einer relativ kleinen Zahl von Unternehmen dominiert wird (11). In einer Studie wurde gezeigt, dass weniger als 10 000 Menschen weltweit gemeinsam 4,8 Millionen Bitcoins besitzen (12) — fast ein Drittel der bisher geschürften 18,5 Millionen Bitcoins. Diese hatten einen Marktwert von fast 600 Milliarden US-Dollar. Diese Situation hat sich nicht wesentlich geändert. Das Ökosystem für Bitcoin wird nach wie vor von wenigen großen Akteuren beherrscht (großen Schürfern (13), Bitcoin-Inhabern und Bitcoin-Händlern). Diese Konzentration macht Bitcoin anfällig für systemische Risiken und impliziert auch, dass der Großteil der Gewinne aus einer umfassenderen Einführung wahrscheinlich überproportional einer kleinen Gruppe von Teilnehmern zufließen würden (14). |
3.3. |
In seinem jüngsten Bericht (15) stellt der FSB fest, dass Marktsysteme wie das Bankenwesen weitgehend von der Volatilität von Kryptowerte abgeschirmt waren. Der FSB warnt jedoch vor der zunehmenden Bedeutung digitaler Werte im operativen Geschäft von Finanzinstituten. Sollte eine wichtige Stablecoin-Kryptowährung (die häufig für Zahlungen verwendet wird) ausfallen, könnte dies in der Folge die Finanzstabilität beeinträchtigen — und dies in einer Zeit wachsender Unsicherheit aufgrund des Krieges in der Ukraine mit anhaltend hohen Rohstoffpreisen. Eine ausfallende Stablecoin könnte auch zu Liquiditätsengpässen innerhalb des breiteren Ökosystems für Kryptowerte führen, wodurch das Handelsvolumen begrenzt würde. |
3.4. |
Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Bemühungen der EU, die Aufsicht über Kryptowerte zu verstärken, wie er bereits in einer früheren Stellungnahme (16) zum Ausdruck gebracht hat. Aufgrund ihrer vermeintlichen Anonymität können Kryptowerte jedoch trotz Verbesserungen bei ihrer Nachverfolgung immer noch für kriminelle Machenschaften missbraucht werden. Kryptowerte waren in letzter Zeit auch die bevorzugte Währung von Cyber-Angreifern, die sich mit Ransomware in Systeme hacken und dann Bitcoin-Zahlungen als Gegenleistung dafür zu verlangen, dass sie wertvolle Unternehmensdaten nicht löschen oder offenlegen. Darüber hinaus wurde eine Zunahme von Krypto-Schneeballsystemen gemeldet. Nach Aussagen der EZB werden Kryptowährungen offenbar dafür verwendet, um Sanktionen, die wegen des Krieges in der Ukraine gegen russische Oligarchen verhängt wurden, zu umgehen (17). Das Risiko des Missbrauchs von Kryptowerten zur Umgehung der Sanktionen gegen Russland macht erneut deutlich, dass diese Märkte verpflichtet werden müssen, die erforderlichen Standards einzuhalten, unter anderem in puncto Informationen über Anleger, Geldwäsche und Offenlegungspflichten. |
3.5. |
Irreführende Informationen und mangelnde Transparenz geben ebenfalls Anlass zu großer Sorge. Einige Kryptowerte werden in der Öffentlichkeit aggressiv beworben, wobei Marketingmaterial und andere Informationen verwendet werden, die unklar, unvollständig, ungenau oder absichtlich irreführend sein können. Dabei werden die potenziellen Gewinne überbewertet und die damit verbundenen Risiken vernachlässigt. Das Marketing erfolgt häufig über Influencer in den sozialen Medien, die dabei nicht offenbaren, ob sie einen finanziellen Anreiz haben, bestimmte Kryptowerte zu vermarkten. Dies traf insbesondere beim jüngsten Ansturm auf NFT-Kunst (Non-Fungible Token (NFT)) zu, an dem verschiedene Prominente und Sportler beteiligt waren. |
3.6. |
Die EU-Aufsichtsbehörden gehen davon aus, dass die extremen Kursschwankungen der Kryptowerte ein großes Anlegerrisiko darstellen, wie es aber auch in ähnlicher Form bei Schwankungen der weltweiten Aktienmärkte auftreten kann. Tatsächlich unterliegen viele Kryptowerte plötzlichen und extremen Preisschwankungen, wodurch sie hochspekulativ werden, wobei die Preise hauptsächlich von der Nachfrage der Anleger abhängen. Extreme Preisschwankungen lassen neue Zweifel an der Zukunft von Kryptowährungen als Anlageklasse aufkommen. |
3.7. |
Besorgniserregend ist, dass es für Anleger bei Kryptowerten oft nahezu unmöglich ist, Schadensersatzansprüche oder andere rechtliche Ansprüche wegen z. B. irreführender Informationen geltend zu machen, weil diese Vermögenswerte bisher nicht unter den bestehenden Schutz der aktuellen EU-Vorschriften für Finanzdienstleistungen fallen. Anleger sind auch nicht durch die Einlagensicherungssysteme der Banken geschützt, da diese nur Währungen abdecken und keine Kryptowerte, Aktien oder Anleihen. |
3.8. |
Aus Sicht der EU soll mit dem Inkrafttreten von MiCA das Problem der derzeit fehlenden Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten gelöst werden. In Bezug auf die Besteuerung gelten in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze, wobei einige Länder eine Kapitalertragssteuer auf die aus Kryptowerten stammenden Gewinne mit Steuersätzen von 0–50 % erheben. Im Jahr 2020 würdigte die EU mit der Verabschiedung des Pakets zur Digitalisierung des Finanzsektors zur Regulierung von FinTech das Potenzial des digitalen Finanzwesens in Bezug auf Innovation und Wettbewerb. Gleichzeitig sollen damit die entsprechenden Risiken gemindert werden. |
3.9. |
Der EWSA fordert einen wirksamen regulatorischen und operativen Rahmen, um eine bessere Verfolgung der Transaktionen und die Einhaltung der Steuervorschriften bei Kryptowerten zu erreichen. Der EWSA erkennt zwar die Probleme im Zusammenhang mit der fehlenden zentralen Kontrolle von Kryptowerten, ihrer Pseudoanonymität, schwierigen Bewertung und ihren hybriden Merkmalen sowie der raschen Entwicklung der zugrunde liegenden Technologie. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Einhaltung der Steuervorschriften auf der Grundlage eines symmetrischen Ansatzes durchaus erreichbar ist. Einer aktuellen Studie (18) zufolge belief sich das Potenzial für Steuereinnahmen aus Kapitalgewinnen aus Bitcoin in der EU im Jahr 2020 auf insgesamt 850 Mio. EUR, was das erhebliche Steueraufkommen verdeutlicht, das in diesem Sektor erzielt werden könnte. Das setzt natürlich voraus, dass Einkünfte aus Kryptowerten ähnlich wie herkömmliche Finanzinstrumente besteuert werden. Dies wiederum erfordert die ordnungsgemäße Durchsetzung der Steuerpflichten auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Berichterstattung und den Zugang der Steuerverwaltungen zu den Informationen. Ein zusätzlicher Vorteil einer verbesserten Echtzeit-Nachverfolgung kommerzieller Verkäufe wäre eine Ausweitung auf die MwSt.-Erhebung. |
3.10. |
Es ist darauf hinzuweisen, dass einige Kryptowerte als Finanzinstrumente im Rahmen der zweiten Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) oder als elektronisches Geld im Sinne der E-Geld-Richtlinie (EMD) oder als Fonds gemäß der zweiten Zahlungsdiensterichtlinie (PSD 2) gelten können. Das Problem besteht darin, dass einige Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene maßgeschneiderte Vorschriften für Kryptowerte eingeführt haben, die außerhalb der geltenden EU-Vorschriften liegen, was zu einer regulatorischen Fragmentierung führt. Dadurch wird der Wettbewerb im Binnenmarkt verzerrt und Anbietern von Kryptowerte-Diensten wird die grenzüberschreitende Ausweitung ihrer Aktivitäten erschwert, was zu Aufsichtsarbitrage führt. |
3.11. |
Der EWSA befürwortet ein Gesamtkonzept, das sowohl die Kryptowerte erfasst, die als existierende Finanzinstrumente angesehen werden können, als auch jene, die derzeit nicht in den Regulierungsrahmen fallen. Er empfiehlt zugleich nachdrücklich, dass sich die Behörden an den Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ halten. Dafür müssen im Falle von Unternehmensgeschäften mit Kryptowerten, bei denen ähnliche Risiken wie bei Geschäften mit herkömmlichen Vermögenswerten abzudecken sind, die bereits bestehenden Regulierungsrahmen als Grundlage herangezogen werden. Der EWSA hält dies für notwendig, um Asymmetrien zu vermeiden zwischen analogen Diensten und Vermögenswerten, die aufgrund technischer Aspekte unter unterschiedliche Regulierungsrahmen fallen könnten. Darüber hinaus müssen Innovationen im Bereich Kryptowerte mit wirksamen regulatorischen Lösungen einhergehen, um die Risiken zu mindern. |
3.12. |
Schließlich sind die Umweltauswirkungen von Kryptowerten und mit ihnen verbundener Schürfaktivitäten angesichts der Klimaverpflichtungen der EU im Rahmen des Grünen Deal von enormer Bedeutung. Aus einer aktuellen Studie der Zentralbank der Niederlande (2021) geht hervor, dass der CO2-Fußabdruck des Bitcoin-Netzwerks zunimmt, und zwar mit einem Gesamtstromverbrauch, der dem der Niederlande vergleichbar ist. Daraus resultieren Umweltkosten von 4,2 Milliarden Euro (19). Allerdings kann es sinnvoll sein, vergleichsweise den Gesamtstromverbrauch der weltweiten Bankenbranche heranzuziehen. Der EWSA merkt in diesem Zusammenhang an, dass neu aufkommende DLT wie Blockchain zwar offenbar zur Bereitstellung einer nachhaltigen Infrastruktur für eine kohlenstoffarme Zukunft eingesetzt werden, es allerdings noch keine konkreten Beweise dafür gibt, dass sie wirklich einen Beitrag dazu leisten. Positiv zu vermerken sind die Bestrebungen der Entwickler im gesamten Energiesektor, DLT-Technologien einzusetzen, um die Energieverteilung zu dezentralisierten, die Energienetze durch intelligente Vertragslösungen zu steuern und Last- und Bedarfssteuerungsdienste im Zusammenhang mit der Stromversorgung bereitzustellen. |
4. Mit Kryptowerten verbundene Chancen
4.1. |
Angesichts der oben genannten Risiken ist unklar, ob Kryptowährungen jemals zu einem allgemein gebräuchlichen Tauschmittel werden. Es ist jedoch durchaus anzunehmen, dass die mit Kryptowerten verbundenen Mängel, wie die Verarbeitungskapazität und der sehr hohe Energieverbrauch für ihr Schürfen, mit künftigen technologischen Entwicklungen behoben werden können. Das Gleiche gilt für die damit verbundenen Risiken von kriminellen Aktivitäten und Geldwäsche. Der illegale Anteil des Transaktionsvolumens von Kryptowährungen ist von 0,62 % im Jahr 2020 auf 0,15 % im Jahr 2021 gesunken (20) und die Strafverfolgungsbehörden werden immer besser darin, illegale Kryptowährungen aufzuspüren und zu beschlagnahmen. Vor diesem Hintergrund stellt der EWSA fest, dass die Kommission seit der Veröffentlichung ihres FinTech-Aktionsplans im März 2018 sowohl die Chancen als auch die Probleme im Zusammenhang mit Kryptowerten analysiert hat. |
4.2. |
Es ist notwendig, einen robusten Rechtsrahmen für Kryptowerte zu schaffen, wie im Vorschlag der Kommission (21) skizziert wird. Zugleich kann Blockchain als wichtigste zugrunde liegende Technologie für Kryptowerte nach Ansicht des EWSA viel zur Behebung der bestehenden Risiken beitragen. Die potenziellen Vorteile der Blockchain reichen von Transaktionen in Echtzeit, mit denen eine Risikominderung und ein besseres Kapitalmanagement ermöglicht wird, bis hin zu einer verbesserten regulatorischen Wirksamkeit, beispielsweise durch die Verwendung von Blockchain für Geldwäsche-Kontrollen im Rahmen des KYC-Konzepts (Know-your-Customer). Darüber hinaus wird mit Blockchain auch eine verbesserte Cybersicherheit ermöglicht, da das Hacken in ein Blockchain-basiertes Ökosystem in Bezug auf Netzwerk und Rechenleistung exorbitante Ressourcen erfordern würde. Es besteht auch ein enormes Potenzial für die Integration mit anderen neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge, um die Technologie für Kryptowerte zu unterstützen. |
4.3. |
Wie bereits erwähnt, ist der Mangel an Transparenz und Informationen ein ernstes Problem im Zusammenhang mit Kryptowerten, was sowohl zu Pseudo-Anonymität als auch zu spärlichen Steuerdaten führt. Weitere technologische Entwicklungen können dazu beitragen, bestehende Defizite zu beseitigen und so die Transparenz und Qualität der Daten zu verbessern, die zu Zwecken der Einhaltung der Vorschriften an die Steuerbehörden gesendet werden, sowie gegen Steuerbetrug und illegale Transaktionen vorzugehen. Darüber hinaus könnten auch Synergien zwischen Blockchain und künstlicher Intelligenz eine Lösung sein, da durch die Blockchain-Technologie hochwertige Daten für KI-Anwendungen bereitgestellt, transparente Muster für Benchmarking-Studien geliefert und die Integrität einer automatisierten Steuerveranlagung sichergestellt werden. |
4.4. |
Weitere technologische Entwicklungen in Blockchain könnten auch Banken dazu veranlassen, innerhalb des Blockchain-Ökosystems zu kooperieren. Über eine Handelsplattform könnten sie Informationen und Erfahrungen mit der breiteren Blockchain-Gemeinschaft austauschen. Mit einer solchen Infrastruktur könnte ein vollständig integrierter End-To-End-Service für den Handel, die Abwicklung und die Verwahrung digitaler Vermögenswerte auf Blockchain-Basis geboten werden. Damit könnte auch ein sicheres Umfeld für die Ausgabe und den Handel digitaler Vermögenswerte geboten, die Tokenisierung bestehender Wertpapiere und nicht bankfähiger Vermögenswerte ermöglicht und damit bislang nicht handelbare Vermögenswerte handelbar gemacht werden. |
4.5. |
Um das zu erreichen, bedarf es natürlich eines robusten regulatorischen Rahmens. Allerdings muss der Regulierungsrahmen in allen Rechtsordnungen und nicht nur innerhalb der EU einheitlich sein. Zum Schutz der Verbraucher sollten innerhalb und außerhalb der EU Standards festgelegt werden, die auf den Grundsätzen gleicher Wettbewerbsbedingungen beruhen. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Geldtransferverordnung, die allerdings in einigen Punkten über den Bereich der traditionellen Finanztransaktionen hinausgeht. Der EWSA spricht sich sehr wohl für Innovationen in der EU aus. Jedoch sollten normale, vom Wesen her nicht finanzielle Produkte, die auf Blockchain-Technologien beruhen, nach dem Grundsatz „gleiche Tätigkeit, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ genau so wie entsprechende, auf nicht digitaler Grundlage beruhende Produkte und nicht wie Finanzinstrumente behandelt werden. |
4.6. |
Diese letzte Erwägung bezieht sich auch auf die mögliche Einführung eines digitalen Euro. Dabei muss klargestellt werden, dass ein digitaler Euro kein Kryptowert ist, sondern ein Euro in anderer Form (22). Mit einem digitalen Euro könnten die EU-Bürgerinnen und -Bürger im gesamten Euro-Währungsgebiet digitale Zahlungen tätigen, in gleicher Weise, wie sie Bargeld für Barzahlungen verwenden können. Es gibt durchaus Argumente für und gegen die Einführung eines digitalen Euro. Diese scheint jedoch angesichts der zunehmenden Digitalisierung des Zahlungsverkehrs nur ein logischer Schritt zu sein. Es handelt sich aus zwei verschiedenen Gründen um eine Maßnahme von entscheidender Bedeutung: Zum einen könnte ein digitaler Euro der marktbeherrschenden Stellung der USA auf dem Stablecoin-Markt etwas entgegensetzen. Zum anderen ist es wichtig, dass die EZB auch künftig die Entwicklungen im Kryptowerte-Bereich und ihre möglichen Auswirkungen auf die Geldpolitik und die potenziellen Risiken von Kryptowerten für das reibungslose Funktionieren der Marktinfrastrukturen und Zahlungen sowie für die Stabilität des Finanzsystems überwacht. |
Brüssel, den 22. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Der Text wird voraussichtlich nach seiner Billigung durch den AStV Ende September 2022 fertiggestellt und daher höchstwahrscheinlich erst nach der Verabschiedung dieser Stellungnahme des EWSA vorliegen.
(2) Die Geldtransferverordnung ist im Wesentlichen das Ergebnis der Empfehlung der Financial Action Task Force (FATF), wonach die Zahlungsdienstleister verpflichtet werden sollten, bei Geldtransfers Angaben zum Zahler und zum Zahlungsempfänger zu übermitteln. Auch neue wie die für Transaktionen mit Kryptowerten verwendeten Technologien fallen unter die Geldtransferverordnung.
(3) Assessment of risks to financial stability from crypto-assets.
(4) Liao und Caramichael: „Stablecoins: Growth potential and impact on banking“, International Finance Discussion Papers Nr. 1334, Washington: Board of Governors of the Federal Reserve System, 2022.
(5) DeFi bedeutet im Wesentlichen die dezentrale Erbringung von Finanzdienstleistungen, d. h. ohne Mitwirkung eines Mittlers zur leichteren Abwicklung der Finanzdienstleistung. DeFi-Anwendungen werden von Einzelpersonen entwickelt und dann in die Blockchain eingetragen. Dabei verselbstständigen sie sich nach und nach, da ihre Governance an die Gesamtheit der Nutzer abgegeben wird. Die reinste Form einer DeFi-Anwendung ist eine dezentrale autonome Organisation (DAO). Dies steht im Gegensatz zum traditionellen Finanzsystem, das sich auf zentrale Intermediäre stützt, die den Zugang zu den Finanzdienstleistungen kontrollieren. Eine DeFi entsteht nicht allein durch die Nutzung der Blockchain-Technologie, sondern vielmehr führt das Fehlen von Intermediären (z. B. durch Blockchain ermöglicht) zu einer DeFi.
(6) Chainalysis (2021).
(7) Siehe Sajeev, K.C., Afjal, M.: „Contagion effect of cryptocurrency on the securities market: a study of Bitcoin volatility using diagonal BEKK and DCC GARCH models“. SN Business & Economics 2, 57 (2022).
(8) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, COM(2020) 593 final, 24.9.2020.
(9) ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 31.
(10) Crypto-assets: Key developments, regulatory concerns and responses.
(11) Das Konzentrationsrisiko ist hierbei relativ zu betrachten und auf das Kryptowerte-Ökosystem beschränkt. Es hat keinen Einfluss auf die Konzentration des Reichtums, wie sie z. B. in der Forbes-Liste der Milliardäre auf der Welt zum Ausdruck kommt.
(12) Makarov, I., Schoar, A., „Blockchain Analysis of the Bitcoin Market“ (18. April 2022).
(13) Beim Schürfen von Krypto-Werten (Mining) werden durch Lösen komplexer mathematischer Probleme neue Blöcke erzeugt und anschließend an die Blockchain angefügt. Durch das Mining werden Kryptowährungstransaktionen überprüft und Proof of Work erbracht, wobei diese Informationen einem Block der Blockchain hinzugefügt werden, der als Ledger für die Mining-Transaktionen fungiert.
(14) Makarov, I., Schoar, A., „Blockchain Analysis of the Bitcoin Market“ (18. April 2022).
(15) Assessment of risks to financial stability from crypto-assets.
(16) Stellungnahme des EWSA zu Kryptowerten und Distributed-Ledger-Technologie, ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 31.
(17) EZB-Präsidentin Christine Lagarde: Lagarde says that cryptos are being used to evade sanctions imposed on Russia.
(18) Thiemann, A. (2021): „Cryptocurrencies: An empirical View from a Tax Perspective“, JRC Working Papers on Taxation and Structural Reforms No 12/2021, Europäische Kommission, Gemeinsame Forschungsstelle, Sevilla, JRC126109.
(19) Trespalacios, J.P. und Dijk, J.: „The carbon footprint of bitcoin“, De Nederlandsche Bank, DNB Analysis Series, 2021.
(20) The Chainalysis 2022 Crypto Crime Report.
(21) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, COM(2020) 593 final.
(22) Siehe Initiativstellungnahme zum Thema Digitaler Euro (noch nicht verabschiedet).
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/37 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategie für das Gesundheitswesen und seine Arbeitskräfte für die Zukunft Europas“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/06)
Berichterstatter: |
Danko RELIĆ |
Berichterstatterin: |
Zoe TZOTZE-LANARA |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
6.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
194/4/3 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekennt sich ausdrücklich zu dem Grundsatz, dass gut ausgebildete, qualifizierte und motivierte Fachkräfte des Gesundheitswesens Voraussetzung für starke und widerstandsfähige Gesundheitssysteme und für deren Ausbau sind. Dies ist ein maßgeblicher Faktor für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik und damit für das Erreichen einer medizinischen Grundversorgung für alle, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht, und für das Recht auf Gesundheit, wie es im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas empfohlen wurde. Es geht darum, allen Europäerinnen und Europäern einen gleichberechtigten und nachhaltigen Zugang zu einer erschwinglichen, präventiven, kurativen und hochwertigen Gesundheitsversorgung zu garantieren. |
1.2. |
Der EWSA begrüßt die Initiative für Maßnahmen auf EU-Ebene zur Stärkung der Langzeitpflege und der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung, die im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte vorgesehen ist und zu hochwertigen, zugänglichen, gerechten und erschwinglichen Pflege- und Betreuungsdiensten sowie zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter und der sozialen Gerechtigkeit beitragen wird. |
1.3. |
Der EWSA fordert einen transformativen Ansatz für Pflege und Betreuung, bei dem die Menschen mit ihren Rechten und Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen und an einschlägigen Debatten, Konsultationen und Entscheidungen beteiligt werden. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, bei der Ausarbeitung einer Strategie für Pflege und Betreuung, die den Zusammenhalt zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten sowie eine Aufwärtskonvergenz bei Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege fördern kann, ehrgeizige Ziele anzustreben. |
1.4. |
Eine europäische Pflege- und Betreuungsgarantie würde sicherstellen, dass alle Menschen in Europa während ihres gesamten Lebens Zugang zu einer erschwinglichen und hochwertigen Gesundheitsversorgung, Pflege und Betreuung haben, sie würde die Defizite in der Pflege und Betreuung angehen und angemessene Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Die Unterstützung und bessere Anerkennung informeller Pflegekräfte und Strategien zur Bewältigung von Problemen bei bezahlter und unbezahlter informeller Pflege und Betreuung sind zentrale Faktoren für eine effiziente Ressourcennutzung. |
1.5. |
Da effektive, rechenschaftspflichtige und gut finanzierte öffentliche Dienste nach wie vor wichtig sind, um einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Pflege und Betreuung zu gewährleisten, fordert der EWSA die Europäische Union auf, für Komplementarität zwischen allen Anbietern solidarischer Pflege- und Betreuungsangebote zu sorgen, Investitionen in die Sozialwirtschaft und öffentliche Dienste zu fördern und sozialwirtschaftliche Akteure im Pflege- und Betreuungsbereich zu unterstützen. |
1.6. |
Bei der Personalplanung sollte der Entwicklung der digitalen Technologien Rechnung getragen werden, da Innovationen in diesen Bereichen Möglichkeiten für neue Arbeitsumgebungen und -bedingungen in der Pflege und Betreuung schaffen und neue Kompetenzen erfordern. Die Unterstützung der Digitalisierung von Langzeitpflegediensten spielt eine wichtige Rolle bei der Überwindung der digitalen Kluft und der digitalen Armut. |
1.7. |
Der EWSA hält es für erforderlich, den Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der Europäischen Union zu aktualisieren (1). Die Entwicklung einer integrierten Planung und Prognose in Bezug auf den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen und die Anpassung der Kompetenzen der Fachkräfte im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege und -betreuung sind für die Verbesserung des Zugangs zu diesen Diensten und ihrer Qualität von entscheidender Bedeutung. Ein aktualisierter Plan könnte eine bessere EU-weite Datenerhebung gewährleisten, das Potenzial der Digitalisierung in der gesamten EU nutzen und die Entwicklung von Methoden für eine bessere Vorausschätzung des Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarfs anstoßen. |
1.8. |
Der EWSA betont, dass das Recht auf Mobilität in der EU gewahrt werden muss. Durch die grenzübergreifende Mobilität erhält die Personalplanung eine zusätzliche Dimension. Die Einrichtung einer europäischen Stelle zur Überwachung der Arbeitskräftesituation im Gesundheitswesen, die die Mitgliedstaaten bei der Schaffung und Betreibung von Planungsstrukturen sowie bei der Abstimmung grenzübergreifender Aspekte der Planung unterstützt, würde daher die einschlägige Infrastruktur langfristig stärken. |
1.9. |
Der soziale Dialog, an dem der Staat, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie ihre Vertretungsorganisationen beteiligt sind, ist für eine transformative Strategie für Pflege und Betreuung sowie für resiliente Gesundheits- und Pflegesysteme in der EU von entscheidender Bedeutung. An der Gestaltung eines inklusiven, resilienten und auf Gleichstellung beruhenden Ökosystems für Gesundheit, Pflege und Betreuung müssen sowohl die Pflegenden als auch die Pflegebedürftigen beteiligt werden. |
2. Allgemeine Bemerkungen zum Thema Pflege und Betreuung
2.1. |
Langzeitpflege und -betreuung sind von entscheidender Bedeutung für den sozialen Schutz und das Wohlergehen der Bürger in der EU und umfassen eine Reihe von Dienstleistungen und Unterstützung für Menschen, die über einen längeren Zeitraum unter geistigen und/oder körperlichen Gebrechen und/oder Behinderungen leiden, auf Hilfe im Alltag angewiesen sind und/oder ständige Pflege durch professionelle oder nichtprofessionelle, bezahlte/unbezahlte Pflegekräfte zu Hause oder in Pflege- und Wohneinrichtungen benötigen (2). |
2.2. |
Durch die COVID-19-Pandemie wurden die Widerstandsfähigkeit und Angemessenheit der Pflege- und Betreuungssysteme in der gesamten EU auf eine harte Probe gestellt. Dabei traten in vielen Ländern strukturelle Probleme zutage, darunter die Unterfinanzierung und personelle Unterbesetzung in vielen Ländern. Die Lage könnte sich durch die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die Inflation, Unsicherheit und die Energiekrise noch verschlimmern. |
2.3. |
In der europäischen Säule sozialer Rechte sind das Recht auf Pflege und Betreuung und das Recht aller auf einen bedarfsorientierten Zugang zu hochwertigen formellen Pflegediensten verankert. Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2021 angekündigte neue europäische Strategie für Pflege und Betreuung umfasst zwei Empfehlungen des Rates zur Kinderbetreuung (Überarbeitung der Barcelona-Ziele) und zur Langzeitpflege und -betreuung. Das Europäische Parlament hat empfohlen, das lebensbegleitende Pflege- und Betreuungsangebot auf der Grundlage der Bedürfnisse von Pflegebedürftigen und Pflegenden zu verbessern, und die Kommission nachdrücklich aufgefordert, die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung hochwertiger Pflege- und Betreuungsdienste zu unterstützen (3). |
2.4. |
Der EWSA hat in mehreren Stellungnahmen zum Betreuungs- und Pflegeangebot in der EU (4) die Notwendigkeit betont, in eine hochwertige, nachhaltige und zugängliche Pflege und Betreuung für alle zu investieren und die Defizite bei der Kinderbetreuung und der Langzeitpflege und -betreuung zu beheben. Er hat Mängel bei der Bereitstellung von Pflege und Betreuung für alle festgestellt, die sich in der Diversifizierung und Fragmentierung des Dienstleistungsangebots, der ungenügenden Regulierung dieser Dienstleistungen, den Schwierigkeiten bei der Koordinierung der Verwaltungsebenen, den Problemen bei der Abstimmung zwischen Sozial- und Gesundheitsdiensten, der zunehmenden Kommerzialisierung der Dienstleistungen und der Notwendigkeit von Präventionsstrategien und -maßnahmen zeigen. Zudem hat der EWSA die Stereotypisierung und andere Formen der Diskriminierung älterer Menschen hervorgehoben und die Notwendigkeit einer auf den Menschen ausgerichteten und durch die Digitalisierung unterstützten Pflege betont. In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA die umfassende Digitalisierung zur Minimierung unnötigen Verwaltungsaufwands für die Pflegekräfte und die Anwendung der besten Ergebnisse intelligenter Rechtsetzung. |
3. Ein transformativer Ansatz für Pflege und Betreuung
3.1. |
Für eine wirksame europäische Strategie für Pflege und Betreuung muss auf einen transformativen und ehrgeizigen Ansatz hingewirkt werden, der die Menschen mit ihren Grundrechten und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt und ihre Beteiligung an den Beratungen und Entscheidungen gewährleistet. Außerdem sollte ein solcher Ansatz zum Zusammenhalt sowie zu einer Aufwärtskonvergenz zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten beitragen. |
3.2. |
Eine europäische Pflege- und Betreuungsgarantie mit einem transformativen Ansatz würde sicherstellen, dass alle Menschen in Europa während ihres gesamten Lebens Zugang zu einer erschwinglichen und hochwertigen Pflege und Betreuung haben. Sie würde den Mitgliedstaaten einen kohärenten Rahmen für die Bereitstellung hochwertiger Dienstleistungen und Strategien für lebenslange Pflege und Betreuung, den Pflegenden bessere Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten und den informellen Pflegekräften Unterstützung bieten. |
3.3. |
Umfangreiche Investitionen in die Pflegewirtschaft und -infrastruktur sind eine Voraussetzung für einen transformativen Ansatz, mit dem noch bestehende große Lücken bei der Pflege und Betreuung behoben und bis 2035 ca. 300 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, was auch die Gleichstellung der Geschlechter und den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt verbessern würde (5). |
3.4. |
Auch wenn sich die Modelle der einzelnen Mitgliedstaaten unterscheiden, sind effektive, rechenschaftspflichtige und gut finanzierte öffentliche Dienste nach wie vor wichtig, um einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Pflege und Betreuung zu gewährleisten und unbezahlte Pflegekräfte, insbesondere Frauen, zu unterstützen. Der EWSA betont, dass ein möglichst hohes Maß an Komplementarität und Synergien zwischen allen (kommerziellen oder gemeinnützigen) Erbringern von Gesundheits- und Pflegeleistungen des öffentlichen und privaten Sektors angestrebt werden muss, damit eine Gesundheitsversorgung für alle erreicht wird (6). Dabei sollten bewährte Verfahren und positive Beispiele aus den Mitgliedstaaten, zugleich aber auch nationale Besonderheiten und Unterschiede berücksichtigt werden. |
3.5. |
Privatisierungstrends und marktgesteuerte Praktiken wie Risikoauswahl und Gewinnmaximierung in den Bereichen Pflege und Gesundheit können Ungleichheiten verschärfen und die Schwächsten treffen, deren Pflegebedürfnisse nicht gedeckt werden. Die Langzeitpflege und -betreuung sowie die Kinderbetreuung müssen auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten auf Solidarität, der Wahrung der nationalen Zuständigkeiten und der Subsidiarität fußen und brauchen starke Sozialsysteme und öffentliche Dienste, soziale Investitionen und sozialwirtschaftliche Akteure (z. B. Organisationen auf Gegenseitigkeit), um eine optimale gemeindenahe und häusliche Pflege und Betreuung durch entsprechend fachlich qualifizierte Pflegekräfte zu gewährleisten (7). |
3.6. |
Die europäischen Struktur- und Investitionsfonds können zur Förderung von Investitionen in Pflege und Betreuung eingesetzt werden. In Bezug auf Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege sollte die Kommission ihre länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters gezielter ausrichten und den Mitgliedstaaten bei Bedarf dabei helfen, eine angemessene Finanzierung zu priorisieren und als produktive Investition und nicht als wirtschaftliche Belastung anzusehen. |
4. Arbeitsbedingungen, Herausforderungen und Beschäftigungspotenzial
4.1. |
Etwa 6,3 Millionen Menschen arbeiten in der Langzeitpflege und -betreuung in der EU, 44 Millionen Menschen sind regelmäßig in der informellen Langzeitpflege von Familienangehörigen oder Freunden tätig; die Branche gehört zu den am schnellsten wachsenden Sektoren weltweit (8). Schätzungen zufolge werden bis 2030 bis zu 7 Millionen Arbeitsplätze für Fachkräfte im Gesundheits- und Pflegesektor entstehen. (9) |
4.2. |
Zu den großen Herausforderungen in den Bereichen Pflege und Betreuung gehören Personalengpässe, unattraktive und strapaziöse Arbeitsbedingungen, die Überalterung der Erwerbsbevölkerung sowie eine Unterfinanzierung aufgrund der während der Wirtschaftskrise ab 2008 erfolgten Haushaltskürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, wobei die Probleme in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich stark ausgeprägt sind (10). In nahezu allen EU-Mitgliedstaaten bleibt das Beschäftigungswachstum hinter der wachsenden Arbeitskräftenachfrage zurück, was darauf zurückzuführen ist, das Pflegekräfte die Branche aufgrund der psychisch und körperlich anstrengende Tätigkeit verlassen. Dieser Trend hat sich durch die Pandemie mit ihren verheerenden Folgen für die Gesundheit und Sicherheit von Pflegenden und Pflegebedürftigen noch verschärft. |
4.3. |
Ein transformativer Ansatz sollte die Gleichstellung der Geschlechter fördern, da mehr als 80 % der Beschäftigten in der Pflege- und Betreuungsbranche Frauen sind. Frauen übernehmen die Hauptlast der Pflege- und Betreuungsarbeit im formellen und informellen Pflegebereich (11), und das Durchschnittsalter der Beschäftigten in dieser Branche ist höher als bei der Arbeitnehmerschaft in der EU insgesamt. Da Frauen den überwiegenden Teil der Betreuungs- und Pflegeaufgaben in der Familie übernehmen, würden zugängliche und erschwingliche frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung und Langzeitpflege- und -betreuungsdienste es mehr Frauen ermöglichen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Der Anspruch auf mindestens fünf Arbeitstage Pflegeurlaub pro Jahr, der mit der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben eingeführt wurde, wird informelle Pflegekräfte dabei unterstützen, dass sie Beruf und Betreuungsaufgaben besser miteinander vereinbaren können. Ohne angemessenen bezahlten Urlaub kann dieses in der Richtlinie vorgesehene Recht jedoch nicht in vollem Umfang wahrgenommen werden, was die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärfen könnte. |
4.4. |
Die Löhne und Gehälter in der Branche liegen in vielen EU-Mitgliedstaaten unter dem Durchschnitt, obwohl die Arbeit körperlich anstrengend ist, besondere Anforderungen an Fähigkeiten/Kompetenzen und Qualifikationen stellt und mit hohen Risiken für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz verbunden ist (12). In mehreren Mitgliedstaaten sind der gewerkschaftliche Organisationsgrad, die Tarifbindung, die Arbeitszufriedenheit und der Personalschlüssel niedrig; während der Pandemie war unter anderem der Mangel an persönlicher Schutzausrüstung ein großes Problem. |
4.5. |
Die Langzeitpflege und -betreuung in Europa stützt sich im großen Maße auf unbezahlte informelle Pflege oder Pflege und Betreuung in der Familie, häusliche und gemeindenahe Pflege und Betreuung sind jedoch in vielen Ländern nach wie vor unterentwickelt und schwer zugänglich (13). In Anbetracht der Auswirkungen der informellen Pflege auf die Lebensqualität empfiehlt der EWSA nachdrücklich Maßnahmen, mit denen die „Formalisierung“ der informellen Pflege gefördert wird und die informellen Pflegekräfte unterstützt werden und die zu einer effizienten Nutzung der Ressourcen beitragen können. |
4.6. |
Der EWSA zeigt sich besorgt über die weite Verbreitung prekärer Arbeit in der Pflege bei nicht gemeldeten, hauptsächlich weiblichen, im Haushalt lebenden Pflegekräften, die zumeist einen Migrationshintergrund haben oder aus mobilen Bevölkerungsgruppen stammen. Vor dem Hintergrund dieser Grauzone, die durch den fehlenden Zugang zu formeller Pflege und durch wirtschaftliche Not noch verschärft wird, ist ein kohärenter politischer Ansatz erforderlich, der Verfahren zur Bescheinigung von Kompetenzen, zur Regularisierung und/oder zur Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung besonders Rechnung trägt. |
4.7. |
Mit dem steigenden Bedarf an Langzeitpflege und -betreuung wird die Branche von einer besseren und attraktiveren Entlohnung, einer wirksamen Arbeitnehmervertretung und Tarifbindung sowie mehr Schulungen profitieren. Öffentliche Mittel, die zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen eingesetzt werden (z. B. durch Anforderungen in öffentlichen Ausschreibungen), können zur Behebung des Personalmangels und zur Sicherstellung einer hochwertigen Langzeitpflege und -betreuung beitragen. Professionalisierung, die Festlegung von Qualität und die Ausarbeitung von Standards zur Bewertung/Messung der Qualität sowie eine Harmonisierung der Standards in den Mitgliedstaaten sind für die Erneuerung der Branche von entscheidender Bedeutung (14). |
5. Sonstige Bemerkungen
5.1. |
Die Pandemie hat die Fragmentierung und Streuung insbesondere der Zuständigkeiten für die Erbringung und Finanzierung in vielen Mitgliedstaaten offenbart, was darauf hindeutet, dass die Gesundheitsversorgung und die nationalen Pflegesysteme besser integriert werden müssen (15), denn diese Akteure sind am besten in der Lage, den Zugang für alle und Effizienz zu gewährleisten. |
5.2. |
Eine sich abzeichnende große Herausforderung, die konzertierte Maßnahmen im Rahmen der neuen Strategie für Pflege und Betreuung erfordert, ist die Prävention von und der Umgang mit psychischen Problemen, die einerseits auf die Pandemie und andererseits auf die zunehmenden psychischen Erkrankungen (z. B. Demenz) im Zusammenhang mit einer alternden Bevölkerung zurückzuführen sind. |
5.3. |
Wie die jüngsten Erfahrungen mit der Prävention und Eindämmung von COVID-19 in Langzeitpflegeeinrichtungen zeigen (16), sind eine wirksame Bewertung, eine effiziente und gestraffte externe Beaufsichtigung sowie Kontrolle in staatlichen und privaten Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen entscheidend, um Missbrauch zu verhindern und insbesondere für vulnerable Bevölkerungsgruppen, ältere Menschen und Kinder für Sicherheit und Qualität zu sorgen. Dabei sollte auf bestehende bewährte Verfahrensweisen in den Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden. |
5.4. |
Die Entwicklung EU-weiter standardisierter Datenerhebungsverfahren und Indikatoren für die Langzeitpflege und -betreuung ist ausschlaggebend für den Erfolg der Strategie für Pflege und Betreuung auf Ebene der Mitgliedstaaten, einschließlich Berichtspflichten und regelmäßiger Überprüfungen, die mit effizienten und gestrafften Verfahren durchzuführen sind. Insbesondere für ein angemessenes Kinderbetreuungsangebot müssen quantitative und qualitative Ziele, die über die Barcelona-Ziele hinausgehen, festgelegt werden, um die Fortschritte in diesem Bereich zu messen. |
5.5. |
Die Unterstützung der Digitalisierung von Langzeitpflege- und -betreuungsdiensten spielt eine wichtige Rolle bei der Überwindung der digitalen Kluft. Besondere Aufmerksamkeit muss der Barrierefreiheit, assistiven Systemen, der Verbesserung der digitalen Kompetenzen und der Digitalisierung gewidmet werden, um Arbeitsplatzqualität, Weiterqualifizierung und neue Diagnose-, Monitoring- und Behandlungsmethoden zu fördern. |
5.6. |
Der EWSA verurteilt die von der Russischen Föderation in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen, die sich gegen Pflegekräfte und im Gesundheitswesen tätige Personen, Patienten, Kinder, Krankenhäuser und andere Einrichtungen richten, und betont, dass diese Angriffe, abgesehen von Todesfällen und Verletzungen, schwerste Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung in der Ukraine haben und gezielte Unterstützung und Hilfsmaßnahmen erfordern, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich die Krise in der Ukraine überallhin ausbreitet und viele Aspekte des sozialen und wirtschaftlichen Lebens betrifft. |
5.7. |
Der soziale Dialog, an dem der Staat, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie ihre Vertretungsorganisationen beteiligt sind, ist für eine transformative Strategie für Pflege und Betreuung sowie für resiliente Gesundheitssysteme in der EU von entscheidender Bedeutung. An der Gestaltung eines inklusiven, resilienten und auf Gleichstellung beruhenden Ökosystems für Gesundheit, Pflege und Betreuung müssen sowohl die Pflegenden als auch die Pflegebedürftigen beteiligt werden. Die Zivilgesellschaft und weitere Interessenträger, z. B. Kirchen und karitative Organisationen, sollten auch eingebunden werden. |
6. Allgemeine Bemerkungen zu Arbeitskräften im Gesundheitswesen
6.1. |
Eine gute Gesundheitsversorgung ist der Grundpfeiler einer stabilen, sicheren und prosperierenden Gesellschaft; ihre Organisation ist Aufgabe des Staates. In vielen Ländern ist es gängige Praxis, sich auf die billige und schnelle Anwerbung von Gesundheitspersonal aus anderen europäischen Ländern zu verlassen, was einfach hingenommen und in erschreckender Weise ignoriert wird. |
6.2. |
Der EWSA bekennt sich ausdrücklich zu dem Grundsatz, dass gut ausgebildete, qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte im Gesundheitswesen Voraussetzung für starke und widerstandsfähige Gesundheitssysteme und für deren Ausbau sind. Dies ist ein maßgeblicher Faktor für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik und folglich für das Erreichen einer medizinischen Grundversorgung für alle und für das Recht auf Gesundheit. Die Empfehlungen der Konferenz zur Zukunft Europas zielen darauf ab, ein „Recht auf Gesundheit“ zu schaffen, das allen Europäerinnen und Europäern einen gleichberechtigten Zugang für alle zu erschwinglicher, präventiver, kurativer und hochwertiger Gesundheitsversorgung garantiert. |
6.3. |
Die Europäische Gesundheitsunion sollte auf EU-Ebene zur Verbesserung des Schutzes, der Prävention sowie der Vorsorge und Reaktion auf Gefahren für die menschliche Gesundheit beitragen. Insofern hängt der Erfolg aller großen Initiativen im Rahmen der Europäischen Gesundheitsunion in hohem Maße von hochqualifizierten Arbeitskräften im Gesundheitswesen ab. |
6.4. |
Der EWSA hat in einer Reihe von Stellungnahmen (17) die Frage der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen in einigen anderen Kontexten und Tätigkeiten behandelt. Vor allem während der Pandemie stehen die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen an vorderster Front und beweisen in den schwierigsten Zeiten in bemerkenswerter Weise Solidarität. |
6.5. |
Der EWSA spricht sich für Maßnahmen aus, mit denen die Arbeit im Gesundheitswesen für junge Menschen attraktiver gemacht wird. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Schaffung ausreichender personeller Kapazitäten in den Gesundheitssystemen, um den Bedarf an Gesundheitsversorgung zu decken, die Gesundheit zu fördern und Krankheiten vorzubeugen. |
6.6. |
Die Daten zu Zahlen, Migrationshintergrund, Qualifikationen und sonstigen Merkmalen in Verbindung mit den Arbeitskräften im Gesundheitswesen sollten standardisiert und kontinuierlich zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Zahlreiche Ereignisse (die COVID-19-Pandemie, Erdbeben, Überschwemmungen, die russische Invasion der Ukraine usw.) zeigen, dass insbesondere in Krisensituationen eine rasche Reaktion wichtig ist. |
6.7. |
Die Beschäftigung im Bereich Gesundheits- und Sozialdienstleistungen nahm in den OECD-Ländern zwischen 2000 und 2017 um 48 % zu (18). In dem Maße, wie die Bevölkerung altert und sich verändert, wird auch der Bedarf an Gesundheitsversorgung zunehmen und sich wandeln; Schätzungen zufolge wird sich der weltweite Personalbedarf im Gesundheitswesen bis 2030 nahezu verdoppeln (19). |
6.8. |
Bereits vor der COVID-19-Pandemie waren die Kapazitäten für die Erbringung einer grundlegenden Gesundheitsversorgung in vielen Ländern aufgrund des anhaltenden Fachkräftemangels im Gesundheitswesen und eines voraussichtlichen weltweiten Mangels von 18 Millionen Fachkräften im Gesundheitsbereich bis 2030 knapp bemessen (20). |
6.9. |
Die Grundsätze für eine mögliche Übertragung oder Kombination von Kompetenzen und Aufgaben (Aufgabenverlagerung/Kompetenzmix) müssen klar definiert werden. Einrichtungen, die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen ausbilden, müssen sich abstimmen, um den Bedarf des nationalen Gesundheitssystems durch rechtzeitige Änderungen der Zulassungsquoten und Lehrpläne entsprechend zu berücksichtigen. |
6.10. |
Bei der Personalentwicklung in der Gesundheits- und Sozialfürsorge sollte der Grundsatz der Koordinierung, der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit und der integrierten Versorgung befolgt werden. Das gemeinsame Ziel sollte eine lückenlose Rund-um-die-Uhr-Versorgung der Bürger sein. |
6.11. |
Besondere Aufmerksamkeit sollte der Verfügbarkeit der Versorgung auf dem Land gelten, vor allem in dünn besiedelten, abgelegenen oder schwer zugänglichen ländlichen Gebieten und Inselgebieten, in denen moderne Transportmittel und Telemedizin stärker eingesetzt werden müssen. |
7. Personalplanung im Gesundheitswesen
7.1. |
Nach Ansicht des EWSA muss die Personalplanung im Gesundheitswesen darauf abzielen, Bedingungen für eine berufliche Praxis zu schaffen, mit der die Qualität der Versorgung und die Patientensicherheit verbessert werden. Gleichzeitig muss auf allen Ebenen für Kapazitäten für eine hochwertige Ausbildung gesorgt werden. |
7.2. |
Das Personalmanagement im Gesundheitswesen muss in der gesamten staatlichen Verwaltung als strategisch wichtige Tätigkeit gelten, bei der Mitgliedstaat eine wichtige Rolle spielt, und muss bereichsübergreifend und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Prioritäten erfolgen. |
7.3. |
Beim Personalmanagement im Gesundheitswesen muss allen Phasen der Laufbahn von Fachkräften, von der Anwerbung künftiger Studierender bis zur Weiterbeschäftigung von Rentnern, Rechnung getragen werden. Die Auswahl von Kandidaten für Ausbildung, Einstellung und Beförderung sollte transparent und gerecht und ohne jegliche Form von Diskriminierung erfolgen. |
7.4. |
Bei der Personalplanung im Gesundheitsbereich müssen die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen berücksichtigt und klar vertreten werden. Im Rahmen der Planung und Verwaltung müssen Verfahren zur Ermittlung der Bedürfnisse der Arbeitskräfte, wie Arbeitsbedingungen, materielle Rechte, Aufstiegsmöglichkeiten, ausreichende Zeit und Mittel für Lernen und Forschung, eine tragfähige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, festgelegt werden. |
7.5. |
Bei der Personalplanung im Gesundheitswesen muss der strukturellen Planung, aber auch den Maßnahmen und Prozessen zur Verwirklichung der gesetzten Ziele Rechnung getragen werden, um festzulegen, was wie erreicht werden soll. |
7.6. |
Der EWSA hält es für erforderlich, den Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der Europäischen Union zu aktualisieren (21). Die Entwicklung einer integrierten Planung und Prognose in Bezug auf den Fachkräftebedarf im Gesundheitswesen und die Anpassung der Kompetenzen der Fachkräfte im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege und -betreuung sind für die Verbesserung des Zugangs zu diesen Diensten und ihrer Qualität von entscheidender Bedeutung. |
7.7. |
Die Sozialpartner und alle interessierten Organisationen der Zivilgesellschaft müssen aktiv an der Planung für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen beteiligt werden. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, die besonderen Bedürfnisse der Bevölkerung und das System für bestimmte Kompetenzen müssen festgelegt bzw. ermittelt werden. |
7.8. |
Weniger attraktive Regionen oder Tätigkeitsbereiche, in denen Personalmangel herrscht, müssen ermittelt werden, um Rechte zu garantieren und entsprechende Anreize für Fachkräfte im Gesundheitswesen zu schaffen. Der EWSA regt an, dass die Europäische Kommission Empfehlungen zu den erforderlichen Ressourcen im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung vorlegt, die für eine medizinische Grundversorgung für alle und für Notfälle mindestens vorhanden sein müssen, wobei die geografische Verteilung und das Altersprofil zu berücksichtigen sind (22). |
7.9. |
Als Grundlage für diese Empfehlungen müssen die internationale Datenerhebung verbessert und die Datenkategorien möglichst harmonisiert werden, um Unterschiede zu ermitteln und Fehlinterpretationen von Daten zu vermeiden. Nationale Abweichungen von den europaweit harmonisierten Kategorien müssen berücksichtigt werden, um die Daten einordnen zu können (23). |
7.10. |
Die Frage der finanziellen Ausstattung wird je nach den wirtschaftlichen Voraussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt werden. Studien zeigen, dass die Mitgliedstaaten bei der Systemplanung im Allgemeinen und bei der Personalplanung im Gesundheitswesen im Besonderen sowohl die Rahmenbedingungen im weiteren Sinne als auch die staatlichen Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, berücksichtigen sollten (24). |
7.11. |
Bei der Personalplanung sollte der Entwicklung der digitalen Technologien Rechnung getragen werden, da Innovationen in diesen Bereichen Möglichkeiten für neue Arbeitsumgebungen und -bedingungen in der Pflege und Betreuung schaffen und neue Kompetenzen erfordern. |
8. Arbeitsbedingungen
8.1. |
Bei der Entscheidung, einen medizinischen Beruf zu ergreifen, ihn weiter auszuüben oder aufzugeben, spielen die Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle. Daher sind kohärente Maßnahmen in Bereichen wie Ausbildung, Beschäftigung, Familienleben, Finanzen und Migration wichtig. Bei vielen Diskussionen über die Personalplanung im Gesundheitswesen geht es hauptsächlich um die Bezahlung, die als entscheidender Faktor für Anwerbung und Bindung gilt. Doch der Zugang zu Aus- und Weiterbildung, einschließlich der beruflichen Weiterentwicklung und der Fähigkeit, Kompetenzen auf dem neuesten Stand zu halten, sowie praktische Bedingungen wie die Verfügbarkeit von Betreuung, geregelte Arbeitszeiten, eine ausreichende Personaldecke, gute berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tragen auch zu einem gesunden Arbeitsumfeld bei. Der medizinische Bereich kann so attraktive und zukunftsfähige berufliche Möglichkeiten bieten (25). |
8.2. |
Europäische und internationale ärztliche Vereinigungen weisen darauf hin, dass Ärzte, die in Krankenhäusern sowie in allgemeinen und privatärztlichen Praxen arbeiten, bei ihrer täglichen Arbeit zunehmend und unvermittelt Gewalt (teilweise auch extremer Gewalt) ausgesetzt sind (26). Der EWSA fordert die Europäische Kommission und alle Interessenträger auf, politisches Engagement zu zeigen und sich bewusst zu machen, dass Arbeitskräfte im Gesundheitswesen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit dringend geschützt werden müssen. |
8.3. |
Fachkräfte im Gesundheitswesen sind bei ihrer Arbeit dem Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt. Die Übertragung von Krankheiten führt bei Fachkräften im Gesundheitswesen zu Fehlzeiten, Morbidität und zuweilen Todesfällen. So wird in letzter Konsequenz die Zahl der Arbeitskräfte reduziert, mit Folgen für die Qualität der Versorgung und die Sicherheit der Patienten. |
8.4. |
Fachkräfte im Gesundheitswesen leiden gelegentlich auch unter psychischem Stress und sogar psychischen Störungen, die sich auf ihre Arbeit und ihr persönliches Leben auswirken. In den letzten Jahren wurde zunehmend über Fachkräfte im Gesundheitswesen berichtet, die wegen Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Problemen ihre berufliche Tätigkeit einschränken oder vorzeitig in Rente gehen (27). Der EWSA fordert Investitionen in öffentliche Dienste für die Behandlung psychischer Krankheiten, um einen umfassenden und kostenlosen Zugang zu diesen Diensten für alle Fachkräfte im Gesundheitswesen zu ermöglichen. |
9. Mobilität
9.1. |
Der EWSA betont, dass das Recht auf Mobilität innerhalb und außerhalb der EU gewahrt werden muss. Die grenzüberschreitende Mobilität sollte zugunsten einzelner Arbeitskräfte und der Berufsgruppe insgesamt erleichtert werden, da sie den Wissenstransfer und gegenseitiges Lernen ermöglicht, das der Patientenversorgung und letztlich dem gesamten Gesundheitssystem zugutekommt. Im Falle einer Wirtschaftsmigration oder ungünstiger Arbeitsbedingungen müssen die dieser Dynamik zugrundeliegenden Ursachen ermittelt und es muss an der Verbesserung der Lage von Arbeitskräften im Gesundheitswesen gearbeitet werden (28). |
9.2. |
Durch die grenzübergreifende Mobilität erhält die Personalplanung eine zusätzliche Dimension. Die Einrichtung einer europäischen Stelle zur Überwachung der Arbeitskräftesituation im Gesundheitswesen, die die Mitgliedstaaten bei der Schaffung und Betreibung von Planungsstrukturen sowie bei der Abstimmung grenzübergreifender Aspekte der Planung unterstützt, würde daher die einschlägige Infrastruktur langfristig stärken. Eine solche Stelle sollte mit Prozessen der EU, insbesondere dem Europäischen Semester, und der Pandemieplanung, die im Rahmen einer künftigen Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren vorgesehen ist, verknüpft werden (29). |
9.3. |
Die Mitgliedstaaten müssen auf ethischen Grundsätzen beruhende Anwerbestrategien in Übereinstimmung mit dem Globalen Verhaltenskodex der WHO für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften umsetzen (30). Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland sollte nicht als einfaches Mittel zur Minderung eines Mangels an einheimischem Gesundheitspersonal betrachtet werden. Wo Mobilitätsströme ungleich sind, sollten Ausgleichsmechanismen geschaffen werden, die auf einen für beide Seiten vorteilhaften Austausch abzielen. |
10. Sonstige Bemerkungen
10.1. |
Ein effektives Management ist bei der Fachkräfteverwaltung im Gesundheitswesen auf allen Ebenen von zentraler Bedeutung. Dies ist ein komplexer und wichtiger Teil der Ausbildung im Gesundheitsbereich, dessen entscheidende Rolle für das Erreichen hoher Standards bei Ausbildung, Forschung und klinischer Praxis zunehmend anerkannt ist. |
10.2. |
Folglich sollten eine hochwertige und ausreichende Ausbildung und berufliche Weiterbildung von Führungskräften Bestandteil der Lehrpläne für alle Gesundheitsberufe sein (31). |
Brüssel, den 22. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Die Europäische Kommission hat 2012 ihren Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen in der EU veröffentlicht.
(2) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.
(3) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. November 2018 zu Betreuungsangeboten in der EU für eine verbesserte Gleichstellung der Geschlechter (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2018-0464_DE.html).
(4) ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44, ABl.. C 487 vom 28.12.2016, S. 7, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 103, Broschüre und Stellungnahme des EWSA „Wirtschaftliche, technische und soziale Veränderungen bei modernen Gesundheitsdienstleistungen für Senioren“ (ABl. C 240, vom 16.7.2019, S. 10); Stellungnahme des EWSA „Auf dem Weg zu einem neuen Betreuungsmodell für ältere Menschen: Lehren aus der COVID-19-Pandemie“ (ABl. C 194, vom 12.5.2022, S. 19).
(5) Addati, L., Cattaneo, U., and E. Pozzan. Bericht von 2022 „Care at work: investing in care leave and services for a more gender equal world of work“, IAO, Genf https://www.ilo.org/global/topics/care-economy/WCMS_838653/lang--en/index.htm.
(6) https://www.who.int/publications/i/item/WHO-HIS-SDS-2018.53.
(7) EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.
(8) Eurofound (2020), „Long-term care workforce: Employment and working conditions“, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg. https://www.eurofound.europa.eu/nb/publications/customised-report/2020/long-term-care-workforce-employment-and-working-conditions.
(9) Barslund, Mikkel et. al (2021). „Study: Policies for long-term Carers“ (2021). Brüssel, Europäisches Parlament: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2021/695476/IPOL_STU(2021)695476_EN.pdf.
(10) https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0011/186932/12-Summary-Economic-crisis,-health-systems-and-health-in-Europe.pdf.
(11) Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration, „Long-term care report: trends, challenges and opportunities in an ageing society“. (2021) Band I, Kapitel 3. Amt für Veröffentlichungen, 2021, https://data.europa.eu/doi/10.2767/677726.
(12) Siehe Fußnote 11, S. 68.
(13) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2018), Zigante, V. „Informal care in Europe: exploring formalisation, availability and quality“, Amt für Veröffentlichungen (2018) https://data.europa.eu/doi/10.2767/78836.
Spasova, S., et al (2018). Challenges in long-term care in Europe. A study of national policies, Europäisches Netzwerk für Sozialpolitik (ESPN), Brüssel: Europäische Kommission, https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=738&langId=de&pubId=8128&furtherPubs=yes.
(14) Siehe Fußnote 11, Kapitel 3.
(15) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, S. 36., https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, und Paneuropäische WHO-Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung (2021). „Drawing light from the pandemic: a new strategy for health and sustainable development. A review of the evidence“, https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0015/511701/Pan-European-Commission-health-sustainable-development-eng.pdf.
(16) Danis, K., Fonteneau, L., et al.,(2020). „High impact of COVID-19 in long-term care facilities: suggestion for monitoring in the EU/EEA“, Euro Surveillance: European Communicable Disease Bulletin, 25(22). https://doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.22.2000956.
(17) ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 109, ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 251, ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 48, ABl. C 143 vom 22.5.2012, ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 74, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 96.
(18) https://one.oecd.org/document/ECO/WKP(2021)43/en/pdf.
(19) Liu, J. X., Goryakin, Y., Maeda, A., Bruckner, T., Scheffler R., „Global health workforce labor market projections for 2030“. Human Resources for Health 2017; 15:11 (https://human-resources-health.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12960-017-0187-2).
(20) https://www.who.int/health-topics/health-workforce#tab=tab_1.
(21) 2012 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Aktionsplan für Fachkräfte im Gesundheitswesen und im Pflegebereich in der EU.
(22) CPME Policy on Health Workforce (https://www.cpme.eu/policies-and-projects/professional-practice-and-patients-rights/health-systems-and-health-workforce).
(23) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.
(24) Russo, G., Pavignani, E., Guerreiro, CS., Neves, C., „Can we halt health workforce deterioration in failed states?“„Insights from Guinea Bissau on the nature, persistence and evolution of its HRH crisis“. Human Resources for Health 2017; 15(1):12.
(25) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.
(26) https://www.cpme.eu/api/documents/adopted/2020/3/EMOs.Joint_.Statement.on_.Violence.FINAL_.12.03.2020.pdf.
(27) L. N. Dyrbye, T. D. Shanafelt, C. A. Sinsky, P. F. Cipriano, J. Bhatt, A. Ommaya, C. P. West, und D. Meyers (2017), „Burnout among health care professionals: A call to explore and address this underrecognised threat to safe, high-quality care“. NAM Perspectives, Discussion Paper, National Academy of Medicine, Washington, DC.
(28) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.
(29) Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Integration (2014). „Adequate social protection for long-term care needs in an ageing society“, Gemeinsamer Bericht des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission, Amt für Veröffentlichungen, https://data.europa.eu/doi/10.2767/32352, S. 14.
(30) https://www.who.int/publications/m/item/migration-code.
(31) Van Diggele, C., Burgess, A., Roberts, C. und Mellis, C. (2020) Leadership in healthcare education. BMC Medical Education, 20 (Suppl. 2), 456. https://doi.org/10.1186/s12909-020-02288-x.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/46 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „EU-Jugendtest“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/07)
Berichterstatterin: |
Katrīna LEITĀNE |
Beschluss des Plenums |
24.2.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
6.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
158/0/5 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Politische Teilhabe ist die Grundlage jeder funktionierenden Demokratie. Die wichtigsten Vorteile der EU sind für junge Europäerinnen und Europäer die Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit (1). Junge Menschen müssen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben, die ihre Zukunft betreffen, da sich selbst indirekte Folgen erheblich auf sie und die nächsten Generationen auswirken können. Gleichermaßen können auch politische Maßnahmen, die nicht direkt auf junge Menschen ausgerichtet sind oder nicht als klassische Jugendpolitik gelten, das Leben junger Menschen stark beeinflussen. Die bestehenden Beteiligungsmechanismen müssen durch weitere wirksame Mechanismen ergänzt werden, die mit den demokratischen Grundsätzen in Einklang stehen und den Bedürfnissen junger Menschen gerecht werden. Dies kann zu einer besseren und wirksameren Politikgestaltung beitragen. |
1.2. |
Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) lassen sich junge Menschen über die Bildung mit am besten erreichen. So können sie über alle Teilhabemöglichkeiten informiert werden und ihnen können die europäischen Werte vermittelt werden. Mit bestehenden Programmen zur Unterstützung der formellen und informellen Bildung, wie Erasmus+ und dem Europäischen Solidaritätskorps, ist es gelungen, die Ansichten junger Menschen zu demokratischer Teilhabe und den Werten und Grundsätzen der Europäischen Union zu verbessern. |
1.3. |
Der EWSA weist darauf hin, dass es äußerst wichtig ist, junge Menschen im Wege sinnvoller Partizipationsmethoden, die für sie am besten geeignet sind, in die Politikgestaltung einzubeziehen. Anschließend sollte durch Überwachungs- und Bewertungsverfahren und Folgenabschätzungen sichergestellt werden, dass die Ansichten junger Menschen bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Die Einbindung junger Menschen in den gesamten Prozess der Politikgestaltung schafft Vertrauen bei der jungen Generation und darüber hinaus und sorgt dafür, dass sie als relevant und wichtig für diesen Prozess angesehen werden. Die Kommunikation über die Ergebnisse der Beteiligung junger Menschen im Rahmen dieser Verfahren sollte offen und transparent sein. Nur so kann das Vertrauen junger Menschen in die Politik gefördert werden (2). Ferner ist es äußerst wichtig, soziale Inklusion zu gewährleisten und Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen einzubeziehen. |
1.4. |
Nach Auffassung des EWSA können zivilgesellschaftliche Organisationen entscheidend dazu beitragen, das Engagement junger Menschen mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen zu fördern. Somit können sie für die Beteiligung der Jugend an der Politikgestaltung und am demokratischen Prozess von grundlegender Bedeutung sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen können als Mittler und unterstützende Netzwerke jungen Menschen die Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen erleichtern und es ihnen ermöglichen, sich als aktive Bürgerinnen und Bürger zu engagieren. Der EWSA unterstützt diese Organisationen und junge Menschen dabei und fordert Maßnahmen, die ihnen dies ermöglichen. |
1.5. |
Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen und Verfahren einzusetzen, die sicherstellen, dass die Sichtweise der jungen Menschen in allen Politikbereichen berücksichtigt wird, und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich konsequent und fachkundig zu den sich ihnen stellenden Herausforderungen zu äußern. Diese Strukturen sollten auch transparente und sichtbare Follow-up- und Überwachungsmechanismen umfassen und bestehende Instrument für die Partizipation junger Menschen ergänzen. Die Finanzierung darf hingegen nicht gekürzt werden. Für die sinnvolle Einbindung junger Menschen in die Politikgestaltung müssen angemessene Mittel zur Verfügung gestellt werden. |
1.6. |
Die Einbindung junger Menschen in Politikgestaltungs- und Entscheidungsprozesse kann zu einer besseren Rechtsetzung und besseren Maßnahmen beitragen, da auf diese Weise aktuelle und künftige Entwicklungen, die sich auf das Leben junger Menschen und künftiger Generationen auswirken, erfasst und verstanden werden können. Ferner kann dies die Erarbeitung von Vorschlägen erleichtern, da so qualitativer Input als Ergänzung zu Sekundärdaten zur Verfügung steht. |
1.7. |
Der EWSA betont, dass der EU-Jugendtest auf den Hauptzielen der EU-Jugendstrategie (3) und des Europäischen Jahres der Jugend aufbaut; bei beiden Initiativen wird hervorgehoben, dass die durchgängige Berücksichtigung der Jugend bei der Politikgestaltung, die einen bereichsübergreifenden Ansatz erfordert, von großer Bedeutung ist. Der Test gehört auch zu den Maßnahmen, die im Bericht über das endgültige Ergebnis (4) der Konferenz zur Zukunft Europas, der von allen stimmberechtigten Teilnehmern der Plenarversammlung der Konferenz und den Bürgerforen gebilligt wurde, vorgesehen sind. Um eine dauerhafte Wirkung und ein Vermächtnis über das Europäische Jahr der Jugend hinaus zu erzielen, müssen junge Menschen in die Lage versetzt werden, den Wandel anzuführen und eine bessere Zukunft zu gestalten. |
1.8. |
Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass in der Mitteilung der Europäischen Kommission über die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas (5) auf den EU-Jugendtest verwiesen wird. Allerdings entspricht der Kommissionsvorschlag nicht den Zielen und Mitteln des ursprünglichen Vorschlags, die sinnvolle Zusammenarbeit mit Jugendorganisationen und Fachleuten sowie die durchgängige Berücksichtigung der Jugend in allen Politikbereichen werden nicht thematisiert und die langfristigen Folgen politischer Maßnahmen für künftige Generationen bleiben unberücksichtigt. Der EWSA ist der Ansicht, dass der EU-Jugendtest als eigenständiges Instrument in das Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung aufgenommen werden sollte, da künftige Generationen und junge Menschen besondere Aufmerksamkeit verdienen. |
1.9. |
Der EWSA ruft zu einer engeren Zusammenarbeit der Organe und Institutionen auf, um bestehende erfolgreiche Initiativen wie den EU-Jugenddialog, „Your Europe, Your Say!“ und das Europäische Jugendevent aufeinander abzustimmen und gemäß der EU-Jugendstrategie mit künftigen Initiativen wie dem EU-Jugendtest zu verknüpfen. Darüber hinaus legt er einige Vorschläge zur Einbindung junger Menschen in die Arbeit des EWSA vor und beabsichtigt, den EU-Jugendtest in seine Arbeit zu integrieren. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1. Die Rolle junger Menschen beim Aufbau des Projekts Europa
2.1.1. |
Junge Menschen sind der Motor des Projekts Europa, ihre Kreativität, ihre Energie und ihre Begeisterungsfähigkeit bestimmen die Zukunft Europas. 2022 ist das Europäische Jahr der Jugend. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte dazu: „Europa braucht alle seine jungen Menschen“ und „Unsere Union muss eine Seele und eine Vision haben, von denen sie sich angesprochen fühlen.“ (6) |
2.1.2. |
Das Projekt Europa lässt sich im gegenwärtigen demokratischen Umfeld nicht wirksam und angemessen verwirklichen, ohne dass der Diskurs über die politische Partizipation junger Menschen (7) im Rahmen demokratischer Traditionen und geopolitischer Zusammenhänge anerkannt wird. Der Vizepräsident für die Förderung unserer europäischen Lebensweise, Margaritis Schinas, betonte: „Das Europäische Jahr der Jugend soll für die Einbeziehung junger Menschen in Politik und Entscheidungsfindung eine Wende einleiten.“ Dahinter steht der Gedanke, jungen Menschen den Zugang zu einer sinnvollen Beteiligung zu ermöglichen und sie dazu zu befähigen (8). |
2.1.3. |
Eurobarometer-Umfragen (9) zufolge haben weniger als die Hälfte der Europäerinnen und Europäer (47 %) Vertrauen in die EU und lediglich 44 % bewerten das Image der EU als positiv. Die Zukunft des europäischen Aufbauwerks hängt in hohem Maße davon ab, wie stark sich junge Menschen mit den europäischen Werten verbunden fühlen und ob sie bereit sind, eine europäische Identität anzunehmen. Die aktive Einbeziehung junger Menschen in politische Prozesse und Entscheidungsprozesse ist äußerst wichtig, da die Entscheidungen von heute ihre Zukunft bestimmen. Daher sollten Partizipationsinstrumente eingeführt werden, die sicherstellen, dass die Stimmen junger Menschen berücksichtigt werden. Die Beteiligung am bürgerschaftlichen und demokratischen Leben muss auf allen Ebenen verstärkt werden, um Europas künftigen Wohlstand zu sichern; dabei muss anerkannt werden, dass die Modelle für die politischen Partizipation junger Menschen durch demokratische Reife beeinflusst werden (10). |
2.1.4. |
Die Initiative der EU, eine Konferenz zur Zukunft Europas einzuberufen, hat einen Anreiz geschaffen, einen partizipativen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Union zu fördern. Die Erhöhung der Wirksamkeit bestehender Mechanismen für die Beteiligung der Jugend und die Entwicklung neuer Mechanismen gelten als Weg in die Zukunft. Wie im Bericht über das endgültige Ergebnis der Konferenz zur Zukunft Europas (11) vorgeschlagen wurde, könnte in diesem Zusammenhang ein „Jugendtest“ (12) der Rechtsvorschriften eingeführt werden, der sowohl eine Folgenabschätzung als auch die Konsultation von Jugendvertretern umfasst. |
2.1.5. |
Der Jugendtest dient bei der Politikgestaltung als Methode der strategischen Vorausschau. Die strategische Vorausschau ist ein wertvolles Konzept, das die Europäische Kommission bei der Politikgestaltung nutzen möchte. Sie beruht auf Grundsätzen wie der strategischen Früherkennung, der Analyse von Megatrends, der Planung von Szenarien und der Zukunftsplanung, daher muss die Sichtweise junger Menschen und künftiger Generationen in diesem Rahmen zwangsläufig berücksichtigt werden. Die vorausschauenden Tätigkeiten stehen unter der Prämisse, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, dennoch werden Informationen über mögliche Szenarien gesammelt und das Ziel ist, für auf mögliche kommende Herausforderungen vorbereitet zu sein. Der Dialog zwischen den Generationen kann wertvolle Mechanismen hervorbringen, mit denen dafür gesorgt wird, dass diese Trends und Zukunftsszenarien bei der Politikgestaltung berücksichtigt werden. Untersuchungen, bei denen die Perspektive junger Menschen und künftiger Generationen berücksichtigt wird, können und sollten zu besseren und besser auf sie zugeschnittenen politischen Maßnahmen beitragen, mit denen die Herausforderungen künftiger Generationen angegangen werden können. |
2.1.6. |
Damit die Politik besser auf künftige Herausforderungen abgestimmt ist, müssen bei ihrer Gestaltung die Rechte junger Menschen und künftiger Generationen anerkannt und geschützt werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass es nicht zu negativen Folgen für bestimmte Alters- und gesellschaftliche Gruppen kommt. Einige dieser Gruppen werden derzeit häufig übersehen oder als Teil anderer Gruppen betrachtet, was aber nicht der Realität entspricht. Dies hat zur Folge, dass politische Maßnahmen den bestehenden Herausforderungen nicht angemessen Rechnung tragen und stattdessen zu einem Rückgang des Vertrauens und zu einer Verdrossenheit gegenüber den Institutionen beitragen. |
2.2. Die Notwendigkeit einer sinnvollen Einbeziehung junger Menschen
2.2.1. |
Bei einer sinnvollen Einbeziehung geht es um die gemeinsame Machtausübung und Beschlussfassung, woran unter transparenten und allen beteiligten Akteuren bekannten Bedingungen auch weitere Interessenträger teilhaben. Eine gut konzipierte Rechenschaftspflicht fördert das Vertrauen aller Interessenträger in Verfahren der politischen Partizipation. Die genauen Zuständigkeiten der einzelnen Akteure sollten allen Interessenträgern vertraut sein. |
2.2.2. |
Das Vertrauen junger Menschen in öffentliche Institutionen ist seit der internationalen Finanzkrise Ende der 2000er Jahre eingebrochen (13). Die Wahrnehmung ihres politischen Einflusses und ihrer Beteiligung an der Entscheidungsfindung hat sich nicht verändert. Die Partizipation junger Menschen an demokratischen Prozessen kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Die Teilnahme an Wahlen auf kommunaler, nationaler oder europäischer Ebene gilt jedoch weiterhin als das wirksamste Mittel, der Stimme junger Menschen bei Entscheidungsträgern Gehör zu verschaffen (39 %) (14), wobei der Anteil junger Menschen, die Vertrauen in diese Art der demokratischen Teilhabe haben, nach wie vor sehr gering ist. Politikferne junge Menschen begründen dieses Abstandhalten von der Politik mit dem Mangel an sinnvoller Partizipation und fehlendem Vertrauen sowie mit dem Gefühl, dass Engagement wenig Sinn macht, wenn ihr Beitrag nicht berücksichtigt wird. Eines der größten Hindernisse für die Beteiligung junger Menschen ist die Überzeugung, dass politische Entscheidungsträger „Leuten wie ihnen“ nicht zuhören (15). Vertrauensaufbau und ein intensiverer Dialog zwischen jungen Menschen und öffentlichen Institutionen trägt daher entscheidend dazu bei, die Bereitschaft und Resilienz von Gesellschaften beim Umgang mit künftigen Schocks sicherzustellen (16). |
2.2.3. |
Eine Mehrheit (70 %) (17) der jungen Menschen ist der Ansicht, dass sie kaum oder kein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen, Gesetzen und politischen Maßnahmen haben, die die EU als Ganzes betreffen. 24,8 % (18) der jungen Menschen sind der Auffassung, dass sie keinerlei Einfluss darauf haben, welche Themen in der öffentlichen oder politischen Debatte behandelt werden; weitere 40,8 % geben an, nicht viel Einfluss nehmen zu können. Zudem vertreten zwei Drittel der Befragten die Ansicht, dass junge Menschen mehr Einfluss auf die Politik nehmen könnten, wenn den Politikern die Anliegen junger Menschen stärker bewusst wären, wohingegen über 50 % von ihnen glauben, dass eine prominentere Rolle von Jugendorganisationen in der Politik ebenfalls diesem Zweck dienen würde. |
2.2.4. |
Die Art der Partizipation junger Menschen hat sich geändert. Sie bevorzugen heute nicht institutionalisierte und insbesondere nicht auf Wahlen beruhende Formen des politischen Engagements (19). Untersuchungen weisen immer stärker darauf hin, dass dies mit einem abnehmenden Vertrauen in öffentliche Einrichtungen und einer Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der repräsentativen Demokratie zusammenhängt. Die unkonventionelle politische Teilhabe junger Menschen ist ganz im Sinne einer „individuellen Lebensführung“ zunehmend dynamisch, individualisiert und personalisiert geworden und erfolgt vorzugsweise bei bestimmten Themen sowie in Form eines direkten Aktivismus und Protests (20). Insgesamt sind junge Menschen politisch hochmotiviert. Experten auf dem Gebiet der politischen Teilhabe befassen sich in Bezug auf die Partizipation junger Menschen heutzutage weniger mit der Frage, ob sich junge Menschen engagieren wollen, sondern vielmehr mit ihrer Entscheidung, wie und wo sie ihre politische Meinung zum Ausdruck bringen (21). Angesichts der vielen Möglichkeiten, wie junge Menschen heute versuchen, Einfluss auf politische Maßnahmen und Entscheidungen zu nehmen, muss der unkonventionellen Art der politischen Teilhabe, der partizipativen Entscheidungsfindung und den verstärkten Kommunikations- und Transparenzmechanismen im demokratischen institutionellen Rahmen unbedingt Rechnung getragen werden. Die Politikgestaltung in öffentlichen Einrichtungen sollte entsprechend angepasst und konzipiert werden, damit sichergestellt werden kann, dass alle Gruppen junger Menschen bei politischen Entscheidungen miteinbezogen werden. Methoden der Partizipation sollten inklusiv sein und so bekannt gemacht werden, dass sie ein vielfältiges Publikum und auch schwer erreichbare Gruppen und Personen ansprechen. |
2.2.5. |
Von jungen Menschen geführte Organisationen haben Fachwissen und Erfahrungen zu einer Vielzahl von Themen in Verbindung mit den Problemen junger Menschen erworben. Ihre Einbeziehung in die Politikgestaltung wird zu kohärenteren und besser angepassten Regeln und Bestimmungen führen. Dies wird auch dadurch untermauert, dass immer mehr junge Menschen solchen Organisationen beitreten (22). |
2.2.6. |
Eine sinnvolle Einbindung junger Menschen ist äußerst wichtig. Die Partizipation junger Menschen muss verbessert werden. Dafür müssen insbesondere Mängel bei der demokratischen Vertretung junger Menschen beseitigt werden und dafür gesorgt werden muss, dass die Perspektive junger Menschen auch außerhalb der klassischen Jugendpolitik berücksichtigt wird. Junge Menschen wollen an der Gestaltung der Politik, die sich auf ihr Leben auswirkt, mitwirken. Bei der Generationengerechtigkeit (23) geht es darum, wie Ungleichheit zwischen Generationen in alternden Gesellschaften überwunden werden kann. |
2.2.7. |
Die bestehenden Instrumente für die Abschätzung der Folgen für junge Menschen, wie das Instrument Nr. 31 des Instrumentariums für eine bessere Rechtsetzung, sehen keine durchgängige Berücksichtigung von Jugendfragen und keine Einbeziehung von Jugendorganisationen und jungen Menschen mit entsprechendem Fachwissen vor, die in der Lage wären, eine systematische Überprüfung der Fragen aus Sicht der Jugend durchzuführen. Zudem geht aus den verfügbaren Veröffentlichungen hervor, dass diese Instrumente weniger häufig eingesetzt werden, als es die Relevanz und Bedeutung der Vorschläge erfordern würde. |
3. Besondere Bemerkungen
3.1. EU-Jugendtest
3.1.1. |
Der Vorschlag beruht auf drei Säulen: Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen (24). Er bietet einen Rahmen für eine bessere Wirksamkeit und Effizienz politischer Maßnahmen durch die stärkere Beteiligung junger Menschen und die Berücksichtigung von Jugendfragen in der Politikgestaltung. Dabei werden auch benachteiligte Gruppen wie junge Menschen mit Behinderungen, junge Menschen, die weder eine Schule besuchen noch eine Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben (NEET) (25), junge Menschen in abgelegenen Gebieten usw. berücksichtigt. Durch die verschiedenen Komponenten des EU-Jugendtests entsteht eine kohärente Struktur für die Gestaltung einer hochwertigen und besseren Politik, mit der potenzielle Probleme für künftige Generationen angegangen werden. |
3.1.2. |
Der erste Schritt des EU-Jugendtests besteht darin, die Relevanz und die Auswirkungen vorgeschlagener Politikmaßnahmen auf junge Menschen und künftige Generationen zu ermitteln. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob für die betreffende Maßnahme ein vollständiger Jugendtest durchgeführt werden muss. Über eine Checkliste ermitteln die Bewerter, ob der Vorschlag für junge Menschen relevant ist und welche direkten und indirekten Auswirkungen er auf junge Menschen und künftige Generationen haben würde. Wenn eine Relevanz für junge Menschen festgestellt wird, folgen nacheinander eine umfassende Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen. Die Indikatoren der Checkliste werden ausgehend von den Bedürfnissen und Ideen junger Menschen aufgestellt, damit sichergestellt ist, dass die jeweiligen Vorschläge aus deren Sicht bewertet werden. |
3.1.3. |
Im nächsten Schritt sollen die jeweiligen Bewerter in sinnvoller Weise die Meinungen von Jugendakteuren einholen, damit eine auf systematischem Fachwissen beruhende, gründliche Analyse möglich ist. Auf der Grundlage dieser Beiträge versuchen die Bewerter dann, die Anliegen junger Menschen mit Blick auf mögliche Auswirkungen der vorgeschlagenen Politikmaßnahme zu ermitteln. Die Partizipation muss transparent sein und es einer Vielzahl von Jugendvertretern, von jungen Menschen geführten Organisationen und jungen Menschen mit einschlägigem Fachwissen ermöglichen, Beiträge einzubringen. Auf diese Weise kann ein systematischer Ansatz für die Themen sichergestellt werden, die Gegenstand der vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Durch die Einbeziehung von Jugendorganisationen, Jugendvertretern und jungen Menschen mit einschlägigem Fachwissen entsteht eine äußerst vielfältige und einzigartige Grundlage für die Folgenabschätzung. Durch eine solche sinnvolle Zusammenarbeit können sich die Bewerter auf der Grundlage der übergreifenden Kenntnisse und Kompetenzen dieser jungen Menschen einen umfangreichen Überblick verschaffen. Die Beiträge ermöglichen eine eingehende Folgenabschätzung, über die ermittelt werden kann, auf welche Herausforderungen und Aspekte sich politische Maßnahmen nachteilig auswirken könnten. |
3.1.4. |
Ausgehend von den im Rahmen dieses Verfahrens eingeholten Daten und den Ergebnissen der Konsultationen können die Bewerter die Folgenabschätzung entsprechend der in der Checkliste genannten Themen vornehmen und zudem eine vorausschauende Analyse für künftige Generationen vorlegen. |
3.1.5. |
Werden nachteilige Folgen festgestellt, sollte der Bewerter Abhilfemaßnahmen vorschlagen, die in erster Linie auf Gruppen, die sich in einer schwierigen Lage befinden, und auf benachteiligte junge Menschen ausgerichtet sind. Die Bewerter sollten im Rahmen der Konsultation auch Fragen zu möglichen Abhilfemaßnahmen thematisieren, die anschließend in die Analyse einfließen könnten. Es wird empfohlen, in den kommenden Jahren eine Bewertung durchzuführen, um die Folgen der Maßnahmen zu überwachen und zu überprüfen, inwiefern die nachteiligen Folgen durch Abhilfemaßnahmen eingedämmt wurden. |
3.1.6. |
Der EU-Jugendtest darf eine sinnvolle Zusammenarbeit mit jungen Menschen im Allgemeinen nicht ersetzen und sollte bestehende Methoden der Partizipation ergänzen. |
3.1.7. |
Der Vorschlag ging aus einer Reihe von Gesprächen mit Europas größten Jugendnetzwerken hervor, wurde aber seit seiner Vorlage auch in mehreren Empfehlungen im Rahmen des EU-Jugenddialogs (sowie zuvor im Rahmen des strukturierten Dialogs) ausdrücklich erwähnt. Junge Menschen haben den starken Wunsch nach einem transparenten Verfahren der Politikgestaltung bekundet, das ihnen die Mitwirkung an der Konzipierung und die Weiterverfolgung der Ergebnisse ermöglicht. |
3.1.8. |
Der Vorschlag orientiert sich zudem am Aufbau des KMU-Tests, der auf den drei Säulen Konsultation, Folgenabschätzung und Abhilfemaßnahmen beruht und ein gutes Beispiel für ein geeignetes Instrument zur Folgenabschätzung auf EU-Ebene darstellt (26). Darüber hinaus soll der EU-Jugendtest wie auch der KMU-Test zu einem eigenständigen Instrument im Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung werden. Auf diese Weise soll entsprechend der Aussage der Präsidentin der Europäischen Kommission die Rolle junger Menschen im Europa der Zukunft gestärkt werden. |
3.1.9. |
Der Vorschlag stützt sich auf Beispiele für Instrumente zur Abschätzung der Folgen für junge Menschen, die in einigen Mitgliedstaaten (u. a. Österreich, Deutschland, Frankreich und Flandern in Belgien sowie außerhalb der EU, etwa in Neuseeland und Kanada) bereits existieren. |
3.1.10. |
Die vorgeschlagene Folgenabschätzung bietet eine Möglichkeit, sicherzustellen, dass bei politischen Maßnahmen und ihren Auswirkungen die Bedürfnisse und Erwartungen junger Menschen berücksichtigt werden, dabei wird über den Bereich der klassischen Jugendpolitik hinausgegangen. Lediglich einige wenige Vorschläge der Europäischen Kommission werden aus der Perspektive junger Menschen untersucht. Ein Großteil dieser Vorschläge hat jedoch direkten oder indirekten Einfluss auf die Lebensqualität junger Menschen. |
3.1.11. |
Es wird vorgeschlagen, den EU-Jugendtest in die öffentlich zugänglichen Folgenabschätzungen im Rahmen der besseren Rechtsetzung zu integrieren und auf dem europäischen Jugendportal zu veröffentlichen. Allerdings sollte näher geprüft werden, welche Vorgehensweise die größte Wirkung hätte. Die Generaldirektion Kommunikation wird gleichwohl aufgefordert, den EU-Jugendtest aktiv zu fördern und so dafür zu sorgen, dass er bekannt gemacht wird. Gleichzeitig sollte das Generalsekretariat seine Einführung in verschiedenen Generaldirektionen unterstützen. Der EU-Jugendtest könnte zudem von den Institutionen veröffentlicht werden, die ihn durchführen wollen, auch auf dem Internetportal des EWSA. Anhand der Veröffentlichung der Folgenabschätzung und der endgültigen Fassung des Vorschlags können die an der Konsultation beteiligten Jugendakteure herausfinden, inwiefern ihr Beitrag berücksichtigt wurde. |
3.1.12. |
Der EU-Jugendtest ist als Struktur gedacht, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammen mit den Institutionen der Europäischen Union angewendet werden kann. |
3.1.13. |
Der EU-Jugendtest verfügt über das Potenzial, die Politikgestaltung zu verbessern. Er muss allerdings auf sinnvollen Methoden der Partizipation beruhen, da die Nutzung des in der Gesellschaft vorhandenen Wissens eine Möglichkeit darstellt, Effizienz und Verbesserungen zu bewirken. |
3.2. Einbindung junger Menschen in die Arbeiten des EWSA
3.2.1. |
Der EWSA ist sich bewusst, wie wichtig es ist, junge Menschen an der Gestaltung der Zukunft Europas zu beteiligen (27), weswegen er mehrere erfolgreiche Initiativen initiiert hat, z. B. „Your Europe, Your Say!“ und die Jugendklima- und -nachhaltigkeitsdebatten, sowie den Europäischen Jugendklimagipfel, den der EWSA gemeinsam mit dem Europäischen Parlament veranstaltet. Als Folgemaßnahme zu seiner Stellungnahme NAT/788 (28) hat der EWSA im Jahr 2021 erstmals anlässlich der COP26 eine Jugenddelegierte in seine offizielle Delegation für die Vertragsstaatenkonferenzen (COP) der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) aufgenommen. Außerdem werden vor dem Hintergrund des Europäischen Jahres der Jugend mit dem EWSA-Preis der Zivilgesellschaft 2022 wirkungsvolle, innovative und kreative Initiativen ausgezeichnet, deren Ziel es ist, eine bessere Zukunft für und mit jungen Menschen in Europa aufzubauen. |
3.2.2. |
Der EWSA wird sich bemühen, der Stimme von jungen Menschen und Jugendorganisationen durch stärker strukturierte, sinnvolle und gezielte Methoden der Partizipation noch mehr Gehör zu verschaffen, um Jugendliche und ihre Organisationen besser in seine Arbeit einzubeziehen. Der EWSA sollte daher folgende Schritte einleiten:
|
3.2.3. |
Der EWSA wird weiter prüfen und erwägen, wie er das Konzept des EU-Jugendtests in seine Verfahren integrieren kann, um einen kohärenten Ansatz für die Einbindung junger Menschen in die Arbeiten des EWSA zu entwickeln. |
3.2.4. |
Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, auf diese Initiativstellungnahme und den Vorschlag für einen EU-Jugendtest zu reagieren und gemeinsam über die Umsetzung nachzudenken. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Sekundärdatenstudie European Youth in 2021.
(2) Influencing and understanding political participation patterns of young people, Europäisches Parlament, 2021.
(3) Entschließung des Europäischen Rates zur EU-Jugendstrategie 2019–2027.
(4) Konferenz zur Zukunft Europas, Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.
(5) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52022DC0404&qid=1660827033223
(6) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/speech_21_4701.
(7) Deželan, T., Moxon, D., Influencing and understanding political participation patterns of young people: the European perspective, Studie, 2021.
(8) Bárta, O., Boldt, G., Lavizzari, A., Meaningful youth political participation in Europe: concepts, patterns and policy implications, Forschungsstudie, 2021.
(9) Eurobarometer 96 — Winter 2021-2022.
(10) Kitanova, M., Youth political participation in the EU: evidence from a cross-national analysis, Journal of Youth Studies, Vol. 23, Nr. 7, 2020 (Einreichung 2018).
(11) Konferenz zur Zukunft Europas — Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022.
(12) https://www.youthforum.org/files/YFJ_EU_Youth_Test.pdf.
(13) OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.
(14) Flash Eurobarometer zu Jugend und Demokratie, durchgeführt zwischen dem 22. Februar und dem 4. März 2022.
(15) European Parliament youth survey — report, Europäisches Parlament, September 2021.
(16) OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.
(17) European Parliament youth survey — report, Europäisches Parlament, September 2021.
(18) Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).
(19) Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).
(20) Youth Survey Report (unter dem Dreiervorsitz Deutschland-Portugal-Slowenien, Januar 2022).
(21) Deželan, T., Moxon, D., Influencing and understanding political participation patterns of young people: the European perspective, Studie, 2021.
(22) Flash Eurobarometer Jugend und Demokratie im Europäischen Jahr der Jugend, Europäische Kommission, 2022.
(23) OECD, Governance for Youth, Trust and Intergenerational Justice — Fit for all generations? Highlights, 2020.
(24) Jugendforum der Europäischen Union, The EU Youth Test: Investing Now in the Union’s Future und EU youth test.
(25) ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 27.
(26) Instrumentarium für eine bessere Rechtsetzung — KMU-Test.
(27) EWSA-Stellungnahmen „Europäisches Jahr der Jugend 2022“ (SOC/706) (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 122) und „Eine neue EU-Strategie für junge Menschen“ (SOC/589) (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 142).
(28) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 44.
(29) Derzeit wird eine Studie des EWSA zur strukturierten Einbeziehung junger Menschen erstellt: Erfassung lokaler, nationaler, europäischer und internationaler bewährter Verfahren zur Entwicklung der erforderlichen und geeigneten Mechanismen, um sicherzustellen, dass die Stimmen junger Menschen Gehör finden.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/53 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag der Technologien zur CO2-Entfernung zur Dekarbonisierung der europäischen Industrie“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/08)
Berichterstatter: |
Andrés BARCELÓ DELGADO |
Ko-Berichterstatterin: |
Monika SITÁROVÁ |
Beschluss des Plenums |
18.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständiges Arbeitsorgan |
Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) |
Annahme in der CCMI |
24.6.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
229/0/7 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt seine ausdrückliche Unterstützung für die im Grünen Deal eingegangenen Verpflichtungen, die Stärkung der strategischen Autonomie bei der Energieversorgung sowie die Führungsrolle der Industrie. |
1.2. |
Die Auswirkungen des anhaltenden Krieges in der Ukraine auf die Verfügbarkeit von Energie und Rohstoffen dürfen nicht ignoriert werden, und die Lage muss mithilfe des Europäischen Semesters überwacht werden. |
1.3. |
Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie kann nur gelingen, wenn als Grundlage ein guter Mix aus erneuerbarer Energie in ausreichender Menge für die Elektrifizierung und für die Erzeugung von grünem Wasserstoff zur Verfügung steht. Technologien zur CO2-Entfernung (Carbon Dioxide Removal — CDR), zur CO2-Abscheidung und -Speicherung (Carbon Capture and Storage — CCS) sowie zur CO2-Abscheidung und -Nutzung (Carbon Capture and Use — CCU) werden der Industrie dabei helfen, Klimaneutralität zu erreichen. Der europaweite Einsatz erneuerbarer Energien ist notwendig, um die Ziele des Grünen Deals zu erreichen. |
1.4. |
Die Dekarbonisierung wird (in den vor uns liegenden 30 Jahren) einen tiefgreifenden Wandel der industriellen Abläufe erfordern. Obwohl es bereits viele CO2-arme Technologien gibt, ist ihr Technologie-Reifegrad (TRL (1)) niedrig. Es werden ehrgeizige Technologiefahrpläne erforderlich sein, um diese bahnbrechenden Technologien auszubauen und in großem Umfang einzusetzen, und die EU muss die Innovation durch die Klima- und Innovationsfonds fördern. |
1.5. |
Die Entwicklung von Technologien sowie die Ausbildung und Umschulung der Arbeitskräfte sind daher für den grünen Wandel in der verarbeitenden Industrie unverzichtbar. Durch den sozialen Dialog auf europäischer, einzelstaatlicher und regionaler Ebene sollten das Bewusstsein, die Akzeptanz und die Unterstützung für eine grüne und gerechte Umstellung der Industrie gefördert werden. Für einen effektiven industriellen Wandel, bei dem niemand zurückgelassen wird, sind Kompetenzaufbau und Projekte zur Auslotung von Schlüsselkompetenzen wesentlich. |
1.6. |
Die verstärkte Nutzung alternativer Rohstoffe — insbesondere nachhaltiger Biomasse — kann zu einer dauerhaften Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre beitragen. Dazu müsste die nachhaltige Bewirtschaftung der (land- und forstwirtschaftlichen) Produktionsflächen und die Nutzung von Biomasse in langlebigen Produkten, durch die das CO2 gebunden und somit länger der Atmosphäre entzogen bleibt, vorangetrieben werden. Dies würde zudem dazu beitragen, die Abhängigkeit der EU von importierten Rohstoffen und Ressourcen zu verringern. |
1.7. |
Der EWSA ist der Ansicht, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gesichert werden muss. Die EU ist zwar ein Vorreiter bei der Verringerung der CO2-Emissionen, doch müssen andere Akteure beim Klimaschutz mitziehen. Da die Klimakrise ein globales Problem ist, muss die Europäische Union ihre diplomatischen Anstrengungen verstärken, um Drittländer davon zu überzeugen, mehr gegen diese Krise zu unternehmen. Die EU hat sich freilich hohe politische Ziel gesetzt. Dennoch dürfte sie immer mehr zu einem Vorreiter der Dekarbonisierung in der Industrie werden, da diese politischen Rückhalt hat und sowohl die Unternehmen als auch ihre Arbeitnehmer über praktisches Wissen hinsichtlich der industriellen Machbarkeit verfügen. Außerdem stehen die erforderlichen Technologien sowie Fähigkeiten zur Antizipierung des Wandels bereit, sodass entsprechende praktische Maßnahmen ergriffen werden können. |
1.8. |
Wohlstand, gute Arbeitsplätze und ein klimapolitisches Engagement in der europäischen Gesellschaft kann es nur dann geben, wenn eine tragfähige industrielle Basis in der EU erhalten bleibt. Um ihre Wettbewerbsposition abzusichern, muss die europäische Industrie in Europa investieren, und zwar sowohl in Forschung, Entwicklung und Innovation als auch in Anlagen und Ausrüstungen. Dazu braucht sie einen angemessenen Rechtsrahmen. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1. |
Mit dem Europäischen Klimagesetz wurde ein ehrgeiziges Emissionsreduktionsziel für 2030 festgelegt und das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 bekräftigt. Um das Ziel der Europäischen Union zu erreichen, müssen alle Vorgänge, bei denen Treibhausgase (THG) entstehen, analysiert werden, und es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um bis ca. 2050 klimaneutral zu werden. |
2.2. |
Das verarbeitende Gewerbe verursacht 20 % (2) der Emissionen in Europa. Die CO2-intensiven verarbeitenden Industriezweige in Europa sind Eisen und Stahl, Zement, Chemie und Petrochemie, Zellstoff und Papier, Düngemittel, Glas, Keramik, Ölraffinerien und Nichteisenmetalle (hauptsächlich Aluminium). Zu den von der Industrie emittierten Treibhausgasen zählen Kohlendioxid (CO2) aus dem Energieverbrauch, aus der nichtenergetischen Nutzung fossiler Brennstoffe und aus nicht-fossilen Quellen sowie andere Gase neben CO2. |
2.3. |
Die Umstellung auf eine grüne Wirtschaft in der verarbeitenden Industrie ist entscheidend für die Einhaltung des Europäischen Klimagesetzes. Der Übergang wird mit einem technologischen Wandel einhergehen, der wiederum Veränderungen bei den Arbeitsmethoden sowie bei den in der Industrie gefragten Fähigkeiten und Kompetenzen nach sich ziehen wird. Allerdings werden auch nachfrageseitige Maßnahmen erforderlich sein, um der Einführung CO2-armer Produkte und neuer Geschäftsmodelle (Industriesymbiose, Kreislaufwirtschaft, Lastteuerung) den Weg zu bahnen. |
3. Verarbeitende Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität
3.1. |
Im Mittelpunkt dieser Initiativstellungnahme stehen die Industriesektoren, die unter das Emissionshandelssystem fallen. Energieversorgung, Verkehr und Gebäude werden an dieser Stelle nicht behandelt. |
3.2. |
Neben der Dekarbonisierung besteht eine unbedingt anzugehende Herausforderung darin, die Energieeffizienz der einzelnen Industriesektoren zu verbessern. Auch wenn die Dekarbonisierung der europäischen Industrie nicht ausreichen wird, kann die Energieeffizienz dazu beitragen, die Emissionen aus dem Energieverbrauch erheblich zu senken. Es wird eine Verlagerung von fossilen Brennstoffen zu Technologien geben, die keine Treibhausgase emittieren, also vor allem zu erneuerbaren Energien. Versorgungsunternehmen und Behörden haben eine Rechenschaftspflicht in Bezug auf die Energiewende von fossilen Brennstoffen zu emissionsfreien Technologien. |
3.3. |
Mit Blick auf die Dekarbonisierung lassen sich die Industriezweige wie folgt einteilen:
|
3.4. |
Die hocheffiziente industrielle Kopplung von Kraft und Wärme (KWK (3)) wird sicherlich zur Verbesserung der Energieeffizienz beitragen, doch ist sie kein Allheilmittel für die Dekarbonisierung der Industrie. Eine Alternative wäre die Nutzung oberflächennaher Wärme aus der Industrie in Fernwärmenetzen; sie böte eine weitere Möglichkeit, die Energieeffizienz insgesamt zu steigern und könnte während des Übergangs zur vollständigen Dekarbonisierung eingerechnet werden. |
3.5. |
CDR-Technologien entziehen der Atmosphäre bereits ausgestoßenes CO2 und führen dadurch zu „negativen“ Emissionen. CCS-Technologien wie Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (Bio-Energy with Carbon Capture and Storage — BECCS) und die direkte Abscheidung und Speicherung aus der Luft (Direct Air Carbon Capture and Storage — DACCS) sind wichtige Elemente im Arsenal der Negativemissionstechnologien. Diese Technologien bieten zwar ein Klimaschutzpotenzial, befinden sich derzeit aber erst im Erprobungsstadium. Auch die Förderung natürlicher CO2-Senken durch Aufforstung und Wiederaufforstung sind CDR-Maßnahmen, gehen jedoch über den Rahmen dieser Stellungnahme hinaus. |
Mit Blick auf die Zukunft der CDR-Technologien im verarbeitenden Gewerbe wird es vor allem darum gehen, ein Gleichgewicht zu finden, bei dem die CO2-Abscheidung und -Speicherung neben anderen Technologien zur CO2-Verringerung und -Entfernung als Klimaschutzoption eingesetzt wird. Die Verringerung und der Abbau von Treibhausgasen muss den Vorgaben des Übereinkommens von Paris und des europäischen Klimagesetzes folgen. CCS könnte die EU in die Lage versetzen, beim Abbau von Treibhausgasen mit dem notwendigen Tempo voranzukommen. Langfristig sollte eine Speicherung von CO2 allerdings vermieden werden.
3.6. |
Wasserstoff, der mithilfe erneuerbarer Energien erzeugt wird (grüner Wasserstoff), scheint sich branchenübergreifend als Lösung für die Dekarbonisierung anzubieten. Beispielsweise wird in einem Projekt in Schweden versucht, die Treibhausgasemissionen der Stahlproduktion mithilfe von erneuerbarem Wasserstoff zu beseitigen. In Finnland soll mit einem Projekt herausgefunden werden, wie blauer und später grüner Wasserstoff gewonnen und CO2 abgeschieden und dauerhaft in der Ostsee gespeichert werden kann. |
4. Die verarbeitende Industrie auf dem Weg zur Dekarbonisierung
4.1. |
Das Hauptaugenmerk soll den europäischen Industriebranchen mit großem Verbesserungspotenzial und großen Auswirkungen auf die Verringerung der europäischen CO2-Emissionen gelten. Im verarbeitenden Gewerbe liegt der Schwerpunkt auf Branchen, in denen sich die Dekarbonisierung schwieriger gestaltet. In dieser Stellungnahme geht es vor allem um folgende Branchen: Stahl, Zement, Chemie und Petrochemie, Ölraffinerien, Zellstoff und Papier, Düngemittel, Glas und Keramik. |
4.2. |
Bevor wir uns Technologien zuwenden, die sich auf die Verringerung und den Abbau von CO2-Emissionen auswirken könnten, müssen wir die Abkehr von fossilen Energieträgern und die Umstellung auf andere emissionsfreie Energiequellen und alternative erneuerbare Quellen ins Auge fassen. Als solche Quellen kommen bspw. Windkraft, Photovoltaik, thermosolare Energie, Wasserkraft, geothermische Energie, Biomasse und Biokraftstoffe in Frage. |
4.3. |
Einige Branchen müssten ihre Prozesse auf bereits vorhandene bzw. neue Technologien umstellen, um treibhausgasneutral zu werden, sodass eine klimaneutrale Gesellschaft aufgebaut werden kann. Je nach Branche und ihrem derzeitigen THG-Ausstoß kann diese Umstellung in einem oder mehreren Schritten bewerkstelligt werden. |
4.4. |
Dieser erste Schritt könnte u. U. „nur“ darin bestehen, die Produktions- oder Beschaffungsverfahren der Prozesse zu verändern. In vielen anderen Fällen dürfte weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeit notwendig sein, um bspw. derzeitige Erdgasbrenner auf Wasserstoff umzustellen oder Wärmepumpen einzusetzen. Darüber hinaus muss auch das Zusammenspiel zwischen Wasserstoff und den Materialien bzw. Produkten berücksichtigt werden. |
4.5. |
Stahlindustrie:
Die Herausforderungen für die traditionelle Stahlindustrie (integrierte Route, die eine Eisenerzreduktion erfordert) haben bereits zur Einführung verschiedener neuer Technologien geführt. Momentan geht es vor allem darum, Hochöfen durch Elektrolichtbogenöfen zu ersetzen, die mit direkt reduziertem Eisen (Direct Reduced Iron — DRI) gespeist werden, das mit grünem Wasserstoff hergestellt wird. Andere bereits untersuchte Alternativen stützen sich auf CCS-Technologien, verfehlen aber das Treibhausgasreduktionsziel. Durch die Elektrolyse von Eisenerz könnte der CO2-Ausstoß gegenüber der derzeitigen integrierten Route um bis zu 87 % gesenkt werden (sofern die Stromversorgung vollständig dekarbonisiert ist). Mit der Wasserstoffplasmareduktion wurde ursprünglich CO2-Neutralität angestrebt. So könnte beim Einsatz von Wasserstoff in der Stahlerzeugung bis zu 95 % weniger CO2 ausgestoßen werden als bei der derzeitigen integrierten Route (sofern dabei vollständig dekarbonisierter Strom genutzt wird). Aufgrund der Energieverluste bei der Wasserstofferzeugung würde dadurch jedoch der Energieverbrauch der Branche erhöht. Bei der Stahlerzeugung in Elektrolichtbogenöfen fallen nur 14 % der Treibhausgasemissionen an, die bei der integrierten Route entstehen. Hier besteht die wichtigste Herausforderung darin, Erdgas in den Walzöfen durch grünen Wasserstoff oder Induktionsstrom zu ersetzen. Würde CCU (unter Verwendung der Hochofenabgase) im vollen Umfang eingesetzt, könnten die Emissionen um bis zu 65 % gesenkt werden (die CO2-Reduktion hängt auch vom gesamten Lebenszyklus der hergestellten chemischen Produkte ab). Einige dieser Verfahren befinden sich in einem weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. So wird etwa in der Steelanol-Pilotanlage (TRL 9, derzeit im Bau) Abgas zur Herstellung von Bioethanol verwendet. Im Rahmen des Projekts Carbon2Chem (TRL 7-8) soll Abgas als Rohstoff für Chemikalien verwendet werden. |
4.6. |
Zementindustrie:
Lediglich 37 % der Emissionen der Zementindustrie sind auf den Brennstoffeinsatz zurückzuführen. Die restlichen 63 % stammen aus der chemischen Reaktion des Rohstoffs (Prozessemissionen). Die Verwendung von Brennstoffen aus erneuerbaren Quellen (Biomasse oder Wasserstoff) wird daher die Emissivität um maximal 35 % verringern. Derzeit werden Technologien erprobt, die in der Zukunft die Abscheidung und das Management oder die Speicherung von CO2 ermöglichen könnten (Aminwäsche und Kalzium-Looping-Verfahren). Eine weitere Möglichkeit zur Emissionsminderung ist die Entwicklung sogenannter klinkerarmer Zemente, deren derzeitiger Technologie-Reifegrad bei 5-7 liegt. Solche Zemente weisen eine um bis zu 30 % geringere Emissivität auf als reine Portlandzemente. |
4.7. |
Chemische Industrie:
In der chemischen Industrie dient die Elektrifizierung von Produktionsprozessen wie die Elektrifizierung von Dampfspaltern dazu, die CO2-Emissionen pro Anlage um 90 % zu senken. Die Chemieindustrie leistet einen wichtigen Beitrag zu nachhaltigen Kohlenstoffkreisläufen. Chemische Erzeugnisse sind ein massiver Kohlenstoffspeicher, in dem Kohlenstoff 10 bis 40 Jahre lang gebunden werden kann. Heute ist die Menge des in chemischen Produkten gebundenen Kohlenstoffs mit den Gesamtemissionen der Industrie für die Herstellung dieser Produkte vergleichbar. Auch wenn der Großteil dieses Kohlenstoffs in die Atmosphäre gelangt, wenn die Produkte am Ende ihrer Lebensdauer verbrannt werden, ist die Ausarbeitung einer ehrgeizigen Kreislaufwirtschaftsstrategie eine Voraussetzung für die Schaffung nachhaltiger und klimaresilienter Kohlenstoffkreisläufe, da der Kohlenstoff dadurch im Kreislauf gehalten wird. Die Chemieindustrie kann zur Emissionssenkung in anderen Sektoren beitragen, indem sie Kohlenstoff aufnimmt und in Produkten speichert. |
4.8. |
Zellstoff- und Papierindustrie:
In der Zellstoff- und Papierindustrie dürften eine Kombination aus Prozessverbesserungen, u. a. die Umstellung auf Industrie 4.0, sowie Investitionen in modernste Produktionstechnologien bis 2050 eine Verringerung des CO2-Ausstoßes um 7 Mio. Tonnen ermöglichen. Dank ihrer standortinternen KWK-Anlagen kann sich die Industrie auf dem Energiemarkt engagieren und dazu die Überschüsse aus den fluktuierenden erneuerbaren Energieträgern einsetzen. Damit sind Dekarbonisierungsvorteile von bis zu 2 Mio. Tonnen möglich. Die weitere Umstellung von Industrieanlagen auf CO2-arme oder sogar CO2-freie Energiequellen dürfte zu einer Emissionseinsparung von etwa 8 Mio. Tonnen CO2 führen. Neben einigen der bahnbrechenden Konzepte, die im Rahmen des Projekts „Two Team“ (4) herausgearbeitet wurden, wie z. B. die derzeit in Entwicklung befindliche „Deep Eutectic Solvents“-Technologie, könnten andere innovative und disruptive Lösungen mit etwa 5 Mio. Tonnen CO2 zur Emissionsminderung beitragen. |
4.9. |
Ölraffinerien:
Ölraffinerien können auf zweierlei Weise zur Energie- und Klimawende der europäischen Wirtschaft beitragen: i) durch eine erhebliche Verringerung des CO2-Fußabdrucks ihrer Herstellungsverfahren und ii) durch die schrittweise Ersetzung von Brennstoffen und anderen Produkten fossilen Ursprungs durch Brennstoffe und andere Produkte auf der Grundlage von biogenem oder recyceltem CO2. Die schrittweise Ersetzung fossiler Energieträger durch Bioenergie in Verbindung mit CCU- und CCS-Technologien wird sogar zu negativen Treibhausgasemissionen führen. Die Netto-Treibhausgasemissionen, die bei der Verwendung von Brennstoffen und anderen Raffinerieerzeugnissen entstehen, können durch die schrittweise Umstellung des Rohstoffs von Rohöl auf nachhaltige Biomasse und recyceltes CO2 drastisch gesenkt werden. Die so gewonnenen Kraftstoffe verursachen bei der Verbrennung keine oder eine nur sehr geringe Netto-CO2-Abgabe in die Atmosphäre und helfen dadurch, den Verkehr, und insbesondere die schwer elektrifizierbaren Verkehrsträger zu dekarbonisieren. Investitionen und neue Projekte in diesen Bereichen sind im Gange. So wurden beispielsweise drei der rund 80 großen Raffinerien in der EU in Bioraffinerien umgewandelt, in denen vollständig von Rohöl auf nachhaltige Biomasse umgestellt wurde (5). Diese klimafreundliche Übergangsstrategie erfordert gegenüber anderen Lösungen einen geringeren finanziellen Einsatz, denn die Raffinerien und die Logistiksysteme für den Vertrieb der Produkte können weitgehend angepasst und neu genutzt werden. |
4.10. |
Düngemittel:
In der Düngemittelindustrie werden derzeit Möglichkeiten geprüft, den Rohstoff Erdgas durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. EU-weit wird an einer Reihe von Pilotprojekten (6) gearbeitet, und sobald grüner Wasserstoff bereitsteht und die Kostenfrage geregelt ist, wird die Industrie vollständig dekarbonisiert werden können. |
4.11. |
Zusammenfassend hat die verarbeitende Industrie ein Potenzial zur Dekarbonisierung, das durch eine verbesserte Energieeffizienz, optimierte Prozesse und die Umstellung auf erneuerbare Energieträger ausgeschöpft werden könnte. Um die angestrebte CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen, muss in Forschung, Entwicklung und Innovation investiert werden. CCS- und CCUS-Technologien sind auch für die verarbeitenden Industriezweige wie die Zementindustrie und dort, wo Biomasse als Energiequelle dient, von Bedeutung. |
5. Fähigkeiten und Kompetenzen in der künftigen verarbeitenden Industrie
5.1. |
Neue industrielle Verfahren werden zweifellos auch neue Arbeitsweisen mit sich bringen. Industrie und Arbeitnehmer müssen ihre Arbeitsmethoden anpassen, wobei der Schwerpunktdarauf liegen muss, die CO2-Emissionen von den ersten Etappen der Herstellungsverfahren an zu verringern. |
5.2. |
Der grüne Wandel in der verarbeitenden Industrie wird die Produktion in vielerlei Hinsicht verändern; neue Produktionstechnologien werden in vollem Umfang Einzug halten und die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden. Neue Kompetenzen, Weiterbildung und Umschulung werden gefragt sein, um einen gerechten Übergang zu gewährleisten, bei dem niemand zurückgelassen wird. Besonders gilt es, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU, KMU, Sozialunternehmen und regionale Fachleute zu ermuntern, die unvermeidlichen Veränderungen in ihrem Lebensumfeld aktiv mitzugestalten. |
5.3. |
Die EU muss sicherstellen, dass das Wissen über neue Technologien und deren Umsetzung in den derzeitigen Branchen die Arbeitnehmer in der Industrie erreicht. Behörden und Unternehmen müssen sich im Rahmen des sozialen Dialogs darum bemühen, bereits vorhandene Kompetenzen zu nutzen und die Dekarbonisierungsziele zu erreichen. |
5.4. |
Der umfassende Einsatz grünen Wasserstoffs in der Industrie wird für viele Branchen ein entscheidender Schritt sein. Darüber hinaus wird die Umsetzung der CDR-Technologien jedoch auch die Fähigkeiten und Kompetenzen in der verarbeitenden Industrie sowie in großem Maße in der Lieferkette beeinflussen. |
6. Maßnahmen und Rahmenbedingungen der EU
6.1. |
Der EU-Rechtsrahmen und die nationalen Vorschriften müssen zur Dekarbonisierung der Industrie beitragen. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Möglichkeiten und/oder Ressourcen für Investitionen in diese Umstellung je nach Mitgliedstaat und Region in Europa sehr unterschiedlich ausfallen werden. |
6.2. |
Der Fonds für einen gerechten Übergang, mit dem Regionen, die in hohem Maße von CO2-intensiven Industriezweigen abhängig sind, unterstützt werden sollen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sein Anwendungsbereich mit der Beschränkung auf Regionen, die stark von Steinkohle, Braunkohle, Torf, Ölschiefer und CO2-intensiven Industriezweigen abhängig sind, ist jedoch zu eng gefasst. Der EWSA schlägt wie das Europäische Parlament vor, den Haushalt des Fonds für einen gerechten Übergang drastisch aufzustocken, um Unterstützung für weitere Branchen bereitzustellen, die von den Auswirkungen der Dekarbonisierung der Industrie betroffen sein werden. Zusätzliche Mittel sollten gezielt für den nahtlosen Arbeitsplatzwechsel, die Schaffung alternativer guter Arbeitsplätze in denselben Regionen und eine angemessene Schulung, Umschulung und Weiterqualifizierung der Arbeitnehmer abgestellt werden. |
6.3. |
Der grüne Wandel in der Industrie kann nur gelingen, wenn CO2-neutrale Energie und Rohstoffe in großer Menge sowie zu erschwinglichen, stabilen und wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen. In Europa müssen erhebliche Investitionen, auch in die Energieinfrastruktur, getätigt werden, um den Bedarf der Industrie an großen Mengen erneuerbarer Energie zu decken. |
6.4. |
Der EU-Rechtsrahmen muss so gestaltet sein, dass die EU-Wirtschaft das Ziel der Netto-Klimaneutralität bis 2050 erreichen kann. Dazu müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, um die enormen — finanziellen, technischen und intellektuellen — Ressourcen zu mobilisieren, die notwendig sind, damit zeitnah Investitionen in CO2-arme Technologien (wie bspw. Technologien zur CO2-Entfernung) getätigt werden können. |
6.5. |
Es bedarf regulärer Anreize, um die CO2-Abscheidung in der verarbeitenden Industrie zu fördern. Dies kann entweder auf europäischer Ebene über den Innovationsfonds oder in den einzelnen Mitgliedstaaten geschehen. Dabei darf allerdings der Binnenmarkt als Eckpfeiler der EU nicht gefährdet werden. Zusätzliche EU-Initiativen werden erforderlich sein, um private Investitionen anzuziehen und zu mobilisieren. |
6.6. |
Auf europäischer Ebene müssen strategische Bündnisse aufgebaut werden, um die Entwicklung dieser Branche zu beschleunigen, damit die EU eine diesbezügliche Führungsrolle übernehmen kann. Die derzeitigen Vorschriften für staatliche Beihilfen könnten angepasst werden, um dies zu ermöglichen. |
6.7. |
Besondere Aufmerksamkeit muss den FuE-Tätigkeiten gewidmet werden, wobei ein entsprechender Dialog auf europäischer Ebene stattfinden sollte. Der Innovationsfonds muss das bevorzugte Instrument für die Kanalisierung dieser Tätigkeiten sein. |
6.8. |
Strategien zur Vergabe öffentlicher Aufträge sollten genutzt werden, um die Märkte für umweltfreundliche Produkte zu fördern, auf denen die Hersteller die Treibhausgasemissionen gegenüber „braunen“ Produkten senken. |
6.9. |
Angesichts des festgestellten Rückstands bei der Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und des Zeitdrucks sollten zentrale Leistungsindikatoren in die Berichterstattung des Europäischen Semesters und in die länderspezifischen Empfehlungen aufgenommen werden, um die erforderliche Dekarbonisierung der Industrie zu erreichen. |
6.10. |
In der strategischen Vorausschau sollten in regelmäßigen Abständen Fortschritte, besonders aussichtsreiche Szenarien bzw. Optionen sowie Schwachpunkte bei den Bestrebungen zur Erreichung der Klimaziele geprüft werden. Dies ist umso wichtiger, als dadurch Leitlinien für dringende und risikoreiche Investitionen, aber auch für eine angemessene vertikale und horizontale Bündelung der Ressourcen vorgeben werden können. |
6.11. |
Es mehren sich die Warnzeichen für ungleiche Wettbewerbsbedingungen und das Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittländer, was die Umstellung auf eine CO2-freie Wirtschaft behindert. Dies unterstreicht erneut, wie wichtig es ist, den Check-up der Wettbewerbsfähigkeit als Instrument zur Risikofilterung und -orientierung einzuführen. |
6.12. |
Es gibt eine klar messbare Verteilung der Emissionskonzentrationen nach Mitgliedstaaten, Mitgliedstaat pro Kopf, Wirtschaftssektoren und Regionen. Die Zeit drängt, und deshalb sollte Maßnahmen Vorrang gegeben werden, die die schnellsten und größten Fortschritte bei der Dekarbonisierung versprechen. Schwerpunktmäßig muss demnach bei der Metallurgie, mineralischen Stoffe, der Chemie und der Produktion erneuerbarer Kraft- und Brennstoffe angesetzt werden.
Je nach Unternehmensgröße lassen sich Unterschiede in Bezug auf die Fähigkeit zur Entwicklung von Innovationen in der Frühphase sowie in Bezug auf die Bereitschaft zu deren Nutzung und Vermarktung feststellen: Große Unternehmensgruppen sind bei der Innovationsfähigkeit im Vorteil, während KMU bei der Nutzung und Vermarktung vorteilhafter aufgestellt sind. Daher sollte sowohl der branchenübergreifende als auch der vertikale Wissenstransfer durch die Schaffung eines günstigen Unternehmensumfelds gefördert und erleichtert werden. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) TRL: Technologie-Reifegrade sind unterschiedliche Punkte einer Skala zur Messung des Fortschritts oder Reifegrads einer Technologie.
(2) Europäische Umweltagentur.
(3) KWK: Kraft-Wärme-Kopplung.
(4) https://www.cepi.org/two-team-project-report/
(5) Bioraffinerien in Gela und Venedig (eni.com) sowie in La Mède (TotalEnergies.com).
(6) Fertiberia hat die Düngemittelanlage „Impact Zero“ in Puertollano (Spanien) in Betrieb genommen.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/59 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Energiewende und Digitalisierung in ländlichen Gebieten“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/09)
Berichterstatter: |
John COMER |
Ko-Berichterstatter: |
Luís MIRA |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt |
Annahme in der Fachgruppe |
30.6.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
173/1/2 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass eine kombinierte Strategie für die Energiewende und die Digitalisierung in ländlichen Gebieten nicht das erwartbare Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten hat. Der EWSA fordert die rasche Umsetzung der von der Kommission verfolgten langfristigen Vision für die ländlichen Gebiete der EU und die Mobilisierung der Interessenträger im Rahmen des EU-Pakts für den ländlichen Raum. Den vulnerabelsten ländlichen Gebieten ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, damit niemand zurückgelassen wird. Dabei muss der Schwerpunkt auf Fragen der Armut bzw. der Energiearmut im ländlichen Raum gelegt werden. |
1.2. |
Der EWSA ist davon überzeugt, dass der künftige Erfolg Europas weitgehend von einer im Vergleich zu den städtischen Gebieten ausgewogenen Behandlung der ländlichen Gebiete abhängen wird. Ländliche Gemeinden dürfen nicht benachteiligt werden, wenn es um die Digitalisierung und Optionen für die Energienutzung geht, etwa was die notwendige Nutzung von Privatfahrzeugen aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel angeht. |
1.3. |
Die Rolle der lokalen Gemeinschaften muss gestärkt werden, um eine gerechte Energiewende in Verbindung mit der kommunalen Entwicklung zu erreichen, und zwar durch den Auf- und Ausbau von Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und Bürgerenergiegemeinschaften, in denen Bürger, lokale Behörden und KMU freiwillig zusammenarbeiten, um soziale und wirtschaftliche Vorteile zu schaffen. |
1.4. |
Der EWSA fordert, die folgenden politischen Maßnahmen und Instrumente zu verstärken:
|
1.5. |
Der EWSA fordert die Kommission auf, zusammen mit dem Gesetz über digitale Märkte und dem Gesetz über digitale Dienste ein Digital Rural Act (Digitalisierungsgesetz für den ländlichen Raum) als dritte Komponente der Digitalstrategie der EU vorzuschlagen. Die Digitalisierung wird neue Möglichkeiten (insbesondere für junge Menschen) eröffnen, was die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen und es den Menschen im ländlichen Raum ermöglichen könnte, von zu Hause aus oder in „Work-Hubs“ zu arbeiten. |
1.6. |
Der EWSA betont, dass schnelles Internet flächendeckend — auch in dünn besiedelten Regionen — sichergestellt werden muss, damit die Aufbau- und Resilienzpläne der EU oder der Mitgliedstaaten vom Beitrag der ländlichen Gebiete voll und ganz profitieren können. Der EWSA fordert die Regierungen auf, entweder die Voraussetzungen für private Unternehmen zur Erbringung dieser Dienstleistung zu schaffen oder dazu ein staatliches Unternehmen zu nutzen. |
1.7. |
Der EWSA vertritt die Ansicht, dass Behörden und Dienstleister benutzerfreundliche Anwendungen entwickeln müssen, die an die Lebenswirklichkeit im ländlichen Raum besonders angepasst sind. Die Anwendung entsprechender Technologien wird z. B. den CO2-Fußabdruck der Landwirtschaft (Präzisionslandwirtschaft) verringern und dazu beitragen, die Zugänglichkeit abgelegener Gebiete (Drohnen) zu verbessern. Der öffentliche Sektor muss einspringen, wenn der private Sektor diese Lösungen nicht anbietet. |
1.8. |
Der EWSA unterstreicht, dass die Menschen im ländlichen Raum unabhängig von ihrem Alter Möglichkeiten für eine angemessene Aus- und Weiterbildung erhalten müssen, um die neue Digitaltechnik nutzen zu können. Durch Inklusion muss in benachteiligten Gebieten auch der Zugang zu den erforderlichen Geräten ermöglicht werden — entweder durch die gemeinsame Nutzung dieser Geräte oder durch staatliche Zuschüsse für ihren Kauf. |
1.9. |
Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Einsatz digitaler Technologien in ländlichen Gebieten notwendig ist, um die Energiewende zu unterstützen. Das Energiesystem im ländlichen Raum muss dezentralisiert werden. Das impliziert einen enormen Bedarf an stärkerer und besserer Vernetzung, was wiederum den Einsatz digitaler Technologien erforderlich macht, um Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen und effiziente Energieflüsse zu gewährleisten. Die digitalen Anwendungen müssen in ländlichen Gebieten aufgrund der geringeren Nutzungsrate und der geringeren Bevölkerungsdichte hochgradig energieeffizient sein. Eine IT-Konnektivität mit geringem Energieverbrauch ist eine absolute Notwendigkeit für ländliche Gebiete. |
1.10. |
Da 30 % der EU-Bevölkerung in ländlichen Gebieten leben, erachtet der EWSA eine gerechte Energiewende in diesen Regionen als Kernelement des gerechten Übergangs zu einer klimaneutralen, nachhaltigen und wohlhabenden EU im Einklang mit der Territorialen Agenda 2030. |
1.11. |
Der Kommission zufolge sollten Mittel in Höhe von 20 % des Aufbauinstruments NextGenerationEU in die Digitalisierung investiert werden. Der EWSA empfiehlt, dass alle Mitgliedstaaten mindestens 10 % dieser Mittel für die Digitalisierung im ländlichen Raum aufwenden, was jedoch ohne unnötigen Verwaltungsaufwand erfolgen sollte. |
2. Die Energiewende in ländlichen Gebieten
Einleitung
2.1. |
Auf wissenschaftlicher Ebene besteht weitgehend Einvernehmen darüber, dass der Mensch am wahrscheinlichsten über die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe Einfluss auf den globalen Klimawandel nimmt. |
2.2. |
Klimaforscher Michael Mann erklärt in seinem Buch „Propagandaschlacht ums Klima“ (The New Climate War), dass die Erderwärmung unseren Planeten nun in die Gefahrenzone gebracht hat und wir trotzdem noch nicht die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die größte globale Krise unserer Geschichte abzuwenden. |
2.3. |
Durch den Anstieg der Meeresspiegel ist der Klimawandel an manchen Orten bereits zur realen Gefahr geworden. Venedig und Miami stehen diesbezüglich vor großen Herausforderungen. Im Amazonasgebiet kam es zu massiven Rodungen, und der Klimawandel verursacht Dürren. Anlass zu großer Sorge gibt auch die Tatsache, dass die arktische Eiskappe schneller als erwartet abschmilzt. |
2.4. |
Nun müssen alle Akteure weltweit tätig werden und unverzüglich Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an seine Folgen ergreifen, um damit die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die rasche Reduzierung des Einsatzes fossiler Brennstoffe muss eine unmittelbare Priorität sein. |
Ländliche Gebiete
2.5. |
130 Millionen bzw. 30 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger leben in ländlichen Gebieten. Die ländlichen Gebiete sind von einer großen Vielfalt geprägt und stark von ihrer geografischen Lage beeinflusst. In vielen Gebieten insbesondere in Südeuropa wird der Klimawandel Probleme wie Wasserknappheit, Überschwemmungen und Waldbrände mit immer höherer Intensität und Häufigkeit weiter verschärfen. In Nordeuropa können und werden zunehmende Regenfälle und Stürme zu erheblichen und mit hohen Kosten verbundenen Infrastrukturschäden führen. Der Temperaturanstieg wird den Wasserkreislauf verstärken und die Häufigkeit schwerer Stürme erhöhen. Vor diesem Hintergrund müssen Energiewende und Digitalisierung schnellstmöglich Realität werden. |
2.6. |
Der Energiewende im ländlichen Raum wurde noch nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die eigentlich zu erwarten wäre. Dies überrascht, sind doch die für die Erzeugung erneuerbarer Energien benötigten Ressourcen in hohem Maße mit ländlichen Gebieten verknüpft. Der größte Teil der Infrastruktur für erneuerbare Energien wie Windkraft-, Solar- und Biogasanlagen befindet sich im ländlichen Raum. Auch die Übertragungs- und Leitungsnetze sind ein sichtbares Merkmal der ländlichen Landschaft. Viele Bewohner des ländlichen Raums sind der Ansicht, dass diese Strukturen aufgezwungen werden und dass sie städtischen Gebieten einen größeren Nutzen bringen. |
2.7. |
Die ländlichen Gebiete haben je nach Lage vielfältige und unterschiedliche Bedürfnisse. Sie lassen sich wie folgt einteilen:
|
2.8. |
Diese verschiedenen ländlichen Gebiete sind bei der Umsetzung der Energiewende mit vielen unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, weshalb ein gerechter Übergang ein wichtiger Faktor für das Erreichen des angestrebten Ziels ist. |
2.9. |
Viele ländliche Gebiete sind geografisch isoliert, wirtschaftlich kaum diversifiziert und nur spärlich besiedelt. Das niedrige Einkommensniveau und eine alternde Bevölkerung erhöhen die Fragilität ländlicher Gemeinschaften zusätzlich. Bei auf dem Land allein lebenden Menschen, die nur wenige soziale Kontakte haben, gestaltet sich die Umsetzung der Energiewende besonders schwierig. Die Energiearmut ist ein erhebliches Problem in ländlichen Gebieten. |
2.10. |
Die Einführung intelligenter Zähler ist ein wesentlicher Teil der Energiewende im ländlichen Raum. Bislang schreitet die Einführung solcher intelligenten Zähler auf dem Land offenbar nur langsam voran. Es gilt sicherzustellen, dass auch einkommensschwache Haushalte und Menschen mit geringen Computerkenntnissen den größtmöglichen Nutzen aus intelligenten Zählern ziehen können, denn dies ist Teil einer gerechten Energiewende, bei der niemand zurückgelassen wird. Im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität werden 25 Mrd. EUR für die Förderung von Qualifizierung und Bildung im Digitalbereich bereitgestellt. Die Mitgliedstaaten sollten einen angemessenen Anteil dieser Mittel für Maßnahmen einsetzen, durch die Menschen im ländlichen Raum digitale Kompetenzen erwerben können. In bestimmten Gebieten Europas gibt es keine Internetverbindung: Dieser Mangel ist nicht hinnehmbar und muss so schnell wie möglich behoben werden. |
2.11. |
Der EWSA hat in seiner Stellungnahme „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (1) betont, dass die Maßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung und ländliche Entwicklung und die Maßnahmen in den Bereichen Klimawandel und biologische Vielfalt ineinandergreifen müssen. Die Multifunktionalität der Landwirtschaft ist ebenso wichtig wie die Förderung nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeiten (z. B. Unternehmensgründungen im Bereich der sauberen Energie), um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Auch das Potenzial des elektronischen Handels muss ausgelotet werden. |
2.12. |
Die Mitteilung „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ (2) umfasst einen Pakt für den ländlichen Raum, der darauf abzielt, den territorialen Zusammenhalt zu fördern und durch neue Chancen innovative Unternehmen anzuziehen. Die Umsetzung dieser Vision würde eine gerechte Energiewende in ländlichen Gebieten erheblich erleichtern. Der EWSA hat diesen Ansatz in seiner Stellungnahme „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ begrüßt (3). |
Verkehr
2.13. |
Die Gewährleistung von Verkehrsdiensten im ländlichen Raum ist ein zentrales Problem, das mit dem geringen Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, der geringen Bevölkerungsdichte und der großen Entfernung zu Geschäften und Dienstleistungen zusammenhängt. Darüber hinaus müssen im ländlichen Raum wohnende Pendler häufig große Entfernungen zu ihrem in der Stadt gelegenen Arbeitsplatz zurücklegen. |
2.14. |
Dafür muss auf lokaler und nationaler Ebene ein multimodales Verkehrssystem für den Übergang zu erneuerbarer Energie geplant werden. Ein solches Verkehrssystem muss verschiedene Angebote und Alternativen für die Personenbeförderung und den Güterverkehr bieten. |
2.15. |
Dem Güterverkehr in ländlichen Gebieten muss im Hinblick auf die Energiewende besonderes Augenmerk gewidmet werden. So muss zum Beispiel die Belieferung von Agrarbetrieben mit Gütern und die Abholung landwirtschaftlicher Erzeugnisse von diesen Betrieben ein wichtiger Bestandteil der Planung für die Energiewende sein. Das angestrebte Ziel müssen dabei Lastkraftwagen mit Elektroantrieb oder wasserstoffbetriebene Lkw sein. Kurzfristige Lösungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen liegen auch in nachhaltigen Biokraftstoffen und Hybridfahrzeugen. |
2.16. |
Online-Bestellungen haben im ländlichen Raum besonders zugenommen, weshalb unbedingt die Treibhausgasemissionen von Lieferwagen gesenkt werden müssen. Der Einsatz von Elektrolieferwagen könnte hier Abhilfe schaffen, sobald eine ausreichende Ladeinfrastruktur vorhanden ist. Zudem sollte der Kauf von Elektrolieferwagen durch die Logistikunternehmen finanziert werden. Als unmittelbare Priorität sollten Maßnahmen eingeleitet werden, um die Emissionen in jeder möglichen Weise zu senken. |
2.17. |
Vorrang haben muss dabei ein besseres Verkehrsangebot im ländlichen Raum mit weniger Treibhausgasemissionen und mit sozialer Inklusion, das Entwicklungschancen in ländlichen Gebieten schafft. Der öffentliche Verkehr im ländlichen Raum sollte im Zusammenhang mit der Energiewende als öffentliches Gut betrachtet werden. Mithin müssen öffentliche Mittel bereitgestellt werden, um einen nachhaltigen öffentlichen Verkehr zu fördern und zu erleichtern. |
2.18. |
Privat-Pkw gelten als unverzichtbare Verkehrsmittel im ländlichen Raum, da ein Leben auf dem Lande ohne Auto nicht praktikabel ist. Dabei müssen jedoch die Menschen in ländlichen Gebieten unterstützt und veranlasst werden, ihre privaten Autos im Rahmen des Möglichen weniger zu nutzen und möglichst bald auf emissionsarme Fahrzeuge umzusteigen. Zuschüsse zum Kauf von Elektrofahrzeugen müssen ein zentrales Ziel der Energiewende in ländlichen Gebieten sein. |
2.19. |
Batteriespeicher sind ein wirksames Mittel zur Abflachung der Nettonachfragekurve für Strom aus erneuerbaren Energiequellen. In dieser Hinsicht wäre eine breite Nutzung von Elektrofahrzeugen zweckdienlich. Wenn Elektrofahrzeuge Strom wieder ins Netz einspeisen können, kann die Elektroflotte zusätzlich zu anderen Formen ebenfalls als Batteriespeicher dienen. Wie in der EWSA-Stellungnahme „Verordnung über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe“ (4) dargelegt wird, muss es für die Verbraucher finanziell attraktiv sein, Strom von Elektrofahrzeugen wieder ins Netz einzuspeisen. |
Tourismus
2.20. |
Ländliche Gebiete sind oft auf den Tourismus als wichtige Erwerbsquelle angewiesen. Deshalb brauchen ländliche Gebiete eine ausreichende Infrastruktur für alternative Kraftstoffe, um die Tourismuswirtschaft fördern und gleichzeitig die Treibhausgasemissionen senken zu können. Mietwagenunternehmen müssen veranlasst werden, auf emissionsarme Fahrzeuge und vorzugsweise Elektroautos umzusteigen. Die Energiewende im ländlichen Raum erfordert Maßnahmen für höhere Einnahmen aus dem Tourismus. |
Strom aus erneuerbaren Quellen
2.21. |
Strom aus erneuerbaren Quellen wie Wind- und Solarenergie oder Biogas ist ein wichtiges Element im ländlichen Raum. Die Harmonisierung der Rechtsvorschriften zwischen den Mitgliedstaaten muss dazu dienen, die Interessen der Prosumenten zu fördern und zu schützen und Investitionen in Infrastrukturen für erneuerbare Energien zu mobilisieren. In sämtlichen Mitgliedstaaten muss es ermöglicht werden, die erzeugte Energie an das nationale Netz zu verkaufen. Es bedarf angemessener Ausgleichsregelungen zwischen der von Prosumenten erzeugten erneuerbaren Energie und der verbrauchten Energie zur Gewährleistung der Energieunabhängigkeit der ländlichen Gebiete. |
2.22. |
In jüngster Zeit gibt es immer mehr Auktionen für die zentrale Beschaffung von Strom aus erneuerbaren Quellen, durch die in vielen Fällen die Kosten für den Bau von Windkraft- und Solarstromanlagen gesenkt werden konnten. Im Allgemeinen zielt der Ausbau des Stromsektors auf dem Land in erster Linie auf die Dekarbonisierung der Energiebranche ab, wobei es keine Synergien mit den Zielen der Entwicklung des ländlichen Raums gibt. Die Bewohner ländlicher Gebiete lehnen entsprechende Projekte häufig ab, da sie sich kaum einen Nutzen für die lokale Gemeinschaft versprechen. |
2.23. |
Daher müssen bei der Vereinbarung von Standorten für Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen sowohl auf dem Festland als auch vor der Küste lokale Akteure wie Genossenschaften und andere vor Ort angesiedelte Organisationen einbezogen werden. Die lokalen Gemeinschaften müssen Anteile an den Anlagen besitzen und einen Nutzen für ihren Ort aus den Anlagen ziehen. |
2.24. |
Bei Großprojekten zielt der Ausbau erneuerbarer Energien in erster Linie auf die Dekarbonisierung des Energiesektors ab; die Entwicklung des ländlichen Raums wird weitgehend vernachlässigt. Kleine Windparks, Solar- und Biogasanlagen, die von Genossenschaften und der örtlichen Bevölkerung betrieben werden, können besser auf die Entwicklung des ländlichen Raums ausgerichtet werden und tragen zur sozialen und wirtschaftlichen Inklusion der ländlichen Gemeinden bei. Hier gilt es, eine Ausgewogenheit zwischen diesen beiden Systemen zu erreichen. Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften und Bürgerenergiegemeinschaften bieten eine Möglichkeit, eine gerechte Energiewende in Verbindung mit der kommunalen Entwicklung zu erreichen. |
2.25. |
In einer Fallstudie in einem ländlichen Gebiet in Schweden (Ejdemo und Söderholm, 2015) wurde festgestellt, dass bei fehlenden Programmen mit Anreizen für die Kommunen kaum Beschäftigungschancen im Rahmen der Entwicklung des ländlichen Raums entstanden. |
2.26. |
Eine Bürgerenergiegemeinschaft ist eine juristische Person, in der sich Bürger, KMU und lokale Gebietskörperschaften als Endnutzer zusammenschließen, um bei der Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Gemeinde Feldheim (ein kleines Dorf südwestlich von Berlin), das inzwischen energieautark ist. Die Einwohner haben in der Nähe Windkraftanlagen errichtet und ein unabhängiges Netz installiert. Ortsansässige zahlen Niedrigpreise für Strom. Durch die Errichtung einer Biogasanlage konnte das Dorf ein Fernwärmenetz aufbauen. Dies ist ein hervorragendes Beispiel für eine funktionierende Gemeinschaft im Bereich der erneuerbaren Energien. Dieses Beispiel zeigt auch, dass ein von unten nach oben gerichteter Ansatz für die Zukunft ländlicher Gebiete von entscheidender Bedeutung ist (5). |
2.27. |
Durch Laststeuerung wird der Stromverbrauch auf Zeiträume verlagert, in denen das System die Nachfrage decken kann. Mit zunehmender Ökostromerzeugung müssen wir die Nettonachfragekurve für Strom in Spitzenlastzeiten abflachen, um Ausfälle zu vermeiden. Die Nutzung von Batterie- und Hydrospeichern sowie intelligenter Elektrifizierung wird eine flexible Abflachung der Nettonachfragekurve ermöglichen. |
2.28. |
Die für Energie zuständige Kommissarin Kadri Simson erklärte in Dublin vor Abgeordneten des irischen Parlaments, dass der Krieg in der Ukraine Brüssel dazu gezwungen habe, entschiedener eine schnellere Beendigung russischer Öl- und Gasimporte anzustreben. Man müsse sich noch über Vorschläge einigen, denen zufolge 45 % des Energieverbrauchs der EU bis 2030 durch erneuerbare Energieträger gedeckt werden sollen. Dies sei eine Erhöhung gegenüber dem derzeitigen Ziel von 32 % und mehr als eine Verdoppelung der 22 % von 2020. Der EWSA befürwortet dieses neue Ziel, gibt jedoch zu bedenken, dass es nur erreicht werden kann, wenn die Energiewende in ländlichen Gebieten mit neuen und umfangreicheren Investitionen rasch vorangetrieben wird. |
2.29. |
Der Wind weht ja nicht immer; deshalb bedarf es einer Reserve: Grüner Wasserstoff kann als Reserve zur Deckung des variierenden Strombedarfs dienen und bis zum Bedarfsfall gespeichert werden. |
Landwirtschaft
2.30. |
Die Landwirtschaft ist für die Entwicklung und den Wohlstand der meisten ländlichen Gebiete von zentraler Bedeutung. Der Agrarsektor der ländlichen Wirtschaft steht bei der Energiewende vor enormen Herausforderungen. |
2.31. |
Bislang gab es keine größeren Anstrengungen, um den CO2-Fußabdruck von Landmaschinen zu verringern. |
2.32. |
In naher Zukunft besteht die beste Möglichkeit zur Verringerung der Emissionen offenbar im Einsatz nachhaltiger Biokraftstoffe, was die Weiterverwendung der existierenden Maschinen ermöglichen würde, wenn diese entsprechend umgerüstet werden. |
2.33. |
Nachhaltige Biokraftstoffe lassen sich nicht kostengünstig erzeugen und sind manchmal doppelt so teuer wie Diesel. Die Preise könnten jedoch mit der Zeit leicht sinken. |
2.34. |
Mit der größeren Verfügbarkeit von Landmaschinen mit Elektroantrieb können künftig die Emissionen erheblich gesenkt werden. |
2.35. |
Landwirtschaft wirft keine großen Gewinne ab, weshalb die Kapitalkosten für den Umstieg auf Maschinen mit Elektroantrieb nur äußerst schwierig zu finanzieren sind. Eines der Grundprobleme bei der Energiewende in ländlichen Gebieten liegt daher in der Lösung der Finanzierungsfrage für den Umstieg auf Maschinen mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb. |
2.36. |
Durch den Einsatz von Solarpaneelen auf landwirtschaftlichen Gebäuden könnten Landwirte Ökostrom erzeugen und nutzen, denn die Landwirtschaft ist ja ein stromintensiver Sektor. Dies wäre ein erheblicher Gewinn bei der Energiewende. Etwaige Stromüberschüsse könnten ins Netz eingespeist und verkauft werden. |
2.37. |
Präzisionslandwirtschaft ist ein datengestützter agrarwirtschaftlicher Ansatz, der die Produktion und Erträge verbessern und den CO2-Fußabdruck der Landwirtschaft verringern kann. Ermöglicht wird dies durch Fortschritte bei der Digitaltechnik mit Fernerkundungs-, GPS- und satellitengesteuerten Führungssystemen für Traktoren. Alle diese Aspekte werden für die Energiewende in der Landwirtschaft von Bedeutung sein — in Verbindung mit den notwendigen Investitionen und Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. |
2.38. |
Landwirte können unter Umständen überschüssigen Strom an das Netz zu verkaufen, denn Milch- und Viehbauern verfügen über großflächige Dächer auf ihren Betriebsgebäuden. Einige Landwirte können sich als Partner an der Errichtung von Biomasseanlagen und dem Verkauf von Gas an das Gasnetz beteiligen. Die Verwendung forstwirtschaftlicher Reststoffe in Biomasseanlagen ist ein wichtiger Beitrag zur besseren Waldbewirtschaftung in den Gebieten, in denen solche Reststoffe verfügbar sind. |
2.39. |
Aufgrund der Folgen des Ukraine-Kriegs müssen wir uns erneut mit der Ernährungssicherheit in der EU befassen. Flächen müssen vorrangig zur Nahrungsmittelerzeugung genutzt werden. Dabei sollte es nicht zum Wettbewerb mit der Errichtung von Solarpaneelen im industriellen Maßstab und der Produktion von Biomasse für erneuerbare Energien kommen. Vielmehr sollten diese Nutzungsweisen komplementär sein. |
Biomethan
2.40. |
Biomethan ist ein Biogas, aus dem Kohlendioxid, Schwefelwasserstoff und Wasser abgeschieden wurden und das direkt in das Gasleitungsnetz eingespeist oder in gasbetriebenen Fahrzeugen verwendet werden kann. |
2.41. |
Die entsprechenden Biogasanlagen müssen in der Nähe geeigneter Güllequellen installiert werden. Überschüsse aus Gras- und Maissilagen können ebenfalls verwendet werden, sofern dies nicht zum Nachteil der Nahrungs- oder Futtermittelerzeugung ist. |
2.42. |
Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um die Wirksamkeit der Biogasanlagen zu verbessern und die Kosten des Prozesses zu senken. |
2.43. |
Der Einsatz von Biogasanlagen muss im Rahmen der Energiewende in ländlichen Gebieten gefördert und finanziert werden. |
2.44. |
Energie aus Biomasse kann zur Erzeugung von Wärme oder Strom genutzt werden. Biomasse wird bei der Produktion von Strom aus erneuerbaren Quellen eine entscheidende Rolle spielen. |
Wohngebäude in ländlichen Gebieten
2.45. |
In vielen ländlichen Haushalten können Kleinstanlagen zur Energieerzeugung installiert werden, wie zum Beispiel Solarpaneele und kleine Windturbinen, wobei etwaige Stromüberschüsse in das Netz eingespeist werden können. |
2.46. |
Einkommensschwache Haushalte benötigen finanzielle Unterstützung für die Installation solcher Kleinstanlagen. Dies würde erheblich zur Energiewende in ländlichen Haushalten beitragen. |
2.47. |
Im ländlichen Gebieten sind Häuser in der Regel weniger gut isoliert und weniger energieeffizient als in städtischen Gebieten. Vielfach handelt es sich um Einzelhäuser an der Witterung ausgesetzten Orten. |
2.48. |
Im Rahmen der Energiewende ist ein umfangreiches Investitionsprogramm zur Sanierung von Wohngebäuden im ländlichen Raum erforderlich, um ihre Wärmedämmung und Energieeffizienz zu verbessern. Derartige Investitionen bedeuten einen wichtigen Schritt hin zur Senkung des Energieverbrauchs und zur Dekarbonisierung der Wohnraumbeheizung im ländlichen Raum. Eine Zuschussregelung wird erforderlich sein, da die Kapitalkosten für ein umfangreiches Sanierungsprogramm sehr hoch sind. Einkommensschwache Haushalte und Personen, die von Energiearmut betroffen sind, werden für eine solche Sanierung besondere Hilfe benötigen. |
3. Digitalisierung im ländlichen Raum
3.1. |
Die Europäische Kommission hat im Jahr 2021 ihre Vision für den digitalen Wandel in Europa bis 2030 vorgestellt. In diesem Zusammenhang betonte sie zunächst, dass die Legislativvorschläge für das Gesetz über digitale Märkte und das Gesetz über digitale Dienste notwendig sind, um einen sichereren digitalen Raum zu gewährleisten, in dem die Grundrechte der Nutzer geschützt sind, sowie um gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Unternehmen in der digitalen Welt zu schaffen. |
3.2. |
Um eine wachsende Weltbevölkerung mit möglichst geringen Umweltauswirkungen und unter Förderung der CO2-Neutralität ernähren zu können, braucht der ländliche Raum digitale und technische Infrastrukturen, die eine effiziente und zielgenaue Nutzung der Ressourcen in der Landwirtschaft ermöglichen. Obwohl 30 % der europäischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten lebt und diese 80 % des Territoriums der 27 Mitgliedstaaten ausmachen, steht die Digitalisierung im ländlichen Raum vor großen Schwierigkeiten, die die Digitalisierungsziele der EU infrage stellen könnten, wenn sie nicht angegangen werden. Mit dem europäischen Rechtsrahmen für den Digital Rural Act soll diesen Schwierigkeiten begegnet werden, indem Folgendes gefördert wird:
|
3.3. |
Der Digital Rural Act als Legislativinstrument der Europäischen Kommission bietet zusammen mit dem Gesetz über digitale Märkte und dem Gesetz über digitale Dienste ein Regelwerk mit Rechten, Pflichten und Zuständigkeiten, mit dem sichergestellt werden soll, dass die ländlichen Gebiete in Europa Zugang zu Initiativen, Instrumenten und digitaler Versorgung erhalten, die aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte für private Investitionen wirtschaftlich uninteressant sind. Auf diese Weise wird der Digital Rural Act den digitalen Wandel in den ländlichen Gebieten gewährleisten, in denen der Bedarf in keinem Verhältnis zu der Rendite steht. |
3.4. |
Und schließlich wird dieses Gesetz auch ein wichtiger Wegbereiter für den europäischen Grünen Deal und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sowie die CO2-Neutralität Europas bis 2050 sein. Der Übergang zu einem fairen, gesunden und umweltschonenden Lebensmittelsystem wird nur möglich sein, wenn entsprechende Technologien und digitale Instrumente zur Verfügung stehen und der ländliche Raum und die Landwirtschaft dazu Zugang haben. |
3.5. |
Wie in der EWSA-Stellungnahme „Weiterentwicklung einer inklusiven, sicheren und zuverlässigen Digitalisierung für alle“ (6) betont wird, darf die Bedeutung der Digitalisierung nicht unterschätzt werden, da sie „eine stärkere Arbeitsmarktmobilität, die Produktivität und Flexibilität am Arbeitsplatz sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im Fall von Telearbeit wie während der COVID-19-Pandemie fördern“ kann. Dazu bedarf es umfassender digitaler Kompetenzen, unabhängig davon, ob die Arbeitnehmer in städtischen oder ländlichen Gebieten leben. In abgelegenen Gebieten gibt es jedoch zusätzliche komplexe Hürden. Daher fordert der EWSA eine spezifische Agenda für digitale Kompetenzen, um die in ländlichen Gebieten lebenden europäischen Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen. Dieser Ansatz sollte im Mittelpunkt des Digital Rural Act stehen und gleichzeitig dazu beitragen, die digitale Kluft zu überbrücken und die Vorteile des digitalen Wandels der Gesellschaft zu nutzen. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) EWSA-Stellungnahme „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 49).
(2) COM(2021) 345 final.
(3) EWSA-Stellungnahme „Eine langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU“ (ABl. C 290, vom 29.7.2022, S. 137).
(4) EWSA-Stellungnahme „Verordnung über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe“ (ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 138).
(5) ERP-Workshop-Bericht (Workshop 21).
(6) EWSA-Stellungnahme „Weiterentwicklung einer inklusiven, sicheren und zuverlässigen Digitalisierung für alle“ (ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 11).
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/67 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Öffentliche Investitionen in Energieinfrastruktur als Teil der Lösung der Klimaproblematik“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/10)
Berichterstatter: |
Thomas KATTNIG |
Ko-Berichterstatter: |
Lutz RIBBE |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
7.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
22.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
162/7/8 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die Konsequenzen der Klimakrise treffen Europa und die Welt massiv. Obwohl die verfügbaren Möglichkeiten zur effektiven Anpassung an den Klimawandel in den letzten Jahren zugenommen haben, weisen Fachleute auf eine nicht ausreichende Mobilisierung von Finanzmitteln, ein zu geringes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und dem Privatsektor sowie das Fehlen von politischer Führung hin. |
1.2. |
Um den steigenden Bedarf an Strom zu decken und zur Einhaltung der Klimaziele braucht es eine Verdoppelung der Investitionen in das Stromnetz auf 55 Mrd. Euro jährlich und eine Erhöhung der Gelder für die Errichtung von sauberen Erzeugungskapazitäten auf 75 Mrd. Euro pro Jahr (1). Vor diesem Hintergrund kommen öffentlichen Investitionen in intelligente und erneuerbare Energiesysteme sowie Speicherinfrastruktur mit Blick auf die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, die Bekämpfung von Energiearmut, leistbare Preise und die Schaffung von Arbeitsplätzen eine große Bedeutung zu. |
1.3. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Kommissionsvorschläge für eine Beschleunigung und Straffung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und die Festlegung von sogenannten „Zielgebieten“ für solche Projekte. Hier liegt ein wesentliches Potenzial für eine schnellere Energiewende. Umso wichtiger ist es, dass möglichst konkret festgelegt wird, welche Vereinfachungen in den sogenannten „go to-Areas“ gelten. |
1.4. |
Das europäische Energierecht erkennt Klimaschutz nicht als Ziel der Netzregulierung an. In der Folge haben es auch nationale Regulierungsbehörden schwer, Anreize für einen Umbau, einen Ausbau und eine Modernisierung der Stromverteilnetze zu setzen, die den Anforderungen der Klimaneutralität gerecht werden. |
1.5. |
Im Hinblick auf die künftige Gestaltung von Energiesystemen und -infrastrukturen hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher — Privathaushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften — aktiv an der Entwicklung intelligenter Energiesysteme beteiligt und Anreize gesetzt werden müssen, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann, aber auch damit sie zur Finanzierung beitragen. |
1.6. |
Der Anteil der öffentlichen Investitionen in Technologien für saubere Energie, die für die Dekarbonisierung erforderlich sind, ist in der EU im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften am niedrigsten, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefährdet wird. Seit Beginn der Liberalisierung ist die Investitionsentwicklung der Elektrizitätsunternehmen rückläufig. Dieser Rückgang an Investitionen führte zu Engpässen in der Versorgung und hemmt den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Der EWSA unterstützt daher den Vorschlag der Kommission die Konjunkturprogramme und die Fazilität für Konjunkturbelebung und Krisenbewältigung sowie zusätzliches Geld aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Topf für die EU-Agrarpolitik für die Umsetzung des REPowerEU-Plans zu nutzen. |
1.7. |
Das Design und die Regulierung des Marktes müssen an die neuen Realitäten der zukünftig vorherrschenden erneuerbaren Energien (inkl. dezentralere Produktion und verstärkter Vor-Ort-Verbrauch) angepasst werden, die notwendigen Bedingungen für die einzelnen Akteure schaffen und einen angemessenen Verbraucherschutz sicherstellen. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Optionen zur Optimierung des Strommarktdesigns zu prüfen, und spricht sich nachdrücklich für Marktbewertungen aus, mit denen das Verhalten aller potenziellen Akteure auf dem Energiemarkt und das Energiemarktdesign analysiert werden. In jedem Fall unterstreicht der EWSA die Bedeutung einer umfassenden Folgenabschätzung im Vorfeld jeglicher Vorschläge. |
1.8. |
Der EWSA empfiehlt zum wiederholten Male, bei öffentlichen Investitionen die „goldene Regel“ anzuwenden, um die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen. |
1.9. |
Mischfinanzierungen unter Einbeziehung privater Investorinnen und Investoren sind nur dann eine Option, wenn sichergestellt ist, dass die Vergabe transparent erfolgt und der öffentlichen Hand dadurch im Vergleich zu einer öffentlichen Finanzierung keine ungerechtfertigten Zusatzkosten entstehen. Bei gerechtfertigten Zusatzkosten muss vollständige Transparenz herrschen. Umso wichtiger ist es, dass bei derartigen Mischfinanzierungsmodellen Rechte und Pflichten klar definiert, Haftungsfragen geklärt und ein effizientes und schnelles System zur Konfliktlösung vorgesehen werden, um langfristige Zusatzkosten und ungünstige Haftungsfragen zu vermeiden. |
1.10. |
Der EWSA unterstreicht, dass der gerechte Übergang nicht nur eine Frage der Finanzierung ist. Er umfasst auch das Ziel, menschenwürdige Arbeit und hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen. |
1.11. |
Der EWSA ist überzeugt, dass die Definition des Ausbaus der Netze als überragendes öffentliches Interesse, die Aufnahme von Klimaschutz als Regulierungsziel und allgemein eine bessere Synchronität bei der Planung von erneuerbaren Energien und dem Stromnetz besonders zu beachten sind. Hier bedarf es unbedingt konkreter europararechtlicher Vorgaben. |
1.12. |
Die Entwicklungen der letzten Dekade, die Herausforderungen des Netzausbaus, der massive Preisanstieg bei Energie, die Gefahr von Cyber-Angriffen und nicht zuletzt der Ukraine-Krieg zeigen deutlich auf, worum es im Kern geht: nämlich um die Frage, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen, wie das Energienetz in Zukunft stehen werden. Es gibt also primär ein öffentliches Interesse. Das würde folgerichtig ein öffentliches Eigentum bedingen, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und bestehende Ungleichheiten beseitigt. |
1.13. |
Die Frage der Vor- und Nachteile von öffentlichem und privatem Eigentum und/oder privater Finanzierung von Energieinfrastruktur für einen gut funktionierenden Energiemarkt ist zweifellos wichtig und sollte bei der von der Kommission geplanten Bewertung der Optionen zur Optimierung des Energiemarktdesigns geprüft werden. Die Ergebnisse einer derartigen Analyse können als wertvolles Entscheidungsinstrument für die Mitgliedstaaten dienen, die für Entscheidungen über das öffentliche oder private Eigentum an Energieinfrastrukturen zuständig sind. Nach Ansicht des EWSA ist Elektrizität nicht nur ein wichtiges strategisches Gut für die gesamte EU-Wirtschaft, sondern auch ein öffentliches Gut. Der EWSA fordert die Europäische Kommission daher auf, die Auswirkungen des gesamten Privatisierungs- und Liberalisierungsprozesses des europäischen Energiesektors auf dessen Stabilität, die Versorgungssicherheit und das Funktionieren des Strommarkts eingehend zu analysieren und die Ergebnisse dieser Untersuchung in die Neugestaltung des gesamten Energiesektors einfließen zu lassen, einschließlich der Optionen zur Stärkung der Zuständigkeiten des nationalen und des öffentlichen Sektors. |
2. Hintergrund
2.1. |
Die Konsequenzen der Klimakrise treffen schon jetzt Milliarden von Menschen weltweit, aber auch Ökosysteme, wie die letzten Berichte des Weltklimarates (IPCC) deutlich machen. Und dies, obwohl der Temperaturanstieg noch nicht das in Paris gesetzte Ziel von 1,5 Grad erreicht hat. Besonders problematisch: Jene Systeme und Gruppen, die am härtesten von Hitze, Dürre, Überflutung, Krankheiten, Wasser- und Nahrungsmangel betroffen sein werden, haben oft die wenigsten Ressourcen, um damit umzugehen. |
2.2. |
Die verfügbaren Möglichkeiten zur effektiven Anpassung an den Klimawandel haben in den letzten Jahren zugenommen. Allerdings sind die umgesetzten und geplanten Maßnahmen in vielen Teilen Europas nicht zufriedenstellend. Fachleute weisen auf eine nicht ausreichende Mobilisierung von Finanzmitteln, ein zu geringes Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und dem Privatsektor sowie auf das Fehlen von politischer Führung hin. |
2.3. |
Der Umstand, dass in Europa aktuell — aufgrund des Ukraine-Krieges — schnell große Geldmengen für militärische Zwecke zur Verfügung gestellt werden, legt die Befürchtung nahe, dass damit finanzielle Mittel gebunden werden und Verzögerungen beim Klimaschutz die Folge sein können. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission im REPowerEU-Plan (2) angekündigten Maßnahmen und Instrumente, mit denen die Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen, insbesondere aus Russland, verringert werden soll, indem Energiesparmaßnahmen ergriffen, die Umstellung auf erneuerbare Energie beschleunigt, die Diversifizierung der Lieferanten vorangetrieben und die Kräfte gebündelt werden, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen. |
2.4. |
Für die Einhaltung der Klimaziele muss die Kapazität an erneuerbarer Energie mehr als verdoppelt werden. Schon heute belaufen sich die Kosten für nicht nutz- bzw. transportierbaren Grünstrom, der abgeregelt werden muss, in großen Ländern wie Deutschland auf Beträge von mehreren hundert Millionen Euro jährlich. Dieser volkswirtschaftliche Verlust wird um ein Vielfaches zunehmen, wenn nicht schnell die Stromnetze und Speicherkapazitäten ausgebaut werden und gleichzeitig die Möglichkeiten, den Strom direkt vor Ort zu nutzen, verbessert werden. Es ist wichtig, in der Netzplanung und -regulierung die Entwicklung der Energienetze an das Ziel der Klimaneutralität auszurichten. Dabei spielen die Verteilnetze die entscheidende Rolle; denn hier werden die meisten Erneuerbare-Energie-Anlagen angeschlossen. |
2.5. |
Um diese Anforderungen zu erfüllen, braucht es eine Verdoppelung der Investitionen in das Stromnetz auf 55 Mrd. Euro jährlich und eine Erhöhung der Gelder für die Errichtung von sauberen Erzeugungskapazitäten auf 75 Mrd. Euro pro Jahr (3). Der EWSA unterstreicht in diesem Zusammenhang den zusätzlichen Nutzen der Kommissionsvorschläge für rasche Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energieträger und die Festlegung von sogenannten „Zielgebieten“ für solche Projekte. Der EWSA unterstützt eine Beschleunigung und Straffung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Verteilnetze zu legen, denn hier speisen die Erneuerbaren in aller Regel ein. |
2.6. |
Vor diesem Hintergrund kommt öffentlichen Investitionen in intelligente und erneuerbare Energiesysteme mit Blick auf die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, Bekämpfung von Energiearmut, leistbaren Preisen und Schaffung von Arbeitsplätzen eine große Bedeutung zu. Zweifellos wird die ökologische Transformation im Sinne des europäischen Grünen Deals auf die Beschäftigungssituation in CO2-intensiven Energiesektoren enorme Auswirkungen haben. Gleichzeitig entstehen vielfältige neue Beschäftigungsmöglichkeiten durch eine sinnvolle Ausweitung der öffentlichen Investitionen in klimaneutrale Energiesysteme. Das erfordert entsprechende budgetäre Spielräume durch eine Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens wie der EWSA in seiner Initiativstellungnahme „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang“ vom Oktober 2021 vorgeschlagen hat. |
2.7. |
Das europäische Energierecht erkennt bisher Klimaschutz nicht als Ziel der Netzregulierung an. In der Folge haben es auch nationale Regulierungsbehörden schwer, Anreize für einen Umbau, einen Ausbau und eine Modernisierung der Stromverteilnetze zu setzen, die den Anforderungen der Klimaneutralität gerecht werden. |
2.8. |
Im Hinblick auf die künftige Gestaltung von Energiesystemen und -infrastrukturen hat der EWSA wiederholt betont, dass alle Verbraucher — Privathaushalte, Unternehmen und Energiegemeinschaften — aktiv an der Entwicklung intelligenter Energiesysteme beteiligt werden müssen. Leider hat es hierzu nur Versprechungen, aber keine erkennbaren Initiativen gegeben. Der EWSA fordert endlich Anreize, um Prosumenten, Gemeinschaften für erneuerbare Energien oder Bürgerenergiegemeinschaften zu aktivieren, damit die Zivilgesellschaft an der Energiewende teilhaben kann und die Verbraucher die Möglichkeit haben, sich aktiv am Markt zu beteiligen. Damit kann auch das Problem der immer weiter wachsenden Kosten für die netzengpassbedingte Abregelung von erneuerbaren Energien abgemildert werden. |
2.9. |
Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen. |
2.10. |
Die aktuellen Preissteigerungen belasten die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen. Der EWSA bedauert, dass die politischen Entscheidungsträger in der Vergangenheit seiner Forderung (4) nach einer Verringerung der strategischen Abhängigkeit von unzuverlässigen Dritten keine Taten haben folgen lassen und sich diese Abhängigkeit im Gegenteil noch weiter verstärkt hat. Russland ist der größte Exporteur von Erdöl, Erdgas und Kohle in die EU und viele Atomkraftwerke sind von russischen Brennstäben und Technologien abhängig. Die aktuelle Energiepreiskrise hätte die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen weit weniger hart getroffen, wenn Europa die Einfuhr fossiler Brennstoffe wie versprochen bereits reduziert hätte. Der EWSA begrüßt daher die im REPowerEU-Plan dargelegten Bemühungen, diese Abhängigkeit — insbesondere die von Russland — rasch zu verringern. Der EWSA unterstützt die Bemühungen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten, das Preisproblem im Einklang mit dem in der Mitteilung vom Oktober 2021, der Mitteilung über den Strommarkt (COM(2022) 236 final) sowie dem im vorübergehenden Rahmen für staatliche Beihilfen angebotenen Instrumentarium wirksam anzugehen. |
2.11. |
Vor dem aktuellen Hintergrund macht der EWSA erneut darauf aufmerksam, dass es aber nicht primär um eine Diversifizierung der Abhängigkeiten, sondern möglichst um eine „strategische Energieunabhängigkeit und -autonomie“ gehen muss. Die erneuerbaren Energien und Wasserstoff werden eine treibende Kraft im Dekarbonisierungsprozess sein, und ihre Produktion sollte so weit wie möglich innerhalb der EU angesiedelt sein. |
2.12. |
Als kurz- bis mittelfristiger Ersatz für russisches Erdgas kommt in einigen Regionen — neben erheblichen Energiesparmaßnahmen — derzeit LNG infrage. Auf lange Sicht ist grüner Wasserstoff eine mit den Klimazielen kompatible Option, wenn er in ausreichender Menge und zu einem vernünftigen Preis verfügbar ist. Soweit Europa nicht das volle Volumen der benötigten Gase selbst produzieren kann — was bei LNG offensichtlich der Fall ist, während bei Wasserstoff die Importunabhängigkeit noch gestaltbar ist — sind die richtigen Lehren aus der russischen Katastrophe zu ziehen. Der EWSA mahnt, dass Europa bei Ressourcen als Ersatz für russisches Gas im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Umwelt und neue Abhängigkeiten von nicht die europäischen Werte wie Demokratiefestigkeit, Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit teilenden Drittländern besondere Vorsicht walten lassen muss. |
2.13. |
Der Anteil der öffentlichen Investitionen in Technologien für saubere Energie, die für die Dekarbonisierung erforderlich sind, ist in der EU im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften am niedrigsten, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der EU gefährdet wird. Zusätzlich warnt der Europäische Rechnungshof, dass durch die Strategie „REPowerEU“ nicht genug Geld mobilisiert werden könnte. Der EWSA unterstützt daher den Vorschlag der Kommission die Konjunkturprogramme und die Fazilität für Konjunkturbelebung und Krisenbewältigung sowie zusätzliches Geld aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Topf für die EU-Agrarpolitik für die Umsetzung des REPowerEU-Plans zu nutzen. |
2.14. |
Die Auswirkungen des Ukraine-Krieges werden in einigen EU-Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene als endgültiger Anstoß für mehr Energieunabhängigkeit und Klimaneutralität gesehen. Das begrüßt der EWSA. Es zeigt sich jedoch ein gemischtes Bild: Ein vermehrter Einsatz von Flüssiggas und die Rückkehr zu Kohle stehen im Raum und könnten zu einem Rückschritt in der Energiewende führen. Der EWSA sieht dies kritisch, ist sich allerdings bewusst, dass kurzfristig vielseitige Energieerzeugungsmöglichkeiten als Notfallmaßnahme zur Energieversorgungssicherheit beitragen. Neben Wind- und Solarenergie sollte daher die Vielzahl von CO2-armen Energiequellen genutzt werden, die in wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht in ein Energiesystem passen. Gleichzeitig fordert er mehr Anstrengungen beim ökologischen Umbau des Energiesystems. |
2.15. |
Der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) veröffentlichte einen Bericht (5), der bestätigt, dass die Liberalisierung des Energiesystems nur wenige Antworten auf die fortschreitende Klimakrise gegeben hat. Die weit verbreitete Nutzung praktikabler Alternativen zu kohlenstoffemittierenden Energiequellen wurde größtenteils mit Hilfe erheblicher öffentlicher Subventionen und nicht durch den freien Wettbewerb des Marktes ermöglicht. Der Bericht zeigt, dass ohne eine Änderung des derzeitigen Modells des Energiesystems in Europa die Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen nicht erfüllt werden können. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Aufgrund des rasch voranschreitenden Klimawandels und der aktuellen Energiekrise sind in kurzer Zeit Investitionen in die Infrastruktur notwendig, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen und die Energieversorgung sicherzustellen. Gleichzeitig sind durch den Anstieg der Energiepreise die Schwächen des Energiemarkts zutage getreten. Es sind grundlegende Fragen über die Energiezukunft zu stellen, die eine umweltfreundliche, erschwingliche und zuverlässige Energieversorgung und das Recht auf Energie gewährleisten. Der EWSA verweist explizit auf die Dringlichkeit öffentlicher Investitionen zur Zielerreichung der Energieunabhängigkeit von russischen Gasimporten und unterstützt die von der Kommission im REPowerEU-Plan diesbezüglich vorgeschlagenen Maßnahmen. |
3.2. |
Dabei muss die Gestaltung des Marktes ebenso berücksichtigt werden wie auch seine Regulierung, die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für einzelne Akteure als auch die Stärkung eines angemessenen Verbraucherschutzes. Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Optionen zur Optimierung des Strommarktdesigns zu prüfen, und nimmt die von der Kommission vorgenommene Analyse der Strom- und Gasmärkte und die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewältigung der hohen Energiepreise sowie die Vorschläge zur Verbesserung der Energienetze und der Speicherkapazitäten sowie abermaligen Versprechungen zur Verbesserung des Marktzugangs für kleine Akteure (Prosumer) und zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit zur Kenntnis. |
3.3. |
Das Design und die Regulierung des Marktes müssen an die neuen Realitäten der zukünftig vorherrschenden erneuerbaren Energien angepasst werden, Stichwort: dezentralere Produktion und verstärkter Vor-Ort-Verbrauch. Dafür müssen aber noch die notwendigen Bedingungen für die einzelnen Akteure geschaffen werden, und ein angemessener Verbraucherschutz ist sicherzustellen. Marktbewertungen, die das Verhalten aller potenziellen Akteure auf dem Energiemarkt und das Energiemarktdesign analysieren, sind notwendig. In jedem Fall unterstreicht der EWSA die Bedeutung einer umfassenden Folgenabschätzung im Vorfeld jeglicher Vorschläge. Der EWSA weist darauf hin, dass die hohen Strompreise, einschließlich der Bündelung von Strom- und Gaspreisen, die sich negativ auf die Wirtschaft der Mitgliedstaaten auswirken, dringend bekämpft werden müssen. |
3.4. |
Die Frage, bis zu welchem Grad und mit welchem Marktdesign Versorgungssicherheit mit marktlichen Mitteln erreicht werden kann, ist lange Zeit zur Seite geschoben worden. Grundsätzlich verspricht ein Energiesystem, das auf (zu wesentlichen Teilen inländisch erzeugten) erneuerbaren Energien basiert, ein hohes Maß an Versorgungssicherheit. Aber diese wird sich nicht von selbst einstellen — die Voraussetzung hierfür ist das richtige regulatorische Setting. Wichtig sind insbesondere intelligente Netze, die klare Signale an die vielen Millionen Erzeuger und Verbraucher aussenden, damit diese sich systemfreundlich verhalten und auf diese Weise zur Versorgungssicherheit beitragen können. |
3.5. |
Im Bereich der Finanzierung von Infrastrukturvorhaben stellten sich in der Vergangenheit für die öffentliche Hand immer wieder strikte Haushaltsregeln als die größte Barriere heraus. Ziel muss es daher sein, Projekte rund um den europäischen Grünen Deal, Energieunabhängigkeit sowie den digitalen Sektor von jeglichen Regelungen auszunehmen, die derartige öffentliche Investitionen verhindern. Daher empfiehlt der EWSA im Einklang mit seiner Stellungnahme zur „Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU“ (6), bei öffentlichen Investitionen die „goldene Regel“ anzuwenden, um die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen. |
3.6. |
Mischfinanzierungen unter Einbeziehung privater Investorinnen und Investoren sind nur dann eine Option, wenn sichergestellt ist, dass die Vergabe transparent erfolgt und der öffentlichen Hand dadurch im Vergleich zu einer öffentlichen Finanzierung keine ungerechtfertigten Zusatzkosten entstehen. Bei gerechtfertigten Zusatzkosten muss vollständige Transparenz herrschen. Ein Bericht der Europäischen Investitionsbank stellt fest, dass beispielsweise PPP-Verträge im Straßenverkehr in Europa im Durchschnitt um 24 % teurer waren als vergleichbare Projekte mit traditioneller Finanzierung (7). Umso wichtiger ist es, dass bei derartigen Mischfinanzierungsmodellen Rechte und Pflichten klar definiert, Haftungsfragen geklärt und ein effizientes und schnelles System zur Konfliktlösung vorgesehen werden, um langfristige Zusatzkosten und ungünstige Haftungsfragen zu vermeiden. |
3.7. |
Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass durch öffentliche Investitionen private Gelder mobilisiert werden können und müssen. Im REPowerEU-Plan wird jedoch nicht auf die Refinanzierung der eingesetzten öffentlichen Mittel eingegangen. Eine Möglichkeit dazu wäre die Abschaffung der Subventionen für fossile Ressourcen, eine andere die Besteuerung von Marktlagengewinnen, die aus der umfassenden Öl- und Gaskrise resultieren und zu extrem hohen Zusatzprofiten vor allem bei großen Ölgesellschaften führen. Der EWSA befürchtet, dass extrem hohe Gewinne bei Energieunternehmen auf der einen Seite und die durch die Energiepreisexplosionen ausgelöste zunehmende Energiearmut auf der anderen Seite ein gefährlicher sozialer Sprengstoff ist. Der EWSA schlägt vor, diese Gewinne mit Hilfe von Steuern abzuschöpfen und als finanziellen Ausgleich an Energieverbraucher, z. B. finanziell schwächere Haushalte oder energieintensive Unternehmen, weiterzugeben sowie für den Ausbau erneuerbarer Energiequellen und der erforderlichen Netzinfrastruktur zu nutzen, was in einigen Mitgliedstaaten bereits diskutiert oder umgesetzt wird. Nach Ansicht des EWSA ist bei der Festlegung einer solchen Besteuerung sehr viel Fingerspitzengefühl erforderlich, damit Energieunternehmen nicht davon abgehalten werden, in CO2-arme Lösungen zu investieren. Er fordert die Kommission auf, unverzüglich entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. |
3.8. |
Sinn und Zweck der Infrastruktur ist zuallererst, dass sie funktioniert und nicht, dass sie Strom von A nach B als Selbstzweck transportiert und damit stetige Renditen abwirft. Die Entwicklungen der letzten Dekade, die Herausforderungen des Netzausbaus, der massive Preisanstieg bei Energie, die Gefahr von Cyber-Angriffen und nicht zuletzt der Ukraine-Krieg zeigen deutlich auf, worum es im Kern geht: nämlich um die Frage, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen, wie das Energienetz in Zukunft stehen werden. Es gibt also primär ein öffentliches Interesse. Das würde folgerichtig ein öffentliches Eigentum bedingen, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und bestehende Ungleichheiten beseitigt. |
3.9. |
Der EWSA unterstreicht, dass der gerechte Übergang nicht nur eine Frage der Finanzierung ist. Er umfasst auch das Ziel, menschenwürdige Arbeit und hochwertige Arbeitsplätze und soziale Sicherheit zu schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhalten, und erfordert besondere Maßnahmen auf allen Ebenen, insbesondere der regionalen. Weitere Schlüsselfaktoren für einen gerechten Übergang sind eine aktive und organisierende Rolle des öffentlichen Sektors und die Gewährleistung einer demokratischen Beteiligung der Sozialpartner auf allen Ebenen. |
3.10. |
Das Energienetz ist Teil der kritischen Infrastrukturen. Ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung dieser Infrastrukturen können verheerende Versorgungsengpässe verursachen und die öffentliche Sicherheit gefährden. Kritische Infrastrukturen wie z. B. Transport und Verkehr, Gesundheitsdienstleistungen, das Finanz- und Sicherheitswesen. um einige Wenige zu nennen, befinden sich in Europa aufgrund der Liberalisierungs- und Privatisierungswelle der letzten Jahrzehnte zunehmend in Hand von privaten Akteuren. Dieser Umstand ist insofern problematisch, als die Sektoren untereinander verbunden sind und die Vulnerabilität eines Sektors die Leistungsfähigkeit der anderen kritischen Infrastrukturen verringert bzw. verhindert (Kaskadeneffekt). Diese gegenseitigen Abhängigkeiten sind einerseits schwer abschätzbar, andererseits ist die Sicherstellung deren Leistungsfähigkeit im Sinne des öffentlichen Gemeinwohls. Speziell bei Disruptionen am Markt oder im Katastrophenfall wird die Bedeutung des Zugriffs von öffentlich koordinierenden Stellen, die die Verfügungsgewalt besitzen, maßgeblich, um eine räumlich koordinierte Resilienz sicherzustellen zu können. Diese Risiken sind im Falle der Elektrizität besonders hoch. Ohne Strom ist das Funktionieren einer modernen Zivilisation im 21. Jahrhundert praktisch undenkbar, und große Stromausfälle würden zum Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft führen. |
3.11. |
Vor dem Hintergrund, dass Gebäude in Europa rund 40 % des Energieverbrauchs verursachen, ist speziell für die Energiewende und die Steigerung der Energieeffizienz im Sektor Wohnen eine smarte Verbindung aus neuen Technologien, umsetzungseffektiven Sanierungen und der Förderung neuer Bürgerbeteiligungsmodelle maßgeblich. Die Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie fördert diese Beteiligung der Verbraucher bei der Produktion von erneuerbarem Strom und bildet eine wesentliche Grundlage für die Akzeptanz dezentraler Energieerzeugung. In diesem Zusammenhang ist eine Harmonisierung für den gesamten europäischen Raum wichtig, damit möglichst viele Haushalte in Europa an der Energiewende teilnehmen können. Konzepte wie Energy Sharing und Bürgerenergie im Allgemeinen eröffnen sinnvolle Perspektiven für die Nutzung von Energienetzen für die kleinräumliche, bedarfsorientierte netzentlastende Versorgung. |
3.12. |
Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt, dass das Ziel in einer größtmöglichen Emissionssenkung zu möglichst niedrigen sozioökonomischen Kosten besteht. Er empfiehlt, mit einem gut regulierten Markt kompatible Instrumente und erforderlichenfalls Regulierungsmaßnahmen miteinander zu kombinieren, einschließlich Finanzinstrumenten mit Unterstützung des mehrjährigen Finanzrahmens und des Aufbauinstruments NextGenerationEU, um zu einem effizienteren Energieumfeld beizutragen. Es muss aber auch klar sein: Dort, wo es auf der Basis einer sorgfältigen Analyse gut begründete Hinweise auf ein existierendes oder drohendes Marktversagen gibt, muss die öffentliche Hand diesem Abhilfe schaffen, z. B. durch Investitionen oder Markteingriffe. |
4. Besondere Bemerkungen
4.1. |
Bei Investitionen in die Energieinfrastruktur geht es darum, Versorgungssicherheit und Ausbau der erneuerbaren Energien rasch, effizient und kostengünstig im Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie der Wirtschaft voranzutreiben. In diesem Zusammenhang geht es um eine ganz entscheidende Frage: nämlich darum, in wessen Verfügungsgewalt so zentrale Infrastrukturen wie das Energienetz und die Speicherinfrastruktur in Zukunft stehen werden. Seit Beginn der Liberalisierung ist die Investitionsentwicklung der Elektrizitätsunternehmen rückläufig. Dieser Rückgang an Investitionen ins Netz und in die Erzeugung führte zu Engpässen in der Versorgung und hemmt den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. |
4.2. |
Betriebswirtschaftlich betrachtet stellt sich die Frage, warum ein Energienetz, das für Investoren eine reizvolle, weil verlässliche Investition darstellt, nicht auch für den Staat attraktiv sein soll. Die jährlich ausgeschütteten Dividenden privater Gesellschaften könnten im Besitz der öffentlichen Hand im Interesse des Gemeinwohls reinvestiert werden und würden öffentliche Haushalte entlasten. Nicht zuletzt da sich bereits bei einigen Teilprivatisierungen in der Vergangenheit herausgestellt hat, dass alleine aus finanziellen Gründen öffentliches Eigentum die klügere Entscheidung gewesen wäre. Eine Reihe von Mitgliedstaaten greift bereits auf öffentliche oder teil-öffentliche Strukturen zurück. Gleichzeitig ist ein Trend zur Re-Kommunalisierung zu verzeichnen. Die Frage der Vor- und Nachteile von öffentlichem und privatem Eigentum und/oder privater Finanzierung von Energieinfrastruktur für einen gut funktionierenden Energiemarkt ist zweifellos wichtig und sollte bei der von der Kommission geplanten Bewertung der Optionen zur Optimierung des Energiemarktdesigns geprüft werden. Die Ergebnisse einer derartigen Analyse können als wertvolles Entscheidungsinstrument für die Mitgliedstaaten dienen, die für Entscheidungen über das öffentliche oder private Eigentum an Energieinfrastrukturen zuständig sind. |
4.3. |
Vor diesem Hintergrund gewinnt die lokale und regionale Energieversorgung und die Re-Kommunalisierung von Versorgungsunternehmen an Bedeutung, insbesondere in Zusammenhang mit Dezentralisierungsstrategien. In diesem Zusammenhang spielen öffentliche Investitionen für die dezentrale Energieerzeugung auf Ebene der Kommunen eine maßgebliche Rolle. Weitere Fördermöglichkeiten wie die direkte Bereitstellung von Finanzmitteln über Fonds sollten geprüft werden. Dächer auf öffentlichen Gebäuden eignen sich besonders gut, um ganze Quartiere mit günstiger Solarenergie zu versorgen. |
4.4. |
In einigen Mitgliedstaaten werden finanzielle Anreize gegeben, um den Photovoltaik-Ausbau zu forcieren. Österreich, Belgien, Litauen, Luxemburg und Spanien fordern in einem Schreiben an die Kommission, dass Verwaltungsgebäude, Supermärkte, Flachdächer und Industrieanlagen unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtend mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden müssen. Auch bei neuen sowie bei sanierten Häusern sollten Photovoltaikanlagen die Norm werden. Sie fordern die Kommission auf, mehr Geld aus dem EU-Budget für den Ausbau zur Verfügung zu stellen. Der EWSA steht dieser Idee positiv gegenüber und fordert die Kommission auf, eine Analyse vorzunehmen, welche Investitionen, Regulierungen und begleitende Maßnahmen wie Forschung und Entwicklung nötig sind, um den Photovoltaik-Ausbau und auch die Produktion in der EU anzukurbeln. |
4.5. |
Energie als gesellschaftliches Gut: Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auf die Umsetzung der gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hin, die im Protokoll Nr. 26 zum EU-Vertrag und zum AEUV, über Dienste von allgemeinem Interesse, niedergelegt sind. Damit könnte für mehr Effizienz und Leistbarkeit gesorgt sowie Marktversagen verhindert werden. |
4.6. |
Die aktuelle Energiekrise verdeutlicht die besondere Bedeutung von Energie als gesellschaftlich relevantes Gut. Neben dem Erhalt von qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen und der Beschäftigung, wird die Verknüpfung sozialer und ökologischer Aspekte transparent. Öffentliches Eigentum kann demokratische Kontrolle, öffentliche Investitionen, Versorgungssicherheit und eine gerechte Kostenverteilung des Umbaus der Energiewirtschaft auf erneuerbare Energieträger sicherstellen. |
4.7. |
Um Falsch- und Fehlinvestitionen zu vermeiden, müssen bestehende Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten über die wesentlichen Strukturen des neuen Energiesystems, über die Marktarchitektur, Marktrollen und Marktregeln ausgeräumt und vor allem die sozialen Auswirkungen auf Beschäftigte und Verbraucherinnen und Verbraucher unverzüglich aufgelöst werden. Dabei spielt eine gerechte Verteilung der Investitionslasten eine zentrale Rolle — gleiches gilt für eine gerechte Verteilung möglicher Gewinne. Die Frage, wie der Investitionsbedarf und die Rentabilität sichergestellt werden können, gehört zu den wichtigen Fragen, die angegangen werden müssen, um langfristig einen optimal funktionierenden Energiemarkt zu gewährleisten. Der EWSA nimmt die diesbezüglichen Schlussfolgerungen der ACER-Studie und der Mitteilung zum Strom- und Gasmarkt zur Kenntnis und begrüßt die Absicht der Kommission, den Strommarkt zu bewerten. |
4.8. |
Ein wichtiger Aspekt im Zuge der Energiewende wird die Koordinierung und Organisation zwischen Importeuren, regionalen Netzbetreibern, Bürgerenergiegesellschaften, Eigenversorgern und Energiegemeinschaften, die ihren Strom vor Ort nutzen, und Speicherunternehmen sowie Lieferanten sein. |
Brüssel, den 22. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) Zu diesem Schluss kommt der Strom-Branchenverband Eurelectric.
(2) REPowerEU-Plan, COM(2022) 230 final.
(3) Zu diesem Schluss kommt der Strom-Branchenverband Eurelectric.
(4) Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).
(5) A Decarbonised, Affordable and Democratic Energy System for Europe.
https://www.epsu.org/sites/default/files/article/files/Going%20Public_EPSU-PSIRU%20Report%202019%20-%20EN.pdf
(6) Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 11).
(7) EIB 2006. „Ex ante construction costs in the European road sector: a comparison of public-private partnerships and traditional public procurement.“ Wirtschafts- und Finanzbericht 2006/01, Blanc-Brude, F., Goldsmith, H., und Välilä, T. https://www.eib.org/attachments/efs/efr_2006_v01_en.pdf
ANHANG
Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:
Ziffer 2.9
Ändern:
Stellungnahme der Fachgruppe |
Änderung |
Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen. |
Der EWSA befürwortet die bessere Anpassung der EU-Vorschriften über die transeuropäischen Energienetze (TEN-E) an die Ziele des Grünen Deals, die insbesondere die Dekarbonisierung des Energiesystems, den Übergang zur Klimaneutralität, die Entwicklung erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz und die Eindämmung des Risikos der Energiearmut einschließt. Da den Energienetzen eine wesentliche Bedeutung bei der Ausgewogenheit, Widerstandsfähigkeit und Entwicklung des Energiesystems zukommt, fordert der EWSA, die Verordnung stärker auf die Integration des Energiesystems auszurichten, um alle Formen dekarbonisierter Energie , einschließlich der Kernenergie, zu fördern, und jedwede Form der Desintegration zu verhindern. Die von Rat und EP aufgegriffene Initiative, neben erneuerbaren Energien auch die Verteilnetze als im „überragenden öffentlichen Interesse liegend“ zu definieren, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen. |
Begründung
In einem breiten Spektrum emissionsarmer Technologien spielt die Stromerzeugung aus Kernenergie eine wichtige Rolle und wird dies auch in Zukunft tun, wie EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihren jüngsten Reden hervorgehoben hat.
Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag:
Ja-Stimmen: |
44 |
Nein-Stimmen: |
109 |
Enthaltungen: |
14 |
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/76 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Beitrag zur Stärkung der partizipativen Demokratie in der EU“
(Initiativstellungnahme)
(2022/C 486/11)
Berichterstatter: |
Krzysztof BALON |
Ko-Berichterstatter: |
Thomas KATTNIG |
Beschluss des Plenums |
20.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 52 Absatz 2 GO |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
7.9.2022 |
Verabschiedung auf der Plenartagung |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
226/0/2 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI) durch Organisationen der Zivilgesellschaft sowie direkt durch Bürgerinnen und Bürger gehört zu den effektivsten Instrumenten zur Belebung der partizipativen Demokratie und damit zur Stärkung der europäischen Integration. Aus diesem Grunde schlägt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Europäischen Union in diesem Bereich vor. Ziel ist dabei die weitere Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger und der ihnen gebotenen Leistungen. |
1.2. |
Insbesondere Krisensituationen, wie neuerdings die russische Aggression gegen die Ukraine und die daraus resultierende Flucht von Millionen von Menschen, meist Frauen und Kinder, verdeutlichen die entscheidende Rolle der Zivilgesellschaft in ihrer sofortigen Leistungsfähigkeit, Modelle und Prozeduren der Ko-Kreation, insbesondere von sozialen und bildungsbezogenen DAI, in Bereichen, wo bereits Erfahrungen mit einer echten Ko-Kreation gemacht wurden, spontan, aber gleichzeitig erfolgreich, miteinander zu verbinden bzw. zu implementieren. |
1.3. |
Historisch betrachtet haben Akteure der Zivilgesellschaft schon seit jeher soziale und andere Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeboten, wenn die öffentliche Hand die Bedürfnisse noch nicht entdeckt hatte oder kommerzielle Unternehmen ihre Erfüllung als nicht rentabel angesehen haben. Meistens trat der Staat dann später als Erbringer oder Auftraggeber sowie Regulierer und auch als Garant der Qualität der Leistungen auf den Plan. In diesem Zusammenhang ist das in Artikel 5 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankerte Subsidiaritätsprinzip zwischen den Mitgliedstaaten und der EU auch auf DAI anzuwenden. Darüber hinaus sollte das Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf DAI auch ein Leitprinzip für die Beziehungen zwischen allen Ebenen der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten sowie zwischen den Behörden und den Organisationen der Zivilgesellschaft sein. |
1.4. |
Während die rechtliche und die politische Verantwortung für die Erbringung von DAI nach wie vor bei den gewählten Mandatarinnen und Mandataren der zuständigen Vertretungskörper liegt und regelmäßig einer Bewertung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen unterzogen wird, üben die Behörden die Kontrolle über die adäquate Erbringung von DAI aus. Der EWSA spricht sich für eine gezielte Verwirklichung des Ko-Kreation-Ansatzes aus: DAI sollten gemeinsam mit den Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft gestaltet werden, denn dadurch kann sichergestellt werden, dass sie einerseits den tatsächlichen Bedürfnissen gerecht werden und andererseits die demokratische Teilhabe ermöglichen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn angestellte Arbeitnehmer mit Ehrenamtlichen bzw. mit Selbsthilfestrukturen kooperieren. |
1.5. |
Daher werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Instrumente zu entwickeln und/oder zu verbessern, die eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen im gesamten Prozess der Bereitstellung von Daseinsvorsorge gewährleisten. Hierzu gehören auch adäquate Rahmenbedingungen für die nicht gewinnorientierten sozialwirtschaftlichen Aktivitäten, wie sie in der EWSA-Stellungnahme „Stärkung gemeinnütziger Sozialunternehmen als wesentliche Säule eines sozialen Europas“ (1) vom 18. September 2020 definiert werden, sowie die Umsetzung von Artikel 77 der Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe (2) in einer Weise, welche den Non-Profit-Organisationen Aufträge für bestimmte in diesem Artikel genannte Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial-, kulturellen und Bildungsbereich vorbehält. |
1.6. |
Der EWSA weist darauf hin, dass die qualitativ hochwertige Erbringung der Leistungen der Daseinsvorsorge im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft von ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen abhängt, die es sicherzustellen gilt. |
1.7. |
Obgleich für die Rahmenbedingungen der Erbringung und damit auch der Ko-Kreation von DAI in erster Linie die Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden zuständig sind, besteht hierzu auch ein dringender Bedarf, die Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Mitgestaltungskonzepten zu ermutigen, indem ein Instrumentarium geschaffen wird, das die Nutzung von Ko-Kreationsmodellen erleichtert. Solche Initiativen sollen alle zuständigen Akteure innerhalb der Mitgliedstaaten ermutigen, Ko-Kreation und Erbringung von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft zu fördern. |
1.8. |
Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission hierzu ein Arbeitsdokument als Grundlage für weitere Arbeiten veröffentlicht, das auf die Schaffung eines „Instrumentariums“ abzielt, das die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu einer verstärkten Nutzung von Modellen für die gemeinsame Gestaltung ermutigen und anleiten soll. So ein Dokument sollte u. a. die Abwägungen betreffend Ko-Kreation gegenüber dem Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und dem Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV, unter der Berücksichtigung der europäischen Säule sozialer Rechte, der besonderen Rolle der nicht gewinnorientierten Sozialwirtschaft bei der Ko-Kreation und der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen beinhalten. Des Weiteren soll das Dokument Vorschläge für eine europäische und einzelstaatliche Förderung von innovativen Ko-Kreation-Projekten unter der Berücksichtigung von Forschungskomponenten und eine Sammlung von bewährten Verfahren umfassen. Auf der Grundlage des oben beschriebenen Instrumentariums könnte nach umfassenderer Konsultation auf EU-Ebene ein Grünbuch und anschließend ein Weißbuch auf den Weg gebracht werden. |
1.9. |
Der EWSA wird seinerseits ein Forum für den Austausch von Ideen und bewährten Verfahren auf diesem Feld unter der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Sozialpartner, von Hochschulen und Forschungsprojekten einrichten, um den Diskussionsprozess auf der europäischen Ebene aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. |
2. Einleitung
2.1. |
Die Weiterentwicklung der partizipativen Demokratie in der Europäischen Union bildet eine der wesentlichen Herausforderungen für die Stärkung der europäischen Integration gegen Populismus und Nationalismus. Ko-Kreation von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft sowie direkt durch Bürgerinnen und Bürger wiederum gehört zu den effektivsten Instrumenten zur Belebung der partizipativen Demokratie. |
2.2. |
Seit mehreren Jahren engagiert sich der EWSA in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft/Forschung zugunsten von Modernisierung und Weiterentwicklung von DAI. Zuständig für diese Arbeiten ist innerhalb des Ausschusses in erster Linie die Ständige Arbeitsgruppe Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. |
2.3. |
2019 begann eine Zusammenarbeit mit dem Konsortium des Projektes Ko-Kreation der Dienstleistungsinnovation in Europa (CoSIE) (3), bestehend aus Hochschulen, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus neun Mitgliedstaaten (Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Niederlande, Polen, Schweden, Spanien, Ungarn) und aus dem Vereinigten Königreich. Die Ständige Arbeitsgruppe DAI verfolgte innovative Erfahrungen und Schlussfolgerungen des CoSIE-Projektes im Rahmen von zwei Seminaren: „Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse: Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft“ am 15. April 2021 in Brüssel sowie „Citizens serving citizens: Ko-Kreation und Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse durch die Organisationen der Zivilgesellschaft“ am 1./2. Dezember 2021 in Lublin (Polen) in Kooperation mit der Stadt Lublin und unter der Beteiligung von Partnern aus der Ukraine. |
2.4. |
Die Ko-Kreation ist untrennbar mit umfassenderen Debatten über die Reform der öffentlichen Verwaltung verknüpft. Beim „New Public Management“ (NPM) lag der Schwerpunkt auf der Steigerung der Effizienz, der Übernahme von Managementmodellen aus dem privaten Sektor und dem Aufbau einer Dienstleister/Kunden-Beziehung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, bei der die Bedürfnisse, Anforderungen und Entscheidungen der Nutzer dieser Dienstleistungen als Ausgangspunkt dienten. Dieses Modell war in den 1990er und 2000er Jahren vorherrschend, wurde jedoch kritisiert, weil es weniger wirksam und effizient war als erwartet und nur ein begrenztes Innovationspotenzial barg (4). Bei den Post-NPM-Trends („paradigmettes“ (5)) im Bereich der Innovation in der öffentlichen Verwaltung steht nicht mehr der passive, individuelle Verbraucher, der sein jeweiliges Eigeninteresse verfolgt, im Vordergrund, sondern der aktive Bürger, der sich an der Produktion beteiligt. Außerdem hat sich der Fokus weg von der Vereinzelung hin zu einer besseren Integration und Koordinierung der Netze von Nutzergruppen und Interessenträgern verschoben. Die Ko-Kreation wird in den Post-NPM-Modellen (6) als Schlüsselkonzept betrachtet. |
2.5. |
Die Ergebnisse der bisherigen Arbeiten des EWSA auf diesem Feld belegen, dass die Ko-Kreation und Erbringung von DAI durch Bürgerinnen und Bürger bzw. ihre Organisationen zur Stärkung der partizipativen Demokratie und überdies zur Weiterentwicklung der Sozialwirtschaft in der Europäischen Union führt, u. a. von wichtigen Funktionen, die die DAI als unverzichtbare Voraussetzung für alle anderen gesellschaftlichen Aktivitäten erfüllen. |
3. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse
3.1. |
Im Zuge der europäischen Integration wurde in dem dafür charakteristischen Spannungsfeld zwischen „Einheit“ und „Vielfalt“ ein neues Konzept für die durch spezifische Vorschriften und Normen geregelten Dienstleistungen entwickelt. Ziel ist es, sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger und sämtliche Akteure Zugang zu jenen essenziellen Dienstleistungen haben, die jetzt und in Zukunft die Grundlage eines menschenwürdigen Lebens bilden und für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unverzichtbar sind — Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (DAI). DAI können in unterschiedlichen Umfeldern erbracht werden, entweder auf wettbewerbsorientierten Märkten als wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder als nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die von diesen Märkten ausgeschlossen sind. Die Kommission unterscheidet (7) dabei Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, nicht wirtschaftliche Dienstleistungen sowie Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlicher Art). Auf die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) (8) bzw. wirtschaftlicher Art findet Artikel 106 AUEV Anwendung. |
3.2. |
Das Konzept wurde nach und nach gestärkt und präzisiert. |
3.2.1 |
DAI sind Bestandteil der gemeinsamen europäischen Werte und spielen eine Rolle bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts in der EU. (9) Der EWSA verweist dahingehend auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 AEUV, wie sie im Protokoll Nr. 26 über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Anhang zum EUV und zum AEUV niedergelegt sind. Die weitere Ausgestaltung der hier niedergelegten Grundsätze kann zu mehr Effizienz und zur Beseitigung von Fehlentwicklungen führen. |
3.2.2 |
Diese gemeinsamen Werte umfassen drei Dimensionen: den Ermessensspielraum, über den die nationalen, regionalen und lokalen Behörden verfügen, um den Bedarf der Nutzer zu decken; die Achtung der Vielfalt und Unterschiede in Bezug auf die Bedürfnisse, Präferenzen und demokratischen Entscheidungen der Nutzer sowie der unterschiedlichen geografischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten; ein hohes Maß an Qualität, Sicherheit, Erschwinglichkeit, Gleichbehandlung sowie Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte (10). |
3.2.3 |
Diese Dienste sind ein wesentlicher Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten und insgesamt ein substanzieller Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Europa erwarten zu Recht, dass eine umfangreiche Palette von zuverlässigen, stabilen und effizienten Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichem) Interesse in hoher Qualität und zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist. Diese Dienste sorgen dafür, dass kollektive Bedürfnisse und Interessen — Aufgaben des Gemeinwohls — bedient werden können. Der EWSA weist explizit darauf hin, dass die qualitativ hochwertige Erbringung dieser für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft essenziellen Dienstleistungen von ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen abhängt, die es sicherzustellen gilt. |
3.2.4 |
Der Zugang zu DAWI ist Teil der Grundrechte (11) und der europäischen Säule sozialer Rechte (12). Während in Grundsatz 20 der Säule ausdrücklich die „essenziellen“ DAI erwähnt werden, werden in weiteren ihrer Grundsätze wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge umrissen, wie z. B. Bildung, Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose, Langzeitpflege, Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Gesundheitsvorsorge, um nur einige wenige zu nennen. |
3.2.5 |
Die nicht wirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sind von den Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln ausgenommen; für sie gelten alleine die allgemeinen Grundsätze der EU (Transparenz, Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit) (13). |
3.2.6 |
Die Union und die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, „dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können“ (14). |
3.2.7 |
Die DAWI unterliegen den Bestimmungen der Verträge, insbesondere den Wettbewerbsregeln, soweit deren Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert (15). |
3.3. |
Ziel von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ist es, den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger und aller Akteure unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung gerecht zu werden. Sie sind per se dynamischer Natur. Sie können beispielsweise Bereiche wie Sicherheit, Gesundheit, soziale Dienste, darunter Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Langzeitpflege, sozialer Wohnungsbau (16), Bildung ebenso wie im Grundsatz 20 der europäischen Säule sozialer Rechte explizit erwähnte Bereiche von essenziellen Dienstleistungen (17) betreffen. |
3.4. |
In Bezug auf DAI ist das Subsidiaritätsprinzip zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union im Artikel 5 Absatz 3 EUV geregelt. Die EU legt einen allgemeinen Rahmen von Grundsätzen fest, der an den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger sowie aller wirtschaftlichen und sozialen Akteure ausgerichtet ist, während die Mitgliedstaaten und die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften Dienstleistungen von allgemeinem Interesse festlegen und umsetzen. Darüber hinaus sollte das Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf DAI auch ein Leitprinzip für die Beziehungen zwischen allen Ebenen der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten sowie zwischen den Behörden und den Organisationen der Zivilgesellschaft sein. |
3.5. |
DAI befinden sich im Spannungsfeld zwischen der Wahrung der Grundrechte, den lokalen Zielen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, den Zielen in Bezug auf nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klimaschutz und der Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft, des Binnenmarkts und der Wettbewerbsregeln. Unter Einbeziehung aller Interessenträger muss hierbei auf pragmatische Weise jeweils ein an den Einzelfall angepasstes Gleichgewicht gefunden werden, das den Bedürfnissen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger und Gemeinwesen gerecht wird. |
4. Ko-Kreation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse
4.1. |
Die Akteure der Zivilgesellschaft haben schon seit jeher soziale und andere Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeboten, weil die öffentliche Hand die Bedürfnisse noch nicht entdeckt hatte oder kommerzielle Unternehmen ihre Erfüllung als nicht rentabel angesehen haben. Meistens trat der Staat dann später als Erbringer und Regulierer und auch als Garant der Qualität der Leistungen auf den Plan. |
4.2. |
Leistungen der Daseinsvorsorge werden von den Gebietskörperschaften selbst erbracht oder in Auftrag gegeben. Während die politische Verantwortung bei den gewählten Mandataren und Mandatarinnen dieser Gebietskörperschaften liegt und regelmäßig einer Bewertung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Wahlen unterzogen wird, üben die Behörden die Kontrolle über die adäquate Erbringung von DAI aus. Es können zwei unterschiedliche Vorgehensweisen verfolgt werden, nämlich Top-Down: Initiativen nationaler, regionaler oder lokaler Behörden, oder Bottom-Up: Ko-Kreation unter der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und/oder der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die vorliegende Stellungnahme bezieht sich auf die letztere Vorgehensweise. Der EWSA spricht sich für die breite Verwirklichung des Ko-Kreation-Ansatzes aus: DAI sollten in Kooperation mit den Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft gestaltet werden, denn so können die Bedürfnisse der Menschen befriedigt und die demokratische Teilhabe ermöglicht werden. |
4.3. |
In welchen Bereichen und in welchem Ausmaß auf Ko-Kreation gesetzt wird, hängt jedoch von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Nicht alle Dienstleistungen, Gemeinwesen und Dienstleister — insbesondere in kritischen infrastrukturellen Bereichen, wie Energie- und Wasserversorgung — eignen sich für eine radikal neue Herangehensweise an das Thema Dienstleistungen und geteilte Verantwortung, aber jeder Schritt zur Stärkung des Mitspracherechts und zur kollaborativen Förderung wirksamer Lösungen erweist sich als lohnend. Im Hinblick auf eine möglichst umfassende Einbeziehung der Nutzer könnte sich eine „Stufenleiter der Mitgestaltung“ (ladder of co-creation (18)), die eine systematische Einbindung unterschiedlichen Ausmaßes der relevanten öffentlichen und privaten Akteure vorsieht, als empfehlenswert erweisen. Die unterste Stufe entspräche einem geringeren Engagement, bei dem öffentliche Stellen etwa darauf abzielen, die Bürgerinnen und Bürger zu einer erfolgreichen Lebensführung zu befähigen, und diese ermutigen, sich an der Gestaltung des öffentlichen Dienstleistungsangebots zu beteiligen. Auf der höchsten Stufe dieser Leiter würden kollaborative Innovationen auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Ziele und gemeinsam definierter Problemstellungen, durch gemeinsame Gestaltung und Erprobung neuer und bislang noch nicht verwirklichter Lösungen sowie mittels einer koordinierten Umsetzung gefördert, die sich auf öffentliche und private Lösungen stützt. |
4.4. |
Voraussetzung für Ko-Kreation sind Arbeitsmethoden, bei denen auf die vorhandenen Stärken gesetzt wird. Eine solche Arbeitsmethode nutzt die (materiellen und immateriellen) Ressourcen, die Fähigkeiten und die Wünsche der Dienstleistungsnutzer, anstatt nur ihre Bedürfnisse zu registrieren und zu befriedigen. Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass alle Bürgerinnen und Bürger über wertvolle, häufig nicht erkannte Stärken (Kultur, Zeit, Lebens- und Lernerfahrung, praktisches Knowhow, Vernetzung, Fähigkeiten, Ideen) verfügen, mit denen sie zur Entwicklung und Erbringung von Dienstleistungen beitragen können. Das Instrumentarium für die Ko-Kreation umfasst eine Reihe von Methoden, die von Befragungen zur Zufriedenheit (z. B. im elektronischen Handel) über Umfragen bis hin zu den verschiedenen Formen der Meinungsäußerung mit Hilfe digitaler Instrumente, Fokusgruppen und Panels sowie partizipativen Methoden (z. B. soziale Hackathons, Open-Space-Technologien, LivingLabs, World-Cafés, Service-Blueprints, Design Thinking, User Journeys sowie verschiedene andere partizipative Online-Tools) reichen. |
4.5. |
Ko-Kreation ist jedoch keine technische Lösung und nicht mittels einer einzigen Methode umzusetzen. Es handelt sich um einen Ansatz, der in den verschiedenen Phasen der Gestaltung und Erbringung von Dienstleistungen greift. In seinen radikaleren Formen erstreckt sich das Instrumentarium auf Formen der Ko-Governance, die eine Machtverschiebung und manchmal eine Eigentumsübertragung von Dienstleistungen auf Menschen und Gemeinschaften fördern. Dazu gehört die formelle Einbeziehung von Menschen mit gelebter Erfahrung in Governance-Vereinbarungen, Gegenseitigkeitsvereinbarungen, Genossenschaften und Gemeinschaftsorganisationen. |
4.6. |
Voraussetzung für eine erfolgreiche Ko-Kreation ist, dass alle potenziellen Nutzergruppen eingeladen werden, damit sie ihre Interessen vertreten können. Eine Teilhabe, bei der Bürgerinnen und Bürgern mit mehr Ressourcen oder stärkerer Bereitschaft zur Beteiligung begünstigt werden, könnte zu undemokratischen Prozessen führen. |
4.7. |
Eine weitere unabdingbare Voraussetzung für Ko-Kreation ist das Vertrauen zwischen den Beteiligten, das zwischen Dienstleistern und Interessenträgern nur aufgebaut werden kann, wenn das Ziel der Ko-Kreation der betreffenden Dienstleistung transparent gemacht und offen gelegt wird, inwieweit die Beteiligten über deren Umfang und Reichweite in Kenntnis gesetzt werden (19). |
4.8. |
Die Ko-Kreation soll immer im Kontext der nationalen, regionalen und lokalen Bedarfsplanung erfolgen. Den Widersprüchlichkeiten zwischen den verschiedenen Bedarfslagen ist stets Rechnung zu tragen. Werden diese erfasst, können in öffentlichen Beratungen Vorschläge für ihre Hierarchisierung erörtert und Entscheidungsgrundlagen für die zuständigen Vermittlungs- und Beschlussfassungsinstanzen zwecks Gewährleistung einer hohen Qualität, der Erbringungs- und der Zugänglichkeitssicherheit sowie der Gleichbehandlung und der Achtung der Rechte der Nutzerinnen und Nutzer geliefert werden. Der Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes muss in der Tat das ultimative Ziel von DAI bleiben. Der Ko-Kreation-Prozess darf keinesfalls unbeabsichtigt zu einer Verringerung der Qualität der Dienste, zu ungerechtfertigten Preiserhöhungen oder zu einer Einschränkung des Zugangs zu den Diensten führen. |
4.9. |
Ko-Kreation ist eine dynamische Interaktion zwischen Dienstleistungsanbietern, Dienstleistungsnutzern und anderen Interessenträgern, die verschiedene Phasen umfassen kann: |
4.9.1 |
Ko-Initiierung: von Anbeginn an gemeinsame Festlegung der Ziele und Zwecke der einzelnen Dienstleistungen; |
4.9.2 |
Einbindung der Interessenträger: Beteiligung neuer Akteure (Nutzer, Kunden, Dienstleistungserbringer) und Aufrechterhaltung ihres Engagements über den gesamten Prozess hinweg; |
4.9.3 |
Ko-Design: gemeinsame Gestaltung von Dienstleistungen; |
4.9.4 |
Ko-Implementierung: gemeinsame Erbringung von Dienstleistungen; |
4.9.5 |
Ko-Management: gemeinsame Organisation und Verwaltung von Dienstleistungen; |
4.9.6 |
Ko-Governance: gemeinsame Formulierung von Politiken; |
4.9.7 |
Ko-Evaluierung: gemeinsame Bewertung der Wirksamkeit und Effizienz der Dienstleistungen und der getroffenen Entscheidungen anhand einer Reihe von Kriterien. |
4.10. |
In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass in der Praxis bereits innovative Modelle existieren, im Rahmen welcher die Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung ohne aktive Mitwirkung von Nutzern überhaupt nicht möglich ist (20). |
4.11. |
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass DAI im Rahmen einer Zusammenarbeit mit Nutzern, Gemeinschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft entwickelt werden, um sicherzustellen, dass sie den Mehrwert öffentlicher Dienstleistungen schaffen und ausweiten, d. h. für mehr Wohlergehen bzw. ein gemeinsames Verständnis von Gemeinwohl sorgen, das als Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen, Strategien und Dienstleistungen dienen kann. Im Zuge der Ko-Kreation von Dienstleistungen arbeiten Nutzer bei der Gestaltung, Schaffung und Erbringung der Dienstleistung mit Fachleuten zusammen (21). Daher laufen in diesem Prozess die Rollen des Innovators, des Dienstleistungserbringers und des Dienstleistungsnutzers zusammen. |
4.12. |
Der Mehrwert der Ko-Kreation besteht stets in einer aktiven Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Behörden, die die rechtliche bzw. politische Verantwortung für die Erbringung von DAI tragen, den Dienstleistungserbringern und den Nutzern, die in den demokratisch gestalteten Ko-Kreationsprozess einzubeziehen sind. Damit verbessert die Ko-Kreation die demokratische Legitimation von Entscheidungen, welche durch die Politik getroffen werden. |
4.13. |
Dieser Mehrwert trägt in einer besonderen Weise zur Stärkung der demokratischen Teilhabe bei, wenn die Dienstleistungserbringer aus dem Kreise der zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. der Non-Profit-Sozialwirtschaft stammen, im Rahmen welcher Hauptamtliche mit Ehrenamtlichen bzw. mit Selbsthilfestrukturen kooperieren, oder wenn die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Interessen von Nutzern vertreten, einen reellen Einfluss auf die öffentlichen bzw. privatwirtschaftlichen Dienstleistungserbringer ausüben können. Darüber hinaus besitzt die Ko-Kreation auch eine moralische Dimension; sie stärkt Gemeinschaften, Zusammenhalt und Vertrauen zwischen den Akteuren (22). |
4.14. |
Dies ist auch in Krisensituationen wahrnehmbar. Ein aktuelles Beispiel bildet die Erbringung von Dienstleistungen (insbesondere auf den Gebieten Soziales und Bildung) für und unter der Beteiligung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine durch die zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die sofortige Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft, Modelle und Prozeduren der Ko-Kreation spontan, aber gleichzeitig erfolgreich, zu implementieren, hat sich hierbei in Gebieten, in denen bereits erfolgreiche Mitgestaltungsprozesse stattgefunden haben, als entscheidend und praktikabel erwiesen. |
5. Politische Initiativen auf der europäischen Ebene
5.1. |
Obgleich für die Rahmenbedingungen der Erbringung und damit auch der Ko-Kreation von DAI in der ersten Linie die Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden zuständig sind, besteht die Notwendigkeit, die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu ermutigen, die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angemessen zu unterstützen. Hierzu besteht ein dringender Bedarf, die Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Mitgestaltungskonzepten zu ermutigen, indem ein Instrumentarium geschaffen wird, das die Nutzung von Mitgestaltungsmodellen erleichtert. Solche Initiativen sollten alle einschlägigen Interessenträger in den Mitgliedstaaten ermutigen, die gemeinsame Konzipierung und Erbringung von DAI durch Organisationen der Zivilgesellschaft zu fördern, u. a. weil das Konzept der Ko-Kreation erheblich dazu beiträgt, die Dienstleistungen an die sich wandelnden Bedürfnisse anzupassen, sie zu modernisieren und sie auf die Zukunft auszurichten. |
5.2. |
Zu diesem Zweck ruft der EWSA die Europäische Kommission auf, einen Querschnittsansatz zu verfolgen, der ihren unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen und allen Interessenträgern Rechnung trägt, um ein Instrumentarium zu erarbeiten, in welches verschiedene Formen der Ko-Kreation, die durchgeführten Pilotprojekte und die daraus zu ziehenden Schlüsse einfließen. |
5.3. |
Der EWSA schlägt daher insbesondere vor, dass die Kommission hierzu ein Arbeitsdokument als Grundlage für weitere Arbeiten veröffentlicht, das auf die Schaffung eines „Instrumentariums“ abzielt, das die nationalen, regionalen und lokalen Behörden zu einer verstärkten Nutzung von Modellen für die gemeinsame Gestaltung ermutigen und anleiten soll. So ein Dokument sollte u. a. die Abwägungen betreffend Ko-Kreation gegenüber Artikel 14 AEUV, dem Protokoll Nr. 26 zu EUV und AEUV, unter der Berücksichtigung der europäischen Säule sozialer Rechte, der besonderen Rolle der nicht gewinnorientierten Sozialwirtschaft bei der Ko-Kreation und der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen, wie sie in der EWSA-Stellungnahme „Stärkung gemeinnütziger Sozialunternehmen als wesentliche Säule eines sozialen Europas“ (23) vom 18. September 2020 definiert werden, beinhalten. In dem Dokument sollte zudem darauf verwiesen werden, dass Artikel 77 der Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe (24) in einer Weise umzusetzen ist, dass Aufträge für bestimmte in diesem Artikel genannte Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial-, kulturellen und Bildungsbereich Non-Profit-Organisationen vorbehalten sind. Darüber hinaus sollte das Dokument Vorschläge für eine europäische und nationalstaatliche Förderung von innovativen Ko-Kreation-Projekten unter der Berücksichtigung von Forschungskomponenten und eine Sammlung von bewährten Verfahren umfassen. Auf der Grundlage des oben beschriebenen Instrumentariums könnte nach umfassenderer Konsultation auf EU-Ebene ein Grünbuch und anschließend ein Weißbuch auf den Weg gebracht werden. |
5.4. |
Der EWSA würde seinerseits ein Forum für den Austausch von Ideen und bewährten Verfahren auf diesem Feld unter der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Hochschulen und Forschungsprojekten einrichten, um den Diskussionsprozess auf der europäischen Ebene aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 131.
(2) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0024&from=DE.
(3) https://cosie.turkuamk.fi.
(4) Drechsler, W.: Towards a Neo-Weberian European Union? Lisbon agenda and public administration, Halduskultuur — Administrative Culture, 2009, 10(1), S. 6.
(5) Çolak, Ç. D.: Why the new public management is obsolete: an analysis in the context of the post-new public management trends, Croatian and Comparative Public 2019, 19(4), S. 517, https://doi.org/10.31297/hkju.19.4.1.
(6) Torfing, J., Sørensen, E., & Røiseland, A.: Transforming the public sector into an arena for co-creation: Barriers, drivers, benefits and ways forward, Administration & Society, 2019, 51(5), S. 795, https://doi.org/10.1177/0095399716680057.
(7) https://ec.europa.eu/info/topics/single-market/services-general-interest_de.
(8) Schon im Römischen Vertrag verankert, aktuell Artikel 106 AUEV.
(9) AEUV — Allgemeine Bestimmungen, Artikel 14.
(10) Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV.
(11) Artikel 36 der Grundrechtecharta.
(12) Ziffer 20 der Säule.
(13) Protokoll Nr. 26 zum EUV und zum AEUV.
(14) Artikel 14 AEUV.
(15) Artikel 106 AEUV.
(16) Angesichts der sich in vielen Mitgliedstaaten verschärfenden Immobilienkrise kommt bezahlbarem Wohnraum ebenfalls immer mehr Bedeutung als essenzielle Dienstleistung zu.
(17) „Wasser, Sanitärversorgung, Energie, Verkehr, Finanzdienstleistungen und digitale Kommunikation“.
(18) Torfing, J., Sørensen, E., & Røiseland, A.: Transforming the public sector into an arena for co-creation: Barriers, drivers, benefits and ways forward, Administration & Society, 2019, 51(5), S. 795, https://doi.org/10.1177/0095399716680057.
(19) https://cosie.turkuamk.fi/arkisto/index.html
(20) Wie zum Beispiel in Frankreich „services publics partagés“ („geteilte öffentliche Dienstleistungen“): https://service-public-partage.fr/.
(21) Social Care Institute of Excellence: Co-production in social care: what it is and how to do it?, 2015, SCIE-Leitfaden 51.
(22) C. Fox et al. (2021) A New Agenda for Co-Creating Public Services, Turku University of Applied Sciences, https://julkaisut.turkuamk.fi/isbn9789522167842.pdf.
(23) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 131.
(24) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0024&from=DE.
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/83 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Thematische Partnerschaften im Rahmen des Abkommens von Ljubljana“
(Sondierungsstellungnahme)
(2022/C 486/12)
Berichterstatter: |
David SVENTEK |
Ko-Berichterstatter: |
Florian MARIN |
Befassung |
Rat — Tschechischer Ratsvorsitz, 26.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt |
Annahme in der Fachgruppe |
9.9.2022 |
Verabschiedung auf der Plenartagung |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
190/1/4 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt nachdrücklich die im Abkommen von Ljubljana enthaltenen Erklärungen zur EU-Städteagenda und begrüßt insbesondere die starke Konzentration auf Partnerschaften sowie Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte bei der nachhaltigen Stadtentwicklung. |
1.2. |
Thematische Partnerschaften sollten zu konkreten und nachhaltigen Maßnahmen und Ergebnissen führen, die über die Partnerschaften selbst hinausreichen. Dabei gilt es, stets zu prüfen, ob die Ergebnisse nicht auf andere Mitgliedstaaten, Regionen, Städte oder Sektoren übertragen werden können. Die territoriale Verteilung und geografische Ausgewogenheit dieser Möglichkeiten sollte überwacht werden, um sicherzustellen, dass auch schutzbedürftige Regionen und Städten davon profitieren können. |
1.3. |
Die EU-Städteagenda und die Kohäsionspolitik könnten enger miteinander verknüpft werden. Obwohl es sich um zwei getrennte Strategien und Initiativen mit unterschiedlichen Zielen und Rahmenbedingungen handelt, dürften Synergien bestehen. Es bedarf miteinander verknüpfter Instrumente für eine kohärentere Unterstützung der Städte im Rahmen der Kohäsionspolitik. Zudem ist eine sektorübergreifende und interinstitutionelle Zusammenarbeit und Integration auf strategischer und operativer Ebene erforderlich. Thematische Partnerschaften sollten künftig mehr Legitimität erhalten. |
1.4. |
Für die Kommunalverwaltungen kleiner und mittlerer Städte und ihre kontinuierliche Einbeziehung in die Städteagenda ist es unabdingbar, über vorhersehbare und finanziell unterstützte Mechanismen sowie über eine angemessene Finanzierung zu verfügen. |
1.5. |
Nach Ansicht des EWSA müssen die Kriterien für die Auswahl von Partnern für thematische Partnerschaften spezifischer, offener und inklusiver sein. Beim Auswahlverfahren sollte nicht die Möglichkeit vernachlässigt werden, die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen neben den städtischen Behörden in diesen Prozess einzubinden. Es ist wichtig, die Ex-ante-Bewertung für die Ökologisierung der Städte und den nachhaltigen Tourismus zu berücksichtigen. |
1.6. |
Die Arbeitsbedingungen, berufliche Planungssicherheit und der Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen, Chancengleichheit und angemessenen Löhnen sollten bereichsübergreifend angegangen werden. Dabei sollte allen Formen des Dialogs mit und der Konsultation von Interessenträgern, wie dem sozialen Dialog, dem zivilgesellschaftlichen Dialog und Bürgerkonsultationen, Rechnung getragen werden. |
1.7. |
Der EWSA schlägt vor, auf einen Bottom-up-Ansatz, thematische Cluster, thematische Netze und Netze zur Entwicklung maßgeschneiderter und ortsbezogener Lösungen abzustellen und daneben insbesondere kleinen und mittleren Städte die Möglichkeit zu bieten, bestehende thematische und Städte-Netzwerke zu nutzen. |
1.8. |
Die Rolle des EWSA bei der Governance der EU-Städteagenda und des Abkommens von Ljubljana könnte gestärkt werden. Darüber hinaus sollte der EWSA sowohl der Gruppe für städtische Entwicklung als auch der technischen Vorbereitungsgruppe für die Städteagenda angehören sowie in die Sitzung der Generaldirektoren zu städtischen Angelegenheiten einbezogen werden. |
1.9. |
Partizipative Demokratie, die Ökonomie des Wohlergehens in Städten und Stadt-Land-Verbindungen könnten weitere, im Rahmen thematischer Partnerschaften anzugehende Themen sein, wobei besonderes Augenmerk auf die Jugend gelegt werden sollte. |
1.10. |
Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, ein spezifisches Sekretariat für die Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit der thematischen Partnerschaften einzurichten, um eine Verknüpfung mit der Städtepolitik auf lokaler Ebene sicherzustellen, technische Hilfe zu gewährleisten und die Schaffung thematischer Gemeinschaften und den Austausch bewährter thematischer Verfahren zu erleichtern. Dies sollte in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Ausschuss der Regionen erfolgen. |
2. Hintergrund
2.1. |
Am 26. November 2021 nahmen die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der EU das Abkommen von Ljubljana und sein mehrjähriges Arbeitsprogramm an, mit dem eine neue Phase der EU-Städteagenda eingeleitet wird. Dieses Dokument enthält konkrete Schritte zur Erneuerung der Städteagenda mit dem gemeinsamen Ziel, sie wirksamer und effizienter zu gestalten. Das mehrjährige Arbeitsprogramm ergänzt die politische Erklärung und umfasst die operativen Parameter, die Arbeitsmethode und die Schritte für die Umsetzung der nächsten Phase dieser Multi-Level-Governance- und Multi-Stakeholder-Initiative. |
2.2. |
Die 14 Schwerpunktthemen (1) der EU-Städteagenda gelten weiterhin: Integration von Migranten und Flüchtlingen, Luftqualität, städtische Armut, Wohnraum, Kreislaufwirtschaft, Arbeitsplätze und Kompetenzen in der lokalen Wirtschaft, Klimaanpassung (einschließlich grüner Infrastrukturlösungen), Energiewende, nachhaltige Landnutzung und naturbasierte Lösungen, urbane Mobilität, innovatives und verantwortungsbewusstes öffentliches Beschaffungswesen, Kultur und Kulturerbe sowie Sicherheit im öffentlichen Raum. |
2.3. |
Mit dem Abkommen von Ljubljana kommen die folgenden vier Themen zu dieser Prioritätenliste hinzu: gleichberechtigtes Zusammenleben, Lebensmittel, Ökologisierung der Städte und nachhaltiger Tourismus. Diese wurden im Wege der gemeinsamen Gestaltung hinzugefügt und mit der neuen Leipzig-Charta, der EU-Politik, weiteren neuen Stadtentwicklungstrends und dem Bedarf der Städte verknüpft. |
2.4. |
Der künftige tschechische EU-Ratsvorsitz hat den EWSA ersucht, zu prüfen, wie sich die Änderungen, die sich aus dem neuen Abkommen von Ljubljana ergeben, auf die Bildung neuer thematischer Partnerschaften auswirken könnten. An zwei der vier in Ljubljana vereinbarten Themen wird während des tschechischen EU-Ratsvorsitzes weitergearbeitet: Ökologisierung der Städte und nachhaltiger Tourismus. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Der EWSA unterstützt nachdrücklich die im Abkommen von Ljubljana enthaltenen Erklärungen zur EU-Städteagenda und begrüßt insbesondere die starke Konzentration auf Partnerschaften sowie auf Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte bei der Stadtentwicklung. |
3.2. |
Gleichzeitig unterstützt er die Fortführung und Weiterentwicklung der EU-Städteagenda unter uneingeschränkter Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Außerdem sollte der Grundsatz der Zusätzlichkeit auf lokaler Ebene sorgfältig angewandt werden. |
3.3. |
Der EWSA begrüßt, dass im Abkommen von Ljubljana die Bedeutung und die Rolle des EWSA bei der Unterstützung der EU-Städteagenda anerkannt werden. Wie im mehrjährigen Arbeitsprogramm für die EU-Städteagenda festgestellt, ist der EWSA in der Lage und willens, einen Beitrag zur Territorialität der Entwicklung, Partnerschaften, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten der Stadtentwicklung sowie der Verbreitung der EU-Städtepolitik zu leisten und diese zu unterstützen. |
3.4. |
Die Vielfalt, Komplexität und Nachhaltigkeit der Stadtentwicklungspolitik erfordern Multi-Level- und Multi-Stakeholder-Konzepte, bei denen Partnerschaften im Vordergrund stehen. Im Abkommen von Ljubljana wird die Bedeutung von Partnerschaften für besseres Wissen anerkannt. Thematische Partnerschaften sollten zu konkreten und nachhaltigen Maßnahmen und Ergebnissen führen, die über die Partnerschaften selbst hinausreichen. Dabei gilt es, stets zu prüfen, ob die Ergebnisse nicht auf andere Regionen, Städte oder Sektoren übertragen werden können. Die territoriale Verteilung dieser Möglichkeiten sollte überwacht werden. Die Städte sollten mit entsprechenden Anreizen motiviert werden, europäische Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen und auf EU-Ebene aktiv zu sein. |
3.5. |
Die Vielfalt der Städte und ihrer Entwicklungspolitik lässt sich nur schwer steuern. Für dieses Problem gibt es derzeit keine allgemeine Lösung in der Stadtentwicklungspolitik der EU. Es bedarf eines maßgeschneiderten Ansatzes, bei dem die Potenziale der Partnerschaften, der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner erschlossen werden. Bei Lösungen für künftige Entwicklungsstrategien gilt es, unterschiedliche Perspektiven, Fachwissen und Disziplinen einzubeziehen. In seiner Stellungnahme zur „Neufassung der Territorialen Agenda der EU, der Leipzig-Charta und der EU-Städteagenda“ (2) empfiehlt der EWSA, für die jeweiligen Gebietsarten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips die am besten geeigneten Förderinstrumente einzusetzen. Dies wird in Risikoregionen zur Verringerung von Unterversorgung, Rückstand und Isolierung führen. |
3.6. |
Bei der Finanzierung ihrer nachhaltigen Entwicklung sollte für einen fairen Wettbewerb zwischen allen Arten von Städten, d. h. für einen gleichberechtigten Zugang zu Finanzmitteln für kleine und mittlere Städte, gesorgt werden. Auch das Wettbewerbsprinzip sollte an diese Situation angepasst und stets berücksichtigt werden. |
3.7. |
Ein neues Element im Abkommen von Ljubljana ist die Ex-ante-Bewertung von Themen. Mit diesen Bewertungen soll ein pragmatischer, wirksamer und ergebnisorientierter Ansatz verfolgt werden, um die Wirkung künftiger Ergebnisse der EU-Städteagenda zu erhöhen. Zudem sind dadurch maßgeschneiderte Auswahlkriterien für Partner möglich. Der EWSA empfiehlt den Akteuren der Städtepolitik bei künftigen thematischen Partnerschaften immer auf den Austausch bewährter Verfahren, auch mit Blick auf Partnerschafts- und Kooperationsmodelle, zu achten. |
3.8. |
Für die Umsetzung der Aktionspläne thematischer Partnerschaften gilt es, mit EU-Mitteln und öffentlichen Geldern finanzierte maßgeschneiderte Instrumente zu schaffen. Es sollte — insbesondere für kleine und mittlere Städte und Organisationen — eine maßgeschneiderte Unterstützung (Finanzierungsinstrumente, Finanzhilfen und Fonds) angeboten werden, um die effiziente Umsetzung der thematischen Partnerschaft sicherzustellen. Zudem sollte der Zugang zu dieser Unterstützung fair sein, damit kleine Organisationen bzw. Städte nicht zurückgelassen werden. |
3.9. |
Instrumente wie integrierte territoriale Investitionen und von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung sind äußerst erfolgreich und sollten auf der Grundlage stabiler und vorhersehbarer Durchführungsmechanismen weiterhin eingesetzt und ausgebaut werden. Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass auch ein integrierter Ansatz möglich ist (3), bei dem im Interesse sowohl der territorialen als auch der Stadtentwicklung und vorbehaltlich demokratischer Kontrolle, eines transparenten Regierungshandelns und Rechenschaftspflicht öffentliche und private Finanzmittel kombiniert werden können, um die Kapazitäten zu vergrößern und die Risiken zu verteilen. |
3.10. |
Bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich der nachhaltigen Stadtentwicklung sollten stets auch Innovationen im Blick sein. Es wird empfohlen, den Zugang zu Innovationen sowie die gemeinsame Nutzung und großmaßstäbliche Umsetzung von Innovationsideen bereichsübergreifend in die Kohäsionspolitik für den Zeitraum 2021-2027 und in Partnerschaftsvereinbarungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten aufzunehmen. Die Erprobung neuer relevanter und innovativer Lösungen sollte, vor allem in Bereichen wie Technologien 4.0, Industrie 5.0 oder Web3-Technologien sowie soziale Innovation, nicht vernachlässigt werden. Der Europäischen Stadtinitiative kommt beim Kapazitätsaufbau und der Unterstützung innovativer Maßnahmen eine wichtige Rolle zu. |
3.11. |
Marginalisierte Regionen und Städte und die dort lebenden benachteiligten Bevölkerungsgruppen sollten mit dem Ziel, die Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger zu verbessern, ein ständiges Anliegen der Entwicklungspolitik sein. Auch die Bekämpfung der Armut sollte hohe Priorität haben. Der Zugang zu hochwertiger und inklusiver Bildung, Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und anderen öffentlichen Dienstleistungen ist von entscheidender Bedeutung, um eine faire Erholung der Städte nach der Pandemie zu gewährleisten. Bei der Entwicklung und Umsetzung thematischer Partnerschaften sollten schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen in den Städten, insbesondere u. a. ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Minderheiten, Einwanderer, Flüchtlinge sowie sozial, wirtschaftlich und kulturell benachteiligte Gruppen, besonders berücksichtigt werden. Ihre Einbeziehung sollte durch Kapazitätsaufbau im Rahmen des Prozesses sichergestellt werden. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, den Abbau neuer Formen sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und territorialer Ungleichheiten zu einer Priorität zu machen. Dafür ist eine gerechte und vielgestaltige Einbeziehung der verschiedenen Interessenträger zu gewährleisten. |
3.12. |
Im Abkommen von Ljubljana wurden der Bedarf an organisatorischer und fachlicher Unterstützung sowie ein gewisser Unterstützungsbedarf für kleinere Städte ermittelt. Da die EU-Städteagenda nach wie vor eine informelle und freiwillige Initiative ist, sollten die Mitglieder auch zur Unterstützung der Partnerschaften und zur Umsetzung der Maßnahmen beitragen. Nach Auffassung des EWSA sollte bei der im Rahmen der Partnerschaften erforderlichen technischen Unterstützung auch auf die Nachhaltigkeit der Endergebnisse der Partnerschaften geachtet werden. Neben der Erhebung von Daten und ihrer Nutzung für evidenzbasierte Investitionen sollte auch kontinuierlich ein verstärkter, integrierter und partizipatorischer Ansatz in Betracht gezogen werden. |
3.13. |
Dennoch sind vorhersehbare und finanziell unterstützte Mechanismen, mit denen die europäischen Strategien in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, sowie eine angemessene Finanzierung auf lokaler Ebene für die Behörden kleiner und mittlerer Städte und deren kontinuierliche Einbeziehung in die Städteagenda unabdingbar. Auch bei der Umsetzung thematischer Partnerschaften sollte dieser Grundsatz sorgfältig angewandt werden. |
3.14. |
Die Kohäsionspolitik bietet eine Vielzahl von Instrumenten für eine nachhaltige Stadtentwicklung im Programmplanungszeitraum 2021-2027. Im Rahmen des neuen politischen Ziels 5 „Ein bürgernäheres Europa“ sollen spezifische Instrumente für die Umsetzung lokaler Entwicklungsstrategien in Städten und Gemeinden aller Größenordnungen entwickelt werden. Die Mindestzweckbindung von EFRE-Mitteln in den einzelnen Mitgliedstaaten für Prioritäten und Projekte, die von den Städten auf der Grundlage dieser Strategien ausgewählt werden, wurde von 5 % auf 8 % erhöht. Darüber hinaus wurde die Europäische Stadtinitiative ins Leben gerufen, um Städten kohärentere Unterstützung zu bieten. Der EWSA empfiehlt, kontinuierlich mehr Möglichkeiten für thematische Partnerschaften auf lokaler Ebene zu schaffen und alle relevanten Interessenträger, einschließlich des EWSA, einzubeziehen. In Zukunft könnte die Zweckbindung von Mitteln für die nachhaltige Stadtentwicklung höher ausfallen. |
3.15. |
Aufgrund der zunehmenden Volatilität und der vielfältigen Risiken müssen thematische Partnerschaften dazu beitragen, die Resilienz und Reaktionsfähigkeit bei asymmetrischen Schocks wie COVID-19 und vergleichbaren Situationen zu stärken. Der entsetzliche Krieg in der Ukraine beeinträchtigt die Stadtentwicklung in den Grenzländern. Thematische Partnerschaften sollten an kurzfristige Krisen angepasst und mit langfristigen strategischen Ansätzen gekoppelt werden. |
4. Besondere Bemerkungen
4.1. |
Nach Ansicht des EWSA müssen die Kriterien für die Auswahl von Partnern für die thematischen Partnerschaften spezifiziert werden. Beim Auswahlverfahren sollte die Möglichkeit, die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen neben den städtischen Behörden in diesen Prozess einzubinden, nicht vernachlässigt werden. Das gilt auch für jene Organisationen, die schutzbedürftige Gruppen, wie ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Minderheiten, Einwanderer, Flüchtlinge sowie sozial, wirtschaftlich und kulturell benachteiligte Gruppen vertreten. Diese sollten ermutigt und dazu angehalten werden, sich an Partnerschaften im Rahmen der EU-Städteagenda zu beteiligen. |
4.2. |
Laut dem Pakt von Amsterdam gehört der EWSA zu seinen Interessenträgern und er wird aufgefordert, im Rahmen seiner Zuständigkeiten einen Beitrag zur Weiterentwicklung der EU-Städteagenda zu leisten. Die Gültigkeit dieses Pakts wurde im Umsetzungsdokument zur neuen Leipzig-Charta und im Abkommen von Ljubljana bekräftigt. Dem EWSA sollte in der EU-Städteagenda und im Abkommen von Ljubljana eine größere Rolle zukommen. Der EWSA ist ein wichtiger europäischer Interessenträger, der für die wirtschaftlichen und sozialen Parameter von Entwicklungsstrategien verantwortlich ist und dank seiner Fähigkeiten, seines Fachwissens und seiner Legitimität einen Beitrag zu den drei Säulen des Abkommens von Ljubljana — bessere Finanzierung, bessere Rechtsetzung und besseres Wissen — leisten kann. Die Rolle des EWSA sollte im Abkommen von Ljubljana offiziell anerkannt werden und in den wichtigsten Leitungsgremien des Abkommens von Ljubljana berücksichtigt werden. Er sollte sowohl in der Gruppe für städtische Entwicklung als auch in der technischen Vorbereitungsgruppe für die Städteagenda vertreten sein und in die Sitzung der Generaldirektoren zum Thema städtische Fragen einbezogen werden. |
4.3. |
Nach Auffassung des EWSA sollten künftige thematische Partnerschaften Themen wie partizipative Demokratie, Ökonomie des Wohlergehens in Städten und Stadt-Land-Verbindungen (4) umfassen, die mit dem im strategischen Rahmen der EU verwendeten Konzept der territorialen Entwicklung in Einklang stehen. Der EWSA empfiehlt, eine eindeutige Verknüpfung zwischen dem Verfahren zur Auswahl der Partner, der Themenauswahl und den Nachhaltigkeitszielen einerseits und den Beiträgen der Partnerschaft zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele andererseits sicherzustellen. |
4.4. |
Künftig könnten thematische Partnerschaften in thematischen Clustern, bestehenden thematischen Netzen und Netzen zur Entwicklung maßgeschneiderter und ortsbezogener Lösungen für Städte organisiert werden. Dabei gilt es, einen verbesserten Zugang zu den Netzen, insbesondere für kleine und mittlere Städte, im Auge zu behalten. Die Städte sollten im Zentrum des Bottom-up-Ansatzes der thematischen Partnerschaften stehen, um Synergien zwischen den Gegebenheiten vor Ort und bereits bestehenden thematischen Partnerschaften zu gewährleisten. |
4.5. |
Der bei den thematischen Partnerschaften genutzte Konsultationsprozess sollte alle Formen des Dialogs und der Konsultation, wie den sozialen Dialog, den Bürgerdialog und den zivilgesellschaftlichen Dialog, umfassen und alle Arten zivilgesellschaftlicher Interessenträger, wie die Sozialpartner, NRO und die Bürgerschaft, einbeziehen. |
4.6. |
Der EWSA schlägt vor, gemeinsam mit der Kommission und anderen einschlägigen Interessenträgern ein Sekretariat für thematische Partnerschaften einzurichten, um diese zu unterstützen, die Verknüpfung mit der Städtepolitik auf lokaler Ebene sicherzustellen, technische Hilfe zu gewährleisten sowie die Schaffung thematischer Gemeinschaften und den Austausch bewährter thematischer Verfahren zu erleichtern. Es sollten ausreichende Ressourcen bereitgestellt werden, um eine effiziente Verwaltung und wirksame thematische Partnerschaften — insbesondere zur Umsetzung der Aktionspläne — zu ermöglichen. |
4.7. |
Der EWSA empfiehlt, die EU-Städteagenda und die Kohäsionspolitik enger miteinander zu verknüpfen. Obwohl es sich um zwei getrennte Strategien und Initiativen mit unterschiedlichen Zielen und Rahmenbedingungen handelt, dürften Synergien bestehen, insbesondere bei der Plattform für den Wissensaustausch (5) und den Kapitalisierungsmaßnahmen, die im Rahmen der Europäischen Stadtinitiative entwickelt werden sollen. Bestehende Maßnahmen zur Umsetzung der thematischen Partnerschaften könnten in den operationellen Programmen, in den verschiedenen Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen oder in den Kriterien für die Projektbewertung aufgeführt werden. Die Ergebnisse der Arbeit der thematischen Partnerschaft sollten in die Planung der neuen operationellen Programme im Kohäsionsbereich einfließen. |
4.8. |
Die auf lokaler Ebene umgesetzte Städtepolitik und die EU-Politik, insbesondere die Kohäsionspolitik, müssen kohärenter sein und stärker ineinandergreifen. Es bedarf miteinander verknüpfter Instrumente für eine kohärentere Unterstützung der Städte im Rahmen der Kohäsionspolitik. Außerdem ist eine sektorübergreifende und interinstitutionelle Zusammenarbeit und Integration auf strategischer und operativer Ebene erforderlich. Zudem muss die regionale Wettbewerbsfähigkeit durch Komplementarität von städtischen und ländlichen Gebieten und durch einen starken sozialen Zusammenhalt im Rahmen der Kohäsionspolitik 2021-2027 ergänzt werden. |
4.9. |
Arbeitsbedingungen, berufliche Planungssicherheit sowie Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen, Chancen und angemessenen Löhnen sind wichtige Variablen für eine faire und gerechte Stadtentwicklung. Diese Variablen sollten bereichsübergreifend im Rahmen der Ökologisierung der Städte, der Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgungskette, der Kreislaufwirtschaft und des nachhaltigen Tourismus angegangen werden. Investitionen in die Menschen sollten eine der obersten Prioritäten der Entwicklungsstrategien bleiben. Fairer Zugang und Chancengleichheit sowie die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Grundrechte sind für den Erfolg thematischer Partnerschaften unabdingbar. |
4.10. |
Aufgrund der Konzentration der Ressourcen und des Bedarfs in städtischen Gebieten sollte im Rahmen des Europäischen Semesters ein individuellerer Ansatz für die Wirksamkeit der Stadtentwicklungspolitik verfolgt werden, damit keine Menschen oder Gebiete zurückgelassen werden. Die Kohärenz mit anderen europäischen Instrumenten wie der europäischen Säule sozialer Rechte gilt es dabei stets im Blick zu behalten. |
4.11. |
Es sind mehr und mehr sehr komplexe Entwicklungsstrategien und -projekte gefragt. Der EWSA schlägt vor, dass die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften für diese Arten von Investitionen die Kapazitäten in den Bereichen Bürgerbeteiligung, strategische Vorausschau und Vorbereitung auf verschiedene Szenarien, strategische Planung und öffentliche Investitionen erhöhen. Nur so ist eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklung der europäischen Städte möglich, die den Menschen wieder zentrale Bedeutung gibt. Dabei sollten der Datenkonvergenz aus verschiedenen Partnerschaften und dem Zugang zu Daten über offene Datenplattformen zusammen mit dem elektronischen Rechtsverkehr und digitaler Demokratie Rechnung getragen werden. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) https://ec.europa.eu/regional_policy/policy/themes/urban-development/agenda_en
(2) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 145.
(3) Siehe Stellungnahme des EWSA „Neufassung der Territorialen Agenda der EU, der Leipzig-Charta und der EU-Städteagenda“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 145).
(4) Siehe die Initiativstellungnahme des EWSA „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 49).
(5) https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/strategy/strategy-2020-2024/our-digital-future/era/knowledge-exchange-platform-kep_de
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/88 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bekämpfung der Energiearmut und Resilienz der EU: Herausforderungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht“
(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)
(2022/C 486/13)
Berichterstatter: |
Ioannis VARDAKASTANIS |
Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes |
Schreiben vom 26.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Sondierungsstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
22.6.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
137/2/5 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu Energie und einer sicheren Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen muss für die Europäische Union und die Mitgliedstaaten absolute Priorität haben. Aufgrund des drastischen Anstiegs der Energiepreise sind EU-weit immer mehr Bürger und Verbraucher von Energiearmut betroffen. Die Situation derjenigen, die bereits in Energiearmut leben, verschlechtert sich, und Verbraucher, die in der Vergangenheit keine Probleme mit der Begleichung ihrer Energierechnung hatten, drohen in die Armut abzurutschen. Zu dieser Situation tragen auch die derzeitigen geopolitischen Spannungen, einschließlich des Krieges in der Ukraine und der Abhängigkeit der Mitgliedstaaten von Energieimporten, bei. Es sind dringend Maßnahmen erforderlich, um Energiearmut unter den Bürgern und Verbrauchern in der EU vorzubeugen bzw. sie daraus zu befreien. |
1.2. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) räumt ein, dass die EU bei ihren Initiativen der Energiearmut große Bedeutung beimisst, auch bei ihren Rechtsvorschriften und Maßnahmen, insbesondere im Paket „Fit für 55“, bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals und bei der Renovierungswelle. Diese Maßnahmen sind für die langfristige Bekämpfung der Energiearmut und die Gewährleistung der Nachhaltigkeit unerlässlich. Allerdings wird die Resilienz der EU nur daran gemessen werden, wie die EU und die Mitgliedstaaten die entscheidenden sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen meistern, mit denen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen konfrontiert sind. |
1.3. |
Um die derzeitige Energiearmutskrise bewältigen zu können, fordert der EWSA, ein breites und ehrgeiziges politisches Bündnis zu schließen, um die Energiearmut ganzheitlich zu analysieren und anzugehen, mit dem Ziel, die Energiearmut bis 2030 auf ein Mindestmaß zu reduzieren und auf lange Sicht komplett auszumerzen. Diesem Bündnis sollten die Europäische Kommission und die Beratungsplattform Energiearmut, das Europäische Parlament, der Rat, die Mitgliedstaaten, der Europäische Ausschuss der Regionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Bürgermeisterkonvent sowie Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, Verbraucherverbänden und Organisationen, die die am stärksten von Energiearmut bedrohten Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Die Maßnahmen dieses Bündnisses sollten im Rahmen einer EU-Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut weiterentwickelt werden, und die Kommission sollte die Mitgliedstaaten auffordern, unter Einbeziehung und Abstimmung aller politischen und finanziellen Instrumente auf EU- und nationaler Ebene nationale Pläne oder Konzepte zur Beseitigung der Energiearmut auszuarbeiten. |
1.4. |
Angesichts der Bedeutung dieses Problems fordert der EWSA die EU auf, eine gemeinsame Herangehensweise an das Thema „Energiearmut“ zu fördern, die für ein konkretes gemeinsames Verständnis von Energiearmut sorgt und die Erhebung statistischer Daten ermöglicht, wobei den Unterschieden und Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden sollte. Eine solche Herangehensweise ist auch erforderlich, um die Lage und die Auswirkungen der EU-weit ergriffenen Maßnahmen zu beobachten. |
1.5. |
Der EWSA stellt fest, dass die Kommission bereits erste Vorschläge für sofortige und langfristige Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher und zur Bekämpfung der Energiearmut unterbreitet hat, z. B. mit ihrer Empfehlung zu Energiearmut, ihrer Energiepreis-Toolbox, ihrer Mitteilung „REPowerEU“ und dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität. Die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen mögen von nationalen und lokalen Besonderheiten abhängen, doch müssen die Mitgliedstaaten im Interesse einer resilienten EU in Krisenzeiten unbedingt eine Reihe von Maßnahmen (wie eine direkte finanzielle Unterstützung und soziale Maßnahmen sowie Anreiz- und Fördermaßnahmen zur Verringerung des Energieverbrauchs) ergreifen, um die negativen Auswirkungen der steigenden Preis auf die schutzbedürftigsten Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen abzumildern. |
1.6. |
Der EWSA betont, wie wichtig es ist, in eine faire und effiziente Energieversorgung zu investieren, um die Energiearmut auf lange Sicht zu lindern. Um dies zu erreichen, muss dafür gesorgt werden, dass mit den Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz sowie umfassende Gebäuderenovierungen die einkommensschwächsten Gruppen unterstützt werden und sichergestellt wird, dass finanziell schwächeren Bürgern die Mittel für Investitionen in Energieeffizienz zur Verfügung stehen und den Gebäuden mit der schlechtesten Energieeffizienz Vorrang eingeräumt wird. Die Kommission sollte eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um zu prüfen, ob die verfügbaren Haushaltsmittel den Bedürfnissen und Anforderungen gerecht werden und welche Optionen zur weiteren Unterstützung der Mitgliedstaaten verfügbar sind. |
1.7. |
Da Energiearmut auch auf allgemeine Armut zurückzuführen ist, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten weiterhin gezielt auf die Verringerung der Armut insgesamt hinarbeiten. Diese Krise rückt die Notwendigkeit in den Fokus, den Zugang zu Beschäftigung und die soziale Inklusion laufend zu verbessern sowie für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen — wobei Menschen in ländlichen und abgelegenen Gebieten besonders berücksichtigt werden sollten — und das Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten zu fördern. |
1.8. |
Die EU und die Mitgliedstaaten müssen ein investitionsfreundliches Umfeld für CO2-freie und CO2-arme Energie in Europa gewährleisten. Darüber hinaus werden Umschulung und Weiterbildung beim ökologischen Wandel, bei der Renovierungswelle und bei der Energieeffizienz eine wichtige Rolle spielen. Weitere vorteilhafte Maßnahmen könnten u. a. Aufklärung, Beratung und Konsultationen im Energiebereich sein, die auf lokaler Ebene allgemein verfügbar und erschwinglich sein (z. B. über zentrale Anlaufstellen) müssen. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1. |
Energiearmut ist für die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in der EU ein immer größeres Problem, das zunehmend Anlass zur Sorge gibt. Im Jahr 2020 gaben 8 % der EU-Bevölkerung an, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Wohnung ausreichend zu heizen (1). Mittlerweile dürfte diese Zahl angesichts der seit Mitte 2021 sprunghaft gestiegenen Energiepreise noch höher sein. Im März 2022 erreichte die jährliche Teuerungsrate im Energiebereich in der EU 40,2 %, wobei die höchste Jahresänderungsrate der Energiepreise 99,6 % und die niedrigste 0 % betrug (2). Die Energiepreise werden auch von geopolitischen Spannungen, einschließlich des Krieges in der Ukraine und der Abhängigkeit der EU-Mitgliedstaaten von Energieimporten, beeinflusst (3). Bei einem gleichzeitigen Anstieg der Energie-, Beförderungs- und Lebensmittelpreise verschärft sich die Lage bei allen Verbraucherinnen und Verbrauchern, besonders aber bei einkommensschwachen Haushalten, die häufiger unter Energiearmut leiden. Energiearmut bleibt daher eine große Herausforderung mit erheblichen sozialen Folgen. Es ist eine dringende Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, schutzbedürftige Bürgerinnen und Bürger daraus zu befreien. |
2.2. |
Energiearmut ergibt sich aus einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter geringes Einkommen, energieineffiziente Gebäude und Geräte sowie mangelnde Informationen über die Senkung des Energieverbrauchs und mangelnder Zugang zu entsprechenden Anreizmaßnahmen. Die hohen Energiepreise wirken sich auch auf die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen aus. Durch die steigenden Energiekosten werden Kleinst-, kleine und mittlere Unternehmen nämlich in eine äußerst prekäre Lage (4) gebracht und sind von Insolvenz bedroht, was zu Arbeitsplatzverlusten führen kann, die wiederum zur Armut beitragen. Auch „finanziell schwächere Kleinstunternehmen“ sind stark von den Preisauswirkungen der Aufnahme von Gebäuden in den Geltungsbereich der Richtlinie 2003/87/EG betroffen und ihnen fehlen die Mittel für eine Renovierung der von ihnen genutzten Gebäude. Infolge des drastischen Anstiegs der Energiepreise erhöhen sich aufgrund eines Kaskadeneffekts bei allen Arten von Waren und Dienstleistungen die Kosten. Europa droht eine Stagflation, d. h. ein geringeres Wirtschaftswachstum gepaart mit einer hohen Inflation, die zusätzliche Armutsfaktoren sind (5). |
2.3. |
Am stärksten von Energiearmut betroffen sind in Europa Geringverdienende wie erwerbstätige Arme, Rentnerinnen und Rentner mit geringem Einkommen, Studierende, junge Erwachsene, kinderreiche Familien und Alleinerziehende sowie benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit bereits hohen Armutsquoten, darunter Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Migranten und Angehörige der Minderheit der Roma. Frauen sind stärker von Energiearmut und ihren Auswirkungen bedroht, weil sie im Durchschnitt weniger verdienen und stärker auf die Wärme- und Kälteversorgung ihres Zuhauses angewiesen sind, wo sie aufgrund von Betreuungspflichten mehr Zeit verbringen. Des Weiteren leiden die in den östlichen und südlichen Mitgliedstaaten lebenden Menschen im Durchschnitt stärker unter Energiearmut (6). |
2.4. |
Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs aller Unionsbürgerinnen und -bürger zu sauberer und erschwinglicher Energie stellt eine wesentliche Verpflichtung seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten dar. Nach der europäischen Säule sozialer Rechte hat jede Person das Recht auf Zugang zu essenziellen Dienstleistungen, zu denen auch die Energieversorgung zählt (Grundsatz 20). Der „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle“ gehört auch zu den Zielen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Ziel 7). Eine ausreichende Energieversorgung für Heizung, Kühlung und Beleuchtung sowie den Betrieb von Haushaltsgeräten ist entscheidend für einen angemessenen Lebensstandard und die Gesundheit. Der Zugang zu Energiedienstleistungen ist zudem eine wesentliche Voraussetzung für soziale Inklusion. Insgesamt werden infolge der mit den Maßnahmen gegen Energiearmut einhergehenden vielfachen Vorteile in der EU auch unmittelbar Wirtschaftswachstum und Wohlstand gefördert. |
2.5. |
In den letzten zehn Jahren hat sich die EU in verschiedenen rechtlichen und politischen Dokumenten mit Energiearmut befasst, bspw. im dritten Energiepaket (2009-2014), in der Strategie für die Energieunion von 2015 und in dem Legislativpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ von 2019, mit dem eine gerechte Energiewende erleichtert werden soll. Die Energiearmut ist auch ein wichtiger Bestandteil jüngerer Initiativen, bspw. des europäischen Grünen Deals, einschließlich der Renovierungswelle und des Pakets „Fit für 55“. Die Energiearmut wird bei mehreren Vorschlägen, die Teil des Pakets sind, berücksichtigt, darunter der Vorschlag für einen neuen Klima-Sozialfonds, mit dem die negativen sozialen Folgen der geplanten CO2-Bepreisung von Verkehr und Gebäuden abgemildert werden sollen, und der Vorschlag für eine Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie, in der eine Definition von Energiearmut vorgeschlagen wird (7). Das Paket umfasst auch einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität, in dem den Mitgliedstaaten spezifische Leitlinien dafür an die Hand gegeben werden, wie sie die einschlägigen beschäftigungs- und sozialpolitischen Aspekte des ökologischen Wandels angehen können, was angesichts der aufgrund der steigenden Energiepreise und des geopolitischen Kontexts beschleunigten Umstellung nun umso wichtiger ist. |
2.6. |
Im Jahr 2020 nahm die Europäische Kommission eine Empfehlung zu Energiearmut an, die Leitlinien zu geeigneten Indikatoren für die Erfassung der Energiearmut und zur Definition des Begriffs „erhebliche Anzahl von Energiearmut betroffenen Haushalten“ enthält. Sie trägt auch zum Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten bei und zeigt die auf EU-Ebene in Form einer Kombination von Finanzierungsquellen verfügbaren Fördermittel auf, die es den nationalen, regionalen und lokalen Behörden ermöglichen, ihre finanzielle Schlagkraft voll zu nutzen, einschließlich Zuschüssen und subventionierter Renovierungsmaßnahmen, um Vorabinvestitionen zu begrenzen. Weitere wichtige Initiativen sind die Unterstützung lokaler Projekte durch die Beratungsplattform Energiearmut, die in diesem Jahr erstmals technische Hilfe bietet, die Energiepreis-Toolbox, mit der den Mitgliedstaaten geeignete Instrumente an die Hand gegeben werden, um die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen bei der Bewältigung der hohen Energiepreise zu unterstützen, die Unterstützung schutzbedürftiger Haushalte und Unternehmen im Rahmen von REPowerEU (8) und die kürzlich eingesetzte Koordinierungsgruppe „Energiearmut und schutzbedürftige Verbraucher“ (9). |
2.7. |
Der EWSA stellt jedoch fest, dass die bislang von der Kommission vorgelegten Initiativen ohne eine rasche Umsetzung, ein starkes Engagement und konkrete Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten — einschließlich einer gemeinsamen Herangehensweise, die es ermöglicht, das Thema Energiearmut auf EU-Ebene zu fassen und anzugehen, und die in eine gemeinsame Definition münden könnte, wobei es den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt, maßgeschneiderte Lösungen zu finden — nicht ausreichen werden, um die aktuelle Krise, die immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher trifft, erfolgreich zu meistern. |
3. Ganzheitliche Bekämpfung der Energiearmut: Aufruf zu einem politischen Bündnis und einer Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut
3.1. |
Da die Energiearmut das Resultat sozialer, ökologischer, wirtschaftlicher und geopolitischer Faktoren ist, erfordert sie einen ganzheitlichen Ansatz. Hierzu zählen auch eine umfassende Analyse des Problems und die Einbeziehung verschiedener Interessenträger — von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Organisationen der Zivilgesellschaft über die Unternehmen bis hin zu europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Behörden. Der EWSA fordert, hierfür ein breites und ehrgeiziges politisches Bündnis zu schließen. Diesem Bündnis sollten die Europäische Kommission und die Beratungsplattform Energiearmut, das Europäische Parlament, der Rat, die Mitgliedstaaten, der Europäische Ausschuss der Regionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Bürgermeisterkonvent sowie Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, darunter Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen, Verbraucherverbänden und Organisationen, die die am stärksten von Energiearmut bedrohten Bevölkerungsgruppen repräsentieren. |
3.2. |
Die Mitgliedstaaten sollten kontinuierlich mit den Verbrauchern und den zuständigen lokalen und kommunalen Behörden in Kontakt stehen. Die Städte und Regionen sind oft am besten in der Lage, frühzeitig zu erkennen, welche Haushalte von Energiearmut bedroht sind, und so das Problem wirksam anzugehen. Neben den nationalen und lokalen Behörden (einschließlich der Gemeinden und kommunalen Dienste) (10) können bei den Maßnahmen zur Verringerung der Energiearmut auch lokale und nationale Unternehmen als wichtige Akteure fungieren, u. a. indem sie einen Beitrag zur Renovierungswelle leisten. Da es schutzbedürftigen Verbraucherinnen und Verbrauchern in der Regel schwerer fällt, ihr Konsumverhalten rasch anzupassen, sollten sie auf allen Ebenen konsultiert und einbezogen werden. Ihre Erfahrungen und Verhaltensweisen müssen unbedingt bei der Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen berücksichtigt werden. |
3.3. |
Den Organisationen der Zivilgesellschaft kommt eine Schlüsselrolle bei der Erleichterung des Dialogs zwischen Bürgern, Unternehmen, Arbeitnehmern, Verbrauchern und Entscheidungsträgern zu. Angesichts ihres Fachwissens und ihrer Netzwerke vor Ort müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft in die Entwicklung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Energiearmut einbezogen werden, auch in die Konzipierung, Umsetzung und Überwachung von Strategien zur Beseitigung der Energiearmut. |
3.4. |
Der EWSA empfiehlt, dass das Bündnis auf Initiative der Kommission eine EU-Strategie zur Bekämpfung der Energiearmut entwickelt. Die Strategie sollte auf der Anerkennung des Rechts auf Energie beruhen und ehrgeizige, aber realistische Vorgaben im Hinblick auf die Ziele des Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte enthalten sowie darauf abzielen, die Energiearmut langfristig auszumerzen. Sie sollte energiepolitische und nicht energiebezogene Maßnahmen umfassen, mit denen die Ursachen der Energiearmut angegangen und die Lebensbedingungen der von Energiearmut betroffenen und schutzbedürftigen Verbraucherinnen und Verbraucher verbessert werden. Eine solche Strategie ist auch notwendig, um sicherzustellen, dass die Klima- und die Energiewende so konzipiert und umgesetzt werden, dass sie gerecht, fair und inklusiv sind und niemand zurückgelassen wird. Sie könnte ein jährliches Treffen (zur Überwachung der Fortschritte und zur Sensibilisierung für gemeinsame Maßnahmen) sowie Anforderungen in Bezug auf regelmäßige strukturierte Dialoge mit den Mitgliedstaaten und allen einschlägigen Interessenträgern und deren Sensibilisierung sowie zusätzliche Anreize für Investitionen in die Energiewende umfassen. Bei ihrer Umsetzung und Überwachung könnte der Beratungsplattform Energiearmut eine wichtigere Rolle zuerkannt werden. |
3.5. |
Parallel hierzu müssen die Europäische Kommission, der Rat, das Parlament und die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene weiterhin dafür sorgen, dass bei den bestehenden und neuen legislativen und politischen Initiativen der Energiearmut angemessen Rechnung getragen wird. Dies sollten sie beispielsweise bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals und der Renovierungswelle tun, indem sie die bei den nationalen Energie- und Klimaplänen und den langfristigen Gebäuderenovierungsstrategien erzielten Fortschritte überprüfen und darüber Bericht erstatten und beim Europäischen Semester größeres Gewicht auf die Energiearmut legen. Auch bei Gesetzgebungsinitiativen und der Überprüfung von Rechtsvorschriften bietet sich die Möglichkeit, stärker auf die Energiearmut einzugehen, z. B. im Rahmen der anstehenden Überarbeitungen der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, der Erneuerbare-Energien-Richtlinie und der Energieeffizienzrichtlinie sowie des Vorschlags für einen Klima-Sozialfonds. Darüber hinaus muss die EU sicherstellen, dass bei allen neuen Initiativen zur Bereitstellung erschwinglicher, sicherer und nachhaltiger Energie weiterhin den Auswirkungen auf die schutzbedürftigsten Verbraucherinnen und Verbraucher besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, um die Folgen der hohen Energiepreise abzumildern. Hierzu gehören Initiativen für eine CO2-arme Wirtschaft und Initiativen zur Beendigung der Abhängigkeit Europas von fossilen Brennstoffen aus Russland, wie z. B. die Mitteilung „REPowerEU“. |
3.6. |
Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten auffordern, unter Einbeziehung und Abstimmung aller politischen und finanziellen Instrumente auf EU- und nationaler Ebene nationale Pläne oder Konzepte zur Beseitigung der Energiearmut auszuarbeiten. Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten, die sich im Rahmen ihrer nationalen Energie- und Klimapläne nicht genügend für die Bekämpfung der Energiearmut einsetzen, dazu auf, mithilfe klarer Überwachungs- und Bewertungsrahmen ihre Bemühungen zu verstärken. Da nur wenige belastbare Erkenntnisse darüber vorliegen, wie Energiearmut quantifiziert und überwacht werden sollte, ist eine genaue und bessere Berichterstattung unerlässlich. |
4. Bekämpfung der Energiearmut durch sofortige und langfristige Maßnahmen zur Messung des Phänomens und zum Schutz der Verbraucher
4.1. |
Der EWSA fordert die EU nachdrücklich auf, eine gemeinsame Herangehensweise zu fördern, die es ermöglicht, das Thema Energiearmut auf EU-Ebene zu fassen und anzugehen, und die in eine gemeinsame Definition münden könnte. Tatsache ist, dass jeder Mitgliedstaat den Begriff Energiearmut anhand seiner eigenen Kriterien definieren kann, und das Fehlen einer gemeinsamen Herangehensweise könnte dazu führen, dass die Kommission nicht in der Lage ist, die Situation angemessen zu bewerten, und die Mitgliedstaaten nicht dasselbe darunter verstehen und unterschiedlich reagieren. Die im Vorschlag für eine Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie enthaltene Begriffsbestimmung und die zuvor von der Europäischen Beobachtungsstelle für Energiearmut (EPOV) (11) festgelegten Indikatoren sind ein guter Anfang. Angesichts der Dringlichkeit dieses Problems hält es der EWSA für erforderlich, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Herangehensweise fördern, die für ein konkretes gemeinsames Verständnis von Energiearmut sorgt und die Erhebung statistischer Daten ermöglicht (12). |
4.2. |
In ihrer Energiepreis-Toolbox hat die Kommission mehrere Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, die die Mitgliedstaaten zur Abmilderung der Folgen der Energiekosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher ergreifen könnten, wie Preisobergrenzen, Steuererleichterungen und Subventionen für Verbraucher und Unternehmen sowie — unter Berücksichtigung der Situation und der Bedürfnisse schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende und kinderreiche Familien — soziale Maßnahmen, wie z. B. spezielle Beihilfen und vorübergehende Zahlungsaufschübe bei den Energierechnungen. Bis Februar 2022 hatten die Mitgliedstaaten bereits viele der in der Toolbox empfohlenen Maßnahmen ergriffen. So leisteten 18 Mitgliedstaaten Zahlungen an schutzbedürftige Gruppen und elf Mitgliedstaaten hatten die Energiesteuer gesenkt (13). Aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten (und innerhalb der einzelnen Regionen) und der verschiedenartigen Maßnahmen, die ergriffen wurden, schwankt die Zahl der von Energiearmut bedrohten Bürgerinnen und Bürger von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. |
4.3. |
Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, weiterhin Sofortmaßnahmen zu ergreifen, wann immer diese erforderlich ist, um Verbraucherinnen und Verbraucher, die von Energiearmut betroffen oder bedroht sind, zu schützen, und dabei den nationalen, regionalen und lokalen Bedürfnissen und Besonderheiten Rechnung zu tragen. Zwar gibt es keine Universallösung, da die Energiepreise innerhalb der EU stark variieren, u. a. weil die Mitgliedstaaten momentan sehr unterschiedlich in die Märkte eingreifen (bspw. durch Steuern und Abgaben, Befreiungen oder Belastungen, die häufig nur bestimmte Verbraucher betreffen) (14), doch müssen die Mitgliedstaaten für eine Unterstützung der schwächsten Bevölkerungsgruppen sorgen. Es sollten eine direkte finanzielle Unterstützung und sozialpolitische Maßnahmen vorgesehen werden, um die negativen Folgen der Preiserhöhungen auf die am stärksten gefährdeten Gruppen abzufedern. |
4.4. |
Direkte Unterstützungsleistungen für Hilfsbedürftige müssen gezielt erfolgen, nicht nach dem Gießkannenprinzip. Sie müssen die soziale Dimension widerspiegeln und dürfen den ökologischen Wandel nicht behindern. So könnte ein zeitlich begrenzter Zuschuss (z. B. für die ersten 300 kWh Strom pro Person und Haushalt) bis zu einer festzulegenden Einkommensgrenze erwogen werden. Es sollte auch direkte Unterstützung geleistet werden, wenn das Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, sofern unter den konkreten Umständen keine erschwinglichen Alternativlösungen verfügbar sind (15). |
4.5. |
Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten zur Steigerung der Energieeffizienz und Reduzierung der Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene stärkere Anreize für die Senkung ihres Energieverbrauchs sowie intelligente und nachhaltige Renovierungsmaßnahmen bieten. Solche Maßnahmen sollten von der Kommission gefördert werden. Diese Maßnahmen sollten insofern als Ergänzung betrachtet werden, als sie nicht die finanziellen und sozialen Fördermaßnahmen ersetzen können, die als direktes Sicherheitsnetz für die momentan hart von der Preisvolatilität getroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher dienen müssen. |
4.6. |
Weitere vorteilhafte Maßnahmen könnten u. a. Aufklärung, Beratung und Konsultationen im Energiebereich sein, die auf lokaler Ebene allgemein verfügbar und erschwinglich sein (z. B. über zentrale Anlaufstellen) und durch Subventionen gefördert werden müssen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher, darunter Gebäudeeigentümer und Mieter, können hierbei auch mithilfe von Maßnahmen wie Gebäuderenovierungspässe (16), Energieausweise und intelligente Zähler unterstützt werden. Die Energieberatung muss auf die Bedürfnisse der Verbraucher zugeschnitten sein, da Lösungen sehr individuell ausfallen. Insbesondere die Verbraucherverbände und die lokalen und regionalen Behörden sollten in die Konzipierung von Maßnahmen und die Bereitstellung von Informationen für die Verbraucher einbezogen werden. |
4.7. |
Da Energiearmut auch auf allgemeine Armut zurückzuführen ist, müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten weiterhin auf die Verringerung der Armut insgesamt hinarbeiten und dabei der bereits von Energiearmut betroffenen Bevölkerung sowie denjenigen besondere Aufmerksamkeit widmen, die von Armut bedroht sind, da sie nicht in der Lage sind, höhere Energiepreise zu zahlen. Diese Krise rückt die Notwendigkeit in den Fokus, den Zugang zu Beschäftigung und die soziale Inklusion laufend zu verbessern sowie für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen — wobei Menschen in ländlichen und abgelegenen Gebieten besonders berücksichtigt werden sollten — und generell das Wirtschaftswachstum der Mitgliedstaaten zu fördern. Für bessere Infrastrukturen von allgemeinem Interesse, grundlegende Dienstleistungen und den Verkehr bedarf es einer veränderten Sichtweise. Beschäftigung und KMU sollten unterstützt werden, insbesondere in benachteiligten und ländlichen Gebieten. |
4.8. |
Peer-Review-Verfahren in den Mitgliedstaaten und der Austausch einschlägiger bewährter Verfahren können sowohl im sozialen als auch im Energiebereich zu erfolgreichen Projekten führen, die in der gesamten Union nachgeahmt werden können. Dazu zählen auch Projekte in den Bereichen Energieeffizienz, Energiekompetenz und saubere Energie (Versorgung der Menschen mit erneuerbaren Energien), aber auch soziale Maßnahmen, mit denen die Energiekosten und die Armut insgesamt verringert werden können. |
5. Bekämpfung der Energiearmut durch Investitionen in eine faire und effiziente Energieversorgung
5.1. |
Der EWSA betont, wie wichtig es ist, in eine faire und effiziente Energieversorgung zu investieren, um die Energiearmut auf lange Sicht zu lindern. Investitionen in die Entwicklung neuer sauberer Energien und in umfassende Gebäuderenovierungen in der EU sind mit Blick auf die strukturell unzureichenden langfristigen Investitionen in diesem Bereich sowie deren klimatische, ökologische, wirtschaftliche und soziale Folgen eine Notwendigkeit. Sie wirken sich außerdem hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Innovation positiv auf die Wirtschaft aus und kommen somit kurz-, mittel- und langfristig den Unionsbürgerinnen und -bürgern zugute. |
5.2. |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag, einen europäischen Klima-Sozialfonds einzurichten, um die sozialen Herausforderungen und die Verteilungsprobleme des — zur Bekämpfung des Klimawandels unabdingbaren — ökologischen Wandels zu meistern und Anreize für Maßnahmen zur Abmilderung der sozialen Folgen des Emissionshandels für Gebäude und den Straßenverkehr zu schaffen. Der EWSA hält jedoch fest, dass dieser Fonds allein nicht ausreichen könnte, um allen Anforderungen hinsichtlich Energieeffizienz und -wende gerecht zu werden, und durch entsprechende Maßnahmen im Rahmen der nationalen Partnerschaftsabkommen und der Aufbau- und Resilienzpläne gestärkt werden könnte. |
5.3. |
Energiearmut kann verringert werden, indem Investitionen erleichtert und Finanzmittel für erneuerbare Energien bereitgestellt werden. Die Kommission sollte eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um zu prüfen, ob die verfügbaren Haushaltsmittel den Bedürfnissen und Anforderungen gerecht werden und welche Optionen zur weiteren Unterstützung der Mitgliedstaaten verfügbar sind (z. B. der von mehreren Mitgliedern des Europäischen Parlaments (17) und vom EWSA befürwortete Vorschlag für einen neuen Klimaanpassungsfonds, der genutzt werden könnte, um die EU besser in die Lage zu versetzen, die Mitgliedstaaten bei einer raschen Reaktion auf Klima-, Umwelt- und Energiekrisen zu unterstützen). Sie sollte der wirtschaftlichen Erholung und der Notwendigkeit einer tragfähigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen in den Mitgliedstaaten und in der EU Rechnung tragen. |
5.4. |
Auch der neue mehrjährige Finanzrahmen und das Aufbauinstrument NextGenerationEU sollten weiterhin für Maßnahmen gegen Energiearmut nach der COVID-19-Pandemie genutzt werden. Der EWSA stellt fest, dass es infolge der Invasion der Ukraine durch Russland noch dringlicher geworden ist, in der EU für eine rasche Energiewende zu sorgen, um sich aus der Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen zu lösen, die Widerstandsfähigkeit des Energiesystems zu erhöhen, allen Unionsbürgerinnen und -bürgern Zugang zu einer fairen und effizienten Energieversorgung zu geben und zugleich die Klimaziele zu erreichen. Der EWSA weist darauf hin, dass der Krieg in der Ukraine und der aktuelle geopolitische Kontext nicht dazu führen sollten, dass die EU die von ihr angestrebten sozialen und ökologischen Ziele vernachlässigt, die langfristig die Grundlage für Wirtschaftskraft bilden. |
5.5. |
Die EU und die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass mit den verfügbaren Mitteln umfangreiche Investitionen in erneuerbare Energien und die Energieeffizienz, die Gebäuderenovierung, Subventionen für die Wohngebäudedämmung und erschwingliche, energieeffiziente Sozialwohnungen sowie kommunale Wohnungsbauprojekte gefördert werden. Es liegt auf der Hand, dass umfangreiche private Investitionen erforderlich sind. Dazu bedarf es eines förderlichen Regelungs- und Investitionsumfelds. Die Mitgliedstaaten sollten in Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften einer umfassenden Renovierung Vorrang einräumen, die zu Energieeinsparungen von über 60 % führen würde (18), und die Qualifizierung von Arbeitskräften unterstützen. |
5.6. |
Den Regionen, Städten und Gemeinden, die am stärksten von der Energiewende betroffen sind, könnten Mittel aus dem Kohäsionsfonds und dem Mechanismus für einen gerechten Übergang zur Verfügung gestellt werden. Die Europäische Kommission sollte auch weiterhin im Rahmen von Horizont Europa und des LIFE-Teilprogramms „Energiewende“ Projekte zur Bekämpfung der Energiearmut finanzieren. So könnten beispielsweise Forschungsmittel aus Horizont Europa für die Entwicklung erschwinglicher Geräte und Technologien eingesetzt werden, mit denen sich der Energieverbrauch der Haushalte senken lässt. Die Kommission und die Mitgliedstaaten sollten Unternehmen, darunter auch Privatunternehmen, mit EU-Mitteln zu Innovation und zur Entwicklung geeigneter Technologien zur Steigerung der Energieeffizienz motivieren. |
5.7. |
Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten ferner auf, dafür zu sorgen, dass mit der Renovierungswelle die einkommensschwächsten Gruppen unterstützt werden und sichergestellt wird, dass finanziell schwächeren Bürgern die Mittel für Investitionen in Energieeffizienz zur Verfügung stehen. Dabei sollte den Gebäuden mit der schlechtesten Energieeffizienz Vorrang eingeräumt und so Ausgrenzung aus dem Wohnungsmarkt vermieden werden. Für die Renovierung von Gebäuden und die dezentrale Erzeugung erneuerbarer Energien sollten insbesondere den Akteuren vor Ort deutlich mehr EU-Mittel zur Verfügung gestellt werden. Vorrangige Begünstigte sollten dabei bereits in Armut lebende oder von Energiearmut bedrohte finanziell schwächere Haushalte sein. Als Ausgleich für die Ausweitung des Emissionshandelssystems müssen daher ausreichende Mittel aus dem Klima-Sozialfonds bereitgestellt werden. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten mehr in erneuerbare Energien und in die Energieeffizienz investieren. So könnten erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie, bei denen nahezu keinerlei variable Kosten anfallen, zu niedrigeren Großhandelspreisen führen (19). |
5.8. |
Umschulung und Weiterbildung werden beim ökologischen Wandel, bei der Renovierungswelle und bei der Energieeffizienz eine wichtige Rolle spielen. Mit Blick auf die Entwicklung konkreter Strategien zur Überwachung und Antizipation des Bedarfs an Qualifizierung, Weiterbildung und Umschulung der Arbeitnehmer in den betroffenen Sektoren verweist der EWSA auf die Ergebnisse einschlägiger Sozialpartnerprojekte (20). |
5.9. |
Auch der Privatwirtschaft kommt eine Schlüsselrolle dabei zu, Unternehmertum und Investitionen zu fördern, u. a. mit dem Ziel, die Entwicklung grüner Kompetenzen zur Beschleunigung des ökologischen Wandels und zur Reduzierung der Energiearmut voranzutreiben. Es sollten deutlich mehr öffentlich-private Partnerschaften gegründet und Mittel für Forschung und Entwicklung bereitgestellt werden, und die KMU sollten stärker technisch unterstützt werden, um Umweltnormen wie Energieaudits erfüllen zu können. Zudem sollten die Mitgliedstaaten bewährte Verfahren austauschen, um sie stärker zu verbreiten. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products-eurostat-news/-/ddn-20211105-1
(2) Quelldatensatz: prc_hicp_manr.
(3) https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_production_and_imports
(4) REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (8. März 2022).
(5) Die Kommission hat auf die negativen Auswirkungen hingewiesen, die die hohen Energiepreise auf die Wirtschaft, einschließlich der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, haben. Laut Schätzungen der Europäischen Zentralbank (noch von vor der russischen Invasion) wird infolge der Energiepreisschocks im Jahr 2022 das BIP-Wachstum um rund 0,5 Prozentpunkte sinken. Siehe REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie (8. März 2022).
(6) Zur Erstellung der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU SILC) für das Jahr 2020 wurden Variablen herangezogen, die auf Angaben der Befragten darüber beruhen, ob sie ihre Wohnung ausreichend heizen können, ob sie in schlechten Wohnverhältnissen leben und ob sie Zahlungsrückstände bei den Energierechnungen haben. Sie hat gezeigt, dass es zwar in der gesamten EU Energiearmut gibt, sie aber in den ost- und südeuropäischen Mitgliedstaaten besonders stark ausgeprägt ist.
(7) In der Begriffsbestimmung 49 in Artikel 2 der vorgeschlagenen Neufassung der Energieeffizienzrichtlinie bezeichnet der Ausdruck Energiearmut den „fehlenden Zugang eines Haushalts zu essenziellen Energiedienstleistungen, die einen angemessenen Lebensstandard und Gesundheit gewährleisten, einschließlich einer angemessenen Versorgung mit Wärme, Kälte und Beleuchtung sowie Energie für den Betrieb von Haushaltsgeräten, in dem jeweiligen nationalen Kontext und unter Berücksichtigung der bestehenden sozialpolitischen und anderer einschlägiger Maßnahmen“.
(8) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1511
(9) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32022D0589
(10) COM(2020) 662 final.
(11) https://energy-poverty.ec.europa.eu/energy-poverty-observatory/indicators_en
(12) So wurde in den im Europäischen Parlament über den Vorschlag für einen Klima-Sozialfonds geführten Verhandlungen vorgeschlagen, Energiearmut folgendermaßen zu definieren: „Armut, die Haushalte in den niedrigsten Einkommensdezilen betrifft, deren Energiekosten das Doppelte des Medianverhältnisses zwischen Energiekosten und verfügbarem Einkommen nach Abzug der Wohnkosten übersteigen“.
(13) Giovanni Sgaravatti, Simone Tagliapietra, Georg Zachmann: National fiscal policy responses to the energy crisis. Bruegel, 8. Februar 2022.
(14) Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).
(15) Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).
(16) https://www.bpie.eu/publication/renovation-passports/
(17) Regional development MEPs suggest to set-up a Climate Change Adaptation Fund | Aktuelles | Europäisches Parlament (europa.eu).
(18) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019H0786&from=DE
(19) Schätzungen zufolge hat der Ausbau der erneuerbaren Elektrizität bei sonst gleichen Bedingungen im Zeitraum 2008-2015 in Deutschland zu einem Rückgang der Spot-Strompreise um 24 % und im Zeitraum 2010-2015 in Schweden um 35 % geführt (Hirth, 2018).
(20) Stellungnahme des EWSA zu Energiepreisen (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 80).
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/95 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sozialer Dialog im Rahmen des grünen Wandels“
(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)
(2022/C 486/14)
Berichterstatterin: |
Lucie STUDNIČNÁ |
Befassung |
Tschechischer Ratsvorsitz, 26.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt |
Annahme in der Fachgruppe |
5.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
162/1/7 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die Bewältigung des Klimanotstands ist zu einer der obersten politischen Prioritäten geworden. Das seit der industriellen Revolution bestehende Wirtschaftsmodell bedarf einer grundlegenden Überarbeitung. Die gewaltige Umstellung auf eine digitalisierte klimaneutrale Kreislaufwirtschaft erfordert erhebliche Anpassungsbemühungen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine macht diese Umstellung noch dringender erforderlich, bringt jedoch zugleich enorme Kosten und Belastungen für die Gesellschaft mit sich. |
1.2. |
Als integraler Bestandteil des europäischen Sozialmodells und als Quelle der europäischen Wettbewerbsfähigkeit muss der soziale Dialog auf allen Ebenen, also auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie in den einzelnen Branchen und auf betrieblicher Ebene, ein maßgebliches Instrument sein. Die Mitgliedstaaten sollten den Wert des sozialen Dialogs anerkennen, also die Tatsache, dass er von erheblichem Nutzen ist und einen wesentlichen Teil des Beschlussfassungsprozesses bildet. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass der soziale Dialog gestärkt und gezielt gefördert werden sollte. Dies bedeutet auch, dass die Sozialpartner mit angemessenen Kompetenzen ausgestattet werden und auch Zugang zu Unterstützung durch Fachleute haben müssen. |
1.3. |
Der gesamte klimaschutzpolitische Rahmen muss deshalb eine starke Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen durch einen gut etablierten sozialen Dialog und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft umfassen. Die Mitgliedstaaten müssen größere Anstrengungen unternehmen, um die Arbeitnehmer einzubeziehen und für ihre Unterstützung auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu sorgen. Dies gilt nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Institutionen der EU. |
1.4. |
Gewerkschaften spielen bei der Vorbereitung und Vertretung der Arbeitnehmer im Prozess des sozialen und ökologischen Wandels eine Schlüsselrolle; deshalb muss mit einem aktiven und kohärenten sozialen Dialog sichergestellt werden, dass die Klimaschutzmaßnahmen den Arbeitnehmern etwas bringen, der Übergang gerecht gestaltet wird und wirklich niemand zurückbleibt. |
1.5. |
Der soziale Dialog muss mit einem ständigen und tragfähigen zivilen Dialog, insbesondere mit der organisierten Zivilgesellschaft, und der Beteiligung der Interessenträger einhergehen. Für eine gerechte Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft ist es wichtig, fairere Gesellschaften aufzubauen, Armut zu beseitigen und die Anpassungsprobleme anzugehen, die mit dem grünen Wandel einhergehen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten Millionen von Menschen in gefährdeten Situationen sowie systematisch ausgegrenzte Menschen und sind deshalb eine wichtige Stimme, die in die Entscheidungen bezüglich des Wandels einbezogen werden muss. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen in dieser Frage würde zudem der regionalen Dimension Rechnung getragen. |
1.6. |
Der sozialen Gerechtigkeit und der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte muss oberste Priorität eingeräumt werden. Zudem muss die EU auch Tarifverhandlungen fördern und aktiv unterstützen, damit die Arbeitnehmer nachhaltige sowie ökologische, wettbewerbsfähige und gute Arbeitsplätze gestalten können. So wird die EU nicht nur gerechter und stärker von Gleichheit geprägt, sondern auch wettbewerbsfähiger und resilienter. |
1.7. |
Bei allen Arbeitsplätzen, die im Rahmen des Übergangs geschaffen werden, ist die Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit zu achten. Dazu gehören das Recht auf menschenwürdige Beschäftigung, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Tarifverhandlungen, ein Diskriminierungsverbot, ein Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit sowie von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. |
1.8. |
Der EWSA schlägt eine systematische Erfassung der Funktionsweise des sozialen Dialogs auf Ebene der Mitgliedstaaten vor. Weitere vergleichende Studien müssen durchgeführt werden, um die Rolle des sozialen Dialogs in nationalen Energie- und Klimaplänen, wie in den NARP, zu untersuchen. |
1.9. |
Im Rahmen der allgemeinen Bemühungen um die Stärkung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals müssen die Strukturen des sozialen Dialogs durch Anreize und finanzielle Förderung aktiv unterstützt und ausgebaut werden. Dabei muss den Mitgliedstaaten und Branchen, in denen diese Strukturen nur schwach ausgeprägt sind, besondere Aufmerksamkeit gelten. |
1.10. |
Im Einklang mit der nicht bindenden Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität betont der EWSA, dass den Mitgliedstaaten Leitlinien dazu an die Hand gegeben werden sollten, wie die sozialen Folgen des Übergangs und seine Auswirkungen auf die Beschäftigung bewältigt werden können. Dabei sollten Vorschläge in Erwägung gezogen werden wie die in der EWSA-Stellungnahme „‚Fit für 55“: auf dem Weg zur Klimaneutralität — Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030“ (1) formulierte Empfehlung, die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Ausschüssen für einen gerechten Übergang zu veranlassen. |
1.11. |
Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung muss gemäß der einschlägigen Richtlinie (2) auf allen Ebenen der europäischen, nationalen und lokalen Verwaltung gestärkt werden. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden. |
2. Allgemeine Bemerkungen
Hintergrund
2.1. |
Diese Sondierungsstellungnahme wird auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes im Rahmen der Bewertung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals und insbesondere der Rolle des sozialen Dialogs erarbeitet. |
2.2. |
Die Bewältigung des Klimanotstands ist zu einer der obersten politischen Prioritäten geworden. Das gesamte Produktions- und Verbrauchssystem muss grundlegend umgestaltet werden. Die Umstellung auf eine digitalisierte klimaneutrale Kreislaufwirtschaft bietet unbestreitbar Vorteile, erfordert jedoch auch erhebliche Anpassungsbemühungen und geht mit beträchtlichen Kosten für die Gesellschaft einher. |
2.3. |
Der grundlegende Umstrukturierungsprozess, den unsere Volkswirtschaften in wenigen Jahrzehnten durchlaufen müssen, um klimaneutral zu werden, ist ein politischer Prozess, der sich auf Menschen mit unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Hintergründen sowie auf Unternehmen und insbesondere KMU nicht in gleicher Weise auswirken wird. Die politischen Entscheidungsträger tragen eine große Verantwortung für die Bewältigung dieser Auswirkungen. |
2.4. |
Durch den Klimawandel entstehen zweifellos neue Ungleichheiten; Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen könnten Gewinner und Verlierer hervorbringen, wenn sie nicht mit einer Politik des gerechten Übergangs einhergehen. In Anbetracht dessen wurde zusammen mit der Ankündigung des europäischen Grünen Deals im Jahr 2019 die Verpflichtung eingegangen, „niemanden zurückzulassen“. |
2.5. |
Der laufende Übergangsprozess wurde durch zwei außergewöhnliche Ereignisse weiter erschwert: die COVID-19-Krise und die grundlegende Veränderung der geopolitischen Lage Europas durch den Überfall Russlands auf die Ukraine. Beides führt kurzfristig zu höheren Belastungen für die Gesellschaft, kann aber gleichzeitig auch zur Beschleunigung des Wandels beitragen. |
Sozialer Dialog
2.6. |
In den letzten Jahrzehnten haben enorme Veränderungen bei den Produktionsmitteln häufig Probleme in Bezug auf die Anpassung und den Wandel aufgeworfen, insbesondere dann, wenn diese Veränderungen zu unsichereren und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen führen und bewirken, dass viele Menschen, wie Frauen oder benachteiligte Gruppen, keinen Zugang zu guter Arbeit haben. Deshalb muss eine Reihe von Problemen im Zusammenhang mit dem Wandel wie vertragliche Vereinbarungen, prekäre Arbeitsformen, Privatisierung und Umstrukturierung angegangen werden, um eine gerechte Wirtschaft zu schaffen, in der es keine Armut mehr gibt. Dieses Problem wird auch in der Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität behandelt, die auf der Tagung des Rates (Soziale Angelegenheiten) am 16. Juni 2022 angenommen wurde. |
2.7. |
Die Förderung des sozialen Dialogs ist im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgeschrieben. Mit der Initiative „Neubeginn für den sozialen Dialog“ (2016) wurde die Bedeutung des sozialen Dialogs für Aufschwung und Wettbewerbsfähigkeit anerkannt. Der EWSA hat die Bedeutung des sozialen Dialogs in den einschlägigen Transformationsprozessen jüngst in mehreren Stellungnahmen (3) und in einer Entschließung (4) hervorgehoben. |
2.8. |
Der soziale Dialog kann erwiesenermaßen einen positiven Beitrag zu einer erfolgreichen Umstrukturierung leisten. Unternehmen mit einem gut funktionierenden Dialog sind leistungsfähiger, wettbewerbsfähiger und resilienter und zahlen höhere Löhne und Gehälter. |
2.9. |
Der EWSA betont, dass alle Ebenen des sozialen Dialogs auf europäischer, nationaler, sektoraler, regionaler und betrieblicher Ebene entscheidende, aber unterschiedliche Aufgaben bei der Bewältigung und Förderung des grünen Wandels haben. Die Strukturen und Einrichtungen auf diesen Ebenen haben jedoch sehr unterschiedliche Stärken. |
2.10. |
Der soziale Dialog muss mit einem ständigen und tragfähigen zivilen Dialog, insbesondere mit der organisierten Zivilgesellschaft, und der Beteiligung der Interessenträger einhergehen. Für eine gerechte Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft ist es wichtig, fairere Gesellschaften aufzubauen, Armut zu beseitigen und die Anpassungsprobleme anzugehen, die mit dem grünen Wandel einhergehen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten Millionen von Menschen in gefährdeten Situationen sowie systematisch ausgegrenzte Menschen und sind deshalb eine wichtige Stimme, die in die Entscheidungen bezüglich des Wandels einbezogen werden muss. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen in dieser Frage würde zudem der regionalen Dimension Rechnung getragen. |
2.11. |
In den einzelnen Mitgliedstaaten haben die Einrichtungen und Akteure des sozialen Dialogs unterschiedliche Kapazitäten und Einflussmöglichkeiten, was zum Teil auf die unterschiedlichen Modelle der sozialen Beziehungen und der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten zurückzuführen ist, doch haben in einigen Fällen die Dezentralisierungsmaßnahmen und -empfehlungen im Anschluss an die Finanzkrise und die Krise im Euro-Währungsgebiet aktiv zu ihrer Schwächung beigetragen. Der EWSA betont, dass ein gut funktionierender sozialer Dialog ein wichtiges Merkmal der europäischen sozialen Marktwirtschaft ist, und begrüßt, dass die Europäische Kommission diese Tatsache anerkannt hat, so zuletzt in den Empfehlungen an den Rat. |
2.12. |
Im Rahmen der allgemeinen Bemühungen um die Stärkung der sozialen Dimension des europäischen Grünen Deals müssen die Strukturen des sozialen Dialogs aktiv unterstützt und ausgebaut werden. Dabei muss den Mitgliedstaaten und Branchen, in denen diese Einrichtungen nur schwach ausgeprägt sind, besondere Aufmerksamkeit gelten. |
Gerechter Übergang
2.13. |
Ein gerechter Übergang bedeutet, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der Beschäftigungs- und Verteilungseffekte der Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft als wesentlicher Bestandteil der Klimaschutzpolitik (beispielsweise des Pakets „Fit für 55“) und nicht nur als ergänzende Korrekturmaßnahmen betrachtet werden sollten. Hier sind viele Dimensionen zu berücksichtigen, so die Verteilungseffekte der Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen, Arbeitsplatzverluste und Beschäftigungsübergänge, der Schutz der grundlegenden sozialen Rechte sowie die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft in die Entscheidungsfindung. |
2.14. |
Der Fonds für einen gerechten Übergang und der vorgeschlagene Klima-Sozialfonds im Rahmen des Pakets „Fit für 55“ gehören zu den wichtigsten Maßnahmen der EU, die bislang angekündigt wurden, um die Auswirkungen des Übergangs für die am stärksten betroffenen Regionen sowie schutzbedürftige Personen und Unternehmen abzufedern. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission ferner eine Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität vorgeschlagen hat, um den Mitgliedstaaten Orientierungshilfen zur Bewältigung der sozialen und beschäftigungsbezogenen Folgen des Übergangs an die Hand zu geben. |
2.15. |
Der Prüfstein für einen gerechten Übergang muss die Effizienz bei der Bewältigung der Anpassungsprobleme von Unternehmen, Beschäftigten und Bürgern sein, indem also beispielsweise die Umstrukturierung von Geschäftstätigkeiten, die Umschulung und Weiterbildung von Beschäftigten sowie die Verhinderung von Energie- und Mobilitätsarmut gefördert werden, damit niemand zurückgelassen wird, insbesondere die Frage inwieweit die Frauen und Männer, deren Arbeitsplätze wegfallen, an Bedeutung verlieren oder anderweitig bedroht sind, einbezogen werden, ihnen eine sinnvolle, erfüllende und sichere Zukunft mit einer hochwertigen Beschäftigung zugesichert wird und sie bei ihrer eigenen Weiterentwicklung unterstützt werden, um diese Aufgaben wahrnehmen zu können. |
2.16. |
Das Ausmaß der Herausforderung darf hierbei nicht unterschätzt werden. Dazu gehört auch die Entwicklung gut durchdachter, integrierter, mittel- und langfristiger wirtschaftlicher und sozialer Ziele zur Sicherstellung von Produktivität und Inklusion unter angemessener Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Mitgliedstaaten und unter Einbeziehung der Sozialpartner auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in alle Phasen der Politikgestaltung, gegebenenfalls auch durch sozialen Dialog und Tarifverhandlungen. Diese gehen mit einer gezielten und bewussten Umschichtung der Mittel auf nationaler und zentraler Ebene auf die betroffenen Bereiche und Regionen einher. Neben Anreizen für neue Investitionen durch Zuschüsse, Darlehen und die Bereitstellung von Fachwissen sowie der Hilfe für KKMU können Start-ups durch Kapitalbeteiligung unterstützt werden, und es können neue öffentliche Unternehmen geschaffen werden. Außer der Bereitstellung öffentlicher Mittel wird es auch nötig sein, die Vorschriften über staatliche Beihilfen flexibler zu gestalten und unter bestimmten Umständen sogar auszusetzen. |
2.17. |
Die umfassende Umstrukturierung, zu der die Umwandlung von Dutzenden Millionen Arbeitsplätzen in Europa gehört, muss in ausgewogener und kontrollierter Weise erfolgen und zukunftsorientiert sein. Dabei ist ein gut funktionierender sozialer Dialog von entscheidender Bedeutung. Der Fonds für einen gerechten Übergang zur Unterstützung von Arbeitnehmern beim Übergang in eine neue Beschäftigung sollte im Hinblick auf die Mittel und den Geltungsbereich ausgeweitet werden und sektorspezifische Maßnahmen umfassen. |
2.18. |
Die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung, Wirtschaft, Soziales und Umwelt, sind eng miteinander verknüpft und müssen durch die Anwendung eines umfassenden und kohärenten politischen Rahmens berücksichtigt werden. Die Leitlinien der IAO für einen gerechten Übergang aus dem Jahre 2015 enthalten eine Reihe praktischer Instrumente zur Steuerung dieses Transformationsprozesses für Regierungen und Sozialpartner. |
2.19. |
In den Leitlinien heißt es, dass ein starker sozialer Konsens über das Ziel der Nachhaltigkeit und die zu ihr führenden Wege unerlässlich ist. Der soziale Dialog muss ein wesentlicher Bestandteil des institutionellen Rahmens für die Politikgestaltung und Umsetzung auf allen Ebenen sein. Es sollte eine angemessene, fundierte und kontinuierliche Konsultation aller einschlägigen Interessenträger stattfinden. |
Sozialer Dialog im Rahmen des grünen Wandels
2.20. |
Der soziale Dialog darf keine bloße Formalität sein, sondern muss auf allen Ebenen, also auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie in den einzelnen Branchen und auf betrieblicher Ebene, ein maßgebliches Instrument sein. Dies bedeutet auch, dass die Sozialpartner mit angemessenen Kompetenzen ausgestattet werden und auch Zugang zu Unterstützung durch Fachleute haben müssen. |
2.21. |
Der EWSA stellt fest, dass sich die Einrichtungen des sozialen Dialogs in der EU aufgrund der unterschiedlichen nationalen Modelle und Traditionen der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern in den einzelnen Mitgliedstaaten stark unterscheiden. |
2.22. |
Der EWSA schlägt eine systematische Erfassung und Überwachung der Funktionsweise des sozialen Dialogs auf Ebene der Mitgliedstaaten vor (5) und hält weitere vergleichende Untersuchungen für notwendig, um die Rolle des sozialen Dialogs in den nationalen Energie- und Klimaplänen, wie in den NARP, auszuloten. |
2.23. |
Nach Ansicht des EWSA sind die bestehenden Initiativen zur Bewältigung der sozialen Herausforderungen des grünen Wandels Stückwerk geblieben. Der Mechanismus für einen gerechten Übergang hat einen begrenzten Umfang und deckt nur einen kleinen Teil des Übergangsprozesses ab. Der vorgeschlagene Klima-Sozialfonds wird einen begrenzten Geltungsbereich und Zweck haben und vor allem die regressiven Verteilungseffekte eines geplanten EHS 2 für Verkehr und Gebäude ausgleichen (siehe insbesondere die Stellungnahme zum Klima-Sozialfonds (6)). Der EWSA begrüßt zwar die Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität, stellt jedoch fest, dass diese unverbindliche Empfehlung nicht die umfassende politische Plattform bietet, die die EU braucht, um die Folgen des Übergangs für die betroffenen Arbeitnehmer, Regionen und sozial schwachen Menschen zu bewältigen. |
2.24. |
Der EWSA betont, dass die EU einen starken Rahmen zur Sicherstellung gleicher Bedingungen für die Steuerung des Übergangs benötigt. Ein solcher solider EU-Rahmen für einen gerechten Übergang sollte unter anderem die Antizipation und Bewältigung der Veränderungen im Rahmen des grünen Wandels mittels einer sinnvollen Beteiligung der Arbeitnehmer und Unternehmen sowie auch der Bürger angehen. |
2.25. |
Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden. |
2.26. |
Der EWSA fordert, den sozialen Dialog und die Einbeziehung der Interessenträger auf allen Ebenen zu fördern. Es muss dafür gesorgt werden, dass neue grüne Arbeitsplätze gute Arbeitsplätze im Einklang mit der Agenda der IAO für menschenwürdige Arbeit und der europäischen Säule sozialer Rechte sind. Der EWSA stellt gemäß dem Geist der Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität und unter Verweis auf seine einschlägige Stellungnahme fest, dass der Klima-Sozialfonds mit gezielten Maßnahmen zur Bekämpfung von Energie- und Verkehrsarmut einer Vielzahl von Verteilungseffekten der Klimapolitik Rechnung tragen und die Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit CO2-armer Technologien für Haushalte mit geringem Einkommen unterstützen und erleichtern sollte. |
3. Besondere Bemerkungen
3.1. |
Der EWSA hält es für äußerst wichtig, die Komplementarität von Klima-, Umwelt- und Sozialpolitik anzuerkennen. Die soziale Dimension sollte ein wesentlicher Teil einer umfassenden Klimaschutzpolitik von der Gestaltung bis zur Umsetzung sein. Dazu gehören der gesamte europäische Grüne Deal und alle konkreten Umsetzungsmaßnahmen im Rahmen des Pakets „Fit für 55“. |
3.2. |
Der EWSA stellt ebenfalls fest, dass dieser Umstrukturierungsprozess enorme Folgen für Arbeitsplätze, die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und die Einkommensverteilung haben wird. Alle Ebenen der Gesellschaft und der Wirtschaft, von der transnationalen bis zur betrieblichen Ebene, werden betroffen sein, und der soziale Dialog sollte eine entscheidende Rolle bei einer zukunftsweisenden Steuerung dieses Prozesses spielen. |
3.3. |
Der EWSA begrüßt die starke und ehrgeizige Klimaschutzpolitik, die die Europäische Kommission mit dem europäischen Grünen Deal geschaffen hat und die durch entsprechende Legislativmaßnahmen unterstützt wird. Er betont jedoch, dass ihre soziale Dimension trotz aller positiven Erklärungen noch nicht ausreichend entwickelt ist. |
3.4. |
Für die soziale Dimension des europäischen Grünen Deals sind weiterhin in erster Linie die Mitgliedstaaten und die nationalen Sozialpartner zuständig, da sie die Situation am besten kennen und Maßnahmen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vorschlagen können. Die sozialen und beschäftigungsbezogenen Herausforderungen des grünen Wandels haben jedoch viele Dimensionen, zu denen der Wegfall von Arbeitsplätzen und Beschäftigungsübergänge, Umschulung und Weiterbildung der Arbeitnehmer, Verteilungseffekte von Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen sowie der Schutz sozialer Rechte und die Beteiligung der Bürger gehören. Erforderlich sind deshalb koordinierte Maßnahmen auf EU-Ebene zur Begleitung und Unterstützung der nationalen Initiative. Wenn nicht auf geeigneter Ebene angesetzt wird, werden soziale Ungleichheiten durch Klimaschutzmaßnahmen voraussichtlich zunehmen und sich verschärfen. |
Einen gerechten Übergang verwirklichen — politische Steuerung und Regulierungsanforderungen zur Stärkung des sozialen Dialogs
3.5. |
Arbeitsmarktübergänge, Sozialpläne und Wege hin zu nachhaltigen und guten neuen Arbeitsplätzen mit einer langfristigen Verpflichtung zur regionalen und kommunalen Entwicklung sind wesentliche Aspekte eines Fahrplans für den gerechten Übergang. |
3.6. |
Ausbildungs- und Schulungsprogramme, die auf die individuellen Bedürfnisse sowie die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zugeschnitten sind und von speziellen Zentren für den Übergang in die Beschäftigung durchgeführt werden, sollten gefördert werden. Dazu muss ein proaktiver sozialer Dialog auf kommunaler und regionaler Ebene in Zusammenarbeit mit allen Interessenträgern geführt werden. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber sollten gemeinsam Programme für den beruflichen Übergang unterstützen. |
3.7. |
Die sozialen Elemente des Pakets „Fit für 55“ haben im Gegensatz zu den weitreichenden und abgestimmten, verbindlichen Umweltmaßnahmen fragmentarischen Charakter, der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates hat keine rechtlich bindende Wirkung. |
3.8. |
Diese Aspekte müssen verstärkt werden, und der soziale Dialog muss ein verbindlicher Bestandteil wichtiger nationaler Maßnahmen sein, die zur Verwirklichung der klimapolitischen Ziele bis 2050, einschließlich nationaler Klima- und Energiepläne, nationaler Aufbau- und Resilienzpläne und Pläne für den gerechten Übergang, vorgesehen werden. |
3.9. |
Damit der soziale Dialog zu Ergebnissen führt, die für alle Beteiligten von Nutzen sind, sind gegenseitiges Vertrauen und ein gemeinsames Ziel wichtig. |
3.10. |
In einigen Mitgliedstaaten gibt es diese Art des sozialen Dialogs bereits, in anderen nicht. In letzterem Fall sollte der soziale Dialog aktiv unterstützt werden, beispielsweise indem ein rechtzeitiger Austausch bestimmter Informationen vorgeschrieben wird und der soziale Dialog als Mittel zur Lösung etwa verwaltungs- und arbeitsrechtlicher Fragen, zur Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln, zur Vereinfachung von Planungsentscheidungen sowie Baugenehmigungen angeboten wird. Um eine missbräuchliche Verwendung zu verhindern, sollten diese Vergünstigungen an eine Ergebnisverpflichtung geknüpft werden. |
3.11. |
Der EWSA ist sich bewusst, dass dies in einigen Mitgliedstaaten einen Kulturwandel mit sich bringen und es einige Zeit dauern wird, dies zu erreichen. Der EWSA ist jedoch überzeugt, dass sich die investierte Zeit und Anstrengungen in hohem Maße lohnen werden. |
3.12. |
Die soziale Dimension des europäischen Grünen Deals muss mit der europäischen Säule sozialer Rechte verknüpf werden und im Prozess des Europäischen Semesters zum Ausdruck kommen. |
3.13. |
Die Kommission hat im Februar 2021 einen Bericht (7) über die Stärkung des sozialen Dialogs veröffentlicht, der in den Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, der im März 2021 vorgelegt wurde, eingeflossen ist. Der Aktionsplan sieht vor, dass die Europäische Kommission im Jahr 2022 eine Initiative zur Unterstützung des sozialen Dialogs auf EU- und nationaler Ebene unterbreitet. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass diese künftigen Empfehlungen der Kommission einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels leisten werden. |
Brüssel, den 21. September 2022
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 101.
(2) ABl. L 80 vom 23.3.2002, S. 29.
(3) Stellungnahme „Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft in Europa: nötige rechtliche Vorgaben und die Rolle der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft“ (ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 10); Stellungnahme „Kein Grüner Deal ohne sozialen Deal“ (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 23). Stellungnahme „Sozialer Dialog als wichtiger Pfeiler wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und Resilienz von Volkswirtschaften“ (ABl. C 10 vom 11.1.2021, S. 14).
(4) Entschließung mit den Vorschlägen des EWSA für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Krise: „Die EU muss sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bildet“ auf der Grundlage der Arbeit des Unterausschusses „Wirtschaftliche Erholung und Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise“ (ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 1)
(5) Entschließung (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1); Stellungnahme (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 38).
(6) ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158.
(7) Bericht über die Stärkung des sozialen Dialogs von Andrea Nahles.
ANHANG
Der folgende abgelehnte Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:
Ziffer 2.25
Ändern:
Stellungnahme der Fachgruppe |
Änderung |
Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte verbindlich vorgeschrieben werden. |
Der EWSA betont die Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung während des Umstrukturierungsprozesses. Entscheidungen ohne Anhörung sollten vermieden und die Bereitstellung von Informationen im Voraus sollte übliche Praxis gemäß der vorgenannten Empfehlung des Rates werden. |
Ergebnis der Abstimmung
(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
55/95/0 |
21.12.2022 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 486/102 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema
„Bedeutung der Kernenergie für die Stabilität der Energiepreise in der EU“
(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen EU-Ratsvorsitzes)
(2022/C 486/15)
Berichterstatterin: |
Alena MASTANTUONO |
Befassung |
Schreiben des tschechischen EU-Ratsvorsitzes vom 26.1.2022 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Sondierungsstellungnahme |
Beschluss des Plenums |
21.9.2022 |
Zuständige Fachgruppe |
Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
7.9.2022 |
Verabschiedung im Plenum |
21.9.2022 |
Plenartagung Nr. |
572 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
143/73/42 (namentliche Abstimmung, siehe Anlage II) |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Stabile und erschwingliche Energiepreise sind von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung der Kaufkraft der europäischen Haushalte sowie der Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Nach einem Jahrzehnt relativ stabiler Preise für Energieimporte und dem verhältnismäßig geringen jährlichen Anstieg der inländischen Erzeugerpreise für Energie um 0,9 % zwischen 2010 und 2019 ist in Europa seit der zweiten Jahreshälfte 2021 ein starker Anstieg der Energiepreise zu verzeichnen. Die Energiepreisschwankungen und die Unsicherheiten bei der Energieversorgung haben sich durch den Krieg in der Ukraine drastisch verschärft. |
1.2. |
Europa steht heute vor einer doppelten Herausforderung: Es gilt, den Klimawandel zu bekämpfen und gleichzeitig eine stabile Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen zu gewährleisten. Wie die Kommission in ihrem REPowerEU-Plan festhält, liegt die Herausforderung darin, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland rasch zu verringern, indem wir die Umstellung auf saubere Energien beschleunigen und die Kräfte bündeln, um ein widerstandsfähigeres Energiesystem und eine echte Energieunion zu erreichen. Die Lösung umfasst drei zeitliche Dimensionen. Kurzfristig muss es in erster Linie darum gehen, das Energieversorgungsproblem zu lösen, da eine mögliche Verknappung die Preise weiter in die Höhe treiben könnte. Die derzeitige Marktlage wird von aktuellen und zu erwartenden angebotsseitigen Faktoren beeinflusst. Daher müssen, wie im REPowerEU-Plan dargelegt, alle in der EU verfügbaren Energiequellen genutzt werden. Dieses Krisenszenario dient in erster Linie dazu, die Energieversorgung sicherzustellen. Mittelfristig können Nachhaltigkeitsaspekte und der jeweilige Anteil der Energiequellen am Energiemix stärker berücksichtigt werden, und langfristig wird es möglich sein, ökologische Ziele in den Mittelpunkt zu rücken, sofern die geopolitischen Sicherheitsrisiken abgenommen haben. |
1.3. |
Die durch den Krieg verursachten zusätzlichen Sicherheitskosten werden vermutlich erheblich zum Anstieg der Energiepreise beitragen. Kurzfristig werden bereits bestehende Kernkraftwerke in den EU-Mitgliedstaaten, die sich dafür entschieden haben, die Kernenergie in ihrem Energiemix zu nutzen, und in denen dies technisch machbar ist, zur Stabilität der Energieversorgung beitragen, was erheblichen Einfluss auf die Preisstabilität hat. Ohne die vorhandenen Kernkraftkapazitäten wäre der durch den russischen Einmarsch in die Ukraine ausgelöste Schock für das Energiesystem sicherlich noch größer. |
1.4. |
Kernenergie steht als Quelle für emissionsarmen Strom auf Nachfrage zur Verfügung und ergänzt die vorrangig genutzten erneuerbaren Energieträger wie Wind- und Solarenergie bei der Umstellung auf eine klimaneutrale Stromerzeugung. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass Kernkraftwerke als verlässliche Grundlastkraftwerke derzeit zu einer sicheren Versorgung beitragen können. Die Grenzkosten der Kernenergie sind stabil und deutlich niedriger als die von Gas- und Kohlekraftwerken. Kernkraftwerke stoßen im Betrieb keine größeren Mengen an CO2 aus, weshalb ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine CO2-Kosten enthalten. Sie sind deshalb von Schwankungen bei den CO2-Preisen (wie 2021, als der CO2-Preis um mehr als 200 % anstieg) nicht betroffen. Die Schwankungen im EU-EHS wirken sich dagegen erheblich auf die Preise für Gas und Kohle auf dem EU-Markt aus. |
1.5. |
Der EU-Großhandelsmarkt für Strom ist so geregelt, dass die Preise nach dem Merit-Order-Prinzip gebildet werden, nach dem das letzte Kraftwerk den Preis bestimmt. Im Rahmen des gängigen Marktverhaltens wird der Preis auf einem Spotmarkt in den meisten Fällen von Gas oder Kohle bestimmt. Dies bedeutet, dass die Kernenergie die Energiepreise auf dem Spotmarkt nicht beeinflusst, es sei denn, der Energiemix umfasst einen hohen Anteil emissionsarmer Energiequellen. Allerdings vollzieht sich nur ein Teil der Verkäufe auf dem Spotmarkt. Die Energieunternehmen verkaufen physische Stromlieferungen häufig auf der Grundlage bilateraler Verträge. In diesem Fall tragen unterschiedliche Finanzierungsmodelle und bilaterale Verträge in den EU-Mitgliedstaaten, die in ihrem Energiemix auch Kernenergie vorsehen, zur Stabilisierung der Energiepreise für die Kunden bei. |
1.6. |
Die derzeitige Energiekrise hat das Funktionieren des EU-Strommarkts beeinträchtigt, da seine Grundregeln durch zahlreiche Maßnahmen zur Abfederung hoher Energiepreise bzw. zur spürbaren Senkung der Nachfrage verzerrt wurden. Hier wird der wichtige Zusammenhang zwischen dem gesunkenen Angebot und der gestiegenen Nachfrage deutlich, was die Energiepreise in die Höhe treibt. Mit einer robuster aufgestellten Versorgung mit stabilen CO2-armen Energiequellen werden die Energiepreise weniger Schwankungen unterworfen sein, und dank der Vernetzung der nationalen Energiemärkte kommt dies der gesamten EU zugute. |
1.7. |
Nach Ansicht des EWSA ist die Verlängerung der Betriebsdauer bestehender Kernkraftwerke in der besonderen aktuellen Situation durchaus sinnvoll und wird zugleich zur Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft beitragen. So könnte den gegenwärtigen Erwartungen in Bezug auf die Energieversorgung entsprochen werden, den Einsatz von Gas in der Stromerzeugung und so auch das Risiko von Engpässen bei der Gasversorgung zu verringern. Dadurch könnten auch die beispiellosen, nicht durch wirtschaftliche Faktoren ausgelösten Preisschwankungen abgefedert und die derzeitigen Erwartungen an die Energieversorgung erfüllt werden. Der EWSA legt den Mitgliedstaaten nahe, Lösungen für Speicherkapazitäten zu entwickeln und die Verbindungsleitungen auszubauen, um langfristig wirksam auf Ausfälle bei erneuerbaren Energien und kurzfristig bei der Gasversorgung reagieren zu können. |
1.8. |
Der EWSA empfiehlt dem tschechischen Ratsvorsitz, das Thema Preisstabilität in der Kernenergiebranche sowie die Bedeutung der Kernenergie für eine stabilere Versorgung mit Blick auf das Ziel einer geringeren Abhängigkeit der EU von russischem Gas im Rahmen des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) zu erörtern. Der EWSA würde es begrüßen, wenn er in diese Diskussionen einbezogen würde. |
1.9. |
Der EWSA schlägt vor, die bilaterale Zusammenarbeit mit internationalen Partnern in der Kernenergiebranche zu verstärken und in diesem Rahmen Innovationsergebnisse und Fortschritte bei neuen Technologien auszutauschen. Der EWSA empfiehlt dem tschechischen EU-Ratsvorsitz, eine Konferenz über kleine modulare Reaktoren (small modular reactors — SMR) zu veranstalten, etwa in Form eines hochrangigen Forums EU-USA, und die vielversprechenden Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet zu prüfen. |
2. Hintergrund und Erläuterungen
2.1. |
In Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind die Rechtsgrundlagen für die Energiepolitik der EU festgelegt. Besondere Bestimmungen sind in anderen Artikeln wie Artikel 122 AEUV (Versorgungssicherheit), Artikel 170 bis 172 AEUV (Energienetze), Artikel 114 AEUV (Energiebinnenmarkt) und Artikel 216 bis 218 AEUV (externe Energiepolitik) enthalten. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom-Vertrag) bildet die Rechtsgrundlage für die meisten EU-Maßnahmen im Kernenergiebereich. |
2.2. |
Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird den Mitgliedstaaten zudem das Recht eingeräumt, die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen zu bestimmen, frei zwischen verschiedenen Energiequellen zu wählen und die allgemeine Struktur ihrer Energieversorgung festzulegen (1). |
2.3. |
Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels der EU, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, ist eine Energiewende hin zu emissionsfreien und emissionsarmen Energiequellen. Die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix muss mit einer Absicherung durch derzeit stabile und verfügbare Energiequellen wie fossile Energieträger und Kernenergie einhergehen. Zudem muss in mit nichtfossilem Gas betriebene Kraftwerke investiert werden, um die Produktionsschwankungen bei den erneuerbaren Energien ausgleichen zu können. Darüber hinaus sind dringend Speicherkapazitäten erforderlich, um Stromausfälle zu vermeiden und den steigenden Energieverbrauch aufgrund der Elektrifizierung zu decken. Unter den aktuellen stabilen Energiequellen ist die Kernenergie die einzige emissionsarme Quelle, die eine Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas ermöglichen könnte. |
2.4. |
Die Kernenergie, die in 32 Ländern über Kapazitäten im Umfang von 413 Gigawatt verfügt, trägt zur Senkung der CO2-Emissionen und zur Verringerung der Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe bei, indem durch ihren Einsatz 1,5 Gigatonnen an globalen Emissionen und 180 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr eingespart werden (2). Kernenergie steht als Quelle für emissionsarmen Strom auf Nachfrage zur Verfügung und ergänzt die vorrangig genutzten, nicht gleichmäßig verfügbaren erneuerbaren Energieträger wie Wind- und Solarenergie bei der Umstellung auf eine emissionsfreie Stromerzeugung. Nach Angaben der Internationalen Energie-Agentur würde ein Zurückfahren der Stromerzeugung aus Kernenergie die Umsetzung der Ziele in Sachen Klimaneutralität erschweren und verteuern, und es wird von einer Verdoppelung der Kernkraftkapazitäten weltweit bis 2050 ausgegangen. |
2.5. |
In der Delegierten Verordnung (EU) 2022/1214 der Europäischen Kommission (3) wird das Potenzial der Kernenergie, einen Beitrag zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union zu leisten, anerkannt und die Kernenergie als CO2-arme Tätigkeit betrachtet. Im Abschlussbericht der Sachverständigengruppe für nachhaltiges Finanzwesen vom März 2020 (4) wurde darauf hingewiesen, dass die Kernenergie in der Phase der Stromerzeugung nahezu keine Treibhausgasemissionen verursacht und dass zahlreiche und eindeutige Nachweise für einen potenziell wesentlichen Beitrag der Kernenergie zu Klimaschutzzielen vorliegen. Die Taxonomie sieht zusätzliche und strengere Anforderungen an die Abfallentsorgung, die Finanzierung und die Stilllegung vor. |
2.6. |
Stabile und erschwingliche Energiepreise sind von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung der Kaufkraft der europäischen Haushalte sowie der Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Nach einem Jahrzehnt relativ stabiler Preise für Energieimporte (mit Ausnahme des Rückgangs um 31 % im Jahr 2020) und dem verhältnismäßig geringen jährlichen Anstieg der inländischen Erzeugerpreise für Energie um 0,9 % zwischen 2010 und 2019 (2020 sanken die Erzeugerpreise für Energie um fast 10 %) ist in Europa seit Herbst 2021 ein starker Anstieg der Energiepreise zu verzeichnen (5). |
2.7. |
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte sieht sich die Europäische Union mehreren ernsthaften Risiken im Zusammenhang mit der Energieversorgung, der Energieversorgungssicherheit und drastisch gestiegenen Energiepreisen gegenüber. Einer der Gründe dafür ist, dass einige Mitgliedstaaten nicht umsichtig genug waren oder externem Druck nachgegeben haben und somit all ihre Reservekapazitäten zu schnell abgebaut haben, wobei sicherlich ausländische Einflussnahme eine Rolle gespielt hat. |
2.8. |
Eine sprunghafte und volatile Entwicklung der Energiepreise gab es schon vor dem Krieg, seit dem Herbst 2021, ausgelöst durch verschiedene Unterbrechungen der Lieferketten sowie den weltweiten Anstieg der Nachfrage nach Erdgas. Der Grund für die ungewöhnlich hohen Energiepreise seit letztem Herbst ist der enorme weltweite Anstieg der Gasnachfrage aufgrund einer Reihe von Schlüsselfaktoren: die konjunkturelle Erholung, die Drosselung der Lieferungen in die EU, mangelnde Investitionen sowie schlechte Witterungsbedingungen, die zu einer geringeren Erzeugung aus erneuerbaren Energiequellen geführt haben. In einigen Fällen hat Spekulation zur Entleerung der Gasspeicher geführt (6). Die derzeitigen Schwankungen der Energiepreise sind hauptsächlich durch die Auswirkungen der russischen Aggression gegen die Ukraine, die Unwägbarkeiten hinsichtlich einer möglichen Eskalation in anderen Ländern und die Bemühungen um eine möglichst rasche Verringerung der Abhängigkeit der EU von Energieeinfuhren aus Russland bedingt. |
2.9. |
Die durch den Krieg verursachten zusätzlichen Sicherheitskosten werden vermutlich erheblich zum Anstieg der Energiepreise beitragen. Die nächste Stufe der Diversifizierung des Energieeinsatzes der EU, verbunden mit massiven Investitionen in neue Infrastrukturen (z. B. LNG-Terminals, Wasserstofffernleitungen) und Anpassungen des bestehenden Energieversorgungsnetzes, könnte mit einem weiteren Preisanstieg einhergehen. Die Lage wird zudem durch einen erheblichen Rückgang bei der Stromerzeugung aus Kernenergie verschärft, die 2022 voraussichtlich um 12 % (über 100 Terawattstunden) sinken wird. Laut dem Strommarktbericht der IEA vom Juli 2022 ist dieser Rückgang auf die zeitweilige geringere Verfügbarkeit von Anlagen in Frankreich, die Abschaltung von Kernkraftwerken mit einer Kapazität von 4 Gigawatt in Deutschland und die Auswirkungen der russischen Invasion auf die Kernkraftwerke der Ukraine zurückzuführen. |
2.10. |
Zumindest bis die grundlegende Energiewende in der EU weiter vorangeschritten ist, hat die Nutzung bereits vorhandener Energiequellen, die im gesamten Unionsgebiet verfügbar sind und sofort ungehindert und im Rahmen der bereits vorhandenen Infrastrukturen eingesetzt werden können, unter den gegenwärtigen Umständen höchste Priorität. Zugleich gehen die Lieferungen von Energierohstoffen aus Russland bereits zurück, womit auch die Gefahr verbunden ist, dass die Lieferung von Brennstäben für Kernkraftwerke eingeschränkt wird, und die Sicherstellung einer stabilen Energieversorgung für alle Europäer bedeutet eine Herausforderung in Bezug auf die Einhaltung der Klimaziele. |
2.11. |
Kernkraft ermöglicht bis zu einem gewissen Grad eine Anpassung der Stromerzeugung, je nachdem, wie viel Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Kernkraftwerke sind weniger flexibel als Gaskraftwerke, bringen jedoch eine gewisse Stabilität in das System, da sie erheblich zur Energiegrundlast beitragen. Die derzeitige Rechtslage in einigen EU-Mitgliedstaaten ermöglicht zudem flexible Regelungen für den Betrieb von Kernkraftwerken. |
2.12. |
Aus den bereits vorhandenen nuklearen Quellen kann der höhere Strombedarf unmittelbar und mit geringen Betriebskosten gedeckt werden. Bei nuklearen Quellen sind die Stromgestehungskosten insgesamt recht hoch (bei Gas allerdings noch höher (7)), insbesondere aufgrund der enormen, mit den hohen Sicherheitsmaßnahmen einhergehenden Investitionskosten. Gleichzeitig gibt es angesichts des Krieges in der Ukraine keine Gewissheit, dass wir weiterhin mit russischem Gas oder russischen Brennstäben versorgt werden, bis alternative Lieferquellen gefunden werden. |
2.13. |
Kernkraft ist die einsatzfähige CO2-arme Technologie mit den niedrigsten erwarteten Kosten für 2025. Nur große Wasserspeicher können einen ähnlichen Beitrag zu vergleichbaren Kosten leisten, doch ist dieser Faktor nach wie vor stark von den natürlichen Gegebenheiten der einzelnen Länder abhängig. Im Vergleich zur Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen dürften Kernkraftwerke erschwinglicher sein als Kohlekraftwerke. Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerke (CCGT) sind zwar in einigen Regionen wettbewerbsfähig, ihre Stromgestehungskosten hängen jedoch stark von den Preisen für Erdgas und CO2-Emissionen in den jeweiligen Regionen ab. Strom, der im Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken durch eine Verlängerung der Laufzeit erzeugt wird, ist sehr wettbewerbsfähig und bleibt nicht nur die kostengünstigste Option für eine CO2-arme Stromerzeugung (im Vergleich zum Bau neuer Kraftwerke), sondern für die Stromerzeugung insgesamt (8). |
2.14. |
Ähnlich wie bei erneuerbaren Quellen sind die Betriebskosten der Kernenergie gering. Die variablen Kosten sind praktisch unabhängig vom globalen Energierohstoffmarkt. Kernkraftwerke bieten ihren Strom deshalb zu stabilen Preisen auf dem Strommarkt an. Der Brennstoffpreis und generell die Bepreisung von CO2-Emissionen wirken sich am stärksten auf die Stromerzeugungskosten aus. Diese variablen Kosten oder Grenzkosten sind je nach Technologie sehr unterschiedlich. Die Grenzkosten von Kernkraftwerken hängen vom Preis für Kernbrennstoff ab, der deutlich unter dem Preis von Gas oder Kohle liegt. Da in Kernkraftwerken erhebliche Energiemengen erzeugt werden, kann der Brennstoffpreis auf ein großes Produktionsvolumen, d. h. viele Megawattstunden, umgelegt werden. Da Kernkraftwerke kein CO2 ausstoßen, enthalten ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine Kosten für CO2-Zertifikate. |
2.15. |
Der EU-Großhandelsmarkt für Strom ist so geregelt, dass die Preise nach dem Merit-Order-Prinzip gebildet werden, nach dem das letzte Kraftwerk den Preis bestimmt. Im Rahmen des gängigen Marktverhaltens wird der Preis auf einem Spotmarkt in den meisten Fällen von Gas oder Kohle bestimmt. Dies bedeutet, dass die Kernenergie die Energiepreise auf dem Spotmarkt nicht beeinflusst, es sei denn, der Energiemix umfasst einen hohen Anteil emissionsarmer Energiequellen, was das künftige europäische Modell sein soll. Das Standardmarktmodell ist durch den angebotsseitigen Schock nun hinfällig, insbesondere im Gassektor, der von den anderen verfügbaren Quellen flankiert werden muss, damit ein Marktgleichgewicht und Preisstabilität hergestellt werden, sowie von ordnungspolitischen Eingriffen wie der Senkung der Nachfrage in der gesamten Union (9). |
2.16. |
Auf dem Spotmarkt vollzieht sich nur ein Teil der Verkäufe. Die Energieunternehmen verkaufen physische Stromlieferungen häufig auf der Grundlage bilateraler Verträge. In diesem Fall tragen unterschiedliche Finanzierungsmodelle und bilaterale Verträge in den EU-Mitgliedstaaten, die in ihrem Energiemix auch Kernenergie vorsehen, zur Stabilisierung der Energiepreise für die Kunden, aber nicht zwangsläufig zu ihrer Senkung bei. Zudem ist zwischen den verschiedenen Ebenen des Strommarkts (Groß- und Einzelhandel) zu unterscheiden. Die Einzelhandelsmärkte in der EU hängen von vielen Faktoren wie dem Grad des Wettbewerbs ab, aber auch von Faktoren, die den Endpreis bestimmen. Die von Haushaltskunden in der EU gezahlten Strompreise enthalten Steuern und Abgaben. Nach Angaben von Eurostat liegt der durchschnittliche Anteil der von Haushaltskunden für Strom gezahlten Abgaben und Steuern in der EU bei 36 %. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Der EWSA ist sich der ernsten Lage bewusst und erkennt diese an. Unter den derzeitigen Umständen sind zuverlässige Energielieferungen zu einem akzeptablen Preis im Rahmen des Krisen- und Notfallmanagements überlebenswichtig. Daher sollten alle verfügbaren und potenziell verlässlichen Quellen genutzt werden — nicht nur, um die Nachfrage zu decken, sondern auch, um in diesen sehr unsicheren Zeiten zur Preisstabilität beizutragen. |
3.2. |
Der EWSA unterstützt voll und ganz den europäischen Grünen Deal und die Umstellung auf eine klimaneutrale europäische Wirtschaft bis 2050. Gleichzeitig muss die Klimawende mit den fünf Säulen der Energieunion in Einklang stehen, insbesondere mit den Säulen Versorgungssicherheit und Erschwinglichkeit der Energiepreise. Künftige Maßnahmen sollten darauf abzielen, die hohe Importabhängigkeit zu verringern, wie der EWSA in mehreren Stellungnahmen hervorgehoben hat. |
3.3. |
Mit Blick auf die wichtigsten Ziele der Mitteilung der Europäischen Kommission REPowerEU gibt es bei den Bemühungen um stabile Energiepreise in der EU zwei Phasen: die erste Phase bis zum sichtbaren Erfolg der ersten Schritte zur Verringerung der Abhängigkeit der EU von Russland und die zweite Phase ab dem Zeitpunkt der vollständigen Energieunabhängigkeit der EU von Russland. Der EWSA räumt ein, dass Kernenergie aus vorhandenen EU-Quellen in der ersten Phase, in der es auf Stabilität und Sicherheit ankommt, von Bedeutung sein wird (wie auch im REPowerEU-Plan (10) hervorgehoben wird), zumal es nicht einfach werden wird, das Energiesystem der EU für den nächsten Winter zu rüsten (Schaffung ausreichender Gaslagerbestände und -reserven, allmähliche Diversifizierung der Energielieferungen, verstärkte Nutzung von Wasserstoff und Methan, massive zusätzliche Investitionen in Vorhaben im Bereich erneuerbare Energien und Energieeffizienz), wie aus den Empfehlungen der Internationalen Energie-Agentur (IEA) von März 2022 (11) hervorgeht. In der zweiten Phase könnte eine erneute Konzentration auf die Schwerpunktbereiche des Grünen Deals möglich sein, wenn alle mit der Versorgungssicherheit verbundenen Risiken beseitigt sind. |
3.4. |
Der EWSA weist darauf hin, dass die Lieferung von Brennstäben an Kernkraftwerke in EU-Ländern mit WWER-Reaktoren (Bulgarien, Tschechische Republik, Ungarn, Finnland und Slowakei) aufgrund des Krieges in der Ukraine gefährdet sein könnte. Gleichzeitig begrüßt er, dass alternative Lieferungen möglich sind (12), und legt den betreffenden Mitgliedstaaten nahe, möglichst bald mit der Suche nach alternativen Lieferanten zu beginnen. Kernkraftwerke benötigen keine großen Lagerkapazitäten und können problemlos Brennstoff für drei bis fünf Jahre lagern, sodass es möglich ist, zu einem anderen Lieferanten zu wechseln oder Brennstoff zu einem günstigen Preis zu kaufen. |
3.5. |
Der EWSA betont, dass die Stabilität des EU-Energiemarktes zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolute Priorität hat, da dadurch die Schwankungen der Energiepreise eingedämmt werden können. Die Kernenergie als äußerst stabile Grundlastenergiequelle (Absicherung der nicht kontinuierlich verfügbaren erneuerbaren Energieträger) kann in Zeiten außergewöhnlicher Risiken wesentlich zur Stabilität beitragen. |
3.6. |
Der EWSA weist darauf hin, dass die Kernenergie nicht vom Risiko schwankender EU-EHS-Preise betroffen ist, die Anfang Februar 2022 auf ein Rekordhoch von 100 Euro pro Tonne CO2 gestiegen sind. Da Kernkraftwerke kein CO2 ausstoßen, enthalten ihre Grenzkosten wie bei erneuerbaren Energien keine CO2-Kosten. Die Schwankungen im EU-EHS wirken sich dagegen erheblich auf den Gaspreis auf dem EU-Markt aus. |
3.7. |