ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 75

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

60. Jahrgang
10. März 2017


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

521. Plenartagung des EWSA vom 14./15. Dezember 2016

2017/C 75/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Functional Economy (Initiativstellungnahme)

1

2017/C 75/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung innovativer und wachstumsstarker Unternehmen (Initiativstellungnahme)

6

2017/C 75/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein geeigneter Rahmen für die Transparenz der Unternehmen (Initiativstellungnahme)

14

2017/C 75/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Maßgebliche Einflussfaktoren für die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 (Initiativstellungnahme)

21

2017/C 75/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Für eine Berücksichtigung des Nudge-Konzepts in den politischen Maßnahmen der EU (Initiativstellungnahme)

28


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

521. Plenartagung des EWSA vom 14./15. Dezember 2016

2017/C 75/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine europäische Agenda für die kollaborative Wirtschaft(COM(2016) 356 final)

33

2017/C 75/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Das jährliche Arbeitsprogramm 2017 der Union für europäische Normung(COM(2016) 357 final)

40

2017/C 75/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte im Hinblick auf den Geltungsbeginn(COM(2016) 709 final — 2016/0355 (COD))

44

2017/C 75/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 345/2013 über Europäische Risikokapitalfonds und der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (COM(2016) 461 final)

48

2017/C 75/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 99/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Europäische Statistische Programm 2013-2017 im Wege der Verlängerung um den Zeitraum 2018-2020(COM(2016) 557 final — 2016/0265(COD))

53

2017/C 75/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1316/2013 und (EU) 2015/1017 im Hinblick auf die Verlängerung der Laufzeit des Europäischen Fonds für strategische Investitionen sowie die Einführung technischer Verbesserungen für den Fonds und die Europäische Plattform für Investitionsberatung(COM(2016) 597 final — 2016/0276 (COD))

57

2017/C 75/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Halbzeitüberprüfung/Halbzeitrevision des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 — Ergebnisorientierter EU-Haushalt(COM(2016) 603 final), zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1311/2013 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020(COM(2016) 604 final — 2016/0283 (APP)), zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2012/2002, der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1305/2013, (EU) Nr. 1306/2013, (EU) Nr. 1307/2013, (EU) Nr. 1308/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und (EU) Nr. 652/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie des Beschlusses Nr. 541/2014/EU des Europäischen Parlaments und des Rates(COM(2016) 605 final — 2016/0282 (COD))

63

2017/C 75/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern(COM(2016) 687 final — 2016/0339 (CNS))

70

2017/C 75/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer umfassende Qualifikationen voraussetzenden Beschäftigung(COM(2016) 378 final — 2016/0176 (COD))

75

2017/C 75/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen(COM(2016) 128 final — 2016/0070 (COD))

81

2017/C 75/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung)(COM(2016) 465 final) und zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sowie zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen(COM(2016) 466 final) und zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU(COM(2016) 467 final)

97

2017/C 75/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einbeziehung der Emissionen und des Abbaus von Treibhausgasen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) in den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für die Überwachung von Treibhausgasemissionen sowie für die Berichterstattung über diese Emissionen und über andere klimaschutzrelevante Informationen(COM(2016) 479 final — 2016/0230 (COD)) und zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung verbindlicher nationaler Jahresziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2021-2030 zwecks Schaffung einer krisenfesten Energieunion und Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen von Paris sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für die Überwachung von Treibhausgasemissionen sowie für die Berichterstattung über diese Emissionen und über andere klimaschutzrelevante Informationen(COM(2016) 482 final — 2016/0231 (COD))

103

2017/C 75/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für Grundfischbestände in der Nordsee und für die Fischereien, die diese Bestände befischen, und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 676/2007 und (EG) Nr. 1342/2008 des Rates(COM(2016) 493 final — 2016/0238 (COD))

109

2017/C 75/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Luftverkehrspaket II, das folgende Vorlagen umfasst: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates(COM(2015) 613 final — 2015/0277 (COD)) und Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Das Europäische Programm für Flugsicherheit(COM(2015) 599 final)

111

2017/C 75/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Online-Plattformen im digitalen Binnenmarkt — Chancen und Herausforderungen für Europa(COM(2016) 288 final)

119

2017/C 75/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Abwehrfähigkeit Europas im Bereich der Cybersicherheit und Förderung einer wettbewerbsfähigen und innovativen Cybersicherheitsbranche(COM(2016) 410 final)

124

2017/C 75/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ausbau der bilateralen Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei und Modernisierung der Zollunion

129

2017/C 75/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Ein Leben in Würde: von Hilfeabhängigkeit zu Eigenständigkeit — Flucht und Entwicklung(COM(2016) 234 final)

138

2017/C 75/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema Eine integrierte Politik der Europäischen Union für die Arktis(JOIN(2016) 21 final)

144


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

521. Plenartagung des EWSA vom 14./15. Dezember 2016

10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Functional Economy“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 075/01)

Berichterstatter:

Thierry LIBAERT

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Mit der vorliegenden Stellungnahme verleiht der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) seinem Wunsch Ausdruck, dass die Gesellschaft einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel vollzieht und von einer Phase des übermäßigen Ressourcenverbrauchs und der Verschwendung zu einer nachhaltigeren Phase übergeht, in der Qualität mehr zählt als Quantität und die beschäftigungsintensiver ist. Der EWSA bekräftigt seine Überzeugung, dass Europa bei der Erfindung neuer Wirtschaftsformen die Initiative ergreifen sollte.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Functional Economy gefördert werden sollte, da sie eine Antwort auf alle oder auf einen Teil der genannten Herausforderungen gibt. Sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel im Dienste neuer Ziele für unser Konsummodell.

1.3.

Angesichts der Tatsache, dass es bezüglich der angeblichen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Vorzüge der Functional Economy eine Vielzahl von Unwägbarkeiten oder Unbekannten gibt, sollte eine umfassende Bewertung von Produkt- und Dienstleistungsarten durchgeführt werden, um die Vorzüge und ggf. die Bedingungen ermitteln zu können, die im Hinblick auf ihre positive Entfaltung der zu beachten sind.

1.4.

Sodann sollte die Angabe der — ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen usw. — Auswirkungen des Produkts oder der Dienstleistung gefördert werden, das bzw. die gemäß einer Lösung der Functional Economy — „Zugang“ oder „Gebrauch“ statt „Eigentum“ — erworben wurde. Durch solche Angaben würden die Verbraucher darüber in Kenntnis gesetzt werden, ob ein Kauf des Produkts oder der Dienstleistung sinnvoller ist, und sie könnten fundierte Entscheidungen treffen. Hierbei kommt es vor allem auf die Qualität und die Glaubwürdigkeit der von den Unternehmen bereitgestellten Informationen an, weshalb entsprechend zuständige Stellen und Systeme festgelegt werden müssen, die diese Angaben aus Sicht der Verbraucher gewährleisten.

1.5.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten und den Interessenträgern, verantwortungsvolles Verbraucherverhalten zu fördern, insbesondere in der Bildung, und hierbei den Schwerpunkt auf die Functional Economy zu legen. Diese kann bei einem intelligenten Einsatz dazu beitragen, dass viele derzeitige Herausforderungen im Zusammenhang mit Verbrauch bewältigt werden.

1.6.

Allgemein schlägt der EWSA vor, die Forschung und Entwicklung in Bezug auf folgende neue Produktions- und Verbrauchsmuster in Verbindung mit der Functional Economy zu beschleunigen:

die umweltgerechte Gestaltung der Produkte, mit der von Anfang an die Nachhaltigkeit der eingesetzten Ressourcen gewährleistet und die Auswirkungen der Güter während ihres gesamten Lebenszyklus auf die Umwelt berücksichtigt werden. Die Functional Economy kann mit neuen Konzepten für Produkte einhergehen, die z. B. besser repariert werden können, aus Modulen bestehen oder dergleichen mehr;

die Kreislaufwirtschaft (siehe auch die EWSA-Stellungnahme „Paket zur Kreislaufwirtschaft“ (1)), die mit einem „Cradle-to-Cradle-Ansatz“ („von der Wiege bis zur Wiege“) darauf abzielt, dass die Abfälle eines Unternehmens zu Ressourcen für andere werden: Im Rahmen der Functional Economy können die Nebenerzeugnisse und die externen Effekte besser zur Produktion anderer Erzeugnisse eingesetzt werden;

die partizipative Wirtschaft (siehe insbesondere die EWSA-Stellungnahme vom 21. Januar 2014 (2)), deren theoretische Grundlage auf der Functional Economy fußt: Die Weiterentwicklungen dieser Formen des Teilens und Tauschens können unter Umständen in ihrer Gesamtheit die Vorteile der Functional Economy insbesondere in ökologischer Hinsicht verstärken;

die Gemeinwohl-Ökonomie (siehe die EWSA-Stellungnahme vom 17. September 2015 (3));

die Sharing Economy, der insbesondere die EWSA-Stellungnahme vom 13. Mai 2016 (4) gewidmet war.

1.7.

Die Angebote der Functional Economy könnten durch ein europäisches Legislativpaket strukturiert werden, dass im Zusammenhang mit den neuen Konsumfragen steht, etwa dem gemeinschaftlichen Konsum, der geplanten Obsoleszenz, dem Verständnis dieser Modelle seitens der Verbraucher sowie einem für innovative Unternehmen günstigeren rechtlichen und steuerlichen Umfeld.

1.8.

Durch die Einführung der Functional Economy in den Städten und Regionen können mittels Erprobung neuer Wirtschaftsmodelle die neuen Herausforderungen einer nachhaltigen räumlichen Entwicklung bewältigt werden. Die Functional Economy eignet sich dazu, die Trümpfe der jeweiligen Regionen auszuspielen, von der Standardisierung der Massenproduktion wegzukommen, die teilweise für die Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Konsummodell verantwortlich ist, und die Gesamtheit der externen Effekte des Produktionssystems zu berücksichtigen. So gehören die Städte aufgrund ihrer Dichte, die eine Bündelung der Ressourcen fördert, zu den Gebieten, die für die Entwicklung von Functional Economy-Lösungen besonders geeignet sind.

1.9.

Zur Bewältigung der grundlegenden Umstellung auf ein neues Wirtschaftsmodell mit weitreichenden und systemischen Auswirkungen in zahlreichen Bereichen wird empfohlen, innerhalb des EWSA eine ständige übergreifende Struktur zur Analyse dieser Entwicklungen zu schaffen.

1.10.

Vor dem Hintergrund, dass es erst wenig gute Beispiele gibt und diese nicht immer die Bekanntheit erreichen, die sie verdienen, wäre eine Austauschplattform von Nutzen, die den Initiativen der Functional Economy Sichtbarkeit verleiht. Diese Plattform könnte sich in das Vorhaben einer europäischen Plattform für die Kreislaufwirtschaft einreihen, das der EWSA bei der Verabschiedung seiner Stellungnahme zum von der Europäischen Kommission vorgelegten Paket zur Kreislaufwirtschaft gebilligt hat.

1.11.

Die Functional Economy ermöglicht es, die verschiedenen Werte, aus denen sich der Wert einer Ware ergibt, neu zusammenzufügen. Der Wert der Verwendung, aber auch der Arbeitswert müssen so innerhalb der Functional Economy koexistieren.

1.12.

Die versicherungstechnischen Fragen der Modelle der Functional Economy müssen unbedingt geklärt und vereinfacht sowie auch für den Endverbraucher aussagekräftiger werden, wenn neue entsprechende Angebote entwickelt werden sollen.

2.   Definition und Inhalt: vom Eigentum zur Nutzung

2.1.

Bei der Functional Economy liegt der Schwerpunkt auf der Verwendung der Produkte und nicht auf ihrem Besitz. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine bloße Ergänzung eines Produkts um „Dienstleistungen“, sondern um die Gesamtheit aller Änderungen des Verbrauchs bei stärkerer Berücksichtigung des Endnutzers sowie um ressourcensparende Geschäftsmodelle bis hin zur Erzeugung eines Zusatznutzens für jeweilige Region. Gemäß dieser Logik verkaufen die Unternehmen nicht ein Produkt, sondern sie stellen die Funktion des Produkts entsprechend seinem Gebrauch in Rechnung. Dadurch liegt es im Interesse der Unternehmen, im Rahmen ihres Wirtschaftsmodells von vornherein solide, reparierbare und einfach zu wartende Geräte zu entwickeln sowie eine geeignete Produktionskette und Logistik zu gewährleisten.

2.1.1.

Das zugrunde liegende wirtschaftliche Paradigma besteht darin, dass sich der Wert aus den Vorteilen ergibt, die aus der Verwendung entstehen, d. h. aus dem Gebrauchswert, aber auch aus der Ware oder der Dienstleistung selbst oder aus der Sicht, die die anderen hierauf haben, d. h. ihrem Arbeits- oder Tauschwert.

2.1.2.

Im Rahmen des herkömmlichen Wirtschaftsmodells schaffen die Erzeuger einen Wert, den die Verbraucher durch den Konsum zerstören. In der Functional Economy müssen die Interessen beider Parteien zusammenfallen oder zumindest in die gleiche Richtung gehen, damit beide einen Wert bewahren oder gar schaffen. Die Erzeugung und Nutzung der Verwendungsdaten bzw. dieses Wissens im Rahmen der aktuellen digitalen Revolution sind Beispiele für solche neue Ressourcen und Werte, die von beiden Seiten geschaffen werden.

2.1.3.

Die neuen Dynamiken, die im Umfeld der — derzeit noch rein theoretischen — Figur des „Prosumenten“ (ein Neologismus, der die beiden zuvor getrennten Rollen des Produzenten und des Konsumenten kombiniert) entstehen, veranschaulichen diese Neustrukturierung der sehr linearen oder vertikalen Wirtschaftsbeziehungen mittels stärker vernetzten bzw. horizontaleren Modellen und Organisationen.

2.1.4.

Die Functional Economy kann die Entmaterialisierung der Wirtschaft vorantreiben, indem sie die Gesamtheit der Kosten in den Endpreis einfließen lässt. Sie muss die Entkopplung der Wirtschaftstätigkeit von ihren Umweltauswirkungen fördern.

2.2.

In theoretischer Hinsicht gibt es zwei Schulen, die sich auf zwei Modelle für eine mehr oder weniger erfolgreiche Anwendung des Konzepts der Functional Economy beziehen. Eine Schule geht von einem Dienstleistungsangebot aus, dessen Schwerpunkt auf der Verwendung liegt, und verweist auf das allgemeine Konzept der Dienstleistungswirtschaft. Sie bewertet die Eigentumsverhältnisse neu, hinterfragt jedoch kaum die Erzeugnisse. Die zweite Schule konzentriert sich auf die externen Faktoren der Functional Economy, was neue Lösungen ermöglicht, bei denen der Verkauf von Waren und Dienstleistungen als integriertes Ganzes angesehen wird (indem die Arbeit oder die Erzeugung immaterieller Ressourcen, insbesondere auch regionaler Ressourcen, betrachtet wird) und der Verbraucher ein integraler Bestandteil der konzipierten Lösung ist.

2.3.

Der EWSA befürwortet in dieser Hinsicht einen ausgewogenen Ansatz. Es geht hierbei nicht um die Förderung der Functional Economy nach dem Gießkannenprinzip, sondern um ihre Förderung unter der Bedingung, dass sie Antworten auf die genannten neuen Herausforderungen liefert.

3.   Herausforderungen

3.1.

Die Functional Economy ist interessant, da sie theoretisch, oder jedenfalls unter bestimmten Bedingungen, die Antwort auf vielfältige Herausforderungen — seien sie wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, ökologischer oder kultureller Natur — in Verbindung mit dem heutigen Konsum sein kann.

3.2.

Im Rahmen eines integrierten Ansatzes, insbesondere auf regionaler Ebene, kann sie einen Zusatznutzen oder positive externe Effekte haben. So schließen die Gebietskörperschaften beispielsweise im Wege kooperativer und transversaler Arbeitsmethoden in ihre Leistungen im Bereich öffentliche Beleuchtung auch die Wirtschaftsleistung, die Sicherung öffentlicher Räume, aber auch die Reduzierung der Lichtbelastung sowie des Energieverbrauchs ein. Die Berücksichtigung dieser verschiedenen Ziele anstelle der Optimierung eines einzigen Parameters ermöglicht es, zu vertretbaren Kosten auf vielfältige Herausforderungen zu reagieren.

3.2.1.

Dank einer Bündelung der Investitionen ist die Functional Economy ein Mittel, die Innovation im Dienste der nachhaltigen Entwicklung sowie insbesondere die sauberen oder grünen Technologien zu fördern. Somit findet sich für diese Technologien, die häufig kapitalintensiver als klassische Lösungen sind, ein Wirtschaftsmodell, das ihre Verbreitung über die Verbraucher fördert, die für sich genommen über keine ausreichenden finanziellen Kapazitäten verfügen würden. Zum Beispiel könnte den Verbrauchern über einen Energieleistungsvertrag („Contracting“) zuweilen kostspielige Technologien und Dienstleistungen im Bereich der Energieeffizienz gegen ein monatlich zu entrichtendes geringes Entgelt zur Verfügung gestellt werden.

3.3.

In ökologischer Hinsicht bringen die heutigen, auf den persönlichen Besitz gestützten Konsummuster eine Unternutzung von Gütern und somit eine erhebliche Verschwendung natürlicher Ressourcen mit sich (so bleibt etwa ein Auto 95 % der Zeit unbenutzt und wird in der Stadt in der Regel von kaum mehr als einer Person (durchschnittlich 1,2) genutzt).

3.3.1.

Durch den Erwerb eines Mobilitätsdienstes (eines Sitzplatzes für eine bestimmte Kilometerzahl, eines Autos für eine bestimmte Dauer und Kilometerleistung usw.) lässt sich die Nutzung dieser Ressourcen intensivieren. Mit der Functional Economy kann also die Intensität der Nutzung zahlreicher Verbrauchsgüter erhöht und dadurch bei gleichzeitiger Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks ein Mehrwert geschaffen werden.

3.3.2.

Die Preisgestaltung der Dienste der Functional Economy, bei der sämtliche Kosten des Produkts und der Dienstleistungen und nicht nur die Grenzkosten berücksichtigt werden, ermöglicht ein besseres Verständnis der tatsächlichen Kosten durch den Nutzer. Hierdurch wird ein Preissignal gegeben, das den tatsächlichen Auswirkungen der Herstellung besser entspricht. Dadurch wird ein verantwortungsbewussteres Verhalten gefördert (Beispiel: beim Erwerb eines einstündigen Carsharing zahlt der Nutzer die Abschreibung des Fahrzeugs, die Versicherung, den Parkplatz, den Treibstoff usw., d. h. insgesamt die anteilsmäßig berechneten Gesamtkosten. Hierdurch werden die Verbraucher stärker für eine bewusste Nutzung dieses Fahrzeugs sensibilisiert als ein das Fahrzeug besitzender Nutzer, der in der Regel nur den Treibstoff als Nutzungskosten wahrnimmt).

3.4.

In gesellschaftlicher Hinsicht kann die Functional Economy dank der Senkung der Kosten für den Zugang zu einem Produkt oder einer Dienstleistung, sei es durch die Bündelung kollektiv getätigter Investitionen oder eine Begrenzung des Preises der gewünschten Nutzung auf die bloßen Zugangskosten, einer größeren Zahl von Verbrauchern Zugang zu Dienstleistungen bieten, die bislang für sie nicht erschwinglich waren. Es stellt sich also die — sowohl aus wirtschaftlicher als auch rechtlicher oder versicherungstechnischer Sicht — zentrale Frage nach dem Investor und dem Eigner des den Nutzern zur Verfügung gestellten Kapitals. Im Hinblick auf diese Fragen scheinen sich bei den zu schaffenden neuen Regelungen große Herausforderungen zu stellen.

3.4.1.

Zahlreiche soziale Fragen werden aufgeworfen, und sie müssen ebenso wie die ökologischen Herausforderungen genau untersucht werden, um entscheiden zu können, ob die Functional Economy in diesem Bereich von Nutzen ist, und vor allem wie die Bedingungen für die Einführung der Functional Economy im Interesse des sozialen Fortschritts aussehen sollen.

3.5.

Der Paradigmenwechsel, den der Übergang vom „Besitz“ zum „Zugang“ voraussetzt, ist nicht unerheblich. Er bildet die Grundlage für eine Umstellung von einem Konsummodell, das sich auf die Zurschaustellung und den Nachahmungswunsch stützt, auf einen gemäßigteren, weniger durch zwanghaftes Verhalten gesteuerten und jedenfalls weniger vom Besitz materieller Güter abhängigen Konsum.

3.6.

Die Digitalisierung macht es möglich, den Anwendungsbereich der Functional Economy durch die Überwindung des ausschließlichen — oder jedenfalls ursprünglichen — Geschäftskundensegments auszuweiten. Insbesondere macht die Digitalisierung durch eine Senkung der Verbreitungs- und Einführungskosten in sehr unterschiedlichen Bereichen (Musik, Mobilität, Ausstattung, Unterkunft usw.) Lösungen der Functional Economy allen zugänglich. In dieser Perspektive muss zur Förderung des Zusammenspiels mit dem existierenden Wirtschaftsmodell rasch ein Steuer- und Regulierungsrahmen konzipiert und eingeführt werden.

3.7.

Die jüngsten Arbeiten und Erfahrungen zeigen, dass die Praktiken der Functional Economy dann Erfolg haben und angenommen werden, wenn die Lösungen das Nutzererlebnis und die Lebensqualität der Verbraucher verbessern, was mehr Gewicht hat als lediglich ökonomische oder ökologische Kriterien. Dies veranschaulicht das Carsharing im Rahmen der zentralen Frage des Parkens in der Innenstadt, das sich dank dieses Systems lösen lässt, bzw. das Streaming mit der Möglichkeit, quasi sofort auf einen umfangreichen Katalog zuzugreifen.

4.   Hindernisse und Grenzen

4.1.

Die Functional Economy kann in einigen Fällen zu einer Erhöhung der Verwendungsrate und Beschleunigung der Produkterneuerung führen. So ist es beim Mobilfunk oder dem Verkauf von Leasing-Fahrzeugen nicht offenkundig, dass diese Modelle (in der Regel Langzeitanmietung mit Kaufoption) dazu beitragen, die Lebensdauer der Produkte zu verlängern oder deren Recycling am Ende des Lebenszyklus zu verbessern.

4.2.

Zwar sind die großen Industriekonzerne am ehesten für die Realisierung konkreter Beispiele bekannt, doch spielen auch traditionellere Branchen wie die Landwirtschaft, beispielsweise über die kollektive Beschaffung, aber auch Start-ups eine Rolle bei der Konsolidierung und der Verbreitung der Functional Economy in der Gesellschaft. Darüber hinaus könnten auch KMU mit diesem Konzept und seiner Anwendung neue Lösungen für ihre Kunden finden. Strukturen wie Genossenschaften können zudem horizontalere Governanceverfahren fördern, bei denen die Nutzer voll und ganz einbezogen sind.

4.3.

Durch Senkung der Kosten für den Zugang zu einem Produkt oder zu einer Dienstleistung kann die Functional Economy für die einkommensschwächsten Bürger von Vorteil sein. Insbesondere ermöglicht sie eine gewisse Flexibilität beim Zugang zu Dienstleistungen und Produkten. Zugleich kann sie jedoch auch diese einkommensschwächsten Bürger noch verletzlicher machen, sobald sie nicht mehr in der Lage sind, die Zugangs-, Nutzungs- oder Abonnementsgebühren für eine Dienstleistung zu entrichten. Unter diesem Blickwinkel und vor dem Hintergrund der in zahlreichen europäischen Staaten zunehmenden Armut mag der Besitz vorteilhafter und somit für Zielgruppen in prekärer Lage beruhigender erscheinen. Darüber hinaus ist der ungleiche Zugang zu bestimmten Gütern und Dienstleistungen nicht nur eine Frage des wirtschaftlichen Kapitals (finanzieller Ressourcen), sondern auch des kulturellen oder des Bildungskapitals (soziales Umfeld, Ausbildung).

4.4.

Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten kann die Functional Economy die Abhängigkeit der Verbraucher und somit der Bürger von Wirtschaftsorganisationen oder einem bestimmten technischen und wirtschaftlichen System noch weiter erhöhen. Ist erst einmal ein Abonnement für eine Dienstleistung abgeschlossen worden, ist es u. a. schwierig, wenn nicht gar unmöglich, das zur Verfügung gestellte Produkt zu reparieren, zu verbessern oder zu verändern. Hierdurch kann die Functional Economy die Fremdbestimmtheit verstärken, wenn bei den Dienstleistungen die Nutzer nicht ausreichend in die Konzipierung der Produkte und Lösungen eingebunden werden. Es müssen Wirtschafts- und Steuerungsmodelle gefunden und gefördert werden, die die Selbstständigkeit der Verbraucher (bei ihren Entscheidungen, Praktiken und Gewohnheiten) fördern.

4.5.

Mit der Digitalisierung lässt sich die Reichweite der Functional Economy auf sämtliche Verbraucher ausweiten. Sie wirft jedoch auch zahlreiche Fragen auf: Wertabschöpfung durch bestimmte Plattformen, Steueroptimierung oder -umgehung, Datenschutz (insbesondere im Zuge der Nutzung der erhobenen Daten), Wirtschaftskonzentration (Plattformmonopole) und beschäftigungsspezifische Fragen (siehe Ziffer 1.6).

4.6.

Bei all diesen Risiken oder Hindernissen lässt sich die Functional Economy nicht durch den bloßen Übergang zu einer „Dienstleistungswirtschaft“ vor derartigen Gefahren schützen. Ein stärker integriertes Konzept der Functional Economy, bei dem zugleich die Unternehmensführung, die Arbeit und der jeweilige territoriale Bezug hinterfragt und den Verbrauchern bereits im Stadium der Konzipierung der Dienstleistung und über den gesamten Lebenszyklus des Produkts Rechnung getragen wird, kann zur Bewältigung dieser Risiken beitragen.

4.7.

Dennoch sind bei mehreren dieser Punkte, insbesondere im Bereich des Wettbewerbs und des Datenschutzes, sicherlich juristische Schritte erforderlich.

5.   Für eine europäische Dynamik der Functional Economy

5.1.

Es gibt zahlreiche Gründe, wieso sich die Europäische Union mit der Frage der Functional Economy befassen sollte. Sie sind ökologischer, sozialer, kultureller, aber auch wirtschaftlicher Natur. Darüber hinaus sind im Rahmen dieser Überlegungen, insbesondere in Bezug auf das Tempo der herbeigeführten radikalen Veränderungen, die digitalen Herausforderungen und im Allgemeinen die Koppelung mit den neuen Wirtschaftsmodellen wie etwa der Sharing Economy, der Kreislaufwirtschaft usw. von Bedeutung.

5.2.

In Europa scheint die Functional Economy ein Mittel für die Unternehmen zu sein, wieder Mehrwert zu schaffen und beschäftigungsintensive Lösungen zu fördern (insbesondere im nachgelagerten Bereich der Wartung, Reparatur usw., aber auch im vorgelagerten Bereich der Ausarbeitung innovativer Wirtschaftsmodelle und der Konzipierung damit verbundener Dienstleistungen) sowie vor allem die Wettbewerbsfähigkeit einiger Branchen zu stärken. Durch die Entwicklung von optimal auf die Verbraucherbedürfnisse zugeschnittenen Dienstleistungsangeboten anstelle einer standardisierten und wenig bedarfsgerechten Produktion kann sie eine neue Vertrauensbasis zwischen den Unternehmen und den Verbrauchern schaffen und dem Konsum wieder einen Sinn geben.

5.3.

Angesichts der Bemühungen der Entwicklungsabteilungen der Großunternehmen, der Regionen und zahlreicher Fachleute um die Förderung der Functional Economy verwundert ihre schwache Dynamik in Europa. Obwohl die Functional Economy den Kern der Kreislaufwirtschaft bildet, findet sie keinerlei Erwähnung in dem jüngst von der Kommission veröffentlichten einschlägigen Bericht „Den Kreislauf schließen“.

5.3.1.

Trotz dieser Unwägbarkeiten und Grenzen stellt die Functional Economy vor dem Hintergrund der derzeit unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage in Europa eine Gelegenheit für Europa dar, das Know-how und die Kompetenzen zahlreicher Akteure zu nutzen und auszubauen.

Brüssel, den 15. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98.

(2)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 1.

(3)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 26.

(4)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 36.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung innovativer und wachstumsstarker Unternehmen“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 075/02)

Berichterstatter:

Antonio GARCÍA DEL RIEGO

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung am

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/1/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bestärkt die Kommission darin, die Ausarbeitung von Vorschlägen für politische Maßnahmen zur Förderung der Gründung von innovativen und wachstumsstarken Unternehmen fortzuführen; er empfiehlt, diese Initiativen von einem einzelnen Referat durchführen, leiten und koordinieren zu lassen, das für die Bewertung, Überwachung und Schaffung von Synergien zwischen den innovativen politischen Maßnahmen der unterschiedlichen Generaldirektionen zuständig ist. Mit diesen Maßnahmenvorschlägen sollten folgende Ziele erreicht werden: Stärkung des Binnenmarkts sowie der Cluster und Ökosysteme, in denen innovative Start-ups gegründet werden, Entwicklung der Komponente der Beteiligungsfinanzierung auf den europäischen Kapitalmärkten, Fokussierung akademischer Agenden auf zukunftsorientierte Berufe und Senkung der Kosten und des bürokratischen Aufwands bei der Gründung eines neuen Unternehmens.

1.1.1.

Die Kommission sollte die Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften vorantreiben: Langfristige Harmonisierungsprojekte wie z. B. Rechnungslegungs- und Insolvenzstandards sowie die automatische Anerkennung beruflicher und akademischer Qualifikationen, die beschleunigte Umsetzung des digitalen Binnenmarkts und die vollständige Umsetzung der Initiative für die Kapitalmarktunion (1) würde für die EU im Hinblick auf die Ausschöpfung des Potenzials eines echten Binnenmarkts von großem Nutzen sein. Einfache und wirksame grenzübergreifende Vertragsbestimmungen würden den grenzüberschreitenden elektronischen Handel fördern und die Fragmentierung des Verbraucherrechts sowie die Befolgungskosten für die Unternehmen einschränken.

1.1.2.

Die Beteiligungsfinanzierung muss ausgeweitet werden, um Start-ups in der Entwicklungsphase zu unterstützen. Dies setzt u. a. eine neutralere Steuerregelung voraus, die keinen Unterschied zwischen Kredit- und Beteiligungsfinanzierung macht, d. h., bei der sowohl Zins- als auch Dividendenzahlungen steuerlich abgesetzt werden können (2). Start-ups sollten auch auf Aktienoptions-Pakete zurückgreifen können, um Talente anzuziehen und zu binden.

1.1.3.

Es sollte — auch mithilfe bildungspolitischer und nicht-legislativer Initiativen — eine Beteiligungskapitalkultur geschaffen und gefördert werden. Im europäischen Finanzsystem müssen liquide Anlageprodukte für Kleinanleger entwickelt werden, um sie zur Investition in Kleinunternehmen zu ermutigen.

1.1.4.

Der Abbau unnötiger Bürokratie und der Überregulierung sind ebenfalls entscheidend, um den Verwaltungsaufwand zu minimieren und unnötige Kosten und verzichtbaren Zeitaufwand für Unternehmer zu vermeiden.

1.1.5.

Die Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Unternehmen (Groß- und Kleinunternehmen) muss in den Mitgliedstaaten verstärkt und beschleunigt werden; neue Maßnahmen sind zu ergreifen, um die EU für Talente attraktiver zu machen.

1.1.5.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, sämtliche rechtliche Einschränkungen für den Austausch von studentischen Unternehmern und Jungunternehmern (3) zu beseitigen, bspw. mittels Einrichtung eines Erasmus-Programms für Jungunternehmer.

1.1.5.2.

Der EWSA spricht sich zwecks Sensibilisierung für vielversprechende Unternehmen dafür aus, eine plattformbasierte Informationsdatenbank in die Europäische Plattform für Investitionsberatung (EIAH) und das Europäische Investitionsprojektportal (EIPP) zu integrieren (4). Diese könnte wachstumsstarke Unternehmen der EU in verschiedenen Branchen umfassen, die auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien ausgewählt werden und unternehmensübergreifendes Vergleichen und Benchmarking ermöglichen.

1.1.6.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass der Austausch und die Evaluierung bewährter Verfahren wertvolle Erkenntnisse für die Erprobung neuer Maßnahmen bieten (5).

1.2.

Der Europäische Investitionsfonds (EIF) und die Europäische Investitionsbank (EIB) werden aufgefordert, innovative Unternehmen mit spezifischem Risiko- und Startkapital zu unterstützen, um den Technologietransfer von den Hochschulen und Forschungszentren zu erleichtern. Dies könnte die Form einer ersten Darlehensgarantie annehmen, mit der anfängliche Bedenken gegen eine private Finanzierung überwunden werden könnten.

1.3.

Der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI), der über Mittel von 21 Mrd. EUR aus Garantien der Europäischen Union und EIB-Kapital verfügt, sollte eine entscheidende Rolle dabei spielen, innovative Projekte beim Skalieren und dem Markteintritt zu unterstützen. Außerdem könnte der EFSI ein Modell für künftige EU-Haushalte sein bei einer Entwicklung weg von der traditionellen Methode der Finanzierung von Projekten durch Zuschüsse hin zu einem effizienteren investitionsgestützten Modell, bei dem Mittel für Projekte eingesammelt werden. Mit dem EFSI sind relativ risikobehaftete Bereiche erfolgreich finanziert worden, die andernfalls leicht übersehen worden wären (6).

1.4.

Der EWSA fordert den Aufbau eines umfangreicheren Instrumentariums zur Förderung von Investitionen in der Wachstumsphase einschließlich „asymmetrischer Fonds“, die unterschiedliche Renditen für unterschiedliche Arten von Anlegern sowie alternative Finanzierungsinstrumente wie z. B. Crowdfunding bieten (7). Zur Erleichterung des Marktzugangs europäischer KMU sollte auch die Schaffung von Teilmärkten erwogen werden.

1.5.

Die Europäische Kommission sollte sich mit den regulatorischen Asymmetrien zwischen der EU und den USA bezüglich der Behandlung von Investitionen in Software befassen und die ordnungspolitischen Zwänge beseitigen, die Investitionen des europäischen Finanzsektors in die digitale Entwicklung behindern.

2.   Bewertung der aktuellen Situation

2.1.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft und tragen maßgeblich zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum Wirtschaftswachstum bei (8).

2.1.1.

2015 machten über 22,3 Mio. KMU in der Europäischen Union 99,8 % aller nichtfinanziellen Unternehmen aus, beschäftigten 90 Mio. Menschen (66,9 % der Gesamtbeschäftigung), generierten 57,8 % der gesamten Wertschöpfung (9) und schufen 85 % der neuen Arbeitsplätze. Europa muss dafür sorgen, dass eine neue Generation von KMU geschaffen wird, um die 200 000 jährlich in Insolvenz gehenden KMU zu ersetzen (10), wovon 1,7 Mio. Arbeitnehmer betroffen sind. Für das künftige Wirtschaftswachstum sind jedenfalls diejenigen Unternehmen von besonderer Bedeutung, die neue Ideen entwickeln, wachsen und exportieren wollen.

2.2.

Die Gründung von Start-up-Unternehmen mit hohen Wachstumsraten ist von wesentlicher Bedeutung, da ihr Schwerpunkt auf Innovationen in schnell wachsenden Sektoren mit hoher Wertschöpfung liegt. Es handelt sich um Unternehmen, die in Zukunft Arbeitsplätze schaffen und das Produktivitätswachstum ankurbeln, was für die Verbesserung des Lebensstandards von zentraler Bedeutung ist. Europa verzeichnet zwar in einigen Bereichen Fortschritte, hat aber Rückstand beim Übergang von der Start-up- zur Scale-up-Phase (von der Gründungs- zur Expansionsphase), der schließlich zu dem in Europa benötigten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum führen soll (11).

2.3.

In dieser Initiativstellungnahme geht es vor allem um Scale-ups: wachstumsstarke Unternehmen mit einem durchschnittlichen Personalzuwachs (oder einer Umsatzsteigerung) von mehr als 20 % pro Jahr über einen Zeitraum von drei Jahren und mit zehn oder mehr Mitarbeitern zu Beginn des Beobachtungszeitraums (12). Ein wesentliches Merkmal von Scale-up-Unternehmen sind ihre Geschäftsmodelle mit hoher Skalierbarkeit. Skalierbarkeit wird definiert als die Fähigkeit, im Hinblick auf Marktzugang, Einnahmen und Struktur zu wachsen, beispielsweise durch die schnelle Übernahme des Geschäftsmodells auf unterschiedlichen Märkten oder bei neuen Managementpraktiken.

2.3.1.

In einer OECD-Studie unter Einbeziehung von elf Ländern wurde festgestellt, dass Scale-up-Unternehmen in allen elf Ländern (13) weniger als 10 % aller Firmen ausmachten, jedoch bis zu zwei Drittel aller neuen Arbeitsplätze (14) schufen.

2.4.

Start-ups sind im Allgemeinen auf kurze Sicht weniger rentabel und von externer Finanzierung abhängig. Wenn diese innovativen Unternehmen nicht in der Lage sind, ihre Expansionspläne zu finanzieren, können sie nicht wachsen: Ihr vorhandenes Potenzial für Produktivitätswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen kann sich dann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht entfalten.

2.4.1.

In einer Untersuchung der Weltbank (15) wurde der durchschnittliche Anteil von notleidenden KMU-Darlehen in entwickelten Märkten im Jahr 2007 auf 6,93 % geschätzt und ist damit mehr als doppelt so hoch wie bei Darlehen an Großunternehmen, bei denen dieser Wert 2,54 % beträgt. Der Anteil der notleidenden Darlehen ist während der Krise in Portugal, Spanien, Italien und Irland drastisch gestiegen, auf Werte zwischen 10 % und 25 %.

2.4.1.1.

Maßnahmen, mit denen Banken zur Darlehensvergabe an risikoreichere Firmen — insbesondere an Firmen in der Anfangsphase mit begrenzten Sicherheiten — angehalten werden, könnten zu einer höheren Risikoexposition der Banken, zu Kreditknappheit und zu erhöhter finanzieller Instabilität (16) führen.

2.5.

Europa muss sich auf das reibungslose Funktionieren des „Übergangs zwischen den Finanzierungsphasen“ konzentrieren, was derzeit nicht gegeben ist.

2.5.1.

Der Übergang bezieht sich auf vier Phasen: Start-up-Phase (Finanzierung durch Darlehen, Gründungskapital, Familie und Freunde); Kapital-Wachstumsphase (Crowdfunding, Mikrofinanzierung, Business Angels); Phase anhaltenden Wachstums (Verbriefungen, private Beteiligungen, Risikokapital, institutionelle Anleger, private Schuldverschreibungen) und Exit-Phase (Erwerb, Aktienmärkte).

3.   Voraussetzungen für die Entwicklung eines Innovationsökosystems für Scale-up-Unternehmen

3.1.

Erfolgreiche Innovationsökosysteme, in denen Scale-ups gefördert werden, zeichnen sich durch eng miteinander verbundene Netzwerke aus Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen, Großunternehmen, Risikokapitalgeber sowie das Vorhandensein kreativer und unternehmerischer Talente (17) aus.

3.1.1.

In der Regel werden Start-ups in Technologiezentren im Umfeld erstklassiger Hochschulen gegründet, die bei der Entwicklung eines dynamischen Geschäftsumfelds als Hauptakteure fungieren, da sie die Chance zur Entfaltung von Talenten bieten, sowohl für Studierende als auch für die Wissenschaft. Durch leistungsfähige, gut vernetzte Cluster wird die Produktivität von Unternehmen gefördert, die Innovationsrichtung und -geschwindigkeit vorgegeben und die Entstehung neuer Unternehmen gefördert. Die USA und China sowie einige Standorte in Europa führen einen langfristigen Kampf um Talente und Kapital sowie für die Innovationsförderung.

3.1.2.

Gleichwohl behindert die Fragmentierung des europäischen Arbeitsmarkts den Übergang von Start-ups zu Scale-ups. Diesbezüglich ist es von vordringlicher Bedeutung, die Arbeitskräftemobilität in der EU zu fördern und Talente aus Drittstaaten anzuziehen, die selbst wiederum als Anziehungspol wirken, wodurch eine positive Dynamik geschaffen wird.

3.1.3.

Es sollte ein Erasmus-Programm für Jungunternehmer aufgelegt werden. Es würde sich in den Leitgrundsatz für Wachstum und Beschäftigung einfügen, wäre eine mobilitätsfördernde Initiative und würde von den Unternehmen begrüßt werden.

3.1.3.1.

Vor Kurzem wurden einige Maßnahmen zur Anwerbung von Talenten aus Drittstaaten ergriffen. Mit der im Jahr 2009 eingeführten „Blauen Karte“ wurde die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte bei Einstellung durch einen EU-Arbeitgeber erleichtert (18). Einige europäische Länder haben bereits auf nationaler Ebene spezifische Visaverfahren für Unternehmer eingerichtet, und weitere folgen (19).

3.1.4.

Ein bemerkenswertes Erfolgsbeispiel für ein Technologiezentrum ist Oxbridge, die Region im Vereinigten Königreich, die die Universitäten Oxford und Cambridge umfasst. Während der anhaltenden Phase der wirtschaftlichen Rezession und Stagnation zwischen 2008 und 2012 wuchs die Hightech-Community in Großbritannien weiter (20).

3.1.4.1.

Viele europäische Universitäten haben jedoch weder den Status noch die Struktur oder das Bestreben, die Voraussetzungen für das Wachstum unternehmerischer Vorhaben auf dem Campus zu schaffen — oder sich dafür gegenüber den Regierungen starkzumachen (21). Hochschulrektoren und Regierungen sollten Verbindungen zur Industrie knüpfen sowie in Technologietransferbüros auf dem Campus und die Vermittlung unternehmerischer Kompetenzen durch Bildungsmaßnahmen investieren (22).

3.1.5.

Spin-offs als Ergebnis von Technologietransfers aus Universitäten haben aufgrund mangelnder Mittel und spezialisiertem Management Schwierigkeiten, an Größe zu gewinnen. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass sie auf institutionelle Unterstützung zählen können, um die anfängliche Zurückhaltung privater Anleger bei der Investition in Spin-offs mit technischem Profil wettzumachen, da diese als zu technisch und riskant eingestuft und häufig nicht verstanden werden.

3.2.

Obwohl das Bildungsniveau vergleichbar ist, werden in Europa wesentlich seltener neue Unternehmen gegründet als in den USA. Zu den zahlreichen Gründen hierfür zählen hohe Risikoscheu, Verwaltungsaufwand, eine unterentwickelte „Kultur der zweiten Chance“ und unzureichende Ausbildungsprogramme mit unternehmerischem Bezug sowie eine mangelnde Kultur des privaten Beteiligungskapitals. Ebenso sollte auf eine frühe Entwicklung unternehmerischer Kultur in der Grundschule und den weiterführenden Schulen geachtet werden.

3.2.1.

In der Tat fürchten sich Europäer bei der Gründung eines neuen Unternehmens am meisten vor dem Insolvenzrisiko: 43 % in Europa im Gegensatz zu 19 % in den USA. In den USA (23) trägt das recht effektive Insolvenzsystem für Unternehmen ohne strafenden Charakter sowie die allgemein größere Akzeptanz von Unternehmensinsolvenzen zu einer höheren Risikobereitschaft bei. Die Entwicklung einer stärker unternehmerisch geprägten Kultur sollte für die politischen Entscheidungsträger und Ausbildungseinrichtungen Priorität bekommen.

3.2.1.1.

Laut einer kürzlich durchgeführten Studie haben Unternehmen, die im zweiten Anlauf gegründet wurden, einen höheren Umsatz, ein höheres Beschäftigungswachstum und größere Chancen, externe Geldmittel zu akquirieren (24). In Spanien sind lediglich 20 % der Unternehmer, die zum ersten Mal ein Start-up-Unternehmen gründen, erfolgreich. Bei denjenigen, die einen zweiten Versuch wagen, steigt die Erfolgsquote auf bemerkenswerte 80 %.

3.3.

Bei wachstumsstarken und innovativen Unternehmen ist die Wahrscheinlichkeit höher, zurückgewiesen zu werden, wenn es um die Gewährung von Bankdarlehen geht, da es ihnen an Kapital fehlt, einem Schlüsselelement im Rahmen der Bonitätsprüfung von Banken (25). Die Beteiligungsfinanzierung ist daher für Start-ups und für Unternehmen mit ehrgeizigen Expansionsplänen, doch ungewissen und negativ prognostizierten Mittelzuflüssen, von grundlegender Bedeutung. Die Kreditvergabe durch Banken sollte folglich ergänzt werden, indem die Vielfalt und Flexibilität von Finanzierungsquellen — mit besonderem Schwerpunkt auf der Beteiligungsfinanzierung — gefördert wird.

3.4.

In Europa sollte eine Kultur des privaten Beteiligungskapitals geschaffen und gefördert werden, und die europäischen Finanzsysteme sollten Anlageprodukte entwickeln, die für Kleinanleger geeignet sind und ihnen die nötige Liquidität für Investitionen in innovative Kleinunternehmen verschafft.

3.4.1.

Aufgrund der mangelnden Finanzierung nach der Startphase können europäische Start-ups nicht mit dem Wachstumstempo ihrer US-amerikanischen Pendants mithalten und müssen entweder schon früher Einnahmen erzielen, um überleben zu können, oder sie werden vorzeitig zu Schleuderpreisen verkauft. Im Jahr 2009 befanden sich lediglich 5 % der europäischen Unternehmen, die seit 1980 neu gegründet wurden, unter den Top 1 000 in puncto Marktkapitalisierung. In den USA betrug dieser Anteil 22 % (26).

3.4.1.1.

Auffallend ist, dass über die Hälfte des weltweiten Beteiligungskapitals in den USA vergeben wird — und nur 15 % in Europa. 2013 wurden in den USA 26 Mrd. EUR Beteiligungskapital zur Verfügung gestellt und 5 Mrd. EUR in Europa, während private Geldgeber (Business Angels) 6 Mrd. EUR an europäische Start-ups vergaben und 20 Mrd. EUR an US-amerikanische.

3.4.1.2.

Somit leidet Europa an einem erheblichen Mangel an Finanzierungen durch Business Angels und mit Risikokapital; die in den USA vergebenen Summen sind drei- bzw. fünfmal höher. Dies ist eine maßgebliche Differenz, da diese Art von Kapital benötigt wird, um Firmen in größere und erfolgreichere Unternehmen umzuwandeln.

3.4.1.3.

Der Hauptgrund dafür liegt in der hohen Fragmentierung des europäischen Risikokapitalmarkts entlang der nationalen Grenzen. Mit ca. 60 Mio. EUR ist der durchschnittliche europäische Risikokapitalfonds nur halb so groß wie der durchschnittliche Fonds in den USA, und 90 % der Risikokapitalanlagen in der EU konzentrieren sich auf nur acht EU-Mitgliedstaaten (Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Spanien, Schweden und Vereinigtes Königreich) (27). Aufgrund der unterschiedlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten müssen Risikokapitalgesellschaften bei der Beschaffung von Mitteln in ganz Europa hohe Kosten tragen. Das führt dazu, dass sie klein bleiben und über weniger Kapital zur Unterstützung wachsender Unternehmen verfügen. Würden die Risikokapitalmärkte in der EU eine ähnliche Tiefe wie in den USA aufweisen, wären zwischen 2008 und 2013 den Unternehmen ganze 90 Mrd. EUR zusätzlicher Mittel zur Verfügung gestanden (28).

3.4.1.4.

Ferner ist auch die unzureichende Beteiligung privater Anleger ein Problem. In den letzten zehn Jahren ist die europäische Risikokapitalbranche immer stärker von Institutionen des öffentlichen Sektors abhängig geworden, die im Jahr 2015 31 % (29) der gesamten Investitionen beisteuerten — 2007 waren dies noch lediglich 15 % (30). Ziel sollte es nicht sein, weniger Mittel der öffentlichen Hand zu bekommen, sondern mehr private Gelder zu mobilisieren. Die Anlegerbasis muss verbreitert und diversifiziert werden, wenn sich diese Branche auf lange Sicht selbst tragen soll.

3.4.1.5.

Um öffentlich-private Partnerschaften anzuregen, sollten asymmetrische Fonds erwogen werden. Dies sind Risikokapitalfonds, deren Anleger je nach Investitionsziel unterschiedliche Bedingungen und Renditen erhalten; dabei werden die verschiedenen Interessen der Partner in unterschiedlichen Kooperationen anerkannt. Solche Fonds gibt es bereits in Finnland, Griechenland, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden.

3.4.2.

Zur Erleichterung des Marktzugangs europäischer KMU sollte auch die Schaffung von Teilmärkten erwogen werden. Sie sollten niedrige Börsenzugangskosten und einen flexiblen und auf die Bedürfnisse kleiner, dynamischer Unternehmen maßgeschneiderten Ansatz ermöglichen. Gute Beispiele hierfür sind der „London’s Alternative Investment Market“ (AIM), der „Nouveau Marché“ in Paris oder der „Mercado Alternativo Bursatil“ (MAB) in Madrid. Dieses flexible Regulierungssystem kann indes ein zweischneidiges Schwert sein. Kleinunternehmen haben zwar einen einfacheren Börsenzugang zwecks Streuung von Anteilen, aber andererseits könnte es für unerfahrene Anleger schwierig sein, das genaue Risikoprofil eines Unternehmens zu bewerten.

3.4.3.

Branchenspezifische Vorschriften beeinträchtigen mitunter die Fähigkeit von Unternehmen in der EU im Vergleich zu ihren Wettbewerbern in den USA, in die technologische Entwicklung zu investieren. Bspw. gibt es eine ungleiche Regulierung für Finanzunternehmen in Europa, den USA und der Schweiz bezüglich der erforderlichen Investitionen in Software und andere, für die digitale Entwicklung unerlässliche immaterielle Vermögenswerte.

3.4.3.1.

Der Bankensektor ist der bei Weitem weltweit größte IT-Bereich: 700 Mrd. USD werden vom Finanzsektor für IT-Innovationen ausgegeben — jeder fünfte ausgegebene Euro und ca. 5 % bis 10 % aller Investitionen stammen aus dem Finanzsektor (31). Folglich sind Banken sowohl ein maßgeblicher Akteur des digitalen Wandels als auch der größte Geldgeber der digitalen Wirtschaft.

3.4.3.2.

Gleichwohl werden die dringend benötigten Investitionen in IT durch den normativen Rahmen beeinträchtigt. Software sollte bei der Finanzmarktregulierung als ein ordentlicher Vermögenswert angesehen werden und EU-Banken sollten nicht gezwungen sein, solche Investitionen bezüglich der Kapitalanforderungen auszunehmen.

3.5.

Unterschiedliche Steuersysteme in den Mitgliedstaaten und verschiedene Finanzierungsformen stellen ein Hindernis für die Entwicklung eines europaweiten Kapitalmarktes dar, was sich sowohl auf Anleger als auch auf Emittenten auswirkt.

3.5.1.

Die meisten Körperschaftsteuersysteme in Europa begünstigen die Kreditfinanzierung gegenüber einer Finanzierung durch Beteiligungskapital: Zinsaufwendungen können abgesetzt werden, während Dividendenzahlungen im Rahmen einer Beteiligungsfinanzierung jedoch nicht steuerlich geltend gemacht werden können. Diese verschuldungsfreundliche Unternehmensbesteuerung könnte durch Steuerermäßigungen für die Kosten sowohl der Beteiligungs- als auch der Kreditfinanzierung (32) ersetzt werden.

3.5.1.1.

Steueranreize spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Geldmitteln für wachstumsstarke Unternehmen in der Anfangsphase, und einige Regierungen in verschiedenen Ländern der Welt gewähren Steuerermäßigungen für Einzelpersonen und Unternehmen, die in Hochtechnologie-Start-ups oder in qualifizierte Risikokapitalfonds investieren (33).

3.5.1.2.

Aktionenoptionen sind seit jeher ein attraktiver Vorteil für Beschäftigte und Eigentümer von Start-ups, da viele zugunsten von Aktienoptionen auf Gehaltszulagen verzichten. In den meisten Mitgliedstaaten werden Aktienoptionen steuerlich sehr repressiv behandelt, da sie als normales Einkommen eingestuft und nach einem Grenzsteuersatz besteuert werden. Es sollte eine steuerliche Vorzugsbehandlung für Aktienoptionen wie z. B. bei den „Incentive Stock Options“ (ISO) (34) in den USA gefördert werden.

3.5.2.

Für Unternehmen — insbesondere mit einem grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsangebot — ist es kostspielig, die Mehrwertsteuerbestimmungen einzuhalten. Der EWSA begrüßt die Ankündigung der Kommission, im Rahmen der digitalen Binnenmarktstrategie bis Ende 2016 Gesetzesvorschläge zu unterbreiten, um den Verwaltungsaufwand für Unternehmen durch unterschiedliche Mehrwertsteuersysteme zu reduzieren. Die Kommission schlägt diesbezüglich zur Unterstützung von Start-ups und Mikrounternehmen u. a. die Einführung eines Schwellenwerts vor, unter dem eine Mehrwertsteuer-Befreiung gilt (35).

3.6.

Die Erschließung des vollen Potenzials des Binnenmarktes ist wichtig, damit Start-ups ihre Waren und Dienstleistungen bereits in der Anfangsphase in der gesamten EU anbieten und schnell expandieren können, um auf globalen Märkten zu konkurrieren.

3.6.1.

Einfache und wirksame Vorschriften für grenzübergreifende Vertragsbestimmungen für Verbraucher und Unternehmen sind eine Priorität der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt. Sie würden den grenzüberschreitenden elektronischen Handel in der EU durch Beseitigung der Fragmentierung auf dem Gebiet des Verbraucher- und Vertragsrechts fördern. Die Beseitigung der mit unterschiedlichen Vertragsrechtsvorschriften verbundenen Hemmnisse würde den Konsum in der EU um 18 Mrd. EUR ansteigen lassen, und das BIP könnte, gemessen am derzeitigen Niveau, um 4 Mrd. EUR zulegen (36).

3.7.

Außerdem führt unnötiger Verwaltungsaufwand zu zusätzlichen Kosten und Zeitaufwand für Unternehmer.

3.7.1.

Zwischen 2013 und 2015 lagen die durchschnittlichen Kosten für die Gründung eines Unternehmens in der EU bei 4,1 % des Pro-Kopf-BIP, während sie in den USA bei 1,17 % lagen (37).

3.7.2.

Die durchschnittliche Dauer für die Gründung und Registrierung eines Unternehmens in der EU beträgt 11,6 Tage. In den USA kann innerhalb von nur sechs Tagen ein Unternehmen gegründet werden.

3.8.

Die Informationsasymmetrie ist ein weiterer Grund, wieso in Europa nicht genügend wachstumsstarke Unternehmen entstehen. Anleger haben keinen vollständigen Überblick über alle Investitionsmöglichkeiten. Zudem stehen nichteuropäische Investoren vor zusätzlichen Hindernissen, wenn sie versuchen, die Besonderheiten der verschiedenen nationalen Märkte zu verstehen. Ein speziell hierfür eingerichtetes Portal im Zusammenhang mit der Europäischen Plattform für Investitionsberatung (EIAH) und dem Europäischen Portal für Investitionsvorhaben (EIPP) (38) würde wachstumsstarken Projekten mehr Sichtbarkeit verschaffen und die Informationsasymmetrie verringern.

4.   Ausgewählte Beispiele für die zahlreichen derzeitigen bewährten Verfahren

4.1.

Eine Reihe von Staaten haben bewährte Verfahren zur Unterstützung von Start-ups und Scale-ups entwickelt. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Möglichkeiten für ihre Umsetzung auf europäischer Ebene sorgfältig zu prüfen.

4.1.1.

In Deutschland müssen Firmen einer Industrie- und Handelskammer (IHK) beitreten, die Beratung und Unterstützung anbietet (39).

4.1.2.

Staatliche Kreditgarantieregelungen, wie in Italien, dem Vereinigten Königreich, Polen und Frankreich, sollten ebenso sondiert werden wie die staatliche Kofinanzierung, wie sie in Deutschland und Schweden (40) besteht.

4.1.3.

Im Vereinigten Königreich bestehen drei Arten von Steueranreizen, um mehr Mittel in risikoreichere Anlagen zu lenken (EIS), (SEIS) und (VCT) (41).

4.1.4.

Die italienische Region Piemont hat in zwölf Industrie-Clustern Netzwerke entwickelt, um Unternehmen, Hochschulen und lokale Regierungen zusammenzubringen (42).

4.1.5.

In der spanischen Region Baskenland fördert die Genossenschaft Elkar-Lan die Gründung von Genossenschaften durch eine umfassende Wirtschaftlichkeitsprüfung des Projekts, durch Schulungen und Zugang zu Subventionen und finanzieller Hilfe (43).

4.1.6.

Die Digitalisierung von Behördendiensten könnte wie im Falle von Estland zu einem Durchbruch bei der Wachstumsförderung von innovativen Hochtechnologieunternehmen führen. Die Entwicklung von elektronischen Behördendiensten auf europäischer Ebene würde enorme Auswirkungen haben.

4.1.7.

Im Zeitalter der datengesteuerten Wirtschaft können immaterielle Vermögenswerte, die unter Einsatz traditioneller Finanzierungsmechanismen schwierig zu bewerten und einzuschätzen sind, einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Das Amt für geistiges Eigentum des Vereinigten Königreichs hat Verfahren zur Identifizierung und Messung solcher Vermögenswerte mit Blick auf die Liquidität (44) konzipiert.

4.1.8.

Ein spezielles Team von Tech City UK namens „Future Fifty“ unterstützt die 50 wachstumsstärksten Unternehmen der digitalen Wirtschaft im Vereinigten Königreich. Das Programm bietet Zugang zu Sachwissen im öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft, vermittelt Kontakte zur institutionellen Anlegerbasis im Vereinigten Königreich und bietet maßgeschneiderte Unterstützung für Unternehmen, um ihnen rasches Wachstum zu ermöglichen und die Grundlagen für die Bereitschaft für einen Börsengang (45), Fusionen und Übernahmen und weltweite Expansion (46) zu legen.

4.1.9.

2015 hat die US-Regierung das STEM-Programm (Science, Technology, Engineering, Maths) eingeführt, mit dem Jugendliche dazu gebracht werden sollen, ein Studium im Bereich Wissenschaft, Technik, Ingenieurswesen oder Mathematik zu beginnen. Es ist von zentraler Bedeutung, die Studierenden auf die künftigen Bedürfnisse des Arbeitsmarkts (47) vorzubereiten. Dabei wird zusehends Gewicht auf übertragbare Kompetenzen und auf „STEAM“ gelegt, wobei das A für „Arts“ — Kunst steht.

5.   Von der Kommission ergriffene Initiativen, um die Gründung und das Wachstum von Start-ups zu fördern

5.1.

Die Kommission hat bemerkenswerte Anstrengungen zur Unterstützung von Unternehmern unternommen und in den vergangenen Jahren zahlreiche Initiativen ergriffen, wobei eine Reihe unterschiedlicher Generaldirektionen maßgeblich daran beteiligt ist: GD CNECT (48), GD EAC (49), GD GROW (50), GD RTD (51) und GD FISMA (52).

5.2.

Viele dieser Initiativen wurden erst vor Kurzem ergriffen, weshalb es noch zu früh ist, um ihre Auswirkungen zu beurteilen. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass die Kommission auf dem richtigen Weg ist und bestärkt sie darin, diese Arbeit unter stetiger Konsultation der einschlägigen europäischen und nationalen Interessenträger fortzusetzen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Der EWSA hat seine Unterstützung für die Kapitalmarktunion-Initiativen bereits in seinen Stellungnahmen zu folgenden Themen zum Ausdruck gebracht: „Aktionsplan zur Kapitalmarktunion“ (ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 17), „Verbriefung“ (ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 1) und „Prospekte“ (ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 9).

(2)  Der EWSA hatte bereits mehrfach die Beseitigung der verschuldungsfreundlichen Aspekte in den Steuersystemen gefordert, so z. B. in seiner Stellungnahme ECO/361 „Unternehmensfinanzierung — Untersuchung alternativer Mechanismen“ (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 20).

(3)  Siehe auch die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Hochschulen engagieren sich für Europa“ (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 11).

(4)  European Investment Advisory Hub: http://www.eib.org/eiah/index.htm.

Informationen über das Europäische Investitionsprojektportal finden Sie hier: https://ec.europa.eu/eipp/desktop/de/index.html.

(5)  Siehe Ziffer 4.

(6)  European Digital Forum, „From Start-up to Scale-up: Growing Europe’s Digital Economy“, Sergey Filippov und Paul Hofheinz, 2016, S. 3-5.

(7)  Siehe ebd, S. 5.

(8)  Definition der EU für KMU: (ABl. L 124 vom 20.5.2003, S. 36).

(9)  http://www.eif.org/news_centre/publications/eif_annual_report_2015.pdf.

(10)  Insolvenz und zweite Chance für redlich gescheiterte Unternehmer — Maßnahmen der Europäischen Kommission. Unternehmertag, 12. November 2015.

(11)  Ein Start-up wird gemeinhin definiert als ein unternehmerisches Unterfangen auf der Suche nach einem reproduzier- und skalierbaren Geschäftsmodell. Diese neu gegründeten Unternehmen sind im Allgemeinen hochinnovativ und basieren normalerweise auf bis dahin nicht existierenden Ideen, Technologien oder Geschäftsmodellen. Im Gegensatz dazu ist ein Scale-up-Unternehmen ein rasch expandierendes und in Bezug auf Marktzugang, Einnahmen oder Beschäftigtenzahl rasch wachsendes Unternehmen. Siehe Octopus High Growth Small Business Report 2015 (London: Octopus, 2015).

(12)  https://www.linkedin.com/pulse/20141201163113-4330901-understanding-scale-up-companies.

(13)  UK, Finnland, Spanien, Italien, USA, Kanada, Norwegen, Niederlande, Dänemark, Neuseeland und Österreich.

(14)  Supporting investors and growth firms — T. Aubrey, R. Thillaye, and A. Reed, 2015, S. 11.

(15)  http://siteresources.worldbank.org/INTFR/Resources/BeckDemirgucKuntMartinezPeria.pdf.

(16)  Supporting investors and growth firms — T. Aubrey, R. Thillaye, and A. Reed, 2015, S. 21.

(17)  Tataj, D. „Innovation and Entrepreneurship. A Growth Model for Europe beyond the Crisis“, Tataj Innovation Library, New York, 2015.

(18)  https://www.apply.eu/directives/.

(19)  http://tech.eu/features/6500/European-start-up-visa.

(20)  www.cambridge.gov.uk/sites/default/files/documents/cnfe-aap-io-employment-sector-profile.pdf.

(21)  Clustering for Growth, How to build dynamic innovation clusters in Europe, S. 11.

(22)  Siehe auch die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Hochschulen engagieren sich für Europa“ (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 11).

(23)  Insolvenz und zweite Chance für redlich gescheiterte Unternehmer — Maßnahmen der Europäischen Kommission.

(24)  Forschungen von Professor Kathryn Shaw an der Stanford Graduate School of Business.

(25)  Supporting investors and growth firms — T. Aubrey, R. Thillaye, and A. Reed, 2015, S. 40.

(26)  http://eref.knowledge-economy.net/uploads/documents/Born%20to%20Grow.pdf.

(27)  Europäische Kommission, Grünbuch über die Schaffung einer Kapitalmarktunion, siehe

(28)  ebd.

(29)  http://www.investeurope.eu/media/476271/2015-european-private-equity-activity.pdf.

(30)  http://www.investeurope.eu/media/340371/141109_EVCA_FOF_scheme.pdf.

(31)  Europäische Bankenvereinigung, 16. September 2016.

(32)  Serena Fatica, Thomas Hemmelgarn und Gaëtan Nicodème, „The Debt-Equity Tax Bias: Consequences and Solutions“, Arbeitspapier der Kommission zu Steuerthemen Nr. 33 (2012): http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/gen_info/economic_analysis/tax_papers/taxation_paper_33_en.pdf.

(33)  Siehe Ziffer 4.3.

(34)  https://www.law.cornell.edu/cfr/text/26/1.422-2.

(35)  http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-1024_de.htm.

(36)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-6264_de.htm.

(37)  www.theglobaleconomy.com/USA/Cost_of_starting_business.

(38)  Siehe Fußnote 4.

(39)  http://www.dihk.de.

(40)  Supporting investors and growth firms — T. Aubrey, R. Thillaye, and A. Reed, 2015, S. 36.

(41)  Enterprise Investment Scheme (EIS), Seed Enterprise Investment Scheme (SEIS) und Venture Capital Trust (VCT).

(42)  cordis.europa.eu/piedmont/infra-science_technology_en.html.

(43)  www.elkarlan.coop.

(44)  https://www.gov.uk/government/publications/banking-on-ip.

(45)  Erstes öffentliches Zeichnungsangebot (IPO) oder Börsengang.

(46)  http://futurefifty.com/.

(47)  https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2015/03/23/fact-sheet-president-obama-announces-over-240-million-new-stem-commitmen.

(48)  Aktionsplan Unternehmertum 2020.

(49)  Erasmus-Programm.

(50)  Binnenmarktstrategie.

(51)  Horizont 2020, Rahmenprogramm für Forschung und Innovation.

(52)  Kapitalmarktunion.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein geeigneter Rahmen für die Transparenz der Unternehmen“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 075/03)

Berichterstatterin:

Vladimíra DRBALOVÁ

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

(Initiativstellungnahme)

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

219/3/14

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hält es für unabdingbar, dass Unternehmen transparent sind, und er unterstützt alle Initiativen in Richtung einer langfristigen Nachhaltigkeit und Vorhersagbarkeit der unternehmerischen Tätigkeit. Transparenz ist für alle Interessenträger wichtig und auch für die Unternehmen selbst, für die Verbesserung ihres Ansehens und die Stärkung des Vertrauens in sie seitens der Arbeitnehmer, Verbraucher und Investoren.

1.2.

Der EWSA stellt fest, dass die meisten in der EU tätigen Unternehmen sehr wohl transparent handeln. Allerdings hat eine Reihe Skandale in jüngster Zeit gezeigt, dass die Transparenz verbessert und insgesamt Teil der nachhaltigen Geschäftsstrategien der Unternehmen werden muss. Investoren und Aktionäre achten zunehmend nicht nur auf Indikatoren betreffend die Rentabilität der Unternehmen, sondern auch auf qualitative Indikatoren betreffend die soziale Verantwortung der Unternehmen (1), die zum Abbau sozialer Risiken und zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung der Unternehmen beitragen. Damit die Informationen den Ansprüchen von Unternehmen und anderen Interessenträgern gerecht werden, sollten sie konkret und mit geringem Kostenaufwand zu beschaffen sein.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten die Unternehmen motivieren und ihnen Anreize bieten sollten, die Transparenz zu ihrer Stärke zu machen, da sie für die Unternehmen auch eine Chance ist, und sie bei der Erfüllung dieser Anforderungen unterstützen sollten.

1.4.

Der EWSA hält es für wichtig, den Schwerpunkt auf die Wirksamkeit und den Umfang der offengelegten Informationen und zugleich auf ihre Qualität und Zuverlässigkeit zu legen. Bei den Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz sollte der Schwerpunkt sowohl auf den erzielten Ergebnissen als auch auf dem Prozess der Berichterstattung und Offenlegung von Informationen liegen. Die Berichterstattung sollte sowohl zukunftsgewandt sein als auch Informationen über die in der Vergangenheit erzielten Ergebnisse enthalten.

1.5.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, weitere Schritte einzuleiten, damit die Unternehmen ihre Transparenzanforderungen erfüllen und zugleich weltweit wettbewerbsfähig bleiben können.

1.6.

Im Allgemeinen ist sich der EWSA bewusst, dass kleine und mittlere Unternehmen unter anderen Bedingungen arbeiten. Aus diesem Grund sollten die für sie geltenden Vorschriften vereinfacht werden, damit sie ihre Berichterstattung in einer geeigneteren Weise abwickeln können und volle Transparenz gewährleistet werden kann. Der EWSA begrüßt das Projekt zum Kapazitätenaufbau, um die KMU bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen.

1.7.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass jede weitere Initiative auf dem Gebiet der Offenlegung von Informationen auf den tatsächlichen Informationsbedarf der Interessenträger beschränkt bleiben sollte. Dabei sollten u. a. gemeinsame Indikatoren aufgezeigt und gleichzeitig die Art des Unternehmens und der Branche, in der es tätig ist, berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA unterstreicht, dass die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR) und die Transparenzpolitik innerhalb eines Unternehmens ohne das Engagement seiner Beschäftigten wirkungslos bleiben, weshalb sie an den Konsultationen zwischen den Sozialpartnern beteiligt werden sollten.

1.9.

Während die Leserschaft der Berichterstattung der Unternehmen immer größer wird, sind immer mehr Interessengruppen an mehr Aspekten der Geschäftstätigkeit der Unternehmen interessiert. Nach Ansicht des EWSA sollte deshalb das aktuelle Berichtsmodell unbedingt geprüft und mit Blick auf seine Zweckmäßig geändert werden.

2.   Allgemeiner Hintergrund

2.1.

Im Jahr 2010 veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung, die 50 Vorschläge zur Verbesserung des Binnenmarktes enthielt. Darin heißt es, dass auch die Unternehmen zu den gemeinsamen Anstrengungen beitragen müssen, indem sie die ihnen obliegende Verantwortung wahrnehmen und Transparenz an den Tag legen, und zwar sowohl gegenüber ihren Beschäftigten als auch gegenüber ihren Anteilseignern und der Gesellschaft insgesamt. Die Kommission betonte, dass die Governance der Unternehmen noch verbessert werden könne, insbesondere was die Zusammensetzung und Diversität der Leitungsgremien auch unter dem Aspekt des Frauenanteils betrifft, und zwar mit dem Ziel der Verbesserung der Beschäftigung und der kaufmännischen und unternehmerischen Tätigkeit (2). Unternehmensethik und -werte wurden als Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung anerkannt.

2.2.

Im Jahr 2011 veröffentlichte die Kommission ihre Mitteilung mit dem Titel: „Eine EU-Strategie (2011-2014) für die soziale Verantwortung der Unternehmen“ (CSR) (3), mit der sie eine neue Begriffsbestimmung als „die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“ vorstellte. Ein Baustein der Strategie war ein Aktionsplan mit dem Ziel einer Integration der finanziellen und gesellschaftsbezogenen Rechnungslegung.

2.3.

2012 verabschiedete der EWSA seine Stellungnahme zu der von der EU erneuerten Strategie für CSR (4) und betonte darin, dass in dem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Klima die CSR-Initiative die Chance für eine positive Annäherung an die Unternehmen bietet. Es ist wichtig, die verschiedenen Beweggründe hinter der CSR-Aktivität anzuerkennen. In der Mitteilung werden verschiedene Vorteile skizziert, die neben bestimmten bewährten Methoden stärker gefördert werden sollten, um die Unternehmen zu informieren und dazu zu ermutigen, sich stärker zur CSR zu verpflichten.

2.4.

In den vergangenen Jahren hat der EWSA zahlreiche weitere Stellungnahmen verabschiedet, auf die in dieser Stellungnahme verwiesen wird. In diesen Stellungnahmen wird unterstrichen, wie wichtig die soziale Verantwortung der Unternehmen, die Transparenz der Unternehmen, die Offenlegung anderer als finanzieller Informationen sowie die Einbeziehung der Interessenträger — Anleger, Verbraucher, Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaftsvertreter — in den Prozess sind. In der vorliegenden Stellungnahme will der EWSA den Schwerpunkt auf einen geeigneten Rahmen für den gesamten Prozess legen.

3.   Für sozial verantwortliche und transparente Unternehmen

3.1.

Die Wirtschaftskrise von 2008 und ihre sozialen Folgen haben bis zu einem gewissen Grad das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Wirtschaft erschüttert. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Anleger richtete sich auf das gesellschaftliche und ethische Verhalten der Unternehmen. Immer mehr Interessengruppen sind jetzt an mehr Aspekten der Geschäftstätigkeit der Unternehmen interessiert.

3.2.

Die Anleger wollen Transparenz und Kontrolle ihrer Investitionen und möchten erfahren, wie sich ihr Geld auf Umwelt und Gesellschaft negativ oder positiv auswirkt. Die wichtigsten Quellen der anderen als finanziellen Informationen von Unternehmen sind die Nachhaltigkeitsberichte, die CSR-Berichte und die jährlichen Geschäftsberichte. Qualitative politische Erklärungen sind wichtig für die Beurteilung der finanziellen Vergütung, jedoch wesentliche quantitative Leistungsindikatoren (Key Performance Indicators — KPI) werden als unerlässlich angesehen.

3.3.

Arbeitnehmer sind die ersten Opfer derjenigen Unternehmen, die den Vorschriften wenig Beachtung schenken und denen es an Transparenz mangelt. Dabei spielen Arbeitnehmer die wichtigste Rolle bei der Entwicklung der Unternehmen: Ihre Arbeitsplatzsicherheit, ihre Löhne und Gehälter, ihre Gesundheit und ihre Arbeitsbedingungen hängen davon ab. Sie haben das Recht, auf Transparenz zu bestehen, informiert zu werden und an Entscheidungen rund um die finanzielle Lage sowie die sozial-, umwelt- und wirtschaftsbezogenen Maßnahmen ihres Unternehmens beteiligt zu werden.

3.4.

Die Verbraucher wollen Transparenz und erwarten diese in den für sie wichtigen, spezifischen Bereichen. Es liegt durchaus im Interesse der Unternehmen, in ihren Beziehungen zu anderen Interessenträgern (Arbeitnehmern, Bürgern und Verbrauchern) eine Politik der Transparenz zu verfolgen. Häufig bedeutet das nur, dass sie den Kunden die Fakten mitteilen und ihnen dabei helfen, sachkundige Kaufentscheidungen zu treffen. Schließlich werden diese Unternehmen das Vertrauen besser informierter Kunden verdienen (5). Die Lebensmittelindustrie ist in dieser Hinsicht eine äußerst sensible Branche. Die jüngsten Forschungen des Centre for Food Integrity (CFI) (6) zeigen, dass mit mehr Transparenz Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel geschaffen wird, und sie zeigen einen klaren Weg auf, um dies zu erreichen.

3.5.

Seit der Globalisierung ist eine große Zahl von Geschäftspartnern und Interessenträgern an mehr Informationen über ein breiteres Spektrum von Aspekten der Geschäftstätigkeit aus einer Vielzahl von Ländern interessiert.

3.6.

Transparenz schafft Vertrauen und Unternehmen brauchen das Vertrauen der Gesellschaft. Häufig entsprechen die Erwartungen der Menschen jedoch nicht der von ihnen wahrgenommenen Realität des Handelns der Unternehmen. Dies ist teilweise auf Fälle zurückzuführen, in denen sich Unternehmen unverantwortlich verhalten oder ihr ökologisches oder soziales Engagement übertrieben darstellen. Zu dieser Situation trägt auch die mangelnde Informiertheit eines Teils der Bürgerinnen und Bürger über die Erfolge der Unternehmen sowie über die Schwierigkeiten bei, mit denen sie sich bei ihrer Tätigkeit auseinandersetzen müssen.

3.7.

Aus diesem Grund brachte die Europäische Kommission im Jahr 2009 eine Reihe von Workshops über die Transparenz von Unternehmen auf den Weg. Die europäischen Unternehmen haben dies positiv als eine zeitlich gut abgestimmte Initiative aufgenommen, gerade in einer Zeit der Krise, in der Transparenz und soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR) allgemein dazu beitragen könnten, das durch die aktuelle Wirtschaftskrise ziemlich beschädigte Vertrauen der Öffentlichkeit in das Unternehmertum wiederherzustellen. Im Mittelpunkt der Initiative stehen einzelne Gruppen von Interessenträgern (Arbeitgeber, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Medien). Die Untersuchung sollte der Kommission als Richtlinie für weitere Schritte dienen.

3.7.1.

Aus der Initiative gezogene Lehren:

Viele Unternehmen haben im Bereich der Transparenz bereits positive Ergebnisse erzielt. Die CSR ist gegenwärtig ein Bestandteil der Geschäftsstrategie von Unternehmen.

Der Zugang zu Informationen ist für verschiedene Interessenträger wichtig, sie verlangen jedoch unterschiedliche Informationen zu unterschiedlichen Zwecken. In den verschiedenen Branchen sind die Bedingungen und der Bedarf unterschiedlich.

Unterschiedliche Auffassungen bestehen insbesondere im Hinblick auf die zentralen Leistungsindikatoren (KPI). Die meisten anderen Interessengruppen in den Mitgliedstaaten bevorzugen einen klar begrenzten Sockel mit Indikatoren einschließlich arbeitsrechtlicher und umweltbezogener Belange. Aus Sicht der Unternehmen ist nunmehr Flexibilität erforderlich — ein Modell für alle ist keine echte Lösung.

Die entscheidende Frage für KMU ist die Fähigkeit, Informationen bereitzustellen. Wegen der großen Bandbreite von Interessenträgern mit jeweils unterschiedlichem Informationsbedarf und unterschiedlichen Erwartungen kann der Verwaltungsaufwand für die Unternehmen sehr hoch sein.

Der Prozess der Transparenz sollte sowohl auf die erzielten Ergebnisse als auch auf den Prozess der Erstellung von Berichten und der Offenlegung der Informationen gerichtet sein. Die CSR sollte in die Geschäftsstrategien integriert werden. Ein möglicher Weg, um dies zu erreichen, ist die integrierte Berichterstattung.

Transparenz und die Praxis der Veröffentlichung von CSR-Berichten ist für die Unternehmen und ihre Beschäftigten, für die Nutzer ihrer Produkte und Dienstleistungen (also Verbraucher und Bürger) und für Investoren von Vorteil.

4.   Die Kommission erhöht die Anforderungen für die Transparenz und die Offenlegung von Informationen aus anderen als finanziellen Bereichen.

4.1.

In der Strategie der EU zur CSR spricht die Kommission davon, dass die Offenlegung sozialer und ökologischer — darunter auch klimabezogener — Informationen die Kommunikation mit den Interessenträgern sowie die Identifizierung konkreter Gefahren für die Nachhaltigkeit erleichtern könne. Es handelt sich um eine wesentliche Komponente der Verantwortung, die zur Vertrauensbildung gegenüber Unternehmen beitragen kann. Damit die Informationen den Ansprüchen von Unternehmen und anderen Interessenträgern gerecht werden, sollten sie konkret sein.

4.1.1.

Die Kommission erkennt auch an, dass immer mehr Unternehmen soziale und ökologische Informationen offenlegen. KMU tun dies häufig informell oder auf freiwilliger Basis. Einer Quelle zufolge veröffentlichen schätzungsweise 2 500 Unternehmen in der EU CSR- oder Nachhaltigkeitsberichte, womit die EU weltweit an der Spitze liegt (7).

4.2.

Im Jahr 2013 legte die Kommission auf Initiative des Europäischen Parlaments einen Legislativvorschlag vor zum Thema Transparenz sozialer und ökologischer Informationen, die von Unternehmen aller Branchen gewährt werden (8). Mit der Änderung der „Rechnungslegungsrichtlinien“ wurde bezweckt, bestimmte große Organisationen (derzeit rund 6 000 Unternehmen und Einrichtungen in der EU) zur Offenlegung relevanter anderer als finanzieller und die Diversität betreffender Informationen in ihren Jahresberichten zu verpflichten.

4.2.1.

Die Umsetzung der Richtlinie auf nationaler Ebene erfolgt in einigen Ländern nach einer Konsultation von Unternehmen, damit bei der Durchführung die Flexibilität der Richtlinie genutzt und deren Rahmen nicht überschritten wird, und damit für die Unternehmen Rechtssicherheit geschaffen sowie den realen Anforderungen der Unternehmen Rechnung getragen wird. In diesem Zusammenhang hat der EWSA eine Stellungnahme (9) ausgearbeitet, in der er das Recht betont, dieses flexible und geeignete Instrument einzusetzen, um die Kommunikation mit den Aktionären, Investoren, Arbeitnehmern und anderen Interessenträgern zu verbessern, und er begrüßt, dass dieser Vorschlag nur die Großunternehmen betrifft.

4.2.2.

Die Kommission arbeitet derzeit auf der Grundlage der Ergebnisse der öffentlichen Anhörung an unverbindlichen Leitlinien für andere als finanzielle Informationen. Um die Konsultation der Interessenträger im Nachgang zu erleichtern (10), hat die Kommission ein illustratives Hintergrundpapier vorgelegt, in dem die wichtigsten Grundsätze der Offenlegung anderer als finanzieller Informationen aufgelistet sind. Die offengelegten sonstigen Informationen sollten konkret, verlässlich, ausgewogen und verständlich, umfassend und präzise, strategisch und zukunftsgerichtet, an den Interessengruppen orientiert, unternehmens-/branchenspezifisch, qualitativ und quantitativ und kohärent sein.

4.3.

Im Einklang mit der Strategie Europa 2020, in der eine Verbesserung des Unternehmensumfelds in Europa gefordert wird, veröffentlichte die Kommission im Jahr 2014 einen Vorschlag für eine Richtlinie mit dem Ziel, einen modernen und wirksamen Corporate-Governance-Rahmen für europäische Unternehmen, Anleger und Beschäftigte zu schaffen  (11), der auf die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft und das sich verändernde wirtschaftliche Umfeld abgestimmt ist.

4.3.1.

Der Vorschlag sollte zur Nachhaltigkeit der Unternehmen in der EU und zu einer längerfristigen Sichtweise der Aktionäre beitragen, die bessere Bedingungen für Unternehmen gewährleistet, deren Aktien auf den regulierten Märkten der EU gehandelt werden. In seiner Stellungnahme (12) betonte der EWSA, dass der Vorschlag dazu führen werde, dass stabile und nachhaltige Rahmenbedingungen für Unternehmensführung und Investitionen in Europa geschaffen würden. Er wies auch darauf hin, dass die Kommission in ihrer Folgenabschätzung feststellen werde, dass durch ihre Vorschläge der Verwaltungsaufwand für die börsennotierten Gesellschaften wahrscheinlich nur unwesentlich zunehmen würde. Bei der Bewertung der Richtlinie wird auf dieses Verhältnis einzugehen sein.

4.4.

Im Oktober 2015 veröffentlichte die Kommission ihre neue Strategie „Handel für alle: Hin zu einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik“. Diese Strategie enthält die Vision einer Ausrichtung der Politik der EU, die die Notwendigkeit einer transparenteren und verantwortlicheren Handelspolitik widerspiegelt.

4.4.1.

Im Kapitel zu einer „wertbasierten Handels- und Investitionspolitik“ kündigt die Europäische Kommission an, die Verbraucherrechte durch die Entwicklung von Initiativen im Bereich der CSR und des Vorsorgeprinzips in Bezug auf die Produktionsketten mit Betonung der Einhaltung der Menschenrechte — einschließlich der Arbeitsrechte — sowie die Umweltaspekte der Wertschöpfungsketten zu stärken. Die Kommission will den Weg einer Stärkung der Dimension der nachhaltigen Entwicklung in den Freihandelsabkommen beschreiten.

4.4.2.

Der EWSA führt in seiner Stellungnahme (13) zum Thema „Menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ (GSC) aus: „Durch seine Mitwirkung an der Umsetzung und Überwachung der entsprechenden Kapitel in Freihandelsabkommen sowie die Teilnahme an einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Gremien verfügt der EWSA über eine große Sachkenntnis im Bereich der Nachhaltigkeit und kann einen fairen Ausgleich zwischen den notwendigen gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Menschen- und Arbeitsrechte, Transparenz, Korruptionsbekämpfung und der nötigen Flexibilität multinationaler Unternehmen für eine wirksame und an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort angepasste Organisation und Entwicklung ihrer globalen Lieferketten vorschlagen.“

4.4.3.

Höhere Standards bei der Veröffentlichung von Berichten zu anderen als finanziellen Themen könnten im Rahmen der Handelspolitik ein sehr wichtiger Aspekt sein. Im Rahmen der Regulierung auf globaler Ebene, einschl. Handelsvereinbarungen, sollte die Transparenz bei der Offenlegung anderer als finanzieller Informationen in Ländern wie den Vereinigten Staaten und China gefördert werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Unternehmen zu gewährleisten.

4.4.4.

Die Kommission strebt eine Erhöhung der Anreize insbesondere für multinationale Unternehmen an, damit diese über ihre Vorsorgemaßnahmen berichten, sie plant einen ehrgeizigeren Zugang zur Gewinnung von Rohstoffen in Konfliktgebieten  (14), die Suche nach neuen Bereichen für eine verstärkte Partnerschaft für verantwortliche Wertschöpfungsketten sowie die Veröffentlichung einer Übersicht über die Unternehmensberichte zu verantwortlichen Wertschöpfungsketten.

4.4.5.

Neue Anforderungen an Unternehmen im Hinblick auf die Anforderungen der Europäischen Kommission an einen ethischen Handel sowie die Unterstützung und den Schutz der Menschenrechte können auch durch die Umsetzung des Aktionsplans der Europäischen Kommission auf dem Gebiet der Menschenrechte 2015-2018 erwartet werden (15). In seinen Schlussfolgerungen vom Juni 2016 betont der Rat „Auswärtige Angelegenheiten“, dass Unternehmenstransparenz insofern von entscheidender Bedeutung ist, als sie den Märkten die Möglichkeit eröffnet, die Achtung der Menschenrechte durch Unternehmen anzuerkennen, durch Anreize zu fördern und zu belohnen.

4.5.

Im Januar 2016 legte die Kommission ihr Paket zur Bekämpfung der Steuervermeidung vor, dessen Ziel die Sicherstellung einer wirksamen Besteuerung und die Erhöhung der Steuertransparenz ist.

4.5.1.

Einer der anvisierten Bereiche, der multinationale Unternehmen und Konzerne betrifft, ist die sogenannte länderbezogene Berichterstattung (die Verpflichtung zur Erstellung eines Berichts über die Transaktionen innerhalb des Konzerns mit Angaben u. a. zu den Erträgen, Gewinnen, gezahlten Einkommenssteuern sowie zur Abgabe des Berichts an die Finanzbehörden). Das Paket umfasst in der aktuellen Phase die Weitergabe der Informationen zwischen den einzelnen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten.

4.6.

Anfang April 2016 (16) hat die Kommission vorgeschlagen, dass multinationale Unternehmen einen Sonderbericht über die von ihnen gezahlte Körperschaftssteuer veröffentlichen, und dazu Informationen über weitere Steuern. Multinationale Unternehmen mit Sitz in der EU oder in Drittstaaten und einem konsolidierten Nettoumsatz von mehr als 750 Mio. EUR müssen zusätzliche Transparenzanforderungen erfüllen. Diese Auflage gilt auch für ihre Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften. In diesem Zusammenhang hat der EWSA vor Kurzem eine Stellungnahme zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung (17) verabschiedet, in der er die Kommission auffordert, in Bezug auf die an die Unternehmen gerichtete Forderung nach Steuertransparenz ehrgeizigere Ziele festzulegen und den Umsatzschwellenwert in Höhe von 750 Mio. EUR zu senken oder einen Zeitplan für eine schrittweise Verringerung dieser Schwelle zu erstellen.

4.6.1.

Die Kommission sollte jedoch die Grundsätze des EU-Binnenmarktes sowie der Wettbewerbsfähigkeit der EU berücksichtigen. Einseitige Anforderungen im Rahmen der EU könnten unbeabsichtigte Folgen haben, falls Unternehmen außerhalb der EU von dieser Pflicht befreit wären. Daher sollte diese Verpflichtung mittels der Aushandlung internationaler Handelsabkommen auch für die Unternehmen außerhalb der EU gelten.

4.7.

Die Europäische Kommission arbeitet mit anderen internationalen Organisationen, wie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltbank zusammen und stärkt die Synergien mit den Instrumenten für eine gute Unternehmensführung, Transparenz und Verantwortung der Unternehmen (18). Diese Instrumente werden regelmäßig überprüft und enthalten Anforderungen für die Verantwortlichkeit und Transparenz der Unternehmen in Bezug auf ihre Maßnahmen in den Bereichen Soziales und Umweltschutz sowie Menschenrechte. Außerdem halten sie zur Risikoprävention und -analyse sowie zur Festlegung von Maßnahmen aufgrund des Vorsorgeprinzips an. Diese Instrumente sind primär für multinationale Unternehmen bestimmt, sie sollen aber auch als Leitlinien für Unternehmen auf einzelstaatlicher Ebene dienen. Bei Überprüfungen dieser Instrumente sollte insbesondere ihre bessere Umsetzung im Vordergrund stehen.

4.8.

Die wachsenden Anforderungen an die Transparenz von Unternehmen weltweit und in der EU werden an die in den einzelnen Mitgliedstaaten tätigen Unternehmen weitergegeben. Die Rolle der Kommission sollte darin bestehen, die auf Ebene der Mitgliedstaaten konzipierten Strategien auszurichten und zu koordinieren und so das Risiko divergierender Konzepte zu reduzieren (19).

4.8.1.

Die Strategie der Europäischen Kommission im Bereich des verantwortlichen Unternehmertums sowie die an die Mitgliedstaaten gerichteten Empfehlungen führen auf einzelstaatlicher Ebene häufig zu der Annahme, die verantwortungsvolle unternehmerische Tätigkeit und die Transparenz sollten ausschließlich vom Staat gesteuert und beaufsichtigt werden.

4.8.2.

Die Unternehmen sehen sich als treibende Kraft transparenter und verantwortungsbewusster Tätigkeit. Dies wurde auch in der Kommissionsmitteilung zum Thema „Umsetzung der Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung: Europa soll auf dem Gebiet der sozialen Verantwortung der Unternehmen führend werden“ (20) anerkannt.

4.8.3.

Die Verantwortung jedes einzelnen Unternehmens liegt in der Wertschöpfung nicht nur für seine Aktionäre, sondern auch für seine Beschäftigten, sein Umfeld und seine Gemeinschaft sowie in der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen. Die Mitgliedstaaten sollten daher die dafür notwendigen Voraussetzungen für die Unternehmen schaffen und sie in ihrem Bemühen unterstützen, verantwortlich und transparent zu handeln.

5.   Die Suche nach einem geeigneten Rahmen für die Berichterstattung durch Unternehmen

5.1.

Der EWSA erkennt an, dass die Offenlegung anderer als finanzieller Informationen sehr wichtig für die Berichterstattung ist, denn sie trägt dazu bei, ein vollständiges Bild der Geschäftstätigkeit der Unternehmen zu zeichnen.

5.2.

Für Unternehmen wird das regulatorische Umfeld in Bezug auf die Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit immer komplexer. Zur besseren Berücksichtigung der Bedürfnisse der Interessenvertreter sollte ein geeigneter Rahmen für die Berichterstattung durch Unternehmen festgelegt und gleichzeitig unnötiger administrativer und finanzieller Aufwand vermieden werden. Die CSR und die Transparenz sollten ebenfalls gefördert und von den Unternehmen als Chance genutzt werden, um soziale Risiken zu vermeiden und die eigene nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

5.3.

Im vergangenen Jahrzehnt sind verschiedene Aspekte unter den anderen als finanziellen Informationen immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Es gibt eine Reihe internationaler Rahmen für die Offenlegung sozialer und ökologischer Informationen wie etwa die „Global Reporting Initiative“ (GRI).

5.4.

Dabei geht es um die Frage, ob all diese Interessenträger mit demselben Bericht oder mit einer Reihe von Berichten bedient werden können: Sollte es eine Vielzahl von Berichten oder das Konzept eines einzigen umfassenden Berichts geben, wie das Konzept „CORE & MORE“ (21), den der Verband der europäischen Wirtschaftsprüfer (FEE) im Jahr 2015 vorgeschlagen hat?

5.5.

In der Diskussion über die Zukunft der Berichterstattung muss der ganz unterschiedliche Informationsbedarf der verschiedenen Interessengruppen je nach Größe und Art der berichtenden Organisation berücksichtigt werden.

5.6.

Wie der EWSA in seiner Stellungnahme zur „Offenlegung nichtfinanzieller Informationen“ betont, wird die Kommission aufgefordert, ein Verfahren einzuleiten oder zu fördern, durch das die zahlreichen Interessenträger einbezogen werden (22), damit die leitenden Grundsätze und Bezugsstandards, die die Vergleichbarkeit und langfristig die Harmonisierung fördern, besser definiert werden.

5.6.1.

In diesem Zusammenhang hat der EWSA bereits die Notwendigkeit eines Korrektivs gegen die Aushebelung von Unternehmenswerten durch ein Kurzfristdenken betont. Und er hat in seiner Stellungnahme zur „Mitwirkung und Beteiligung der Arbeitnehmer“ (23) die Notwendigkeit bekräftigt, Wege der europäischen Politik aufzuzeigen, wie der derzeit vorherrschende Ansatz, einseitig Transparenz der Unternehmen für ihre Aktionäre zu schaffen, durch ein breiteres Verständnis des Unternehmens als „Nachhaltiges Unternehmen“ im Interesse einer langfristigen Unternehmensentwicklung überwunden werden kann.

5.7.

Auch wenn die Zukunft der nachhaltigen Wirtschaft in engem Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld und der Achtung der Verbraucherrechte verbunden sein wird, sollte jede weitere Initiative für die Offenlegung von Informationen auf den tatsächlichen Bedarf der Interessenträger ausgerichtet werden.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  KOM(2011) 681 endgültig.

(2)  KOM(2010) 608 endgültig.

(3)  Siehe Fußnote 1.

(4)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 77.

(5)  https://www.visioncritical.com/5-brands-employed-transparency-marketing-and-won/.

(6)  A clear view of transparency and how it builds consumer trust, 2015 Consumer trust research, The Centre for Food Integrity.

(7)  CorporateRegister.com.

(8)  COM(2013) 207 final.

(9)  ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 47.

(10)  Workshop mit Interessenträgern zum Thema Unverbindliche Leitlinien für die Offenlegung anderer als finanzieller Informationen, 27. September 2016 in Brüssel, organisiert von der Europäischen Kommission, GD FISMA.

(11)  COM(2014) 213 final.

(12)  ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 87.

(13)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 17.

(14)  JOIN(2014) 8 final.

(15)  SWD(2015) 144 final.

(16)  COM(2016) 198 final.

(17)  ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 62.

(18)  OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen; Grundsatzerklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik.

(19)  Siehe Fußnote 1.

(20)  KOM(2006) 136 endg.

(21)  „The future for corporate reporting — creating the dynamic for change“, FEE, Oktober 2015.

(22)  Siehe Fußnote 9.

(23)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Maßgebliche Einflussfaktoren für die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 075/04)

Berichterstatter:

Simo TIAINEN

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

24.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

188/2/8

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit einem halben Jahrhundert trägt die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zum Aufbau der Europäischen Union bei. Nun böte eine Rückkehr zu den Ursprüngen die Gelegenheit einer neuen langfristigen Vision für die GAP mit klaren und konkreten Orientierungshilfen nicht nur für die Landwirte, sondern auch für Millionen von Bürgern. Der EWSA ist kontinuierlich dafür eingetreten, dass die künftige GAP das europäische Agrarmodell verteidigt, das auf den Grundsätzen Nahrungsmittelsouveränität, Nachhaltigkeit und Berücksichtigung der tatsächlichen Bedürfnisse der EU-Bürgerinnen und -Bürger fußt, seien es Landwirte, Erwerbstätige in der Landwirtschaft oder Verbraucher.

1.2.

Der EWSA begrüßt die ersten Diskussionen und Überlegungen über die Zukunft der GAP nach 2020. Jetzt, da die seit 1957 im Vertrag unverändert dargelegten Ziele der GAP sowie die neuen Herausforderungen, der sich die GAP stellen muss, so aktuell sind wie nie zuvor, ist es äußerst wichtig, die derzeitige GAP und das Ergebnis der letzten Reform einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Mit dieser Stellungnahme sollen einige Vorschläge vorgelegt und ein Beitrag zu den Überlegungen über die Zukunft der GAP geleistet werden.

1.3.

Angesichts der Komplexität der GAP und der Schwierigkeiten bei der Durchführung der letzten Reform brauchen die Landwirte vor allem politische Stabilität und eine langfristige Vision der Agrarpolitik. Besonders im Rahmen des Vertrags von Lissabon werden unweigerlich mehrere Jahre nötig sein, um Überlegungen anzustellen, über Herausforderungen zu diskutieren und gemeinsame Ziele und Lösungen zu finden. Die europäischen Institutionen sollten sich daher rasch auf eine Verlängerung der Laufzeit der derzeitigen GAP um mindestens zwei Jahre einigen.

1.4.

Die GAP sollte den Berufseinstieg von Junglandwirten und -wirtinnen und von Seiteneinsteigern in die Landwirtschaft begünstigen, nicht nur durch spezifische Instrumente, sondern auch mit einer wirkliche Stabilität in diesem Politikfeld. Denn die Landwirte benötigen mehr Stabilität, um auf Jahrzehnte angelegte Investitionen tätigen zu können und den Generationenwechsel erfolgreich zu meistern.

1.5.

In der künftigen GAP sollten einerseits die Vielfalt landwirtschaftlicher Modelle und regionale Besonderheiten und andererseits ihre verschiedenartigen Ziele — wirtschaftliche, soziale und umweltbezogene — berücksichtigt werden. Die Nahrungsmittelerzeugung für den eigenen Bedarf und eine eigene Landwirtschaft sind wichtig und Teil der Kultur eines jeden Landes in der Welt. Eine europäische Lebensmittelpolitik sollte sich auf eine gesunde und hochwertige Ernährung gründen und Synergien mit der GAP schaffen. Einer der wichtigsten Grundsätze der GAP sollte der Erhalt einer lebensfähigen und nachhaltigen Landwirtschaft in allen Regionen der EU sein.

1.6.

Die erste grundlegende Priorität für die nächste Reform der GAP sollte ihre Vereinfachung sein. Die Umsetzung der GAP muss reibungsloser vonstattengehen, und es müssen angemessenere Kontroll- und Sanktionssysteme entwickelt werden. Von größter Bedeutung ist es, sicherzustellen, dass die Landwirte ihre Gelder fristgerecht erhalten.

1.7.

Angesichts dessen, dass es sich bei der GAP um einen Politikbereich mit direkten Interventionen auf europäischer Ebene handelt und die Abkehr von der Gemeinschaftspräferenz zu einer Senkung der Erzeugerpreise führt, muss die künftige GAP in der Lage sein, auf alle Herausforderungen zu reagieren, auch auf Marktturbulenzen. Dementsprechend muss der politische Rahmen neu ausgerichtet werden, um all diese neuen Herausforderungen angehen und passende Instrumente auf europäischer Ebene bereitstellen zu können.

1.8.

Die Europäische Kommission wird ihre Arbeit 2017 fortsetzen und breit angelegte Konsultationen über die Vereinfachung und Modernisierung der GAP durchführen. Es ist wichtig, dass die europäische Zivilgesellschaft daran aktiv mitwirkt. Der EWSA sollte eine Studiengruppe einrichten, um diesen Prozess zu verfolgen und dazu beizutragen.

2.   Einleitung

2.1.

Die Landwirtschaft ist von zentraler Bedeutung für die strategischen, wirtschaftlichen, umweltbezogenen und sozialen Herausforderungen von morgen. Die GAP war ein Erfolg für Europa, vor allem weil die europäischen Verbraucher in den letzten Jahrzehnten von sichereren Lebensmitteln zu sinkenden Preisen profitiert haben. Allerdings stellen sich nun in verschiedenen Bereichen hinsichtlich der Artenvielfalt, der Umwelt und der Landschaft Probleme, die angegangen werden müssen. Die Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel mit nachhaltigen Bewirtschaftungsmethoden ist ein wesentliches Anliegen der Bürger und Verbraucher. Um diesen Erwartungen gerecht zu werden, bedarf es einer Gemeinsamen Agrarpolitik, die gesunde und sichere Lebensmittel, hohe Qualität zu einem angemessenen Preis, Umwelt- und Landschaftsschutz sowie eine dynamische Wirtschaft im ländlichen Raum gewährleistet.

2.2.

Wenn Landwirte in unserer marktorientierten Gesellschaft Nahrungsmittel erzeugen und somit Ernährungssicherheit gewährleisten, beeinflussen sie auch die Verfügbarkeit von Wasser und dessen Qualität sowie die Luft- und Bodenqualität bzw. Naturausstattung, während sie zugleich in ländlichen Gebieten Beschäftigung bieten und für die Erhaltung von Kulturlandschaften sorgen. Viele dieser Nebeneffekte sind als öffentliche Güter anzusehen.

2.3.

Land- und Forstwirtschaft sind eng miteinander verflochten, da sie einen großen Teil der Flächennutzung in der EU ausmachen. Dementsprechend hat die Forstwirtschaft häufig an der Bereitstellung öffentlicher Güter teil.

2.4.

Die Faktoren, die die GAP für die Zeit nach 2020 beeinflussen, sind vor allem die Herausforderungen für die Landwirtschaft, aber auch die Tatsache, dass es sich um eine europäische Frage handelt — mit einem bestimmten Reformprozess und einer bestimmten Verfügbarkeit von Haushaltsmitteln und vor allem mit einer klaren Vision für die nächsten Jahrzehnte.

2.5.

Die Gemeinsame Agrarpolitik war schon immer einer der wichtigsten Politikbereiche der EU. Die GAP ist von erheblichem Interesse für die europäische Zivilgesellschaft. Daher ist es für den EWSA wichtig, bei der Vorbereitung der nächsten GAP-Reform für die Zeit nach 2020 frühzeitig aktiv zu werden.

3.   Schwierige Zeiten für die Landwirtschaft

Ernährungssicherheit

3.1.

Angesichts der erwarteten weltweiten demografischen Tendenzen werden im Jahr 2050 rund 9 Mrd. Menschen zu ernähren sein. Infolge der Verbesserung der Lebensbedingungen in mehreren Regionen der Welt sind eine erhöhte Nachfrage nach Nahrungsmitteln sowie eine Umstellung auf eine Ernährung mit mehr tierischen Erzeugnissen zu beobachten. Diese Entwicklungen würden zu einer Verdopplung der Nahrungsmittelnachfrage im Jahr 2050 führen. Die EU muss sich ihrer Verantwortung für die Ernährungssicherheit in der Welt stellen, jedoch ist der Export europäischer Agrarerzeugnisse keine Lösung für das Problem des Hungers in der Welt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Ernährungssicherheit auf nachhaltigen lokalen Lebensmittelsystemen basieren sollte. Jeder Staat muss selbst die Verantwortung für die eigene Ernährungssicherheit übernehmen. Dies wird auch von der Welternährungsorganisation (FAO) empfohlen. Der EWSA hält es für notwendig, dass sich die EU außerdem auf den Transfer von Wissen und den Austausch von Erfahrungen darüber konzentriert, wie anderswo auf der Welt auf nachhaltige Art und Weise mehr und bessere Lebensmittel vor Ort erzeugt werden können.

3.2.

Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass die Nachfrage nach Lebensmitteln in Europa relativ stabil bleiben, aber im Hinblick auf Qualität, Gesundheit, Ethik, Herkunft usw. vielfältig sein wird.

Umweltschutz

3.3.

Landwirtschaft und Umwelt sind in allen Regionen in vielfältiger Weise sehr eng miteinander verknüpft. Land- und Forstwirtschaft sind von wesentlicher Bedeutung für den Naturschutz, den Erhalt der biologischen Vielfalt, die Wasserqualität, die Bodengüte und eine geringere Verschmutzung.

Energie

3.4.

Im Rahmen für die Klima- und Energiepolitik der EU wurde das Ziel vorgegeben, den Anteil erneuerbarer Energieträger bis 2030 auf mindestens 27 % des Energieverbrauchs zu erhöhen. Dieser Anteil dürfte sich in Zukunft noch weiter erhöhen. Land- und Forstwirtschaft könnten Biomasse beisteuern, um dieses Ziel im Rahmen einer auf umweltverträgliches Wachstum gestützten Wirtschaft zu erreichen. Beide Sektoren müssen außerdem ihre eigene Energieeffizienz verbessern.

Klimawandel: Anpassung und Eindämmung

3.5.

Am 20. Juli 2016 legte die Kommission ein Paket von Legislativvorschlägen zur Festlegung der Einzelheiten für den Rahmen der EU-Klima- und Energiepolitik bis 2030 vor. Dies wird die Antwort der EU zur Eindämmung des Klimawandels gemäß dem im Dezember 2015 geschlossenen COP-21-Übereinkommen sein. Die Land- und Forstwirtschaft sind Teil der Lösung zur Senkung der Emissionen und zur Lagerung von Kohlenstoff im Boden oder in Holz. Zur Bewältigung der Herausforderung der Ernährungssicherheit und zur Eindämmung des Klimawandels ist grünes Wachstum, ein agrarökologischer Ansatz und eine nachhaltige Intensivierung im Rahmen einer effizienten landwirtschaftlichen Erzeugung erforderlich. Darüber hinaus ist die Anpassung an den Klimawandel von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Landwirtschaft.

Ausgewogene Entwicklung des ländlichen Raums

3.6.

Land- und Forstwirtschaft sowie alle damit zusammenhängenden Formen der Bioökonomie sind von grundlegender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der ländlichen Dynamik und zur Stärkung einer ausgewogenen Entwicklung des ländlichen Raums. Ihnen kommt im Hinblick auf die Beschäftigung, die Kultur, den territorialen Zusammenhalt und den Tourismus in ländlichen Gebieten EU-weit eine große Bedeutung zu. Die vorherrschenden demografischen Tendenzen in vielen entlegenen Gebieten, Berggebieten oder benachteiligten Gebieten bleiben nach wie vor Bevölkerungsrückgang und Überalterung. Staatliche Maßnahmen, vor allem die GAP, sollten für den Erhalt der Landwirtschaft und die Unterstützung der Erzeuger in der gesamten EU, auch in Regionen mit spezifischen Problemen, sorgen. Zahlungen an Höfe in ländlichen Gebieten mit naturbedingten Nachteilen sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des ländlichen Raums. Ohne sie wäre die Landwirtschaft in diesen Gebieten nicht überlebensfähig.

3.7.

Synergien zwischen den zwei Säulen der GAP sind wichtig und sollten verstärkt werden. Mit der letzten Reform werden die Verknüpfung aller ESI-Fonds untereinander und ihre Kohärenz gestärkt. Dies sollte fortgesetzt werden.

3.8.

Der EWSA befürwortet eine Ausweitung und den obligatorischen Einsatz der CLLD-Methode (von der örtlichen Bevölkerung betriebene Maßnahmen zur lokalen Entwicklung) für alle ESI-Fonds, um eine ausgewogene Entwicklung des ländlichen Raums zu erreichen. Der Einsatz lokaler Aktionsgruppen (LAG) als lokale Partnerschaften unter Beteiligung der Landwirte zur Auswahl und Finanzierung lokaler Projekte wirkt sich positiv auf die Lebensqualität der Bevölkerung aus. Dadurch könnte wirkungsvoll etwas gegen die Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten der EU getan werden.

3.9.

Für den Erhalt der Landwirtschaft ist der Generationswechsel eine zentrale Frage, und der Berufseinstieg von Junglandwirten und -wirtinnen und/oder von Seiteneinsteigern in die Landwirtschaft sollte mithilfe aller verfügbaren Instrumente unterstützt werden. Auch sind gekoppelte Zahlungen für diejenigen Sektoren oder Regionen erforderlich, in denen besondere Formen der landwirtschaftlichen Tätigkeit bzw. Agrarbranchen aus wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Gründen besonders wichtig sind. In der GAP sollte auch ein eindeutiger Schwerpunkt auf die Förderung aktiver Landwirte und einer aktiven Produktion gelegt werden.

Preisvolatilität und Einkommensschwankungen

3.10.

Die Landwirtschaft ist eine spezielle Wirtschaftstätigkeit, die nicht den üblichen wirtschaftlichen Regeln folgt. In einer Marktwirtschaft ergeben sich aus Fluktuationen bei Angebot und Nachfrage Preis- und Einkommensschwankungen. Nahrungsmittel jedoch sind in ihrer Eigenschaft als lebenswichtige Güter per definitionem preisunelastisch. Auch kann die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht schnell auf Preisveränderungen reagieren. Daher sind bei unerwarteten Veränderungen der Erzeugungsmengen häufig eine längere Zeit und große Preisveränderungen erforderlich, um das Marktgleichgewicht wiederherzustellen. Aus diesen Gründen werden Agrarmärkte als äußerst unbeständig angesehen. Es könnten auch andere innovative Marktmechanismen erprobt werden.

Anforderungen der Verbraucher

3.11.

Die Verbraucher wollen sichere, nachhaltige, nahrhafte und hochwertige Lebensmittel. Außerdem wollen sie Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen, was durch die Wirtschaftskrise nur verstärkt wurde. Viele Verbraucher schätzen Rückverfolgbarkeit und lokal erzeugte Lebensmittel. Aus der Eurobarometer-Sonderumfrage Nr. 410 geht hervor, dass die große Mehrheit der Befragten in allen Mitgliedstaaten bei Fleisch die Kenntnis der Herkunft als notwendig erachtet. Auf diese Herausforderung zu reagieren, ist die Pflicht aller Interessenträger in der Lebensmittelkette.

Nachhaltige Entwicklung

3.12.

Die kommende GAP sollte ebenso wie die anderen Politikbereiche der EU im Einklang mit den Zielen für die nachhaltige Entwicklung stehen. Die GAP ist für zahlreiche Ziele relevant, aber das wichtigste Ziel ist Ziel 2: „Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern“.

Unwägbarkeiten im Welthandel

3.13.

Die Bedeutung des Welthandels wird in Zukunft unweigerlich zunehmen. Das kürzlich von russischer Seite verhängte Einfuhrverbot für Lebensmittel aus der Europäischen Union führte jedoch zu erheblichen Unsicherheiten in Bezug auf den internationalen Handel. Das russische Embargo hat zu einem enormen Druck auf die Agrarmärkte der EU geführt, insbesondere in einigen Mitgliedstaaten. Die Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit den Unwägbarkeiten im internationalen Handel ist für die Zukunft der Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung.

Verlagerung der Verhandlungsmacht in der Lebensmittelversorgungskette

3.14.

In den letzten Jahren hat zum Nachteil der Lieferanten, insbesondere der Landwirte, eine Verlagerung der Verhandlungsmacht in der Versorgungskette stattgefunden, vor allem zugunsten des Einzelhandels und einiger transnationaler Unternehmen. In der kommenden GAP sollte die Verhandlungsmacht der Landwirte verbessert werden.

4.   In der EU ist die Landwirtschaft eine europäische Frage

4.1.

Die Landwirtschaft ist für die EU von zentraler Bedeutung. Die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik wurden 1957 in den ursprünglichen Römischen Verträgen festgeschrieben. Sie haben noch immer ihre Gültigkeit. Neue Herausforderungen, z. B. Umweltbelange, Fragen der Entwicklung ländlicher Räume sowie Qualitäts- und Gesundheitsfragen bis hin zu Fragen des Welthungers sind hinzugekommen, ohne dass die Verträge bislang angepasst worden wären.

4.2.

Die GAP ist ein grundlegender europäischer und integrierter Politikbereich, der immer stärker mit anderen Politikbereichen mit einem spezifischen europäischen Mehrwert wie etwa Beschäftigung, Umwelt, Klimaschutz, Wettbewerb, Haushalt, Handel und Forschung verknüpft ist.

4.3.

Die GAP bildet eine Voraussetzung dafür, in der EU einen Binnenmarkt in der Lebensmittelbranche zu verwirklichen. Mit mehr als fünf Millionen Arbeitsplätzen ist die europäische Lebensmittelindustrie der größte Industriebereich in der EU.

Vorbereitung der nächsten GAP-Reform

4.4.

Komplexität und Subsidiarität sind die Schlüsselbegriffe für die Anpassung an alle Sektoren und Gebiete. Diesen Aspekten wurde bei der letzten Reform verstärkt Rechnung getragen. Die Ausarbeitung und Aushandlung gemeinsamer Regeln im Rahmen des Vertrags von Lissabon und unter Mitwirkung von 28 Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments war eine besonders komplexe Aufgabe.

4.5.

Bislang wurde keine Bewertung der derzeitigen politischen Maßnahmen vorgenommen. Die Bewertung der Umsetzung der Ökologisierungsverpflichtungen im ersten Jahr ist noch im Gange. Dasselbe gilt für die ökologischen Vorrangflächen. Es ist wichtig, nicht übereilt eine weitere GAP-Reform durchzuführen, ohne eine klare und umfassende Bewertung der derzeitigen GAP vorgenommen zu haben, durch die festgestellt wird, inwieweit mit den politischen Maßnahmen deren politische Ziele erreicht wurden. Dies erfordert eine ordnungsgemäße Bewertung, insbesondere bei Maßnahmen, bei denen mehr Zeit vonnöten ist, um Ergebnisse zu erkennen, z. B. im Falle der Ökologisierungsverpflichtungen.

4.6.

Wenn man bedenkt, dass die letzte Reform 2010 eingeleitet und mit ihrer Umsetzung erst 2015 begonnen wurde, dauerte es fünf Jahre, die Reform unter Dach und Fach zu bringen. In der laufenden Mandatsperiode der Kommission und des Europäischen Parlaments wird keine Zeit sein, die nächste GAP-Reform für eine mögliche Umsetzung im Jahr 2021 zum Abschluss zu bringen. Daher bedarf es einer Übergangsphase, um die aktuelle GAP für einen ausreichend langen Zeitraum nach 2020 fortsetzen zu können.

Subsidiarität und europäischer Mehrwert

4.7.

Seit 1962 stützt sich die GAP auf drei Grundprinzipien: Markteinheit, Gemeinschaftspräferenz und finanzielle Solidarität. Der Binnenmarkt ist heute ein Fakt, doch die Gemeinschaftspräferenz und die finanzielle Solidarität müssen auf politischer Ebene bekräftigt werden.

4.8.

Angesichts der Globalisierung setzen die USA auf finanzielle Unterstützung, um ihre Landwirtschaft mithilfe der Verbraucher über das Lebensmittelmarkenprogramm und den „Buy American Act“ zu fördern. Die Europäische Union sollte entsprechende Maßnahmen ergreifen: Sie könnte die strategische Bedeutung der Gemeinschaftspräferenz mit einem europäischen Pendant zum US-amerikanischen Gesetz („Buy European Act“) hervorheben.

5.   Allgemeine Bemerkungen

Brexit

5.1.

Der Brexit wird erhebliche Auswirkungen auf die EU, insbesondere auf den Binnenmarkt und den internationalen Handel und damit auch auf die Zukunft der GAP haben. In den Brexit-Verhandlungen sollten — falls das Vereinigte Königreich die Zollunion der EU verlässt — die derzeitigen Handelsströme als Schlüsselkriterium herangezogen werden, wenn die WTO-Quote für die EU mit 28 Mitgliedstaaten zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ohne das Vereinigte Königreich aufgeteilt wird.

Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität und Nachhaltigkeit

5.2.

Seit der Reform von 1992 ist die Wettbewerbsfähigkeit im Zuge der Einführung der Direktzahlungen zur ersten Priorität der GAP geworden. Zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität und Nachhaltigkeit sind aber neue Anreize erforderlich, die sich auf die Förderung der Innovation (Entwicklung, Verbreitung und Akzeptanz neuer Technologien) konzentrieren.

5.3.

Der Agrarsektor hat einen erheblichen Investitionsbedarf, der sich decken ließe, wenn die erwartbaren Einkommen ausreichend hoch und die wirtschaftlichen Risiken tragbar sind. Die Stützung des Einkommens landwirtschaftlicher Betriebe mit Direktzahlungen ist in der derzeitigen Situation eine Notwendigkeit.

Bewältigung von Risiken und Krisen in der Landwirtschaft

5.4.

Die Erzeuger in der EU sind nicht mehr vom Weltmarkt und dessen höherer Preisvolatilität abgekoppelt. Darüber hinaus ist die Landwirtschaft extremen Naturereignissen und verstärkten Gesundheitsproblemen aufgrund der zunehmenden Mobilität von Gütern und Personen (Pandemien), die erhebliche Produktionsausfälle zur Folge haben, unterworfen. Die GAP sollte spezifische Instrumente zur Verfügung stellen, mit denen der Agrarsektor zur Begrenzung und Bewältigung dieser Risiken befähigt wird.

5.5.

In der aktuellen GAP stehen einige Risikomanagementinstrumente zur Verfügung. Der Interventionspreis, die private Lagerhaltung, die Absatzförderung oder die Terminmärkte und die Instrumente der einheitlichen gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte sollten beibehalten bzw. entwickelt werden.

5.6.

Es besteht jedoch ein eindeutiger Bedarf an neuen Instrumenten:

Marktbeobachtungsmechanismen müssen weiterentwickelt werden. Die Europäische Kommission sollte unterschiedliche Krisenstufen festlegen, um ihnen wirksamer entgegenwirken zu können. Eine bessere Markttransparenz im Hinblick auf die Erzeugungsmengen und Preise ist von grundlegender Bedeutung für ein reibungsloses Funktionieren der Versorgungskette.

Es sollte mit Systemen für Fonds auf Gegenseitigkeit oder Versicherungsmodellen (Kulturpflanzen, Umsatz oder Einkommen) experimentiert werden, um zu untersuchen, ob Versicherungsunternehmen oder andere Einrichtungen in der Lage sind, effiziente Optionen anzubieten. Bemerkenswerterweise wurde mit dem jüngsten US-Agrargesetz (Farm Bill) zwar die Möglichkeit von Versicherungssystemen eingeführt, doch nutzt keiner unserer Handelspartner die Grüne Box, um die WTO über diese Versicherungsinstrumente zu unterrichten. Auf keinen Fall darf eine Entwicklung in diese Richtung die Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Erzeugern verstärken. Auch sollten die Kosten dieses Mechanismus genau bestimmt werden.

Die Umweltdimension der GAP

5.7.

Umweltbelange sind ganz klar eine Priorität in der Landwirtschaft. Daher enthielt die letzte Reform eine Ökologisierungskomponente („Greening“). Die politischen Entscheidungsträger weisen immer wieder auf diese wichtige Entwicklung der GAP hin. Die Umweltdimension der GAP ist sowohl umfassend als auch komplex, da es in der Landwirtschaft um Boden, Wasser, Artenvielfalt, Forstwirtschaft und CO2-Emissionen geht. Eine wirksamere Politik sollte für die Landwirte besser verständlich, leichter umzusetzen und einfacher sein.

5.8.

Den Landwirten müssen Zahlungen als Ausgleich für die Bereitstellung öffentlicher Güter (insbesondere von Ökosystemleistungen) gewährt werden.

Eine gemeinsame Lebensmittelpolitik

5.9.

Insbesondere der niederländische Ratsvorsitz hat die Idee einer gemeinsamen Lebensmittelpolitik unterstützt. Mit der neuen GAP erkennt die EU an, dass die europäische Landwirtschaft eine nachhaltigere Erzeugung sicherer und hochwertiger Lebensmittel erreichen muss. Im Rahmen der GAP werden Schulobst- und -milchprogramme unterstützt, mit denen Schulkindern bereits ab einem frühen Alter gesunde Ernährungsgewohnheiten nahegebracht werden sollen. Darüber hinaus wird ein ökologischer Landbau gefördert, indem dank klarer Kennzeichnungsvorschriften und spezifischer Förderprogramme im Rahmen der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sachkundige Kaufentscheidungen ermöglicht werden.

5.10.

Derzeit fällt die Förderung der öffentlichen Gesundheit sowie gesunder Ernährungsgewohnheiten und Lebensweisen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Europäische Union muss jedoch durch nachhaltige Lebensmittelsysteme für alle Einwohner Europas den Zugang zu einer gesunden und qualitativ hochwertigen Ernährung sicherstellen. Während die nationalen Bemühungen durch europäische Maßnahmen ergänzt und koordiniert werden, sollten mehr Synergien zwischen der GAP und einer künftigen europäischen Lebensmittelpolitik entwickelt werden.

5.11.

Angesichts der Erwartungen der Bürger und der Nachfrage der Verbraucher sollten besondere Anstrengungen zur Entwicklung regionaler Lebensmittelsysteme und somit kurzer Versorgungsketten, insbesondere in der Gemeinschaftsverpflegung, unternommen werden.

Klimapolitik und GAP

5.12.

Seit 1990 ist der ökologische Fußabdruck der Landwirtschaft kleiner geworden. Dennoch müssen die Emissionen aus der Landwirtschaft bis 2030 weiterhin reduziert werden. Dies muss unter Wahrung des europäischen Landwirtschaftsmodells und im Wege einer kosteneffizienten Emissionssenkungspolitik erfolgen. Es besteht die Möglichkeit, den Kohlenstoffgehalt im Boden zu erhöhen sowie fossile Energie und Petrochemikalien durch land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse zu ersetzen.

5.13.

Die vielfältigen Ziele in den Bereichen Landwirtschaft und Landnutzung, die durch ein geringeres Klimaschutzpotenzial gekennzeichnet sind, sowie die Notwendigkeit von Kohärenz zwischen den Zielen der EU im Bereich der Ernährungssicherheit und des Klimaschutzes sollten anerkannt werden (1).

Forschung, Innovation und Beratung

5.14.

In den Betrieben, in Versuchseinrichtungen und in Laboratorien werden kontinuierlich wichtige Neuerungen entwickelt. Die Forschungs- und Entwicklungsbemühungen sollten intensiviert werden, um die Entwicklung der Landwirtschaft in Richtung nachhaltigerer Systeme zu flankieren. Außerdem ist es wichtig, diese Innovationen auch unter den anderen Akteuren bekannt zu machen. Beratungsdienste, die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren und andere Mittel zur Verbreitung von Innovationen und für den Austausch bewährter Verfahren sollten gefördert werden.

5.15.

Angesichts der Herausforderungen und der geostrategischen Bedeutung von Lebensmitteln im 21. Jahrhundert sollte das Agrarforschungsprogramm der EU im nächsten Programmplanungszeitraum verstärkt werden. Die digitale Wirtschaft könnte sich nach der grünen Revolution des 20. Jahrhunderts als nächste „landwirtschaftliche Revolution“ erweisen.

Funktionsweise der Versorgungskette

5.16.

In fast jedem Mitgliedstaat gibt es eindeutige Hinweise auf Störungen in der Versorgungskette aufgrund der hohen Konzentration auf dem nachgelagerten Markt. Die Verteilung des Wertzuwachses unter den Akteuren der Lebensmittelversorgungskette ist unausgewogen.

5.17.

Da die EU für Wettbewerbs- und Binnenmarktfragen zuständig ist, sollte dieses Problem auf europäischer Ebene angegangen werden. Die Europäische Kommission sollte europäische Regulierungsrahmen für die Gestaltung der Vertragsbeziehungen innerhalb der Versorgungskette und rechtliche Möglichkeiten für die Organisation kollektiver Maßnahmen der Landwirte vorschlagen. Denn Erzeugerorganisationen sind wichtige Akteure in der Lebensmittelversorgungskette und tragen zur Stärkung der Position der Erzeuger bei. In der kommenden GAP sollte die Verhandlungsmacht von Erzeugerorganisationen verbessert werden. Die Ergebnisse der Arbeiten der Einsatzgruppe „Agrarmärkte“ sollten berücksichtigt werden.

5.18.

Die GAP muss der Realität und Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wandels angepasst werden. In der GAP müssen Artikel 219 bis 222 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 so weiterentwickelt werden, dass sie für die Europäische Kommission und die Erzeuger praktikabel und realistisch sind.

Welthandel

5.19.

Durch den Welthandel und offene Märkte wird der Wettbewerb verstärkt, wodurch die Lebensmittelpreise sinken könnten. Dennoch ist ein fairer Handel für die EU von größter Bedeutung, um mit denselben Produktionsmethoden und -regeln mit Drittländern in Wettbewerb zu treten. Die internationale Entwicklung könnte durch nichttarifäre Handelshemmnisse gefährdet werden. Unter den zahlreichen unterschiedlichen Lösungen zur Erreichung globaler Ernährungssicherheit kommt dem Handel hinsichtlich der Steigerung der Exporte von Agrarprodukten eine Rolle zu.

5.20.

Gleichwohl sollten die GAP und die Handelspolitik für die Erzeuger aus der EU gleiche Ausgangsbedingungen für den Wettbewerb mit importierten Produkten schaffen. Daher sollte die EU fordern, dass importierte Produkte dieselben Standards erfüllen müssen.

Haushaltsmittel der EU

5.21.

Die GAP wird seit jeher auf europäischer Ebene finanziert. Sie macht einen wesentlichen Teil des EU-Haushalts (38 % im Jahr 2015) aus, aber nur rund 0,4 % der europäischen öffentlichen Ausgaben. Der Haushalt der GAP ist niedriger als die Agrarhaushalte der USA oder Chinas. Darüber hinaus ist er trotz der EU-Erweiterung seit mehreren Jahren stabil bzw. rückläufig. Die GAP muss den zahlreichen großen Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein; daher muss der Haushalt für die Agrarpolitik auf europäischer Ebene erhöht werden.

5.22.

Spezifische Aspekte des EU-Haushalts wie der Grundsatz der Jährlichkeit sind eine große Erschwernis für die Gestaltung der GAP. Fonds auf Gegenseitigkeit oder Krisenbewältigungsmaßnahmen werden dadurch eingeschränkt. Darüber hinaus ruft die Mittelaufteilung politische Spannungen hervor und könnte zu Ineffizienzen führen.

Vereinfachung

5.23.

Bereits seit vielen Jahren und besonders in den ersten Jahren der Umsetzung der GAP-Reform von 2013 ist die Vereinfachung eine Priorität. Nichtsdestoweniger sollte die erste grundlegende Priorität für die nächste Reform der GAP weiterhin deren Vereinfachung sein. Insbesondere sollten geeignete Kontrollen und angemessene Sanktionssysteme verbessert werden. Gegenwärtig können Zahlungskürzungen für die Ökologisierung und Cross-Compliance-Maßnahmen unangemessen und unverhältnismäßig sein. Von äußerster Wichtigkeit ist es, sicherzustellen, dass Direktzahlungen fristgerecht geleistet werden.

Struktur der GAP

5.24.

In den letzten Jahrzehnten war die GAP in zwei Säulen gegliedert. Während die erste Säule voll EU-finanziert ist, wird die zweite Säule kofinanziert und mithilfe von Mehrjahresprogrammen dem Bedarf der einzelnen Mitgliedstaaten angepasst. Die Vielfalt der Mitgliedstaaten und Regionen und ihre unterschiedlichen Belange erfordern den Erhalt der Zwei-Säulen-Struktur in der künftigen GAP.

Vorbereitung auf die GAP für die Zeit nach 2020

5.25.

In ihrem am 25. Oktober 2016 veröffentlichten Arbeitsprogramm 2017 erklärt die Kommission, dass sie auf die Vereinfachung und Modernisierung der GAP hinarbeiten und entsprechende breit angelegte Konsultationen durchführen werde, um einen größtmöglichen Beitrag zu den zehn Prioritäten der Kommission und den Zielen für die nachhaltige Entwicklung zu leisten. Es ist wichtig, dass die europäische Zivilgesellschaft daran aktiv mitwirkt.

Brüssel, den 15. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Ziffer 2.14 der Schlussfolgerungen des Rates vom 23. und 24. Oktober 2014.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine Berücksichtigung des Nudge-Konzepts in den politischen Maßnahmen der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 075/05)

Berichterstatter:

Thierry LIBAERT

Beschluss des Plenums

21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

24.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

162/3/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Nudge-Konzept (von englisch „nudge“ für Anstoß) kann als zusätzliches Instrument zu den Instrumenten der Politikgestaltung erachtet werden, die bereits von den staatlichen Stellen in der Europäischen Union angewandt werden: Information und Sensibilisierung, finanzielle Anreize, Gesetzgebung und Vorbildfunktion. Es scheint jedoch von besonderem Interesse zu sein, wenn es darum geht, bestimmten sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu begegnen.

1.2.

Der Einsatz des Nudge-Konzepts bei öffentlichen Maßnahmen in Ergänzung zu den bisherigen Instrumenten sowie insbesondere die neuartige Herangehensweise an individuelles Verhalten, die dieses Konzept auszeichnet, sollten gefördert werden. Das Nudge-Konzept könnte in allgemeine politische Maßnahmen integriert werden und eine schnellere Umsetzung zu geringeren Kosten ermöglichen. Dank seiner Flexibilität und Einfachheit kann es in unterschiedlichen Kontexten und von unterschiedlichen Kategorien von Akteuren (zwischenstaatlichen Organisationen, internen Stellen in Ministerien, Gebietskörperschaften, NGO, privaten Akteuren usw.) gleichzeitig angewandt werden.

1.3.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der Einsatz des Nudge-Konzepts bei der Verwirklichung u. a. ökologischer und sozialer Ziele (Energiewende/ökologischer Wandel, Bekämpfung der Ressourcenverschwendung, soziale Wohlfahrt, Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung usw.). So kann das Konzept etwa für Maßnahmen genutzt werden, die gemeinschaftlichen Zielvorgaben entsprechen, für welche sich die herkömmlichen politischen Instrumente jedoch als ineffizient und/oder zu kostspielig herausgestellt haben.

1.4.

Der Austausch von Informationen und bewährten Verfahren im Bereich der Nudge-Konzepte zwischen allen potenziell beteiligten Akteuren (Behörden, Gemeinschaften, Unternehmen, Verbände, NGO usw.) auf europäischer Ebene sollte gefördert werden. Eine Plattform zur Erfassung der Initiativen und/oder eine spezielle Beobachtungsstelle könnten in Betracht gezogen werden.

1.5.

Eine nähere Erforschung der unterschiedlichen Auswirkungen des Nudge-Konzepts je nach Kultur, sozioökonomischem Profil, Region usw. würde ein besseres Verständnis der Vorteile und Grenzen der Verbreitung und Übertragbarkeit des Konzepts von Land zu Land bzw. von Branche zu Branche usw. ermöglichen, wobei insbesondere der Frage nachgegangen werden sollte, ob Verhaltensweisen durch solche Anstöße nachhaltig verändern können.

1.6.

Es sollten allgemeingültige Bedingungen für die Nutzung von Nudge-Konzepten ermittelt werden, um ihre negativen Auswirkungen einzudämmen und ihre ethische Akzeptanz sicherzustellen. Diese Bedingungen könnten in einer Charta bewährter Verfahren zusammengefasst werden, die unter Mitwirkung der unterschiedlichen Interessenträger erstellt und auf europäischer Ebene angenommen würde und in der Folge von den Mitgliedstaaten umzusetzen wäre. Des Weiteren könnten Leitlinien veröffentlicht und an die betreffenden Akteure verteilt werden.

1.7.

Vorgesehen werden sollten auch Informationsverfahren über den Einsatz unterschiedlicher Arten von Nudge-Konzepten, um Transparenz für die Zielgruppe zu gewährleisten, auf die das jeweilige Konzept ausgerichtet ist. Um umfassende Akzeptanz zu finden, müssen Nudge-Konzepte verstanden, diskutiert und geteilt werden. So könnte bei ihrem Einsatz Missbrauch und Manipulationsrisiken vermieden werden.

1.8.

Es gilt, einen konkreten Verhaltenskodex für Nudge-Konzepte festzulegen, um sicherzustellen, dass diese nicht für unverantwortliche Ziele missbraucht werden. Bei der Umsetzung eines Nudge-Konzepts müssen vier Voraussetzungen erfüllt werden: Transparenz des Prozesses, Flexibilität für die Beteiligten, die immer Entscheidungsfreiheit haben müssen, Bereitstellung zuverlässiger Informationen sowie Vermeidung von Schuldzuweisungen an Einzelne.

1.9.

Es sollten Begleit- und Bewertungsmechanismen für Nudge-Konzepte geschaffen werden, die sich an unterschiedlichen Kriterien (Soziales, Umwelt, Wirtschaft) orientieren. Dazu kann eine erste Testphase erforderlich sein, in der die genauen Auswirkungen des Nudge-Konzepts in Abhängigkeit von der Art des Anstoßes, der Zielgruppe, des Kontexts usw. bewertet werden. So können zudem im Falle enttäuschender Ergebnisse rasch Anpassungen vorgenommen bzw. kann vom Nudge-Konzept abgegangen werden, wenn es als unwirksam bewertet wird.

1.10.

In die Curricula der allgemeinen und der beruflichen Bildung sollten verstärkt Lehrinhalte aus dem Bereich der Verhaltensökonomie aufgenommen werden. Dadurch könnten die Kenntnisse hinsichtlich dieses Instruments verbessert sowie seine vernünftige und differenzierte Nutzung durch mehrere Zielgruppen (Beamte des öffentlichen Dienstes, Angestellte von Unternehmen, Mandatsträger usw.) begünstigt werden. Dies setzt zudem eine Öffnung der akademischen Disziplinen voraus, denn das Nudge-Konzept beruht auf einem bereichsübergreifenden Ansatz.

1.11.

Beim Einsatz des Nudge-Konzepts sollte eine bestimmte Flexibilität gewahrt werden, um dessen Potenzial bestmöglich auszuschöpfen. Klar ist, dass Nudge-Konzepte genauso wie die anderen Instrumente, die den öffentlichen Stellen zur Verfügung stehen, weder Wundermittel noch komplett neu sind, aber eine perfekte Ergänzung und sehr nützlich sein können, um bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Primär liegt der Nutzen darin, bei der Politikgestaltung auch die psychologische Dimension von Verhaltensweisen zu berücksichtigen und nicht nur deren „ökonomische Rationalität“.

1.12.

Auf Initiative des EWSA sollte die erste europäische Konferenz zu Nudge-Konzepten organisiert werden, die eine einzigartige Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch zwischen den relevanten Akteuren in der Europäischen Union bieten würde.

1.13.

Zur Bewältigung der grundlegenden Umstellung auf ein neues Wirtschaftsmodell mit erheblichen systemischen Auswirkungen in vielen Bereichen sollte ein neues bereichsübergreifendes ständiges Gremium im EWSA eingerichtet werden, um diese Entwicklungen einschließlich des Nudge-Konzepts und anderer damit zusammenhängender Themen wie Kreislaufwirtschaft, Wirtschaft des Teilens und Functional Economy zu analysieren.

2.   Ein fünftes Instrument für öffentliche Stellen

2.1.

Um die Verhaltensweisen von Personen zu ändern, stehen öffentlichen Stellen traditionell vier unterschiedliche Instrumente zur Verfügung: Information und Sensibilisierung, finanzielle Anreize, Gesetzgebung (Verbot oder Auflage) und Vorbildfunktion. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese vier Instrumente von begrenzter Wirkung sind, insbesondere wenn es um verantwortungsbewusstes Verhalten und verantwortungsvollen Konsum geht, bei dem weniger natürliche Ressourcen verbraucht werden. In der Tat bleibt häufig eine Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein der einzelnen Personen und ihrem alltäglichen Verhalten bestehen.

2.2.

Die Gründe für diese Kluft zwischen Absicht und Handeln wurden in der Verhaltensökonomie und -forschung untersucht, eine Fachrichtung, die auf das Verständnis von Einflussfaktoren auf das Verhalten Einzelner spezialisiert ist. Laut den Forschern dieser Fachrichtung werden die Handlungen der Individuen von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Wir sind komplexe Wesen mit begrenzter Rationalität, reagieren größtenteils emotional und werden von anderen Menschen und sozialen Interaktionen beeinflusst, doch auch durch den Kontext und das Umfeld, in dem wir Entscheidungen treffen.

2.3.

Im Grunde genommen basieren unsere Entscheidungen und Verhaltensweisen hauptsächlich auf dem, was Daniel KAHNEMAN, Nobelpreisträger für Wirtschaft, unser „System 1“ nennt: ein größtenteils unbewusster, automatischer, extrem schneller Reflexionsmodus, der es uns ermöglicht, zahlreiche tägliche Entscheidungen unter Minimierung unserer Anstrengungen und mit sparsamem Einsatz unserer Aufmerksamkeitsressourcen zu treffen, der jedoch von Stereotypen und Assoziationen gespeist wird und sich häufig von einer strengen Rationalität entfernt.

3.   Verhaltensweisen berücksichtigen, um Entscheidungen zu lenken

3.1.

In der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) wird davon ausgegangen, dass sich die traditionellen politischen Instrumente als unzureichend herausstellen können, wenn es darum geht, Verhaltensweisen zu verändern, da dabei die unterschiedlichen Dimensionen, die zur Entscheidungsfindung beitragen können, außer Acht gelassen werden. Ausgehend von dieser Feststellung haben zwei amerikanische Professoren, Richard THALER (Wirtschaftsprofessor in Chicago und Vorreiter auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie) und Cass SUNSTEIN (Juraprofessor an der Universität Harvard) 2008 das erste Werk zum Nudge-Konzept (1) veröffentlicht. Es beruht auf der Annahme, dass Verhaltensänderungen durch „sanfte Anstöße“ herbeigeführt werden müssen. Die Autoren definieren einen Anstoß (englisch „nudge“) als einen Aspekt des Entscheidungssystems, der auf vorhersehbare Weise das Verhalten von Personen ändert, ohne irgendeine Wahlmöglichkeit zu verbieten oder finanzielle Anreize maßgeblich zu verändern. Um als einfacher Anstoß zu gelten, muss sich die Handlung leicht vermeiden lassen, da Nudge-Konzepte keinerlei Zwangscharakter haben.

3.2.

Das Nudge-Konzept zielt auf die Gestaltung von „Entscheidungssystemen“ ab, im Rahmen derer die Entscheidung als Nutzen für den Einzelnen und/oder die Gemeinschaft hervorgehoben wird, ohne die Menge oder die Art der verfügbaren Auswahlmöglichkeiten zu verändern. Es geht darum, den Verbraucher oder den Anwender zu einer Entscheidung zu motivieren, die als besser erachtet wird. Das Nudge-Konzept zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Es lässt dem Einzelnen völlige Entscheidungsfreiheit, ist einfach in der Umsetzung und verursacht nur geringe Interventionskosten.

3.3.

In bestimmten Ländern zeigen die Behörden immer mehr Interesse an Nudge-Konzepten, da diese zwei wesentliche Vorteile bieten: Sie schränken die persönlichen Freiheiten nicht ein und erfordern einen begrenzten Kostenaufwand, obwohl sich mit ihnen eine ehebliche Wirkung erzielen lässt. Sie können somit als ergänzendes Instrument im Rahmen politischer Maßnahmen eingesetzt werden, mit dem Ziel, dass Einzelentscheidungen getroffen werden, die „verantwortungsvoller“ für die Gesundheit, die Umwelt usw. sind. Dem Einzelnen wiederum erleichtert der Anstoß die Wahl und Entscheidungsfindung.

4.   Nudge — ein Konzept, verschiedene Instrumente

4.1.

Die Standardentscheidung. Es geht darum, eine automatische Standardlösung anzubieten, die die umsetzende Behörde nicht nur für die wünschenswerteste, sondern auch für die am einfachsten anwendbare Lösung hält. Sie basiert auf dem Beharrungsvermögen des Einzelnen. Dieses Instrument wird beispielsweise seit 2005 bei der Einkommensteuererklärung in Frankreich angewandt, wo seit 2005 standardmäßig davon ausgegangen wird, dass in jedem Haushalt ein Fernseher vorhanden ist. Dadurch konnte die auf 6 % geschätzte Betrugsquote auf 1 % gesenkt werden. Standardentscheidungen werden außerdem zunehmend von Banken, Energieversorgern und weiteren Unternehmen eingesetzt, die elektronische Rechnungen statt Rechnungen auf Papier anbieten, standardmäßig beidseitig bedruckte Schriftstücke usw.

4.2.

Die Macht sozialer Normen wird von den Befürwortern des Nudge-Konzepts als einflussreicher Entscheidungsfaktor für Verhaltensweisen erachtet. Sie kann somit genutzt werden, um Einzelpersonen anzuleiten, auf eine gewisse Art und Weise zu handeln. Dabei geht es insbesondere darum, das Verhalten eines Großteils von Einzelpersonen aus dem unmittelbaren Umfeld (Nachbarn, Kollegen usw.) hervorzuheben. Diese Botschaft soll für die Einzelpersonen einen Anreiz schaffen, sich auf dieselbe Art und Weise zu verhalten, um der sozialen Norm zu entsprechen. 2011 wurde von dem Energieversorger OPOWER in den USA ein Versuch durchgeführt. Auf Grundlage von Informationen über den Stromverbrauch von 600 000 Haushalten wurden diesen Schreiben zugesandt, in denen beispielsweise Folgendes zu lesen war: „Vergangenen Monat haben Sie 15 % mehr Strom verbraucht als Ihre sparsamsten Nachbarn.“ Anhand von Grafiken konnte der Energieverbrauch des eigenen Haushalts mit dem der Nachbarn und anderer Verbraucher verglichen werden, verziert mit einem lächelnden „Smiley“, wenn der Energieverbrauch gesenkt wurde. Nach dem Versand dieser Schreiben war bei den teilnehmenden Haushalten eine durchschnittliche Abnahme des Stromverbrauchs um 2 % zu verzeichnen, wodurch laut OPOWER (2) insgesamt 250 Mio. USD eingespart wurden. In zahlreichen ähnlichen Versuchen wurden Ergebnisse mit Energieeinsparungen von 1 % bis 20 % erzielt.

4.3.

Mit dem Verlustrisiko soll der Verlust (insbesondere finanzieller Art) hervorgehoben werden, den die Einzelperson riskiert, wenn sie ihr Verhalten nicht ändert, beispielsweise was den Energieverbrauch anbetrifft. Es geht zum Beispiel darum, ihr den Betrag zu nennen, den sie verliert, wenn sie ihr Verhalten nicht ändert, oder andersherum, ihr den Betrag zu nennen, den sie gewinnt, wenn sie es tut. Der Verlust kann auch mithilfe nicht finanzieller Indikatoren (Kalorien, CO2-Emissionen usw.) dargestellt werden.

4.4.

Eine Möglichkeit besteht beispielsweise darin, Wettbewerbe zu organisieren, um bestimmte Praktiken, wie den Kampf gegen die Ressourcenverschwendung, zu fördern. Mit diesem Instrument versucht die französische NGO Prioriterre die Gesellschaft für einen sparsamen Energieverbrauch zu sensibilisieren. Zu diesem Zweck organisiert sie jedes Jahr den Wettbewerb „Familles à énergie positive“ (Familien mit positiver Energie), an dem 2014 rund 7 500 Familien teilgenommen haben, die ihren Energieverbrauch um 8 % senken mussten, um verschiedene Preise gewinnen zu können (3).

4.5.

Auch Spiele und spielerische Darstellungen können genutzt werden. Einer der bekanntesten Anstöße wurde am Amsterdamer Flughafen eingesetzt: Ins Innere der Pissoirs wurden Fliegen gemalt, um die Herren dazu anzuhalten, richtig zu zielen. Im Jahr 2009 hat Volkswagen in Stockholm die Treppe, die von der unterirdischen U-Bahn-Station Odenplan nach oben führt, in eine riesige Klaviertastatur verwandelt. Bei jedem Tritt auf eine Stufe ertönte ein Ton (4). Das Ziel dabei war, die Menschen dazu anzuhalten, eher die Treppe zu benutzen als die Rolltreppe. In Südkorea werden Personen, die Rolltreppen benutzen, mit entsprechenden Bodenmarkierungen auf ihr Risiko hingewiesen, übergewichtig zu werden.

4.6.

Nudge-Konzepte können ebenfalls darauf gerichtet sein, die Darstellung der Wahlmöglichkeiten oder das Erscheinungsbild bestimmter Produkte zu verändern, um diejenigen hervorzuheben, die als gesünder, umweltfreundlicher usw. erachtet werden. Solche Nudge-Konzepte kommen fallweise der Vergabe eines Gütesiegels nahe. In Kantinen wurden bereits mehrere Versuche durchgeführt, um die Gäste dazu anzuhalten, gesundes Essen zu verzehren. Dafür wurden die gesunden Mahlzeiten an den Anfang des Tresens platziert, was in bestimmten Fällen dazu führte, dass sie doppelt so häufig verzehrt wurden, wie wenn sie in der Mitte oder am Ende der Theke angeboten werden. Andere Kantinen haben versucht, die Verschwendung von Lebensmitteln einzugrenzen, indem sie die Tellergröße reduzierten: Die Teller werden nach wie vor gefüllt, doch die Portionsgröße sinkt (wobei sich die Gäste immer nachnehmen können, wenn sie dies wünschen) (5).

5.   Ein Instrument, das zunehmend von öffentlichen Stellen eingesetzt wird

5.1.

Seit 2008 interessieren sich immer mehr Länder für das Potenzial von Nudge-Konzepten für die Politikgestaltung, weil diese drei wesentliche Vorteile bieten: größere Akzeptanz der Öffentlichkeit im Vergleich zu Normen und Steuern, geringere Kosten und höhere Effizienz. Im Folgenden sind einige Beispiele hierfür angeführt.

5.2.

2010 wurde in Großbritannien unter der Regierung von David CAMERON das „Behavioural Insights Team“ (Gruppe für verhaltensökonomische Erkenntnisse) unter dem Vorsitz von David HALPERN ins Leben gerufen und damit beauftragt, die Verhaltenswissenschaften in politischen Maßnahmen des Landes anzuwenden. Die Gruppe hat beispielsweise das Internetportal der Regierung dahin gehend verändert, dass man sich darauf als Organspender registrieren lassen kann. Unter dem Logo des National Health Service, des britischen Gesundheitsdienstes, ist dort zu lesen: „Jeden Tag beschließen Tausende Besucher dieser Seite, sich registrieren zu lassen.“ Innerhalb von einem Jahr stieg die Teilnahmequote an dem Programm von 2,3 % auf 3,2 % (+96 000 Registrierungen). Seit 2014 arbeitet das zuständige Referat („Nudge Unit“) autonom und berät ausländische Regierungen, lokale Gebietskörperschaften, Unternehmen usw (6).

5.3.

Auch die US-Regierung von Präsident Obama bildete 2014 ein solches Team („Nudge Squad“) unter der Leitung von Maya SHANKAR. In einem Dekret, das im September 2015 veröffentlicht wurde, „ermutigt“ Präsident Obama die Regierungsabteilungen und -stellen, die Verhaltenswissenschaft (behavioral science) zu nutzen (7). Auch die Regierungen Singapurs, Australiens und Deutschlands haben Expertengruppen für Verhaltensökonomie eingerichtet.

5.4.

In Frankreich führen das Generalsekretariat für die Modernisierung des staatlichen Handelns (SGMAP) und die Generaldirektion für öffentliche Finanzen (DGFIP) (8) seit 2013 vermehrt Experimente im Zusammenhang mit dem Nudge-Konzept durch.

5.5.

Die Europäische Kommission hat innerhalb der Gemeinsamen Forschungsstelle das Referat Vorausplanung und Beitrag der Verhaltenswissenschaft unter der Leitung von Xavier TROUSSARD eingerichtet. Das Referat hat 2016 einen Bericht veröffentlicht, in dem hervorgehoben wird, dass die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie in der Politikgestaltung der Europäischen Union zunehmend genutzt werden (9). In dem Bericht wird die Ansicht vertreten, dass die Entwicklung eines Austausches zwischen Politikern und Vertretern von Universitäten bezüglich dieser Thematik wünschenswert wäre. Außerdem wird darin der verstärkte Einsatz von Instrumenten der Verhaltensökonomie in allen Phasen der Politikgestaltung empfohlen, wobei gleichzeitig die Kommunikation über ihre Nutzung und das Wissen über ihre Auswirkungen verbessert werden sollten.

6.   Risiken und Einschränkungen, die nicht außer Acht zu lassen sind

6.1.

Das Nudge-Konzept hat Grenzen. Es erfordert eine rigorose Ausgestaltung und Umsetzung und wirft sowohl technische als auch ethische Fragen auf. Es kann weder die notwendige Informierung der Bürgerinnen und Bürger und die pädagogischen Maßnahmen, die ihre Entscheidungsfindung erleichtern sollen, noch die klassischen Maßnahmen der Behörden, nämlich Gesetze und wirtschaftliche Anreize, ersetzen. Darüber hinaus dürfen die Risiken und Beschränkungen des Einsatzes nicht unterschätzt werden:

6.2.

Zurzeit sind nur wenige Studien zur Wirksamkeit des Nudge-Konzepts verfügbar, insbesondere zu den mittel- und langfristigen Auswirkungen. In mehreren Studien werden die unterschiedlichen Reaktionen der Individuen auf die Anwendung dieses Instruments betont. So neigten in der von OPOWER durchgeführten Studie diejenigen Haushalte, deren Energieverbrauch bereits unterhalb des Durchschnitts lag, dazu, ihren Energieverbrauch zu erhöhen, nachdem sie von ihrem unterdurchschnittlichen Verbrauch erfahren hatten. Im Gegensatz dazu können bei Bürgern, die erfahren, dass sie weitaus mehr Strom verbrauchen als ihre Nachbarn, durch das Nudge-Konzept Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst werden. Einigen Studien zufolge kann die Empfänglichkeit von Einzelpersonen für die Anstöße im Rahmen von Nudge-Konzepten auch entsprechend ihren Wertvorstellungen und Ansichten variieren (10), aber auch in Abhängigkeit vom politischen und kulturellen Umfeld. Allgemein wird in den durchgeführten Studien darauf hingewiesen, dass sich die Nudge-Konzepte je nach Zielgruppe, Kultur, Hintergrund unterschiedlich auswirken. Es ist daher notwendig, die Auswirkungen von Nudge-Konzepten direkt bzw. punktuell zu bewerten.

6.3.

Es stellt sich zudem die Frage, wie dauerhaft die Wirkungen von Nudge-Konzepten sind. Im Bereich des Wasser- und Stromverbrauchs haben Studien gezeigt, dass der Wiederholungseffekt sozialer Normen mit der Zeit tendenziell abnimmt, auch wenn er abgeschwächt über mehrere Jahre hinweg erhalten bleibt (11). Die langfristige Wirkung der Anstöße hängt davon ab, ob Gewohnheiten tief greifend verändert werden konnten. Sobald eine Standardoption verändert wurde und diese Veränderung beibehalten wird, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass die Verhaltensänderung nicht fortdauern wird. Die Problematik bezieht sich hier eher auf die Möglichkeit, noch weiter zu gehen oder das Verhalten zu modulieren. Es erscheint nämlich leichter, eine Steuer oder eine Norm schrittweise anzupassen als eine Standardoption.

6.4.

Nudge-Konzepte können sich negativ auswirken, indem eine Person, die sich unkorrekt verhalten hat, anschließend dazu neigt, sich korrekt zu verhalten und umgekehrt. In Versuchen wurde zum Beispiel gezeigt, dass nach dem Kauf „grüner“ Verbrauchsgüter unter bestimmten Umständen negatives Verhalten, wie Betrug oder Diebstahl, zunehmen kann (12). Bemühungen zur Förderung tugendhaften Verhaltens in bestimmten Bereichen können somit negative Auswirkungen in anderen Bereichen haben. Sollten sich diese gegenteiligen Wirkungen bestätigen, ist eine Gesamtbewertung der Wirkung von Nudge-Konzepten sehr schwierig. Höchstwahrscheinlich kommen diese nur sehr selten vor und stellen den Nutzen von Nudge-Konzepten nicht infrage. Die Möglichkeit solcher Auswirkungen darf jedoch nicht ausgeschlossen werden.

6.5.

Die Wirksamkeit von Nudge-Konzepten wird in Bezug auf ein wünschenswertes Verhalten ermittelt, und damit stellt sich die Frage nach der Definition und der Messung dessen, was wünschenswert ist. Es kann in der Tat sehr schwierig sein, von den Bürgerinnen und Bürgern zu erfahren, wie diese ihr eigenes Wohlergehen einschätzen. Beim Nudge-Konzept stellt sich zudem die Frage, wer über das verfolgte Ziel entscheidet, das heißt, darüber, was für den Einzelnen und/oder für die Gesellschaft wünschenswert ist. Handelt es sich um einen öffentlichen Entscheidungsträger, kann dieser das Ziel sowie den Anstoß selbst auf opportunistische Art und Weise ausrichten, auch unabsichtlich, beispielsweise aufgrund mangelnder Informationen.

6.6.

Letztendlich ist die Grenze zwischen Information, Kommunikation und Manipulation zum Teil schwer zu ziehen. So ermuntern zahlreiche Hotels ihre Gäste dazu, die Handtücher mehrmals zu verwenden, und einige geben dafür gezielt zu hoch gegriffene Zahlen von Gästen an, die dies bereits tun (13). Dies geschieht nicht in Täuschungsabsicht, sondern stellt eine Art selbsterfüllende Prophezeiung dar, die dafür sorgt, dass sie wahr wird. Die Gäste werden somit jedoch dazu angehalten, ihr Verhalten ausgehend von einer Lüge zu ändern. Der Einsatz einer Lüge, auch wenn sie zu tugendhafterem Verhalten führt, erscheint moralisch nicht akzeptabel; dies gilt umso mehr, wenn sie von einem öffentlichen Entscheidungsträger stammt. Der Ruf dieses Entscheidungsträgers könnte dadurch beschädigt werden und auf Dauer die Wirksamkeit des Nudge-Konzepts verringern, wenn Verbraucher wie Kinder behandelt werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Thaler Richard, Sunstein Cass, Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, Yale University Press, 2008.

(2)  Opower.com.

(3)  http://www.prioriterre.org/ong/particuliers/a2210/une-nouvelle-edition-familles-a-energie-positive.html.

(4)  https://www.youtube.com/watch?v=2lXh2n0aPyw.

(5)  Liebig Georg, Nudging to Reduce Food Waste“, URL: http://www.wiwi-experimente.tu-berlin.de/fileadmin/fg210/nudging_to_reduce_food_waste_Georg_Liebig.pdf.

(6)  Internetseite des Referats: http://www.behaviouralinsights.co.uk/.

(7)  Executive Order — Using Behavorial Science Insights to Better Serve the American People, Executive Order, 15. September 2015. URL: https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2015/09/15/executive-order-using-behavioral-science-insights-better-serve-american.

(8)  Siehe beispielsweise Le nudge: un nouvel outil au service de l’action publique (Das Nudge-Konzept: ein neues Instrument staatlichen Handelns), 13. März 2014. URL: http://www.modernisation.gouv.fr/les-services-publics-se-simplifient-et-innovent/par-des-services-numeriques-aux-usagers/le-nudge-au-service-de-laction-publique.

(9)  http://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/JRC100146/kjna27726enn_new.pdf.

(10)  Costa Dora L., Kahn Matthey E., Energy conservation „nudges“ and environmentalist ideology: Evidence from a randomized residential electricity field experiment, Journal of European Economic Association, 2013.

(11)  Ferraro Paul J., Miranda Juan Jose, Price Michael K., The persistence of treatment effects with norm-based policy, American Economic Review, Bd. 101, Nr. 3, Mai 2011.

(12)  Mazar Nina, Zhong Chen-Bo, Do green products make us better people?, Psychological Science, 2010.

(13)  Simon Stephanie, The Secret to Turning Consumers Green, The Wall Street Journal, 18. Oktober 2010. URL: http://www.wsj.com/articles/SB10001424052748704575304575296243891721972.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

521. Plenartagung des EWSA vom 14./15. Dezember 2016

10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine europäische Agenda für die kollaborative Wirtschaft“

(COM(2016) 356 final)

(2017/C 075/06)

Berichterstatter:

Carlos TRIAS PINTÓ

Mitberichterstatter:

Mihai MANOLIU

Befassung

Europäische Kommission, 8.12.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

17.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

157/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Entstehen einer dezentralen digitalen Wirtschaft legt nahe, dass ein erheblicher Teil des neuen wirtschaftlichen Austauschs zwischen „Peers“ in hohem Maße von den jeweiligen sozialen Beziehungen abhängt und in „Communities“ verankert ist. Diese Tatsache wird zu einer Umgestaltung dessen führen, was mit einer unternehmerischen Tätigkeit oder der Ausübung einer Beschäftigung einhergeht, und zwar im Sinne einer Demokratisierung der Art und Weise, wie wir produzieren, konsumieren, regieren und soziale Probleme lösen. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass dieses Phänomen nicht mit einer Prekarisierung der Arbeit und Steuerumgehung Hand in Hand geht und sich die Wertschöpfung nicht massiv von den industriellen Akteuren hin zu den Eigentümern privater digitaler Plattformen verlagert (1).

1.2.

Angesichts dieses neuen Paradigmas fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Kommission dazu auf, einen detaillierteren und inklusiveren konzeptuellen Ansatz für die kollaborative Wirtschaft zu entwickeln, um eine stereotype Gleichsetzung mit der digitalen Wirtschaft zu vermeiden. Die kollaborative Wirtschaft, die ähnlich wie die Sozialwirtschaft auf demokratischen und partizipativen Regierungsformen beruht, weist folgende Merkmale auf:

a)

sie findet nicht immer in einem digitalen Umfeld statt, sondern auch in einem lokalen Umfeld, sodass der Schwerpunkt auf zwischenmenschlichen Beziehungen liegen kann (Beispiel: Austausch von Gütern);

b)

sie hat oft keinen Erwerbszweck und beruht vielfach auf Grundsätzen der Zusammenarbeit und der Solidarität (Beispiel: bestimmte Formen des „Crowdfundings“, wie etwa das „Spenden-Crowdfunding“);

c)

sie findet oft nicht auf globaler oder transnationaler Ebene statt; ihr Ökosystem ist vielmehr oft in kleineren oder stärker lokal geprägten Gebieten verortet (Beispiel: Eigenversorgungs-Gruppen);

d)

sie ist nicht nur auf wirtschaftliche Aspekte beschränkt, sondern berührt auch ökologische und soziale Fragen (Beispiel: nachhaltige Mobilität);

e)

sie beschränkt sich nicht nur auf eine Form der Erbringung von Dienstleistungen auf Abruf („on demand“), bei der das geteilte Gut in der Arbeitsleistung besteht, sondern legt den Schwerpunkt auf den Zugang zu diesen Dienstleistungen (Beispiel: gemeinsame Nutzung von Gütern);

f)

sie ist nicht auf Sachgüter oder Güter von hohem wirtschaftlichem Wert beschränkt, sondern bezieht sich auf jede Art von Produkt oder Dienstleistung (Beispiel: Zeitbanken).

1.3.

Insgesamt hat die kollaborative Wirtschaft verschiedene Ausprägungen — mit spezifischen Beiträgen und Herausforderungen. Beispielsweise gelangen im Rahmen der „Zugangsökonomie“ („access economy“) unzureichend genutzte Sachgüter auf den Markt; dies bewirkt zwar ein größeres Angebot für die Verbraucher und eine wirksamere Nutzung der Ressourcen, bringt aber das Risiko mit sich, die globale Produktion durch den „Rebound-Effekt“ anzukurbeln. Im Rahmen der „Abrufökonomie“ („on-demand economy“) findet eine Zersplitterung der Arbeitskraft statt; dies schafft zwar mehr Flexibilität, erhöht aber auch das Risiko der Prekarisierung der Arbeit. Im Rahmen der „Geschenkökonomie“ („gift economy“) werden schließlich Güter und Dienstleistungen auf altruistische Weise geteilt; dies ermöglicht zwar die Stärkung der Gemeinschaften, bleibt aber für die Behörden häufig unsichtbar.

1.4.

Die Europäische Kommission sollte wiederum den digitalen Plattformen — insbesondere denen, die eine Erwerbstätigkeit unterstützen — ihre ganze Aufmerksamkeit widmen, um die betreffende Tätigkeit zu regulieren und zu harmonisieren und um gleiche Wettbewerbsbedingungen auf der Grundlage von Transparenz, Information, uneingeschränktem Zugang, Nichtdiskriminierung und angemessener Datennutzung sicherzustellen. Konkret ist es unerlässlich, den Begriff der rechtlichen Unterordnung mit Blick auf die wirtschaftliche Abhängigkeit der Arbeitnehmer neu zu definieren und die Arbeitnehmerrechte unabhängig von der Form der Tätigkeit zu gewährleisten.

1.5.

Die Herausforderung besteht also darin, die verschiedenen Ausprägungen dieser Wirtschaft gegeneinander abzugrenzen und differenzierte Regulierungsansätze (2) vorzuschlagen. Dabei sind digitale Initiativen vorzuziehen, die auf einer demokratischen, solidarischen und inklusiven Governance beruhen und im Einklang mit der sozialen Innovation stehen. Damit wird es erforderlich, die Verbraucher über die einschlägigen identitätsstiftenden Werte und Organisations- und Verwaltungsformen zu informieren. In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA, eine qualitative Untersuchung zum Netz der Beziehungen zwischen den Akteuren in der kollaborativen Wirtschaft durchzuführen.

1.6.

Deshalb fordert der EWSA die Entwicklung einer spezifischen Methodik zur Regulierung und Messung einer neuen Wirtschaft mit unterschiedlichen Standards. Hierbei spielt der Wert des Vertrauens (unter dem Aspekt der Informationssymmetrie) eine maßgebliche Rolle. Außerdem müssen die Kriterien Transparenz, Ehrlichkeit und Objektivität bei der Bewertung eines Produkts oder einer Dienstleistung verstärkt angelegt werden, anstatt automatisch auf Algorithmen zurückzugreifen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt auch die Einrichtung einer unabhängigen europäischen Ratingagentur für digitale Plattformen mit in allen Mitgliedstaaten harmonisierten Befugnissen, die die Governance dieser Plattformen in Bezug auf Wettbewerb, Beschäftigung und Steuern bewertet.

1.8.

Darüber hinaus werden bei dem in der Mitteilung dargelegten Ansatz für die kollaborative Wirtschaft grundlegende Fragen ausgeblendet, z. B. in Bezug auf virtuelle und soziale Währungen als Instrumente dieser Wirtschaft oder in Bezug auf Wissen, Information und Energie als ihr praktischer Zweck oder die Rolle des gemeinsamen Schaffens und der technologischen Innovation usw. in der kollaborativen Wirtschaft.

1.9.

Hinsichtlich des komplexen Konzepts der kollaborativen Wirtschaft im gegenwärtigen Kontext empfiehlt der EWSA, auf eine ausgewogene Koexistenz von Modellen zu achten, die ihre uneingeschränkte Entwicklung garantieren, ohne negative externe Effekte auf dem Markt hervorzurufen, insbesondere wenn es um den Schutz von Wettbewerb, Besteuerung und hochwertiger Beschäftigung geht. Zu diesem Zweck sollte ein angemessener Rahmen für die Weiterverfolgung und Überwachung konzipiert werden, an dem alle Interessenträger (Unternehmens-, Gewerkschafts-, Verbraucherorganisationen usw.) beteiligt sind.

1.10.

Um den Übergang hin zu einer neuen Wirtschaft mit bedeutenden systemischen Folgen anzugehen, sollte der EWSA eine ständige horizontale Struktur schaffen, um die entsprechenden neuen Phänomene zu untersuchen. Dabei sollte er seine Anstrengungen mit denen der Europäischen Kommission, des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Parlaments koordinieren.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Die soziale Kultur, Konsumgewohnheiten und Formen der Befriedigung der Verbraucherbedürfnisse befinden sich in einem tief greifenden, auf größere Inklusivität ausgerichteten Prozess der Umgestaltung, Überarbeitung und Rationalisierung des Verbrauchs, wobei die Kostenaspekte und die ökologischen und sozialen Auswirkungen von Produkten und Dienstleistungen ineinandergreifen und das Internet und die sozialen Netzwerke einen disruptiven Einfluss ausüben.

2.2.

Der Besitz von Gütern für den persönlichen Gebrauch, harte Devisen und die feste und entlohnte Arbeit vor Ort werden dem virtuellen Austausch, gemeinsamen Zugangsmöglichkeiten, digitalem Geld und größerer Flexibilität der Arbeitskräfte weichen.

2.3.

Bei diesem Übergang zu neuen Produktions- und Verbrauchsmustern sind bestimmte Wirtschaftsbranchen von einem mächtigen Tsunami überflutet worden, der durch das Auftauchen neuer Akteure hervorgerufen wurde, von denen einige durch die Zusammenarbeit und das Engagement gegenüber der Gemeinschaft motiviert sind, während sich andere einfach von den Geschäftschancen leiten lassen (und nicht immer auf gleiche Wettbewerbsbedingungen achten).

2.4.

Da von vielen ein neuer Ordnungsrahmen (3) für den kollaborativen Konsum gefordert wurde (der den Einsatz der Digitaltechnologie fördern sollte, um freie dezentrale Kapazitäten zu nutzen, anstatt neue zentrale Monopole zu schaffen), hat die Europäische Kommission beschlossen, eine „Europäische Agenda für die kollaborative Wirtschaft“ auf den Weg zu bringen, nachdem sie festgestellt hatte, dass die nationalen und lokalen Behörden in der EU die Situation mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Regulierungsmaßnahmen angehen. Dies ist auf die branchenspezifischen unterschiedlichen Rahmenbedingungen des kollaborativen Konsums zurückzuführen.

2.5.

Dieser uneinheitliche Ansatz bei neuen Geschäftsmodellen führt zu Unsicherheit (im wirtschaftlichen und regulatorischen Bereich in Bezug auf die Arbeitskräfte usw.) und Ungewissheit (in puncto Vertrauen, neue digitale Instrumente wie „Blockchains“, Sicherheitsnetze und Privatsphäre) zwischen den traditionellen Marktteilnehmern, den neuen Dienstleistern und den Verbrauchern, was Innovation, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum einschränkt.

2.6.

So hat die Kommission folgende Leitlinien veröffentlicht, um den Marktteilnehmern und den Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten zu helfen:

Marktzugangserfordernisse: Die Dienstleistungserbringer sollten nur verpflichtet sein, Genehmigungen oder Lizenzen zu erhalten, um pertinente Ziele von öffentlichem Interesse zu erreichen. Nur als letztes Mittel sollte ein vollkommenes Verbot einer Tätigkeit ausgesprochen werden. Kollaborative Plattformen dürfen nicht auf Genehmigungen oder Lizenzen angewiesen sein, wenn sie lediglich als Schnittstellen zwischen Verbrauchern und Erbringern der entsprechenden Dienstleistungen fungieren (z. B. in den Bereichen Verkehr und Unterbringung). Die Mitgliedstaaten sollten auch zwischen Bürgern, die gelegentlich eine Dienstleistungen anbieten, und professionellen Dienstleistungserbringern unterscheiden, z. B. durch die Festlegung von Schwellenwerten auf der Grundlage des Tätigkeitsniveaus.

Haftungsvorschriften: Kollaborative Plattformen können von der Haftung für die Informationen, die sie im Namen der Dienstleistungserbringer speichern, ausgenommen werden. Dennoch sollten sie nicht von der Haftung für die Dienstleistungen, die sie selbst anbieten, ausgenommen werden, z. B. für Zahlungsdienste.

Schutz der Nutzer: Die Mitgliedstaaten müssen garantieren, dass die Verbraucher den höchsten Schutz gegen unfaire Geschäftspraktiken genießen, ohne jedoch Privatpersonen, die gelegentliche Dienstleistungen erbringen, unverhältnismäßige Informationspflichten aufzuerlegen.

Beschäftigungsverhältnisse (Selbstständigkeit und abhängige Beschäftigung): Das Arbeitsrecht fällt weitgehend in die nationale Zuständigkeit, ergänzt durch Rechtsprechung und soziale Mindestnormen seitens der EU. Die Mitgliedstaaten können Kriterien wie das Unterordnungsverhältnis gegenüber der Plattform, die Art der Arbeit und die Bezahlung heranziehen, wenn sie darüber entscheiden, ob eine bestimmte Person als Arbeitnehmer einer Plattform gelten kann.

Besteuerung: Die Dienstleistungserbringer der kollaborativen Wirtschaft müssen Steuern zahlen. Dazu gehören Einkommens-, Körperschafts- und Mehrwertsteuern. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Steuervorschriften für die kollaborative Wirtschaft weiter zu vereinfachen und zu klären. Die kollaborativen Plattformen sollten mit den nationalen Gebietskörperschaften zusammenarbeiten, um die Wirtschaftstätigkeit zu registrieren und die Steuererhebung zu erleichtern.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu der Kommissionsvorlage

3.1.

Es ist irreführend, wenn die Kommission digitale Plattformen und die kollaborative Wirtschaft über einen Kamm schert, ohne zu bedenken, dass die kollaborative Wirtschaft und das allgemeine Interesse aufgrund der positiven externen Effekte im Zuge der praktischen Umsetzung von Werten wie Kooperation und Solidarität miteinander verknüpft sein könnten.

3.2.

In ihrer Mitteilung verfehlt die Kommission ihr eigentliches Hauptziel und bietet keine Antwort auf die legitimen Erwartungen der Interessenträger, und zwar eine Definition des Modells und der Parameter für einen klaren und transparenten Rechtsrahmen für die Entwicklung und Durchführung der verschiedenen Formen der kollaborativen Wirtschaft im Binnenmarkt, damit diese unterstützt und umgesetzt werden und an Vertrauens- und Glaubwürdigkeit gewinnen.

3.3.

Seinerseits weist das Modell der digitalen Wirtschaft vier Besonderheiten auf: Verlagerung der Tätigkeiten, zentrale Rolle der digitalen Plattformen, Bedeutung der Netzwerke und Verwertung riesiger Datenmengen (4). Obwohl es sich um unterschiedlich geartete Bereiche handelt, gibt es Überschneidungen mit der kollaborativen Wirtschaft, da die Rahmenbedingungen häufig ähnlich sind: partizipative Netze mit verschwimmenden Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem, zwischen fester und gelegentlicher Arbeit, zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung usw.

3.4.

Um die konzeptuelle Abgrenzung zu erleichtern, schlägt der EWSA vor, dass die Europäische Kommission den Begriff des „nicht gegenseitigen prosozialen Verhaltens“ der kollaborativen Wirtschaft aufgreifen sollte, mit dem die gemeinsame Nutzung ohne Erwerbszweck klar abgegrenzt wird und der Spielraum für Verbrauch, Produktion, Finanzierung und kollaboratives Wissen bietet.

3.5.

Kurzum: Das Modell der kollaborativen Wirtschaft impliziert nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen sozialen und ökologischen Wandel. In der Mitteilung wird dies durch den Hinweis auf die Nachhaltigkeit und den Übergang zur Kreislaufwirtschaft oder durch die Beschreibung sozialer Märkte als eigene Räume der kollaborativen Wirtschaft herausgestellt.

3.6.

Werden diese Aspekte außer Acht gelassen, dann kann die gegenwärtige Bedeutung der kollaborativen Initiativen nur unvollständig erfasst werden. Das Gleiche gilt, wenn die Analyse auf den Austausch von Dienstleistungen oder kollaborative Plattformen beschränkt wird, ohne Aspekte wie die Rückführung von Gütern in den Kreislauf oder ihren Austausch, die optimierte Nutzung von Wirtschaftsgütern oder die soziale Vernetzung zu berücksichtigen.

3.7.

In Bezug auf Fragen der Unsicherheit bei der Anwendung eines Rechtsrahmens zur Regulierung von Initiativen der kollaborativen Wirtschaft sind die Schwierigkeiten, die die Kommission erwähnt, ebenso real wie das Bestreben, ein neues Wirtschaftsmodell zu normieren und an die traditionellen Bewertungskriterien anzupassen. Das erfordert möglicherweise die Festlegung neuer Kriterien und Standards in rechtlicher, arbeitsrechtlicher und steuerlicher Hinsicht, insbesondere mit Blick auf den Übergang zu einem neuen Produktions- und Konsummodell, womit eine Neudefinition der beteiligten Akteure verbunden ist.

3.8.

Ebenso ist eine neue, inklusivere Wirtschaft, die sozialen Zusammenhalt schafft, nur dann möglich, wenn alle Bürgerinnen und Bürger die digitalen und finanziellen Fähigkeiten besitzen, die für den Zugang zu dieser Wirtschaft und ihre Nutzung erforderlich sind. Darüber hinaus sollten öffentliche Maßnahmen auf den uneingeschränkten Zugang von Personen abzielen, die besonders Gefahr laufen, digital ausgegrenzt zu werden (vor allem Menschen mit Behinderungen).

3.9.

Schließlich kann der EWSA die folgenden in der Kommissionsmitteilung nicht genannten Aspekte nicht unberücksichtigt lassen:

In der Diskussion über die kollaborative Wirtschaft müssen Instrumente wie digitale, virtuelle und soziale Währungen angegangen werden. Aufgrund des „Blockchain“-Faktors entwickeln die zweite Generation von Internetnutzern, Unternehmer und traditionelle Marktteilnehmer neue Formen der Ausübung der acht Grundfunktionen von Finanzmittlern durch das globale Hauptbuch („World Wide Ledger“), Technologien und „Bitcoins“.

Wenn wir davon ausgehen, dass die beiden Hauptsäulen des kollaborativen Wandels auf dem Energie-Information-Binom beruhen, darf bei keiner Analyse der kollaborativen Wirtschaft die Übertragung von geistigem Eigentum aufgrund von Wissenstransfer und Open Source übersehen werden; das gilt auch für den Energiesektor.

Die Effekte im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt — etwa die Tendenz zu einem übermäßig flexibilisierten Arbeitsmarkt, die Aushöhlung der Macht bei Tarifverhandlungen für Arbeitnehmer der kollaborativen Wirtschaft, das Risiko der Individualisierung auf dem Arbeitsmarkt, Mangel an Ausbildung, mögliche (negative) Folgen der Qualifizierungssysteme und der Umgang mit Algorithmen — müssen eingehender untersucht werden.

4.   Besondere Bemerkungen zur Kommissionsvorlage: Zentrale Fragen

4.1.    Marktzugangserfordernisse, Skaleneffekte und lokale Netzwerkeffekte

4.1.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten gemäß den geltenden Rechtsvorschriften der EU — insbesondere der Dienstleistungsrichtlinie und der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr — den Zugang zu den kollaborativen Märkten fördern müssen, da ein vielfältigeres Angebot den Konsum anregt. Sie sollten dazu ggf. Bedingungen festlegen, die ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienen, und dies angemessen begründen. Es ist zu erwarten, dass es zu einem rechtlichen Konflikt kommt, da die kollaborative Wirtschaft neue Formen der Erbringung bereits bekannter Dienstleistungen schafft, die traditionell in hohem Maße reguliert werden.

4.1.2.

Die kollaborative Wirtschaft ist ein Schmelztiegel von räumlich und zeitlich unbegrenzten Initiativen, die Gegenstand einer offenen und delokalisierten Behandlung sein sollten, denn jede auf territorialen Kriterien beruhende Begrenzung kann zu steuerlichem oder sozialem Wettbewerb führen, der ihre positiven Wirkungen verfälscht.

4.1.3.

Deshalb ist die kollaborative Wirtschaft nicht nur als nur transnationaler Grund für den Marktzugang zu begreifen, sondern vielmehr als ein Ausdruck der Stärkung der Handlungskompetenz der Bürger (Gewinn an Humankapital), der mit zwei grundlegenden Aspekten in Verbindung gebracht werden sollte: einerseits einem Harmonisierungsprinzip, mit dem eine unterschiedliche Behandlung vermieden wird, die zu neuen Marktasymmetrien führen könnte; und andererseits der Notwendigkeit von Fortschritten bei Verfahren der gemeinsamen Regulierung (5) (Modelle: „Peer-to-Peer“-Regulierung, Selbstregulierungsinstanzen und delegierte Regulierung über Daten).

4.1.4.

Wie die Kommission befürwortet der EWSA eine flexiblere Regulierung der Dienstleistungsmärkte (neue Definitionen der Arbeit in der kollaborativen Wirtschaft). Er fordert deshalb in jedem Mitgliedstaat eine Bewertung der Begründung und Verhältnismäßigkeit der für die kollaborative Wirtschaft geltenden Rechtsvorschriften entsprechend den Zielen des öffentlichen Interesses (Vorschriften zur Behebung von Marktdefiziten, die die Förderung von Vertrauen erleichtern) unter Berücksichtigung besonderer Merkmale der verschiedenen Geschäftsmodelle und Zugangs-, Qualitäts- und Sicherheitsinstrumente.

4.1.5.

Der EWSA hebt des Weiteren hervor, dass aufgrund der Besonderheit des Modells Instrumente zur Bewertung der Qualität und der Reputation von Dienstleistern entstehen, die zwar im Einklang mit dem öffentlichen Interesse, die Risiken für Verbraucher im Zusammenhang mit Informationsasymmetrien verringern, aber auch zu einer Negativauslese und einem moralischen Risiko führen können. In dieser Hinsicht müssen die Behörden und die Verwalter der digitalen Plattformen die Qualität und Verlässlichkeit der Informationen, Bewertungen und Beurteilungen der kollaborativen Plattformen gewährleisten, indem sie unabhängige Kontrollinstanzen nutzen.

4.1.6.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Festlegung von Schwellenwerten zur sektorspezifischen Abgrenzung professioneller Dienstleistungen von nicht professionellen Dienstleistungen zur Entwicklung nützlicher Methoden für die Überwindung der Fragmentierung der Märkte in der EU führen kann. Nicht professionelle Tätigkeiten zwischen „Peers“ lassen sich damit jedoch womöglich nicht in Einklang bringen.

4.2.    Haftungs- und Versicherungssysteme

4.2.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Beibehaltung des derzeitigen Haftungssystems (6) für Vermittler für die Entwicklung der digitalen Wirtschaft der EU von grundlegender Bedeutung ist.

4.2.2.

Zur Stärkung der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens — ein für die Entwicklung der kollaborativen Wirtschaft entscheidender Aspekt — schließt sich der EWSA der Forderung der Europäischen Kommission an, freiwillige restriktive Maßnahmen zu ergreifen, um illegale Online-Inhalte durch begleitende oder einschlägige Aktivitäten zu bekämpfen, ohne auf die Vorteile des Haftungsausschlusses zu verzichten.

4.2.3.

Der EWSA bekräftigt allerdings, dass es zweckmäßig wäre, die kollaborative Tätigkeit eingehend und unabhängig von der zentralen Bedeutung, die den digitalen Plattformen zugemessen wird, zu untersuchen, um eine Entfremdung von dem ihr zugrunde liegenden Bürgersinn zu vermeiden.

4.3.    Verbraucherschutz

4.3.1.

In einem neuen Kontext, in dem die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten verschwimmen (Förderumfeld für Handlungskompetenz, gemeinsames Schaffen, „Crowdfunding“, „Peers“, Kunden) fordert der EWSA ein System, das die Rechte von Verbrauchern gewährleistet. Aufgrund der Besonderheiten der kollaborativen Wirtschaft sollte die Vielfalt der damit verbundenen Initiativen jedoch nicht eingeschränkt werden.

4.3.2.

Folglich sollten die dadurch geschaffenen multilateralen Beziehungen auch solche Beziehungen umfassen, die aus dem neuen Typ des Prosumenten resultieren (dabei handelt es sich um den wichtigsten wirtschaftlichen Beitrag für eine Plattform, der deshalb geschützt, abgesichert und definiert werden muss). Dieser Typ dürfte eine herausragende Rolle in der kollaborativen Wirtschaft spielen — wie auch Prozesse der gemeinsamem Wertschöpfung, insbesondere unter dem Aspekt der Kreislaufwirtschaft und der funktionsorientierten Wirtschaft.

4.3.3.

Der EWSA hat sich immer für gleiche Wettbewerbsbedingungen ausgesprochen. Gemäß den Leitprinzipien für unlautere Handelspraktiken müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden, um Verbraucher und Händler auf nicht restriktive Weise (7) voneinander abzugrenzen: Häufigkeit der Dienstleistungen, Erwerbszweck und Geschäftsvolumen.

4.3.4.

Der EWSA unterstützt diesen Ansatz, betont aber auch, dass es notwendig sein wird, diese Überlegungen wie auch die Zweckmäßigkeit anderer Faktoren bei der Anwendung von Kriterien für eine angemessene Kategorisierung zu überprüfen, dies aber ohne Anspruch auf Vollständigkeit angesichts der Komplexität und Variabilität der Erscheinungsformen der kollaborativen Wirtschaft und der Schwierigkeit, ihre Zukunft zu prognostizieren (ein Modell, das unabhängig, übertragbar, universell und innovationsfördernd sein sollte).

4.3.5.

Der EWSA betont, dass die beste Möglichkeit zur Verbesserung des Vertrauens von Verbrauchern darin besteht, die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit von „Peer-to-Peer“-Diensten zu stärken (ein „sicherer Hafen“ für spezifische Plattformen der kollaborativen Wirtschaft, der Leistungen, Ausbildung, Versicherung und andere Formen des Schutzes ermöglicht), und zwar durch entsprechende Online-Bewertungsdienste (8) und externe Zertifikate (Qualitätssiegel) sowie ein neues System der privatrechtlich organisierten Schlichtung. Dieses Argument steht in engem Zusammenhang mit dem Vertrauen und der Reputation der harmonischen Entwicklung der kollaborativen Wirtschaft in einem neuen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Koordinatensystem.

4.4.    Selbstständige und abhängig Beschäftigte in der kollaborativen Wirtschaft

4.4.1.

Im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte befürwortet der EWSA nachdrücklich die Überarbeitung des rechtlichen Besitzstands, um gerechte Arbeitsbedingungen und einen angemessenen Sozialschutz zu garantieren — gestützt auf die (kumulativen) Kriterien der Unterordnung eines Dienstleistungserbringers, der Art der Arbeit und der Bezahlung.

4.4.2.

Konkret sollte unter Beachtung der nationalen Zuständigkeiten ein Rechtsrahmen für Arbeitnehmer festgelegt werden, der die entsprechenden Arbeitsverhältnisse genau regelt: eine angemessene Bezahlung und das Recht auf Teilnahme an Tarifverhandlungen, Schutz gegen Willkür, das Recht sich abzumelden, um akzeptable Computerarbeitszeiten zu gewährleisten usw.

4.4.3.

Darüber hinaus spricht sich der EWSA für eine eingehendere Untersuchung der Arbeitsmodelle der kollaborativen Wirtschaft aus, die im Zusammenhang mit einem nicht gegenseitigen prosozialen Verhalten stehen.

4.4.4.

Die Besonderheit der kollaborativen Wirtschaft als Beschäftigungsmotor sollte in allen Mitgliedstaaten auf ähnliche Weise angegangen werden, damit die ergriffenen Maßnahmen nicht die kollaborative Praxis unterminieren und sich durch einen größeren Unternehmergeist in Bezug auf Unternehmensgründung, Unabhängigkeit und Infrastruktur auszeichnen.

4.5.    Besteuerung

4.5.1.

Der EWSA ist sich der Risiken einer aggressiven Steuerplanung und mangelnden Steuertransparenz im Bereich der digitalen Wirtschaft bewusst und spricht sich dafür aus, ein System zur Kontrolle der Handelsströme über digitale Plattformen zu stärken, da diese das Produkt oder die Dienstleistung zurückverfolgen und Steueransprüche klären können. „Carpooling“-Plattformen in Estland sind ein Beispiel, das in anderen Mitgliedstaaten nachgeahmt werden könnte.

4.5.2.

Die Anpassung der Steuerarten (insbesondere der Mehrwertsteuer) an Modelle der kollaborativen Wirtschaft wird tief greifende Reformen notwendig machen. Darüber hinaus müssen digitale Plattformen — deren Einnahmen weitgehend aus dem Verkauf der Daten von Privatpersonen an Unternehmen stammen — voll und ganz der Unternehmenssteuer an dem Ort unterliegen, wo sie ihre Tätigkeit ausüben, um einen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

4.5.3.

Der EWSA kennt die Bedeutung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich und befürwortet die Schaffung von Ad-hoc-Instrumenten (einzige Anlaufstellen und Online-Informationsaustausch) sowie Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung, Harmonisierung, Transparenz und Zusammenarbeit zwischen Steuerbehörden.

4.6.    Folgemaßnahmen

4.6.1.

Die in der Mitteilung vorgeschlagenen Folgemaßnahmen erscheinen zielgerecht. Insbesondere sollte nach Auffassung des EWSA der Dialog zwischen den Interessenträgern (Gewerkschafts-, Unternehmens-, Verbraucherorganisationen usw.) verstärkt werden, um bewährte Methoden zu ermitteln und Initiativen für Selbstregulierung und gemeinsame Regulierung zu entwickeln, bei denen die neuen Parameter der kollaborativen Wirtschaft (9) europaweit berücksichtigt werden (z. B. in den Bereichen Wohnungswesen, Verkehr, Immobilien, Gesundheits- und Energieversorgung).

Brüssel, den 15. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 50.

(2)  ABl. C 51 vom 10.2.2016, S. 28.

(3)  Einer der Ersten, der dies forderte, war der EWSA (ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 1).

(4)  Charrié J. und Janin L.: „Le numérique: comment réguler une économie sans frontière“, 2015.

(5)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 36.

(6)  Im Einklang mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

(7)  Wie die Kommission feststellt, reicht keiner dieser Faktoren für sich genommen aus, um einen Dienstleister als Händler zu betrachten.

(8)  Dazu bedarf es einer sorgfältigen Überwachung und Kontrolle.

(9)  Siehe Fußnote 5.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Das jährliche Arbeitsprogramm 2017 der Union für europäische Normung“

(COM(2016) 357 final)

(2017/C 075/07)

Alleinberichterstatterin:

Elżbieta SZADZIŃSKA

Konsultation

Europäische Kommission, 17.8.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

17.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung am

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Abstimmungsergebnis

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das jährliche Arbeitsprogramm der Union für die europäische Normung 2017, das Teil eines umfassenden Normungspakets ist.

1.2.

Das von der Kommission vorgelegte Jahresprogramm ist die Fortsetzung und Ergänzung der im Programm für das Jahr 2016 vorgesehenen Maßnahmen, zu denen sich der EWSA bereits in seinen vorangegangenen Stellungnahmen geäußert hat (1).

1.3.

Nicht zum ersten Mal unterstreicht der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Bedeutung von Normen für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarktes, für die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen sowie für die Verbesserung ihrer Qualität und Sicherheit, was für Verbraucher, Arbeitnehmer, Unternehmen und die Umwelt von Vorteil ist.

1.4.

Als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft unterstützt er ein solches Normungssystem, das den Bedürfnissen sowohl der Gesellschaft als auch der Wirtschaft gerecht wird.

1.5.

Der EWSA erinnert daran, dass die Sicherstellung eines pluralistischen europäischen Normungssystems unter Einbeziehung von Organisationen, auf die in Anhang III der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 verwiesen wird, mehr Transparenz und einen besseren Zugang zu diesem System gewährleistet. Die Beteiligung von Vertretern der Gesellschaft am Normungssystem sollte nicht auf die Unionsebene beschränkt werden. Vielmehr sollten die Interessenträger auch in die nationalen Normungssysteme eingebunden werden können.

1.6.

Normen werden zur Unterstützung der EU-Vorschriften und Maßnahmen (Bestimmungen im Zusammenhang mit dem neuen Rechtsetzungsansatz, der Energieunion usw.) entwickelt. Zudem führt die Entwicklung der Digitalisierung in der Industrie, den Lieferketten und dem Dienstleistungssektor dazu, dass IKT- und Dienstleistungsnormen für Unternehmen in allen Wirtschaftsbranchen von wesentlicher Bedeutung sind. Deshalb hat die Kommission Maßnahmen in diesen beiden Bereichen als prioritär eingestuft, was der EWSA begrüßt.

1.7.

Gleichzeitig verweist der EWSA auf die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit von KMU durch ihre Beteiligung an der Entwicklung und Umsetzung der Normen sowie durch angemessene Sensibilisierungsmaßnahmen in Bezug auf die sich aus den Normen ergebenden Vorteile zu fördern.

1.8.

Bei den von der Kommission derzeit geführten TTIP-Verhandlungen sowie bei den bereits abgeschlossenen CETA-Verhandlungen steht die Normung aufgrund der jeweils unterschiedlichen Systeme im Mittelpunkt der Gespräche. Deshalb sollten nach Auffassung des EWSA die Interessenträger über die Unterschiede zwischen den Normungssystemen der Verhandlungsparteien informiert und mögliche daraus resultierende Risiken und auch Vorteile aufgezeigt werden.

1.9.

Zudem unterstützt er den Vorschlag zur Einrichtung eines interinstitutionellen Dialogs über Normung, was er in seiner vorhergehenden Stellungnahme (2) bereits zum Ausdruck gebracht hat.

1.10.

Für begrüßenswert hält er auch den Kommissionsvorschlag, die Auswirkungen von Normen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft zu untersuchen.

2.   Vorschläge der Europäischen Kommission

2.1.

Gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 hat die Kommission in der Mitteilung das jährliche Arbeitsprogramm der Union für die europäische Normung 2017 vorgelegt.

2.2.

Das jährliche Arbeitsprogramm ist Teil eines umfassenden Normungspakets, das auch die Kommissionsmitteilung „Europäische Normen für das 21. Jahrhundert“, eine Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen über Normen im Dienstleistungssektor sowie die Mitteilung über den Bericht nach Artikel 24 über die Durchführung der Verordnung umfasst.

2.3.

Das Arbeitsprogramm für Normung 2017 ergänzt die im Programm für das Jahr 2016 vorgesehenen Maßnahmen, von denen die meisten zurzeit umgesetzt werden.

2.4.

Zu den strategischen Prioritäten der europäischen Normung 2017 gehören:

IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt (3);

Normung von Dienstleistungen;

Entwicklung von Normen und Normungsdokumenten durch europäische Normungsorganisationen in den Bereichen vernetzter digitaler Binnenmarkt, krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzpolitik sowie vertiefter und fairerer Binnenmarkt mit gestärkter industrieller Basis;

internationale Zusammenarbeit im Bereich der Normung;

Unterstützung von Normungsvorhaben durch Forschung.

2.5.

Darüber hinaus wird die Kommission die folgenden Maßnahmen ergreifen, um die Faktengrundlage für den jährlichen Politikgestaltungszyklus im Bereich der Normung auf EU-Ebene auszuweiten:

Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Normung;

Einrichtung eines interinstitutionellen Dialogs.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt das aktuelle Arbeitsprogramm für Normung, denn die Anwendung von Normen in der Produktion und im Dienstleistungssektor trägt — wie er bereits mehrfach betont hat — zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Binnenmarkt bei.

3.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission ihre im Vorjahresprogramm festgelegten Maßnahmen fortsetzt, was eine Kontinuität und Umsetzung der Prioritäten der Binnenmarktstrategie ermöglicht.

3.2.1.

Im jährlichen Arbeitsprogramm 2017 werden die bereits in Umsetzung befindlichen Prioritäten präzisiert und ergänzt, um das System der europäischen Normung an die sich wandelnden internationalen Rahmenbedingungen und an die Herausforderungen auf dem globalen Markt anzupassen.

4.   Strategische Prioritäten der europäischen Normung

4.1.

In einem Zeitalter der rasanten Entwicklung der Informationstechnologien ist die Erarbeitung geeigneter Normen zur Gewährleistung der Interoperabilität und der Cybersicherheit unerlässlich.

4.1.1.

Technologien wie 5G-Kommunikation, Cloud-Computing, das Internet der Dinge oder Big-Data-Technologien kommen u. a. in den Bereichen elektronische Gesundheitsdienste, intelligente Energie, intelligente Städte, Spitzentechnologien und intelligente Fabriken sowie bei vernetzten und automatisierten Fahrzeugen zum Einsatz und erfordern Cybersicherheitsnormen, Risikomanagement und Kontrollleitlinien für Aufsichtsbehörden und Regulierungsstellen.

4.1.2.

In Bezug auf das Sicherheitsniveau, den Datenschutz und die Zugänglichkeit im Internet der Dinge besteht noch Verbesserungsbedarf. Die Normung in diesem Bereich könnte die Voraussetzungen für die Interoperabilität des Internets der Dinge sowie für die Gewährleistung der Cybersicherheit, des Datenschutzes und der Zugänglichkeit für die Verbraucher schaffen.

4.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die europäischen Normungsgremien darum ersuchen wird, eine Überprüfung der bereits bestehenden geeigneten Normen vorzunehmen, bevor sie ihnen neue Normungsaufträge für Dienstleistungen erteilt.

4.2.1.

Gleichzeitig ist der EWSA der Auffassung, dass es für die künftigen Arbeiten angezeigt wäre, die Interessenträger davon in Kenntnis zu setzen, welche Kommissionsaufträge sich noch in Bearbeitung befinden und welche bereits abgeschlossen bzw. ausgesetzt wurden.

4.2.2.

Bei der Bewertung der bestehenden Normen sollte geprüft werden, ob sie den besonderen Bedürfnissen schutzbedürftiger Gruppen, z. B. Menschen mit Behinderungen, Rechnung tragen. So werden beispielsweise die Normen für die elektronische Signatur den Bedürfnissen von Verbrauchern mit Behinderungen nicht gerecht. In diesem Fall wäre es gerechtfertigt, die Erarbeitung einer neuen Norm zu empfehlen.

4.2.3.

Bei der Einleitung neuer Normungsverfahren muss den besonderen Bedürfnissen schutzbedürftiger Gruppen, z. B. Menschen mit Behinderungen, gegebenenfalls im Rahmen der Definition der Bestimmungen für diese Normungsverfahren Rechnung getragen werden. Es sollte ein neues Verfahren festgelegt werden, das die kostenfreie Teilnahme von Fachleuten für Barrierefreiheit sowie von Behindertenorganisationen an den einschlägigen Normungsverfahren ermöglicht.

4.3.

Der EWSA hat die erheblichen Auswirkungen von Normen auf die Qualität der Produkte und Dienstleistungen auf dem Binnenmarkt mehrfach herausgestellt. Deshalb begrüßt er die Pläne der Kommission, die Entwicklung der Normen zu verbessern, wobei die nationalen Normen und die Erfordernisse des Marktes überwacht und Bereiche ermittelt werden sollen, in denen europäische Normen erarbeitet werden müssen.

4.3.1.

Der EWSA stimmt der Empfehlung der Kommission zu, wonach nationale Normungsgremien bei Entscheidungen über die Entwicklung einer nationalen Dienstleistungsnorm die europäische Dimension berücksichtigen und bedenken sollten, ob nicht die Erstellung einer europäischen Norm vorzuziehen wäre. Dies könnte zum Abbau der Hemmnisse und potenziellen Konflikte im Dienstleistungsbereich beitragen.

4.4.

Die zunehmende Verbreitung sowohl privater als auch öffentlicher Online-Dienste (Krankenhäuser, Betreuungseinrichtungen, intelligenter Verkehr u. Ä.) erfordert technische Lösungen, die eine größere Anonymität der Verbraucher gewährleisten und das Risiko einer übermäßigen Verarbeitung ihrer Daten begrenzen.

4.5.

Künftige Normungsarbeiten sollten zur Verbesserung der Qualität, der Zugänglichkeit und der Sicherheit von Verkehrsdienstleistungen sowie zur Verringerung der durch den Verkehr verursachten Umweltverschmutzung beitragen.

4.6.

Im Energiebereich zielen die Maßnahmen der Kommission auf die Vernetzung der Infrastrukturen, die Diversifizierung der Energiequellen, die Verringerung des Energieverbrauchs und die Förderung klimafreundlicher Technologien ab.

4.6.1.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Entwicklung einheitlicher Normen für intelligente Energienetze die Interoperabilität der Netze verbessert und die Optimierung all ihrer Bestandteile zur Senkung der Kosten, Steigerung der Effizienz und Integration dezentraler Energiequellen, darunter auch erneuerbarer Energiequellen, beiträgt. Im Endeffekt wird dies den Endverbrauchern ermöglichen, in vollem Umfang auf intelligente Energiesysteme zurückzugreifen.

4.7.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass im Kommissionsdokument auf folgende Probleme eingegangen wird: Abbaubarkeit von Kunststoffen für Verpackungen, nachhaltige, aus Sekundärrohstoffen hergestellte chemische Stoffe und Methoden zur Bewertung der Risiken von Stoffen, die in den einschlägigen Listen nicht aufgeführt sind, die jedoch bei der Herstellung von bestimmungsgemäß mit Lebensmitteln in Berührung kommenden Kunststoffartikeln eingesetzt werden.

4.7.1.

Angesichts des hohen Risikos sollten die Normen für die vorgenannten Bereiche strenge Auflagen zum Schutz sowohl der Verbrauchergesundheit als auch der Umwelt enthalten.

5.   Internationale Zusammenarbeit

5.1.

Die Kommission ermutigt die europäischen Normungsgremien, sich weltweit für die Förderung internationaler und europäischer Normen einzusetzen, um die europäische Industrie zu unterstützen und den Marktzugang zu erleichtern.

5.2.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das mit Kanada ausgehandelte CETA-Abkommen in den Mitgliedstaaten umstritten ist und die TTIP-Verhandlungen noch laufen, muss die Bedeutung von Normen im internationalen Handelsverkehr kontinuierlich herausgestellt werden.

5.2.1.

Der Dialog mit außereuropäischen Partnern (China, Indien usw.) sollte nicht nur den Vorteil des Abbaus technischer Handelshemmnisse mit sich bringen, sondern auch zur Verbreitung des europäischen Normungssystems, zum Informationsaustausch zwischen den europäischen und den nationalen Normungsorganisationen und zur Umsetzung der ISO/IEC-Normen, sowie in Branchen, in denen die internationale Normung nicht ausreichend ist bzw. fehlt, zur Entwicklung und Umsetzung der europäischen Normen beitragen.

6.   Normung als Innovationsförderung

6.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, Normungsvorhaben durch die Forschung zu unterstützen und wissenschaftliche Erkenntnisse in Normen zu gießen.

6.2.

Der Dialog zwischen Forschungseinrichtungen und den technischen Ausschüssen CEN und Cenelec im Rahmen des Programms Horizont 2020 sollte zu einer Stärkung der Innovationskraft führen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 81, Stellungnahme zum Thema „Europäische Normung für das 21. Jahrhundert“ (INT/794, ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 86) und Stellungnahme zur „IKT-Normung für den digitalen Binnenmarkt“ (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 92).

(2)  Stellungnahme INT/794 zu den Europäischen Normen für das 21. Jahrhundert (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 86).

(3)  Gegenstand der Mitteilung der Kommission COM(2016) 176 final vom 19.4.2016, zu der der EWSA eine Stellungnahme erarbeitet hat (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 92).


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/44


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte im Hinblick auf den Geltungsbeginn“

(COM(2016) 709 final — 2016/0355 (COD))

(2017/C 075/08)

Hauptberichterstatter:

Daniel MAREELS

Befassung

Rat, 17.11.2016

Europäisches Parlament, 21.11.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Beschluss des Präsidenten

17.11.2016, Artikel 57 (Dringlichkeitsverfahren)

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) kann unter den im Folgenden dargelegten Umständen und Bedingungen dem Vorschlag der Kommission zustimmen, das Inkrafttreten der PRIIP (1)-Verordnung um ein Jahr bis zum 1. Januar 2018 aufzuschieben.

1.2.

Die PRIIP-Verordnung umfasst Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes von Privatkunden und Anlegern und zur Wiederherstellung des Vertrauens der Verbraucher in die Finanzdienstleistungsbranche durch Erhöhung der Transparenz auf dem Markt für Kleinanleger. Die Entwickler von verpackten Anlageprodukten für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukten (PRIIP) werden zur Erstellung eines Basisinformationsblatts (KID (2)) verpflichtet.

1.3.

Der Aufschub wird auf Ersuchen des Europäischen Parlaments und einer Mehrheit der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, nachdem das Parlament am 14. September 2016 einen „delegierten Rechtsakt“ (3) der Kommission zu PRIIP abgelehnt hatte. Mit diesem delegierten Rechtsakt sollten auf der Grundlage der Entwürfe der gemeinsamen Kontrollinstanzen der EU technische Regulierungsstandards für das Basisinformationsblatt für PRIIP festgelegt werden.

1.4.

Bereits früher hat sich der EWSA in einer Stellungnahme (4) positiv zur Einführung von PRIIP geäußert und die Bedeutung eines Rechtsaktes betont, der zum ersten Mal alle Arten komplexer Finanzprodukte regelt und deren Vergleichbarkeit unabhängig vom Entwickler (Banken, Versicherungen oder Investmentgesellschaften) gewährleistet.

1.5.

Gleichzeitig plädierte der EWSA für die Schaffung eines einheitlichen Finanzmarktes in diesem Bereich, auf dem klare, präzise, einfache und vergleichbare Informationen geboten werden, sowie für ein einheitliches, vereinfachtes und standardisiertes Informationssystem, das einen Vergleich und ein besseres Verständnis der Informationen ermöglicht, wodurch Transparenz und Effizienz des Marktes gesteigert werden (5).

1.6.

Sollte die Entscheidung gegen den Aufschub ausfallen, dann würde das nach Auffassung des EWSA möglicherweise die wichtigsten in diesem Bereich angestrebten Ziele (siehe weiter oben und weiter unten) gefährden, was äußerst unerwünscht wäre. Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass sich die in der PRIIP-Verordnung vorgesehene Verbesserung der Transparenz und die stärkere Harmonisierung bei der obligatorischen Bereitstellung von Informationen positiv auf den Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen auswirken, da auf diese Weise gleiche Wettbewerbsbedingungen für verschiedene Produkte und Vertriebskanäle geschaffen werden. Und somit wird diese Regelung nicht nur Privatkunden und Anlegern zugutekommen, sondern auch dazu beitragen, dass sich das Vertrauen der Verbraucher in die Finanzdienstleistungsbranche weiter erholt. Zudem hätte die Ablehnung des delegierten Rechtsakts weniger als vier Monate vor dem Inkrafttreten der Texte zu Rechtsunsicherheit bei den Marktteilnehmern und zu sehr schwerwiegenden Probleme bei der Umsetzung geführt.

1.7.

Den Zeitraum von einem Jahr hält EWSA aus den gleichen Gründen vertretbar, umso mehr als das Inkrafttreten der Verordnung dann mit dem der neuen MiFID-II-Regelung zusammenfällt. Nach Ansicht des EWSA muss dieser Aufschub eine einmalige Ausnahme bleiben und die Zwischenzeit dazu genutzt werden, den endgültigen delegierten Rechtsakt möglichst rasch festzulegen und zu veröffentlichen. Es gilt in der Tat, so rasch wie möglich Klarheit und Sicherheit zu schaffen, sowohl für die Marktteilnehmer als auch für Privatkunden und Anleger.

1.8.

Für den EWSA dürfen die Ziele und Errungenschaften der PRIIP-Verordnung dabei nicht gefährdet werden. Daher müssen mögliche Anpassungen des delegierten Rechtsakts in diesem Rahmen stattfinden. Dies gilt umso mehr, als die PRIIP-Verordnung bereits nach einem Jahr überprüft wird und mögliche Fragen zu diesem Zeitpunkt unter Berücksichtigung der ersten praktischen und aufsichtsrechtlichen Erfahrungen aufgeworfen werden können. Die vorgenannten Anpassungen sollten von Anfang an zur effektiven Stärkung des Verbrauchervertrauens beitragen. Gleichzeitig müssen sie mit den in der künftigen MiFID-Regelung vorgesehenen Bestimmungen in Einklang stehen.

2.   Hintergrund

2.1.

Mit der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates (PRIIP-Verordnung) (6) werden Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz auf dem Markt für Kleinanleger eingeführt. Insbesondere werden die PRIIP-Entwickler durch diese Verordnung verpflichtet, ein Basisinformationsblatt zu erstellen.

2.2.

Diese Verordnung gewährt den Europäischen Aufsichtsbehörden (7) die Befugnis, technische Regulierungsstandards (RTS) auszuarbeiten, um die Bestandteile des Basisinformationsblatts zu präzisieren.

2.3.

Nachdem die Aufsichtsbehörden ihre gemeinsamen Entwürfe dieser Standards an die Kommission weitergeleitet hatten, hat diese Ende Juni 2016 den delegierten Rechtsakt für die konkrete Umsetzung der technischen Regulierungsstandards erlassen.

2.4.

Das Europäische Parlament hat in einer Entschließung vom 14. September 2016 (8) Einwände gegen den von der Kommission erlassenen delegierten Rechtsakt erhoben. Das Parlament ersuchte die Kommission, die Bestimmungen über PRIIP, die mehrere Optionen bieten (MOP), Performance-Szenarien und den Warnhinweis zu prüfen.

2.5.

Zudem forderten das Europäische Parlament und eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten, den Geltungsbeginn der Verordnung aufzuschieben.

2.6.

Laut dem vorliegenden Vorschlag für eine Verordnung soll der Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesamten Regelung um ein Jahr, bis zum 1. Januar 2018, aufgeschoben werden.

3.   Bemerkungen und Kommentare

3.1.

Ganz allgemein sollen Privatkunden und Anleger, die in PRIIP investieren, durch diese Verordnung besser geschützt werden. Die vorgesehene Erhöhung der Transparenz und die stärkere Harmonisierung bei der obligatorischen Bereitstellung von Informationen wirken sich auch positiv auf den Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen aus, da auf diese Weise gleiche Wettbewerbsbedingungen für verschiedene Produkte und Vertriebskanäle geschaffen werden. So wird sich auch das Vertrauen der Verbraucher in die Finanzdienstleistungsbranche weiter erholen.

3.2.

Um diese Ziele zu erreichen, wird gefordert, dass PRIIP-Entwickler einheitliche Anforderungen an die Offenlegung erfüllen und Kleinanleger das Basisinformationsblatt zu den angebotenen PRIIP erhalten. Dadurch müssen Kleinanleger den wirtschaftlichen Charakter und die Risiken eines bestimmten Produkts besser verstehen und zwischen verschiedenen Angeboten vergleichen können.

3.3.

In der ursprünglichen Fassung der Verordnung ist vorgesehen, dass sie bis Ende 2016 in Kraft tritt. Diese Frist gilt grundsätzlich auch für die „Durchführungsbestimmungen“, die die Kommission Mitte dieses Jahres auf der Grundlage der von den Europäischen Aufsichtsbehörden entworfenen technischen Regulierungsstandards in einem delegierten Rechtsakt festgelegt hat. Mit den technischen Regulierungsstandards werden die Darstellung und der Inhalt des Basisinformationsblätter, das Standardformat der Basisinformationsblatts, die Methodik für die Darstellung von Risiko und Rendite und zur Berechnung der Kosten, die Bedingungen und die Mindesthäufigkeit der Überprüfung der Informationen im Basisinformationsblatt sowie die Bedingungen für die Bereitstellung des Basisinformationsblatts für Kleinanleger präzisiert.

3.4.

Während der Rat im Prüfungszeitraum keine Einwände gegen den delegierten Rechtsakt der Kommission erhob, lehnte das Europäische Parlament diesen Text in seiner Entschließung vom 14. September 2016 (9) ab.

3.5.

Obwohl die Verordnung bis Ende 2016 unmittelbar anwendbar ist und die Erstellung eines Basisinformationsblatts nicht an den Erlass des delegierten Rechtsakts gekoppelt ist, hat das EP gleichzeitig den Aufschub des Inkrafttretens der PRIIP-Verordnung gefordert. Auch eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten forderte einen Aufschub. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass das Fehlen technischer Standards die reibungslose Anwendung der Verordnung behindert.

3.6.

Der EWSA stimmt dem Aufschub des Inkrafttretens der Verordnung unter den gegebenen Umständen grundsätzlich zu. Andernfalls hätte die Gefahr bestanden, dass die wichtigsten angestrebten Ziele (siehe weiter oben und weiter unten) nicht oder nur unzureichend verwirklicht werden können. Zudem erfolgte die Ablehnung des delegierten Rechtsakts weniger als vier Monate vor dem Inkrafttreten der Texte, was zu Rechtsunsicherheit bei den Marktteilnehmern und zu sehr schwerwiegenden Problemen bei der Umsetzung geführt hätte.

3.7.

Im Übrigen verweist der EWSA auf eine frühere Stellungnahme zu PRIIP (10), in der er sich positiv zu den entsprechenden Vorschlägen und dem eingeschlagenen Weg geäußert hat. Bei dieser Gelegenheit betonte der EWSA die Bedeutung eines Rechtsaktes, der zum ersten Mal alle Arten komplexer Finanzprodukte regelt und deren Vergleichbarkeit unabhängig vom Produktentwickler (Banken, Versicherungen oder Investmentgesellschaften) gewährleistet.

3.8.

Außerdem plädierte der EWSA für die Schaffung eines einheitlichen Finanzmarktes in diesem Bereich, auf dem klare, präzise, einfache und vergleichbare Informationen geboten werden (11), sowie für ein einheitliches, vereinfachtes und standardisiertes Informationssystem, das einen Vergleich und ein besseres Verständnis der Informationen ermöglicht, wodurch Transparenz und Effizienz des Marktes gesteigert werden (12). Der EWSA fügt nunmehr hinzu, dass die künftigen technischen Regulierungsstandards von Anfang an zur effektiven Stärkung des Verbrauchervertrauens beitragen sollten. Folglich muss klar sein, welche Produkte komplex sind, die Verbraucher müssen eine fundierte Entscheidung treffen können, und die Kosten- und Renditeaspekte müssen zur Sprache kommen. Um Widersprüche zu vermeiden, gilt es hier, den in der künftigen MiFID-Verordnung (13) vorgesehenen Bestimmungen Rechnung zu tragen.

3.9.

Ferner hält der EWSA den Zeitraum von einem Jahr vertretbar, sofern dieser Aufschub eine einmalige Ausnahme bleibt und diese Zeit dazu genutzt wird, den endgültigen delegierten Rechtsakt festzulegen und zu veröffentlichen. Dies sollte möglichst rasch geschehen, um so bald wie möglich Klarheit und Rechtssicherheit für Marktteilnehmer, Privatkunden und Anleger zu schaffen.

3.10.

Im Übrigen fällt bei einem Zeitraum von einem Jahr das Inkrafttreten der PRIIP wieder mit dem Inkrafttreten der MiFID-II-Verordnung (14) zusammen, die ebenfalls den Verbrauchern zugutekommt. Auch das Inkrafttreten der MiFID-II-Verordnung wurde bereits um ein Jahr aufgeschoben (15), und der EWSA hat dem zugestimmt (16).

3.11.

Dabei dürfen die ursprünglich anvisierten Ziele, die vom EWSA gebilligt wurden, nicht gefährdet werden. Daher ist bei möglichen Anpassungen des delegierten Rechtsakts der derzeit für die PRIIP geltende Rahmen zu berücksichtigen.

3.12.

Im Übrigen scheint es ggf. eher angezeigt, die Überprüfung der PRIIP-Verordnung abzuwarten, die durch den derzeit vorgeschlagenen Aufschub des Inkrafttretens der Verordnung bereits ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten stattfinden wird (17). Dabei kann den ersten praktischen und aufsichtsrechtlichen Erfahrungen Rechnung getragen werden.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „PRIIP“ ist die Abkürzung für den englischen Begriff „Packaged Retail and Insurance-based Investment Products“. Auf Deutsch sind das „verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte“.

(2)  KID ist die Abkürzung des englischen Begriffs „key information document“. Der deutsche Begriff ist „Basisinformationsblatt“.

(3)  Delegierte Rechtsakte wurden durch den Vertrag von Lissabon eingeführt. Gemäß Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union kann der Kommission durch den Gesetzgeber (zumeist das Europäische Parlament und der Rat) die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen.

So lassen sich mit delegierten Rechtsakten neue (nicht wesentliche) Vorschriften hinzufügen bzw. später Änderungen bestimmter Aspekte eines Gesetzgebungsaktes vornehmen. Auf diese Weise kann sich der Gesetzgeber auf die politische Ausrichtung und die Ziele konzentrieren, ohne zu sehr ins Detail zu gehen oder extrem technische Debatten zu führen.

Die Übertragung der Befugnis, delegierte Rechtsakte zu erlassen, unterliegt jedoch strengen Beschränkungen. Nur der Kommission kann die Befugnis übertragen werden, delegierte Rechtsakte zu erlassen. Zudem können wesentliche Vorschriften eines Bereichs nicht Gegenstand einer Befugnisübertragung sein. Außerdem müssen in dem betreffenden Gesetzgebungsakt Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung festgelegt sein. Schließlich muss der Gesetzgeber ausdrücklich die Bedingungen für die Übertragung in den Rechtsakt aufnehmen. Im Hinblick darauf können Parlament und Rat das Recht geltend machen, die Übertragung zu widerrufen oder Einwände gegen den delegierten Rechtsakt zu erheben. Siehe http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=URISERV%3Aai0032.

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA (ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 59, Ziffer 1.2).

(5)  Ebenda, Ziffern 3.2 und 2.3.

(6)  Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP) (ABl. L 352 vom 9.12.2014, S. 1).

(7)  Gemeint sind die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung und die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde.

(8)  Siehe http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2016-0347+0+DOC+XML+V0//DE.

(9)  In der Entschließung werden folgende Gründe für die Ablehnung des delegierten Rechtsakts angeführt:

„A.

in der Erwägung, dass es ungemein wichtig ist, dass Verbraucherinformationen über Anlageprodukte vergleichbar sind, um gleiche Wettbewerbsbedingungen am Markt zu fördern, und zwar ungeachtet dessen, von welcher Art Finanzintermediär sie entwickelt und vermarktet werden;

B.

in der Erwägung, dass es einer Irreführung der Investoren gleichkäme, das Kreditrisiko aus der Berechnung der Einstufung des Risikos von Versicherungsprodukten auszunehmen;

C.

in der Erwägung, dass die Behandlung von Produkten, die mehrere Optionen bieten, insbesondere in Verbindung mit der expliziten Ausnahme von OGAW-Fonds gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014, nach wie vor geklärt werden muss;

D.

in der Erwägung, dass die Methode, die in dem von der Kommission erlassenen delegierten Rechtsakt zur Berechnung künftiger Performance-Szenarien herangezogen wird, nicht frei von Fehlern ist und der Rechtsakt daher nicht der Anforderung gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 genügt, wonach Informationen bereitgestellt werden müssen, die ‚richtig, redlich und klar sind und […] nicht in die Irre führen‘ und ihm vor allem bei einzelnen PRIIP nicht einmal im ungünstigen Szenario und bei Produkten, die in der empfohlenen Mindesthaltedauer regelmäßig Verluste erwirtschaften, nicht zu entnehmen ist, dass Investoren Verluste erleiden könnten;

E.

in der Erwägung, dass in Ermangelung genauer Anweisungen in dem delegierten Rechtsakt für den ‚Warnhinweis‘ die ernste Gefahr besteht, dass dieses Element des Basisinformationsblatts im Binnenmarkt uneinheitlich umgesetzt wird;

F.

in der Erwägung, dass das Parlament es nach wie vor für geboten hält, den Zeitpunkt, zu dem der Warnhinweis zum Einsatz kommt, im Rahmen eines zusätzlichen Mandats zur Einführung technischer Regulierungsstandards weiter zu standardisieren;

G.

in der Erwägung, dass zu befürchten ist, dass die in der delegierten Verordnung festgelegten Vorschriften — sollten sie nicht geändert werden — dem Sinn und Zweck der Rechtsvorschriften, nämlich klare, vergleichbare, verständliche und nicht in die Irre führende Informationen über PRIIP für Kleinanleger bereitzustellen, entgegenstehen;

H.

in der Erwägung, dass das Verhandlungsteam des Parlaments die Kommission in seinem Schreiben vom 30. Juni 2016, das ihr von dem Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaft und Währung übermittelt wurde, aufgefordert hat, zu prüfen, ob die Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 erst zu einem späteren Zeitpunkt umgesetzt werden sollte“.

(10)  Siehe die in Fußnote 4 genannte Stellungnahme, Ziffer 1.2.

(11)  Ebenda, Ziffer 3.2.

(12)  Ebenda, Ziffer 2.3.

(13)  Siehe Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 349).

(14)  Die neue MiFID-II-Regelung wird am 3. Januar 2018 in Kraft treten, zwei Tage nach dem im vorliegenden Änderungsvorschlag vorgesehenen Inkrafttreten der neuen PRIIP-Regelung.

(15)  Siehe den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 über Märkte für Finanzinstrumente, der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 über Marktmissbrauch und der Verordnung (EU) Nr. 909/2014 zur Verbesserung der Wertpapierlieferungen und -abrechnungen in der Europäischen Union und über Zentralverwahrer in Bezug auf bestimmte Daten (COM(2016) 57 final — 2016/0034 (COD)).

(16)  Der EWSA hat den Aufschub des Inkrafttretens der MiFID-II-Verordnung in einer Stellungnahme befürwortet, siehe ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 91.

(17)  Siehe Artikel 33 der PRIIP-Verordnung, der durch den hier erörterten Vorschlag nicht geändert wird. In diesem Artikel ist eine Überprüfung der Verordnung „bis zum 31. Dezember 2018“ vorgesehen.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/48


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 345/2013 über Europäische Risikokapitalfonds und der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum

(COM(2016) 461 final)

(2017/C 075/09)

Berichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Mitberichterstatter:

Michael IKRATH

Befassung

Rat der Europäischen Union, 27.7.2016

Europäisches Parlament, 12.9.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

12.7.2016

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

117/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Anstrengungen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten der letzten Jahre zur Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation. Gleichwohl kann er nicht umhin, von den EU-Organen mehr Entschlossenheit bei der Festlegung und Umsetzung einer umfassenden Strategie zur Finanzierung der Realwirtschaft zu verlangen.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA muss gewährleistet werden, dass die europäischen Investitionen in erster Linie der Realwirtschaft zugutekommen, die sich durch Innovationsfähigkeit, Wachstum und soziale Verantwortung auszeichnet.

1.3.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Die Sicherstellung eines befriedigenden Finanzierungszuganges für KMU und schnell wachsende Unternehmen ist daher eine entscheidende Voraussetzung sowohl für die Entwicklung dieser Unternehmen als auch für Innovationen, wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, Sicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und Wahrnehmung sozialer Verantwortung. In der EU stellt die Kreditfinanzierung die wesentliche Finanzierungsquelle für KMU dar. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, neue Felder des Wachstums zu entwickeln und Europa in die Position des Innovation Leaders zu bringen, ist es erforderlich, neue Finanzierungswege zur Unterstützung von Start-ups, innovativen KMU und rasch wachsenden Unternehmen (Scale-ups) zu realisieren.

1.4.

Der EWSA spricht sich für den Ausbau der Europäischen Risikokapitalfonds (EuVECA) und der Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF) aus und weist darauf hin, dass dabei der Anlegerschutz gewährleistet werden muss.

1.5.

Der EWSA ist daher überzeugt, dass die traditionelle Kreditfinanzierung der unter Ziffer 1.2 angeführten Unternehmen der Ergänzung durch alternative Finanzierungsmethoden wie Venture Capital, Crowdfunding, Private Equity usw. bedarf. Daher muss die EU konkrete und konsequente Maßnahmen setzen, um einerseits den Banken wieder zu ermöglichen, ihre Kernaufgabe der Finanzierung der Realwirtschaft zu erfüllen, und um andererseits die Möglichkeiten der Eigenmittel- und Kapitalmarkt-Finanzierung wesentlich zu verbessern und die diesbezüglich bestehenden Hindernisse im Zuge der Errichtung der Kapitalmarktunion abzubauen.

1.6.

Der EWSA begrüßt und unterstützt daher die Initiative der Europäischen Kommission, die Überprüfung der Verordnungen über Europäische Risikokapitalfonds (EuVECA) und Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF) vorzuziehen.

1.7.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass durch das Instrument der Verordnung die Gefahr unterschiedlicher Auslegungen auf nationaler Ebene tendenziell begrenzt und dadurch die Schaffung einer Kapitalmarktunion gefördert werden kann. Er spricht sich außerdem dafür aus, die auf nationaler Ebene bestehenden Unterschiede bei der Auslegung auszuräumen.

1.8.

Der EWSA fordert die Europäische Union zudem auf, sich für die Stärkung der Synergien zwischen den Zielen der Strategie Europa 2020 wie etwa der Digitale Binnenmarkt und der Energieunion/COP21 und den 17 Zielen der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen, um langfristige Investitionen mit hoher Wirksamkeit auszustatten. Die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration zur Sicherung globaler Wettbewerbsfähigkeit der EU muss auch bei allen Investitionsstrategien erste Priorität haben.

1.9.

Der EWSA stellt fest, dass Teile der Finanzwirtschaft statt in die Realwirtschaft zu veranlagen, alternative Investitionsziele vorziehen. Diese sind vielfach zugunsten einer RoI-Maximierung mit einem erheblichen Spekulationsrisiko verbunden. Hierzu tragen auch Eigenkapitalregularien der europäischen Banken bei, die Wertpapierinvestitionen insbesondere in Staatsanleihen gegenüber Kreditfinanzierungen von Unternehmen deutlich begünstigen. Es ist zudem festzuhalten, dass die EU-Gesetzgebung bisher beängstigend wenig zur Regulierung der rein spekulativ tätigen Finanzunternehmungen (Hedge Fonds, Schattenbanken) getan hat. Daher empfiehlt der EWSA den EU-Organen, produktive Investitionen in die Realwirtschaft entschlossen zu begünstigen, und Finanzspekulationen mit hohem Risikoprofil entgegenzuwirken. Aktuelles Beispiel dieser Entwicklung: beim diesjährigen IMF Meeting in Washington war die Finanzierung der Green Economy„Green Finance“ zentrales Thema. Die Chinesen haben dieses neue Feld bereits früh erkannt und auch im Rahmen ihrer G20-Präsidentschaft forciert. Die EU ist daher angehalten, auch hier im Rahmen von EuVECA/EuSEF Maßnahmen zu treffen, die die Finanzierung von Green Economy (in Folge von COP21) forcieren und stärken, um frühzeitigen Finanzspekulationen auf diesem Gebiet entgegenzutreten (green finance) (1).

1.10.

Im konkreten Fall der gegenständlichen Verordnung weist der EWSA darauf hin, dass es auf EU-Ebene mittlerweile eine Vielzahl von substanziellen Finanzierungsquellen gibt, wie etwa InnovFin unter Horizont 2020, COSME oder EaSI, um nur die wichtigsten neben ESIF oder EFSI anzuführen. Der EWSA erwartet daher, dass im Zuge der Neuausrichtung von EuVECA und EuSEF eine enge Koordinierung erfolgt. Es ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die bis dato sehr eingeschränkten Zugangskriterien ebenso wie andere restriktive Bedingungen durch die Kommission wesentlich gelockert werden, um die Wirksamkeit der Fonds im Sinne der Zielsetzung deutlich zu verbessern. Ein hohes Maß an Flexibilität hat Leitlinie zu sein.

1.11.

Der EWSA hofft, dass die Überarbeitung auch zu Änderungen der Kreditregularien der Basel-III-Vereinbarungen führen wird, damit neben dem sogenannten Faktor zur Unterstützung von KMU (SME Supporting Factor) auch noch ein Faktor zur Unterstützung von Sozialunternehmen (Social Enterprises Supporting Factor) eingeführt wird. Damit sollen die Eigenmittelanforderungen für das Kreditrisiko bei einem finanziellen Engagement in Sozialunternehmen gesenkt werden können.

1.12.

Um die Beteiligung an solchen Investitionsfonds auszuweiten, regt der EWSA an, die Einrichtung von „Dachfonds“ zu ermöglichen. Diese könnten zur Steigerung des Engagements nichtinstitutioneller Anleger — auch in Form von Interessensverbänden — beitragen, indem mit öffentlichen Mitteln unterstützte und auf europäischer Ebene verwaltete „Garantiefonds“ geschaffen werden. Solche Fonds sollten Investitionen in Unternehmen und Institutionen mit starker sozialer Ausrichtung unterstützen.

1.13.

Ebenso wichtig erscheint es dem EWSA, Rahmenbedingungen zu schaffen, in welchen sich die Finanzierungsziele sozialer Investmentfonds wie etwa Social Enterprises (SE) und Social Sector Organisation (SSO) positiv entwickeln können. Dies verlangt die Beseitigung solcher Hindernisse, die es diesen Akteuren massiv erschweren, in einem „level market environment“ zu operieren. Insbesondere bedarf es innovativer Instrumente, die es dem öffentlichen Sektor ermöglichen, in Geschäftsverbindung mit SE/SSO sozial ausgerichtete Initiativen zu setzen.

1.14.

Weiters fordert der EWSA im Sinne der Stellungnahme TEN/584 „Potenzial von E-Senioren“ im Zuge des EuVECA wie auch des EuSEF den Finanzierungszugang für die sogenannte „Silver Economy“ zu erleichtern. Dies hat auch in weiterer Folge positive Auswirkungen auf die Haushalte der einzelnen Länder, in dem das Pensionssystem durch aktive ältere Unternehmensgründer/-innen entlastet wird. Es entsteht eine neue Wertschöpfungskette, die für den Staat neue Einnahmequellen erschließt. Dies gilt ebenso für Frauen (2) als Unternehmerinnen und Gründerinnen von Start-ups, Social Entrepreneurs usw.

2.   Wesentlicher Gegenstand des Kommissionsvorschlages

2.1.

Der Vorschlag verfolgt das Ziel, die EuVECA- und EuSEF-Fonds mit den Maßnahmen abzustimmen, die auf EU-Ebene bereits zur Stimulierung des Wirtschaftsaufschwungs unternommen wurden (d. s. Investitionsoffensive für Europa, Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, Europäischer Fonds für strategische Investitionen).

2.2.

Der Kommission zufolge ist der Zugang zu Risikokapital und Kapital für soziales Unternehmertum der Schlüssel, um das Wachstum von EU-Start-ups, innovativen KMU und sozialen Unternehmen zu finanzieren.

2.3.

Allerdings fällt die EU in Bezug auf den Wagniskapitalmarkt weiter hinter den USA zurück, statt den Rückstand aufzuholen.

2.4.

Daher ändert die Kommission den Rahmen des EuVECA und des EuSEF schon vor der ursprünglich geplanten Überprüfung (2017), um zu gewährleisten, dass sie — in Abstimmung mit anderen Maßnahmen — verstärkt zur Unterstützung von Risikokapital und sozialen Investitionen in der gesamten EU beitragen.

2.5.

Der Änderungsvorschlag konzentriert sich auf folgende Bestimmungen: i) wie die Fonds in Vermögenswerte investieren; ii) die Art und Weise, wie die Fondsmanager die Fonds verwalten; iii) wie beide Verordnungen mit anderen bestehenden Investmentfondsgesetzen zusammenwirken; iv) die Anforderungen, die die Fonds erfüllen müssen, um den grenzüberschreitenden Pass zu nutzen.

2.6.

Der Vorschlag der Kommission basiert auf Artikel 114 AEUV und stützt sich auf eine umfangreiche Folgenabschätzung (3).

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission, die Überprüfung der Verordnungen über Europäische Risikokapitalfonds (EuVECA) und Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF) vorzuziehen; zu beiden hat er sich bereits anlässlich der ersten Vorschläge für ihre Einführung im Jahr 2012 in seinen Stellungnahmen „Europäische Risikokapitalfonds“ (4) und „Europäische Fonds für soziales Unternehmertum“ (5) positiv geäußert. Dies insbesondere auch im Lichte des „EU-Aktionsplanes zur Schaffung einer Kapitalmarktunion“ (6).

3.2.

Der EWSA befürwortet und unterstützt das Bestreben, die Finanzierung neuer Unternehmen zu forcieren. Zielgruppe sind KMU, vor allem Start-ups, EPU, mit Innovationskraft. Diese nicht nur in der Startphase, sondern vor allem in der zweiten und dritten Wachstumsphase. Im Besonderen müssen jene KMU den Fokus bilden, die schnell wachsen können, aber für den Kapitalmarkt zu klein sind und für Kredite die Kriterien nicht erfüllen. Ebenso wichtig ist eine Schwerpunktsetzung auf Unternehmen mit gesellschaftlicher Zielsetzung und nachhaltigem Geschäftsmodell (Social Entrepreneur).

3.3.

Der EWSA erachtet es für notwendig, dass die EU-Organe und die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Entwicklung von Kapitalisierungs-, Investitions- und Finanzierungsinstrumenten für unternehmerische Tätigkeiten setzen, die der Ergänzung von Bankkrediten dienen. Gleichwohl muss eingeräumt werden, dass zahlreiche europäische Banken — insbesondere die regionalen Banken wie Genossenschaften und Sparkassen in den Mitgliedstaaten — Maßnahmen zur Unterstützung neuer Unternehmen ergriffen haben und zu den wichtigsten Geldgebern für Social Entrepreneurs und für innovative Start-up-Unternehmen zählen (7).

3.4.

Es ist jedoch festzustellen, dass häufig nicht nur KMU, sondern auch Social Entrepreneurs und Start-ups über eine zu geringe Kapitalausstattung verfügen. Daher ist es ihnen nicht möglich, die insbesondere durch CRD IV/CRR extrem verschärften Bonitätskriterien für Bankkredite zu erfüllen. Diesem unbefriedigenden Zustand droht eine weitere Verschärfung durch Basel IV.

3.5.

In diesem Zusammenhang ist der EWSA der Ansicht, dass die Aktualisierung der EuVECA- und EuSEF-Verordnungen sinnvoll, aber nicht die einzige notwendige Maßnahme ist. Neben der Verbesserung dieser Verordnungen müssen weitere Schritte unternommen werden, um eine dynamischere Investitionskultur zu schaffen, die auf alle derzeit auf dem Markt vertretenen Unternehmensformen ausgerichtet ist. Dies stärkt einerseits das Unternehmertum und hilft andererseits, die soziale Säule der EU zu verwirklichen.

3.6.

Kritisch ist festzustellen, dass ein Teil der Finanzwelt keinerlei Interesse an der nachhaltigen Finanzierung der Realwirtschaft hat, sondern ausschließlich dort investiert, wo unmittelbar eine hohe Rendite erzielt werden kann, und dies häufig in einem sehr kurzen Zeitraum wie beispielsweise zwischen dem Kauf und dem Weiterverkauf von Unternehmen. Die EU-Organe haben wenig unternommen, um die Auswirkungen derartiger rein spekulativer Investitionsfonds/-banken (Hedgefonds, Schattenbanken) zu begrenzen und einem konsequenten Regulierungsregime zu unterziehen.

3.7.

Die EU-Institutionen sollten Investitionen in unternehmerische Tätigkeiten der Realwirtschaft — und nicht nur in Finanzinstrumente — auch mittels Anreizen immer interessanter machen und eine ehrgeizige Entwicklungsagenda vorlegen.

3.8.

Wie die Kommission ist der EWSA der Meinung, dass durch die weitere Entwicklung des EuVECA- und EuSEF-Fonds innovative Unternehmen und Social Entrepreneurs sowie KMU überhaupt einen Zugang zu Bankkrediten erhalten und die Finanzierung durch Kredite und Risikokapital im Sinne einer positiven Hebelwirkung miteinander kombiniert werden können. Der EWSA empfiehlt die Entwicklung eines „European way of Venture capital fundings“.

3.9.

Bei der Analyse des Europäischen Risikokapitalfonds ist darüber hinaus festzustellen, dass acht der elf aktivsten Fonds aus öffentlichen Mitteln oder jedenfalls unter erheblicher Beteiligung öffentlicher Einrichtungen unterstützt werden, wobei sich die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich verhalten. Der EWSA empfiehlt daher, zentrale europäische Projekte, wie den Aktionsplan für den digitalen Binnenmarkt, für die Energieunion wie auch die Etablierung der sozialen Säule der EU bei der Ausrichtung des Fonds zu berücksichtigen.

3.10.

Es ist geboten, die Neuausrichtung der EuVECA- und EuSEF-Maßnahmen rasch mit folgenden Instrumenten zu koordinieren: a) dem Europäischen Investitionsfonds; b) der Initiative für die Kapitalmarktunion; c) dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen (der immer mehr an Bedeutung gewinnt, jedoch von den nationalen Wirtschafts- und Bankensystemen, die sein Potenzial noch nicht voll ausschöpfen, vielleicht stärker berücksichtigt werden sollte).

3.11.

Der Vorschlag zur Überprüfung der EuVECA- und EuSEF-Verordnungen trägt zur Verwirklichung eines zentralen Ziels der EU-Politik bei: die Möglichkeiten für den Zugang von KMU und Sozialunternehmen zu Krediten zu verbessern. Der EWSA ist daher der Überzeugung, dass die diesbezüglichen Kreditregularien der Basel-III-Vereinbarung, die in der EU durch eine Richtlinie (CRD 4) und eine Verordnung (CRR) umgesetzt werden, geändert werden müssen; dabei muss neben dem sogenannten Faktor zur Unterstützung von KMU („SME Supporting Factor“) auch noch ein Faktor zur Unterstützung von Sozialunternehmen („Social Enterprises Supporting Factor“) in die CRR aufgenommen werden, um die Eigenmittelanforderungen für das Kreditrisiko bei einem finanziellen Engagement in Sozialunternehmen drastisch zu verringern. Es handelt sich um leicht zu ermittelnde Koeffizienten, die keine Kosten für die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten mit sich bringen. Dem EWSA erscheint dies unverzichtbar, da die KMU das Rückgrat der EU-Wirtschaft sind und die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU absichern. Damit sind sie der Schlüssel für Wachstum und Beschäftigung.

3.12.

Es sei daran erinnert, dass in sehr vielen Fällen nicht nur die Unternehmen der Sozialwirtschaft, sondern auch verschiedene KMU durch eine starke Bindung an die lokalen Gemeinwesen gekennzeichnet sind; diese könnten daran interessiert sein, beispielsweise in soziale Einrichtungen oder in die genossenschaftliche Energieversorgung aus erneuerbaren Energieträgern zu investieren (8). Die derzeitige Konfiguration der Verordnungen für die EuVECA- und EuSEF-Fonds gestattet lediglich die Beteiligung professioneller Anleger. Wenn jedoch eine stärkere Ausweitung der Investitionen angestrebt werden soll, ist es nach Ansicht des EWSA wünschenswert, das Spektrum potenziell interessierter Anleger zu erweitern.

3.13.

Unbeschadet der Notwendigkeit, einen angemessenen Anlegerschutz zu gewährleisten, könnte es motivierten, gleichwohl nichtinstitutionellen Anlegern gestattet werden, sich an diesen Fonds zu beteiligen. Es sind bereits alternative Verfahren der „Kapitalbeschaffung“ wie beispielsweise Crowdfunding auf dem Vormarsch, die häufig völlig informell und ohne klare Vorschriften vonstattengehen. Eine moderate Öffnung der EuVECA- und EuSEF-Fonds auch für nichtinstitutionelle Anleger könnte folglich von Interesse sein, wobei sogar die Möglichkeit vorgesehen werden könnte, nichtinstitutionelle Anleger in einheitlichen Gruppen zu organisieren.

3.14.

Begrüßenswert ist auch die Aufmerksamkeit, die Unternehmen mittlerer Größenordnung (mit bis zu 499 Mitarbeitern) geschenkt wird; sie dürfen keinesfalls vernachlässigt werden, damit ihr Wachstum — das oftmals der Entwicklung von Unternehmen geschuldet ist, die ursprünglich als KMU begonnen haben — konsolidiert und nach Möglichkeit weiter gestärkt wird.

3.15.

Das Subsidiaritätsprinzip wird in dem Vorschlag gebührend berücksichtigt; Maßnahmen auf EU-Ebene (statt auf einzelstaatlicher Ebene) mithilfe der EuVECA- und EuSEF-Fonds werden daher begrüßt, um einen harmonisierten Rahmen auf europäischer Ebene zu schaffen, ohne dass die Freiheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich des allgemeinen Ansatzes beim Thema Risikokapital zu stark eingeschränkt wird. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Verordnungsweg. Ein stärker harmonisierter Rahmen könnte die Konzentration von Risikokapital in einigen wenigen Mitgliedstaaten verhindern helfen und zu einer größeren geografischen Ausbreitung und einer verstärkten Wirkung beitragen. Derzeit machen die in Form von Risikokapital getätigten Investitionen nur 0,1 % des BIP der EU aus und konzentrieren sich auf einige wenige Mitgliedstaaten.

3.16.

Den Verwaltern alternativer Investmentfonds nach der Richtlinie 2011/61/EU den Zugang zu EuVECA- und EuSEF-Fonds zu gestatten, erscheint als eine geeignete Lösung, um die Anwendung und die Wirkung dieser Fonds durch einen Querverweis auf bereits bestehende Regelungen auf europäischer Ebene zu realisieren.

3.17.

Die qualitative und quantitative Ausweitung der Zugangsmöglichkeiten der Unternehmen zu den Fonds steht deshalb voll und ganz im Einklang mit dem von der Kommission verfolgten allgemeinen Ansatz zur Stärkung der beiden Fonds.

3.18.

Sinnvoll erscheint auch die Entscheidung, eine Mindestinvestitionsgrenze für den Zugang zu den Fonds beizubehalten. Gleichwohl sollten jedoch Mechanismen für eine Ausweitung der Beteiligung gefördert werden: ein denkbarer Vorschlag würde darin bestehen, die Einrichtung von „Dachfonds“ zu ermöglichen — eine Möglichkeit, die im Übrigen auch in der Analyse der Europäischen Kommission genannt wird, die dem Vorschlag für die Überprüfung dieser Verordnungen beigefügt ist.

3.19.

Sehr lobenswert ist die vorgeschlagene Verringerung der Verwaltungskosten für die Registrierung, insbesondere soweit sie auf die Beseitigung bürokratischer Hindernisse für die volle Entfaltung der von der Kommission geförderten Maßnahmen abzielt, um zu vermeiden, dass die Zugangskosten auf potenziell interessierte Anleger abschreckend wirken. Letztere sollten sich auf das Entwicklungspotential der Unternehmen konzentrieren können, die Zugang zu Risikokapital erhalten, und nicht auf die Kosten des Zugangs zu einem übermäßig komplizierten Systems.

3.20.

Die technische Regulierung bezüglich der Eigenmittel, über die Anleger verfügen müssen, um Zugang zu den Fonds zu erhalten, wird richtigerweise einer technischen Behörde wie der ESMA übertragen. Diese ist am besten in der Lage, ein hochwertiges Regulierungsniveau in einem hochtechnischen Bereich zu gewährleisten. Der EWSA erwartet, dass diese Sekundärregelung für die Durchführung im Dialog mit den Interessenträgern und unter Einbindung der Sozialpartner erfolgen kann, indem diese Gelegenheit erhalten, Bemerkungen und Kommentare zu einer vorläufigen Fassung der Texte einzubringen, u. a. im Hinblick auf die Vereinfachung von mitunter überbordenden Regelungen.

3.21.

Die EuVECA- und EuSEF-Fonds könnten vor allem in den Bereichen Innovation, soziale Innovation und ökologische Nachhaltigkeit im Sinne der laufenden Schwerpunktsetzung der EU-Kommission eine besonders wichtige Rolle bei der Ausrichtung und Einstufung von Investitionen spielen. Sehr sinnvoll könnte in diesem Zusammenhang die Einführung von „Garantiefonds“ zur Unterstützung und Förderung von Investitionen in Bereichen von sehr hohem sozialem, beschäftigungspolitischem und ökologischem Wert sein, die mit öffentlichen Mitteln unterhalten und am besten auf europäischer Ebene verwaltet werden. Der EWSA betont abschließend, dass sich die Europäische Kommission für umfassende entwicklungsfördernde Maßnahmen zur Entfaltung einer übergreifenden und ganzheitlichen Strategie einsetzen muss. Denn die Summe punktueller Maßnahmen ist für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften in einem immer komplexeren globalen Umfeld nicht mehr ausreichend.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  www.blackrock.com/corporate/en-mx/literature/whitepaper/bii-pricing-climate-risk-international.pdf.

(2)  http://www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2013/sdn1310.pdf.

(3)  Der Vorschlag stützt sich auch auf vorangegangene öffentlichen Konsultationen — zu dem Grünbuch zur Schaffung einer Kapitalmarktunion (18. Februar 2015 bis 13. Mai 2015), eine öffentliche Konsultation zur Überprüfung der Verordnung (EU) Nr. 345/2013 und der Verordnung (EU) Nr. 346/2013 (30. September 2015 bis 6. Januar 2016), eine öffentliche Konsultation durch eine Sondierung: EU-Rechtsrahmen für Finanzdienstleistungen (30. September 2015 bis 31. Januar 2016) und einen einschlägigen technischen Workshop (27. Januar 2016).

(4)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 72.

(5)  ABl. C 229, vom 31.7.2012, S. 55.

(6)  ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 17.

(7)  Siehe den Bericht des italienischen Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung, laut dem ein erheblicher Anstieg der von Kleinbanken und insbesondere Genossenschaftsbanken für innovative Start-up-Unternehmen bereitgestellten Finanzmittel zu verzeichnen ist (Zahlenangaben weiter unten im Text).

(8)  In Italien haben beispielsweise die Genossenschaftsbanken (Banche di credito cooperativo — BCC) über ihren nationalen Dachverband das Energiekonsortium „Consorzio BCC Energia“ ins Leben gerufen, an dem über 110 Kreditgenossenschaftsbanken beteiligt sind und das auf dem freien Markt — im Wege der öffentlichen Ausschreibung — mit um 5-10 % geringeren Kosten Energie erwirbt, die ausschließlich aus erneuerbaren Energieträgern erzeugt wird. Die Energie wird nun auch den Genossenschaftsmitgliedern und Kunden (Haushalten, Unternehmen, Kommunalbehörden) der Gemeinwesen angeboten, in denen die jeweiligen Kreditgenossenschaftsbanken aktiv sind.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 99/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Europäische Statistische Programm 2013-2017 im Wege der Verlängerung um den Zeitraum 2018-2020“

(COM(2016) 557 final — 2016/0265(COD))

(2017/C 075/10)

Berichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Befassung

Europäisches Parlament, 15.9.2016

Rat der Europäischen Union, 26.10.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 und Artikel 338 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

221/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt und unterstützt den Vorschlag der Kommission zur Verlängerung des aktuellen Europäischen Statistischen Programms (ESP) um den Zeitraum 2018-2020.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Kommission bevorzugte Option am besten den Anforderungen der Nutzer von statistischen Daten entspricht und zugleich zur Entwicklung von statistischen Produkten beitragen kann, die für die politischen Entscheidungsträger hilfreich sind, da man auf diese Weise über kohärentere statistische Grundlagen verfügen würde, um die politischen Maßnahmen im Rahmen des europäischen Semesters auszuarbeiten.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Verbesserung der bestehenden Erhebungen und die Entwicklung neuer Erhebungen, die erforderlich sind, um die Fortschritte der EU hinsichtlich der 17 Ziele und der 169 Zielsetzungen der Strategie für nachhaltige Entwicklung der UN zu messen, eine Priorität für das Europäische Statistische System (ESS) darstellen müssen.

1.4.

Der EWSA kommt auf einen früheren Vorschlag (1) zurück und empfiehlt der Kommission, die vorliegende Verordnung als Gelegenheit zu nutzen, um Maßnahmen zur Ausarbeitung von statistischen Erhebungen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu treffen, mit denen sich die Wertschöpfung durch Freiwilligentätigkeit beziffern lässt. Der EWSA hält es für angezeigt, dass die methodologische Herangehensweise auf dem Handbuch der Internationalen Arbeitsorganisation für die Messung der Freiwilligentätigkeit fußen muss.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Rahmen der von der Kommission vorgeschlagenen neuen statistischen Produkte zur Messung der Globalisierung auch statistische Erhebungen vorgenommen werden sollten, mit denen sich die positiven oder negativen Auswirkungen auf den Binnenmarkt — insbesondere auf den europäischen Industrie- und Dienstleistungssektor — messen lassen, wie beispielsweise die Auswirkungen von Standortverlagerungen auf den Arbeitsmarkt der EU oder der Konkurrenzdruck durch unlauteren Wettbewerb aufgrund billiger Arbeitskräfte und der Missachtung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Bereich der Arbeitsbeziehungen.

1.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission hinsichtlich der Einleitung von Forschungsanstrengungen im Hinblick auf eine künftige sozialstatistische Erhebung auf EU-Ebene. Diese Erhebung sollte auch Daten zur Angemessenheit der Systeme der sozialen Sicherheit sowie zur Nachhaltigkeit dieser Systeme im neuen demografischen Kontext umfassen.

1.7.

Im Zusammenhang mit der Zunahme der Migrationsströme empfiehlt der EWSA die rasche Ermittlung und Korrektur der Mängel der statistischen Erhebungen hinsichtlich Migration und Asyl. Das Programm zur Aufnahme der Migrationsstatistiken in Zusammenarbeit mit den nationalen statistischen Ämtern muss umfassend umgesetzt werden.

1.8.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Investitionen für die Entwicklung des ESS zu erhöhen, damit der steigenden Nachfrage nach Daten entsprochen werden und eine schnelle Aufbereitung und Verbreitung der Daten erfolgen kann.

1.9.

Der EWSA wiederholt seine in früheren Stellungahmen (2) geäußerte Forderung, sowohl Eurostat als auch die nationalen statistischen Ämter mit optimalen Personal-, Material- und IT-Ressourcen auszustatten, da dies für die Erfüllung ihres wichtigen und dringlichen Auftrags unverzichtbar ist, innerhalb immer kürzerer Zeit hochwertige statistische Informationen zu erheben und aufzubereiten.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA sollten die Anstrengungen der Kommission und des ESS zur Steigerung der Qualität der statistischen Daten sowie zur Entwicklung von neuen statistischen Produkten nicht dazu führen, dass sich die Verwaltungsbelastung der Datenlieferanten, Haushalte und Unternehmen übermäßig erhöht.

1.11.

Da die Sozialpartner sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung von statistischen Erhebungen leisten können, sodass diese den Anforderungen der Datennutzer besser entsprechen, unterstützt der EWSA den Vorschlag der Kommission hinsichtlich des regelmäßigen Dialogs, der zwischen den Nutzern von statistischen Daten und dem ESS geführt werden sollte.

2.   Der Verordnungsvorschlag der Kommission

2.1.

Mit dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung (3) soll die Verordnung (EU) Nr. 99/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Europäische Statistische Programm 2013-2017 im Wege der Verlängerung um den Zeitraum 2018-2020 geändert werden.

2.2.

Gemäß der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 bildet das Europäische Statistische Programm den Rahmen für die Entwicklung, Erstellung und Verbreitung europäischer Statistiken für einen Zeitraum, der dem des mehrjährigen Finanzrahmens entspricht. Während die Verordnung (EU) Nr. 99/2013 lediglich den Zeitraum 2013 bis 2017 abdeckt, läuft der mehrjährige Finanzrahmen bis 2020. Die Verlängerung des Europäischen Statistischen Programms (ESP) bis 2020 ist daher zwingend erforderlich.

2.3.

Der Vorschlag zielt darauf ab, das ESP auf den Zeitraum 2018 bis 2020 zu erweitern und die finanzielle Unterstützung bereitzustellen, die das ESS benötigt, um:

hochwertige statistische Daten bereitzustellen und die Lücken im Statistikangebot zu schließen, bei denen dies am dringendsten geboten ist, wobei der Schwerpunkt auf einer Reihe von prioritären Bereichen liegen soll, die den zehn politischen Prioritäten der Kommission entsprechen;

die Kapazität auf Dauer aufzubauen, die für eine raschere Reaktion auf neu entstehenden Bedarf erforderlich ist, und die statistische Infrastruktur anzupassen, um das Potenzial neuer Datenquellen zu nutzen; und

die Partnerschaft innerhalb und außerhalb des ESS zur weiteren Verbesserung seiner Produktivität und der Sicherstellung seiner weltweit führenden Rolle in Bezug auf die amtliche Statistik zu intensivieren.

2.4.

Im Anschluss an eine Folgenabschätzung und die Konsultation (4) der Interessenträger hat die Kommission aus den fünf ursprünglich formulierten Optionen ihre bevorzugte Option ausgewählt. Die ausgewählte Option — nämlich die Option 2c — hätte die günstigsten Auswirkungen auf die Aktualität, da neue Maßnahmen zur Erhöhung der Aktualität von Statistiken über Ungleichheit, Armut und materielle Entbehrung sowie von Energie- und Umweltdaten ergriffen würden.

2.5.

Die vorgesehene Mittelausstattung für die weitere Unterstützung des ESS im Zeitraum 2018-2020 beläuft sich auf 218,1 Mio. EUR.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Angesichts der Notwendigkeit der zeitlichen Angleichung des Europäischen Statistischen Programms an den mehrjährigen Finanzrahmen begrüßt und unterstützt der EWSA die Initiative der Kommission, in der eine Verlängerung des aktuellen ESP auf den Zeitraum 2018-2020 vorgeschlagen wird.

3.2.

Die von der Kommission ausgewählte Option zielt auf eine bessere Abstimmung der statistischen Indikatoren auf die zehn politischen Prioritäten der Kommission ab, indem bestehende statistische Instrumente verbessert sowie neue statistische Produkte entwickelt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Option den Anforderungen der Nutzer von statistischen Daten am besten entspricht sowie zugleich zur Entwicklung von statistischen Produkten beitragen kann, die für die politischen Entscheidungsträger hilfreich sind, da man auf diese Weise über kohärentere statistische Grundlagen verfügen würde, um die politischen Maßnahmen im Rahmen des europäischen Semesters auszuarbeiten.

3.3.

Der EWSA begrüßt die Initiative, im Rahmen der neuen statistischen Produkte Erhebungen zur Messung der Fortschritte in Bezug auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN aufzunehmen. Die Verbesserung der bestehenden Erhebungen und die Entwicklung neuer Erhebungen, die erforderlich sind, um die Fortschritte der EU hinsichtlich der 17 Ziele und der 169 Zielsetzungen der Strategie für nachhaltige Entwicklung der UN zu messen, müssen eine Priorität für das Europäische Statistische System sein.

3.4.

Lange Zeit wurde weltweit als statistischer Indikator zur Messung des Entwicklungsniveaus das BIP (Bruttoinlandsprodukt) verwendet. In einer Mitteilung (5) aus dem Jahr 2009 hat die Kommission die Grenzen dieses Indikators bei der Bewertung des Entwicklungsniveaus im gesellschaftlichen Bereich oder im Umweltbereich anerkannt. Der EWSA erinnert an seine Vorschläge aus den damaligen und späteren Stellungnahmen (6), die er vor dem Hintergrund des von der Kommission vorgelegten Vorschlags für eine Verordnung für äußerst relevant erachtet.

3.5.

Der EWSA kommt auf einen früheren Vorschlag (7) zurück und empfiehlt der Kommission, die vorliegende Verordnung als Gelegenheit zu nutzen, um Maßnahmen zur Ausarbeitung von statistischen Erhebungen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu treffen, mit denen sich die Wertschöpfung durch Freiwilligentätigkeit beziffern lässt. Die methodologische Herangehensweise muss auf dem Handbuch der ILO für die Messung der Freiwilligentätigkeit fußen. Dieses Handbuch enthält eine beschreibende Definition, in deren Rahmen drei grundlegende Eigenschaften hervorgehoben werden: Die Freiwilligentätigkeit drückt sich durch Aktivitäten aus, die eine produktive Arbeit beinhalten, unbezahlt sind und freiwillig erfolgen und die nicht dem Haushalt des Freiwilligen zugutekommen.

3.6.

Im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Mitgliedstaaten ist eine bessere Einbeziehung der sozialen und ökologischen Indikatoren erforderlich. Der EWSA fordert die Kommission auf, im Rahmen des ESS 2018-2020 ihre diesbezüglichen Anstrengungen fortzuführen.

3.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Rahmen der neuen statistischen Produkte zur Messung der Globalisierung auch statistische Erhebungen durchgeführt werden sollten, mit denen sich die positiven oder negativen Auswirkungen auf den Binnenmarkt — insbesondere auf den europäischen Industrie- und Dienstleistungssektor — messen lassen, wie beispielsweise die Auswirkungen von Standortverlagerungen auf den EU-Arbeitsmarkt oder der Konkurrenzdruck durch unlauteren Wettbewerb aufgrund billiger Arbeitskräfte und der Missachtung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Bereich der Arbeitsbeziehungen.

3.8.

Der EWSA hält es für möglich, das Vertrauen der Nutzer gegenüber statistischen Daten zu erhöhen, indem die Regierungen der Mitgliedstaaten die Empfehlungen (8) des Europäischen Beratungsgremiums für die Statistische Governance (ESGAB) bezüglich der Ausarbeitung von Verpflichtungen für zuverlässige Statistiken umsetzen.

3.9.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission hinsichtlich der Einleitung von Forschungsanstrengungen im Hinblick auf eine künftige sozialstatistische Erhebung auf EU-Ebene. Angesichts der Alterung der europäischen Bevölkerung sollte diese Erhebung auch Daten zur Angemessenheit der Systeme der sozialen Sicherheit sowie zur Nachhaltigkeit dieser Systeme in diesem neuen demografischen Kontext umfassen. Zudem ist eine rasche Ermittlung und Korrektur der Mängel der statistischen Erhebungen hinsichtlich Migration und Asyl erforderlich.

3.10.

Der EWSA wiederholt seine in früheren Stellungahmen (9) geäußerte Forderung, sowohl Eurostat als auch die nationalen statistischen Ämter mit optimalen Personal-, Material- und IT-Ressourcen auszustatten, da dies für die Erfüllung ihres wichtigen und dringlichen Auftrags unverzichtbar ist, innerhalb immer kürzerer Zeit hochwertige statistische Informationen zu erheben und aufzubereiten. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Investitionen für die Entwicklung des ESS zu erhöhen, damit der steigenden Nachfrage nach Daten entsprochen werden und eine schnelle Aufbereitung und Verbreitung der Daten erfolgen kann.

3.11.

Nach Auffassung des EWSA sollten die Anstrengungen der Kommission und des ESS zur Steigerung der Qualität der statistischen Daten sowie zur Entwicklung von neuen statistischen Produkten nicht dazu führen, dass sich die Verwaltungsbelastung der Datenlieferanten, Haushalte und Unternehmen übermäßig erhöht.

3.12.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission hinsichtlich des regelmäßigen Dialogs, der zwischen den Nutzern von statistischen Daten und dem ESS geführt werden sollte. Die Organisationen der Zivilgesellschaft können einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung statistischer Erhebungen leisten, sodass diese den Anforderungen der Datennutzer besser entsprechen. In seinem Jahresbericht 2016 hat das ESGAB eine entsprechende Empfehlung abgegeben.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe EWSA-Stellungnahme „Statistische Erfassung von Freiwilligentätigkeit“ (ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 11).

(2)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statistische Programm der Gemeinschaft 2008 bis 2012“ (ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 8).

(3)  COM(2016) 557 final.

(4)  Diese öffentliche Konsultation wurde zwischen dem 23. Juli und dem 15. Oktober 2015 über die Online-Plattform „Ihre Stimme in Europa“ durchgeführt und über die Kommunikationskanäle von Eurostat sowie über die nationalen statistischen Ämter bekannt gemacht.

(5)  „Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Das BIP und mehr — Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“, COM(2009) 433 final.

(6)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA zum Thema „Das BIP und mehr — die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Auswahl zusätzlicher Indikatoren“ (ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14) sowie zum Thema „Das BIP und mehr — Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“ (ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 64).

(7)  Siehe Fußnote 1.

(8)  http://ec.europa.eu/eurostat/documents/34693/7723121/ESGAB+Annual+Report+2016.

(9)  Siehe Fußnote 2.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1316/2013 und (EU) 2015/1017 im Hinblick auf die Verlängerung der Laufzeit des Europäischen Fonds für strategische Investitionen sowie die Einführung technischer Verbesserungen für den Fonds und die Europäische Plattform für Investitionsberatung“

(COM(2016) 597 final — 2016/0276 (COD))

(2017/C 075/11)

Berichterstatter:

Alberto MAZZOLA

Befassung

Rat der Europäischen Union 26.9.2016 und Europäisches Parlament 3.10.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 172, 173, 175 und 182 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

29.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

172/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschaft- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt nachdrücklich die Initiative der Kommission, die Laufzeit des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) zu verlängern und seine finanzielle Ausstattung aufzustocken. Er unterstützt den Zweck und die Bedeutung des Fonds für die Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit für Anleger und Projektträger. Der Ausschuss befürwortet auch die Laufzeitverlängerung und die Mittelaufstockung des EFSI in noch längerfristiger Perspektive im Hinblick auf eine systematische und kontinuierliche Intervention.

1.2.

Der EWSA begrüßt die im ersten Jahr seit Bestehen des EFSI erzielten positiven Ergebnisse, wobei sofort ein den Erwartungen entsprechender Investitionswert mobilisiert werden konnte, und betrachtet insbesondere das „KMU-Finanzierungsfenster“ als einen Erfolg. Die Binnenmarktbeobachtungsstelle des Ausschusses sollte eine ständige Beobachtung der Nutzung des EFSI für KMU unter Verwendung von Wirkungsindikatoren durchführen.

1.3.

Nach Ansicht des Ausschusses sollte der EFSI 2.0 eine immer stärkere Beteiligung von privatem Kapital anstreben, die über die im ersten Jahr erreichten 62 % hinausgehen sollte. In diesem Zusammenhang schlägt der Ausschuss vor, eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf weitere Bereiche der Finanzbranche über die Banken hinaus wie Anleihemärkte sowie Versicherungs- und Pensionsfonds gründlich zu erwägen. Europäische und internationale Versicherungs- und Pensionsfonds könnten bei Investitionen eine zentrale Rolle spielen.

1.4.

Der EWSA unterstreicht, dass die dezidierte Marktorientierung beibehalten, die beschäftigungs- und sozialpolitische Wirkung des EFSI eingehend geprüft und der Aspekt der Zusätzlichkeit des EFSI in Bezug auf andere EU-Instrumente und normale Aktivitäten der EBI gestärkt werden muss. Er bedauert, dass mit dem EFSI nicht gewährleistet wird, dass Mittel in den Ländern mit dem größten Bedarf investiert werden. Er fordert, eine geografisch ausgewogene Verteilung der EFSI-Mittel über die gesamte EU sicherzustellen. Dabei ist der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit eines jeden Staates, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und dem nachfrage- und marktorientierten Charakter der Initiative — ohne vorab festgelegte Quoten und mit ausreichend Flexibilität in Bezug auf die Interventionsbereiche — Rechnung zu tragen.

1.5.

Nach Auffassung des Ausschusses sollten sich die Interventionen des EFSI 2.0 auf zukunftsträchtige Bereiche wie Industrie 4.0, intelligente Energie-, Daten- und Verkehrsinfrastrukturnetze und Umweltschutz sowie auf grenzüberschreitende Projekte einschließlich europäische Großprojekte in Bereichen mit dem höchsten wirtschaftlichen BIP-Multiplikatoren auf der Grundlage der Höhe des Investitionspotenzials konzentrieren, ohne dabei die Landwirtschaft aus den Augen zu verlieren. Ziel ist es, eine umfassende Wirkung in puncto Wachstum und Beschäftigung zu erzielen und eine Öffnung anderer EU-Fonds zu ermöglichen. Dies betrifft auch doppelt einsetzbare Technologien im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und eine entsprechende Änderung der Liste der von den EIB-Mitteln ausgeschlossenen Branchen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt die Stärkung der Europäischen Plattform für Investitionsberatung (EIAH), die ihre Aktivitäten in den verschiedenen Ländern ausbauen und insbesondere in den am stärksten benachteiligten Regionen eine proaktive Rolle übernehmen, die Rolle der nationalen Förderbanken stärken und die Schaffung territorialer Unterstützungsplattformen anregen sollte. Es sollte auch die Möglichkeit erwogen werden, die Struktur- und Investitionsfonds nahtlos und ohne bürokratische Hindernisse zur Kofinanzierung von EFSI-Vorhaben heranzuziehen und einen besseren Dialog mit den lokalen und regionalen Behörden sicherzustellen.

1.7.

Der EWSA fordert eine Stärkung der sozialen Dimension des EFSI durch einen Einsatz für Bildung, Ausbildung, und Berufsbildung für Kompetenzen und lebenslanges Lernen, die Entwicklung der Kreativ- und Kulturwirtschaft, Innovation im Gesundheitswesen und in der Medizin sowie für Infrastrukturen in den Bereichen Sozialfürsorge, sozialer Wohnungsbau und Kinderbetreuung, Tourismus und Umweltschutz. Die Investitionsoffensive für Europa sollte die auf der COP 21 eingegangenen Verpflichtungen ganz klar unterstützen.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, den Bekanntheitsgrad der EFSI-Finanzierungen mithilfe einer großen Informationskampagne überall vor Ort in der Union zu erhöhen. Dafür soll ein EFSI-Logo eingeführt werden, mit dem alle — insbesondere für KMU — finanzierten Initiativen gekennzeichnet werden, und der Dialog mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften ist zu verstärken.

1.9.

Angesichts der Bedeutung des Erfolges des EFSI für die Zivilgesellschaft und das Image Europas fordert der Ausschuss, regelmäßig konsultiert zu werden, damit er Informationsberichte über die Finanz- und Investitionstätigkeiten und die Verwendung des Garantiefonds vorlegt. Besondere Aufmerksamkeit wird der Schaffung von Arbeitsplätzen, den Umweltauswirkungen sowie der durch unabhängige Sachverständige vorgenommenen Evaluierung der Anwendung der EFSI-Verordnung und der Veränderungen zukommen. Dabei sollen eindeutige sozioökonomische und ökologische Indikatoren eingesetzt und die Zusätzlichkeit dieser Initiative klargestellt werden.

1.10.

Mit Blick auf die vielfältigen positiven Auswirkungen sozialer Investitionen, insbesondere auf den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen, ist der EWSA der Auffassung, dass genauer geprüft werden sollte, wie der „Juncker-Plan 2“ mit den Zielen des Sozialinvestitionspakets verknüpft werden kann.

2.   Entwicklungsrahmen des EFSI und aktueller Stand

2.1.

Am 28. Juni 2016 kam der Europäische Rat zu folgender Schlussfolgerung: „Die Investitionsoffensive für Europa und insbesondere der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) haben bereits konkrete Ergebnisse erbracht und sind ein wichtiger Schritt und Beitrag zur Mobilisierung von Privatinvestitionen, während gleichzeitig knappe Haushaltsmittel intelligent eingesetzt werden.“

2.2.

Seit der Vorstellung der Investitionsoffensive für Europa im November 2014 begann das Vertrauen in Wirtschaft und Wachstum teilweise zurückzukehren. Gleichwohl sind immer noch 22 Mio. Menschen arbeitslos, die Investitionen sind um 15 % niedriger als vor der Krise im Jahr 2008, und zusätzliche Investitionen von 300 Mrd. EUR jährlich sind nötig, um den Vorkrisenstand wieder zu erreichen. Im vierten Jahr in Folge verzeichnet die EU mit einem Wachstum des BIP von 2 % in 2015 eine moderate Erholung: Wenngleich größere Investitionsvorhaben nicht unmittelbar makroökonomische Auswirkungen haben können, zeitigt das entschlossene Engagement im Rahmen der Investitionsoffensive bereits greifbare Ergebnisse.

2.3.

Im ersten Jahr der Umsetzung des EFSI hat sich der ursprüngliche Plan als solide erwiesen: Der von der EIB-Gruppe umgesetzte und mitfinanzierte Fonds ist auf dem besten Weg, die anvisierte Mobilisierung von mindestens 315 Mrd. EUR für zusätzliche Investitionen in die Realwirtschaft bis Mitte 2018 zu erreichen. Die in diesem ersten Jahr genehmigten Projekte beliefen sich auf über 115 Mrd. EUR, wovon 62 % von privaten Anlegern stammen. Am 15. November 2016 lag dieser Wert bei 154 Mrd. EUR bzw. 49 % des erwarteten Gesamtvolumens (1).

2.4.

Die Annahme am Markt erfolgte bezüglich des KMU-Finanzierungsfensters besonders rasch, die Ergebnisse des EFSI überstiegen die Erwartungen bei Weitem: Deshalb wurde das Finanzierungsfenster im Juli 2016 im Rahmen der geltenden Bestimmungen der Verordnung (EU) 2015/1017 um 500 Mio. EUR aufgestockt. Am Ende des ersten Jahres waren KMU über 47 Mrd. EUR gewährt worden — das sind 64 % des für den gesamten Dreijahreszeitraum ursprünglich erwarteten Volumens.

2.5.

Der EFSI ist eine gemeinsame Initiative der Europäischen Kommission und der Europäischen Investitionsbank, indes mit eigener Verwaltungsstruktur. Er hilft auch bei der Finanzierung von Innovations- und Infrastrukturprojekten in zahlreichen Bereichen (Stand 15. November 2016): Forschung und Entwicklung (20 %), Energie (22 %), Digitalisierung (12 %), Verkehr (7 %), umweltschonende und effiziente Ressourcennutzung (4 %) und soziale Infrastrukturen (4 %).

2.6.

Der Ausschuss begrüßte den Start einer Investitionsoffensive für Europa und würdigte „die Akzentverschiebung weg von Sparmaßnahmen und Haushaltskonsolidierung“. Er betonte, dass „die Investitionsoffensive ein Schritt in die richtige Richtung ist. Gleichwohl stellen sich einige ernsthafte Bedenken in Bezug auf: seinen Umfang angesichts des enormen Investitionsbedarfs in Europa, die Höhe der erwarteten Hebelwirkung, den potenziellen Fluss geeigneter Investitionsprojekte, die Einbeziehung von KMU — wobei besonderes Augenmerk den Kleinst- und Kleinunternehmen gilt — und den Zeitplan der Offensive“ (2). Allerdings bedauert der EWSA, dass beim EFSI nicht gewährleistet ist, dass die Mittel in den Ländern investiert werden, die den größten Bedarf haben, Mitgliedstaaten, gegen die ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits im Rahmen der korrektiven Komponente des Stabilitätspakts eingeleitet wurde, können die vorgesehene Flexibilität nicht nutzen (Ecofin 2012 und Ecofin 2014).

2.7.

Der Ausschuss stützt sich auf die größtenteils positiven Erfahrungen und Standpunkte der Vertreter der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft, die auf der Anhörung am 10. November 2016 zur Sprache kamen.

3.   Die Vorschläge der Kommission

3.1.

Die Kommission schlägt vor, die Laufzeit des EFSI um zwei weitere Jahre — bis 2020 — zu verlängern und die EU-Garantie von 16 Mrd. EUR auf 26 Mrd. EUR und den EIB-Beitrag von 5 Mrd. EUR auf 7,5 Mrd. EUR anzuheben mit dem Ziel, Investitionen von ca. 500 Mrd. EUR während der Laufzeit zu mobilisieren. Zu diesem Zweck schlägt die Kommission eine Erhöhung des Garantiefonds um 1,1 Mrd. EUR auf 9,1 Mrd. EUR vor. Diese Anhebung soll vorwiegend mit Mitteln der Fazilität „Connecting Europe“ und Einkünften der EIB aus Geschäften im Zusammenhang mit dem EFSI finanziert werden.

3.2.

Die mehrjährigen strategischen Ziele von EFSI 2.0 zur Unterstützung wachstumsfördernder Investitionen im Einklang mit den Prioritäten des EU-Haushalts betreffen folgende prioritäre Bereiche:

strategische Infrastrukturen (Investitionen in die digitale Wirtschaft und im Energiebereich im Einklang mit der EU-Politik);

Verkehrsinfrastruktur in Industriezentren, Umwelt, Bildung sowie Forschung und Innovation;

Investitionen zur Steigerung der Beschäftigung, insbesondere durch Bereitstellung von Finanzierungen für KMU und Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung junger Menschen;

Humanressourcen, Kultur und Gesundheit.

3.3.

Laut Europäischer Kommission soll es die Initiative der EIB und dem EFSI ermöglichen, Finanzierungen und Investitionen mit einem höheren Finanzvolumen zu tätigen und — im Falle der EIB — dank der bereitgestellten EU-Garantie risikoreichere, aber dennoch wirtschaftlich tragfähige Projekte zu fördern. Es dürfte ein Multiplikatoreffekt erzielt werden, dank dem mit jedem im Rahmen dieser Initiative garantierten Euro Projektinvestitionen in Höhe von etwa 15 EUR generiert werden können — im Gesamtvolumen von mindestens 500 Mrd. EUR bis zum Ende des aktuellen mehrjährigen Finanzrahmens.

3.4.

Die maßgeblichen von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen an der Verordnung (EU) 2015/1017 betreffen folgende Aspekte:

Steigerung der Zusätzlichkeit der Projekte einschließlich grenzüberschreitender Infrastrukturvorhaben und damit verbundener Dienstleistungen, die ausdrücklich das Kriterium der Zusätzlichkeit erfüllen;

stärkere Verbreitung des EFSI in weniger entwickelten Regionen und/oder Übergangsregionen und einfachere Kombination der ESIF-Mittel mit anderen Quellen wie Horizont 2020 und der Fazilität „Connecting Europe“;

Unterstützung weniger entwickelter Regionen und Übergangsregionen mittels einer ausdrücklichen Bezugnahme auf alle Industriezweige, die ansonsten nicht von den allgemeinen Zielen erfasst werden;

stärkere Ausrichtung des EFSI auf Projekte zur Verwirklichung der Ziele der COP 21 und der klimapolitischen Prioritäten;

Möglichkeit, verteidigungsbezogene Investitionsvorhaben aufgrund ihres erheblichen wirtschaftlichen Multiplikatoreffekts im Rahmen des EFSI zu berücksichtigen;

Förderung der Ziele der sektoralen und geografischen Diversifizierung des EFSI bei gleichzeitiger Wahrung der Marktorientierung;

mehr Transparenz im Steuerungsprozess des EFSI.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt und unterstützt nachdrücklich die Initiative der Kommission, die Laufzeit des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) zu verlängern und seine finanzielle Ausstattung aufzustocken. Er unterstützt den Zweck und die Bedeutung des Fonds für die Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit für Anleger und Projektträger. Der Ausschuss bekräftigt seinen bereits früher geäußerten Standpunkt (3) bezüglich der Notwendigkeit eines europäischen Plans für mehr Wachstum und Beschäftigung, der einen ambitionierteren EFSI mit anderen Wachstumsprogrammen der Union, insbesondere Horizont 2020, die Fazilität „Connecting Europe“ und die Strukturfonds kombiniert. Der EWSA unterstützt die Heranziehung anderer EU-Fonds zur finanziellen Unterstützung der Investitionsgarantie für die spezifischen Sektoren.

4.2.

Diese Förderprogramme wie auch die öffentliche Investitionen sollten beibehalten werden und dürfen aufgrund ihrer Bedeutung für Wachstum und Beschäftigung und ihres Umfangs nicht ihrer Spezifizität beraubt werden.

4.3.

Der EWSA begrüßt die im ersten Jahr seit Bestehen des EFSI erzielten positiven Ergebnisse — die Investitionen im veranschlagten Umfang konnten sofort mobilisiert werden, wobei eine genauere qualitative und quantitative Analyse noch aussteht — und betrachtet das „KMU-Finanzierungsfenster“ als Erfolg. Die vom Ausschuss geäußerten Erwartungen (4) hinsichtlich der Rolle des EFSI für die Risikokapitalfinanzierung und die Notwendigkeit, die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum von Unternehmen, insbesondere von KMU zu finanzieren, werden erfüllt.

4.4.

Nach Auffassung des Ausschusses hängt der Erfolg des EFSI für KMU zum Teil mit den anhaltenden Problemen beim Transfermechanismus zusammen, über den die Banken Finanzmittel an die Unternehmen weiterreichen sollen. Vor diesem Hintergrund sollte die Binnenmarktbeobachtungsstelle des EWSA die Nutzung des EFSI für KMU kontinuierlich beobachten und dabei Wirkungsindikatoren einsetzen.

4.5.

Nach Ansicht des Ausschusses sollte der EFSI 2.0 eine immer stärkere Beteiligung von privatem Kapital anstreben und möglichst über die im ersten Jahr erreichten 62 % hinausgehen. In diesem Zusammenhang schlägt der Ausschuss vor, eine vorsichtige Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf weitere Bereiche des Finanzsektors über die Banken hinaus zu erwägen: Finanzbranchen, Anleihemärkte sowie Versicherungs- und Pensionsfonds (5). Der Ausschuss teilt die Ansicht, dass ein zusätzlicher, in erster Linie auf die Mobilisierung privater Investitionen ausgerichteter Fonds gebraucht wird. Auf europäischer Ebene verwalten die institutionellen Anleger Vermögenswerte im Wert von 13 500 Mrd. EUR (6), von denen weniger als 1 % auf Infrastrukturinvestitionen entfallen.

4.6.

Der EWSA fordert die Organe der Europäischen Union auf zu prüfen, ob Mitgliedstaaten, die sich in einer schwierigen Lage befinden, mehr Flexibilität eingeräumt werden kann, damit sie ihre öffentlichen Investitionen erhöhen und über den EFSI Infrastruktur und Forschung, hochwertige Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und soziale Dienstleistungen finanzieren können.

4.6.1.

Eine Ausweitung dieser Mittel erfordert eine Änderung der Vorschriften für den Kapitalbinnenmarkt wie etwa der Solvabilität-II-Richtlinie, die Infrastrukturinvestitionen durch europäische Versicherungs- und Pensionsfonds behindern. In Kanada beispielsweise erreicht der Infrastrukturinvestitionsanteil dieser Fonds — einschließlich in europäische Infrastruktur — 15 % des verwalteten Vermögens. Eine durch die Fazilität „Connecting Europe“, die EIB und Versicherungsfonds finanzierte Plattform könnte diese Probleme lindern und die ordnungsgemäße Verwendung dieser Mittel sicherstellen.

4.7.

Nach Ansicht des Ausschusses ist es für den Erfolg von EFSI 2.0 wichtig, dass die Marktorientiertheit beibehalten wird und dass die Zusätzlichkeit von EFSI gegenüber anderen EU-Instrumenten und der Hauptaktivität der EIB gestärkt werden: Die einzelnen Projekte sollten nicht nur mit den Maßnahmen der EU-Politik im Einklang stehen, sondern auch anhand ihrer eigenen Leistungen und erwarteten wirtschaftlichen Ergebnisse beurteilt werden.

4.8.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Zusätzlichkeit der aus dem EFSI finanzierten Projekte gestärkt werden sollte, um so die Bankfähigkeit/Finanzierbarkeit riskanterer Vorhaben zu verbessern. Darüber hinaus müssen die Zulassungskriterien die Auflage enthalten, dass mit den geförderten Projekten Marktversagen und suboptimale Investitionssituationen bewältigt werden. Grenzüberschreitende Infrastrukturvorhaben und damit verbundene Dienstleistungen sollten ausdrücklich als Projekte angesehen werden, die die Anforderung der Zusätzlichkeit von sich aus erfüllen, damit die Investitionsoffensive Europas Wirtschaft wirksam ankurbeln und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt fördern kann.

4.9.

Der EWSA fordert nachdrücklich eine stärkere Nutzung des EFSI in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Berufsbildung für Kompetenzen und lebenslanges Lernen, Entwicklung der Kreativ- und Kulturwirtschaft, Gesundheitswesen und soziale und touristische Infrastrukturen.

4.10.

Nach Auffassung des Ausschusses muss der EFSI stärker auf eine geografisch ausgewogene Verteilung der Mittel in der gesamten EU ausgerichtet werden, wobei der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit eines jeden Staates und dem nachfrage- und marktorientierten Charakter der Initiative — ohne vorab festgelegte Quoten und mit ausreichend Flexibilität in Bezug auf die Zuweisung der Mittel auf die verschiedenen Sektoren — Rechnung zu tragen ist. Der EWSA teilt die Auffassung, dass es sinnvoll ist, die europäische Plattform für Investitionsberatung (EIAH) zu stärken, damit sie die ihre Aktivitäten in den verschiedenen Ländern ausbaut. Er unterstützt auch die Möglichkeit, die Struktur- und Investitionsfonds nahtlos und unbürokratisch zur Kofinanzierung von EFSI-Vorhaben zu nutzen.

4.10.1.

Die Rolle der Europäischen Plattform für Investitionsberatung (EIAH) und der nationalen Förderbanken sollte ausgebaut werden, um nicht nur auf lokaler Ebene in der gesamten EU eine gezieltere technische Unterstützung anzubieten, sondern auch eine bessere Kommunikation zwischen den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und dem EFSI 2.0 sicherzustellen.

4.10.2.

Den nationalen Förderbanken kommt ebenfalls eine grundlegende Rolle für den Erfolg des EFSI zu. Die EU und die nationalen Regierungen haben über den EFSI Projekte auf der grünen Wiese und auf Industriebrachen unterstützt, die sonst nicht finanziell tragfähig wären, und sollten diese Unterstützung auch in Zukunft beibehalten und ausbauen. Dies gilt vor allem für Projekte mit nicht quantifizierbarem Nutzungs-/Nachfrage-Risiko. Dieses Risiko könnte durch die teilweise Inanspruchnahme der von nationalen Förderbanken gewährten Garantien gemindert werden, wodurch in vielen Fällen ein nicht marktfähiges Geschäft für institutionelle Anleger marktfähig würde.

4.11.

Der EWSA stimmt dem Vorschlag zu, die Beiträge der Mitgliedstaaten zum Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) bei der Berechnung des Haushaltsdefizits auszuklammern, und spricht sich dafür aus, dieses Prinzip auch auf andere Investitionsprogramme auszuweiten, z. B. in Form einer umfassenden Goldenen Regel für strategische öffentliche Investitionen.

4.12.

Im Hinblick auf das Ziel, europäische Investitionen zu fördern und zugleich ausländische Investitionen anzuziehen (7) (wobei in der Verordnung auf der Grundlage der Gegenseitigkeit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen) und den Multiplikatoreffekt von 15 Euro Investition für jeden Euro Garantie zu erreichen, ist nach Auffassung des Ausschusses nicht nur die Ankurbelung der Wirtschaft und des Wachstums in Europa notwendig. Ebenso muss der Beitrag des EFSI auch dadurch ergänzt werden, dass die volle Umsetzung der dritten Säule der Investitionsoffensive mittels Durchführung von Strukturreformen und Abbau von Investitionshemmnissen beschleunigt wird.

4.13.

Der EWSA empfiehlt, dass die Sichtbarkeit der EFSI-Finanzierung durch eine umfassende Informationskampagne vor Ort und durch die Kennzeichnung aller Finanzierungsverträge mit EFSI-Förderung, insbesondere im Fall von KMU, mit einem entsprechenden Logo zu verbessern. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Überwachung der Finanzierungen und Investitionen und der Funktionsweise des Garantiefonds für die von ihm vertretene Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit sowie für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften von Belang ist. Gleiches gilt für die durch unabhängige Sachverständige vorgenommene Evaluierung der Anwendung der EFSI-Verordnung und der diesbezüglichen Änderungen. Der EWSA fordert daher, dass solche Berichte nicht nur dem Parlament und dem Rat, sondern auch dem EWSA und dem AdR übermittelt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

In Bezug auf die Schwerpunktbereiche sollte der EFSI 2.0 eine ausgewogene und flexible Finanzierung in Abhängigkeit vom Umfang der potenziellen Investitionen ermöglichen, und zwar für die verschiedenen Sektoren der Wirtschaft und insbesondere für die Bereiche Energie und Digitalisierung, Kreislaufwirtschaft und COP-21-Ziele, nachhaltige Verkehrs- und grenzübergreifende Netze, aber auch für die Landwirtschaft, Bioökonomie, das verarbeitende Gewerbe und Dienstleistungen in weniger entwickelten Regionen und Übergangsregionen, um eine maximale beschäftigungspolitische Wirkung zu erzielen. Dies betrifft auch doppelt einsetzbare Technologien im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und die Unterstützung für die Einführung einer einheitlichen, soliden und klarer definierten technologischen und industriellen Basis der europäischen Verteidigung (EDTIB) mit einer „stärkeren Koordinierung und gemeinsamen Planung im Hinblick auf die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion“ (8).

5.1.1.

Der Ausschuss empfiehlt insbesondere die Förderung der Digitalisierung in der verarbeitenden Industrie (Industrie 4.0) sowie der sicheren und einheitlichen Entwicklung von Cloud-Netzen und Datenzentren.

5.2.

Hinsichtlich der EFSI-Leitungsstruktur hält es der EWSA für sinnvoll, wenn die Vertreter von der Europäischen Kommission — mit Ausnahme der GD ECFIN und der EIB — im Lenkungsrat rotieren, um auch Vertreter der Generaldirektionen in Bereichen wie Verkehr, Digitalisierung und Umwelt einzubeziehen und so eine ausgewogene Finanzierung in allen Sektoren zu fördern. Der Investitionsausschuss, der darüber entscheidet, welche Projekte mit der EU-Garantie gefördert werden, muss ebenfalls völlig unabhängig arbeiten und transparente Beschlüsse fassen ohne Einmischung seitens der EIB, der Europäischen Kommission oder anderer öffentlicher oder privater Akteure. Er sollte um Branchenexperten erweitert werden, die Fachwissen über die Situation der von der Fördermaßnahme betroffenen lokalen Märkte beisteuern können.

5.3.

Die Mittelausstattung des EFSI ist weitaus größer als die anderer EU-Programme, was Investitionen in europäische Großprojekte mit einem Umfang von über 10 Mrd. EUR ermöglicht, die zum Großteil mit privatem Kapital finanziert werden (9). Im Hinblick auf die Umsetzung dieser Projekte sollte die proaktive Rolle der Kommission nach Dafürhalten des Ausschusses gestärkt werden, damit sie den gemeinsamen Start mehrerer EU- Programme unterstützen und den erforderlichen Regulierungsrahmen festlegen kann, was insbesondere für die Bereiche Verkehr, Energie und IKT- Netze gilt, wo die wirtschaftlichen BIP- Multiplikatoren am höchsten sind.

5.4.

Nach Ansicht des EWSA sollte der EFSI den Schwerpunkt verstärkt auf die digitale Share Economy in Europa legen, indem er europäische Investitionsplattformen zur Unterstützung des Wachstums von Start-up-Unternehmen in diesem Sektor und zur Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze fördert. Die Rechte der Arbeitnehmer und der Verbraucherschutz müssen dabei gewährleistet werden.

Brüssel, den 15. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Zahlen der EIB-Gruppe. vom 12. Oktober 2016.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Eine Investitionsoffensive für Europa (ABl. C 268 vom 14.8.2015, S. 27).

(3)  Siehe Fußnote 1.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge“ (ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10).

(5)  Siehe Fußnote 1.

(6)  EU-Aktionsplan zur optimalen Nutzung der neuen Finanzierungsinstrumente.

(7)  Siehe zum Beispiel die chinesische Programm „One Belt, One Road“.

(8)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Die neue Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 1).

(9)  Beispiele sind das europäische Flugverkehrsmanagementsystem, das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS), automatisiertes Fahren, das vermaschte Offshore-Netz in der Nordsee für Windparks, industrielle Gigabyte, Hochleistungsrechner und den Breitbandausbau in Europa.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Halbzeitüberprüfung/Halbzeitrevision des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 — Ergebnisorientierter EU-Haushalt“

(COM(2016) 603 final)

zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1311/2013 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020“

(COM(2016) 604 final — 2016/0283 (APP))

zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2012/2002, der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1305/2013, (EU) Nr. 1306/2013, (EU) Nr. 1307/2013, (EU) Nr. 1308/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und (EU) Nr. 652/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie des Beschlusses Nr. 541/2014/EU des Europäischen Parlaments und des Rates“

(COM(2016) 605 final — 2016/0282 (COD))

(2017/C 075/12)

Berichterstatter:

Stefano PALMIERI

Befassung

Europäische Kommission, 20.4.2016

Rat, 9.12.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Beschluss des Präsidiums

20.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

169/5/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erkennt die Bemühungen der Kommission im Zusammenhang mit der Halbzeitüberprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2014-2020 an und begrüßt die Flexibilitätsbestimmungen, die eingeführt wurden, um den unvorhergesehenen Krisen der vergangenen Jahre zu begegnen. Allerdings hält er den vorgeschlagenen Rahmen für unzureichend, um die Herausforderungen und Prioritäten der Europäischen Union (EU) vor allem im Hinblick auf das politische Projekt Europa zu bewältigen, das gegenwärtig ernsthaft infrage gestellt wird.

1.1.1.

Die Bewältigung globaler Herausforderungen und Krisen erfordert heute eine europäische Antwort. Darum vertritt der EWSA die Auffassung, dass der gegenwärtige MFR und der MFR nach 2020 die eigenen Ressourcen in geeigneter Weise bündeln und auf die Programme ausrichten sollte, die in der Lage sind:

der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung (unter Einbeziehung des Pariser Klimaschutzabkommens) wieder neuen Schwung zu geben und die Beschäftigung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern;

auf die Migrations- und Flüchtlingskrise, die Fragen der inneren Sicherheit, die Notlagen außerhalb der EU und die Krise des Agrarsektors zu reagieren.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA sollten die Halbzeitüberprüfung des MFR 2014-2020 und die Debatte über den MFR nach 2020 unter uneingeschränkter Beachtung von Artikel 3 des Vertrags von Lissabon erfolgen, wonach den Bürgerinnen und Bürgern der EU im Hinblick auf ihr Wohlergehen würdige Lebensbedingungen garantiert werden müssen, und sich auf Artikel 311 AEUV stützen, demzufolge „die Union sich mit den Mitteln ausstatten wird, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind“.

1.3.

Der EWSA verurteilt insbesondere die Solidaritätskrise innerhalb der EU, der es entgegenzutreten und die es zu überwinden gilt. Es ist nicht hinnehmbar, dass einige Mitgliedstaaten mit dem gerechten Prinzip der Solidarität einverstanden sind, solange es um die Mittelverteilung des MFR 2014-2020 geht, von diesem Prinzip aber abrücken, wenn es darum geht, die Not von Flüchtlingen und Migranten zu lindern.

1.4.

Ob die EU in der Lage sein wird, den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu begegnen, hängt von der qualitativen Natur und der quantitativen Dimension ihrer Interventionsstrategien ab. Die Debatte über den MFR muss vor allem der Frage gelten, ob der MFR — sowohl im Hinblick auf die bereitgestellten Mittel als auch auf die Struktur des Haushalts — geeignet ist, die EU mit den Mitteln auszustatten, die sie braucht, um ihre vorrangigen strategischen Ziele zu erreichen, ohne dabei die Steuerlast für Bürger und Unternehmen zu erhöhen. Das heißt, ob bei gleichbleibender Belastung für die Unionsbürger ein Mehrwert auf europäischer Ebene erzeugt werden kann — ein europäischer Mehrwert, über den ein breiter politischer Konsens zur Unterstützung der EU-Maßnahmen besteht und der für die Bürger greifbare Vorteile bringt.

Als wichtigste Elemente mit einem größeren europäischen Mehrwert nennt der EWSA unter anderem: den Beitrag zur Finanzierung umfangreicher Investitionen und Innovationen (Europäischer Fonds für strategische Investitionen); die Verdeutlichung des potenziellen Nutzens von Migranten und Flüchtlingen für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und die Dynamik der Gesellschaft; die Umsetzung des Zyklus 2014-2020 der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF); die Stärkung der sozialen Säule. Ein spezifisches Instrument, um Jugendarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und das Phänomen der Jugendlichen, die sich weder in Ausbildung noch in Beschäftigung befinden (NEETs), zu bekämpfen, könnte sich als nützlich und notwendig erweisen.

1.4.1.

Was die quantitative Seite der Überprüfung des MFR betrifft, befürwortet der EWSA die Aufstockung der Mittel für einige Ausgabenkapitel, die als äußerst wirksam betrachtet werden, wie Horizont 2020, die Fazilität „Connecting Europe“, Erasmus+, COSME und Wifi4EU sowie die Verlängerung des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) und die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen.

1.4.2.

Der EWSA begrüßt auch die neuen Mittelzuweisungen für die Bewältigung der Migrationskrise (Europäische Grenz- und Küstenwache, Europol, Agentur für Asyl, Gemeinsames Europäisches Asylsystem (Dublin-System), Soforthilfe innerhalb der Union und Einreise-/Ausreisesystem) und instabiler politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse in der EU und den Ländern der Nachbarschaft (Partnerschaftsrahmen, Europäischer Fonds für nachhaltige Entwicklung, Makrofinanzhilfen, Außenmandat der Europäischen Investitionsbank (EIB), technische Anpassung der Finanzrahmen für die Kohäsionspolitik).

1.5.

Was die qualitative Seite der Überprüfung des MFR betrifft, teilt der EWSA das Ziel, einfachere und flexiblere allgemeine und sektorspezifische Finanzvorschriften zu verwirklichen, und begrüßt insbesondere die Vereinfachung des Verwaltungsaufwands für die Empfänger von EU-Mitteln sowie der Kontrollen, Prüfungen und Berichtsverfahren.

1.5.1.

Allerdings darf die Einführung der Grundsätze einer besseren Ausgabenpolitik („better spending“) und der ergebnisorientierten Haushaltsplanung („performance-based budgeting“) nicht ungerechtfertigterweise zu einer verdeckten Ausgabenkürzung in Bereichen oder Programmen genutzt werden, deren Wert sich nicht so leicht erschließt wie der Nutzen anderer Programme, sei es, weil die Vorteile erst auf lange Sicht deutlich werden oder weil sie schwieriger zu beziffern sind. Für Programme wie Horizont 2020, die Fazilität „Connecting Europe“ und COSME könnte sich das besonders schädlich auswirken.

1.5.2.

Der EWSA befürwortet zum einen Anreize für eine verantwortungsbewusste Ausgabenpolitik und zum anderen ein geeignetes und zeitgerechtes System zur Überwachung der Ziele für die verschiedenen Politikbereiche des EU-Haushalts.

1.6.

Mit Blick auf den Vorschlag für den MFR nach 2020 fordert der EWSA, dass die Ergebnisse des laufenden Haushalts — auch im Licht der Halbzeitüberprüfung — ab sofort sorgfältig ausgewertet und dabei die zu verfolgenden Prioritäten und die erforderlichen Änderungen diskutiert werden.

1.7.

Der EWSA hält es für sinnvoll, die Laufzeit der nächsten MFR an den Politikzyklus der Kommission und des Parlaments anzupassen. Begrüßenswert ist der Vorschlag, eine Laufzeit von 5 + 5 Jahren mit einer obligatorischen Halbzeitüberprüfung für einige Posten, die eine langfristige Planung erfordern (insbesondere die Kohäsionspolitik und die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums), und einer mittelfristigen, an die Europawahlen angepassten Laufzeit von 5 Jahren für alle anderen Posten festzulegen.

1.8.

Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission, neue Arten von Eigenmitteln einzuführen, und die laufenden Arbeiten der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“. Über die Vorschläge, die die Kommission zum System der Eigenmittel ausarbeiten wird, sollte im Hinblick auf die Vorbereitung des MFR nach 2020 unter gebührender Einbeziehung des EWSA im Jahr 2017 diskutiert und entschieden werden.

1.8.1.

In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass sich die EU mit einem eigenständigen, transparenten und gerechten System der Eigenmittel ausstatten und das System der nationalen Beiträge der Mitgliedstaaten abbauen muss, aber ohne Erhöhung des Steuerdrucks und insbesondere ohne weitere Belastung der am stärksten benachteiligten Bürger. Der EWSA betont ferner, dass es wichtig ist, die Steuerhinterziehung — u. a. durch mehr Transparenz (1) — und jede Form von unlauterem Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zu bekämpfen.

1.8.2.

Der EWSA fordert die Kommission auf, zeitgerecht eine Schätzung des Haushaltsausfalls abzugeben, der sich durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ergibt.

1.9.

Der EWSA teilt die Botschaft, dass die Union mehr (und ein besseres) und nicht weniger Europa braucht (2). Die Krise der EU ist darauf zurückzuführen, dass es an einer strategischen Vision der Zukunft Europas fehlt. Diese Krise droht sich zu verschärfen, wenn mit dem MFR nach 2020 nichts gegen die Ursachen dieser Krise unternommen wird, die mit dem Defizit an Demokratie und Rechtstaatlichkeit und den Auswirkungen auf die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft und die produktiven Sektoren zusammenhängen, die zu den „Globalisierungsverlierern“ gehören. Die Union muss wieder eine starke Zukunftsvision für sich entwickeln, um im Wettbewerb mit den wichtigsten globalen Akteuren mithalten zu können, und hierfür bedarf es eines ehrgeizigen MFR, der den Herausforderungen gewachsen ist, die vor uns liegen.

1.10.

Damit die Ziele des MFR erreicht werden, muss der neue EU-Haushalt so beispielhaft, effizient, wirkungsvoll und transparent sein, dass er bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern an Glaubwürdigkeit gewinnt und ihnen die Vorteile von Europa und die Kosten eines Verzichts auf Europa besser vor Augen führt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Das Paket, das die Europäische Kommission anlässlich der Halbzeitüberprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2014-2020 vorgeschlagen hat, betrifft rechtliche Änderungen und die Umverteilung von Haushaltsmitteln im Umfang von 12,8 Mrd. EUR bis zum Ende der Laufzeit, einschließlich des Haushaltsentwurfs 2017, die für die Bereiche Wachstum und Beschäftigung, Migration und Sicherheit bestimmt sind. Insbesondere ist im Ergebnis der Überprüfung Folgendes vorgesehen:

in quantitativer Hinsicht mehr Mittel für die Programme, die wie der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI) als prioritär und besonders wirksam eingestuft werden;

in qualitativer Hinsicht die Vereinfachung der allgemeinen und sektorspezifischen Vorschriften, mehr Flexibilität bei der Verwendung der EU-Mittel und einen ergebnisorientierten Haushalt („Budget Focused on Results“ — BFOR).

2.2.

Der EWSA hat bereits früher erklärt (3) und bekräftigt in dieser Stellungnahme, dass ihm bewusst ist, dass die Europäische Kommission 2013 einen ausgewogenen MFR erreicht hat und dabei in einem schwierigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext einen Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Erfordernissen finden musste. Das erste Erfordernis bestand darin, dass einige Mitgliedstaaten infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise die Bereitstellung öffentlicher Mittel beschränken wollten. Das andere Erfordernis lag darin, die großen Aufgaben, vor denen die Europäische Union (EU) steht und die sich aus dem Vertrag von Lissabon und der Europa-2020-Strategie ergeben, angemessen und wirksam anzugehen.

2.3.

Die Halbzeitüberprüfung des MFR findet nun in einer Situation statt, die sich gegenüber 2013 in mancher Hinsicht gewandelt hat. Die EU befindet sich nach wie vor in Schwierigkeiten, weil in einigen Mitgliedstaaten vor allem die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen immer noch unter den gravierenden Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise leiden und weil es zudem auf EU-Ebene an einer gemeinsamen Antwort auf die Krise fehlt. Inzwischen sind jedoch neue beunruhigende Faktoren sozialer, politischer und institutioneller Natur hinzugekommen, zu denen auch die Terroranschläge zählen, die in jüngster Zeit in Europa verübt wurden.

2.3.1.

Erstens wächst der Zustrom von Migranten und Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa, die vor Krieg und Armut fliehen. Die Besorgnis darüber in der europäischen Öffentlichkeit nimmt zu, vor allem in den Mittelmeer- und Balkanländern, die als Erste die Auswirkungen erfahren, und in den Aufnahmeländern, die in Bezug auf die Integration der Migranten gefordert sind.

2.3.2.

Zweitens herrscht eine weit verbreitete Skepsis in der Frage, ob die Politik und somit auch die Mitgliedstaaten und die EU in der Lage sind, den wirtschaftlichen Wohlstand und sozialen Zusammenhalt zu erhalten (4) — mit der Folge, dass mehr Spielraum für die nationalen Regierungen gefordert wird, und das ausgerechnet in einer historischen Phase, in der die EU vielmehr als Global Player auftreten sollte.

2.3.3.

Drittens hat das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU — der sogenannte Brexit — deutlich gemacht, dass die EU keine Selbstverständlichkeit und die Entscheidung für die EU nicht unumkehrbar ist. Die Situation angesichts eines Mitgliedstaats, der sich anschickt, die Union zu verlassen, bringt zudem für den MFR bislang unbekannte institutionelle und finanzielle Probleme mit sich.

2.4.

In diesem sich rasch wandelnden Kontext setzt die Bewertung der Wirksamkeit des MFR voraus, dass die Grundsätze des EU-Rechts uneingeschränkt beachtet werden — insbesondere Artikel 3 des Vertrags von Lissabon, in dem das Ziel formuliert wird, den Bürgerinnen und Bürgern der EU im Interesse ihres Wohlergehens würdige Lebensbedingungen zu garantieren (5), und Artikel 311 AEUV, nach dem „die Union sich mit den Mitteln ausstatten wird, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind“.

2.5.

Ob die EU in der Lage ist, den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu begegnen, wird von der qualitativen Natur und der quantitativen Dimension ihrer Interventionsstrategien abhängen. Es gilt zu klären, in welchen Sektoren Ausgaben besser angelegt sind, um Wachstum und Beschäftigung zu erreichen und den neuen Herausforderungen zu begegnen, welche Ausgabeformen wirksamer sind, wie Investitionen sinnvoll und nicht nur formal bewertet werden können und wie sich das Handeln der EU-Institutionen in einem Kontext, der von einem weit verbreiteten Misstrauen auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger geprägt ist, kommunikativ vermitteln lässt (6).

2.6.

Aus den genannten Gründen lässt sich heute feststellen, dass bei aller Anerkennung für die Bemühungen der Kommission im Zusammenhang mit dem Vorschlag der Halbzeitüberprüfung des MFR 2014-2020 der vorgeschlagene Rahmen vollkommen unzureichend ist, um die Herausforderungen und Prioritäten der EU zu bewältigen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Was die qualitative Seite der Überprüfung des MFR betrifft, teilt der EWSA das Ziel, einfachere und flexiblere allgemeine und sektorspezifische Finanzvorschriften zu verwirklichen, und begrüßt insbesondere die Vereinfachung des Verwaltungsaufwands für die Empfänger von EU-Mitteln sowie der Kontrollen, Prüfungen und Berichtsverfahren.

3.2.

Allerdings darf die Einführung der Grundsätze einer besseren Ausgabenpolitik („better spending“) und der ergebnisorientierten Haushaltsplanung („performance-based budgeting“) nicht ungerechtfertigterweise zu einer verdeckten Ausgabenkürzung in Bereichen oder Programmen genutzt werden, deren Wert sich nicht so leicht erschließt wie der Nutzen anderer Programme, sei es, weil die Vorteile erst auf lange Sicht deutlich werden oder weil sie schwieriger zu beziffern sind. Für Programme wie Horizont 2020, die Fazilität „Connecting Europe“ und COSME könnte sich das besonders schädlich auswirken.

3.2.1.

Der EWSA befürwortet zum einen Anreize für eine verantwortungsbewusste und wirksame Ausgabenpolitik und zum anderen ein geeignetes und zeitgerechtes System zur Überwachung der Ziele für die verschiedenen Politikbereiche des EU-Haushalts.

3.3.

Dies allein reicht jedoch augenscheinlich nicht aus, um durch eine Neubelebung von Wachstum, Beschäftigung und sozialer Säule konkrete Antworten auf die wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sorgen zu bieten. Dies gilt umso mehr, als es an zusätzlichen Mitteln in den Sektoren fehlt, in denen der EU-Haushalt einen Mehrwert gegenüber den politischen Maßnahmen bietet, die die einzelnen Mitgliedstaaten ergreifen können.

3.4.

Wie der EWSA bereits in den vorhergehenden Stellungnahmen bekräftigt hat, ist es angesichts der Herausforderungen, vor denen die EU steht, nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig, den EU-Haushalt aufzustocken (7).

3.5.

Auf die genannten Herausforderungen muss in erster Linie mit einer umfassenden Unterstützung der öffentlichen und privaten Investitionen und wirksamen Anreizen für solche Investitionen reagiert werden. 2014 lag das Niveau der Investitionen um 15 % unter dem Niveau, das 2007 nach der ersten großen Finanz- und Wirtschaftskrise zu verzeichnen war; dies entspricht einem Rückgang von 430 Mrd. gegenüber dem Höchststand und von rund 300 Mrd. im Verhältnis zum Durchschnitt der vergangenen Jahre; 75 % dieses Rückgangs entfallen allerdings auf nur fünf Länder (Spanien, Italien, Griechenland, Vereinigtes Königreich und Frankreich) (8).

3.6.

Um den Investitionsmangel indirekt wettzumachen, hat die Kommission über die EIB den EFSI vorgeschlagen und aktiviert, über den private Ressourcen zur Ergänzung der EU-Mittel mobilisiert werden sollen. Die Bewertung des EFSI hängt davon ab, ob über die auf normalem Weg finanzierten Vorhaben hinaus zusätzliche Projekte unterstützt werden können. Die ersten Auswertungen zeigen jedoch, dass ein großer Teil der EFSI-Projekte — vor allem in den stärker entwickelten Regionen — in hohem Maße anderen Projekten ähnelt, die von der EIB normal finanziert werden (9). Der EWSA fordert eine stärkere Fokussierung auf risikoreiche und wirklich innovative Projekte, die nicht anderweitig finanziert werden können und die ein reales Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in der EU garantieren können.

3.7.

In der Migranten- und Flüchtlingskrise geht es nicht nur um die Verpflichtungen zur Aufnahme. Die von der EU bereitgestellten Mittel können auch dazu dienen, die befürchteten Gefahren für die innere Sicherheit zu Chancen zu machen, wobei es den potenziellen Nutzen der Migration für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und die Dynamik der Gesellschaft deutlich zu machen gilt. Der EWSA ist — in Übereinstimmung mit dem Europäischen Parlament (10) — der Auffassung, dass die Mittel, die im Rahmen der Rubriken 3 („Sicherheit und Unionsbürgerschaft“) und 4 („Europa in der Welt“) insbesondere für die Flüchtlingskrise und die Außenhilfe bereitgestellt werden, sich in den kommenden Monaten und Jahren als unzureichend erweisen könnten, und fordert daher die Aufstockung der vorgesehenen Ausgabenobergrenzen.

3.7.1.

In diesem Zusammenhang verurteilt der EWSA ferner die Solidaritätskrise innerhalb der EU, der es entgegenzutreten und die es zu überwinden gilt. Es ist nicht hinnehmbar, dass einige Mitgliedstaaten mit dem gerechten Prinzip der Solidarität einverstanden sind, solange es um die Mittelverteilung des MFR 2014-2020 geht, von diesem Prinzip aber abrücken, wenn es darum geht, die Not von Flüchtlingen und Migranten zu lindern.

3.8.

Die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) stehen mit einem Haushalt von 454 Mrd. EUR für den Programmplanungszyklus 2014-2020 im Mittelpunkt der Europa-2020-Strategie und ihrer Ziele. Sie sind das wichtigste Investitionsinstrument der EU und können durch einen stärkeren sozialen und territorialen Zusammenhalt zum Wirtschaftswachstum und zur Schaffung hochwertiger neuer Arbeitsplätze beitragen. Die europäischen Institutionen müssen die Umsetzung des Zyklus von Anfang an aufmerksam überwachen und begleiten, damit die erwarteten Ergebnisse, auf die sich die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Regionen verständigt haben, auch erreicht werden. Hierfür ist eine enge Einbindung der im EWSA vertretenen Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner erforderlich.

3.9.

Die Jugendarbeitslosigkeit (rund 20 % der Erwerbsbevölkerung, wenn auch mit starken Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten (11)) und die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Jugendlichen, die sich weder in Ausbildung noch in Beschäftigung befinden (NEETs, 19 % der 20- bis 34-Jährigen (12)), sind nach wie vor unannehmbar hoch, was sich auf den Bildungsstand der Betroffenen und allgemein auf das europäische Humankapital nachteilig auswirkt. Um dem zu begegnen, wird im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen gestärkt und erhält mehr Finanzmittel; die für die Rubrik 1B („Sozialer und territorialer Zusammenhalt“) vorgesehenen Ausgabenobergrenzen werden angehoben.

3.10.

Auch die Frage der Zahlungsrückstände muss einer Lösung zugeführt werden. Die Differenz, die in den vergangenen Jahren zwischen den Mittelbindungen und den von den Mitgliedstaaten geleisteten Zahlungen entstanden ist, belief sich Ende 2014 auf fast 25 Mrd. EUR und dürfte bis Ende 2016 wieder ausgeglichen sein. Die nachteiligen Auswirkungen der Ausgabenrückstände treffen alle, die Mittel aus dem EU-Haushalt erhalten, darunter auch die Unternehmen, Forschungsinstitute und Gebietskörperschaften. Angesichts eines Haushalts, der schon an und für sich im Verhältnis zum europäischen BIP sehr klein ist, erscheint es zumindest erforderlich, die fristgerechte Erfüllung der eingegangenen Zahlungsverpflichtungen sicherzustellen, indem alle geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass diese Situation im nächsten MFR fortsetzt oder wiederholt.

3.11.

Der EWSA befürwortet die Aufstockung der Mittel für einige Ausgabenkapitel, die als äußerst wirksam betrachtet werden, wie Horizont 2020, Fazilität „Connecting Europe“-Verkehr, Erasmus+, COSME und Wifi4EU sowie die Verlängerung des EFSI und der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen.

3.11.1.

Der EWSA begrüßt auch die neuen Mittelzuweisungen für die Bewältigung der Migrationskrise (Europäische Grenz- und Küstenwache, Europol, Agentur für Asyl, Gemeinsames Europäisches Asylsystem (Dublin-System), Soforthilfe innerhalb der Union und Einreise-/Ausreisesystem) und instabiler politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse in der EU und den Ländern der Nachbarschaft (Partnerschaftsrahmen, Europäischer Fonds für nachhaltige Entwicklung, Makrofinanzhilfen, Außenmandat der EIB, technische Anpassung der Finanzrahmen für die Kohäsionspolitik).

4.   Der Mehrjährige Finanzrahmen nach 2020

4.1.

Die Europäische Kommission wird bis zum 1. Januar 2018 den Vorschlag für den MFR nach 2020 vorlegen. Der EWSA fordert, dass die Ergebnisse des laufenden Haushalts — auch im Licht der Halbzeitüberprüfung — ab sofort sorgfältig ausgewertet und dabei die zu verfolgenden Prioritäten und die erforderlichen Änderungen diskutiert werden. Das Ziel besteht darin, dass der MFR den langfristigen Herausforderungen und Prioritäten der EU gewachsen ist.

4.2.

Die Krise der EU ist darauf zurückzuführen, dass es an einer strategischen Vision der Zukunft Europas fehlt. Diese Krise droht sich zu verschärfen, wenn mit dem MFR nach 2020 nichts gegen die Ursachen dieser Krise unternommen wird, die mit dem Defizit an Demokratie und Rechtstaatlichkeit und den Auswirkungen auf die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft und die produktiven Sektoren zusammenhängen, die zu den „Globalisierungsverlierern“ gehören. Die finanzpolitischen Vorschriften der EU haben zwar die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zu einem eigenständigen Vorgehen eingeschränkt — was zu Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialschutzsystemen geführt hat, aber Netze der sozialen Sicherheit auf EU-Ebene für die Bürgerinnen und Bürger konnten sie bislang nicht schaffen, ganz zu schweigen von einem wirklich innovativen und wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaftssystem, das den globalen Herausforderungen gerecht wird (13).

4.3.

Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass im neuen MFR mehr Aufmerksamkeit und auch neue Mittel auf die großen strategischen Prioritäten für Europa verwendet werden, die für das Bestehen der EU entscheidend sind:

die Belebung von Wachstum und Beschäftigung — vor allem für junge Menschen, insbesondere für die neuen Berufsbilder im Zusammenhang mit der Entwicklung der Informationstechnik und Telekommunikation (beginnend beim „Internet der Dinge“ oder der Industrie 4.0);

die Schaffung geeigneter Umschulungsfonds mit dem Ziel, den tief greifenden Wandel im Produktionssystem und auf dem Arbeitsmarkt zu bewältigen, der durch die neuen Technologien herbeigeführt wird, die das Entstehen neuer Berufsbilder befördern und dazu führen, dass gleichzeitig andere Berufsbilder wegfallen;

die Überwindung des Investitionsdefizits infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise und die Bekämpfung der noch andauernden und durch die Sparpolitik der Länder im Euroraum verschärften Auswirkungen der Krise vor allem für die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen;

die ökologische Nachhaltigkeit — auch anknüpfend an das Pariser Klimaschutzabkommen — unter verstärkter Einbindung der Mittel aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und die Notwendigkeit, Arbeitskräfte und Berufsgruppen, denen die schrittweise Dekarbonisierung der Wirtschaft zum Nachteil gereicht, neu zu vermitteln;

die Begleitung des Austritts des Vereinigten Königreichs, der so gestaltet werden muss, dass die Wirtschaft der anderen Mitgliedstaaten und die Beschäftigungsmöglichkeiten der europäischen Bürgerinnen und Bürger nicht beeinträchtigt werden;

die Außenhilfe für die Länder in der Nachbarschaft und die Entwicklungsländer, für die Europa ein Bezugsmodell und ein Global Player ist.

4.4.

In Bezug auf die Reform der Laufzeit des MFR vertritt der EWSA — in Übereinstimmung mit dem Europäischen Parlament (14) — die Auffassung, dass sie dem politischen Zyklus der Kommission und des Parlaments entsprechen sollte, sodass die Diskussion über die Prioritäten des EU-Haushalts ins Zentrum des Europawahlkampfs rückt. Begrüßenswert ist der Vorschlag, eine Laufzeit von 5 + 5 Jahren mit einer obligatorischen Halbzeitüberprüfung für einige Posten, die eine langfristige Planung erfordern (insbesondere die Kohäsionspolitik und die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums), und einer mittelfristigen, an die Europawahlen angepassten Laufzeit von 5 Jahren für alle anderen Posten festzulegen.

4.5.

Die Kommission sollte — auch im Vorausblick auf den Vorschlag für den MFR nach 2020 — so schnell wie möglich eine genaue Schätzung der Auswirkungen des Brexit auf die Einnahmen und Ausgaben der EU abgeben (15).

4.6.

Ferner muss im Euroraum ein angemessener Haushalt in der Lage sein, den besonderen Problemen der Mitgliedstaaten zu begegnen, die den Euro einführen. Hierzu wird an den vom EWSA bereits unterbreiteten Vorschlag erinnert: „In diesem Sinne muss der Weg hin zu einem angemessenen eigenen Haushalt des Euroraums beschritten werden, der über gemeinsame Regeln verfügt. Dies ist die einzige Möglichkeit, um zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik gelangen und ggf. künftige Schocks abfedern zu können“ (16).

4.7.

Auf der Einnahmenseite muss der neue MFR den Vorschlägen Rechnung tragen, die gegenwärtig von der Hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ unter dem Vorsitz von Mario Monti ausgearbeitet werden. Der diesbezügliche Abschlussbericht und ein entsprechender Legislativvorschlag der Kommission sollen bis Ende 2016 vorgelegt werden.

4.7.1.

Der EWSA hält einen neuen Haushalt, in dem gezielte und nachhaltige Eigenmittel gegenüber den Beiträgen der Mitgliedstaaten Vorrang haben, für besonders wichtig, denn Letztere verstärken ja gerade den falschen Grundsatz des „angemessenen Mittelrückflusses“. Zu diesem Zweck bekräftigt der EWSA seinen in früheren Stellungnahmen dargelegten Standpunkt (17) und befürwortet den Vorschlag der Europäischen Kommission zu den Eigenmitteln, die ohne Umweg über die Mitgliedstaaten direkt dem EU-Haushalt zufließen sollten. Ein Anstieg der Gesamtsteuerlast infolge des neuen Systems muss vermieden werden, insbesondere eine weitere Belastung der am stärksten benachteiligten Bürger und der KMU.

4.7.2.

Es gilt, eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) zu schaffen, um die Steuertransparenz zu verbessern, zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung beizutragen und die Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen und den Handel in der EU zu fördern.

4.8.

Der EWSA teilt die Botschaft, dass die Union mehr (und ein besseres) und nicht weniger Europa braucht. Damit die Ziele des MFR erreicht werden, muss der neue EU-Haushalt so beispielhaft, effizient, wirkungsvoll und transparent sein, dass er bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern an Glaubwürdigkeit gewinnt und ihnen die Vorteile von Europa und die Kosten eines Verzichts auf Europa besser vor Augen führt.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Vorschlag zur öffentlichen Steuertransparenz (länderspezifische Berichterstattung) (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 62).

(2)  „[…] dass der Subsidiaritätszeiger auf mehr Europa und auf ein besseres Europa gestellt wird“, Stellungnahme des EWSA zum Thema „Für eine aktualisierte Analyse der Kosten des Nicht-Europa“ (ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 36).

(3)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020“ (ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 32).

(4)  Nur ein Drittel der europäischen Bürger hat Vertrauen in die EU und ihre Institutionen. Europäische Kommission, „Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union“, Standard-Eurobarometer 85, Mai 2016,

http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2130.

(5)  „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern …“.

(6)  Halbzeitüberprüfung/Halbzeitrevision des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020: Ergebnisorientierter EU-Haushalt (SWD(2016) 299 final).

(7)  Stellungnahme des EWSA zum „Mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020“ (ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 32).

(8)  Europäische Kommission — Europäische Investitionsbank. Why does the EU need an investment plan? (Warum braucht die EU eine Investitionsoffensive?), 2015.

(9)  Claeys, G.; Leandro, A. Assessing the Juncker Plan after one year (Bewertung des Juncker-Plans nach einem Jahr), Bruegel.org, Mai 2016.

(10)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2016 zur Vorbereitung der Überarbeitung des MFR 2014–2020 nach der Wahl: Beitrag des Parlaments im Vorfeld des Kommissionsvorschlags (P8_TA-PROV(2016)0309).

(11)  Eurostat, Unemployment statistics (http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Unemployment_statistics).

(12)  Eurostat, Statistics on young people neither in employment nor in education or training (http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Statistics_on_young_people_neither_in_employment_nor_in_education_or_training).

(13)  P. De Grauwe, What Future for the EU After Brexit? (Wie sieht die Zukunft der EU nach dem Brexit aus?), CEPS, Oktober 2016.

(14)  Siehe Fußnote 10.

(15)  Das Institute for Fiscal Studies hat den durchschnittlichen jährlichen Nettobeitrag des Vereinigten Königreichs zum Haushalt der EU auf rund 8 Mrd. EUR geschätzt. Siehe Institute for Fiscal Studies, 2016, The Budget of the EU: a guide (Der Haushalt der EU: Ein Leitfaden). IFS Briefing Note BN 181. Browne, J., Johnson, P., Phillips, D.

(16)  Stellungnahme des EWSA zur nächsten europäischen Legislaturperiode „Vollendung der WWU — Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses für die nächste europäische Legislaturperiode“ (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 10).

(17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Überprüfung des EU-Haushalts“ (ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 75).


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern“

(COM(2016) 687 final — 2016/0339 (CNS))

(2017/C 075/13)

Hauptberichterstatter:

Mihai IVAŞCU

Befassung

Rat, 21.11.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung auf der Plenartagung am

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

176/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) würdigt die anhaltenden Bemühungen der Kommission bei der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung, die sich in Form der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken (1) niedergeschlagen haben; diese entspricht dem BEPS-Bericht (2) der OECD und den Forderungen der europäischen Interessenträger wie u. a. der Zivilgesellschaft, der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments.

1.2.

Eine genaue wirtschaftliche Analyse der Auswirkungen hybrider Gestaltungen ist — wie auch die OECD feststellt — schwer durchführbar; dennoch ist der EWSA der Meinung, dass infolge der Annahme des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern (3) (im Folgenden: „die Richtlinie“) das Körperschaftssteueraufkommen in allen Mitgliedstaaten erheblich steigen dürfte.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA wird diese Richtlinie nur dann ihr gesamtes Potenzial entfalten, wenn vergleichbare Vorschriften auch in Drittländern umgesetzt werden. Gleiche Wettbewerbsbedingungen und eine faire globale Steuerpolitik sind für die wirksame Umsetzung von größter Bedeutung. Ansonsten könnte der Binnenmarkt einen Teil seiner Attraktivität zugunsten weniger geregelter Märkte einbüßen, und die positiven Auswirkungen der Richtlinie wären minimal.

1.4.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass gegen Besteuerungsinkongruenzen nur dann vorgegangen werden muss, wenn eines der verbundenen Unternehmen die tatsächliche Kontrolle über die anderen verbundenen Unternehmen ausübt, indem es eine Beteiligung in Form von Stimmrechten oder Kapital hält oder einen Anspruch auf mindestens 50 Prozent der Gewinne hat.

1.5.

Der Ausschuss ist der Meinung, dass besonderes Augenmerk auf eingeführte Inkongruenzen gelegt werden muss, die die Wirksamkeit der Vorschriften zur Beseitigung hybrider Gestaltungen unterlaufen, und dass eine weitere Klarstellung erforderlich ist, um eine kohärente Umsetzung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

1.6.

In Bezug auf die unterschiedlichen Zeiträume für die steuerliche Rechnungslegung in den verschiedenen Steuergebieten stimmt der EWSA zu, dass solche zeitlichen Unterschiede nicht zu Inkongruenzen bei den steuerlichen Ergebnissen führen sollten. Allerdings muss der Steuerpflichtige die Zahlung in den beiden Steuergebieten innerhalb eines angemessenen Zeitraums ankündigen.

1.7.

Der EWSA unterstützt zwar den derzeitigen Ansatz in Bezug auf hybride Gestaltungen, ist jedoch der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten auch nach den Ursachen hybrider Gestaltungen suchen, potenzielle Schlupflöcher schließen und aggressive Steuerplanung verhindern sollten, anstatt nur auf Steuereinnahmen abzuzielen.

1.8.

Der EWSA empfiehlt allen Mitgliedstaaten, die Möglichkeit der Einführung und Anwendung von Sanktionen gegen Steuerpflichtige zu prüfen, die von hybriden Gestaltungen profitieren, um solche Praktiken zu vermeiden bzw. zu bekämpfen.

1.9.

Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission einen umfassenden Bericht erstellt, in dem der Stand der Umsetzung der Richtlinie in allen Mitgliedstaaten sowie das Gesamtbild in Bezug auf hybride Gestaltungen beschrieben wird.

1.10.

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Mitgliedstaaten relevante Erkenntnisse und bewährte Verfahren austauschen müssen, damit der Prozess beschleunigt und eine einheitliche Umsetzung gewährleistet wird.

2.   Hintergrund der Stellungnahme einschließlich des erörterten Legislativvorschlags

2.1.

Im Januar 2016 hat die Kommission als Teil der Agenda auf dem Weg zu einer gerechteren und effektiveren Unternehmensbesteuerung ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung vorgelegt (4). Das Paket beinhaltet konkrete Maßnahmen zur Vermeidung von aggressiver Steuerplanung, zur Verbesserung der Transparenz und zur Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für alle Unternehmen in der EU.

2.2.

Das Paket umfasst eine allgemeine Mitteilung (5), in der der politische, wirtschaftliche und internationale Kontext der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung dargelegt werden, sowie als Hauptbestandteile: eine Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken (6), eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden (7) und eine Empfehlung der Kommission bezüglich Steuerabkommen (8). Ferner enthält das Maßnahmenpaket eine Mitteilung über die externe Strategie der Union (9) bei der Zusammenarbeit mit Drittstaaten für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen.

2.3.

Am 12. Juli 2016 legte der Rat (Wirtschaft und Finanzen) eine Erklärung zu hybriden Gestaltungen vor. In dieser Erklärung ersuchte er die Europäische Kommission, für hybride Gestaltungen, an denen Drittländer beteiligt sind, Vorschriften vorzuschlagen, die mit den im OECD-Bericht zum Thema BEPS in Bezug auf Aktionspunkt 2 empfohlenen Vorschriften in Einklang stehen und nicht weniger wirksam sind als diese. Die meisten Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, diese Empfehlungen umzusetzen.

2.4.

Bei der Richtlinie handelt es sich um eine Änderung zu der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken; sie ist Teil eines Pakets, zu dem auch der Vorschlag für eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) und der Vorschlag für eine gemeinsame Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage (GKB) gehören, wobei die Vorschriften über hybride Gestaltungen in diesen Vorschlägen mit den Vorschriften der Richtlinie im Einklang stehen.

2.5.

Mit Blick auf die Unterstützung der Mitgliedstaaten und die Feststellungen des Rates (Wirtschaft und Finanzen) zu diesem Thema hat die Kommission einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern wie etwa hybride Gestaltungen bei Betriebsstätten, hybride Übertragungen, eingeführte Inkongruenzen sowie Inkongruenzen bei doppelter Ansässigkeit ausgearbeitet.

2.6.

Da die Mitgliedstaaten nicht an Leitlinien gebunden sind, bedarf es rechtsverbindlicher Vorschriften, um sicherzustellen, dass sie wirksam gegen diese Inkongruenzen vorgehen. Ein eigenständiges Tätigwerden der Mitgliedstaaten würde nur dazu führen, dass die Fragmentierung im Binnenmarkt zunimmt, die Inkongruenzen weiterbestehen und die Steuererhebung in erheblichem Maße behindert wird.

2.7.

Mit dem Vorschlag der Kommission soll gegen Inkongruenzen aufgrund von Unterschieden bei der rechtlichen Einordnung eines Unternehmens oder eines Finanzinstruments vorgegangen werden. Dieser Vorschlag regelt darüber hinaus Situationen aufgrund unterschiedlicher Vorschriften über die Einordnung einer gewerblichen Niederlassung als Betriebsstätte. Gemäß den Bestimmungen dieses Vorschlags werden die Mitgliedstaaten verpflichtet sein, den Abzug von Zahlungen des Steuerpflichtigen zu verweigern oder diesen aufzufordern, Zahlungen oder ggf. Gewinne in seinen steuerpflichtigen Einkünften zu berücksichtigen.

2.8.

Schließlich bewirkt diese Richtlinie keine vollständige Harmonisierung, sondern sie beschränkt sich auf die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung, indem Fälle des Abzugs in einem Land bei gleichzeitiger steuerlicher Nichtberücksichtigung im anderen Land oder der Nichtbesteuerung von Einkünften in einem Land bei gleichzeitiger steuerlicher Nichtberücksichtigung im anderen Land sowie Doppelbesteuerung korrigiert werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die derzeitigen Körperschaftsteuersysteme nach den wirtschaftlichen Gegebenheiten vergangener Zeiten gestaltet sind, als Unternehmen noch physisch und rechtlich in lokale Märkte eingebunden waren. Da dies nicht mehr generell der Fall ist, muss der steuerliche Rahmen an das internationale Umfeld und die aktuellen Herausforderungen angepasst werden.

3.2.

Der EWSA würdigt die anhaltenden diesbezüglichen Bemühungen der Kommission, die sich in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken konkretisieren; die Richtlinie entspricht dem BEPS-Projekt der OECD und den Forderungen der europäischen Interessenträger wie u. a. der Zivilgesellschaft, der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments.

3.3.

Der EWSA unterstützt die Schlussfolgerungen des OECD/G20-BEPS-Projekts und die durch die hier erörterte Richtlinie eingeführten Regelungen.

3.4.

Der EWSA stellt fest, dass der Vorschlag auf die in Aktionspunkt 2 des BEPS-Berichts der OECD (10) aufgeführten hybride Gestaltungen abzielt und nicht auf Situationen, in denen aufgrund eines niedrigen Steuersatzes oder einer besonderen Steuerregelung des betreffenden Steuergebiets nur wenig oder gar keine Steuer entrichtet wird.

3.5.

Hybride Gestaltungen gelten als eine verbreitete Technik der aggressiven Steuerplanung multinationaler Unternehmen, die rechtliche oder gewerbliche Niederlassungen in mehreren Ländern — Mitgliedstaaten oder Drittländern — einrichten. Da sich die Richtlinie des Rates 2016/1164 derzeit nur mit hybriden Gestaltungen auf Ebene der Mitgliedstaaten befasst, stimmt der EWSA zu, dass diese um spezielle Bestimmungen für Fälle, in denen Drittländer beteiligt sind, ergänzt werden muss einzig und allein mit dem Ziel, den Binnenmarkt zu schützen. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die in der EU geltenden Vorschriften davon abhängig sind, ob der betreffende Drittstaat Vorschriften für hybride Gestaltungen auf die spezifische Situation anwendet.

3.6.

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass aggressive Steuerplanung die Steuerbasis der Mitgliedstaaten um schätzungsweise 50 bis 70 Mrd. EUR pro Jahr schwächt (11); hybride Gestaltungen machen dabei einen erheblichen Anteil aus und haben massive negative Auswirkungen sowohl auf die Steuereinnahmen als auch auf Wettbewerb, Fairness und Transparenz. Eine genaue wirtschaftliche Analyse der Auswirkungen hybrider Gestaltungen ist — wie auch die OECD feststellt — schwer durchführbar; dennoch ist der EWSA der Auffassung, dass nach der Annahme dieser Richtlinie das Körperschaftssteueraufkommen in allen Mitgliedstaaten erheblich steigen wird.

3.7.

Für diesen Vorschlag wurde aus folgenden Gründen keine Folgenabschätzung in Bezug auf die zu ändernde Richtlinie durchgeführt: die enge Verbindung zu dem umfassenden BEPS-Bericht der OECD, das bereits eine wichtige Analyse enthaltende Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (12), die bereits durchgeführten Konsultationen sowie die in der Erklärung des Rates erhobene Forderung, diese Richtlinie bis Oktober 2016 vorzulegen. Die Mitgliedstaaten müssen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, und diese der Europäischen Kommission spätestens bis zum 31. Dezember 2018 mitteilen. Der EWSA stimmt zu, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Folgenabschätzung erforderlich ist.

3.8.

Die Kommission wird ersucht, die Umsetzung dieser Richtlinie vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten zu bewerten und dem Rat darüber Bericht zu erstatten. Der EWSA schlägt jedoch vor, dass die Kommission jährlich den Stand der Umsetzung bewertet und dem Rat ein Jahr nach der vorgeschlagenen Frist eine Bewertung der Umsetzung vorlegt. Diese Bewertung der Umsetzung sollte auch eine Studie über den Stand der Umsetzung der Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten enthalten sowie eine umfassende Studie über die Drittländer, die die BEPS-Regelungen der OECD umgesetzt haben oder derzeit umsetzen, und die Position des EU-Binnenmarkts im weltweiten Vergleich. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, dass die Kommission eventuelle negative Auswirkungen auf die rechtlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern — d. h. sonstige steuerliche, gewerbliche oder regulatorische Folgen — in den Bericht aufnimmt.

3.9.

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission im Anschluss an die Bewertung der Umsetzung eine umfassende Folgenabschätzung zu den Auswirkungen der Richtlinie auf den Binnenmarkt erstellt. Diese Studie sollte durchgeführt werden, sobald die erforderlichen Daten aus den Mitgliedstaaten verfügbar sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

In der hier erörterten Richtlinie wird eine umfassende Definition des Begriffs „verbundenes Unternehmen“ vorgenommen, die auch Unternehmen erfasst, die derselben zu Rechnungslegungszwecken konsolidierten Gruppe angehören, sowie Unternehmen mit einem maßgeblichen Einfluss auf die Leitung des Steuerpflichtigen oder Unternehmen, in denen der Steuerpflichtige maßgeblich Einfluss nimmt. Der EWSA teilt die Auffassung, dass gegen Inkongruenzen nur dann vorgegangen werden muss, wenn eines der verbundenen Unternehmen die tatsächliche Kontrolle über die anderen verbundenen Unternehmen ausübt.

4.2.

Der EWSA unterstützt die mit der Richtlinie eingeführten zusätzlichen Vorschriften. Für die wirksame Umsetzung sind jedoch gleiche Wettbewerbsbedingungen und eine faire weltweite Steuerpolitik von größter Bedeutung. Andernfalls könnte der Binnenmarkt einen Teil seiner Attraktivität zugunsten weniger geregelter Märkte einbüßen.

4.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass im Falle der Verfügbarkeit einer hybriden Gestaltung grenzüberschreitende Investitionen gegenüber inländischen Investitionen sicherlich begünstigt werden, was eine offensichtliche Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt verursacht.

4.4.

Der Rat hat den 31. Dezember 2018 als Frist für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht vorgeschlagen. Der EWSA hält die Frist für angemessen, rät jedoch, die Fortschritte bei der Umsetzung sorgfältig zu überwachen, damit alle Mitgliedstaaten die Ziele der Richtlinie bis zum vorgeschlagenen Termin verwirklichen. Wenn die Maßnahmen nicht kohärent angewandt werden, könnte die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf EU-Ebene stark beeinträchtigt werden.

4.5.

Angesichts der Tatsache, dass der BEPS-Aktionsplan im Konsens ohne zwingende Vorschriften beschlossen wurde und nicht alle EU-Mitgliedstaaten der OECD angehören, würdigt der EWSA die Unterstützung der nicht der OECD angehörenden Mitgliedstaaten bei der Koordinierung und Umsetzung des BEPS-Projekts. Er empfiehlt jedoch, auf diese Länder besonderes Augenmerk hinsichtlich der Umsetzung sowohl dieser Richtlinie als auch der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken selbst zu richten.

4.6.

Sanktionen für Steuerpflichtige sind in der Richtlinie nicht vorgesehen, da es Sache der Mitgliedstaaten ist, ob sie Sanktionen anwenden oder nicht. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, diese Frage eingehend zu prüfen und Zwangsmaßnahmen anzuwenden, wenn sie der Auffassung sind, dass dadurch hybride Gestaltungen verhindert bzw. bekämpft werden können.

4.7.

Da in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken nicht auf andere Arten von Inkongruenzen wie etwa hybride Gestaltungen bei Betriebsstätten, hybride Übertragungen, sogenannte eingeführte Inkongruenzen sowie Inkongruenzen bei doppelter Ansässigkeit eingegangen wird, ist die Ausweitung von Artikel 9 nach Auffassung des EWSA hinreichend detailliert gefasst.

4.8.

In Bezug auf unterschiedliche Zeiträume für die steuerliche Rechnungslegung in den verschiedenen Steuergebieten stimmt der EWSA zu, dass solche zeitlichen Unterschiede nicht zu Inkongruenzen bei den steuerlichen Ergebnissen führen sollten. Um einen Abzug bei gleichzeitiger steuerlicher Nichtberücksichtigung zu vermeiden, muss der Steuerpflichtige jedoch die Zahlung in den beiden Steuergebieten innerhalb eines angemessenen Zeitraums ankündigen.

4.9.

Der EWSA empfiehlt, dass alle Mitgliedstaaten eingehender nach den Ursachen hybrider Gestaltungen suchen, potenzielle Schlupflöcher schließen und aggressive Steuerplanung von vornherein verhindern sollten, anstatt nur auf Steuereinnahmen abzuzielen.

4.10.

Der Ausschuss ist der Meinung, dass besonderes Augenmerk auf eingeführte Inkongruenzen gelegt werden muss, die die Wirksamkeit der Vorschriften zur Beseitigung hybrider Gestaltungen unterlaufen. Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission zur Bekämpfung eines doppelten Abzugs oder eines Abzugs bei gleichzeitiger steuerlicher Nichtberücksichtigung, die durch eingeführte Inkongruenzen gemäß Artikel 9 Absatz 4 und 5 verursacht werden, hält jedoch weitere Klarstellungen für erforderlich.

4.11.

Schließlich empfiehlt der EWSA, dass alle Mitgliedstaaten relevante Erkenntnisse und bewährte Verfahrensweisen während des Umsetzungszeitraums austauschen, um den Prozess zu beschleunigen und seine Kohärenz zu gewährleisten.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2016) 26 final.

(2)  Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Base Erosion and Profit Shifting — BEPS) — Steuervermeidungsstrategien, die Lücken und Inkongruenzen in den Steuerbestimmungen ausnutzen, um Gewinne pro forma in Gebiete mit niedriger oder gar keiner Besteuerung zu verlagern (http://www.oecd.org/ctp/beps/).

(3)  COM(2016) 687 final.

(4)  http://ec.europa.eu/taxation_customs/business/company-tax/anti-tax-avoidance-package_de.

(5)  COM(2016) 23 final.

(6)  COM(2016) 26 final.

(7)  COM(2016) 25 final.

(8)  C(2016) 271 final.

(9)  COM(2016) 24 final.

(10)  http://www.oecd.org/ctp/neutralisierung-der-effekte-hybrider-gestaltungen-aktionspunkt-2-abschlussbericht-2015-9789264263185-de.htm.

(11)  ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 93.

(12)  SWD(2016) 345 final.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer umfassende Qualifikationen voraussetzenden Beschäftigung“

(COM(2016) 378 final — 2016/0176 (COD))

(2017/C 075/14)

Berichterstatter:

Peter CLEVER

Befassung

Europäisches Parlament, 4.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Befassung

Rat der Europäischen Union, 20.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

22.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

195/0/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die EU auch auf eine Zuwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte angewiesen, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Die Aktivierung nationaler Arbeitsmarktpotenziale — so unzweifelhaft wichtig genau diese in der nationalen Politik ist — reicht hierzu nicht aus; vielmehr ist eine gemeinsame europäische Fachkräftegewinnungsstrategie notwendig, da sich im globalen Wettbewerb um Fachkräfte Europa als Ganzes besser positionieren kann als die einzelnen Mitgliedstaaten.

1.2.

Eine gemeinsame Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten sollte ganzheitlich angelegt sein und von der ersten Ansprache zuwanderungsinteressierter Fachkräfte bis hin zum Umgang mit Rentenansprüchen alle relevanten Bereiche abdecken. Dabei sollten auch Zuwanderer in den Blick genommen werden, die zunächst einen Teil ihres Hochschulstudiums im Land absolvieren. Auch müssen die Auswirkungen der Fachkräftezuwanderung in den Herkunftsländern in den Blick genommen werden und diese bei der Weiterentwicklung ihrer Bildungssysteme unterstützt werden.

1.3.

Wichtig ist zudem, einen möglichst breiten Konsens zu erzielen, der es ermöglicht, dass sich die Mitgliedsländer zu dieser Strategie auch bekennen und die auf EU-Ebene beschlossenen Maßnahmen konsequent umsetzen. Dabei ist auf eine enge Einbindung der nationalen und europäischen Sozialpartner zu achten. Bei der Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen sind Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung sicherzustellen.

1.4.

Ein zentrales Aktionsfeld einer kohärenten Arbeitsimmigrationspolitik ist die Zulassungspolitik. Dabei können gemeinsame Regelungen Drittstaatenangehörigen den Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten erleichtern, stellen gleichzeitig aber auch immer einen Eingriff in die nationale Souveränität dar. Daher muss an dieser Stelle grundsätzlich zwischen den Vor- und Nachteilen einer weitergehenden Harmonisierung abgewogen werden. Eine vollständige Harmonisierung der Zulassungspolitik erscheint nach derzeitigem Stand nicht sinnvoll und notwendig.

1.5.

Der von der EU-Kommission vorgelegte Entwurf zur Neuregelung der Blauen Karte geht nach derzeitigem Stand an dieser Stelle zu weit, da er den Mitgliedsländern die Möglichkeit nimmt, eigene, auf ihre spezifischen Bedarfe abgestimmte Zugangswege für Hochqualifizierte zu unterhalten. Dennoch ist es richtig darauf hinzuwirken, dass in Zukunft die Blaue Karte bei der Zulassung von hoch qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten in den EU-Ländern verstärkt zum Einsatz kommt. Ähnlich der amerikanischen Greencard könnte sie dann eine Marke bilden, die die EU als Zielregion für hoch qualifizierte Zuwanderung attraktiv macht.

1.6.

Insgesamt ist der Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Blauen Karte positiv zu bewerten, da er die Blaue Karte als Zugangsweg in die EU attraktiver macht und insbesondere die Mobilität der Inhaber der Blauen Karte innerhalb der EU deutlich erleichtert. In diesem Kontext ist sehr zu begrüßen, dass bessere Möglichkeiten für Geschäftsaufenthalte in anderen EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden.

1.7.

Auch die Erleichterungen bei der Vergabe sind richtig. Allerdings muss das Absenken der Gehaltsgrenzen kritisch hinterfragt werden. Ein Wert unterhalb des Durchschnittseinkommens wird für Hochqualifizierte abgelehnt.

1.8.

Ähnliches gilt für die fakultative Möglichkeit, einen Hochschulabschluss durch entsprechende Berufserfahrung zu ersetzen. Hier sollte die Reduzierung der erforderlichen vergleichbaren Berufserfahrung von fünf auf drei Jahre überdacht werden und zumindest Hinweise, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgen soll, wären sinnvoll.

2.   Kontext — Bedeutung der Arbeitsmigration Hochqualifizierter für die Europäische Union und Notwendigkeit einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

2.1.

Migrationspolitik hat verschiedene Ziele. Eines ist die Stabilisierung der Arbeitskräftebasis in stark vom demografischen Wandel betroffenen Ländern. Ein weiteres die Übernahme sozialer Verantwortung in der Welt etwa in Form der Aufnahme von Flüchtlingen. Im Bewusstsein der Vielschichtigkeit der Thematik, konzentriert sich diese Stellungnahme auf die Arbeitskräftezuwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten.

2.2.

Ohne Zuwanderung aus Drittstaaten wird der demografische Wandel in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der EU führen. Gleichzeitig wird die Zahl älterer Menschen deutlich zunehmen. Eine derartige Entwicklung bringt große Herausforderungen für die Gestaltung der öffentlichen Haushalte mit sich, da weniger (Netto-)Beitragszahlern mehr (Netto-)Empfänger staatlicher Leistungen gegenüberstehen. Zudem drohen Engpässe am Arbeitsmarkt.

2.3.

Um diese negativen Folgen des demografischen Wandels beherrschbar zu machen, müssen zunächst die in den EU-Mitgliedstaaten bestehenden Arbeitskräftepotenziale gehoben werden. Dabei müssen starke Anstrengungen unternommen werden, insbesondere bei sozial benachteiligten Zielgruppen, um sie für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Auch kann die Mobilität innerhalb der Europäischen Union mittelfristig einen Beitrag zur Stabilisierung der Arbeitskräftebasis in den besonders von dem demografischen Wandel betroffenen Ländern leisten. Diese innereuropäische Mobilität wird noch nicht in dem Maße genutzt, wie es rechtlich und faktisch möglich wäre. Beides zusammen wird allerdings nicht ausreichen. Hinzukommen muss eine gezielte langfristige Strategie zur Förderung der legalen Einwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten.

2.4.

Derzeit stellt sich die Lage am Arbeitsmarkt in den EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich dar. Während in einigen Ländern Fachkräfteengpässe bestehen, sind andere von einer hohen Arbeitslosigkeit geprägt. Das hat zur Folge, dass sich auch die Nachfrage nach zugewanderten Arbeitskräften und die Integrationschancen für Zuwanderer aus Drittstaaten fundamental unterscheiden. Daher müssen auch die Zuwanderungsstrategien der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet werden.

2.5.

Gleichzeitig ist eine stärkere Zusammenarbeit bei der Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte für die europäischen Arbeitsmärkte notwendig. Anders als Niedrigqualifizierte haben diese Personen nämlich auch die Möglichkeit in andere Länder, insbesondere in den angelsächsischen Raum, zu wandern, und werden von diesen umworben, sodass sich Europa hier in einem Wettbewerb befindet. So entscheiden sich nur 31 % der hoch qualifizierten Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten in der OECD für einen EU-Mitgliedstaat. Ein zentrales Hemmnis für die Zuwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte in die EU sind mangelnde Kenntnisse der jeweiligen Landessprachen. Ein weiteres ist, dass insbesondere die kleineren Mitgliedsländer außerhalb Europas häufig kaum bekannt sind und deshalb fälschlicherweise als weniger attraktiv wahrgenommen werden.

2.6.

Vor diesem Hintergrund kommt der EU eine wichtige Rolle zu, um die Aktivitäten der Mitgliedstaaten zur Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten zu bündeln und somit effektiver zu machen. Zudem bringt es im Wettbewerb um international mobile Fachkräfte große Vorteile, wenn sich die Mitgliedstaaten gemeinsam als Europa präsentieren. Um die Attraktivität der EU als Zielregion für hoch qualifizierte Migranten aus Drittstaaten zu erhöhen, ist eine gezielte europäische Fachkräftegewinnungsstrategie notwendig, da nur so die EU ihren Stand im globalen Wettbewerb um hoch qualifizierte Arbeitskräfte aufrechterhalten und verbessern kann.

2.7.

Der Erfolg einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie hängt allerdings maßgeblich davon ab, inwieweit diese den nationalen Gegebenheiten Rechnung trägt und sich die EU-Mitgliedstaaten zu ihr bekennen. Daher muss bei entsprechenden Maßnahmen grundsätzlich ein möglichst breiter Konsens auch bzgl. eines dafür notwendigen Rechtsrahmens für die Fachkräftemigration angestrebt werden.

3.   Bestandteile einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

3.1.

Im Rahmen einer gemeinsamen Strategie zur Förderung der legalen Zuwanderung von Hochqualifizierten sollten Maßnahmen zur Ansprache und Vermittlung von Fachkräften aus Drittstaaten auf europäischer Ebene gestaltet werden. Eine Europäische Talentdatenbank, in der sich ähnlich wie in EURES zuwanderungsinteressierte Fachkräfte aus Drittstaaten mit ihren Qualifikationen registrieren können und über die sie Arbeitgeber direkt ansprechen können, erscheint hierbei sehr vielversprechend. Weitere Bestandteile einer europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie sollten die Bereitstellung von Informationsangeboten über die Europäische Union, die jeweiligen Zuwanderungsbestimmungen und die Arbeitsmarktsituation in den Mitgliedstaaten sein. Hinzukommen sollte ein geeigneter Rahmen für die Mobilität von Fachkräften aus Drittstaaten innerhalb der EU, ein abgestimmtes Vorgehen bei der Anerkennung von Qualifikationen aus Drittstaaten und die Etablierung einer europäischen Willkommenskultur, die Ressentiments der einheimischen Bevölkerung gegenüber Zuwanderern entgegenwirkt. Dieser Rahmen sollte unter Einbindung der nationalen und europäischen Sozialpartner entwickelt werden.

3.2.

Dabei sollte eine Strategie zur Förderung der legalen Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Drittstaaten nicht nur Personen in den Blick nehmen, die bereits vollständig ausgebildet in die EU-Mitgliedsländer kommen, sondern auch Personen, die hier zunächst ihr Studium oder einen Teil davon absolvieren. In diesem Kontext sind die mit der neuen EU-Richtlinie zu Studien- und Forschungsaufenthalten (Richtlinie (EU) 2016/801) beschlossenen Erleichterungen bei Nebenerwerbstätigkeiten von Studierenden und die Möglichkeit, nach Abschluss des Studiums mindestens neun Monaten zur Arbeitsplatzsuche im Land zu bleiben, sehr zu begrüßen. Hinzukommen müssen gezielte Informations- und Beratungsangebote an den Universitäten, die Studierende aus Drittstaaten über ihre Arbeitsmarktperspektiven in der EU informieren.

3.3.

Rechtmäßig in der EU zugelassene Drittstaatsangehörige dürfen nicht diskriminiert werden. Sie müssen vor allem wie Einheimische ortsüblich entlohnt und in ihren Arbeitsbedingungen gleichbehandelt werden.

3.4.

Bei der Ansprache fertig ausgebildeter Fachkräfte muss sehr behutsam vorgegangen werden, da in vielen potenziellen Entsendeländern selbst auch Engpässe an gut qualifizierten Fachkräften bestehen. Braindrain muss dort vermieden werden. Allerdings kann eine vorübergehende Zuwanderung von Fachkräften im Rahmen einer Brain Circulation einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern leisten. In diesem Fall muss sichergestellt werden, dass eine zeitlich befristete Rückkehr ins Heimatland nicht automatische zum Erlöschen der vorhandenen Beschäftigungserlaubnis im EU-Mitgliedstaat führt. In jedem Fall sollte eine gezielte Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus weniger entwickelten Ländern von entwicklungspolitischen Maßnahmen begleitet werden, die die Herkunftsländer u. a. dabei unterstützen, ihre Bildungssysteme weiterzuentwickeln. Diese Entwicklungspolitik ist an den Interessen der Herkunftsländer zu orientieren und darf nicht darauf abzielen, das Potenzial für eine weitere Anwerbung qualifizierter Fachkräfte aus diesen Ländern zu erhöhen.

3.5.

Um die illegale Zuwanderung einzudämmen, plant die EU, weitere gezielte Migrationspartnerschaften mit wichtigen Herkunfts- und Transitländern zu schließen. Solche Partnerschaften sollten auch zur Förderung der legalen Migration genutzt werden. Bisher wird hiervon im Rahmen der Migrationspartnerschaften kaum Gebrauch gemacht. Dabei können gezielte Maßnahmen zur Fachkräfteentwicklung in den Partnerländern und zur (ggf. kontingentierten) erleichterten Zuwanderung nach Europa vereinbart werden. Damit kann auch der illegalen Migration entgegengewirkt werden, da auf diese Weise für viele Wanderungsinteressierte eine legale Alternative geschaffen wird, die in der Regel eine weitere Investition in die Ausbildung voraussetzt, was sich auch auf das Bildungsniveau in den Herkunftsländern positiv auswirken kann.

4.   Bedarf und Grenzen einer einheitlichen Zulassungspolitik

4.1.

Die Zulassungspolitik ist ein wichtiger Teil einer Fachkräftegewinnungsstrategie. Sie regelt nicht nur den Zugang für Drittstaatenangehörige zum Arbeitsmarkt des jeweiligen Mitgliedstaats, sondern auch inwieweit sie innerhalb der EU mobil werden und Familienangehörige mitbringen oder nachholen können. Auch diese Themenbereiche sind für die Attraktivität der EU für Fachkräfte aus Drittstaaten von großer Bedeutung.

4.2.

Die Festlegung EU-weit gültiger einheitlicher Regelungen für die Vergabe von Aufenthaltstiteln stellt immer einen starken Eingriff in die nationale Souveränität dar. Dabei gilt, dass der Eingriff umso schwerwiegender ist, je stärker der nationale aufenthaltsrechtliche Rahmen harmonisiert wird und je weniger Gestaltungsspielraum damit bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Daher muss der Entscheidung über einheitliche Zulassungskriterien grundsätzlich eine gründliche Abwägung zwischen den Vorteilen EU-weiter Regelungen und der Unterschiedlichkeit nationaler Bedarfe und Interessen vorangehen.

4.3.

Die Bedarfe an Arbeitskräften aus Drittstaaten unterscheiden sich sehr stark zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Artikel 79 AEUV ermöglicht es daher zu Recht der EU-Ebene, eine gemeinsame Zuwanderungspolitik zu entwickeln, setzt gleichwohl nicht das Recht der Mitgliedstaaten zur Festzulegung einer nationalen Zulassungspolitik außer Kraft. Denn nationale Zulassungskriterien für die Erwerbsmigration aus Drittstaaten werden den Besonderheiten der nationalen Arbeitsmärkte in der Regel besser gerecht. Auch Arbeitsmarktprüfungen können für die Steuerung der Erwerbszuwanderung von Bedeutung sein und sollten im Ermessen der Mitgliedstaaten bleiben.

4.4.

Allerdings ist ein gemeinsamer Rahmen zwingend notwendig, da die Ökonomien der EU-Mitgliedstaaten im Zuge des Europäischen Binnenmarktes sehr eng miteinander verflochten sind. So verfügen viele Unternehmen über Produktionsstandorte in mehreren EU-Ländern und vertreiben EU-weit ihre Waren und Dienstleistungen. Damit einhergehend müssen die Unternehmen häufig auch Mitarbeiter aus Drittstaaten mit besonderen Qualifikationen kurzfristig in verschiedenen EU-Ländern einsetzen. Wenn diese nicht unter den Anwendungsbereich der Richtlinie über konzerninterne Entsendung (sog. ICT-Richtlinie) fallen und der entsprechende Aufenthaltstitel nicht zu einer Beschäftigung in einem anderen EU-Land berechtigt, macht dies den Einsatz von Drittstaatsangehörigen schwierig. Ähnliche Probleme stellen sich auch für Zuwanderer, die sich in einem EU-Land selbstständig machen und mit ihrem Unternehmen in mehreren EU-Ländern agieren wollen oder müssen. Diesem Mobilitätsbedarf für hoch qualifizierte Drittstaatsangehörige muss unbedingt Rechnung getragen werden.

5.   Erfahrungen mit der Blauen Karte EU und Reformbedarf

5.1.

Zusammen mit anderen Instrumenten ist die Blaue Karte EU ein wichtiger Baustein einer gemeinsamen Fachkräftegewinnungsstrategie für Hochqualifizierte. Sie bietet sehr große Potenziale für die Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten, da sie ähnlich der amerikanischen Greencard ein Marketinginstrument für die Bewerbung der EU als Zuwanderungsregion darstellen kann. Zudem macht sie es für zuwanderungsinteressierte Hochqualifizierte leichter, ihre Chancen auf einen Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten abzuschätzen, da in allen EU-Mitgliedstaaten zumindest der Struktur nach dieselben Kriterien gelten. Damit kann sie auch die Zuwanderung in die EU fördern.

5.2.

Allerdings ist die Blaue Karte in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich erfolgreich. Während sie in einem Land, wie z. B. Deutschland, ein wichtiger Baustein der Fachkräftegewinnungsstrategie ist, nutzen andere diese kaum oder gar nicht und setzen nach wie vor im Wesentlichen auf nationale Aufenthaltstitel. Im Jahr 2015 wurden rund 14 600 der 16 800 erstmals erteilten Blauen Karten in Deutschland ausgestellt. Das entspricht einem Anteil von nahezu 90 %. In keinem anderen EU-Mitgliedstaat lag die Zahl bei über 1 000. In einer Reihe von EU-Ländern wurden sogar weniger als 20 Blaue Karten ausgestellt. Hierzu zählen auch Länder mit einer vergleichsweise guten Arbeitsmarktlage, wie die Niederlande und Schweden.

5.3.

Viele EU-Mitgliedstaaten nutzen die Blaue Karte EU also nicht als strategisches Instrument zur Gewinnung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten. Das hat zur Folge, dass die Blaue Karte EU von zuwanderungsinteressierten Fachkräften aus Drittstaaten auch nicht als Marke für die gemeinsame Zuwanderungspolitik der EU insgesamt wahrgenommen wird und ihre Potenziale entfalten kann. Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission einen Reformvorschlag für die Blaue Karte EU vorgelegt.

5.4.

Insgesamt ist der Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Blauen Karte positiv zu bewerten, da er sich zum Ziel gesetzt hat, die wichtigen Themenbereiche Zusammenspiel mit anderen nationalen Aufenthaltstiteln, Mobilität der Fachkräfte aus Drittstaaten innerhalb der EU und erleichterte Vergabekriterien aufzugreifen und Lösungen zu bieten. Allerdings sind wichtige Korrekturen angebracht.

5.5.

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, dass an hoch qualifizierte Erwerbsmigranten aus Drittstaaten keine anderen Aufenthaltstitel als die Blaue Karte EU mehr vergeben werden sollen. Ausgenommen wären nur besondere Berufsgruppen wie Selbstständige und Wissenschaftler. Die Rigidität macht es für die Mitgliedstaaten schwierig, ihre Zuwanderungspolitik entsprechend ihrer Fachkräftebedarfe zu gestalten und gezielt auf besondere Engpasssituationen zu reagieren. Ein striktes Verbot anderer Zugangswege für hoch qualifizierte abhängig Beschäftigte ist daher nicht zielführend. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ihre nationalen Systeme auch weiterhin beizubehalten.

5.6.

Dennoch muss die Blaue Karte EU stärker in den Zulassungspolitiken der EU-Mitgliedstaaten verankert werden. Hierzu sollte in den Erwägungsgründen der Richtlinie ein Passus aufgenommen werden, nachdem die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, die Vergabe einer Blauen Karte EU gegenüber nationalen Aufenthaltstiteln zu bevorzugen, wenn der betreffende Bewerber die Kriterien für ihre Vergabe erfüllt. Damit würden die nationalen Handlungsspielräume nicht so stark eingeschränkt wie bei einem Verbot anderer Titel. Zudem ist anzumerken, dass ein Erfolg der Blauen Karte EU nicht allein durch entsprechende Regelungen in der EU-Richtlinie erreicht werden kann, sondern dafür ein klares Bekenntnis der EU-Mitgliedstaaten zur Blauen Karte EU erforderlich ist. Diese kann nur erfolgreich sein, wenn die EU-Mitgliedstaaten den Mehrwert der Blauen Karte EU sehen.

5.7.

Ein Absenken der Gehaltsgrenzen ist sinnvoll, allerdings geht der Vorschlag der Kommission zu weit

5.7.1.

Die bisherigen Gehaltsgrenzen von mindestens dem 1,5-Fachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts bzw. dem 1,2-Fachen in Engpassberufen können in einzelnen EU-Staaten insbesondere für Berufsanfänger eine Hürde sein. Daher kann ein Absenken dieser Grenzen ein richtiger Schritt sein, dem die Gewerkschaften aber kritisch gegenüber stehen. Aus Sicht des EWSA ist sicherzustellen, dass hoch qualifizierte Berufseinsteiger keinesfalls unterhalb des Durchschnittslohnes bezahlt werden dürfen. Die Grenze von 0,8 im Kommissionsvorschlag ist zu niedrig.

5.7.2.

Diese Einschätzung fußt auf der Tatsache, dass in die Berechnung des durchschnittlichen Bruttogehalts alle Beschäftigte eingehen und Hochqualifizierte selbst beim Berufseinstieg bei qualifikationsadäquater Beschäftigung in der Regel überdurchschnittliche Löhne erzielen können sollten. Bestehen in einem Mitgliedstaat Fachkräfteengpässe ist die Festsetzung vergleichsweise niedriger Gehaltsgrenzen für die Vergabe der Blauen Karte EU sinnvoll, ist die Arbeitslosigkeit jedoch auch bei qualifizierten Erwerbstätigen hoch, sind in der Regel höhere Grenzen angebracht. Zudem sollte nicht der Eindruck erweckt werden, die Blaue Karte EU würde dazu dienen, „billige“ Arbeitskräfte in die EU zu holen. Dies könnte auch der notwendigen Akzeptanz der Regelung schaden.

5.7.3.

Zudem ist anzumerken, dass die Richtlinie nach wie vor nicht klar regelt, wie das zugrunde zu legende Durchschnittseinkommen ermittelt werden soll, was großen Einfluss auf die letztlich gültigen Gehaltsgrenzen haben kann.

5.8.

Die geplanten weiteren Erleichterungen bei der Vergabe der Blauen Karte EU sind zu begrüßen

5.8.1.

Die von der Kommission vorgeschlagene Reduzierung der Mindestlaufzeit des für die Blaue Karte EU vorzulegenden Arbeitsvertrags von 12 auf 6 Monate ist ein richtiger Schritt, da sie es Arbeitgebern, die sich unsicher über die tatsächlichen Fähigkeiten eines hoch qualifizierten Drittstaatenangehörigen sind, leichter macht, einen Arbeitsvertrag zu schließen und so die Zuwanderung fördert.

5.8.2.

Auch die weiterhin vorhandene Möglichkeit, einen Hochschulabschluss durch entsprechende Berufserfahrung zu ersetzen, ist positiv zu bewerten, sollte jedoch fakultativ bleiben. Auch die Reduzierung der erforderlichen vergleichbaren Berufserfahrung von fünf auf drei Jahre sollte überdacht werden. In diesem Zusammenhang sind zumindest auch Hinweise sinnvoll, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgen soll, damit die Auslegung durch die Mitgliedstaaten nicht zu weit auseinanderläuft.

5.8.3.

Eine Öffnung der Blauen Karte EU für Schutzberechtigte aus Drittstaaten, die die Anforderungen für eine qualifizierte Zuwanderung erfüllen, ist sinnvoll, denn gut qualifizierten Flüchtlingen muss der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden.

5.9.

Die Neuregelungen zur Mobilität von Inhabern der Blauen Karte innerhalb der EU sind ein wichtiger Schritt.

5.9.1.

Hoch qualifizierte Beschäftigte sollten bei Bedarf auch kurzfristig in anderen EU-Mitgliedstaaten einsetzbar sein. Daher ist die von der Kommission vorgeschlagene klare Regelung von Geschäftsaufenthalten in anderen EU-Mitgliedstaaten ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die vorgeschlagene Maximaldauer von 90 Tagen innerhalb einer Spanne von 180 Tagen sollte nochmals mit Praktikern erörtert werden.

5.9.2.

Die Möglichkeit, nach einem Jahr ohne erneute umfangreiche Überprüfung der Qualifikationen in einem anderen EU-Mitgliedstaat eine Blue Card zu beantragen, ist ein richtiger Schritt zur Mobilitätsförderung innerhalb der EU.

6.   Integrationspolitik als wichtiger Teil der europäischen Fachkräftegewinnungsstrategie

6.1.

Um vor dem Hintergrund des demografischen Wandels die Fachkräftebasis in Europa zu sichern, reicht es nicht aus, wenn genügend Fachkräfte aus Drittstaaten für die Zuwanderung gewonnen werden. Vielmehr müssen ihnen auch gute Integrationsperspektiven geboten werden, damit sie ihre Potenziale an den europäischen Arbeitsmärkten voll entfalten können und sich auch für einen langfristigen Verbleib in Europa entscheiden. Daher ist der von der EU-Kommission vorgelegte Aktionsplan für die Integration auch mit Blick auf die Erwerbsmigration zu begrüßen.

6.2.

Jedwede Form gewünschter Immigration ist auch Ausdruck der Ablehnung von Rassismus und Xenophobie. Dies entspricht der Werteorientierung der EU und ist handlungsleitend für Politik und Gesellschaft.

6.3.

Dass der Integrationsplan bereits die Zeit vor der Ankunft in Europa in den Blick nimmt, ist sehr positiv zu bewerten, da wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Integration bereits vor der Ankunft im Zielland gelegt werden. Insbesondere gilt das für den Spracherwerb. Indem Sprachkurse und weitere auf eine mögliche Zuwanderung in die EU ausgerichtete Bildungsangebote die Karriereperspektiven in der EU verbessern, machen sie diese für die teilnehmenden Personen aus Drittstaaten auch als Zielregion attraktiver. So können sie auch einen direkten Beitrag zur Förderung der Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten leisten.

6.4.

Auch wenn der Integrationsplan einzelne Maßnahmen für Hochqualifizierte enthält, wie eine engere Zusammenarbeit bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, ist er im Kern doch auf andere Zuwanderungsgruppen mit größeren Unterstützungsbedarfen ausgerichtet. Dies ist so auch richtig. Allerdings sollte eine gemeinsame Strategie zur Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten über den bestehenden Integrationsplan hinaus gezielte Integrationsangebote für Hochqualifizierte bündeln. In diesem Zusammenhang wird auf die Empfehlungen des Europäischen Forums für Migration vom April 2016 verwiesen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen“

(COM(2016) 128 final — 2016/0070 (COD))

(2017/C 075/15)

Berichterstatterinnen:

Vladimíra DRBALOVÁ und Ellen NYGREN

Befassung

Europäisches Parlament, 11.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

22.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

180/84/30

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

1.1.

Der EWSA begrüßt das Engagement der Europäischen Kommission, auf einen vertieften und gerechteren Binnenmarkt als eine der wichtigsten Prioritäten ihres Mandats hinzuarbeiten, und ihre Bemühungen um zusätzliche Impulse für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen ihrer Investitionsoffensive für Europa.

1.2.

Der EWSA unterstützt den Beschluss der Europäischen Kommission, die Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU (1) heranzuziehen, um eine gemeinsame Auslegung und Durchführung der Richtlinie 96/71/EG (2) über die Entsendung von Arbeitnehmern zu verbessern.

1.3.

In der Durchsetzungsrichtlinie und in dem aktuellen Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern werden unterschiedliche Aspekte der Praxis der Arbeitnehmerentsendung behandelt. Zum einen ergänzen sie sich gegenseitig und zum anderen könnten die Ergebnisse der Durchführung der Durchsetzungsrichtlinie auch ein klareres Bild von der tatsächlichen Situation vermitteln.

1.4.

Der EWSA befürwortet grundsätzlich den Vorschlag der Kommission zur Neufassung der Entsenderichtlinie. Der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ist der zentrale Baustein für die Säule sozialer Rechte in Europa.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass Tarifverträge Maßstab für die Höhe der Entlohnung sind.

1.6.

Der EWSA stellt fest, dass die besondere Rolle der Sozialpartner nicht beachtet wurde, und möchte wissen, warum sie nicht gemäß Artikel 154 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ordnungsgemäß konsultiert wurden.

1.7.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich, dass die Kommission die Höchstdauer der Entsendung konkret festlegt. Die Begrenzung auf 24 Monate ist ein Schritt in die richtige Richtung. Eine Begrenzung auf sechs Monate würde der betrieblichen Wirklichkeit näher kommen.

1.8.

Der EWSA fordert, dass in der Entsenderichtlinie klargestellt wird, dass die Richtlinie kein Maximal-, sondern ein Mindeststandard ist. Dafür muss die Rechtsgrundlage erweitert werden.

2.   Die politischen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene

2.1.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit sind Grundprinzipien der Europäischen Union.

2.2.

Es sollte ein Unterschied zwischen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Dienstleistungsfreiheit gemäß Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gemacht werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gibt allen Bürgern das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort zu arbeiten und zu diesem Zweck ansässig zu werden, und schützt sie im Bereich der Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen vor Diskriminierung gegenüber den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.

2.3.

Im Gegensatz dazu erhalten die Unternehmen durch die Dienstleistungsfreiheit das Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen. Zu diesem Zweck können sie ihre eigenen Arbeitnehmer vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat entsenden, um dort die zur Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen Arbeiten auszuführen.

2.4.

Am 16. Dezember 1996 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (3) verabschiedet.

2.5.

Mit dieser Richtlinie soll die Ausübung der Freiheit, grenzüberschreitende Dienstleistungen gemäß Artikel 56 AEUV zu erbringen, mit dem angemessenen Schutz der Rechte von Arbeitnehmern vereinbart werden, die zu diesem Zweck vorübergehend ins Ausland entsandt werden.

2.6.

Im Oktober 2010 unterbreitete die Kommission in ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte — Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft — 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu treiben“ (4) zwei Vorschläge zur Wiederherstellung des Vertrauens und der Unterstützung seitens der Öffentlichkeit; einer betraf das ausgewogene Verhältnis zwischen grundlegenden Sozialrechten und wirtschaftlichen Freiheiten und der andere die Entsendung von Arbeitnehmern.

2.7.

Im März 2010 legten die europäischen Sozialpartner einen Bericht (5) über die Folgen der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor, in dem sie ihre stark divergierenden Ansichten darlegten. Während BusinessEurope eine Änderung der Richtlinie ablehnte (jedoch den Klärungsbedarf bestimmter Aspekte der Durchsetzung akzeptierte), sprach sich der EGB für eine grundlegende Änderung aus.

2.8.

Im Dezember 2012 veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG. Mit dieser Durchsetzungsrichtlinie  (6) wird ein gemeinsamer Rahmen angemessener und für eine bessere und einheitlichere praktische Durchführung, Anwendung und Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG notwendiger Bestimmungen, Maßnahmen und Kontrollmechanismen festgelegt, darunter auch Maßnahmen zur Verhinderung und Sanktionierung jeglicher Umgehung und jeglichen Missbrauchs der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Zugleich werden der Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer und die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse für die freie Dienstleistungserbringung gewährleistet.

2.9.

Die Frist für die Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie lief am 18. Juni 2016 ab, und spätestens zum 18. Juni 2019 soll die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem EWSA einen Bericht über deren Anwendung und Umsetzung vorlegen und gegebenenfalls Änderungen vorschlagen. Die Kommission wird nach Konsultation der Mitgliedstaaten und der europäischen Sozialpartner die Angemessenheit und Zweckmäßigkeit aller eingeführten und angewandten Maßnahmen — unter anderem auch die Eignung der zur Entsendung vorliegenden Daten — prüfen.

3.   Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern

3.1.

Laut den letzten verfügbaren Daten gab es im Jahr 2014 über 1,9 Mio. Entsendungen in der EU, was 0,7 % (7) der Gesamterwerbsbevölkerung der EU entspricht. Dies stellt eine Erhöhung um 10,3 % gegenüber 2013 und um 44,4 % gegenüber 2010 dar. Diese Statistiken basieren auf der Zahl der von einzelstaatlichen Sozialversicherungsträgern ausgestellten A1-Formulare; keine Angaben gibt es zu der Zahl der tatsächlich entsandten, nicht registrierten Arbeitnehmer.

3.2.

In der Entsenderichtlinie von 1996 wird der EU-rechtliche Rahmen festgelegt, der für ein angemessenes und gerechtes Gleichgewicht zwischen den Zielen der Förderung und Erleichterung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung, des Schutzes entsandter Arbeitnehmer und der Gewährleistung gleicher Ausgangsbedingungen für gebietsfremde und gebietsansässige Wirtschaftsteilnehmer sorgen sollte.

3.3.

Unterdessen hat die Kommission einen Vorschlag zur gezielten Überarbeitung dieser Richtlinie vorgelegt, um sowohl gegen unlautere Praktiken (8) vorzugehen als auch den Grundsatz des gleichen Entlohnung für gleiche Arbeit am gleichen Ort zu fördern.

3.4.

Der Vorschlag wurde vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der 2014 verabschiedeten Durchsetzungsrichtlinie veröffentlicht, noch bevor eine Bewertung seiner Umsetzung durchgeführt werden konnte. Die meisten Herausforderungen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern hängen nach wie vor mit einer schlechten Durchsetzung und dem Fehlen von Kontrollen in den Mitgliedstaaten zusammen. Zugleich besteht das Hauptziel der vorgeschlagenen Überarbeitung in einer Verdeutlichung des Grundsatzes des gleichen Entlohnung. Dieses Ziel kann nur durch eine Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG selbst erreicht werden.

3.5.

In diesem Zusammenhang hat der EWSA bereits geltend gemacht, dass durch die wirksame Umsetzung der Entsenderichtlinie „jedoch [nicht] eine teilweise Revision der Entsenderichtlinie (…) ausgeschlossen werden [sollte], damit das ‚Arbeitsortprinzip‘ einheitlich angewandt und so gesetzlich festgelegt werden kann, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort immer die gleichen Arbeitsbedingungen und Löhne gelten müssen“ (9).

3.6.

Der Vorschlag wurde ohne vorherige Anhörung der europäischen Sozialpartner veröffentlicht, die die Kommission in einem gemeinsamen Schreiben zur angemessenen Konsultation im Einklang mit Artikel 154 Absatz 2 AEUV aufgefordert hatten.

3.7.

Anlässlich der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags haben die Mitgliedstaaten, Sozialpartner und Unternehmen auch untereinander divergente Standpunkte bezogen. Die vorgeschlagene Richtlinie sollte nicht die Wettbewerbsfähigkeit untergraben oder neue Hindernisse für Anbieter grenzübergreifender Dienstleistungen schaffen. Durch die Überarbeitung sollten ein fairer Wettbewerb im Binnenmarkt gewährleistet und zugleich Diskriminierungen zwischen Arbeitnehmern aufgrund ihrer Nationalität verhindert werden.

3.8.

Im Einklang mit dem Protokoll Nr. 2 der Verträge (10) haben 14 Kammern nationaler Parlamente begründete Stellungnahmen an die Kommission gesandt, in denen sie betonen, dass der Kommissionsvorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, wodurch das sogenannte Verfahren der „gelben Karte“ ausgelöst worden ist. Aus ihrer Subsidiaritätsüberprüfung zog die Kommission am 20. Juli 2016 den Schluss (11), dass der Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG mit dem in Artikel 5 Absatz 3 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzips vereinbar und eine Rücknahme bzw. Änderung des Vorschlags nicht erforderlich ist. Die Kommission hielt daher an ihrem Vorschlag fest.

3.9.

Die Unternehmen sind teilweise der Ansicht, dass der Vorschlag gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Einige Unternehmen vertreten die Auffassung, dass die vorgeschlagenen Änderungen zu Rechtsunsicherheit und zusätzlichem Verwaltungsaufwand führen werden. Ihres Erachtens kann die Überarbeitung besonders Unternehmen aus Mitgliedstaaten mit geringerem Lohnniveau betreffen, die die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen im Binnenmarkt anstreben, und damit dem Ziel und den Anstrengungen zur Stärkung der Konvergenz in der EU zuwiderlaufen.

3.10.

Andere, darunter auch die Gewerkschaften, sind der Ansicht, dass die vorgeschlagene Überarbeitung — und insbesondere das Konzept des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort — für gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen und mehr gleiche Rechte für Arbeitnehmer in der EU sorgen würde. Auch wird dadurch innerhalb der EU eine Angleichung nach oben gefördert, indem u. a. die Lohnunterschiede zwischen den Arbeitnehmern aus den alten und den neuen Mitgliedstaaten beseitigt werden.

3.11.

Dem Kommissionsvorschlag war eine Folgenabschätzung (12) beigefügt, in der darauf hingewiesen wird, dass sich die vorgeschlagenen Maßnahmen für die Anwendung der überarbeiteten Richtlinie unterschiedlich auf die einzelnen Mitgliedstaaten, Branchen und Unternehmen auswirken würden und dass immer noch das Problem einer lückenhaften Datenlage zur Entsendung von Arbeitnehmern besteht.

3.12.

Im Jahr 2010 veröffentlichte Eurofound einen Bericht über Arbeitnehmerentsendung in der Europäischen Union (13), in dem das Phänomen in den EU-Mitgliedstaaten und in Norwegen beleuchtet wird. Der Bericht umfasst eine Bestandsaufnahme der verfügbaren Informationsquellen über die Entsendung sowie Zahlen über diejenigen Länder, für die Daten vorliegen. Die Untersuchungen von Eurofound verdeutlichen, dass es an Daten über die Gesamtzahlen und die Merkmale der Entsendungen in der gesamten EU mangelt.

3.13.

Ergänzt wird der Eurofound-Bericht durch zwei jüngere Untersuchungen über eine gerechtere Mobilität auf dem Arbeitsmarkt: „Topical update on Member States’ progress in transposing Enforcement Directive on posting of workers“ und „Exploring the fraudulent contracting of work in the European Union“ (14).

4.   Die wichtigsten Änderungen in der vorgeschlagenen Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG

4.1.    Entlohnung

4.1.1.

Die Kommission schlägt vor, den Begriff „Mindestlohnsätze“ durch „Entlohnung“ zu ersetzen. Laut dem Vorschlag der Europäischen Kommission umfasst „Entlohnung“ alle die Entlohnung ausmachenden Bestandteile, die im Aufnahmemitgliedstaat vorgeschrieben sind.

4.1.2.

Die Kommission legte den Vorschlag als Reaktion auf zahlreiche Forderungen nach Maßnahmen vor, um gegen die Ursachen der Lohnunterschiede anzugehen. Ihr zufolge besteht eine Kluft zwischen den für gebietsansässige Arbeitnehmer geltenden Bedingungen und solchen für entsandte Arbeitnehmer. Nach der dem Vorschlag beigefügten Folgenabschätzung beträgt der Lohnunterschied zwischen entsandten und gebietsansässigen Arbeitskräften schätzungsweise 10 % bis 50 % je nach Land und Branche. Unterschiedliche Lohnvorschriften führen zu einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den Unternehmen. Das Konzept „Mindestlohnsätze“ deckt sich nicht mit den für gebietsansässige Arbeitnehmer geltenden Entlohnungsvorschriften.

4.1.3.

Nach Auffassung der Kommission kann das Konzept „Entlohnung“ daher besser zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt für Dienstleistungen beitragen. Der Begriff „Entlohnung“ umfasst alle Bestandteile der Vergütung für gebietsansässige Arbeitnehmer, die in Rechtsvorschriften oder Tarifverträgen festgelegt sind, die für alle vergleichbaren Unternehmen im geografischen Gebiet und im betreffenden Beruf oder Gewerbe allgemeinverbindlich sind, bzw., falls es ein solches System nicht gibt, in auf einzelstaatlicher Ebene zwischen den führenden Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften geschlossenen Tarifvereinbarungen, die im gesamten nationalen Hoheitsgebiet gelten. „Entlohnung“ könnte auch einige Elemente umfassen, die nicht im „Mindestlohnsatz“ enthalten sind, wie Dienstalterszulagen, Schmutz-, Erschwernis- oder Gefahrenzulagen, Qualitätsboni, 13. Monatsgehalt, Reisekosten, Essensgutscheine — wobei die meisten Länder bereits mehrere dieser Elemente in den „Mindestlohnsatz“ aufgenommen haben.

4.1.4.

Nach Ansicht der Kommission sollte die Einführung des Begriffs „Entlohnung“ zu mehr Klarheit über die die Entlohnung ausmachenden Bestandteile und zum Abbau der bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Branchen bei der verbindlichen Anwendung von Tarifverträgen beitragen. Der Begriff der Entlohnung sollte auch jegliche Unsicherheit hinsichtlich der Höhe des Arbeitsentgelts beseitigen, das entsandten Arbeitnehmern zu garantieren ist. Mit der vorgeschlagenen Änderung soll die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-396/13 Sähköalojen ammattiliitto kodifiziert und damit erheblich mehr Rechtssicherheit für Arbeitnehmer wie auch Unternehmen geschaffen werden (15).

4.1.5.

Die Kommission betont, dass der Vorschlag sich nicht auf die Zuständigkeiten und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Entlohnungsvorschriften auswirken und die große Autonomie der Sozialpartner gewahrt bleiben wird. In diesem Zusammenhang ist es Besorgnis erregend, dass die Kommission die Streichung des Verweises in der derzeitigen Richtlinie vorschlägt, dass „Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt [werden], in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird“. Diese Bestimmung ist wichtig für die Übereinstimmung mit den verschiedenen nationalen Systemen der Arbeitsbeziehungen.

4.1.6.

Für die Zwecke dieser Richtlinie wird der Begriff „Entlohnung“ durch die Rechtsvorschriften, Tarifvereinbarungen und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

4.1.7.

Diese Richtlinie steht nicht der Anwendung von Arbeitsbedingungen des Aufnahme- oder des Herkunftslands des entsandten Arbeitnehmers entgegen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, insbesondere durch die Ausübung des Grundrechts der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Tarifvereinbarungen auf geeigneter Ebene auszuhandeln und abzuschließen sowie kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen, darunter auch Streiks, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, einschließlich des Rechts auf Gleichbehandlung, zu schützen und zu verbessern.

4.1.8.

Zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, auf einer einzigen Website Informationen über die für in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmer geltenden Beschäftigungsbedingungen zu veröffentlichen. Dieser Prozess sollte nicht durch einen neuen Vorschlag gestört werden.

4.1.9.

Die EWSA-Mitglieder haben sich eingehend mit dem neuen Konzept der „Entlohnung“ und all seinen Auswirkungen befasst.

4.1.10.

Einige Mitglieder halten das neue Konzept für die einzige Möglichkeit, gleiche Arbeitsbedingungen für die entsandten und einheimischen Arbeitnehmer sicherzustellen, Lohnunterschiede auszuräumen und gleiche Ausgangsbedingungen für die Unternehmen zu gewährleisten. Um die umfassende Anwendung des Grundsatzes der gleichen Entlohnung zu gewährleisten, müssen am Arbeitsplatz angewandte Tarifverträge eingehalten werden, ob sie allgemeinverbindlich sind oder nicht.

4.1.11.

Andere Mitglieder wiederum befürchten, dass das neue Konzept zu Rechtsunsicherheit, Unklarheit und höherem Verwaltungs- und Kostenaufwand führen könnte. Bei jeder Debatte über die Entsendung von Arbeitnehmern sollte berücksichtigt werden, dass sich die Ausgangssituationen der ausländischen und der einheimischen Unternehmen unterscheiden. Einem ausländischen Diensteanbieter, der Arbeitnehmer entsenden will, entstehen allein durch die Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zusätzliche Kosten in Form von weiteren Betriebskosten (16) und durch die grenzüberschreitende Entsendung bedingten indirekten Arbeitskosten (17).

4.2.    Entsendungen für mehr als 24 Monate

4.2.1.

Zu der Dauer der Entsendungen schlägt die Kommission vor, dass in Fällen, in denen die vorgesehene oder tatsächliche Entsendungsdauer 24 Monate überschreitet, der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Arbeitnehmer entsandt ist, als das Land gilt, in dem dieser seine Arbeit gewöhnlich verrichtet. Dies gilt ab dem ersten Tag, an dem die Entsendung die Dauer von 24 Monaten tatsächlich überschreitet. Darüber hinaus führt die Kommission einen kumulierten Entsendungszeitraum für die Fälle ein, in denen Arbeitnehmer abgelöst werden.

4.2.2.

In der ursprünglichen Richtlinie wird kein befristeter Zeitraum festgelegt, und es heißt darin, dass im Sinne der Richtlinie als „entsandter Arbeitnehmer“ jeder Arbeitnehmer gilt, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Staats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.

4.2.3.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich die Begrenzung der Entsendedauer im Regelungsbereich der Entsenderichtlinie. In der Praxis sind dauerhafte bzw. immer wiederkehrende Entsendungen bis hin zu mehrjährigen Kettenentsendungen an der Tagesordnung. Aus Sicht des EWSA ist die Begrenzung auf 24 Monate jedoch für die Praxis untauglich und sollte deutlich verkürzt werden. So betrug die durchschnittliche Dauer von Entsendungen 2014 sogar weniger als vier Monate (103 Tage). Daher würde auch eine Kumulationsregel, die erst ab einer Entsendedauer von sechs Monaten gilt, ins Leere laufen. Die Höchstdauer der Entsendung sollte auf sechs Monate insgesamt begrenzt werden.

4.2.4.

Der EWSA fordert daher eine Regelung, nach der Entsendezeiträume ab dem ersten Tag zusammengerechnet werden. Damit die Regelung nicht nur zu einem Austausch von entsandten Arbeitnehmern führt, ist wichtig, dass der Bezugspunkt hierfür der konkrete Arbeitsplatz bleibt. Hierbei ist der Arbeitgeber zu verpflichten, Transparenz über die Arbeitsplätze herzustellen und den Beschäftigten und den zuständigen Behörden z. B. Auskunft darüber zu erteilen, wie viele Beschäftigte wie lange vorher auf der Stelle beschäftigt waren.

4.2.5.

Der EWSA begrüßt, dass bei einer Überschreitung der Höchstentsendezeit grundsätzlich das Recht des Aufnahmemitgliedstaates gilt. Aus Sicht des EWSA ist hierbei jedoch problematisch, dass in Erwägungsgrund 8 auf die Rom-I-Verordnung verwiesen wird („Für die Arbeitnehmer gelten insbesondere der Schutz und die Leistungen gemäß der ROM-I-Verordnung“). Nach Artikel 8 der Rom-I-Verordnung unterliegen Individualarbeitsverträge grundsätzlich der Rechtswahl der Parteien.

4.3.    Vergabe von Unteraufträgen

4.3.1.

Mit dem Kommissionsvorschlag wird es den Mitgliedstaaten ermöglicht, für Arbeitnehmer in einer Untervergabekette dieselben Bedingungen wie durch den Hauptauftragnehmer anzuwenden. Diese Bedingungen müssten — im Einklang mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung — genauso für nationale wie für grenzüberschreitende Unterauftragnehmer gelten.

4.3.2.

Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bzw. Tarifverträgen der einzelnen Mitgliedstaaten, mit denen sichergestellt werden soll, dass Unternehmen nicht durch die Untervergabe von Aufträgen Vorschriften über bestimmte die Entlohnung betreffende Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen umgehen können. Es ist nicht erkennbar, wie viele Mitgliedstaaten bereits ein solches System anwenden, und die Kommission hat in ihrer Folgenabschätzung keine eingehende Untersuchung der möglichen Folgen derartiger Bestimmungen vorgelegt.

4.3.3.

Mit Blick auf die Praxistauglichkeit dieses Teils des Vorschlags könnte es jedoch nützlich sein, auf eine Vorschrift über die gesamtschuldnerische Haftung über alle Unterauftragsketten hinweg gemäß Artikel 12 der Durchsetzungsrichtlinie (18) zu verweisen.

4.3.4.

Darüber hinaus ist die Formulierung „bestimmte die Entlohnung betreffende Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ vage und wird zu Rechtsunsicherheit, unterschiedlichen Auslegungen und möglichen Widersprüchen zu anderen Teilen der Richtlinie führen. Ferner gäbe es Vergleichsprobleme und viele andere rein praktische Probleme, wie der Zugang zu Informationen (auch in Verbindung mit der Verpflichtung der Regierungen, derartige Informationen nach Artikel 5 der Richtlinie 2014/67/EU zu veröffentlichen, und der Verfügbarkeit von Tarifverträgen).

4.3.5.

Unklar ist auch, wie die Kommission für diese Bestimmungen Prüfungen der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit festlegen und durchführen würde.

4.3.6.

Darüber hinaus werden angemessene Vorschriften eingeführt werden müssen, um den tatsächlichen Status der Selbstständigkeit von Unterauftragnehmern — im Einklang mit den Normen der Mitgliedstaaten — zu prüfen.

4.4.    Leiharbeit

4.4.1.

Die Kommission führt eine neue Verpflichtung für die Mitgliedstaaten mit dem neuen Absatz ein, in dem die für Arbeitnehmer gemäß Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie geltenden Bedingungen festgelegt werden, d. h. für Arbeitnehmer, die von einem Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt werden, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Niederlassungsmitgliedstaat des verwendenden Unternehmens hat. Die in Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c genannten Unternehmen müssen entsandten Arbeitnehmern die nach Artikel 5 der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit (19) für Leiharbeitnehmer geltenden Bedingungen garantieren, die im Mitgliedstaat der Leistungserbringung niedergelassene Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung stellen.

4.4.2.

Nach Ansicht des EWSA ist diese neue Bestimmung nicht erforderlich, da die ursprüngliche Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern in Artikel 3 Absatz 9 bereits eine solche Möglichkeit enthält. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen Arbeitnehmern im Sinne von Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c diejenigen Bedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, für Leiharbeitnehmer gelten. Die Möglichkeit der Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG wird bereits von einer Mehrheit der Aufnahmeländer genutzt.

4.4.3.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission die bestehende Regelung beibehalten. Es muss berücksichtigt werden, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104/EG für die jeweiligen Umstände in den verschiedenen Mitgliedstaaten gelten, während die Richtlinie 96/71/EG für grenzüberschreitende Tätigkeiten gilt. Dies wurde von der Kommission selbst in ihrem Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit (20) anerkannt.

4.4.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass Artikel 5 der Richtlinie 2008/104/EG viel weiter gefasst ist als Artikel 3 Absatz 9 der Richtlinie 96/71/EG und dass dies paradoxerweise zu unterschiedlichen Voraussetzungen für die Entsendung von Arbeitnehmern nach Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe a und b sowie nach Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c der geltenden Rechtsvorschriften führen könnte.

5.   Weitere Maßnahmen

5.1.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten zur fristgerechten Umsetzung der Richtlinie 2014/67/EU (21) anhalten, sofern diese noch nicht erfolgt ist, und die korrekte Durchführung in allen Mitgliedstaten sicherstellen. Nach zwei Jahren sollte die Kommission eine Folgenabschätzung vornehmen, um festzustellen, ob die getroffenen Maßnahmen zu einer angemessenen und wirksamen Durchführung und Durchsetzung geführt haben, denn diese sind von zentraler Bedeutung für den Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer und für die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Dienstleister.

5.2.

Die Kommission sollte eine eingehende Analyse der Umstände in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten durchführen, reale quantitative Informationen über entsandte Arbeitnehmer vorlegen und Möglichkeiten der Durchführung und Durchsetzung der geltenden Richtlinie darlegen.

5.3.

Die Verfügbarkeit zuverlässiger Daten über Entsendungen ist eine Voraussetzung für eine wirkungsvolle Debatte über ihre besonderen Merkmale und den spezifischen Schutzbedarf der entsandten Arbeitnehmer.

5.4.

Wenn die Kommission einen fairen Wettbewerb sicherstellen will, sollte der Schwerpunkt ihrer nächsten Schritte auch auf der Bekämpfung betrügerischer Praktiken und der Beseitigung des Phänomens irregulärer oder nicht angemeldeter Arbeit liegen, das vor allem durch den Missbrauch in Form von Briefkastenfirmen gekennzeichnet ist.

5.5.

Die Kommission sollte die wirtschaftliche und soziale Konvergenz nach oben in der EU vorantreiben und zugleich eine gerechte Mobilität von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen gewährleisten.

5.6.

Die Kommission sollte die Sozialpartner konsultieren, ihre Autonomie anerkennen und die einschlägigen Tarifverträge respektieren.

5.7.

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass im Rahmen der Revision klargestellt wird, dass die Entsenderichtlinie kein reines Binnenmarktinstrument ist, sondern ein Instrument zum Schutz von Arbeitnehmern. Dies erfordert eine Ausweitung der Rechtsgrundlage unter Einbeziehung der sozialpolitischen Rechtsgrundlagen (Artikel 153 und 155 AEUV). Mit der Überarbeitung der Richtlinie muss zudem die durch die Serie von EuGH-Urteilen (Laval, Rüffert, Kommission gegen Luxemburg) entstandene Fehlinterpretation der Entsenderichtlinie als Maximalstandard korrigiert werden und der Charakter als Mindeststandard wiederhergestellt werden.

Brüssel, 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. L 159 vom 28.5.2014, S. 11).

(2)  Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1).

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  COM(2010) 608 final/2.

(5)  Der Bericht wurde auf der von der spanischen Ratspräsidentschaft am 23. März 2010 in Oviedo organisierten Konferenz zum „Thema Entsendung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerrechte“ vorgestellt. Die Diskussionen zeigten erneut die unterschiedlichen Auffassungen der Interessenträger.

(6)  Siehe Fußnote 1.

(7)  Siehe Europäische Kommission „Posting of workers — Report on A1 portable documents issued in 2014“, veröffentlicht im Dezember 2015. Es ist zu bedenken, dass sich die Lage von Land zu Land unterscheidet und 0,7 % lediglich ein Durchschnittswert ist. Die realen Werte liegen zwischen 0,5 % und 3,6 %. Die Auswirkungen auf die einzelnen Mitgliedstaaten sind auch unterschiedlich.

(8)  Siehe auch die EWSA-Stellungnahme vom 27. April 2016 zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 11).

(9)  EWSA-Stellungnahme vom 14.7.2010 zum Thema „Die soziale Dimension des Binnenmarktes“, Ziffer 1.7 (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 90).

(10)  Protokoll Nr. 2 der Verträge über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

(11)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und die nationalen Parlamente zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern — Prüfung des Subsidiaritätsprinzips gemäß dem Protokoll Nr. 2, COM(2016) 505 final vom 20. Juli 2016.

(12)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitunterlage zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, SWD(2016) 52 final vom 8. März 2016 (nur in englischer Sprache).

(13)  Bericht von Eurofound über „Posted workers in the European Union“, Roberto Pedersini und Massimo Pallini, veröffentlicht im Jahr 2010 (in Englisch).

(14)  Die vorläufigen Ergebnisse der beiden Untersuchungen wurden auf der Konferenz der EWSA-Arbeitsmarktbeobachtungsstelle zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ am 28. September 2016 vorgestellt. Siehe Eurofound (2016) EurWORK Topical update über „Member States' progress in transposing Enforcement Directive on posting of workers“ und Eurofound (2016) „Exploring the fraudulent contracting of work in the European Union“.

(15)  In der Rechtssache C-396/13 Sähköalojen ammattiliitto hat der Europäische Gerichtshof am 12. Februar 2015 entschieden, dass „Mindestlohnsätze“ nicht im Ermessen eines Arbeitgeber stehen können, der nur deshalb Arbeitnehmer entsendet, um im Vergleich zur Beschäftigung einheimischer Arbeitnehmern Arbeitskosten einzusparen. Ferner hat der Gerichtshof geurteilt, dass Tagegeld als Ausgleich für die Entsendung den entsandten Arbeitnehmern in gleicher Höhe zu zahlen ist wie einheimischen Arbeitnehmern in einer vergleichbaren Lage. Daher lehnt der EuGH die Forderung ab, dass ein Arbeitgeber unabhängig von den Qualifikationen oder der Dauer der Betriebszugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer die niedrigste Lohngruppe festlegen könnte.

(16)  Indirekter Kostenaufwand durch die Aneignung von Verwaltungsanforderungen und -vorschriften in anderen Mitgliedstaaten wie Mitteilungsverfahren, Übersetzung von Dokumenten, Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden usw.

(17)  Diese durch die grenzüberschreitende Entsendung bedingten indirekten Arbeitskosten könnten um bis zu 32 % ansteigen. Zu diesem vorläufigen Ergebnis u. a. kommt eine Studie über „Labour cost in cross-border services“ unter der Leitung von Dr. Marek Benio der Fakultät Öffentliche Wirtschaft und Verwaltung der Wirtschaftsuniversität Krakau. Die Ergebnisse wurden auf der Konferenz der EWSA-Arbeitsmarktbeobachtungsstelle zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ am 28. September 2016 vorgestellt.

(18)  

Artikel 12 der Richtlinie 2014/67/EU über die Haftung bei Unteraufträgen (siehe Fußnote 1).

(19)  Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 9).

(20)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit, COM(2014) 176 final.

(21)  Siehe Fußnote 1.


ANHANG

Die folgende abgelehnte Gegenstellungnahme erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:

Gegenstellungnahme

Gesamte Stellungnahme durch folgenden Text ersetzen (Begründung am Ende des Dokuments):

1.    Schlussfolgerungen und Vorschläge

1.1.

Der EWSA begrüßt das Engagement der Europäischen Kommission, auf einen vertieften und gerechteren Binnenmarkt als eine der wichtigsten Prioritäten ihres Mandats hinzuarbeiten, und ihre Bemühungen um zusätzliche Impulse für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen ihrer Investitionsoffensive für Europa.

1.2.

Der EWSA unterstützt den Beschluss der Europäischen Kommission, die Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU  (1) heranzuziehen, um eine gemeinsame Auslegung und Durchführung der Richtlinie 96/71/EG  (2) über die Entsendung von Arbeitnehmern zu verbessern, die gleichwohl auf ausgewogene Weise sowohl die Rechte zur Erbringung von Dienstleistungen als auch die Rechte entsandter Arbeitnehmer gewährleistet.

1.3.

In der Durchsetzungsrichtlinie und in dem aktuellen Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern werden unterschiedliche Aspekte der Praxis der Arbeitnehmerentsendung behandelt; zum einen ergänzen sie sich deshalb gegenseitig und zum anderen könnten die Ergebnisse der Durchführung der Durchsetzungsrichtlinie auch ein klareres Bild von der tatsächlichen Situation vermitteln.

1.4.

Bislang haben noch nicht alle Mitgliedstaaten ihre Umsetzung abgeschlossen. Der EWSA geht davon aus, dass der Kommissionsbericht, der spätestens am 18. Juni 2019 vorliegen soll, einen zuverlässigen Überblick über die Anwendung und Durchführung der Richtlinie geben wird. Einige EWSA-Mitglieder empfehlen, den Kommissionsbericht abzuwarten, bevor weitere Änderungen vorgeschlagen werden.

1.5.

Einige EWSA-Mitglieder halten die Vorlage einer überarbeiteten Entsenderichtlinie für verfrüht und nicht mit dem Grundsatz der besseren Rechtsetzung vereinbar. Ein solcher Ansatz kann zu einer verlangsamten Umsetzung der Richtlinie von 2014 und einer Verquickung der Durchsetzungsmaßnahmen mit den neuen Vorschlägen führen.

1.6.

Nach Meinung des EWSA liegen nicht genügend zuverlässige Daten über Entsendungen in ganz Europa vor, was die Gewährleistung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gefährden könnte — zumal sich die Frage stellt, ob die Folgenabschätzung zur geplanten überarbeiteten Entsenderichtlinie ein wirklichkeitsgetreues Bild vermittelt.

1.7.

Die Einführung neuer Änderungen auf der Grundlage einer oberflächlichen Folgenabschätzung, einer unvollständigen Datenlage und ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Wirtschaftsleistung wird nur zu neuen Trennlinien zwischen den Mitgliedstaaten führen und die Bemühungen der Kommission zur Förderung von Konvergenz, Integration und Vertrauen in Europa untergraben.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass die besondere Rolle der Sozialpartner nicht beachtet wurde, und möchte wissen, warum sie nicht gemäß Artikel 154 Absatz 2 AEUV ordnungsgemäß konsultiert wurden.

1.9.

Ein wichtiger Aspekt der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen gezielten Überarbeitung der Entsenderichtlinie ist der Begriff der Entlohnung. Nicht nur die Mitglieder des EWSA befassen sich eingehend mit der durch die Rechtsprechung geklärten Mindestlohn-Option und einer neuen Methode für die Berechnung der Entlohnung. Einige Mitglieder sehen diesen neuen Ansatz als eine Möglichkeit, die Bedingungen für entsandte Arbeitnehmer zu verbessern und die gleichen wie für gebietsansässige Arbeitnehmer geltenden Bedingungen sicherzustellen. Andere Mitglieder hingegen erachten diesen Vorschlag als ungeeignet für die unternehmerische Realität, da er zu Unsicherheit sowie einem größeren Verwaltungs- und Kostenaufwand für die Unternehmen führt.

1.10.

Der EWSA ist nicht von der Notwendigkeit überzeugt, die Dauer einer Entsendung durch strenge Vorschriften zu regeln. Die Erfahrung zeigt, dass Entsendungen von außerordentlich langer Dauer im europäischen Unternehmensalltag kein größeres Problem darstellen.

2.    Die politischen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene

2.1.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit sind Grundprinzipien der Europäischen Union.

2.2.

Es sollte ein Unterschied zwischen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Dienstleistungsfreiheit gemäß Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gemacht werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gibt allen Bürgern das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort zu arbeiten und zu diesem Zweck ansässig zu werden, und schützt sie im Bereich der Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen vor Diskriminierung gegenüber den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.

2.3.

Im Gegensatz dazu erhalten die Unternehmen durch die Dienstleistungsfreiheit das Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen. Zu diesem Zweck können sie ihre eigenen Arbeitnehmer vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat entsenden, um dort die zur Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen Arbeiten auszuführen.

2.4.

Am 16. Dezember 1996 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen  (3) verabschiedet.

2.5.

Mit dieser Richtlinie soll die Ausübung der Freiheit, grenzüberschreitende Dienstleistungen gemäß Artikel 56 AEUV zu erbringen, mit dem angemessenen Schutz der Rechte von Arbeitnehmern vereinbart werden, die zu diesem Zweck vorübergehend ins Ausland entsandt werden.

2.6.

Im Oktober 2010 unterbreitete die Kommission in ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte — Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft — 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu treiben“  (4) zwei Vorschläge zur Wiederherstellung des Vertrauens und der Unterstützung seitens der Öffentlichkeit; einer betraf das ausgewogene Verhältnis zwischen grundlegenden Sozialrechten und wirtschaftlichen Freiheiten und der andere die Entsendung von Arbeitnehmern.

2.7.

Im März 2010 legten die europäischen Sozialpartner einen Bericht  (5) über die Folgen der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor, in dem sie ihre stark divergierenden Ansichten darlegten. Während BusinessEurope eine Änderung der Richtlinie ablehnte (jedoch den Klärungsbedarf bestimmter Aspekte der Durchsetzung akzeptierte), sprach sich der EGB für eine grundlegende Änderung aus.

2.8.

Im Dezember 2012 veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG. Mit dieser Durchsetzungsrichtlinie  (6) wird ein gemeinsamer Rahmen angemessener und für eine bessere und einheitlichere praktische Durchführung, Anwendung und Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG notwendiger Bestimmungen, Maßnahmen und Kontrollmechanismen festgelegt, darunter auch Maßnahmen zur Verhinderung und Sanktionierung jeglicher Umgehung und jeglichen Missbrauchs der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Zugleich werden der Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer und die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse für die freie Dienstleistungserbringung gewährleistet.

2.9.

Die Frist für die Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie lief am 18. Juni 2016 ab, und spätestens zum 18. Juni 2019 soll die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem EWSA einen Bericht über deren Anwendung und Umsetzung vorlegen und gegebenenfalls Änderungen vorschlagen. Die Kommission wird nach Konsultation der Mitgliedstaaten und der europäischen Sozialpartner die Angemessenheit und Zweckmäßigkeit aller eingeführten und angewandten Maßnahmen — unter anderem auch die Eignung der bezüglich Entsendung vorliegenden Daten — prüfen.

3.    Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern

3.1.

Laut den letzten verfügbaren Daten gab es im Jahr 2014 über 1,9 Mio. Entsendungen in der EU, was 0,7 %  (7) der Gesamterwerbsbevölkerung der EU entspricht. Dies stellt eine Erhöhung um 10,3 % gegenüber 2013 und um 44,4 % gegenüber 2010 dar. Diese Statistiken basieren auf der Zahl der von einzelstaatlichen Sozialversicherungsträgern ausgestellten A1-Formulare; keine Angaben gibt es zu der Zahl der tatsächlich entsandten, nicht registrierten Arbeitnehmer.

3.2.

In der Entsenderichtlinie von 1996 wird der EU-rechtliche Rahmen festgelegt, der für ein angemessenes und gerechtes Gleichgewicht zwischen den Zielen der Förderung und Erleichterung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung, des Schutzes entsandter Arbeitnehmer und der Gewährleistung gleicher Ausgangsbedingungen für gebietsfremde und gebietsansässige Wirtschaftsteilnehmer sorgen sollte.

3.3.

Unterdessen hat die Kommission einen Vorschlag zur gezielten Überarbeitung dieser Richtlinie vorgelegt, um sowohl gegen unlautere Praktiken  (8) vorzugehen als auch den Grundsatz der gleichen Entlohnung für gleiche Arbeit am gleichen Ort zu fördern.

3.4.

Der Vorschlag wurde vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der 2014 verabschiedeten Durchsetzungsrichtlinie veröffentlicht, noch bevor eine Bewertung seiner Umsetzung durchgeführt werden konnte. Die meisten Herausforderungen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern hängen nach wie vor mit einer schlechten Durchsetzung und dem Fehlen von Kontrollen in den Mitgliedstaaten zusammen.

3.5.

Außerdem wurde der Vorschlag ohne vorherige Anhörung der europäischen Sozialpartner veröffentlicht, die die Kommission in einem gemeinsamen Schreiben zur angemessenen Konsultation im Einklang mit Artikel 154 Absatz 2 AEUV aufgefordert hatten: „Wir wenden uns nun schriftlich an die Kommission, um sie aufzufordern, Zeit für eine angemessene Konsultation der Sozialpartner vorzusehen, bevor sie ihren Vorschlag unterbreitet  (9).“

3.6.

Anlässlich der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags haben die Mitgliedstaaten, Sozialpartner und Unternehmen auch untereinander divergente Standpunkte bezogen. Die vorgeschlagene Richtlinie sollte nicht die Wettbewerbsfähigkeit untergraben oder neue Hindernisse für Anbieter grenzübergreifender Dienstleistungen schaffen.

3.7.

Im Einklang mit dem Protokoll Nr. 2 der Verträge  (10) haben 14 Kammern nationaler Parlamente begründete Stellungnahmen an die Kommission gesandt, in denen sie betonen, dass der Kommissionsvorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, wodurch das sog. Verfahren der „gelben Karte“ ausgelöst worden ist. Aus ihrer Subsidiaritätsüberprüfung zog die Kommission am 20. Juli 2016 den Schluss  (11) , dass der Vorschlag für eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG mit dem in Artikel 5 Absatz 3 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip vereinbar und eine Rücknahme bzw. Änderung des Vorschlags nicht erforderlich ist. Die Kommission hielt daher an ihrem Vorschlag fest.

3.8.

Die Unternehmen sind teilweise der Ansicht, dass der Vorschlag gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Einige Unternehmen vertreten die Auffassung, dass die vorgeschlagenen Änderungen zu Rechtsunsicherheit und zusätzlichem Verwaltungsaufwand führen werden. Die Überarbeitung kann besonders Unternehmen aus Mitgliedstaaten mit geringerem Lohnniveau betreffen, welche die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen im Binnenmarkt anstreben; dies läuft dem Ziel und den Anstrengungen zur Stärkung der Konvergenz in der EU zuwider.

3.9.

Andere, darunter auch die Gewerkschaften, sind der Ansicht, dass die vorgeschlagene Überarbeitung — und insbesondere das Konzept des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort — für gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen und mehr gleiche Rechte für Arbeitnehmer in der EU sorgen würde.

3.10.

Dem Kommissionsvorschlag war eine Folgenabschätzung  (12) beigefügt, in der darauf hingewiesen wird, dass sich die vorgeschlagenen Maßnahmen für die Anwendung der überarbeiteten Richtlinie unterschiedlich auf die einzelnen Mitgliedstaaten, Branchen und Unternehmen auswirken würden und dass immer noch das Problem einer lückenhaften Datenlage zur Entsendung von Arbeitnehmern besteht.

3.11.

Vergleichbare Zahlen basieren auf den portablen Dokumenten A1, die von Unternehmen, welche Arbeitnehmer in bestimmte Länder entsenden, detaillierte Angaben erfordern. Die Richtigkeit der Informationen in diesen portablen Dokumenten A1 kann aufgrund fehlender offizieller Kontrollen durch die Behörden in den Herkunftsländern nicht gewährleistet werden. Daher sind die in der Folgenabschätzung aufgeführten Zahlen lediglich eine Schätzung der tatsächlichen Anzahl von Entsendungen und vermitteln kein wirklichkeitsgetreues Bild.

3.12.

Im Jahr 2010 veröffentlichte Eurofound einen Bericht über Arbeitnehmerentsendung in der Europäischen Union  (13) , in dem das Phänomen in den EU-Mitgliedstaaten und in Norwegen beleuchtet wird. Der Bericht umfasst eine Bestandsaufnahme der verfügbaren Informationsquellen über die Entsendung sowie Zahlen über diejenigen Länder, für die Daten vorliegen. Die Untersuchungen von Eurofound verdeutlichen, dass es an Daten über die Gesamtzahlen und die Merkmale der Entsendungen in der gesamten EU mangelt.

3.13.

Ergänzt wird der Eurofound-Bericht durch zwei jüngere Untersuchungen, eine Kurzanalyse über die Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU zur Verbesserung der Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern und ein Projekt über missbräuchliche Praktiken bei Vertragsarbeit und Selbstständigkeit  (14).

4.    Die wichtigsten Änderungen in der vorgeschlagenen Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG

4.1.    Entlohnung

4.1.1.

Die Kommission schlägt vor, den Begriff „Mindestlohnsätze“ durch „Entlohnung“ zu ersetzen. Laut dem Vorschlag der Europäischen Kommission umfasst „Entlohnung“ alle die Entlohnung ausmachenden Bestandteile, die im Aufnahmemitgliedstaat vorgeschrieben sind.

4.1.2.

Die Kommission legte den Vorschlag als Reaktion auf zahlreiche Forderungen nach Maßnahmen vor, um gegen die Ursachen der Lohnunterschiede anzugehen. Ihr zufolge besteht eine Kluft zwischen den für gebietsansässige Arbeitnehmer geltenden Bedingungen und solchen für entsandte Arbeitnehmer. Nach der dem Vorschlag beigefügten Folgenabschätzung beträgt der Lohnunterschied zwischen entsandten und gebietsansässigen Arbeitskräften schätzungsweise 10 % bis 50 % je nach Land und Branche. Unterschiedliche Lohnvorschriften führen zu einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den Unternehmen. Das Konzept „Mindestlohnsätze“ deckt sich nicht mit den für gebietsansässige Arbeitnehmer geltenden Entlohnungsvorschriften.

4.1.3.

Nach Auffassung der Kommission kann das Konzept „Entlohnung“ daher besser zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt für Dienstleistungen beitragen. Der Begriff „Entlohnung“ umfasst alle Bestandteile der Vergütung für gebietsansässige Arbeitnehmer, die aufgrund von Rechtsvorschriften oder Tarifverträgen allgemeinverbindlich für alle vergleichbaren Unternehmen im geografischen Gebiet und im betreffenden Beruf oder Gewerbe sind oder die auf einzelstaatlicher Ebene zwischen den führenden Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften geschlossen wurden und im gesamten nationalen Hoheitsgebiet gelten. „Entlohnung“ könnte auch einige Elemente umfassen, die nicht im „Mindestlohnsatz“ enthalten sind, wie Dienstalterszulagen, Schmutz-, Erschwernis- oder Gefahrenzulagen, Qualitätsboni, 13. Monatsgehalt, Reisekosten, Essensgutscheine — wobei die meisten Länder bereits mehrere dieser Elemente in den „Mindestlohnsatz“ aufgenommen haben.

4.1.4.

Nach Ansicht der Kommission sollte die Einführung des Begriffs „Entlohnung“ zu mehr Klarheit über die die Entlohnung ausmachenden Bestandteile und zum Abbau der bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Branchen bei der verbindlichen Anwendung von Tarifverträgen beitragen.

4.1.5.

Gleichwohl kann der Begriff „Entlohnung“ als ungenau gelten und lässt Raum für unterschiedliche Auslegungen, was zu Rechtsunsicherheit führen wird. Das Konzept der „Mindestlohnsätze“ ist trotz verschiedener Zweifel genauer und leichter zu definieren.

4.1.6.

Die Kommission betont, dass der Vorschlag sich nicht auf die Zuständigkeiten und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Entlohnungsvorschriften auswirken und die große Autonomie der Sozialpartner gewahrt bleiben wird. In diesem Zusammenhang ist es Besorgnis erregend, dass die Kommission die Streichung des Verweises in der derzeitigen Richtlinie vorschlägt, dass „Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt [werden], in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird“. Diese Bestimmung ist wichtig für die Übereinstimmung mit den verschiedenen nationalen Systemen der Arbeitsbeziehungen.

4.1.7.

Für die Zwecke dieser Richtlinie wird der Begriff „Entlohnung“ durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

4.1.8.

Diese Richtlinie steht nicht der Anwendung von Arbeitsbedingungen des Aufnahme- oder des Herkunftslands des entsandten Arbeitnehmers entgegen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, insbesondere durch die Ausübung des Grundrechts der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Tarifvereinbarungen auf geeigneter Ebene auszuhandeln und abzuschließen sowie kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen, darunter auch Streiks, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, einschließlich des Rechts auf Gleichbehandlung, zu schützen und zu verbessern.

4.1.9.

Zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, auf einer einzigen Website Informationen über die für in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmer geltenden Beschäftigungsbedingungen zu veröffentlichen. Die Mitgliedstaaten könnten die Einführung der einzigen Website verschieben, da die geltenden Bedingungen sich wahrscheinlich noch ändern. Dieser Prozess sollte nicht durch einen neuen Vorschlag gestört werden.

4.1.10.

Die EWSA-Mitglieder haben sich eingehend mit dem neuen Konzept der „Entlohnung“ und all seinen Auswirkungen befasst.

4.1.11.

Einige Mitglieder halten das neue Konzept für die einzige Möglichkeit, gleiche Arbeitsbedingungen für die entsandten und einheimischen Arbeitnehmer sicherzustellen, Lohnunterschiede auszuräumen und gleiche Ausgangsbedingungen für die Unternehmen zu gewährleisten.

4.1.12.

Andere Mitglieder wiederum befürchten, dass das neue Konzept zu Rechtsunsicherheit, Unklarheit und höherem Verwaltungs- und Kostenaufwand führen könnte. Bei jeder Debatte über die Entsendung von Arbeitnehmern sollte berücksichtigt werden, dass sich die Ausgangssituationen der ausländischen und der einheimischen Unternehmen unterscheiden. Einem ausländischer Diensteanbieter, der Arbeitnehmer entsenden will, entstehen allein durch die Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zusätzliche Kosten in Form von weiteren Betriebskosten  (15) und durch die grenzüberschreitende Entsendung bedingten indirekten Arbeitskosten  (16).

4.1.13.

In Bezug auf die Ausweitung des Geltungsbereichs allgemeinverbindlicher Tarifverträge auf sämtliche Branchen empfiehlt der EWSA, erneut zu prüfen, ob es auch notwendig ist, die Grundlagen der für entsandte Arbeitnehmer geltenden Arbeitsnormen automatisch auf diejenigen Branchen auszudehnen, in denen keine größeren Probleme mit der Entsendung verzeichnet werden.

4.2.    Entsendungen für mehr als 24 Monate

4.2.1.

Zu der Dauer der Entsendungen schlägt die Kommission vor, dass in Fällen, in denen die vorgesehene oder tatsächliche Entsendungsdauer 24 Monate überschreitet, der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Arbeitnehmer entsandt ist, als das Land gilt, in dem dieser seine Arbeit gewöhnlich verrichtet. Dies gilt ab dem ersten Tag, an dem die Entsendung die Dauer von 24 Monaten tatsächlich überschreitet. Darüber hinaus führt die Kommission einen kumulierten Entsendungszeitraum für die Fälle ein, in denen Arbeitnehmer abgelöst werden.

4.2.2.

In der ursprünglichen Richtlinie wird kein befristeter Zeitraum festgelegt, und es heißt darin, dass im Sinne der Richtlinie als „entsandter Arbeitnehmer“ jeder Arbeitnehmer gilt, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Staats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.

4.2.3.

Zur Vermeidung unklarer Situationen, in denen es schwierig ist zu bestimmen, ob eine Entsendung im Sinne der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern erfolgt, enthält Artikel 3 Absatz 1 und 2 der Durchsetzungsrichtlinie eine nicht erschöpfende Aufzählung qualitativer Kriterien, mit denen der vorübergehende Charakter des Konzepts der Entsendung zur Erbringung von Dienstleistungen sowie das Bestehen einer echten Verbindung zwischen dem Arbeitgeber und dem Mitgliedstaat, aus dem die Entsendung erfolgt, beschrieben werden.

4.2.4.

Insbesondere wurde geltend gemacht, dass weder der AEUV noch die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung)  (17) eine Grundlage für die Festlegung eines Zeitraums von 24 Monaten als Bezugszeitraum für die Bestimmung des Landes bieten, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird. Darüber hinaus ist es nicht angemessen, mittels einer Richtlinie die Anwendung einer Verordnung zu ändern oder die in der Rom-I-Verordnung verwendeten Begriffe für die Zwecke der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern umzudefinieren. In seinem Gutachten erläutert der Juristische Dienst der Europäischen Kommission: „[Der neue Artikel 2a] (…) berührt nicht das Recht von Unternehmen, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsenden, sich auch in Fällen, in denen die Entsendung länger als 24 Monate dauert, auf die Dienstleistungsfreiheit zu berufen. Hiermit soll Rechtssicherheit bei der Anwendung der Rom-I-Verordnung auf eine bestimmte Situation geschaffen werden, ohne dass die Verordnung hierzu geändert werden muss“  (18).

4.2.5.

Der EWSA lehnt die Festlegung einer solchen zeitlichen Begrenzung ab. Sie läuft dem Wesen der Entsendung von Arbeitnehmern zuwider und steht im Widerspruch zum Zweck der Richtlinie. Die Durchschnittsdauer der Entsendung in der EU beträgt 103 Tage  (19) (nur 4 % bis 5 % aller Entsendungen dauern länger als 12 Monate)  (20) . Es gibt keine Belege dafür, dass Entsendezeiträume von über zwei Jahren eine verbreitete und problematische Praxis sind, die zum Missbrauch der Bestimmungen über die Entsendung von Arbeitnehmern führt.

4.2.6.

Im Gegenteil könnte die Einführung des Begriffs „vorgesehene Entsendungsdauer“ und die Festlegung von Vorschriften für die Ersetzung von Arbeitnehmern zu Unsicherheit und einer uneinheitlichen Anwendung der Vorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmern führen. Insbesondere im Baugewerbe wird es schwierig sein, die „Dauer der Arbeitsleistung“ im Vorfeld zu bestimmen und durch die Arbeitsaufsichtsbehörden nachzuweisen.

4.2.7.

Die bisherige Definition ist ausreichend, und jegliche Festlegung einer zeitlichen Begrenzung für die Entsendung von Arbeitnehmern läuft dem Grundsatz der Überprüfung einer echten und begründeten Entsendung zuwider. Darüber hinaus hat der EuGH wiederholt bestätigt, dass der Begriff „vorübergehend“ im Einzelfall geprüft werden muss.

4.2.8.

Die Kommission argumentiert, dass diese Änderung die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern in Einklang mit den durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004  (21) verankerten Vorschriften über die soziale Sicherheit bringen wird. Allerdings ermöglicht die Verordnung (EG) 883/2004 es den Mitgliedstaaten, durch bilaterale Vereinbarungen den ursprünglichen Zeitraum von zwei Jahren, während dessen die Sozialbeiträge im Herkunftsland entrichtet werden, zu verlängern. Demgegenüber heißt es in dem Kommissionsvorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, dass, wenn die vorgesehene oder die tatsächliche Dauer der Entsendung 24 Monate überschreitet, ab dem allerersten Tag der Entsendung alle Arbeitsbedingungen des Aufnahmestaats gelten müssten. Dies ist weder notwendig noch kohärent.

4.3.    Vergabe von Unteraufträgen

4.3.1.

Mit dem Kommissionsvorschlag wird es den Mitgliedstaaten ermöglicht, für Arbeitnehmer in einer Untervergabekette dieselben Bedingungen wie durch den Hauptauftragnehmer anzuwenden. Diese Bedingungen müssten nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung genauso für nationale wie für grenzüberschreitende Unterauftragnehmer gelten.

4.3.2.

Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bzw. Tarifverträgen der einzelnen Mitgliedstaaten, mit denen sichergestellt werden soll, dass Unternehmen nicht durch die Untervergabe von Aufträgen Vorschriften über bestimmte, die Entlohnung betreffende Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen umgehen können. Es ist nicht erkennbar, wie viele Mitgliedstaaten bereits ein solches System anwenden, und die Kommission hat in ihrer Folgenabschätzung keine eingehende Untersuchung der möglichen Folgen derartiger Bestimmungen vorgelegt.

4.3.3.

Mit Blick auf die Praxistauglichkeit dieses Teils des Vorschlags könnte es jedoch nützlich sein, auf eine Vorschrift über die gesamtschuldnerische Haftung über alle Unterauftragsketten hinweg gemäß Artikel 12 der Durchsetzungsrichtlinie  (22) zu verweisen.

4.3.4.

Darüber hinaus ist die Formulierung „bestimmte die Entlohnung betreffende Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ vage und wird zu Rechtsunsicherheit, unterschiedlichen Auslegungen und möglichen Widersprüchen zu anderen Teilen der Richtlinie führen. Ferner gäbe es Vergleichsprobleme und viele andere rein praktische Probleme, wie der Zugang zu Informationen (auch in Verbindung mit der Verpflichtung der Regierungen, derartige Informationen nach Artikel 5 der Richtlinie 2014/67/EU zu veröffentlichen, und der Verfügbarkeit von Tarifverträgen).

4.3.5.

Unklar ist auch, wie die Kommission für diese Bestimmungen Prüfungen der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit festlegen und durchführen würde.

4.3.6.

Darüber hinaus werden angemessene Vorschriften eingeführt werden müssen, um den tatsächlichen Status der Selbstständigkeit von Unterauftragnehmern — im Einklang mit den Normen der Mitgliedstaaten — zu prüfen.

4.4.    Leiharbeit

4.4.1.

Die Kommission führt eine neue Verpflichtung für die Mitgliedstaaten mit dem neuen Absatz ein, in dem die für Arbeitnehmer gemäß Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie geltenden Bedingungen festgelegt werden, d. h. für Arbeitnehmer, die von einem Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt werden, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Niederlassungsmitgliedstaat des verwendenden Unternehmens hat. Die in Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c genannten Unternehmen müssen entsandten Arbeitnehmern die Bedingungen garantieren, die nach Artikel 5 der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit  (23) für Leiharbeitnehmer gelten, die von Leiharbeitsunternehmen, die im Mitgliedstaat der Leistungserbringung niedergelassen sind, zur Verfügung gestellt werden.

4.4.2.

Nach Ansicht des EWSA ist diese neue Bestimmung nicht erforderlich, da die ursprüngliche Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern in Artikel 3 Absatz 9 bereits eine solche Möglichkeit enthält. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen Arbeitnehmern im Sinne von Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c diejenigen Bedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, für Leiharbeitnehmer gelten. Die Möglichkeit der Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG wird bereits von einer Mehrheit der Aufnahmeländer genutzt.

4.4.3.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission die bestehende Regelung beibehalten. Es muss berücksichtigt werden, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104/EG für die jeweiligen Umstände in den verschiedenen Mitgliedstaaten gelten, während die Richtlinie 96/71/EG für grenzüberschreitende Tätigkeiten gilt. Dies wurde von der Kommission selbst in ihrem Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit  (24) anerkannt.

4.4.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass Artikel 5 der Richtlinie 2008/104/EG viel weiter gefasst ist als Artikel 3 Absatz 9 der Richtlinie 96/71/EG und dass dies paradoxerweise zu unterschiedlichen Voraussetzungen für die Entsendung von Arbeitnehmern nach Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe a und b sowie nach Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe c der geltenden Rechtsvorschriften führen könnte.

5.    Worauf sollte die Europäische Kommission ihr Hauptaugenmerk legen?

5.1.

Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten zur fristgerechten Umsetzung der Richtlinie 2014/67/EU  (25) anhalten, sofern diese noch nicht erfolgt ist, und die korrekte Durchführung in allen Mitgliedstaten sicherstellen. Nach zwei Jahren sollte die Kommission eine Folgenabschätzung vornehmen, um festzustellen, ob die getroffenen Maßnahmen zu einer angemessenen und wirksamen Durchführung und Durchsetzung geführt haben, denn diese sind von zentraler Bedeutung für den Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer und für die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Dienstleister.

5.2.

Die Kommission sollte eine eingehende Analyse der Umstände in den einzelnen EU Mitgliedstaaten durchführen, reale quantitative Informationen über entsandte Arbeitnehmer vorlegen und Möglichkeiten der Durchführung und Durchsetzung der geltenden Richtlinie darlegen.

5.3.

Die Verfügbarkeit zuverlässiger Daten über entsandte Arbeitnehmer ist eine Voraussetzung für eine wirkungsvolle Debatte über ihre besonderen Merkmale und ihren spezifischen Schutzbedarf

5.4.

Wenn die Kommission einen fairen Wettbewerb sicherstellen will, sollte der Schwerpunkt ihrer nächsten Schritte auf der Bekämpfung betrügerischer Praktiken und der Beseitigung des Phänomens illegaler Arbeit liegen, das vor allem durch den Missbrauch in Form von Briefkastenfirmen gekennzeichnet ist.

5.5.

Die Kommission sollte die wirtschaftliche und soziale Konvergenz in der EU vorantreiben und zugleich eine gerechte Mobilität von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen gewährleisten.

5.6.

Die Einführung eines neuen Konzepts wie „Entlohnung“ könnte sowohl seitens der Mitgliedstaaten im Rat als auch seitens Unternehmen während der öffentlichen Konsultation Fragen aufwerfen. Die Kommission sollte eine eingehende Abschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Verbraucher, die Unternehmen und allgemein für die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in der EU vornehmen.

5.7.

Die Kommission sollte die Sozialpartner konsultieren, ihre Autonomie anerkennen und die einschlägigen Tarifverträge respektieren.

Begründung der Antragsteller:

Mit diesem Änderungsantrag soll eine ausgewogene Antwort auf diesen Vorschlag der Kommission, der Meinungsverschiedenheiten sowohl unter den Mitgliedstaaten als auch unter den Sozialpartnern und den Unternehmen hervorgerufen hat, unterbreitet werden. Zweck dieses Änderungsantrags ist es, diese unterschiedlichen Standpunkte auf eine glaubwürdige und ausgewogene Art wiederzugeben, zugleich aber auch Punkte aufzuzeigen, bei denen durchaus ein Konsens besteht. Dieser Änderungsantrag, der dem Text entspricht, der von den beiden Berichterstattern für die Fachgruppe SOC nach der dritten Studiengruppensitzung vorgelegt wurde, bringt diese Ausgewogenheit zwischen den unterschiedlichen Ansichten besser zum Ausdruck als der von der Fachgruppe geänderte und angenommene Wortlaut.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

94

Nein-Stimmen

175

Enthaltungen

23


(1)  Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“), (ABl. L 159 vom 28.5.2014, S. 11).

(2)  Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1).

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  COM(2010) 608 final/2.

(5)  Der Bericht wurde auf der von der spanischen Ratspräsidentschaft am 23. März 2010 in Oviedo organisierten Konferenz zum „Thema Entsendung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerrechte“ vorgestellt. Die Diskussionen zeigten erneut die unterschiedlichen Auffassungen der Interessenträger.

(6)  Siehe Fußnote 1.

(7)  Es ist zu bedenken, dass sich die Lage von Land zu Land unterscheidet und 0,7 % lediglich ein Durchschnittswert ist. Die realen Werte liegen zwischen 0,5 % und 3,6 %. Die Auswirkungen auf die einzelnen Mitgliedstaaten sind ebenfalls unterschiedlich.

(8)  EWSA-Stellungnahme vom 27. April 2016 zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 11).

(9)  Gemeinsames Schreiben der europäischen Sozialpartner (ETUC, BusinessEurope, UEAPME, CEEP) an Kommissionspräsident Juncker vom 2. März 2016.

(10)  Protokoll Nr. 2 der Verträge über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

(11)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und die nationalen Parlamente zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern — Prüfung des Subsidiaritätsprinzips gemäß dem Protokoll Nr. 2, COM(2016) 505 final vom 20. Juli 2016.

(12)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitunterlage zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, SWD(2016) 52 final vom 8. März 2016 (nur in englischer Sprache).

(13)  Bericht von Eurofound über „Posted workers in the European Union“, Roberto Pedersini und Massimo Pallini, veröffentlicht im Jahr 2010 (in Englisch).

(14)  Die vorläufigen Ergebnisse der beiden Untersuchungen wurden auf der Konferenz der EWSA-Arbeitsmarktbeobachtungsstelle zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ am 28. September 2016 vorgestellt.

(15)  Indirekter Kostenaufwand durch die Aneignung von Verwaltungsanforderungen und -vorschriften in anderen Mitgliedstaaten wie Mitteilungsverfahren, Übersetzung von Dokumenten, Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden usw.

(16)  Diese durch die grenzüberschreitende Entsendung bedingten indirekten Arbeitskosten könnten um bis zu 32 % ansteigen. Zu diesem vorläufigen Ergebnis u. a. kommt eine Pilotstudie über „Labour cost in cross-border services“ der Fakultät Öffentliche Wirtschaft und Verwaltung der Wirtschaftsuniversität Krakau. Die Ergebnisse wurden auf der Konferenz der EWSA-Arbeitsmarktbeobachtungsstelle zum Thema „Gerechtere Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU“ am 28. September 2016 vorgestellt.

(17)  Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177 vom 4.7.2008, S. 6).

(18)  Gutachten des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission — Interinstitutionelles Dossier 2016/0070 (COD) vom 28. Mai 2016.

(19)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen SWD(2016) 52 final, S. 39, J. Pacolet und F. De Wispelaere, Posting of Workers. Report on A1 portable document issued in 2014, Dezember 2015.

(20)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen SWD(2016) 52 final, S. 39, L&R Sozialforschung, Entwicklungen im Bereich des Lohndumpings, Mai 2014.

(21)  Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1).

(22)  

Artikel 12 der Richtlinie 2014/67/EU über die Haftung bei Unteraufträgen (siehe Fußnote 1).

(23)  Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 9).

(24)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit, COM(2014) 176 final.

(25)  Siehe Fußnote 1.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/97


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung)“

(COM(2016) 465 final)

und zum

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sowie zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen“

(COM(2016) 466 final)

und zum

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU“

(COM(2016) 467 final)

(2017/C 075/16)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Mitberichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Befassung

Rat der Europäischen Union, 7.9.2016

Europäisches Parlament, 12.9.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

22.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

211/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.    Allgemeine Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.1.

Der EWSA hält eine gerechte, wirkungsvolle und effiziente Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) für notwendig; es bedarf der Einführung eines echten gemeinsamen Verfahrens, das zuverlässig, flexibel und effizient ist und den fairen und legalen Zugang in die Europäische Union unter Achtung der Menschenrechte ermöglicht.

1.1.2.

Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt ist der in Artikel 2 des AEUV enthaltene Imperativ: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sollten allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemein sein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.

1.1.3.

Außerdem wird in Artikel 78 des AEUV eine gemeinsame Asylpolitik anvisiert: Es soll ein echtes gemeinsames und verpflichtendes System für alle Mitgliedstaaten geben, um sämtliche einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu harmonisieren oder, falls dies nicht machbar ist, zumindest ein gemeinsames System zur gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten einzuführen. Dadurch würde ein echtes gemeinsames europäisches Asylsystem möglich; anderenfalls wird die sogenannte Sekundärmigration nicht vermieden werden können, bei der sich Menschen, die internationalen Schutz suchen, innerhalb der EU in die Länder begeben, die ihnen die besten Bedingungen bieten.

1.1.4.

In der EU-28 leben rund 510 Mio. Menschen; der Vorschlag der Europäischen Kommission vom Herbst 2015 bezieht sich auf 160 000 Menschen, die internationalen Schutz suchen, also lediglich 0,03 % der EU-Gesamtbevölkerung, während es Drittländer gibt, die Millionen von Menschen, die internationalen Schutz suchen, aufgenommen haben.

1.1.5.

Der EWSA begrüßt in jedem Fall die Nachbesserungen am System, wie die Klarheit der Rechte und Pflichten in Bezug auf den Zugang zum Verfahren, die Ersetzung des Begriffs der Schutzbedürftigkeit durch den Begriff der besonderen Bedürfnisse sowie die diesbezüglichen klaren Bewertungskriterien, die Einführung umfassenderer Garantien für Minderjährige und die Erweiterung des Begriffs der Familie.

1.1.6.

Der EWSA zeigt sich besorgt über die Beschränkung der Grundrechte wie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Einschränkung des Rechts Minderjähriger auf Bildung, die Anwendung des Verfahrens für unbegleitete Minderjährige an den Grenzen, das Fehlen von Einzelfallanalysen in Bezug auf die Begriffe sicherer Drittstaat, die Begrenzung der Garantien in den Folgeanträgen und beschleunigten Verfahren, die automatische Überprüfung des Schutzstatus und die geplanten Sanktionen im Zusammenhang mit den Beschränkungen der Aufnahmebedingungen.

1.1.7.

Der EWSA empfiehlt die Angleichung der Schutzstatus, die Abschaffung der Unterschiede zwischen dem Status als Flüchtling und dem subsidiären Schutz hinsichtlich der Dauer der Aufenthaltsgenehmigung, seine Verlängerung und die Beschränkung der Sozialhilfe für Personen, die subsidiären Schutz genießen.

1.2.    Empfehlungen zum Vorschlag für die Verordnung für die Anerkennung

1.2.1.

Der EWSA plädiert für die Einbeziehung der Kriterien des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) für die Bewertung der innerstaatlichen Fluchtalternative, das heißt, die Prüfung der Gelegenheit und die Prüfung der Angemessenheit, wobei die Anwendung dieses Artikel 8 im Fall der staatlichen Verfolgung ausgeschlossen wird.

1.2.2.

Die Beweislast ist laut Rechtsprechung des EuGH gleichermaßen auf den Antragsteller und die Asylbehörde zu verteilen. Dabei muss die Verpflichtung der Asylbehörde zur aktiven Zusammenarbeit mit dem Antragsteller aufrechterhalten werden.

1.2.3.

Der EWSA empfiehlt die Einführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beurteilung der Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling und der restriktiven Anwendung dieser Klauseln, dahingehend, dass Artikel 12 Absatz 6 der Anerkennungsverordnung gestrichen wird, sodass die automatische Anwendung ausschließender Bestimmungen, die dem besonderen Hintergrund des Antragstellers keine Rechnung tragen, vermieden wird.

1.2.4.

Es sollte eine Einzelfallprüfung des internationalen Schutzstatus in den Revisionsverfahren unter Berücksichtigung der besonderen Umstände und von Verfahrensgarantien für die Verfahren gewährleistet werden, die nicht automatisch entschieden werden können.

1.2.5.

In Bezug auf den Flüchtlingsstatus kommt durch jedes neue Verfahren eine zusätzliche Verwaltungslast und ein weiterer Ermessenspielraum hinzu. Befindet sich eine hohe Anzahl Flüchtlinge in einem Land, sind die Verwaltungsbehörden schnell überlastet. Es besteht dann die Gefahr, dass übereilte und möglicherweise willkürliche Entscheidungen gefällt werden. Es ist daher erforderlich, dass die zuständigen Behörden personell angemessen ausgestattet und in Bezug auf die Prüfung und Überprüfung des Flüchtlingsstatus ausreichend geschult sind.

1.2.6.

Es muss unterschieden werden zwischen Aufhebung, Ausschluss, Widerrufung, Nichtverlängerung und Ablauf des Schutzstatus unter Vermeidung von Wiederholungen und Verwirrung bezüglich der jeweils zugrunde liegenden Sachverhalte und Einbeziehung derselben in alle restriktiven Anwendungskriterien.

1.2.7.

Die Einschränkung der Freizügigkeit der Personen, die internationalen Schutz genießen, sollte im Mitgliedstaat abgeschafft werden, da dies gegen Artikel 26 der Genfer Flüchtlingskonvention verstößt.

1.2.8.

Artikel 44 der Anerkennungsverordnung, mit der die Richtlinie über den langfristigen Aufenthalt geändert wird, um mit der Berechnung des Aufenthalts von fünf Jahren neu zu beginnen, wenn sich die Person, die internationalen Schutz genießt, illegal außerhalb des Mitgliedstaats aufhält, der sie anerkannt hat, sollte gestrichen werden, da dies dem Ziel der Europäischen Migrationsagenda vom Mai 2015 entgegenläuft.

1.3.    Empfehlungen zum Vorschlag für eine Verordnung über das gemeinsame Verfahren

1.3.1.

Der EWSA erinnert daran, dass die Regulierung mittels einer Verordnung nicht zu einem Abbau der Schutzstandards führen darf, indem restriktive Anerkennungskriterien und die Beschränkung von Verfahrensrechten und -garantien eingesetzt werden.

1.3.2.

Der EWSA plädiert für die Abschaffung der automatischen Anwendung der Begriffe des sicheren Drittstaats, des ersten Asylstaats und des sicheren Herkunftslands, der Fristverkürzung und empfiehlt die automatisch aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs.

1.3.3.

Die Garantien für eine Einzelfallprüfung nach den Kriterien der Verhältnismäßigkeit, der Notwendigkeit und der Außergewöhnlichkeit in Fällen der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Inhaftnahme sollten ausgedehnt werden.

1.3.4.

Es bedarf einer Ausweitung der Garantien für die Verwaltungshaft durch klare Festlegung der Dauer und Beschränkung derselben auf begründete Ausnahmefälle.

1.3.5.

Zu streichen ist der Ausschluss vom Recht auf unentgeltliche Rechtsberatung im Fall von Anträgen, die für unbegründet erachtet werden und von Folgeanträgen ohne neues Beweismaterial oder Argumenten, da dadurch das Recht auf effektiven Rechtsbehelf, wie er in Artikel 13 der EMRK vorgesehen ist, verletzt wird.

1.3.6.

Einführung derselben Verfahrensgarantien für ordentliche Verfahren wie für die beschleunigten Verfahren, die Grenzverfahren und die Folgeanträge.

1.3.7.

Vor Beginn des eigentlichen Antragsverfahrens sollte dem Antragsteller Zeit gegeben werden, zur Ruhe zu finden und sich zu erholen.

1.4.    Empfehlungen zum Vorschlag für die Richtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme

1.4.1.

Es muss zu einem Ansatz mit positiven Anreizen übergegangen werden, um die Sekundärmigration zu verringern, anstatt den Ausschluss, die Reduzierung, die Streichung oder den Ersatz der gewährten Leistungen anzudrohen. Dieser Ansatz ist besonders unverhältnismäßig bei Antragstellern, die keinen Antrag auf internationalen Schutz im Land der ersten irregulären Einreise oder des rechtmäßigen Aufenthalts gestellt haben.

1.4.2.

Für die Regulierung der Aufnahmebedingungen, sowie der Anerkennungsverfahren und -kriterien sollte dasselbe Rechtsinstrument verwendet werden, um Ungleichheiten bei der direkten Anwendung der miteinander in Zusammenhang stehenden Bestimmungen zu vermeiden.

1.4.3.

Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „menschenwürdiger Lebensstandard“ oder „Fluchtgefahr“ müssen aufgrund der damit verbundenen schwerwiegenden Folgen und des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung der Definitionskriterien eingeschränkt bzw. gestrichen werden.

1.4.4.

Gemäß dem Vorschlag für die Dublin-Verordnung müssen weitere Familienmitglieder wie Geschwister oder andere Angehörige miteinbezogen werden.

1.4.5.

Der Zugang zum Arbeitsmarkt darf den Antragstellern aus sicheren Herkunftsländern nicht verweigert werden, da dies eine Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft darstellen würde.

1.4.6.

Die Auflagen in Bezug auf die Inanspruchnahme der Rechte auf Zugang zu Beschäftigung, Sozialversicherung und Sozialhilfe müssen abgeschafft werden.

1.4.7.

Ebenfalls muss das Rechts von Minderjährigen auf Bildung wie das Recht auf Gesundheit uneingeschränkt gewährleistet werden.

2.   Bemerkungen zur Verordnung für die Anerkennung

2.1.

Der EWSA unterstützt die weitere Harmonisierung der Normen für Asylverfahren, Anerkennung und Schutz auf EU-Ebene. Es bestehen beachtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verfahren, die Anerkennungsquoten, den Umfang des gewährten Schutzes und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller und Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde.

2.2.

Aus verschiedenen Gründen haben die Mitgliedstaaten jeweils eigene institutionelle Asylpraktiken entwickelt. Das provoziert die Sekundärmigration und gefährdet die Gleichbehandlung der Antragsteller auf dem Hoheitsgebiet der Union. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten könnten erhebliche Auswirkungen auf die Wahrung der Grundrechte haben, unter anderem die Wahrung der Menschenwürde und die Achtung des Privat- und Familienlebens, die Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Bildung, die freie Berufswahl und das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt, die Freiheit zur Gründung eines Unternehmens, das Recht auf Asyl, Nichtdiskriminierung, Kinderrechte, das Recht auf soziale Sicherheit und Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung, wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.

2.3.

Der EWSA begrüßt die Entwicklung des Systems für den Abruf, die Organisation und die Verbreitung von Informationen zur Lage in den Herkunfts- und Transitländern unter der Leitung der Asylagentur der Europäischen Union. Es stellt die Grundlage für eine echte Harmonisierung der Entscheidungen über die Gewährung internationalen Schutzes dar. Es ist jedoch nicht klar, in welchem Umfang die nationalen Behörden die bereitgestellten Informationen berücksichtigen werden und welche Mittel zur Verfügung stehen, um sicherzustellen, dass dies geschieht. Um an dieser Stelle stark voneinander abweichende Entscheidungen zu verhindern, sollte im System einfach und klar angegeben sein, welche Länder als unsicher betrachtet werden.

2.4.

In Bezug auf Artikel 7 zu Akteuren, die Schutz bieten können, ist es wichtig, die Kapazitäten privater Akteure und internationaler Organisationen zur Schutzgewährung richtig einzuschätzen. Aufgrund knapper Mittel und Rechtsunsicherheit ist es für beide Gruppen von Akteuren sehr schwierig, einen wirksamen und langfristigen Schutz sicherzustellen, insbesondere im Bürgerkrieg oder in Fällen schwerer staatlicher Repression.

2.5.

Die Möglichkeit eines Antragstellers, intern Schutz zu erhalten, ist ein relevanter Faktor für die Frage, ob Schutz gewährt wird. Die zuständigen Behörden müssen die gesamte Bandbreite an Risiken berücksichtigen, die eine Binnenvertreibung für die Sicherheit des Einzelnen unter Umständen mit sich bringt. Sichere Gebiete können aus verschiedensten Gründen schnell unsicher werden — militärische Niederlage, Unterstützung und Intervention aus dem Ausland, Sabotage oder Terrorangriffe. Obwohl aus Artikel 8 klar hervorgeht, was mit sicher gemeint ist, unter anderem die Möglichkeit der sicheren Reise und die Verfügbarkeit von Schutz, obliegt es den nationalen Behörden in der EU, die verfügbaren Daten und Fakten auszulegen.

2.6.

Die Begriffsbestimmung von Verfolgungshandlungen in Artikel 9 ist umfassend und folgt Artikel 1 Abschnitt A des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention). Dieser Artikel sollte mit Artikel 10 zu den Verfolgungsgründen und Artikel 6 zu den Akteuren, von denen Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, so ausgelegt werden, dass Verfolgungshandlungen vonseiten des Staates und nichtstaatlicher Akteure Berücksichtigung finden. Politische Repression und inländische Kriege sind Anzeichen, dass Gewalthandlungen von verschiedenen paramilitärischen Gruppierungen und Bürgerwehren unter dem Schutz staatlicher Behörden, die in der Regel jegliche Beteiligung abstreiten, verübt werden.

2.7.

Der EWSA plädiert bereits seit Langem für eine Harmonisierung in Bezug auf den Inhalt des Schutzes, den Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutz genießen (1). Der Inhalt des Schutzes war bisher ein zweites Schlüsselmotiv für Sekundärbewegungen innerhalb der Union. Der Ausschuss hat bereits darauf hingewiesen, für wie wichtig er die Harmonisierung im Sinne des höchsten, nicht des niedrigsten, Schutzumfangs hält. Der Vorschlag der Kommission enthält eine Reihe positiver Schritte in diese Richtung.

2.8.

Im Hinblick auf Bereitstellung von Informationen, Aufenthaltstitel und Reisedokumente muss noch eine Präzisierung erfolgen. Bemerkenswert ist, dass die Regeln für den Zugang zum Arbeitsmarkt präzisiert wurden und der Umfang des gewährten Schutzes erhöht wurde, zum Beispiel im Bereich der Arbeitsbedingungen, des Rechts auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und des Zugangs zu beschäftigungsrelevanten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Dort haben die Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz dieselben Rechte wie die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Das ist auch im Hinblick auf die Anerkennung von Qualifikationen, Sozialversicherung, Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung der Fall.

2.9.

Der Zugang zu Integrationsmaßnahmen — Sprachkurse, Programme für Staatsbürgerkunde und Integration sowie Berufsbildungsmaßnahmen — ist überaus wichtig für eine erfolgreiche Integration. Maßnahmen, die die Integration erleichtern, sind hochwillkommen und sollten gefördert werden.

2.10.

Gleichzeitig könnte sich der Weg, andere Leistungen wie zum Beispiel die Sozialhilfe an die Bedingung der Teilnahme an Integrationsmaßnahmen zu knüpfen (siehe Artikel 34), als problematisch erweisen; hier sollte mit Bedacht formuliert werden. Integrationsmaßnahmen müssen einfach zugänglich und sinnvoll sein, um die Teilnahme zu erleichtern. Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz könnten von Integrationsmaßnahmen und von Dienstleistungen ausgeschlossen werden, für die die Teilnahme an Integrationsmaßnahmen erforderlich ist, wie z. B. Sprachunterricht, Bildung und Beschäftigung.

3.   Bemerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung über das gemeinsame Verfahren

3.1.

Der EWSA begrüßt diesen Vorschlag und das mit ihm verfolgte Ziel, ein wirklich gemeinsames Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu schaffen, das effizient, fair und ausgewogen ist. Die Wahl des Instruments — eine Verordnung, die unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt, ist erforderlich, um ein höheres Maß an Harmonisierung und Einheitlichkeit in Bezug auf den Ausgang von Asylverfahren in allen Mitgliedstaaten zu schaffen. Der EWSA hält die Verordnung für einen Schritt in die richtige Richtung, der hilft, die Sekundärmigration zwischen den Mitgliedstaaten einzudämmen und dem Grundsatz der Solidarität gerecht zu werden.

3.2.

Die Verfahren müssen klar und verständlich formuliert sein, und es muss Vorhersehbarkeit gewährleistet werden. Die Beibehaltung der Sechsmonatsfrist für den Zugang von Antragstellern zu dem Verfahren und für den Abschluss der Prüfung der Anträgen im Verwaltungs- und im Rechtsbehelfsverfahren ist angemessen.

3.3.

Was die Ausnahmen angeht, so muss definiert werden, wann ein Antrag als unbegründet und unzulässig gelten kann.

3.4.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich, dass die Asylagentur denjenigen EU-Mitgliedstaaten, denen gleichzeitig eine unverhältnismäßig große Zahl von Anträgen zugeht, Beistand leistet.

3.5.

Der EWSA begrüßt die Festlegung von Verfahrensgarantien zum Schutz der Rechte der Antragsteller. Diesbezüglich hat der Ausschusses stets eine klare Haltung bezogen. Antragsteller, die einen Mitgliedstaat erreichen, befinden sich in einem Zustand besonderer Verwundbarkeit, nachdem fast alle von ihnen große Entfernungen, Entbehrungen und Gefahren überwinden mussten. Es müssen sprachliche, kulturelle und psychologische Barrieren eingeebnet werden, damit eine Anpassung stattfinden und die Zusammenarbeit mit den Behörden gelingen kann. Obwohl die vorgeschlagenen neuen Verfahren klarer formuliert sind, obliegt ihre Umsetzung den Behörden der Mitgliedstaaten. Sollten die Behörden auf Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den neuen Verfahren stoßen, muss geklärt werden, welche Hilfe und Unterstützung bereits stehen.

3.6.

Im Hinblick auf harmonisierte Vorschriften über sichere Staaten unterstützt der EWSA grundsätzlich, schrittweise eine vollständige Harmonisierung anzustreben, indem nationale Listen durch europäische Listen sicherer Herkunftsstaaten oder Benennungen auf Unionsebene binnen fünf Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung ersetzt werden (2).

3.7.

Was das Rechtsbehelfsverfahren angeht, so hat die Europäische Kommission das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf geschaffen: Es gelten ausdrücklich festgelegte Fristen und eine automatisch aufschiebende Wirkung, die bei den Bedingungen für die Ablehnung bei beschleunigten Verfahren, bei Unzulässigkeit aufgrund der Herkunft aus einem ersten Asylstaat und nachfolgendem Antrag, Ablehnungen aufgrund von ausdrücklichem oder stillschweigendem Verzicht und Entscheidungen über einen vorhergehenden Rechtsbehelf ausgeschlossen ist.

3.8.

Der Zeitraum, für den der Schutz gewährt wird, hat direkte Auswirkungen auf die Integrationsperspektiven. Der Zeitraum sollte lang genug sein, damit für Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, Behörden und Arbeitgebern ein entsprechender Anreiz gegeben ist.

4.   Bemerkungen zur Richtlinie zu den Normen für die Aufnahme

4.1.

Der EWSA hat sich aktiv für die Harmonisierung der Aufnahmebedingungen für Bewerber eingesetzt, und zwar nicht nur, um ihre Sekundärmigration zu verringern, sondern in erster Linie um ihre Aussichten auf eine erfolgreiche Integration und den vollen Schutz der Grundrechte zu sichern.

4.2.

Der EWSA unterstützt die Forderung, dass die Mitgliedstaaten über Notfallpläne für die angemessene Aufnahme von Antragstellern in Fällen verfügen müssen, in denen sie mit einer unverhältnismäßig hohe Zahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, konfrontiert sind.

4.3.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt das von der Kommission festgelegte Ziel, die Eigenständigkeit der Antragsteller und ihre etwaigen Integrationsaussichten zu verbessern. Dieses Ziel steht im Einklang mit dem Standpunkt des Ausschusses, der für einen schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Diensten und zu Integrationsprogrammen (z. B. zu Sprachkursen) plädiert. Die Verkürzung der Fristen für den Zugang zum Arbeitsmarkt von höchstens neun Monaten auf höchstens sechs Monate nach Einreichung des Antrags ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“ KOM(2009) 551 endgültig/2 — 2009/0164 (COD) (ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 80).

(2)  Die diesbezügliche Position des EWSA wurde in der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erstellung einer gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten für die Zwecke der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und zur Änderung der Richtlinie 2013/32/EU“ [COM(2015) 452 final] formuliert (ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 82).


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einbeziehung der Emissionen und des Abbaus von Treibhausgasen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) in den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für die Überwachung von Treibhausgasemissionen sowie für die Berichterstattung über diese Emissionen und über andere klimaschutzrelevante Informationen“

(COM(2016) 479 final — 2016/0230 (COD))

und zu dem

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung verbindlicher nationaler Jahresziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2021-2030 zwecks Schaffung einer krisenfesten Energieunion und Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen von Paris sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für die Überwachung von Treibhausgasemissionen sowie für die Berichterstattung über diese Emissionen und über andere klimaschutzrelevante Informationen“

(COM(2016) 482 final — 2016/0231 (COD))

(2017/C 075/17)

Berichterstatterin:

Tellervo KYLÄ-HARAKKA-RUONALA

Mitberichterstatter:

Mindaugas MACIULEVIČIUS

Befassung

Rat, 25.8.2016

Europäisches Parlament, 12.9.2016

Europäische Kommission, 20.7.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 192 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

24.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die planmäßige Vorlage von Vorschlägen seitens der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Verpflichtung der EU, bis 2030 in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft den Klimagasausstoß zu reduzieren. Er hebt indes hervor, dass dabei gleichzeitig die langfristige globale Herausforderung der Eindämmung des Klimawandels berücksichtigt werden muss. Deshalb muss von Grund auf bewertet werden, ob die gegenwärtige klimapolitische Strategie der EU mit Blick auf die Anstrengungen auf globaler, EU- und nationaler Ebene geeignet ist, die Voraussetzungen für Klimaneutralität zu schaffen.

1.2.

Der EWSA schließt sich vorbehaltlos der Auffassung an, dass Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten im Wege der Lastenteilung Rechnung getragen werden muss, um Fairness und Kostenwirksamkeit zu gewährleisten. Um echte Kostenwirksamkeit auf faire Weise zu erreichen, sollten bei Berechnungen im Hinblick auf eine Lastenteilung beide Aspekte gleichzeitig in allen Mitgliedstaaten einbezogen und die Zielvorgaben so gewählt werden, dass für jedes Land die gleichen relativen Kosten entstehen. In Anbetracht der Unzulänglichkeiten bei der Lastenteilung erachtet der EWSA die Einführung und Weiterentwicklung von Flexibilitätsmechanismen als wichtig.

1.3.

Durch die Einbeziehung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) in den Rahmen bis 2030 wird die EU-Klimapolitik um ein wichtiges neues Element erweitert. Nach Meinung des EWSA sollte diese Einbeziehung so gestaltet werden, dass langfristige Klimaneutralität gefördert wird. Eine nachhaltige Nutzung und eine aktive Bewirtschaftung biobasierter Rohstoffe, d. h. eine nachhaltige Bioökonomie einschl. einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung und einer klimabewussten Nahrungsmittelproduktion, sind eine wesentliche Voraussetzung für diesen Wandel und sollten im Hinblick auf ein ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltiges Wachstum wohlüberlegt berücksichtigt werden.

1.4.

Die Rolle der Land- und Forstwirtschaft erfordert einen ganzheitlichen Ansatz im Rahmen der EU-Klimapolitik. Emissionssenkungen und Kohlenstoffspeicherung müssen ebenso berücksichtigt werden wie die Erfordernisse der Klimawandelanpassung und der Ernährungssicherheit. Durch das Übereinkommen von Paris ist die starke Verpflichtung geschaffen worden, dass die Erderwärmung „deutlich unter 2 oC über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 oC über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ und „die Fähigkeit zur Anpassung an die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen erhöht und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaänderungen sowie eine hinsichtlich der Treibhausgase emissionsarme Entwicklung so gefördert wird, dass die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird“. Es ist daher wichtig, neben der Eindämmung des Klimawandels auch eine stärkere Klimaresilienz des Agrarsektors zu fördern.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die wichtige Senkenfunktion und das Senkenpotenzial der Wälder und einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung sowie den damit verbundenen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Nutzen anzuerkennen.

1.6.

Die Bindung des Kohlenstoffs hängt nicht nur von der Ausdehnung von Waldflächen ab, sondern vor allem von der Förderung des Waldwachstums und reger Fotosynthese durch eine aktive Waldbewirtschaftung und der verstärkten Nutzung von Holzbiomasse zur Herstellung von Produkten und zur Energieerzeugung. Eine Begrenzung der Nutzung von Waldressourcen würde langfristig aufgrund von Alterung und damit einhergehenden verlangsamten Wachstums zu einer Beeinträchtigung der Senkenfunktion führen. Auch auf Kulturflächen und Grünland bedingt der Wachstums- und Erntezyklus der Pflanzen eine optimale Senkenleistung.

1.7.

Nach Meinung des EWSA ist es wichtig, die Emissionen und den Abbau von Treibhausgasen auf transparente Weise und anhand einheitlicher Indikatoren wissenschaftlich zu bewerten. Er fordert die Europäische Kommission auf, die Verbuchungsvorschriften in der Land- und Forstwirtschaft so zu konzipieren, dass darin die tatsächlichen Emissionen und Kohlenstoff-Speicherquoten zum Ausdruck kommen. Ferner müssen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Referenzwerte für Wälder im Einklang mit der erwarteten nachhaltigen Nutzung von Waldressourcen festlegen. Die EU sollte ferner ein präzises satellitengestützes Instrument für die globale Überwachung der Wälder entwickeln. Außerdem sollten geeignete Verbuchungsverfahren für die Kohlenstoffbindung durch nicht-holzige Pflanzen in landwirtschaftlich genutzten Böden entwickelt werden. Auch ist es wichtig, die Doppelanrechnung von unter LULUCF gemeldeten Emissionen im Zusammenhang mit der Nutzung von Biomasse in anderen Sektoren zu vermeiden.

1.8.

Der EWSA rät den Mitgliedstaaten, ehrgeizige nationale Bottom-up-Ansätze für den LULUCF-Sektor vorzulegen und die Zivilgesellschaft dabei auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene eng einzubeziehen.

1.9.

Der EWSA ist sich bewusst, dass eine erfolgreiche Umsetzung der ehrgeizigen Vorschläge umfangreiche Finanzmittel erfordert, und regt an, dass die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit der EIB zusätzlich zu den bestehenden Finanzierungsfazilitäten ein separates Finanzierungsinstrument auflegt, um die Verwirklichung dieser Ziele zu unterstützen. Ferner müssen durch intensive Forschung und Innovation neue Klimaschutzverfahren entwickelt und eingeführt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Am 20. Juli 2016 legte die Europäische Kommission Vorschläge für eine Verordnung über Treibhausgasemissionsreduktionen seitens der Mitgliedstaaten im Zeitraum 2021-2030 (Lastenteilung 2030) sowie für eine Verordnung über die Einbeziehung der Emissionen und des Abbaus von Treibhausgasen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) in den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 vor. Gleichzeitig legte sie eine Strategie für emissionsarme Mobilität auf. In dieser Stellungnahme befasst der EWSA sich mit den beiden Verordnungsvorschlägen; die Mitteilung über die Strategie ist Gegenstand einer separaten Stellungnahme (TEN/609).

2.2.

Die Vorschläge stehen im Zusammenhang mit den Emissionsreduktionsverpflichtungen der EU im Umfang von mindestens 40 % bis 2030 im Vergleich zum Stand von 1990. Wie von der EU vereinbart erfordert das für 2030 gesetzte Ziel eine Emissionsreduktion von 43 % in den vom EU-Emissionshandelssystem (EHS) erfassten Sektoren und von 30 % in anderen, nicht unter das EHS fallenden Sektoren, jeweils gegenüber 2005. Rat und Europäisches Parlament sind mit der Überarbeitung der EHS-Richtlinie befasst. Der EWSA hat sich dazu in seiner Stellungnahme NAT/675 geäußert.

2.3.

Die vorgeschlagenen Verordnungen betreffen nicht unter das EHS fallende Sektoren, Tätigkeiten in den Bereichen Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft sowie Landnutzung und Forstwirtschaft. Die Emissionsreduktionsziele der Mitgliedstaaten sind eine Folgemaßnahme der geltenden Lastenteilungsentscheidung in Verbindung mit den EU-Klimazielen bis 2020, während die Bereiche Landnutzung und Forstwirtschaft erstmals in den EU-Rahmen für die Klima- und Energiepolitik einbezogen werden. Bislang sind sie im Rahmen des Kyoto-Protokolls berücksichtigt worden.

2.4.

Im Einklang mit den vom Europäischen Rat angemahnten Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Kostenwirksamkeit schlägt die Europäische Kommission differenzierte nationale Emissionsreduktionsziele vor. Die Ziele der einzelnen Mitgliedstaaten für 2030 rangieren zwischen 0 % und 40 %. Für den Sektor Landnutzung und Forstwirtschaft schlägt die Kommission vor, dass die gemäß den en Anrechnungs-/Verbuchungsvorschriften erfassten Emissionen und ihr Abbau in Senken in jedem Mitgliedstaat ausgeglichen sein müssen.

2.5.

Die Kommission schlägt auch weiterhin Flexibilitätsmechanismen vor, die es ermöglichen, jährliche Emissionszuteilungen zwischen den Mitgliedstaaten und auch zeitlich zu übertragen. Ferner schlägt die Kommission neue Flexibilitätsregelungen vor, die im Rahmen der Lastenteilung einen gewissen Ausgleich mit EHS-Zertifikaten und LULUCF-Abbaueinheiten zulassen.

2.6.

Die vorgeschlagenen Verordnungen haben auch die Überwachung von und die Berichterstattung über Treibhausgasemissionen sowie Anrechnungs-/Verbuchungsvorschriften für Landnutzung und Forstwirtschaft zum Gegenstand.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt generell die planmäßige Vorlage der Vorschläge seitens der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Verpflichtung der EU, bis 2030 in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft den Klimagasausstoß zu reduzieren. Er hebt indes hervor, dass dabei gleichzeitig die langfristige globale Herausforderung der Eindämmung des Klimawandels berücksichtigt werden muss. Deshalb müssen die Strategien und Maßnahmen auf das langfristige Ziel der Klimaneutralität abgestimmt werden.

3.2.

In einer anderen Stellungnahme (NAT/690) rief der EWSA die EU jüngst auf, ihren positiven Einfluss auf das globale Klima („ökologischer Handabdruck“) zu vergrößern und sich nicht nur auf die Senkung ihrer Emissionen zu konzentrieren. Im Rahmen der Klimapolitik bis 2030 sollten Klimaschutzlösungen für Drittländer angeboten und gemeinsame Vorhaben mit Drittländern gefördert werden, zumal das Übereinkommen von Paris ein neues Instrument für die internationale Zusammenarbeit im Klimaschutz bietet.

3.3.

In der genannten Stellungnahme plädierte der EWSA ferner für eine effizientere „Klimaunion“ und in Verbindung damit für eine verstärkte Integration von Klimaschutzaspekten in die einschlägigen Binnenmarkt-Politikbereiche. Die Aufteilung des gemeinsamen Emissionsreduktionsziels in nationale Einzelziele könnten Fragmentierung und Auflösung Vorschub leisten. Der EWSA fordert deshalb die Europäische Kommission auf, mit Blick auf die EU-Klimapolitik nach 2030 auch Optionen und Möglichkeiten für einen kohärenteren gemeinschaftlichen Ansatz in den nicht unter das EHS fallenden Sektoren zu prüfen.

3.4.

Statt der Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten ist auch ein sektorbezogener Ansatz als klimapolitischer Pfad denkbar. Die Strategie für emissionsarme Mobilität gründet auf diesem Ansatz. Der EWSA hält es für wichtig, zwischen Binnenmarktaspekten und essentiell nationalen Aspekten zu unterscheiden. Generell ist ein sektorbezogener Ansatz besser für Binnenmarktfragen geeignet, während ein länderspezifischer Ansatz in Angelegenheiten wie bspw. der Bewirtschaftung einheimischer natürlicher Ressourcen angezeigt ist. Insbesondere trifft dies auf die Forstpolitik zu.

3.5.

Durch die Einbeziehung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft in den Rahmen bis 2030 wird die EU-Klimapolitik um ein wichtiges neues Element erweitert. Nach Meinung des EWSA sollte diese Einbeziehung so gestaltet werden, dass sie auf langfristige Klimaneutralität und nachhaltiges Wachstum und nicht nur auf kurz- und mittelfristige Maßnahmen abhebt.

3.6.

Die Notwendigkeit, die Emissionen zu senken und Kohlenstoffspeicher auszubauen, treibt die Nutzung von Biomasse als Rohstoff für verschiedene Arten von Bioerzeugnissen und als erneuerbarer Energieträger sowie die Nutzung nachhaltiger Bioenergie im Kontext der Dekarbonisierung des Verkehrs an. Eine nachhaltige Bioökonomie, d. h. die nachhaltige Nutzung und Bewirtschaftung biobasierter Rohstoffe, ist deshalb ein wesentliches Element des Wandels hin zu Klimaneutralität.

3.7.

Der Forstsektor kann einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der CO2-Emissionen, zum Ausbau der Erneuerbaren und zur Förderung eines nachhaltigen Konsums leisten. Dank langfristiger Investitionen in die Waldbewirtschaftung mit dem Ziel, durch den Aufbau von Holzvorräten künftig eine nachhaltige Holzentnahme sicherzustellen, wachsen die Waldressourcen der EU an. Auch die zunehmende Nutzung von Biomasse macht künftig eine aktive Waldbewirtschaftung erforderlich.

3.8.

Der EWSA betont, dass die Klimaschutzpolitik der EU die Nutzung der Wälder nicht einschränken darf, sofern die Holzentnahme nicht den Holzzuwachs überschreitet und eine nachhaltige Waldbewirtschaftung sichergestellt ist. Eine kurzfristige Einschränkung der Waldnutzung würde langfristig die Senkenfunktion beeinträchtigen.

3.9.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Klimawandel und Ernährungssicherheit, insbesondere auf globaler Ebene. Deshalb ist es wesentlich, dass beide Herausforderungen — Ernährungssicherheit und Eindämmung des Klimawandels — gleichzeitig angegangen werden. Die Begrenztheit der verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche und der Verstädterungsdruck sollten Auslöser für eine nachhaltige Produktivitätssteigerung sein, damit Europa seinen Teil zur Bewältigung der globalen Herausforderung der Ernährungssicherheit beitragen kann.

3.10.

Im Zusammenhang mit den Nettoemissionen im Agrarsektor erinnert der EWSA an den ebenso ehrgeizigen Vorschlag zu nationalen Emissionshöchstmengen (National Emission Ceilings, NEC) und mahnt, auf Stimmigkeit zu achten und im Zuge der Konzipierung und Umsetzung der verschiedenen Rechtsvorschriften Mehrfachbelastungen zu vermeiden.

4.   Besondere Bemerkungen zum Lastenteilungs-Vorschlag

4.1.

Die Europäische Kommission hat im Einklang mit der Forderung des Europäischen Rates in ihren Vorschlägen die Grundsätze der Fairness und der Kostenwirksamkeit berücksichtigt. Der EWSA schließt sich vorbehaltlos der Auffassung an, dass den Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden muss, um sowohl Fairness als auch Kostenwirksamkeit zu gewährleisten. Die Unterschiede beziehen sich auf die jeweiligen Gegebenheiten und Ausgangssituationen der Länder sowie auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten für Emissionssenkungen.

4.2.

Der EWSA weist indes darauf hin, dass der vorgeschlagene Ansatz nicht die bestmögliche Wirkung auf EU-Ebene verspricht, da Fairness und Kostenwirksamkeit getrennt betrachtet werden. Um echte Kostenwirksamkeit auf faire Weise zu erreichen, sollten bei den Berechnungen beide Aspekte gleichzeitig und in allen Mitgliedstaaten einbezogen werden.

4.3.

Für die kostenwirksamste Lösung müsste für jedes Land die Kostenfunktion der Emissionssenkungsmaßnahmen aufgestellt und das jeweilige Ziel in Abhängigkeit von dem Punkt festgesetzt werden, wo die Grenzkosten gemessen am BIP gleich sind. Damit würde auch einer potenziellen Zuteilung von zu vielen Zertifikaten vorgebeugt. Eine weitere Möglichkeit wäre es, für jedes Land dasselbe relative Ziel vorzugeben und dann mit Hilfe von Flexibilitätsmechanismen die beste Lösung zu finden.

4.4.

Das Ergebnis der Lastenteilung ist schwierig zu überprüfen. Der EWSA betont daher die Bedeutung von Transparenz bei der Vorlage der den Berechnungen zugrunde liegenden Daten und Hypothesen sowie der angewandten Methoden.

4.5.

Im Interesse einer besseren Planbarkeit hält der EWSA es für wichtig, die möglichen Auswirkungen des Brexit auf die Lastenteilung zu berücksichtigen und sich darauf vorzubereiten. Norwegen und Island hingegen haben ihre Absicht bekundet, sich an der gemeinsamen Aktion der EU zu beteiligen, was sich ebenfalls auf die Umsetzung der Lastenteilung auswirken kann.

4.6.

In Anbetracht der unvermeidlichen Unzulänglichkeiten bei der Lastenteilung ist die Einführung von Flexibilitätsmechanismen und Vorschriften wichtig, um höchstmögliche Effizienz zu erzielen. Auch sollten neue Formen sektorübergreifender Flexibilität geprüft werden. Ferner wird ein effizientes transparentes System zur Überwachung der Auswirkungen der Flexibilitätsregelungen benötigt.

4.7.

Die Flexibilität, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht, untereinander mit Emissionszuteilungen zu handeln und Emissionsreduktionsprojekte in anderen Mitgliedstaaten durchzuführen, fördert Kostenwirksamkeit wie auch Fairness. Auch die Möglichkeit einer zeitlichen Übertragung von Emissionszuteilungen ist notwendig und sollte weniger stark beschränkt werden, da Emissionssenkungen in der Praxis von einem Jahr zum nächsten nicht linear verlaufen.

4.8.

Die vorgeschlagene Option, Emissionszuteilungen im Rahmen des EHS zum Ausgleich von Emissionen in anderen Sektoren zu verwenden, ist in Anbetracht der angestrebten Optimierung der Emissionssenkungen zu begrüßen. Allerdings ist zu bedenken, dass das Löschen von Emissionszuteilungen in einem Land im Zuge des EU-weiten Emissionshandelssystems Auswirkungen auf andere Länder hat.

4.9.

Der EWSA begrüßt die Möglichkeit, den Kohlendioxidabbau und Emissionssenkungen in den LULUCF-Bereichen zum Ausgleich von Emissionen in anderen Bereichen gutzuschreiben. Die eventuelle Aufnahme der Waldbewirtschaftung in die Flexibilitätsmöglichkeiten sollte so gestaltet werden, dass nachhaltige Waldbewirtschaftung und Waldwachstum gefördert werden und die Nutzung von Waldressourcen als Rohstoff der Bioökonomie nicht beeinträchtigt wird.

5.   Besondere Bemerkungen zum LULUCF-Vorschlag

5.1.

Die Rolle der Land- und Forstwirtschaft erfordert einen ganzheitlichen Ansatz im Rahmen der EU-Klimapolitik. Neben Klimaschutzmaßnahmen müssen auch Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel in der Land- und Forstwirtschaft ergriffen werden, die am stärksten von widrigen Witterungsverhältnissen betroffen sind. Deshalb sollte ein Klimaschutzpfad mit geringstmöglichen negativen Folgen für die Produktion gefördert werden. Wie im Kommissionsvorschlag dargelegt wird, ist es wichtig, die Position der EU im globalen Gefüge im Auge zu behalten und die Ergebnisse der globalen Bilanz des Übereinkommens von Paris zu berücksichtigen, insbesondere mit Blick auf Umweltintegrität und potenzielle Negativfolgen von Kohlenstoffverlagerung.

5.2.

Dem Pariser Übereinkommen zufolge sollte bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein Ausgleich zwischen den anthropogenen Treibhausgasemissionen und dem Treibhausgasabbau durch Senken wie Wälder erreicht werden. Es ist daher außerordentlich wichtig, die Senkenfunktion der Wälder zu erhalten und die Sättigung alter Waldbestände als Kohlenstoffspeicher zu vermeiden.

5.3.

Eine nachhaltige Waldbewirtschaftung, die Nutzung von Holz als Rohstoff zur Herstellung von Produkten und die Ersetzung fossiler Brennstoffe durch Bioenergie sind wirksame Möglichkeiten zur Steuerung der Kohlenstoffbilanz. Um eine Gefährdung der Umweltintegrität zu vermeiden, sollte der Ausgleich von durch die Verbrennung fossiler Energieträger verursachten Emissionen aus anderen Sektoren durch forstwirtschaftliche Senken nicht dazu führen, dass weniger Holz als Rohstoff für die Bioökonomie zur Verfügung steht.

5.4.

Die Bewirtschaftung von Wäldern als Kohlenstoffsenken ist nicht nur eine Frage der Ausdehnung der Waldflächen, sondern vor allem der Förderung des Waldwachstums durch eine aktive Waldbewirtschaftung und der verstärkten Nutzung von Holzerzeugnissen. Deshalb erachtet der EWSA es als wichtig, dass Holzprodukte im LULUCF-Vorschlag berücksichtigt werden; die Mitgliedstaaten sollten das Potenzial von Holzprodukten als Kohlenstoffspeicher und die damit verbundenen Gutschriften umfassend nutzen. Es sollte außerdem möglich sein, Emissionen aufgrund von Entwaldung durch eine Zunahme forstwirtschaftlicher Ressourcen infolge einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung auszugleichen.

5.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Verbuchungsvorschriften in der Waldbewirtschaftung eingehend zu überarbeiten, um das umfangreiche Klimaschutzpotenzial einer nachhaltigen Forstwirtschaft (1) zu nutzen. In den Verbuchungsvorschriften müssen die tatsächliche Waldwachstumsrate und Kohlenstoff-Speicherquote zum Ausdruck kommen, um die bisherigen Probleme einer fälschlichen Einstufung von Senken als Emissionsquellen zu vermeiden.

5.6.

Die vorgeschlagenen Verbuchungsvorschriften unter Berücksichtigung der Referenzwerte für Wälder sind komplizierter als zuvor und bieten keinen ausreichenden Anreiz zur Förderung des Waldzuwachses oder der Bioökonomie. Anstatt der Festlegung allzu detaillierter Kriterien schlägt der EWSA vor, dass die Mitgliedstaaten ihre nationalen Referenzwerte für Wälder im Einklang mit der geplanten Nutzung der Waldressourcen festlegen und dabei sicherstellen sollten, dass die jährliche Holzentnahme langfristig nicht den jährlichen Holzzuwachs überschreitet.

5.7.

Der EWSA begrüßt den Hinweis der Europäischen Kommission, dass zur Vermeidung von Doppelanrechnungen die Nutzung von Biomasse im Energiesektor gemäß den Leitlinien des Weltklimarats als Nullemission anzusehen ist. Im Übrigen muss jede Art von Mehrfachanrechnung vermieden werden.

5.8.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, auf weltweit einheitliche Verbuchungsvorschriften für LUCLUF hinzuarbeiten. Um andere Länder mitzunehmen, sollten die Vorschriften so einfach wie möglich gehalten werden. Auf internationaler Ebene sollte die EU auch ihre eigenen Kompetenzen im Bereich der Inventarisierung und Überwachung von Waldbeständen einbringen und insbesondere ein zuverlässiges EU-Satellitensystem entwickeln, das aktuelle globale Daten liefern kann.

5.9.

Wie die Waldbewirtschaftung trägt auch eine aktive Bewirtschaftung von Anbauflächen und Grünland zur Bekämpfung des Klimawandels sowie zur globalen Ernährungssicherheit bei. Eine verbesserte Bewirtschaftung von Anbauflächen und Grünland, die eine Verbesserung der Bodenproduktivität sowie Ernte und Neuanpflanzung umfasst, fördert die Senkenleistung und sollte deshalb angemessen angerechnet werden. Hingegen würde eine Beschränkung der Biomasseproduktion langfristig zu verminderter Fotosynthese führen und dadurch den Abbau von Treibhausgasen aus der Atmosphäre beeinträchtigen. Es sollten die besonderen Eigenschaften von organischen Böden berücksichtigt und Möglichkeiten für ihre landwirtschaftliche Nutzung erhalten werden.

5.10.

Um das umfangreiche Potenzial der Bewirtschaftung von Anbauflächen und Grünland zur Steigerung der Senkenleistung der Böden auszuschöpfen und mögliche Leistungsverbesserungen zu messen, plädiert der EWSA für die Erforschung und Entwicklung von Verbuchungsvorschriften für Biomasse auf der Grundlage ein- und mehrjähriger nicht-holziger Pflanzen. Ein dynamisches Bodenbewirtschaftungskonzept, in dessen Mittelpunkt die Optimierung der Bodenfunktionen unter Berücksichtigung der lokalen Voraussetzungen steht, würde nicht nur dem Klima und der Umwelt zugutekommen, sondern auch zur wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit der Landwirtschaft, insbesondere der kleinen landwirtschaftlichen Familienbetriebe, beitragen.

5.11.

Insgesamt beruht die Erfolgsgeschichte von Paris auf einer basisorientierten Festlegung nationaler Zielvorgaben auf der Grundlage der Stärken und Chancen der einzelnen Staaten. Der EWSA ist sich auch der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im LULUCF-Sektor bewusst. Die Maßnahmen sollten daher im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip auf nationaler Ebene bedarfsgerecht festgelegt werden, und LULUCF sollte eine eigenständige Säule der Klimapolitik bilden.

5.12.

Der EWSA ermutigt die einzelnen Mitgliedstaaten, unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene ehrgeizige Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels im LULUCF-Sektor aufzulegen und gleichzeitig eine langfristige Vision für eine nachhaltige Landnutzung und Forstwirtschaft zu entwickeln.

5.13.

Zur Durchführung ehrgeiziger Maßnahmen werden umfangreiche Finanzmittel benötigt. Deshalb fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, in Zusammenarbeit mit der EIB zusätzlich zu den bestehenden Finanzierungsfazilitäten ein separates Finanzierungsinstrument aufzulegen, um die Verwirklichung dieser Ziele zu unterstützen. Ferner herrscht ein klarer Bedarf an zusätzlichen Investitionen in die Erforschung und Entwicklung neuer Klimaschutzverfahren.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Nabuurs et al. 2015. A new role for forests and the forest sector in the EU post-2020 climate targets.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für Grundfischbestände in der Nordsee und für die Fischereien, die diese Bestände befischen, und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 676/2007 und (EG) Nr. 1342/2008 des Rates“

(COM(2016) 493 final — 2016/0238 (COD))

(2017/C 075/18)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Befassung

Europäisches Parlament, 12.9.2016

Rat, 26.9.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Beschluss des Präsidiums

20.9.2016

Zuständige Fachgruppe

Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

24.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

211/1/3

1.   Allgemeine und besondere Bemerkungen und Empfehlungen

1.1.

Die Gemeinsame Fischereipolitik wurde in den 1960er und 70er-Jahren eingeführt und bedarf einer fortlaufenden Überarbeitung. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt diesen Aktualisierungsprozess der Fischereipolitik, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten und so die Fischbestände besser zu erhalten und zu schützen. Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen, von denen viele in dem Bericht 2016 der Arbeitsgruppe WGNSSK (1) angeregt wurden. Damit wird ein Beitrag zur Aktualisierung der europäischen Fischereivorschriften und zum Schutz einer sehr wertvollen Branche geleistet.

1.2.

Die Fischereien in der Nordsee und den angrenzenden Gebieten sind sehr komplex, da Schiffe aus mindestens sieben Küstenstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen beteiligt sind, die eine Vielzahl unterschiedlicher Fanggeräte einsetzen, mit denen sie zahlreiche verschiedene Fisch- und Schalentierarten befischen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass viele der wichtigsten Grundfischbestände (d. h. der Bestände, die am oder in der Nähe des Meeresgrunds leben) in gemischten Fischereien gefangen werden. In der Praxis bedeutet dies, dass der Fang bei jedem Einholen des Fanggeräts aus einer Mischung verschiedener Arten besteht. Die Fangzusammensetzung variiert je nach Art des eingesetzten Fanggeräts sowie nach Ort und Zeitpunkt des Einsatzes.

1.3.

Für Schiffe, die einer zulässigen Gesamtfangmenge (TAC) unterliegende Fischbestände befischen, bedeutet dies, dass sie ihre Fangtätigkeit einstellen müssten, sobald ihre Quote für den betreffenden Bestand ausgeschöpft ist. Vor dem Erlass der Grundverordnung (2) musste die Fangtätigkeit nicht eingestellt werden, wenn die Quote für diese Arten erschöpft war. Stattdessen konnten weiterhin andere Zielarten befischt werden, wodurch weiterhin auch die Arten gefangen wurden, für die die Quoten bereits ausgeschöpft waren, auch wenn diese Fänge nicht rechtmäßig angelandet werden konnten. Diese über die Quote hinaus getätigten Fänge mussten zurückgeworfen werden. Wenn die Quote für diesen Bestand nun ausgeschöpft ist, darf die Befischung anderer Bestände nicht fortgesetzt werden. Daher sollte bei der Festsetzung der TAC für die betreffenden Bestände berücksichtigt werden, dass einige Arten in gemischten Fischereien gemeinsam gefangen werden. Ein solcher Ansatz würde sich sowohl auf die Erhaltung als auch auf die Nutzung der Bestände positiv auswirken. Mit dem erörterten Vorschlag wird dieser Ansatz verfolgt.

1.4.

Durch die Grundverordnung sollen die Probleme mit Überfischung und Rückwürfen wirksamer behoben werden als in früheren Rechtsvorschriften. Daher sollten geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um negative wirtschaftliche und soziale Auswirkungen für die Fischereiwirtschaft zu verhindern. Der erste Schritt hin zu solch einem flexiblen Management wäre die Aufnahme aller relevanten Bestände in einen einheitlichen Bewirtschaftungsplan. Dieser würde Zielwerte für die fischereiliche Sterblichkeit einschließen (angegeben als Wertebereich für jeden Bestand, sofern verfügbar), auf deren Grundlage die jährlichen TAC für diese Bestände festgesetzt würden.

2.   Sonstige Bemerkungen und Empfehlungen

2.1.

Es sollte ein unabhängiger Ausschuss zur Überprüfung der nationalen Quoten eingerichtet werden. Die Erholung der Fischbestände hängt jedoch nicht nur von der fischereilichen Sterblichkeit, sondern auch von anderen Faktoren wie dem Klimawandel ab. Jeder Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Fischerei erfordert die (kostspielige) Anpassung von Fischereifahrzeugen und Fanggeräten sowie fundierte wissenschaftliche Daten und kontinuierliche Maßnahmen zur Schulung und Sensibilisierung der Fischer. Der soziale Aspekte der Fischerei sollte ebenfalls berücksichtigt werden, da kleine Fischer vom Markt verdrängt werden. Ein vorrangiges Anliegen ist der Erhalt bestehender Arbeitsplätze in den Gemeinschaften vieler EU-Küstengebiete, die von der Fischerei abhängig sind.

2.2.

Die Auswirkungen der Fischzucht auf die Wildfischbestände sollten näher erforscht werden. Der Wildlachs ist vom Aussterben bedroht, was in erster Linie auf die Überfischung der Bestände und die mangelnde Regulierung zurückzuführen ist; unbekannt ist bisher jedoch, wie sich die Tätigkeit der Fischzuchtbetriebe auf den Wildlachs auswirkt. Durch eine angemessene Vermarktung sollte Wildlachs einen höheren Preis erzielen als Zuchtlachs. In entlegeneren Gebieten leistet die Sportfischerei einen wesentlichen Beitrag zur Wirtschaft: Jeder gefangene Wildlachs trägt durch die Gehälter, die den professionellen Begleitern auf Angeltouren gezahlt werden, Unterbringung, Beförderung usw. durchschnittlich mit 1 200 EUR zur lokalen Wirtschaft bei.

2.3.

Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um den Rückgang der Aalfischerei aufzuhalten. Das Problem des Fangens von Jungfischen sollte durch die Erhöhung der Mindestmaschenöffnung angegangen werden. Auch sollten Beschränkungen für Monofilamentnetze eingeführt werden.

2.4.

Verstöße gegen die Fischereivorschriften sollten stärker geahndet werden. Gegen die Beschäftigung illegaler Einwanderer auf Fischereifahrzeugen sollten strenge Maßnahmen ergriffen werden. Viele dieser Menschen erhalten nicht einmal eine Bezahlung und sind praktisch Gefangene, da ihre Pässe eingezogen werden (in einem bekannten Fall wurden Menschen aus Zentralamerika Opfer solcher Praktiken). Die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf See müssen den höchsten EU-Standards genügen. Das gilt auch für Arbeitnehmer aus Drittländern.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Bericht der Arbeitsgruppe zur Bewertung der Grundfischbestände in der Nordsee und im Skagerrak (WGNSSK) des ICES (Internationaler Rat für Meeresforschung), die vom 26. April bis zum 5. Mai 2016 in Hamburg, Deutschland, zusammentrat.

(2)  Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über die Gemeinsame Fischereipolitik und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1954/2003 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2371/2002 und (EG) Nr. 639/2004 des Rates und des Beschlusses 2004/585/EG des Rates (ABl. L 354 vom 28.12.2013, S. 22).


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/111


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Luftverkehrspaket II, das folgende Vorlagen umfasst:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates“

(COM(2015) 613 final — 2015/0277 (COD))

und

„Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Das Europäische Programm für Flugsicherheit“

(COM(2015) 599 final)

(2017/C 075/19)

Berichterstatter:

Raymond HENCKS

Mitberichterstatter:

Stefan BACK

Befassung

Rat der Europäischen Union, 19.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

15.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

184/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stimmt dem neuen risiko- und leistungsbasierten System zu, sofern präskriptive Vorschriften zur Wahrung der Sicherheit wo immer notwendig beibehalten werden. Eine erfolgreiche Änderung der Arbeitsmethoden und der Kultur erfordert Zeit und angemessene Ressourcen. Diese Umstellung muss unter enger Einbeziehung der Arbeitnehmer und Interessenträger erfolgen.

1.2.

Der EWSA stimmt dem Vorschlag zu, der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und mit deren Einverständnis mehr Verantwortung für die Sicherheit zu übertragen, auch in Bezug auf die spezifischen Vorschriften für Notfälle, sofern angemessene Ressourcen bereitgestellt werden, damit die EASA ihre Aufgaben in diesem Bereich erfüllen kann. Nach Ansicht des EWSA sollte die Verordnung (EG) Nr. 300/2008 angesichts der Entwicklungen, die seit 2008 stattgefunden haben, überarbeitet werden.

1.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich das Umfeld, in dem die Zivilluftfahrt operiert, aufgrund rasanter technischer Entwicklungen, u. a. der Digitalisierung, sowie der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und neuer Formen der Beschäftigung und der Diensteerbringung rapide ändert. Er erachtet den Vorschlag zur regelmäßigen Bewertung der neuen Verordnung alle fünf Jahre als äußert wichtig. Etwaige Aspekte der Flugsicherheit und der Luftsicherheit in Verbindung mit diesen Entwicklungen müssen in der Folgenabschätzung umfassend bewertet werden; es gilt, rechtzeitig angemessene Maßnahmen zu planen und umzusetzen.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Aufnahme der Bodenabfertigung in den Anwendungsbereich dieser Verordnung und schlägt vor, zu prüfen, ob Bodenabfertigungsdienste und Bodenabfertigungspersonal mit sicherheitskritischen Aufgaben einer Zertifizierung unterliegen sollten.

1.5.

Der EWSA begrüßt ebenfalls die Entwicklung von Zertifizierungsnormen für Flugbegleiter, bedauert jedoch, dass die Kommission kein System für die Lizenzierung von Flugbegleitern vorschlägt.

1.6.

Der EWSA befürwortet die Aufnahme unbemannter Luftfahrzeuge in den Anwendungsbereich der Verordnung und betont die Bedeutung hoher Sicherheitsstandards.

1.7.

Der EWSA warnt vor unnötig komplexen und sich überschneidenden Zertifizierungs- und Kontrollanforderungen für Flugplatzausrüstungen mit Ausnahme von Fällen, wo dies aus Sicherheitsgründen unbedingt erforderlich ist.

1.8.

Der EWSA erachtet die in dem Vorschlag enthaltenen Aufgaben zur Aufsicht, Zusammenarbeit und Unterstützung in Bezug auf die nationalen Behörden als positiv und hofft, dass diese zu kontinuierlich hohen, harmonisierten und effizienten Standards in Sachen Sicherheit, verbessertem Informationsaustausch und Benchmarking führen, wodurch wiederum eine höhere Ressourceneffizienz gewährleistet wird. In diesem Zusammenhang nimmt er den europäischen Plan für Flugsicherheit (EASP) und das europäische Flugsicherheitsprogramm sowie die dadurch entstehende Möglichkeit zur Entwicklung und Umsetzung höherer und harmonisierter Sicherheitsstandards zur Kenntnis.

1.9.

Der EWSA befürwortet das vorgeschlagene Verfahren zur freiwilligen Übertragung von Zuständigkeiten der nationalen Behörden auf die EASA, auch in Bezug auf die spezifischen Vorschriften für Notfälle.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass für die Inanspruchnahme der Möglichkeit für in mehreren Mitgliedstaaten tätige europäische Luftfahrtunternehmen, die EASA als ihre zuständige Behörde zu benennen, die Unterrichtung der zuständigen nationalen Behörde bzw. Behörden erforderlich ist. Die Möglichkeit für die oben genannten Luftfahrtunternehmen, die EASA als ihre zuständige Behörde zu benennen, kann nicht auf Maßnahmen Anwendung finden, die in Artikel 59 und 60 des Vorschlags geregelt sind.

1.11.

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung des Informationsaustauschs und betont, dass Daten, die zur Verbesserung der Sicherheit erfasst werden, nur unter außergewöhnlichen Umständen, etwa bei vorsätzlich regelwidrigem Verhalten, in Rechtsverfahren genutzt werden sollten. Die Just Culture muss gewahrt werden; der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag zur Erstellung und Umsetzung einer Charta der Just Culture.

1.12.

Der EWSA nimmt außerdem den Vorschlag zur Einführung einer Bestimmung über Entgelte für Dienste im einheitlichen europäischen Luftraum zur Kenntnis, mit denen die Tätigkeit der EASA finanziert werden soll, obwohl die materiellrechtlichen Bestimmungen über diese Entgelte in Rechtsvorschriften verankert werden, die selbst erst noch festgelegt werden müssen. Darüber hinaus ist nicht klar, in welchem Bezug die geplanten Entgelte zu dem derzeitigen System für Flugsicherungs-Streckengebühren stehen, das im Namen der Vertragsstaaten einer mehrseitigen Vereinbarung von Eurocontrol verwaltet wird. Vor diesem Hintergrund erachtet es der EWSA als vorschnell, Rechtsvorschriften für die Nutzung von Entgelten zu erlassen, die noch nicht einmal erhoben werden und bei denen mehrere Optionen für ihre konkrete Ausgestaltung bestehen. Er schlägt daher vor, diesen Vorschlag abzulehnen.

1.13.

Da die EASA Zertifizierungsbestimmungen und Sicherheitskriterien festlegt, die auch für die Allgemeinheit von Interesse sein können, schlägt der EWSA vor, dass einschlägige Dokumente in alle EU-Amtssprachen übersetzt werden. Aus Gründen der Transparenz sollte auch die EASA-Website neben Englisch in anderen Sprachen zur Verfügung stehen. Diesbezüglich verweist der EWSA auf die Grundrechtecharta und insbesondere Artikel 21.

1.14.

In Bezug auf den Vorschlag, die Formalitäten für Wet-Lease-Vereinbarungen für Luftfahrzeuge zu erleichtern, hält der EWSA fest, dass dieser Vorschlag in erster Linie auf die Sicherheit ausgerichtet ist, wohingegen Aspekte in Verbindung mit Wet-Lease-Vereinbarungen Fragen wie kommerzielle Tätigkeiten, Marktzugang und Wettbewerb betreffen. Dieser Aspekt könnte zudem eine wichtige sozioökonomische Dimension aufweisen. Daher spricht sich der EWSA gegen die Änderung der materiellrechtlichen Vorschriften zu Wet-Lease-Vereinbarungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus und ist der Meinung, dass diese Frage im Zuge der Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 behandelt werden sollte.

1.15.

Betreffend die laufende Bewertung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 verweist der EWSA auf die Bedeutung des europäischen Netzes der für die Sicherheitsuntersuchungen in der Zivilluftfahrt zuständigen Stellen (ENCASIA) und betont, dass für diese wichtige Tätigkeit unbedingt angemessene Ressourcen bereitgestellt werden müssen. Er verweist ferner auf seinen in Ziffer 1.11 erläuterten Standpunkt zur Just Culture.

2.   Einleitung

2.1.

Mit dem Vorschlag für eine Verordnung zur Flugsicherheit (1) (im Folgenden „der Vorschlag“) soll die Verordnung aus dem Jahr 2008 (2) ersetzt werden. So werden einige Bestimmungen der Verordnung aus dem Jahr 2008 übernommen oder aktualisiert und auch neue Maßnahmen eingeführt. Der Vorschlag beruht auf den Standards der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) und auf öffentlichen Konsultationen, die in den Mitgliedstaaten und unter den Interessenträgern des Verkehrssektors einschließlich der Sozialpartner durchgeführt wurden. Er stützt sich außerdem auf einen Bericht der Europäischen Kommission über das europäische Flugsicherheitsprogramm (3) und eine Reihe von Studien. Er ist eine weitere Etappe zur Verwirklichung der Mitteilung „Eine Luftfahrtstrategie für Europa“ (4).

2.2.

Mit dem Vorschlag wird ein Konzept mit Regeln für die Flugsicherheit eingeführt, das sich auf Antizipation, Risikobewertung und Leistung stützt, um die Ressourceneffizienz zu erhöhen und die Aufsichtstätigkeiten auf allen Ebenen präziser auszurichten. Damit sollen zudem noch vorhandene Sicherheitslücken geschlossen und die Zusammenhänge zwischen der Flugsicherheit und anderen Bereichen wie der Luftsicherheit und dem Umweltschutz stärker berücksichtigt werden.

2.3.

Außerdem soll mit dem Vorschlag ein hohes Maß an Umsetzung und Aufsicht in der ganzen EU sichergestellt werden, indem die zuständigen europäischen und nationalen Behörden eng zusammenarbeiten, u. a. durch einen effizienten Datenaustausch und eine wirksame Kontroll- und Überwachungsfunktion. Mit dem Vorschlag wird die Verordnung aus dem Jahr 2008 aktualisiert, um technischen Entwicklungen wie beispielsweise unbemannten Luftfahrzeugen Rechnung zu tragen.

2.4.

Die Europäische Kommission nimmt derzeit eine Bewertung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 über die Untersuchung und Verhütung von Unfällen und Störungen in der Zivilluftfahrt (im Folgenden „die Verordnung“) vor und hat den EWSA um Stellungnahme gebeten (Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zur Umsetzung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010, nur auf EN verfügbar). Im Jahr 2010 veröffentlichte der EWSA seine Stellungnahme zu dem Vorschlag für diese Verordnung (5).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA befürwortet die Ziele des Vorschlags, die gemeinsamen Vorschriften für Flugsicherheit und Luftsicherheit in der Zivilluftfahrt zu stärken sowie den Zuständigkeitsbereich der Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit (EASA) in Fragen der Luftsicherheit zu präzisieren. Er befürwortet außerdem den Vorschlag, dass die EASA der Europäischen Kommission technische Hilfe bei der Umsetzung der Vorschriften für die Luftsicherheit bietet und unter Zustimmung der Kommission und nach Konsultation der Mitgliedstaaten damit verbundene Maßnahmen ergreifen kann.

3.2.

Der EWSA stimmt dem Vorschlag zu, der EASA in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und mit deren Einverständnis mehr Verantwortung für die Sicherheit zu übertragen, auch in Bezug auf die spezifischen Vorschriften für Notfälle, sofern angemessene Ressourcen bereitgestellt werden, damit die EASA ihre Aufgaben in diesem Bereich erfüllen kann. Aus Sicht des EWSA ist die Verordnung (EG) Nr. 300/2008 über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt aufgrund der Entwicklungen, die seit 2008 stattgefunden haben, obsolet und sollte ebenfalls überarbeitet werden.

3.3.

Mit dem Vorschlag soll der EU-Rechtsrahmen für die Flugsicherheit auf die Herausforderungen der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre vorbereitet werden. Der EWSA ist der Ansicht, dass Prognosen für einen derart langen Zeitraum von technologischen Entwicklungen und den sich ständig wandelnden Sicherheitsrisiken überholt werden, beispielsweise die Nutzung unbemannter Luftfahrzeuge, neue Formen von Cyberkriminalität, die Störung des Landeanflugs durch Laser u. v. a. m. Daher sollten die Bestimmungen für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt regelmäßig und in kurzen Zeitabständen überprüft werden. Folglich unterstützt der EWSA den Vorschlag, dass alle fünf Jahre eine Bewertung der neuen Verordnung durchgeführt wird.

3.4.

Der EWSA bekräftigt seinen Standpunkt (6): Die Sicherheit ist der Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen Luftverkehrsstrategie, in dieser Frage gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Das in dem Vorschlag enthaltene Konzept muss deshalb vor dem Hintergrund dieser Anforderungen bewertet werden, insbesondere angesichts der Aussage der Europäischen Kommission (7), dass Sicherheitsrisiken durch die Einführung eines risiko- und leistungsbasierten Ansatzes schneller und effektiver ermittelt und eingedämmt werden sollen, wobei gleichzeitig zumindest das gleiche allgemeine Sicherheitsniveau aufrechterhalten wird.

3.5.

Ziel der vorgeschlagenen Methode ist es, „bei der Festlegung der Sicherheitsvorschriften stärker auf Verhältnismäßigkeit und Flexibilität zu achten“. Die Sicherheitsrisiken sollen durch die Einführung eines risiko- und leistungsbezogenen Konzepts, das die Gewährleistung eines hohen globalen Sicherheitsniveaus ermöglicht, schneller und effektiver verringert werden. Der EWSA begrüßt dieses Konzept, ist jedoch der Meinung, dass einige präskriptive Vorschriften beibehalten werden müssen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Für eine derart wichtige Umstellung müssen außerdem angemessene Ressourcen bereitgestellt werden. Sie muss für alle Interessenträger, einschließlich der Arbeitnehmer, transparent sein und hinreichend Zeit für den „Kulturwandel“ geben, der für die umfassende Umsetzung des neuen Konzepts notwendig ist.

3.6.

Eine von der Kommission in Auftrag gegebene Studie über die Verfügbarkeit, die Effizienz des Einsatzes und die Entwicklung der Humanressourcen der Luftfahrtbehörden sowie die Finanzierung des europäischen Systems der Flugsicherheit (Analyse der Ressourcen) hat ergeben, dass sich das Verhältnis zwischen Ressourcen und Arbeitsbelastung in den letzten zehn Jahren verschlechtert hat und in Bezug auf die Qualifikation der Arbeitnehmer Defizite bestehen. In dieser Studie wird eine Reihe von Optionen beleuchtet, um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit, die Lösung im Rahmen des sozialen Dialogs zu suchen.

3.7.

In einer zweiten Studie zu den Leistungssystemen und zum Konzept der Leistungsabhängigkeit wurde untersucht, inwieweit Leistungselemente in das Flugsicherheitsmanagement eingeführt werden können (Analyse der Leistung). Sie kam zu dem Ergebnis, dass dies zwar machbar ist, die Einführung aus verschiedenen technischen Gründen jedoch nicht zu schnell vorgenommen werden sollte. Laut dieser Studie ist es unmöglich, die Vorteile eines leistungsabhängigen Konzepts vor seiner Einführung zu quantifizieren. Aus Sicht des EWSA unterstreichen die Schlussfolgerungen dieser Studie die Bedeutung einer umsichtigen und kohärenten Umsetzung des neuen Konzepts.

3.8.

Diesbezüglich verweist der EWSA auf die Frage gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen, u. a. neue Beschäftigungsformen und Geschäftsmodelle, die auch in der Luftfahrt oftmals in Verbindung mit der digitalen Wirtschaft stehen, und ihre Folgen für die Sicherheit. In der Mitteilung „Eine Luftfahrtstrategie für Europa“ (8) und in einer Reihe von EWSA-Stellungnahmen (9) wird betont, dass diese Fragen entsprechend berücksichtigt werden müssen. Nach Meinung des EWSA muss ihnen auch bei der Umsetzung dieses Vorschlags Rechnung getragen werden, u. a. bei der Folgenabschätzung für die Durchführungsmaßnahmen.

3.9.

Die EASA soll die Leistung von Organisationen im Rahmen des europäischen Plans für Flugsicherheit (EPAS) bewerten. Sie hat jedoch noch keine sicherheitsbezogenen Leistungsziele für die Organisationen festgelegt, für die sie zuständig ist. Auch dies zeigt, wie wichtig eine rasche und wirksame Lösung der in Ziffer 3.6 genannten Probleme in Verbindung mit den Ressourcen ist.

3.10.

Die Vorschriften, Tätigkeiten und Prozesse, die Teil des europäischen Flugsicherheitsprogramms sind, sollten in der Tat überwacht werden, um ihre Relevanz und Wirksamkeit zu bewerten. Die Überwachung sollte sich auf Indikatoren wie beispielsweise die Einhaltung der Vorschriften, die relative Häufigkeit bestimmter Arten von sicherheitsrelevanten Ereignissen, die Zahl der Unfälle oder Todesfälle und die Ausgereiftheit von Sicherheitsmanagementsystemen stützen. Derartige Indikatoren werden von den Ländern verwendet, um das den ICAO-Anforderungen entsprechende nationale annehmbare Niveau der Sicherheitsleistung (Acceptable Level of Safety Performance) zu bestimmen. Der Schwerpunkt in dem Vorschlag liegt auf der Zusammenarbeit zwischen der EASA und den nationalen Behörden, wobei der EASA u. a. eine Rolle für die Verwaltung des neuen, in Artikel 61 bis 63 dargelegten Informationsspeichers zuerkannt wird. Der EWSA betont die Bedeutung dieser Maßnahme für die Stärkung des Aufsichts- und Durchsetzungssystems.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Umweltschutz

Der EWSA befürwortet die Aufnahme einer neuen Bestimmung zum Umweltschutz, die auch einen Umweltbericht umfasst, den die EASA alle drei Jahre veröffentlichen muss.

4.2.    Anerkennung von Drittlandszertifizierungen

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung von Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung mit wichtigen Partnerländern, um die EU-Luftfahrtindustrie zu unterstützen und den internationalen Handel in dieser Branche zu fördern.

4.3.    Bodenabfertigung

4.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Bodenabfertigung als wichtiger Teil der Sicherheitskette in der Zivilluftfahrt in die Verordnung aufgenommen wurde.

4.3.2.

Der EWSA schlägt jedoch vor, zu prüfen, ob Bodenabfertigungsdienste und Bodenabfertigungspersonal mit sicherheitskritischen Aufgaben einer Zertifizierung unterliegen sollten. Die grundlegenden, in Anhang VII des Vorschlags enthaltenen Anforderungen sollten weiter ausformuliert und detaillierter ausgearbeitet werden, insbesondere in Bezug auf Bildungsstandards und Qualifikationen.

4.3.3.

Weitere Aspekte, die beleuchtet werden sollten:

die Zahl der Arbeitnehmer und unterschiedliche Dienstleister betreffend ein Flugzeug im Verhältnis zu den Aufenthaltszeiten am Boden;

Gesundheitsrisiken aufgrund der Luftverschmutzung auf der Rollbahn.

4.4.    Flugplatzausrüstung

4.4.1.

In Bezug auf die in Artikel 31 der Verordnung enthaltene Zertifizierungsanforderung für Flugplatzausrüstungen hält der EWSA fest, dass Flugplatzausrüstungen in der Regel gemäß den für elektrische Ausrüstung und andere Systeme geltenden Bestimmungen zertifiziert werden. Ein weiteres Zertifizierungssystem könnte eine doppelte Regulierung mit, wenn überhaupt, nur sehr begrenzten Vorteilen bedeuten. Er schlägt daher vor, Artikel 31 des Vorschlags durch einen Wortlaut zu ersetzen, in dem festgehalten ist, dass die EASA angemessen reagiert, wenn Sicherheitsdaten belegen, dass die unter diese Verordnung fallende Ausrüstung, die auf Flugplätzen verwendet wird oder verwendet werden soll, ein Sicherheitsrisiko bedeutet.

4.5.    Flugbegleiter

Der EWSA begrüßt die neuen grundlegenden Anforderungen in Anhang IV und die Konsolidierung der Bestimmungen für Flugbegleiter in Artikel 21. Er bedauert jedoch, dass in dem Vorschlag von einer „Bescheinigung“ und nicht von einer „Lizenz“ die Rede ist, obwohl die in Anhang IV Ziffer 4 enthaltenen Bestimmungen für Flugbegleiter Bestimmungen für den Erhalt einer Lizenz oder Zulassung gleichkommen. Zur Gewährleistung der Kohärenz sollten Flugbegleiter daher eine Lizenz erhalten, die von einer nationalen Luftfahrtbehörde oder der EASA ausgestellt ist.

4.6.    Schutzbestimmungen, Flexibilitätsbestimmungen, Maßnahmen der Agentur

4.6.1.

Der EWSA merkt an, dass die in Artikel 59 und 60 des Vorschlags enthaltenen Notfallmaßnahmen und Flexibilitätsbestimmungen im Vergleich zu den geltenden Bestimmungen von Artikel 14 und 22 der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 ausgeweitet wurden, insbesondere in Bezug auf die Beschränkung der Flugzeiten und weitere Maßnahmen, die sich auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer auswirken.

4.6.2.

Nach Meinung des EWSA darf der Zeitraum von zwei Monaten, in dem der betreffende Mitgliedstaat Schutzbestimmungen (Artikel 59) oder Flexibilitätsbestimmungen (Artikel 60) ohne Benachrichtigung der EASA treffen kann, nicht verlängert werden. Er lehnt ebenso die Verlängerung auf acht Monate (Artikel 65 „Maßnahmen der Agentur“, Absatz 4) ab.

4.6.3.

Aus Sicht des EWSA sollte die Verpflichtung bestehen, vor jedweder Entscheidung über Dringlichkeitsmaßnahmen und Flexibilitätsbestimmungen, die sich auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer auswirken, deren Zustimmung einzuholen. Wird eine Entscheidung ohne derartige Zustimmung gefasst, sollte die EASA unmittelbar die in Artikel 59 Absatz 2 und Artikel 60 Absatz 2 vorgesehene Prüfung einleiten.

4.7.    Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden und der EASA, Übertragung von Zuständigkeiten

4.7.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und der EASA in punkto Zertifizierung, Aufsicht und Durchsetzung. Er befürwortet Maßnahmen wie beispielsweise die Bildung eines Pools von Luftfahrtinspektoren und die Übertragung von Zuständigkeiten an die EASA in Notfällen („Notaufsichtsmechanismus“), sofern dies die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt. Die Kriterien für diesen Notaufsichtsmechanismus müssen ebenso klar festgelegt sein wie die Anforderungen für die Rückführung der Aufsicht an den Mitgliedstaat.

4.7.2.

Der EWAS betont, dass diese Übertragung von Zuständigkeiten durch einen Mitgliedstaat an die EASA gemäß Artikel 53 auf freiwilliger Basis erfolgt mit Ausnahme des in Artikel 55 enthaltenen Notaufsichtsmechanismus, mit dem dringende Sicherheitsmängel behoben werden sollen. Mit Artikel 53 Absatz 2 Unterabsatz 3 wird sichergestellt, dass eine derartige Übertragung nach Maßgabe der Bestimmungen des nationalen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats und mit seiner Zustimmung erfolgt. Nach Ansicht des EWSA wird mit verfahrenstechnischen und weiteren Garantien gewährleistet, dass eine derartige Übertragung korrekt und unter angemessener Wahrung der Rechtssicherheit erfolgt. Er befürwortet daher den vorgeschlagenen Notaufsichtsmechanismus.

4.7.3.

Die Übertragung der Aufsicht von einem Mitgliedstaat auf einen anderen Mitgliedstaat muss weiterhin auf rein freiwilliger Basis erfolgen, wobei der Mitgliedstaat die Möglichkeit haben muss, die übertragene Zuständigkeit wiederzuerlangen.

4.7.4.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass multinational tätige Organisationen künftig die Möglichkeit haben sollen, die EASA als ihre zuständige Behörde zu benennen. Im Einklang mit seinem Standpunkt zur freiwilligen Übertragung von Zuständigkeiten kann er diesem Vorschlag zustimmen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die zuständige nationale Behörde bzw. die zuständigen nationalen Behörden zustimmen und die Maßnahmen die Beschäftigungsbedingungen für die betreffenden Arbeitnehmer nicht beeinträchtigen.

4.8.    Sammlung, Austausch und Analyse von Informationen

4.8.1.

Wie in Bezug auf die Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit zwischen der EASA und den nationalen Luftfahrtbehörden befürwortet der EWSA die verstärkten Bestimmungen in Bezug auf die Erfassung, den Austausch und die Auswertung von Daten. Er fordert jedoch, dass weitere Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes personenbezogener Daten ergriffen werden, beispielsweise die Berücksichtigung dieses Aspekts im IT-Prüfsystem oder eine stärkere Anonymisierung der Daten. Zur Verbesserung der Transparenz sollten die anonymisierten Daten allen Interessenträgern zur Verfügung gestellt werden.

4.8.2.

Der EWSA begrüßt außerdem die Einrichtung eines Informationsspeichers für Zulassungen/Zeugnisse, Akkreditierungen, Maßnahmen, Beschlüsse der Kommission, Beschlüsse der Mitgliedstaaten, Übertragung von Zuständigkeiten, Mitteilungen, Anträge und sonstige Angaben.

4.9.    Flugsicherheitsmanagement

4.9.1.

Der EWSA befürwortet zwar die Aufnahme eines Verweises auf das europäische Flugsicherheitsprogramm (EASP) und die nationalen Flugsicherheitsprogramme, verweist jedoch auf die Herausforderung, Maßnahmen zu entwickeln und Dokumentationsmaterial zu erstellen, die für die Arbeitnehmer vor Ort verständlich sind. Daher müssen diese Programme nach Möglichkeit in einem Bottom-up-Ansatz erarbeitet werden. Andernfalls könnten die Dokumente nicht dazu beitragen, dass die gewünschten Änderungen erzielt werden.

4.10.    Unbemannte Luftfahrzeuge (Drohnen)

4.10.1.

Der EWSA befürwortet die Aufnahme unbemannter Luftfahrzeuge in den Anwendungsbereich des Vorschlags, bekräftigt jedoch seine Forderung nach einem umsichtigen Vorgehen bei der Umsetzung eines leistungsabhängigen Konzepts.

4.10.2.

Daher müssen umfassende Vorschriften ausgearbeitet werden, um eine angemessene Sicherheit zu gewährleisten. Nach Auffassung des EWSA liegt die Schwierigkeit darin, die Vereinbarkeit dieser neuen Luftfahrtaktivitäten in Verbindung mit Drohnen mit dem allgemeinen Luftverkehr zu gewährleisten. Dieser Bereich muss unbedingt geregelt werden. Das Flugverkehrsmanagement ist bereits ein sehr komplexer Bereich, in dem die Fluglotsen eine große Verantwortung tragen; der EWSA fordert daher, dass ihnen nicht ungerechtfertigterweise noch zusätzliche Verantwortung übertragen wird, um dem Verkehr unbemannter Luftfahrzeuge Rechnung zu tragen. In Bezug auf die Registrierung muss ein kohärenter Ansatz für die Lizenzierung des Besitzes und des Betriebs von Drohnen entwickelt werden. Die Verpflichtung zur Einholung einer Genehmigung — je nach Art der Drohne — würde zur Sensibilisierung beitragen, Wissen über die jeweils geltenden Bestimmungen und Einschränkungen voraussetzen und die Entwicklung der notwendigen Kompetenzen fördern.

4.11.    Gefahren für die Cybersicherheit

4.11.1.

Der EWSA zeigt sich insbesondere in Sachen Cybersicherheit besorgt. Trotz der Digitalisierung wird der Faktor Mensch das grundlegende Element für die Datenüberprüfung und den Schutz von Daten vor unrechtmäßigen Eingriffen bleiben. Die Verfügbarkeit relevanter Daten an Bord verbessert zweifellos die Sicherheit, der EWSA betont jedoch, dass die Flugbesatzung die Kontrolle über das Flugzeug behalten muss. Ebenso muss ein robustes Sicherheitssystem zur Gewährleistung der Cybersicherheit für Drohnen entwickelt werden.

4.12.    Übergang zu einem leistungsabhängigen Ansatz

4.12.1.

Einer der großen Vorteile des verbindlichen Regulierungssystems, das auf der Einhaltung der Vorschriften basiert, ist die Gewährleistung der Gleichbehandlung der Betreiber. Nach Meinung des EWSA muss die Umstellung auf ein risiko- und leistungsbasiertes System derart erfolgen, dass die Anpassungen an eine neue „Kultur“ erleichtert und das Vertrauen in das Sicherheitssystem und seine Fähigkeit aufrechterhalten wird, eine kontinuierliche Verbesserung der Sicherheitsniveaus in einem leistungsbasierten System zu gewährleisten. Hierfür sind Anpassungen auf allen Ebenen erforderlich. Aufbauend auf den in Ziffer 3.4 und 3.5 festgehaltenen allgemeinen Bemerkungen erachtet der EWSA folgende Aspekte von grundlegender Bedeutung für eine erfolgreiche Umstellung:

Es müssen ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, damit jederzeit ein angemessenes Sicherheitsniveau gewährleistet ist.

Die Umstellung muss derart gestaltet sein, dass die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer im Voraus geplant werden können. Änderungen dieser Pläne müssen transparent erfolgen.

Die Verwirklichung des neuen Systems muss von einem kontinuierlichen Dialog mit den Interessenträgern, einschl. des sozialen Dialogs, flankiert werden.

Das Tempo der Verwirklichung muss eine sichere Umstellung auf das neue System erlauben, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass ein Kulturwandel vollzogen werden muss.

4.12.2.

Nach Meinung des EWSA braucht eine schrittweise Umstellung auf ein neues System und ein neue Kultur ihre Zeit. Derzeit ist zweifelhaft, ob die Sicherheit in einem leistungsbasierten System überhaupt jemals vollständig gewährleistet werden kann.

4.13.    Meldung von Ereignissen und Just Culture

4.13.1.

Der EWSA bekräftigt den Standpunkt aus seinen früheren Stellungnahmen (10), dass die Grundsätze der Just Culture in der gesamten Luftfahrt gelten müssen. Er zweifelt daran, ob der Vorschlag oder eine andere geltende EU-Rechtsvorschrift alleine ausreicht, um die Einhaltung der Just Culture zu sichern. In den Mitgliedstaaten muss noch viel zur Förderung der Just Culture und der Beibehaltung einer klaren und vorhersehbaren Trennlinie zwischen der Meldung sicherheitsrelevanter Ereignisse und dem Rechtssystem getan werden. Der EWSA bekräftigt daher seinen Vorschlag für eine Charta oder einen Verfahrenskodex zur Förderung bewährter Verfahren.

4.14.    Geldbußen und Zwangsgelder

4.14.1.

Nach Ansicht des EWSA hat sich das geltende System von Geldbußen und Zwangsgeldern als unwirksam erwiesen. Der Wortlaut von Artikel 72 Absatz 1 „[…] kann die Kommission […] gegen eine juristische oder natürliche Person [eine Geldbuße/ein Zwangsgeld…] verhängen“ sollte dahin gehend geändert werden, dass die Kommission [eine Geldbuße/ein Zwangsgeld…] verhängen muss. In Artikel 72 Absatz 3 wird der Kommission immer noch ein Ermessensspielraum eingeräumt. Bei der Entscheidung über die Verhängung von Zwangsgeldern muss die Kommission mit den einschlägigen nationalen Behörden zusammenarbeiten, um zu gewährleisten, dass die Vorgehensweise im Einklang mit der Durchsetzung nationaler Gesetze steht.

4.15.    Finanzierung der Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit (EASA)

Der EWSA erachtet den Vorschlag, Entgelte zu berücksichtigen, die gemäß den geplanten Bestimmungen in der Verordnung über die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums gezahlt werden, als vorschnell und zu unpräzise. So ist beispielsweise nicht klar, ob ein eigenes Entgeltesystem für den einheitlichen europäischen Luftraum eingerichtet wird oder ob es darum geht, das derzeitige von Eurocontrol verwaltete System für Flugsicherungs-Streckengebühren zu überarbeiten („Multilateral Agreement Relating to Route Charges“ (Mehrseitige Vereinbarung über Flugsicherungs-Streckengebühren), inoffizielle Ausgabe — Oktober 2006, verfügbar auf der Website von Eurocontrol). Zudem ist unklar, ob die geplanten Entgelte nur für Dienstleistungen im einheitlichen europäischen Luftraum oder zur Finanzierung des allgemeinen Haushalts der EASA aufgewendet werden. Daher ist der EWSA der Ansicht, dass der Vorschlag vorschnell ist und abgelehnt werden sollte.

4.16.    Arbeitsmethoden und Einbeziehung der Interessenträger

4.16.1.

Die Einbeziehung der Interessenträger ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit der EASA. Daher schlägt der EWSA vor, den Wortlaut „soweit erforderlich“ in Artikel 104 Absatz 1 Ziffer b) zu streichen, um willkürliche Entscheidungen in der Frage zu vermeiden, ob die Interessenträger in die Arbeiten der EASA einbezogen werden sollen oder nicht.

4.17.    Sprachenregelung

Obwohl Englisch im Luftverkehr weit verbreitet ist, gibt es immer noch einige geografische Gebiete und Tätigkeiten, in denen die Sprachen der betreffenden Länder vorherrschen. Der EWSA betont, dass im Einklang mit der in Artikel 21 der Grundrechtecharta verankerten Bestimmung der Nichtdiskriminierung wegen der Sprache zumindest die Zertifizierungsspezifikationen und die annehmbaren Nachweisverfahren in alle EU-Amtssprachen übersetzt und in diesen veröffentlicht werden sollten. Außerdem sollte die Website der EASA neben Englisch in weiteren EU-Amtssprachen zur Verfügung stehen, um die Transparenz zu erhöhen und die Bürger stärker zu sensibilisieren.

4.18.    Innerer Aufbau

Mit dem vorgeschlagenen Wortlaut von Artikel 90 werden der Kommission auf Kosten des Europäischen Parlaments wesentlich mehr Befugnisse eingeräumt. Daher pocht der EWSA darauf, dass ein Vertreter der Kommission und ein Vertreter des Europäischen Parlaments dem Verwaltungsrat angehören.

4.19.    Lease-Vereinbarungen

Der EWSA spricht sich ausdrücklich gegen den Vorschlag zur Änderung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 über Lease-Vereinbarungen aus. Da die Überprüfung dieser Verordnung für 2017/2018 vorgesehen ist, sollte dieser Aspekt getrennt behandelt werden.

5.   Evaluierung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 über die Untersuchung und Verhütung von Unfällen und Störungen in der Zivilluftfahrt

Wie in Ziffer 4.13 erläutert bekräftigt der EWSA seine Forderung, die Just Culture zu sichern und eine diesbezügliche Charta einzuführen. Er befürwortet ein Konzept aus unverbindlichen Regelungen („Soft Law“) und unterstützt die erfolgreiche Zusammenarbeit im europäischen Netz der für die Sicherheitsuntersuchungen in der Zivilluftfahrt zuständigen Stellen (ECANSIA) als Forum zur gemeinsame Nutzung von Ressourcen und Know-how und als Plattform, um Studien in Auftrag zu geben, Sicherheitsempfehlungen auszusprechen und Benchmarks festzulegen. Hierfür müssen unbedingt angemessene Ressourcen zur Verfügung stehen.

Nach Ansicht des EWSA sollten künftige Arbeiten in diesem Bereich gemäß dieser Verordnung auf die korrekte Umsetzung anstatt auf eine Änderung des Rechtsrahmens ausgerichtet sein.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2015) 613 final.

(2)  ABl. L 79 vom 19.3.2008, S. 1.

(3)  COM(2015) 599 final.

(4)  COM(2015) 598 final; ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 86.

(5)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 62.

(6)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 169.

(7)  COM(2015) 598 final.

(8)  COM(2015) 598 final, Ziffer 2.3.

(9)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 169, Ziffer 3.1.3; ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 110, Ziffer 2.7 und ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 86, Ziffer 1.3.

(10)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 62 und ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 73.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/119


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Online-Plattformen im digitalen Binnenmarkt — Chancen und Herausforderungen für Europa“

(COM(2016) 288 final)

(2017/C 075/20)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Befassung

Europäische Kommission, 25.5.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

15.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

175/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Aktionsplan, der eine Überarbeitung des EU-Telekommunikationsrechts und der e-Datenschutz-Richtlinie zur Berücksichtigung von OTT-Online-Kommunikationsdiensten, eine Bestandsaufnahme der freiwilligen Maßnahmen von Online-Plattformen und ggf. die Aufstellung entsprechender Leitlinien, eine Bestandsaufnahme bestehender Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und schließlich die Erarbeitung einer Strategie, um die Entstehung neuer wettbewerbsfähiger Plattformen in der EU zu erleichtern und zu unterstützen.

1.2.

Der EWSA unterstreicht, dass zahlreiche Online-Plattformen eine wichtige Rolle in der kollaborativen Wirtschaft spielen und bekräftigt seine Schlussfolgerungen zur kollaborativen Wirtschaft, insbesondere im Zusammenhang mit Verbraucherschutz, Arbeitnehmern und Selbständigen.

1.3.

Der EWSA ist jedoch besorgt, dass die Erarbeitung von EU-Rechtsvorschriften und -Strategien, ganz zu schweigen von ihrer Umsetzung auf Ebene der Mitgliedstaaten, in keiner Weise mit dem Tempo der Entwicklungen auf den digitalen Märkten mithalten kann. Seiner Meinung nach sollte geprüft werden, wie die Koordinierung zwischen den verschiedenen zuständigen Stellen in der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten verbessert werden könnte und welche Art Mechanismen hierbei hilfreich wären.

1.4.

Der EWSA betont die Notwendigkeit, gegen die Gefahr der Fragmentierung vorzugehen und einen kohärenten EU-Ansatz zu wählen. Sonst verursachen unterschiedliche einzelstaatliche Vorschriften Unsicherheit, beeinträchtigen das Expansionspotenzial von Startups und schränken womöglich die Verfügbarkeit digitaler Dienstleistungen ein. Dies ist umso dringender, als einige Mitgliedstaaten sich bereits mit der Einführung gezielter Maßnahmen gegen unlautere Handelspraktiken befassen und eine Fragmentierung des digitalen Binnenmarkts droht.

1.5.

Die Mitteilung enthält keine konkreten Vorschläge und bietet nur wenige klare Lösungsansätze. Zwar werden einige Lösungen skizziert, aber die Beantwortung der wirklich wichtigen Fragen, ob Plattformen auf einigen Märkten ihre Anbieter schädigen, bleibt aus.

1.6.

Die Verbreitung von Online-Plattformen hat sich für die Anbieter und Verbraucher, sowie die Wirtschaft und den Alltag im Allgemeinen als äußerst vorteilhaft erwiesen. Da Probleme aber nicht ausgeschlossen werden können, empfiehlt der EWSA, die kritischsten Nachteile für Unternehmen und Verbraucher genauer zu bestimmen und dann effizient und sorgfältig zu untersuchen, inwieweit die betreffenden Probleme auf alle Online-Plattformen, auf sektorspezifische Plattformen oder nur auf einzelne Unternehmen zutreffen. Der EWSA plädiert ferner für eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit und Überwachung der Entwicklung von Online-Plattformen, um Probleme zu behandeln, die im Lauf der Zeit auftreten.

1.7.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission Maßnahmen prüfen will, um den Wechsel und die Übertragbarkeit von Daten zwischen verschiedenen Online-Plattformen und Cloud-Computing-Diensten sowohl für gewerbliche als auch für private Nutzer zu vereinfachen.

1.8.

Der EWSA fordert Programme zur Sensibilisierung und zur Förderung der digitalen Kompetenzen aller Bürger aller Altersklassen und weist darauf hin, dass die jüngsten und die ältesten Bürger am schutzbedürftigsten sind. Er würde die Einführung eines europäischen Standards für die systematische Vermittlung von digitalen Kompetenzen begrüßen.

1.9.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Notwendigkeit zu prüfen, dass Plattformen nutzerfreundliche Kurzfassungen anbieten, über eine eventuelle personalisierte Preisdifferenzierung und die Grundlage für die Rangfolge von Ergebnissen informieren und auch bedingungs- und aufwandslos das Recht auf Vergessenwerden gewähren.

1.10.

Der EWSA begrüßt den Hinweis der Europäischen Kommission auf ihre Zusammenarbeit mit Online-Plattformen im Hinblick auf einen Verhaltenskodex gegen Hassreden und jugendgefährdende Inhalte im Internet. Es sollten aber auch Sanktionen für Plattformen eingeführt werden, die von diesen Inhalten Kenntnis haben und versäumen, sie zu löschen.

1.11.

Der EWSA ist enttäuscht, dass die Europäische Kommission erneut die soziale Dimension der Online-Plattformen außer Acht gelassen hat. Er betont, dass die soziale Verantwortung der Online-Plattformen gegenüber ihren Beschäftigten, und zwar sowohl regelmäßig beschäftigten Arbeitskräften als auch Arbeitskräften in neuen Beschäftigungsformen, genauer definiert werden muss. Auf die soziale Verantwortung ist besonderes Augenmerk zu richten, und unter Berücksichtigung der durch die Online-Plattformen in der kollaborativen Wirtschaft entstandenen Herausforderungen sollten für die Beschäftigten sämtlicher Plattformen faire Arbeitsbedingungen, angemessener Sozialschutz, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Aus- und Weiterbildung sowie das Recht auf gewerkschaftliche Betätigung und Kollektivverhandlungen (1) sichergestellt werden.

1.12.

Anders als die Europäische Kommission ist der EWSA nicht der Meinung, dass der bestehende rechtliche Rahmen weitgehend ausreicht, und fordert eine EU-Rahmenregelung für Crowdworking, um zu verhindern, dass Mindestlohnsätze, Arbeitszeitregelungen und Sozialversicherungsvorschriften ausgehöhlt oder umgangen werden.

1.13.

Der EWSA drängt die Europäische Kommission, die steuerlichen Aspekte in Verbindung mit der Tätigkeit von Online-Plattformen zu prüfen, um die Beeinträchtigung gleicher Ausgangsbedingungen zu verhindern.

2.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung der Kommission

2.1.

Ziel dieser Kommissionsmitteilung, des dazugehörigen Arbeitspapiers der Kommissionsdienststellen und der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt im Allgemeinen ist die Förderung von Innovation und Wettbewerb im Bereich der Online-Plattformen sowie der Schutz der Rechte und der Privatsphäre der Verbraucher.

2.2.

In der Mitteilung wird ein Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung von Online-Plattformen gegeben und ein Ansatz für die Förderung ihrer Weiterentwicklung umrissen.

2.3.

Es wird kein neuer übergreifender Regelungsrahmen für Online-Plattformen vorgeschlagen.

2.4.

Die Europäische Kommission will nur konkret benannte Probleme in Verbindung mit spezifischen Arten oder Tätigkeiten von Online-Plattformen durch regulatorische Maßnahmen beheben, nicht aber durch einen regulatorischen Rundumschlag Innovationen im Keim ersticken.

2.5.

Die Europäische Kommission gibt zu bedenken, dass es unterschiedliche Arten von Online-Plattformen unterschiedlicher Größe gibt, die sich laufend weiterentwickeln und sich nicht in einer einheitlichen Definition fassen lassen.

2.6.

Nach Auffassung der Kommission würde ein pauschaler Regulierungsansatz nicht den durch die Vielfalt der Online-Plattformen entstehenden unterschiedlichen Herausforderungen gerecht.

2.7.

Der Europäischen Kommission zufolge reichen die geltenden Rechtsvorschriften weitgehend für die Regulierung von Online-Plattformen aus, auch wenn es keine klar zuständige Regulierungsstelle gibt.

2.8.

Die Mitteilung enthält einen Fahrplan sowie Grundsätze für die künftige Erarbeitung von Lösungen:

gleiche Ausgangsbedingungen für vergleichbare digitale Dienste;

verantwortungsvolles Management von Online-Plattformen zum Schutz der Grundwerte;

Transparenz und Fairness zur Erhaltung des Nutzervertrauens und der Innovationsfähigkeit;

offene und diskriminierungsfreie Märkte in einer datengesteuerten Wirtschaft.

2.9.

Die Europäische Kommission strebt die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen im Telekommunikationsbereich durch eine eventuelle Deregulierung und spezifische Vorschriften für OTT-Anbieter an.

2.10.

Die Europäische Kommission wird die Anwendung der e-Datenschutz-Richtlinie auf Internetkommunikationsdienste prüfen.

2.11.

Die Europäische Kommission schlägt vor, in der überarbeiteten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste Videoplattformen neue Verpflichtungen aufzuerlegen, gegen schädliche Inhalte vorzugehen.

2.12.

Die Europäische Kommission wird die Haftungsregelung für Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten bewerten und dabei u. a. prüfen,

ob Klärungsbedarf in Bezug auf die Haftung bei Einführung freiwilliger Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Internet-Inhalte besteht;

ob förmliche Melde- und Abhilfeverfahren notwendig sind.

2.13.

Die Europäische Kommission wird verstärkt koordinierte, EU-weite Selbstregulierungsmaßnahmen von Online-Plattformen zur Bekämpfung illegaler Internet-Inhalte fördern (und regelmäßig ihre Wirksamkeit überprüfen).

2.14.

Online-Plattformen sollen ermutigt werden, gegen gefälschte oder irreführende Online-Bewertungen vorzugehen.

2.15.

Die Europäische Kommission wird 2017 Grundsätze und Leitlinien zur Interoperabilität elektronischer Identitäten (eID) formulieren.

2.16.

Jüngst von der Europäischen Kommission vorgeschlagene neue Urheberrechtsvorschriften sollen für eine gerechtere Verteilung der von Online-Plattformen durch die Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte erwirtschafteten Einnahmen sorgen.

2.17.

Der Vorschlag zur Überarbeitung der Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz wird zusammen mit dieser Mitteilung vorgelegt, um die effizientere Durchsetzung des EU-Verbraucherrechts in grenzübergreifenden Situationen zu erleichtern.

2.18.

Die Europäische Kommission hat die Leitlinien zur Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken überarbeitet, die zusammen mit dieser Mitteilung angenommen werden sollen. Im Rahmen der Prüfung der regulatorischen Eignung der EU-Verbraucher- und Marketingrechtsvorschriften im Jahr 2017 wird sie ferner prüfen, ob weiterer Bedarf an einer Überarbeitung der bestehenden Verbraucherschutzvorschriften in Bezug auf Plattformen besteht.

2.19.

Die Europäische Kommission wird eine gezielte Bestandsaufnahme bestehender Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen (B2B) im Umfeld von Online-Plattformen durchführen, um bis zum Frühjahr 2017 zu „entscheiden, ob weitere Maßnahmen der EU erforderlich sind“.

2.20.

Die Europäische Kommission wird prüfen, welche potenziellen Hindernisse für einen EU-weiten Datenbinnenmarkt sich aus rechtlichen Unsicherheiten in Bezug auf Eigentum an, Verwertbarkeit von oder Zugang zu Daten ergeben könnten, und im Rahmen der für Ende 2016 geplanten Initiative „freier Datenfluss“ Maßnahmen für die Erleichterung des Wechsels und der Übertragbarkeit von Daten zwischen verschiedenen Online-Plattformen ausloten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Europa ist auf eine dynamische digitale Wirtschaft angewiesen, um im kommenden Jahrzehnt die Grenze von 1,5 % BIP-Wachstum jährlich zu durchbrechen (siehe Bericht des Global Agenda Council on Europe des Weltwirtschafsforums).

3.2.

Online-Plattformen gehören mittlerweile zu den weltweit werthaltigsten und einflussreichsten Unternehmen und werden in der globalen Wirtschaft noch weiter an Bedeutung gewinnen.

3.3.

Auf die EU entfallen nur 4 % der gesamten Marktkapitalisierung der Online-Plattformen (2).

3.4.

Für die ca. 50 großen europäischen Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste gelten 28 unterschiedliche nationale Regelwerke, während die sechs großen Netzbetreiber des US-amerikanischen Marktes und die drei chinesischen Telekommunikationsriesen jeweils einem einzigen Regelungsrahmen unterliegen (3).

3.5.

Probleme in Verbindung mit Online-Plattformen erhöhen den Druck, auf Mitgliedstaatsebene zu handeln, und führen zu einer stärkeren Fragmentierung.

3.6.

Eine Angleichung des Vertragsrechts und des Verbraucherschutzes sind wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung und den Ausbau von Online-Plattformen.

3.7.

Ein Schwerpunkt sollte auf die bis Ende 2016 vorzulegenden legislativen und nichtlegislativen Initiativen im Hinblick auf die Schaffung eines vollständig integrierten digitalen Binnenmarkts gelegt werden. Die Jahre 2016 und 2017 werden den Ausschlag dafür geben, ob Europa einen digitalen Fahrplan zur Unterstützung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zuwege bringt oder in digitale Mittelmäßigkeit abrutscht.

3.8.

In einigen in der Mitteilung genannten Bereichen gibt es zwar Probleme, doch fehlt der Europäischen Kommission eine faktengesicherte Grundlage für die Entscheidung, ob, und wenn ja, welche Maßnahmen erforderlich sind. Allem voran geht es dabei um B2B-Fragen. Nach sechs Monaten weiterer Untersuchungen soll im Frühjahr 2017 eine Entscheidung getroffen werden.

3.9.

Der EWSA erwartet eine weitere große Debatte, wenn die Kommission Anfang nächsten Jahres ihre einschlägigen Forschungsergebnisse vorlegt.

3.10.

Eine überzogene oder starre Regulierung würde dem positiven Beitrag der Online-Plattformen zur digitalen Wirtschaft der EU entgegenstehen, wobei Regulierungsänderungen nicht zu Lasten des Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzes gehen dürfen.

3.11.

Gleiche Ausgangsbedingungen für die Erbringung vergleichbarer digitaler Dienstleistungen in einem digitalen Binnenmarkt dürfen sich nicht negativ auf das Steueraufkommen auswirken und keiner weiteren Aushöhlung der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage Vorschub leisten, indem Unternehmen erlaubt wird, in einem Steuergebiet Steuern zu entrichten, obgleich die Wertschöpfung in einem anderen Steuergebiet stattfindet. Die Gewinnsteuer muss dort entrichtet werden, wo die betreffende Wirtschaftstätigkeit ausgeübt wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die Kommission beschreibt Plattformen, die im Allgemeinen als zweiseitige oder mehrseitige Märkte funktionieren, bei denen die Interaktion zwischen den Nutzern durch einen Plattformbetreiber vermittelt wird.

4.2.

In der Aufzählung der Kommission von sozialen Medien über Suchmaschinen und Zahlungssysteme bis hin zu Werbeplattformen fehlen herkömmliche Plattformen, die mittlerweile online aktiv sind, während einige digitale Plattformen genannt werden, die nicht mehrseitig sind.

4.3.

Außerdem fehlt in der Liste der Kommission die wachsende Zahl von Plattformen, über die Arbeiten vergeben werden. Deshalb werden auch nicht die spezifischen Probleme in Verbindung mit diesen Plattformen angesprochen, insbesondere faire Arbeitsbedingungen und angemessener Sozialschutz. Um sicherzustellen, dass die Arbeitnehmerrechte und Arbeitsstandards beachtet und gewährleistet werden, fordert der EWSA Legislativvorschläge zu Arbeitnehmerrechten und Beschäftigungsschutz für digitale Arbeiter bzw. Beschäftigte von Online-Plattformen, insbesondere für Arbeitskräfte in neuen Beschäftigungsformen (4). Digitale Arbeiter, die Jobs auf Online-Plattformen erledigen, sollten als Arbeitnehmer definiert werden, wobei von einem Arbeitsverhältnis ausgegangen und eine Gleichbehandlung mit regulären Beschäftigungsverhältnissen sowie eine wirksame Umsetzung dieser Bestimmungen gewährleistet werden sollte (zum Beispiel AppJobber, Applause, Clickworker, content.de, Crowd Guru, Designenlassen.de, Freelancer, greatcontent, Jovoto, Local Motors, Microworkers, MyLittleJob, Streetspotr, Testbirds, testlO, Textbroker, Twago, Upwork, 99designs).

4.4.

Es gibt starke Initiatorvorteile, und Wettbewerber können kaum mit Plattformen mithalten, die Netzwerkeffekte erfolgreich nutzen und zum unverzichtbaren Geschäftspartner für Unternehmen werden.

4.5.

Die Plattform zur Online-Streitbeilegung könnte für die alternative Beilegung von Streitigkeiten zwischen Unternehmen genutzt werden, doch sollte zunächst die wirksame Durchführung der Online-Streitschlichtung zwischen Unternehmen und Verbrauchern sichergestellt werden.

4.6.

Potenzielle Beschwerdeführer dürften sich aus Furcht vor geschäftlichen Vergeltungsmaßnahmen seitens der Online-Plattformen, von denen sie abhängig sind, scheuen, sich an Wettbewerbsbehörden zu wenden. Der EWSA plädiert für neue Maßnahmen, um Kläger auf diesen Märkten zu schützen.

4.7.

Websitebetreiber und Internetdienstleister, die ihren Internetzugang bereitstellen, haben ihren Sitz häufig außerhalb von Europa oder verbergen ihre Identität. Unterlassungsverfügungen, die ursprünglich gegen Internetdiensteanbieter erlassen wurden, die Websites mit raubkopierten Inhalten hosteten, können sich als nützliches Instrument für Rechteinhaber erweisen, um Internetdienstleister zu veranlassen, urheberrechtsverletzende Inhalte zu sperren. Website-Sperrungsverfügungen können beantragt und erlassen werden, um den Schutz von Marken und Kunden vor dem Online-Verkauf von Pirateriewaren zu gewährleisten.

4.8.

Die Stärke des US-Risikokapitalmarktes im Vergleich zur EU begünstigt die Abwanderung von Start-ups in die USA.

4.9.

Der Kauf von Unternehmen mit geringem Umsatz lässt sich mit den geltenden Aufgreifkriterien nicht erfassen, selbst wenn das erworbene Unternehmen über kommerziell wertvolle Datenbestände oder ein großes Marktpotenzial verfügt. Die geltende Fusionskontrollverordnung könnte dahingehend geändert werden, dass zusätzlich zu den bisherigen Aufgreiftatbeständen, die auf Unternehmensumsätze abstellen, weitere Aufgreiftatbestände festgelegt werden, die an das Transaktionsvolumen anknüpfen.

4.10.

Die Wettbewerbsaufsichtsbehörden könnten verstärkt auf einstweilige Anordnungen und Fristsetzungen zurückgreifen, um die Durchsetzung auf dynamischen Märkten zu beschleunigen.

4.11.

Online-Plattformen verlangen häufig verschiedene Informationen von ihren Nutzern, die in keinem direkten Zusammenhang mit dem Inhalt der Plattform stehen, und schreiben Geschäftsbedingungen vor, die die Nutzer normalerweise ablehnen würden, aber hinnehmen müssen, um die Plattformdienste nutzen zu können.

4.12.

Personenbezogene Daten sind heute die Währung auf dem digitalen Markt, aber viele Verbraucher scheinen sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass sie für den Zugang zu vielen scheinbar kostenlosen Diensten mit ihren persönlichen Daten bezahlen, die dann verkauft oder mit Dritten geteilt werden können. Unabhängig von sämtlichen bestehenden und geplanten Verbraucherschutzmaßnahmen stehen Internetnutzung und Schutz der Privatsphäre außerdem technisch gesehen im Widerspruch zueinander, da bei praktisch keinem Datenbestand die Möglichkeit eines Zugriffs durch hochqualifizierte Spezialisten ausgeschlossen werden kann. Daher müssen alle Bürger aller Altersklassen auch für diese Gefahren sensibilisiert werden, wobei die jüngsten und die ältesten Bürger am schutzbedürftigsten sind.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 65.

(2)  COM(2016) 288 final.

(3)  Siehe Fußnote 1.

(4)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/124


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Abwehrfähigkeit Europas im Bereich der Cybersicherheit und Förderung einer wettbewerbsfähigen und innovativen Cybersicherheitsbranche“

(COM(2016) 410 final)

(2017/C 075/21)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Befassung

Europäische Kommission, 18.8.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

15.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung am

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Stärkung der Abwehrfähigkeit Europas im Bereich der Cybersicherheit und Förderung einer wettbewerbsfähigen und innovativen Cybersicherheitsbranche. Der EWSA teilt die Sorge der Europäischen Kommission über die anhaltende Anfälligkeit Europas für Cyberangriffe und weist darauf hin, dass es im vergangenen Jahr bei mindestens 80 % der europäischen Unternehmen zu mindestens einem Cybervorfall gekommen und die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle 2015 branchenübergreifend und weltweit um 38 % gestiegen ist (The Global State of Information Security Survey 2016, PWC). Er stimmt der Kommission darin zu, dass eine Reihe von Maßnahmen erforderlich sind, um die Abwehrfähigkeit Europas im Bereich der Cybersicherheit zu stärken und eine wettbewerbsfähige und innovative Cybersicherheitsbranche zu fördern.

1.2.

Der EWSA begrüßt diese Mitteilung vor allem im Kontext der jüngst verabschiedeten Richtlinie über Netz- und Informationssicherheit (NIS-Richtlinie) (1), mit der die Harmonisierung der Cybersicherheitskonzepte innerhalb der EU angestrebt wird, sowie der übergreifenden Cybersicherheitsstrategie (2), in der die Vorstellungen hinsichtlich der Vermeidung von Cyberstörungen und -angriffen und der Reaktion auf Cybervorfälle, der Förderung der europäischen freiheitlichen und demokratischen Werte sowie der Gewährleistung eines sicheren Umfelds für das Wachstum der digitalen Wirtschaft skizziert werden.

1.3.

Der EWSA schließt sich der Meinung an, dass umfassende Maßnahmen erforderlich sind, um die kritischen digitalen Infrastrukturen und Dienste Europas vor Sicherheitsbedrohungen zu schützen, und stellt zufrieden fest, dass die nun vorgeschlagenen Maßnahmen im Einklang mit vielen seiner in früheren Stellungnahmen (3) unterbreiteten Empfehlungen zur Verbesserung der Cybersicherheit in der EU stehen.

1.4.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die vertragliche öffentlich-private Partnerschaft für Cybersicherheit (cPPP) unterzeichnet hat, die Investitionen in die Cybersicherheitsbranche in Höhe von 1,8 Mrd. EUR mit dem Ziel mobilisieren soll, die verstärkte Zusammenarbeit in den frühen Stadien des Forschungs- und Innovationsprozesses und die Entwicklung von Cybersicherheitslösungen für verschiedene Sektoren wie Energie, Gesundheit, Verkehr und Finanzen zu fördern. Insbesondere steht zu hoffen, dass über diese cPPP unionsweit die Weiterentwicklung von Cybersicherheitsunternehmen in der Anschubphase gefördert wird.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, bis Ende 2017 zu prüfen, ob das Mandat der Agentur der Europäischen Union für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) geändert oder ausgeweitet werden muss, und erwartet mit Spannung eine entsprechende Befassung. Nach Meinung des EWSA sollte die ENISA im Fall einer Ausweitung ihres Mandats mehr operationelle Befugnisse zur wirksamen Verstärkung der Sensibilisierung für Cyberbedrohungen und der Abwehrbereitschaft in der gesamten EU sowie eine größere unmittelbare Zuständigkeit für auf die Bürger und die KMU zugeschnittene Bildungs- und Aufklärungsprogramme im Bereich Cybersicherheit erhalten.

1.6.

Um die notwendige Führungsstärke und Integration auf EU-Ebene für die komplexe Umsetzung einer wirksamen europaweiten Cybersicherheitsstrategie sicherzustellen, ersucht der EWSA die Europäische Kommission, die Möglichkeit zu prüfen, den Status der ENISA zu ändern und sie nach dem Vorbild der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) in eine Cybersicherheitsbehörde auf EU-Ebene umzuwandeln. Wenn eine solche Änderung des Mandats der ENISA nicht möglich ist, befürwortet der EWSA die Schaffung einer neuen Cybersicherheitsbehörde.

1.7.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, nach dem Vorbild des Reifegradmodells (Capability Maturity Model, CMM) in der IT-Branche die Erarbeitung eines Modells für die Entwicklung und Bewertung der nationalen Cybersicherheit zu erwägen, um den Stand der Cyberresilienz eines jeden Mitgliedstaats objektiv ermitteln zu können.

1.8.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission bald prüfen wird, ob die EU-Cybersicherheitsstrategie von 2013 überarbeitet werden muss, und erwartet, zu gegebener Zeit dazu angehört zu werden.

1.9.

In Anbetracht der Bedeutung der Cybersicherheit und der ständig wachsenden Cyberbedrohungen fordert der EWSA eine angemessene Finanzierung und Mittelausstattung des Europäischen Zentrums zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) bei Europol und der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA).

1.10.

In Anbetracht der großen Bedeutung, die dem Schutz behördlich gespeicherter personenbezogener Daten gebührt, plädiert der EWSA dafür, Bedienstete in der öffentlichen Verwaltung gezielt in Informations-Governance, Datenschutz und Cybersicherheit fortzubilden.

1.11.

Um die EU umfassend vor Cyberkriminalität und Cyberangriffen zu schützen und um eine starke Cybersicherheitsbranche in Europa aufzubauen, muss eine EU-Cybersicherheitsstrategie und -politik nach Meinung des Ausschusses vor allem folgende Voraussetzungen erfüllen: Führungsstärke der EU; Verbesserung der Sicherheit bei gleichzeitiger Wahrung des Persönlichkeitsrechts und anderer Grundrechte; Sensibilisierung der Bürger und Förderung proaktiven Schutzverhaltens; umfassende Governance der Mitgliedstaaten; sachkundige und verantwortungsbewusste Maßnahmen der Unternehmen; enge Partnerschaften zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Bürgern; angemessene Investitionen; gute technische Standards und ausreichende Investitionen in F+E+I; internationale Zusammenarbeit.

2.   Wesentlicher Inhalt der Mitteilung der Kommission

2.1.

In der Mitteilung werden im Einklang mit der EU-Cybersicherheitsstrategie und der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt Maßnahmen zur Stärkung der Abwehrfähigkeit Europas im Bereich der Cybersicherheit und zur Förderung einer wettbewerbsfähigen und innovativen Cybersicherheitsbranche in Europa vorgestellt.

2.2.

Die von der Europäischen Kommission dazu vorgeschlagenen Maßnahmen setzen bei den Bestimmungen der NIS-Richtlinie an, um EU-weit die Zusammenarbeit im Bereich Cybersicherheit, den Informationsaustausch, die Ausbildung und die Sicherheitsorganisation auszubauen. Die Europäische Kommission wird ferner die Bewertung der ENISA bis Ende 2017 abschließen und sich zu der Notwendigkeit einer Änderung oder Erweiterung des Mandats der ENISA äußern.

2.2.1.

Die Europäische Kommission wird eng mit den Mitgliedstaaten, der ENISA, dem EAD und anderen einschlägigen Einrichtungen der EU zusammenarbeiten, um eine Ausbildungsplattform zur Cybersicherheit einzurichten.

2.2.2.

Es werden verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, um sektorübergreifende Abhängigkeiten zu berücksichtigen und die Resilienz wichtiger öffentlicher Netzinfrastrukturen zu verbessern, darunter die Entwicklung europäischer sektorbezogener Informationsaustausch- und analysezentren (Information Sharing and Analysis Centres — ISAC) sowie die Zusammenarbeit mit den entsprechenden CSIRT. Die Europäische Kommission schlägt zudem vor, nationalen Behörden die Möglichkeit einzuräumen, die CSIRT mit regelmäßigen Kontrollen wesentlicher Netzinfrastrukturen zu beauftragen.

2.3.

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen heben auch auf die Notwendigkeit ab, Wachstum und Entwicklung einer starken europäischen Cybersicherheitsbranche durch Ausbildung, Investitionen, Schaffung der geeigneten Voraussetzungen auf dem Binnenmarkt sowie einer neuen öffentlich-privaten Partnerschaft für Cybersicherheit, die bis 2020 ein Investitionsvolumen von 1,8 Mio. EUR mobilisieren soll, zu fördern.

2.3.1.

Es wird ferner vorgeschlagen, einen Vorschlag für einen europäischen IT-Sicherheitszertifizierungsrahmen auszuarbeiten und bis Ende 2017 vorzulegen und die Machbarkeit und die Auswirkungen eines handlichen europäischen Rahmens für die Cybersicherheitskennzeichnung zu prüfen.

2.3.2.

Im Hinblick auf mehr Investitionen in die Cybersicherheit in Europa und eine gezielte KMU-Förderung wird die Europäische Kommission die Cybersicherheitskreise für die bestehenden Finanzierungsmechanismen sensibilisieren; die Nutzung von EU-Werkzeugen und Instrumenten vorantreiben, um innovative KMU bei der Suche nach Synergien zwischen dem zivilen Segment und dem verteidigungsbezogenen Segment des Cybersicherheitsmarktes zu unterstützen (so werden das Enterprise Europe Network und das europäische Netz der im Verteidigungssektor engagierten Regionen zum Beispiel den Regionen neue Möglichkeiten bieten, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der Güter mit doppeltem Verwendungszweck, einschließlich der Cybersicherheit, zu erproben, und den KMU Gelegenheit geben, Investoren zu finden); prüfen, ob sich der Zugang zu Investitionsmitteln erleichtern lässt, z. B. mittels einer speziellen Investitionsplattform für Cybersicherheit oder anderer Werkzeuge; und eine Cybersicherheitsplattform für intelligente Spezialisierung entwickeln, um Ländern und Regionen, die an Investitionen im Cybersicherheitssektor (RIS3) interessiert sind, zu helfen.

2.3.3.

Außerdem wird die Europäische Kommission zur Förderung der europäischen Cybersicherheitsbranche durch Innovation mit der Branche eine vertragliche öffentlich-private Partnerschaft (cPPP) für Cybersicherheit eingehen; Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen im Rahmen von Horizont 2020 in Bezug auf die cPPP für Cybersicherheit veröffentlichen und für die Koordinierung der cPPP für Cybersicherheit mit den einschlägigen sektoralen Strategien, den Instrumenten von Horizont 2020 und sektorspezifischen öffentlich-privaten Partnerschaften sorgen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die digitale Wirtschaft trägt mit über einem Fünftel zum EU-BIP-Wachstum bei. Im Laufe eines Jahres tätigen die meisten Europäer Online-Käufe. Zentral wichtige Energie-, Gesundheits-, Behörden- und Finanzdienste sind digital vernetzt und hängen vom Internet ab. Jedoch sind die für unsere Wirtschaft und Gesellschaft grundlegenden kritischen digitalen Infrastrukturen zunehmend Bedrohungen durch Cyberangriffe ausgesetzt, die unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität in Gefahr bringen.

3.2.

Regierungen, Behörden und öffentliche Einrichtungen legen mittlerweile eine Vielzahl personenbezogener Angaben über alle Bürger elektronisch ab. Deshalb sind eine gute Informations-Governance, Cybersicherheit und Datenschutz für alle Bürger EU-weit ausnehmend wichtig; sie müssen Gewissheit haben, dass ihre personenbezogenen Daten und Persönlichkeitsrechte im Einklang mit dem geltenden EU-Recht geschützt werden. Insbesondere gilt dies für personenbezogene gesundheitliche, finanzielle, rechtliche und andere Informationen, die für einen Identitätsdiebstahl missbraucht oder unrechtmäßig an Dritte weitergegeben werden könnten. Es ist unerlässlich, alle Bediensteten im öffentlichen Sektor angemessen in Informations-Governance, Datenschutz und Cybersicherheit fortzubilden.

3.3.

Die Aufklärung der Bürger über persönliche Cybersicherheit und Datensicherheit sollte grundlegender Bestandteil sämtlicher Lehrpläne zur Vermittlung digitaler Kompetenzen sein. Ein von der EU initiiertes Bildungsprogramm kann die Bemühungen der weniger aktiven Mitgliedstaaten untermauern und sicherstellen, dass die Strategie richtig verstanden wird und somit die Befürchtungen über eine Gefährdung des Datenschutzes eingedämmt und das Vertrauen in die digitale Wirtschaft gestärkt werden. Ein solches Programm könnte EU-weit mit Unterstützung der Verbrauchervereinigungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Bildungseinrichtungen für Senioren durchgeführt werden.

3.4.

Jeder Mitgliedstaat sollte seine für industrielle Entwicklung zuständigen Organisationen in die Lage versetzen, den Mittelstand über Cybersicherheitsfragen zu informieren und bei der Durchführung einschlägiger Maßnahmen zu unterstützen. Große Unternehmen können das erforderliche Wissen leicht beschaffen, KMU hingegen müssen hierbei unterstützt werden.

3.5.

Es wäre sinnvoll, den Stand der Cyberresilienz eines jeden Mitgliedstaats objektiv ermitteln zu können, um Vergleiche anzustellen und entsprechend Schwächen zu beheben und Verbesserungen voranzutreiben. Eventuell wäre die Erarbeitung eines Modells für die Entwicklung und Bewertung der nationalen Cybersicherheit nach dem Vorbild des Reifegradmodells (Capability Maturity Model, CMM) in der IT-Branche denkbar, um den Stand der Cybersicherheit und Cyberresilienz der Mitgliedstaaten ermitteln zu können.

3.6.

Eine umfassende Cybersicherheitsstrategie sollte auf folgende Aspekte abheben:

eine starke EU-Führung, die für Konzepte, Rechtsvorschriften und Einrichtungen zur Förderung eines hohen Cybersicherheitsniveaus in der EU sorgt;

Cybersicherheitskonzepte, die die individuelle und kollektive Sicherheit verbessern und gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte sowie andere Grundrechte und Grundfreiheiten gewähren;

Sensibilisierung aller Bürger für die Risiken der Internetnutzung und Förderung proaktiver Verhaltensweisen zur Sicherung ihrer Digitalgeräte, Identitäten, Privatsphäre und Online-Transaktionen;

eine umfassenden Governance-Struktur in allen Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der Sicherheit und Resilienz der kritischen Informationsinfrastrukturen;

sachkundige und verantwortungsvolle Maßnahmen aller Unternehmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Resilienz ihrer IKT-Systeme und zum Schutz ihrer Tätigkeit und ihrer Kunden;

einen proaktiven Ansatz der Internetdiensteanbieter zum Schutz ihrer Kunden vor Cyberangriffen;

eine tragfähige EU-weite Partnerschaft zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Bürgern auf strategischer und operationeller Ebene als Grundlage für Cybersicherheit;

einen konzeptionellen Ansatz hinsichtlich der Integration von Cybersicherheitsbelangen bei der Entwicklung von Internettechnologien und -diensten;

angemessene Investitionen in die Entwicklung von Cybersicherheitswissen und -kompetenzen, um sicherzustellen, dass es genügend IT-Sicherheitsfachkräfte gibt;

gute technische Cybersicherheitsstandards und ausreichende Investitionen in F+E+I zur Förderung der Entwicklung einer starken Cybersicherheitsbranche und erstklassiger Cybersicherheitslösungen;

eine aktive internationale Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Entwicklung einer koordinierten weltweiten Strategie im Umgang mit Bedrohungen der Cybersicherheit.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Ausgehend von dem in der NIS-Richtlinie skizzierten Rahmen für eine Cybersicherheits-Governance und den in dieser Mitteilung unterbreiteten Maßnahmen sollte die EU in Betracht ziehen, zur Überwindung des fragmentierten Ansatzes zur Verbesserung der Cybersicherheit in der EU eine starke zentrale Cybersicherheitsbehörde nach dem Vorbild der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) oder des in den USA jüngst geschaffenen Federal Chief Information Security Officer (Cybersecurity National Action Plan, White House, 9. Februar 2016) einzurichten, die für die Umsetzung einer Cybersicherheitsstrategie auf EU-Ebene und die Integration der Anstrengungen der verschiedenen einschlägigen Stellen zuständig wäre.

4.2.

Der EWSA ist angesichts der von der ENISA über die Jahre hinweg entwickelten Expertise beeindruckt und geht davon aus, dass die Agentur noch mehr zur Stärkung der Cyberresilienz und Cybersicherheit Europas beitragen könnte. Das ENISA-Mandat sollte um operationelle Befugnisse erweitert werden, um EU-weit das Bedrohungsbewusstsein und die Reaktionsfähigkeit auf Cyberangriffe zu verbessern. Eine Überprüfung des Mandats ist angezeigt, denn der Cybersicherheitskontext hat sich seit der Errichtung der ENISA erheblich verändert. Eventuell könnte auf der Grundlage der NIS-Richtlinie die operationelle Rolle der ENISA ausgeweitet werden, um durch den wirksamen Einsatz ihrer Kompetenzen und die Förderung einer synergetischen Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, Agenturen und Gremien der EU und der Mitgliedstaaten wie CERT-EU, dem Europäischen Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität und der Europäischen Verteidigungsagentur ihren Nutzeffekt für die EU, die Mitgliedstaaten, die Bürger und die Unternehmen zu steigern. Die ENISA sollte auch beauftragt werden, in Eigenregie spezifische, an die Bürger und KMU gerichtete Bildungs- und Aufklärungsprogramme über Cybersicherheit durchzuführen.

4.3.

Bei seiner Gründung 2013 stand dem Europäischen Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) lediglich ein 7 Mio. EUR umfassender Funktionshaushalt zur Verfügung, also weniger als 10 % des gesamten Europol-Budgets (Europäische Kommission, Memo/13/6 vom 9. Januar 2012, nur in englischer Sprache). 2014 warnte der Direktor des EC3, dass infolge der Haushaltskürzungen merklich weniger Mittel zur Verfügung stünden und es schwierig sei, mit der sich rasch entwickelnden Cybercrime-Szene Schritt zu halten (Interview mit SC Magazine UK vom 1.11.2014). Nach Meinung des EWSA sollte die Mittelausstattung von Europol zur Cybercrime-Bekämpfung angesichts der zunehmenden Bedrohung erheblich aufgestockt werden. Der Europol-Haushalt für 2016 umfasst lediglich 100 Mio. EUR (4).

4.4.

Der EWSA begrüßt die Bestimmungen der NIS-Richtlinie sowie die in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Cybersicherheit. Um die Sicherheit aller Bürger und in Anbetracht der weit vernetzten sensiblen Informationsinfrastrukturen eine starke EU-weite Cyberresilienz zu erreichen, muss im Rahmen der Kooperationsmaßnahmen die wachsende Kluft zwischen den Ländern mit hochentwickelter Cybersicherheits-Expertise und denjenigen mit einem weniger guten Kenntnisstand thematisiert werden.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 194 vom 19.7.2016, S. 1.

(2)  JOIN(2013) 01.

(3)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 21;

ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 92;

ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 98;

ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58;

ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 58;

ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90;

ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 130;

ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40;

ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 1;

ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 73;

ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59;

ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 127;

ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 133;

ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 31.

(4)  ABl. C 113 vom 30.3.2016, S. 144.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/129


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ausbau der bilateralen Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei und Modernisierung der Zollunion“

(2017/C 075/22)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Befassung

Europäische Kommission, jährliches Schreiben 2016, 20.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

16.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

252/4/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass das bestehende Abkommen über die Zollunion aufgrund der aktuellen Entwicklungen überholt ist und die Vertragsparteien ernsthafte Verhandlungen über die Stärkung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen durch ein neues, den aktuellen Bedürfnissen entsprechendes Handelsabkommen aufnehmen müssen.

1.2.

Der EWSA ist nach wie vor der Auffassung, dass die Türkei nach wie vor ein äußerst wichtiger Partner ist und dass der politische Wille da ist, um die Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen auszuweiten, allerdings unter der Voraussetzung, dass die grundlegenden europäischen Werte sowie die Grundsätze der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte gewahrt werden.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Verfahren bezüglich der Zollunion entweder durch die Änderung des Beschlusses 1/95 oder durch einen neuen Beschluss des Assoziationsrates oder schließlich durch ein neues Protokoll zum Beitrittsabkommen vollzogen werden kann.

1.4.

Der EWSA verurteilt den Putschversuch des 15. Juli, ist aber sehr besorgt über die Reaktion der türkischen Regierung bzw. der sich anschließenden innenpolitischen Entwicklung, die weit über eine strafrechtliche Verfolgung der Putschisten hinausgeht, rechtsstaatlichen Maßgaben nicht entspricht und demokratischen Prinzipien widerspricht.

1.5.

Der EWSA fordert von der Türkei als EU-Beitrittskandidaten den Schutz und die Beachtung der allgemeinen Menschenrechte sowie die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards. Der EWSA verurteilt den Versuch des Umsturzes der demokratisch gewählten Regierung der Türkei, bringt jedoch seine Besorgnis über die Reaktion der türkischen Regierung zum Ausdruck und fordert unmittelbar die vollständige Achtung und Anwendung der Menschenrechte ohne Diskriminierung, insbesondere der Meinungsfreiheit sowie ihrer speziellen Ausprägung, der Pressefreiheit, und die umfassende Wiederherstellung des Rechtsstaates.

1.6.

Nach Auffassung des EWSA muss die Türkei in der Praxis unter Beweis stellen, dass sie an den für Kandidatenländer geltenden Grundsätzen festhält, da sie diesen Status rechtlich und gemäß den Verträgen nach wie vor innehat, indem sie die Verhandlungen mit der EU fortsetzt und sich strikt an den EU-Besitzstand und alle bisher festgelegten Voraussetzungen hält.

1.7.

Die neuen Rahmenbedingungen, die sich in den letzten Jahren in Bezug auf den internationalen Handel herausgebildet haben, veranlassten die EU, eine neue Runde globaler Handelsabkommen auf den Weg zu bringen, die vor allem auf die Verbesserung der Bestimmungen in einer Vielzahl von Bereichen zwecks Förderung moderner Formen des Handels und Anwendung der europäischen Grundsätze und des EU-Besitzstands abzielen. Die Mitteilung der Kommission „Handel für alle“ muss die Grundlage für die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei sein. Die jüngsten Regelungen sowie bewährte Verfahren, die bei verschiedenen Handelsabkommen zur Anwendung kamen, haben neue Standards in Bezug auf Nachhaltigkeit, Transparenz und die Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft bei internationalen Handelsabkommen gesetzt.

1.8.

Der EWSA hält es für notwendig, dass im Vorfeld Folgenabschätzungen und Nachhaltigkeitsprüfungen durchgeführt werden, und zwar sowohl vor als auch nach den Verhandlungen, um die Auswirkungen auf die Umwelt, die Wirtschaft und die Gesellschaft abzuschätzen. In diese Verfahren müssen die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft eingebunden werden. Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission die sich verändernden sozioökonomischen Rahmenbedingungen in der Türkei in jeder Phase der Verhandlungen kontinuierlich und gründlich prüfen muss.

1.9.

Es sollte berücksichtigt werden, dass in den gut zwanzig Jahren seit dem Inkrafttreten der Zollunion der EU-Besitzstand auf Bereiche ausgeweitet wurde, die zuvor nicht geregelt waren.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass ein neues, modernes Abkommen über die Zollunion nötig ist, und lehnt eine Beibehaltung des gegenwärtigen Status bzw. die Umwandlung des Abkommens in ein regionales Handelsabkommen als unrealistisch ab. Seiner Meinung nach sollte das neue Abkommen neue Kapitel enthalten, die die Ergänzung der Rechtsvorschriften und Verfahren der EU widerspiegeln, da diese ständig aktualisiert und überarbeitet werden. Dabei sollten für problematische Bereiche, die im Zuge der Umsetzung der Zollunion mit der Türkei und hinsichtlich der Vorbedingungen zutage getreten sind, aktualisierte Bestimmungen festgelegt werden.

1.11.

Der EWSA ist außerdem der Meinung, dass man sich in den neuen Verhandlungen insbesondere auf die sofortige Durchführung der notwendigen grundlegenden Reformen der türkischen Rechtsvorschriften konzentrieren sollte.

1.12.

Der EWSA schlägt vor, folgende Bereiche in den rechtlichen Teil des neuen Abkommens aufzunehmen:

Landwirtschaft (mit sämtlichen Bedingungen, die in der Stellungnahme im Folgenden dargelegt werden),

Dienstleistungen,

öffentliches Auftragswesen,

unverarbeitete Erzeugnisse und Rohstoffe,

Verbraucherschutz,

Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung,

Gleichwertigkeit der rechtlichen Regelungen bei gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen (SPS) und Maßnahmen zur Lebensmittelsicherheit,

wirksamer Schutz der Arbeitnehmerrechte und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen,

Schutz von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz,

Erleichterung des elektronischen Geschäftsverkehrs sowie Festlegung einer digitalen Agenda über den freien Verkehr digitaler Daten,

Energiepolitik und Energiesicherheit,

Förderung von Innovation und Schutz der Rechte des geistigen Eigentums,

Bekämpfung von Korruption und Geldwäsche,

Förderung von Anreizen für kleine und mittlere Unternehmen,

Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und Senkung der Verwaltungsausgaben,

Investitionen und Aktualisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften mit dem Ziel, die Anleger zu schützen, und gleichzeitig Schaffung eines unparteiischen Streitbeilegungsverfahrens,

Verbesserung des Verfahrens für die Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften und ihre Aufnahme in das türkische Recht,

strengere Bestimmungen zur Gewährleistung der Einhaltung des überarbeiteten Abkommens und Bestimmungen über die Übernahme des EU-Besitzstandes.

1.13.

In Bezug auf die Asymmetrie bei den Handelsbeziehungen der Türkei zu Drittstaaten, mit denen die EU neuartige Handelsabkommen abschließt, kann die entsprechende Klausel nach Ansicht des EWSA nur so weit verbessert werden, dass sie eine politische Aufforderung an die Partner der EU enthält, wobei zusätzlich die Möglichkeit besteht, dass die Kommission ihre Dienste als Vermittler anbietet.

1.14.

Der EWSA ist der Auffassung, dass jede Art von Handelsabkommen zwischen der EU und der Türkei mit einer umfassenden Konsultation und Einbeziehung der Sozialpartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) und der Organisationen der Zivilgesellschaft einhergehen muss, und zwar sowohl in der Verhandlungs- als auch in der Umsetzungsphase.

2.   Handelsbeziehungen EU-Türkei

2.1.

Die Türkei hat im Jahr 1959 beantragt, assoziiertes Mitglied der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) — der jetzigen Europäischen Union (EU) — zu werden. Das Assoziierungsabkommen (1) wurde 1963 unterzeichnet und sah zusätzlich die Errichtung einer Zollunion zwischen der EWG und der Türkei vor.

2.2.

In der Folge wurde 1970 ein Zusatzprotokoll erstellt, das die Abschaffung von Zöllen und Quoten für Waren sowie weitere Schritte auf dem Weg zur Zollunion vorsah, die 1995 (2) vollendet wurde, und die Abschaffung von Handelshemmnissen beinhaltete. Im gleichen Jahr wurde ein Freihandelsabkommen (3) mit der damaligen EGKS unterzeichnet, das sich auf Kohle und Stahl bezog.

2.3.

Die Türkei war auch gehalten, für Einfuhren aus Drittstaaten den gemeinsamen Außenzolltarif (GAZ) der EU (4) anzuwenden und alle bereits bestehenden und künftigen Präferenzabkommen zu übernehmen.

2.4.

Die Zollunion war damals eine bahnbrechende und innovative Idee und eine wichtige Möglichkeit zur Vertiefung der bilateralen Beziehungen, da sie eines der ersten Abkommen war, das eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften mit einem Drittstaat vorsah.

2.5.

Im Anschluss an den Antrag der Türkei auf Assoziierung aus dem Jahr 1987 eröffnete die EU 1997 ein paralleles Verfahren auf der Grundlage von Artikel 2 und Artikel 49 EUV.

2.6.

Die Beitrittsverhandlungen wurden 2005 aufgenommen und umfassen 34 Kapitel des EU-Besitzstands sowie ein gemischtes Kapitel, also insgesamt 35 Kapitel.

2.7.

Ebenso wie die einschlägigen Akteure hält der EWSA das Freihandelsabkommen für Kohle und Stahl für positiv, das deshalb auch nicht angetastet werden sollte, und betont, dass die Zollunion reformiert werden muss, damit die Handelsbeziehungen modernisiert werden können.

3.   Politische Lage in der Türkei nach dem 15. Juli

3.1.

Die Lage in der Türkei nach dem Putschversuch vom 15. Juli, den der EWSA ausdrücklich verurteilt, gibt Anlass zu großer Besorgnis. Das Vorgehen der Behörden gegen verdächtigte Putschisten, aber auch gegen nicht am Putschversuch beteiligte oppositionelle und zivilgesellschaftliche Kräfte sowie gegen nicht regierungstreue Presse und Medien ist mit europäischen Standards unvereinbar und belastet die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU.

3.2.

Nach den Ereignissen vom 15. Juli hat sich die offizielle Haltung Ankaras verändert, und die türkische Seite fordert sofortige Zusagen der EU, die sich bisher in vielen Fällen unentschlossen gezeigt hat und es an politischem Willen und einer klaren politischen Richtung fehlen ließ, wohingegen es die Türkei an gutem Willen zur Umsetzung der Vereinbarungen fehlen lässt (z. B. in Bezug auf das Protokoll von Ankara), was die Herausbildung des erforderlichen Klimas der Verständigung weiter belastet.

3.3.

Der EWSA verfolgt die Entwicklungen nach dem Putsch derzeit und in Zukunft mit besonderer Aufmerksamkeit und Sorge und sieht die Einleitung der Verhandlungen über die Zollunion zur Stärkung der Handelsbeziehungen als eine Chance für den Beginn der Normalisierung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei sowie für einen Aufschwung der angeschlagenen türkischen Wirtschaft.

3.4.

Es liegt also im Interesse der Türkei, sich unter diesen schwierigen Bedingungen langfristig auf ein Reformprogramm festzulegen, das tiefgreifende Einschnitte sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich vorsieht.

4.   Die Wirtschaft der Türkei

4.1.

Die Türkei hat 2015 ein beeindruckendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1,576 Billionen US-Dollar (in Kaufkraftparität, Schätzung für 2015) erreicht und liegt damit auf Platz 18 der Weltrangliste. Das Wachstum des Landes ist Schätzungen zufolge 2015 auf immer noch zufriedenstellende 3,8 % zurückgegangen. Die Türkei liegt damit weltweit auf Platz 102. Die Staatsverschuldung sank auf moderate 33,1 % des BIP, wobei die Inflationsrate mit ca. 7,7 % im Jahr 2015 immer noch recht hoch ist (5).

4.2.

Die türkische Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren von einer traditionell landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft zu einer von der Dienstleistungs- und Tourismusbranche bestimmten Wirtschaft mit einer exportorientierten verarbeitenden Industrie entwickelt. Dies ist auch auf die Zollunion zurückzuführen, die für bedeutende Chancen sorgte, die mit der Annahme eines neuen Rechtsrahmens und der Umsetzung von EU-Standards sofort genutzt wurden.

4.3.

Seit 2012 hat sich die Wachstumsrate jedoch abgeschwächt, was unter anderem auf den Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen und die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zurückzuführen ist, die das Wirtschaftswachstum in vielen Fällen bremsen und zu Unsicherheit führen. Zwischen 2013 und 2016 wurde das Vertrauen durch politische Unruhen, geopolitische Kräfteverlagerungen, Korruptionsvorwürfe und Spannungen mit den Nachbarstaaten untergraben, da das Land nach mehr politischem Einfluss in der Region strebte. Dies wirkte sich negativ auf die Wirtschaft aus und überschattete die beispiellose positive Entwicklung der türkischen Wirtschaft, die sich aufgrund ihres Leistungsbilanzdefizits als anfällig für Währungs- und Marktschwankungen erwies, was ausländische Investoren abgeschreckt und den Zustrom von Investitionen geschwächt hat. Nach dem Putsch musste die Wirtschaft erneut eine noch schlimmere Rezession sowie einen starken Einbruch bei den Touristenzahlen hinnehmen.

4.4.

Aufgrund der besorgniserregenden politischen Entwicklungen, die sich direkt auf den wirtschaftlichen Bereich ausgewirkt haben, wurden sowohl das Vertrauen der Märkte in die Stabilität als auch die Solidität des Wirtschafts- und Investitionsumfelds in der Türkei schwer beschädigt (6); zugleich gibt es Zweifel an der Fähigkeit der türkischen Regierung, die Wirtschaft wieder auf den Weg des Wachstums zu bringen, da ihre Glaubwürdigkeit und der Kurs des türkischen Pfunds erheblich gelitten haben (7).

5.   Auswirkungen der Zollunion auf die türkische Wirtschaft, Mängel des Rechtsrahmens und Umsetzung

5.1.

Die Prognosen für die Zollunion waren insgesamt ziemlich pessimistisch und wurden deshalb von den tatsächlichen Entwicklungen eingeholt: Für die Türkei war von einem Wachstum von maximal 1-1,5 % des BIP ausgegangen worden, was als beachtlich angesehen wurde, jedoch weit unter dem tatsächlich erreichten Zuwachs lag.

5.2.

Die EU ist der wichtigste Einfuhr- und Ausfuhrpartner der Türkei, wohingegen die Türkei bei den Einfuhren der EU auf Platz 7 und bei den Ausfuhren auf Platz 5 liegt. Die Türkei exportiert vorwiegend Maschinen und Beförderungsmittel in die EU, gefolgt von Fertigerzeugnissen. Die Ausfuhren der EU in die Türkei betreffen vor allem Maschinen und Beförderungsmittel, chemische Erzeugnisse und Fertigerzeugnisse.

5.3.

Der Handel mit der EU wuchs zwischen 1995 und 2014 um 22 %. Die Zollunion soll auch zu Handelsumlenkungen geführt haben (8), was jedoch in Anbetracht des Gesamtanteils am Handel unerheblich ist (9).

5.4.

Auf jeden Fall wurde dadurch die Verhängung von Zöllen auf Industrieprodukte durch die Türkei eingedämmt und die Festlegung von Ursprungsregeln im bilateralen Handel unnötig.

5.5.

Einige der wichtigsten inhärenten Schwachpunkte der Zollunion lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die unverantwortliche und unnötige Anwendung handelspolitischer Schutzinstrumente wie etwa Ausgleichsmaßnahmen, Antidumping-, Schutz- sowie Überwachungsmaßnahmen beeinträchtigt den bilateralen Handel (10).

Es fehlen wirksame Durchsetzungs- und Streitbeilegungsverfahren, ohne die es unmöglich ist, der bisweilen selektiven Umsetzung der Zollunion sowie den indirekt diskriminierenden Maßnahmen gegen EU-Erzeugnisse wirksam einen Riegel vorzuschieben. Das geltende Streitbeilegungsverfahren beschränkt sich auf bestimmte Rechtsstreitigkeiten (konkret gibt es eine Zuständigkeit nur für den Zeitraum, in dem protektionistische Maßnahmen gelten) (11), die vom Assoziationsrat geprüft werden können; dieser ist in erster Linie ein politisches Gremium, das seine Entscheidungen einstimmig trifft.

Der Geltungsbereich der Zollunion ist auf Industrieerzeugnisse beschränkt — einschließlich in der EU oder der Türkei hergestellter industrieller Komponenten verarbeiteter landwirtschaftlicher Erzeugnisse — sowie auf Waren, die ganz oder teilweise unter Verwendung von Produkten aus Drittstaaten hergestellt wurden, sofern sich diese in der EU oder in der Türkei im freien Verkehr befinden. So machen insbesondere Agrarerzeugnisse 10 % und Dienstleistungen 60 % des BIP der Türkei aus, fallen jedoch beide nicht in den Geltungsbereich.

Probleme gibt es auch bei der Angleichung an die EU-Rechtsvorschriften und bei der Wirksamkeit des Verfahrens zur Unterrichtung über diesen Punkt, was dazu führt, dass die Unternehmer in Bezug auf die Ein- oder Ausfuhr ein- und derselben Produkte ständig wechselnden Rechtslagen ausgesetzt sind, mit denen weder sie selbst über ihre institutionellen Träger (Handelskammern, Arbeitgeberverbände usw.) noch die zuständigen Behörden (Zoll, Exportagenturen, Marktaufsicht) Schritt halten können (12).

5.6.

Von den problematischen Bereichen der rechtlichen Struktur der Zollunion abgesehen gibt es auch Probleme aufgrund der unzulänglichen Umsetzung bzw. einseitiger Entscheidungen der Türkei bei Fragen der Zollpraktiken, die eindeutig gegen die Vereinbarungen verstoßen, aber auch aufgrund der Weigerung der Türkei, einen ungehinderten Handelsverkehr mit der Republik Zypern, einem Mitgliedstaat der EU, zuzulassen, was einen eindeutigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht und die Handelsabkommen zwischen der EU und der Türkei darstellt.

5.7.

Die derzeitige Angleichung der türkischen Rechtsvorschriften an die EU-Binnenmarktvorschriften ist in bestimmten Bereichen vorangekommen, wie z. B. freier Warenverkehr, Wettbewerbspolitik und staatliche Beihilfen, Energie-, Wirtschafts- und Währungspolitik sowie Unternehmens- und Industriepolitik. Die Europäische Kommission hat indes darauf hingewiesen, dass die Türkei immer wieder zentrale Aspekte des Abkommens ignoriert und auf breiter Front protektionistische Maßnahmen ergreift, die mit den Bestimmungen der Zollunion nicht vereinbar sind.

5.8.

Allerdings setzt die Türkei die Rechtsvorschriften in Bezug auf staatliche Beihilfen und die Errichtung von Kontrollsystemen unzureichend um und ist nicht bereit, den freien Warenverkehr mittels Aufhebung versteckter Beschränkungen uneingeschränkt zuzulassen. Schließlich hat sie es versäumt, Durchsetzungsmaßnahmen gegen Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums anzunehmen und wirksam umzusetzen.

5.9.

Bei der Bewertung des Gesamtnutzens der Zollunion lässt sich als ihr größter Vorteil festhalten, dass sie als Instrument für wirtschaftliche Reformen genutzt wurde, die die Integration der Türkei in die Weltwirtschaft gefördert haben. Zudem hat sie zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit des Landes beigetragen und schließlich die Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation und zur Stabilisierung des Wertes der türkischen Lira unterstützt.

5.10.

Die Modernisierung des türkischen Handels hat ebenfalls rasche Fortschritte gemacht, und der Wettbewerb zwischen den türkischen Herstellern und Händlern, die über den EU-Markt Zugang zu einem einträglicheren und anspruchsvolleren globalen Handelsumfeld bekommen haben, wurde gestärkt.

6.   Vergleich zwischen der Zollunion und jüngeren Freihandelsabkommen

6.1.

Die kommenden Jahre werden vom Beginn einer neuen Wirtschaftsära geprägt sein, ausgelöst durch die Einleitung und Anwendung einer Reihe von Regulierungsinitiativen auf internationaler Ebene, die auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei beeinflussen und eine Modernisierung der Zollunion erforderlich machen. Gleichzeitig hat sich die EU auf den Ausbau der externen Wirtschaftsbeziehungen zu Drittstaaten konzentriert, um den Lebensstandard zu verbessern und für mehr Wohlstand zu sorgen. Die derzeit wichtigsten Initiativen sind die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA), das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA) sowie die Verhandlungen über das Handelsabkommen mit Japan  (13).

6.2.

Aufgrund der neuen Bedingungen hat die nunmehr überholte Zollunion die türkische Wirtschaft wegen der ihr innewohnenden Asymmetrie (14) bereits in eine nachteilige Situation gebracht, weil die Türkei nur dann Handelsabkommen mit Drittstaaten aushandeln kann, wenn die EU mit ihnen neue Freihandelsabkommen vereinbart und unterzeichnet hat, die Türkei jedoch keine Möglichkeit hat, auf die Verhandlungen einzuwirken. Andererseits stellt die „Türkei-Klausel“ eine politische Aufforderung dar und verpflichtet die Drittstaaten nicht, die Aufnahme von Verhandlungen zu akzeptieren, geschweige denn ein Abkommen zu schließen. Und selbst wenn es zu einem Abkommen kommt, befinden sich die türkischen Unternehmen aufgrund der zeitlichen Verzögerung in einer schlechteren Wettbewerbsposition.

6.3.

Außerdem musste die Türkei den gemeinsamen Außenzolltarif (GAZ) annehmen, womit sie verpflichtet ist, sich an die Änderungen (zumeist Reduzierungen) anzupassen, die die EU mit Blick auf den Abschluss von Freihandelsabkommen einführt, ohne dass die türkischen Erzeugnisse auf den anderen Märkten mangels eines Abkommens dieselben Privilegien genießen würden. Dies hat zu einer schrittweisen Liberalisierung des Zolltarifs der Türkei geführt.

6.4.

Die genannten Mängel in der Struktur der Zollunion treten jetzt, mehr als 20 Jahre nach ihrem Abschluss, noch deutlicher zutage.

6.5.

2014 haben von den 48 Handelspartnern der EU nur 17 auch ein Abkommen mit der Türkei geschlossen, und von den Staaten, mit denen bereits ein neuartiges Freihandelsabkommen abgeschlossen wurde, war nur Südkorea bereit, der in der „Türkei-Klausel“ des Freihandelsabkommens EU-Korea formulierten Aufforderung nachzukommen und ein Abkommen mit der Türkei abzuschließen.

7.   Stärkung der bilateralen Handelsbeziehungen

7.1.

Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei im wirtschaftlichen und politischen Bereich ist eine hinreichende und notwendige Bedingung für die Gewährleistung von Stabilität in einer besonders sensiblen Region unserer Welt, wobei die Modernisierung der Zollunion ein klares positives Signal im Sinne der Zusammenarbeit und der Stabilität geben kann.

7.2.

Nach einer gründlichen Diskussion und Prüfung der Alternativen für die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei, darunter auch der Möglichkeit (i) einer Beibehaltung des Status quo, (ii) der Ersetzung oder Ergänzung der Zollunion durch ein regionales Handelsabkommen und (iii) der Modernisierung der Zollunion, ist der EWSA der Auffassung, dass die letztgenannte Lösung am besten geeignet ist, die bilateralen Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen voranzubringen und zu vertiefen.

7.3.

Die Variante, gar nichts zu unternehmen, ist derzeit auch mit Blick auf die Tatsache, dass die Beitrittsverhandlungen erhebliche Zeit brauchen werden, keine realistische Alternative, denn es ist wichtig, die oben genannten Aspekte anzugehen und das bislang unausgeschöpfte Potenzial der Handelsbeziehungen unverzüglich zu nutzen.

8.   Schwerpunkte der Überprüfung

8.1.

Im Rahmen der neuen europäischen Handels- und Investitionspolitik, die 2015 mit der Mitteilung der Kommission „Handel für alle“ (15) eingeleitet wurde, zeichnet sich bereits ab, dass die EU aufgrund ihrer Führungsposition auf dem Gebiet des Handels bestrebt ist, sich den neuen Herausforderungen eines globalisierten Marktes und der modernen Realität im Bereich des Handels zu stellen, die Entwicklung voranzutreiben und institutionelle Veränderungen auf den Weg zu bringen, indem sie Reformprioritäten setzt (16).

8.2.

Im Rahmen dieser Bemühungen wird deutlich, dass eine neue Handelspolitik nicht eindimensional sein kann, sondern vielschichtig und komplex sein und eine Vielzahl an Tätigkeitsbereichen umfassen muss, wenn sie wirksam und für mehrere Betroffene wie Arbeitnehmer, Verbraucher sowie KMU nutzbringend sein soll.

8.3.

Insbesondere ist es vielfach von großer Bedeutung, dass die europäischen Werte in diesen Grundsatzrahmen einbezogen werden, da sich unterdessen gezeigt hat, dass die Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen nicht nur rein wirtschaftlicher Natur sind, sondern ein darüber hinausgehendes sozioökonomisches Unterfangen, das in vielerlei Hinsicht und auf vielen Ebenen Reformen erfordert.

8.4.

Insbesondere nach der Annahme des Pariser Übereinkommens (COP 21) durch die EU und den neuen Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, die der Wirtschafts- und Sozialrat der UN verabschiedet hat, sind nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz nunmehr ein gleichberechtigter und untrennbarer Bestandteil dieser Werte (17).

8.5.

Diese Tatsache tritt noch klarer hervor, wenn die Staaten, mit denen verhandelt wird, Beitrittsverhandlungen mit der EU führen — typisches Beispiel hierfür ist die Türkei.

8.6.

Die Überprüfung muss auch auf internationalen Standards und auf den internationalen Vereinbarungen zum Schutz von Arbeitnehmerrechten beruhen (18).

8.7.

Deshalb wurde auf EU-Seite beschlossen, künftig drei Grundsätze anzuwenden:

a)

Effizienz: damit sowohl den makroökonomischen (z. B. wirtschaftliche Situation von EU-Staaten, die sich in einer Krise befinden) als auch den mikroökonomischen Notwendigkeiten (z. B. KMU) Rechnung getragen wird, wobei eine maximale Anpassungsfähigkeit an die neuen handelspolitischen Unternehmungen zu gewährleisten ist,

b)

Transparenz: durch Gewährleistung einer möglichst breiten Öffentlichkeit und Beteiligung möglichst vieler Interessenträger an den Verhandlungen,

c)

europäische Werte und Standards: dies sind in der Entwicklung befindliche Begriffe, die inzwischen auch den Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (einschließlich der Arbeitnehmerrechte), die nachhaltige Entwicklung und die Bekämpfung von Korruption umfassen.

8.8.

So müssen die Bemühungen um Konvergenz mit den Handelspartnern Folgendes umfassen:

1.

Untersuchungen auf hohem Niveau zu den bestehenden globalen Wertschöpfungsketten und den globalen Lieferketten,

2.

moderne Maßnahmen zur Förderung des Handels und der Dienstleistungen, damit diese den aktuellen weltweit herrschenden Bedingungen entsprechen, die durch eine enorme Fragmentierung des Produktionsprozesses in Form von Outsourcing, Offshoring und Gründung von Zweigniederlassungen gekennzeichnet sind,

3.

Regelungen für die Erleichterung des elektronischen Handels und der Mobilität und natürlich eine ausgedehnte institutionelle Zusammenarbeit sowohl bei der Aushandlung der Abkommen als auch bei der Bewertung und Kontrolle ihrer Durchführung.

9.   Das Verfahren für den Abschluss des Abkommens und der Inhalt des neuen Abkommens

9.1.

Der Geltungsbereich des neuen Abkommens muss auf weitere Aspekte ausgedehnt werden, etwa:

a)

Landwirtschaft (unter strenger Wahrung der europäischen Standards und der Rückverfolgbarkeit der Produkte sowie nach einer Prüfung eventueller Auswirkungen für die europäischen Landwirte bei Liberalisierung der Einfuhren), und gleichzeitiger Prüfung der Beibehaltung bzw. Einführung vorläufiger protektionistischer Maßnahmen über die Anpassungsfrist hinaus, sofern dies zum Schutz der europäischen Erzeuger für unbedingt erforderlich erachtet wird,

b)

Investitionen,

c)

öffentliche Aufträge,

d)

Dienstleistungen,

e)

aktuellere Themen wie nachhaltige Entwicklung, Umweltschutz oder den Energiesektor sowie Rohstoffe und unverarbeitete Erzeugnisse,

f)

Schutz der Rechte des geistigen Eigentums und der Patente.

Zudem müssen verbindliche Bestimmungen über die unverzügliche Übernahme und Integration der EU-Rechtsvorschriften aufgenommen werden, sowie eine Bestimmung über die obligatorische Beilegung von Streitigkeiten in Bezug auf die Umsetzung des Abkommens durch ein Verfahren, das nicht durch einen politischen Beschluss eingeleitet werden muss, wie es bisher der Fall ist, was eine umfassende und transparente Beilegung der Streitigkeiten erheblich erschwert.

9.2.

Es ist auch von größter Bedeutung, dass das gesamte Verfahren mit dem überarbeiteten Ansatz der EU für den Handel verbunden wird, bei dem nicht verhandelbare Forderungen der EU nach Demokratisierung und Transparenz im Entscheidungsprozess sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene gestellt werden und bei dem die Rolle der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft im öffentlichen Dialog und bei öffentlichen Verhandlungen unterstrichen wird. Dabei wird das Ziel einer effektiveren und stärker auf die Menschen ausgerichteten Umsetzung des überarbeiteten Abkommens verfolgt.

9.3.

Die Verbesserung der Handelsbeziehungen durch ein neues Abkommen über die Zollunion könnte einige positive Auswirkungen haben, etwa

Einnahmen aus der Liberalisierung der neuen Regelungsbereiche und Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen.

Vorteile für europäische Unternehmen infolge der bilateralen Liberalisierung der öffentlichen Auftragsvergabe durch Beseitigung der Hemmnisse für ausländische Bewerber bei Ausschreibungen, da diese Aufträge 7 % des BIP der Türkei betragen.

Chancen für kleine und mittlere Unternehmen, was zum Anstieg des durchschnittlichen Einkommens in der Türkei, zur Entstehung von Arbeitsplätzen sowie zum Anstieg der Produktivität führt.

9.4.

Am Beginn des Verfahrens für den Abschluss des Abkommens müssen Verhandlungen stehen, an denen die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft direkt beteiligt werden. Wichtig sind zudem transparente Verfahren.

9.5.

Der EWSA begrüßt die öffentliche Konsultation und empfiehlt die Durchführung einer entsprechenden Untersuchung von sozialen Indikatoren und Wohlstandsindikatoren auch in anderen Bereichen, etwa bei den Rechten der Verbraucher und der Arbeitnehmer.

9.6.

Nach Auffassung des EWSA sollte von Anfang an klargestellt werden, dass das Verfahren Teil der umfassenderen Beitrittsverhandlungen ist und nicht nur eine reine Vertiefung der Handelszusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei und dass die Gespräche nur dann zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können, wenn die bisher vereinbarten Punkte vollständig angeglichen werden.

9.7.

Neben den derzeitigen Problemen, die im neuen Abkommen angegangen werden müssen, sind Kapitel über den Umweltschutz, die nachhaltige Entwicklung und die Energiesicherheit sowie die Zusammenarbeit im Energiebereich (erneuerbare und konventionelle Energieträger) aufzunehmen.

9.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass auch ein neuer Rahmen für die Zusammenarbeit bei Investitionen geschaffen werden muss, mit höheren Standards für den Investorenschutz und einem unparteiischen Verfahren für die Streitbeilegung, was das Vertrauen der Märkte in die Fähigkeit der Wirtschaft stärken wird, politischen Erschütterungen standzuhalten. Ein solcher Rahmen sollte auf die Bedenken in Hinsicht auf Investorenschutz Bedacht nehmen (19).

9.9.

Das neue Abkommen muss eindeutig einen strengen Rahmen für protektionistische Maßnahmen oder Diskriminierung ausländischer Produkte und zusätzliche oder versteckte Zölle umfassen, die den Bestimmungen der neuen EU-Handelsvorschriften widersprechen. Zugleich müssen die Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Geldwäsche, der Korruption und der Schattenwirtschaft sowie die institutionelle Zusammenarbeit zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität gestärkt werden.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei und Zusatzprotokoll vom 12. September 1963 (ABl. 217 vom 29.12.1964, S. 3687): http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/turkey/association_agreement_1964_en.pdf.

(2)  Beschluss Nr. 1/95 des Assoziationsrates EG–Türkei vom 22. Dezember 1995 über die Durchführung der Schlussphase der Zollunion (96/142/EG).

(3)  Beschluss 96/528/EGKS der Kommission vom 29. Februar 1996 über den Abschluss eines Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Republik Türkei über den Handel mit unter den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl fallenden Erzeugnissen (ABl. L 227 vom 7.9.1996, S. 1): http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:31996D0528&from=DE.

(4)  Kombinierte Nomenklatur, Gemeinsamer Zolltarif und Integrierter Zolltarif der Europäischen Union (TARIC), Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256 vom 7.9.1987, S. 1): http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=URISERV:l11003&from=DE.

(5)  Statistische Angaben aus dem CIA Factbook und den Länderberichten der Weltbank, kombiniert mit statistischen Daten der Zentralbank der Republik Türkei.

(6)  http://www.bloomberg.com/news/articles/2016-09-26/lira-drops-most-among-emerging-peers-after-turkey-cut-to-junk.

http://www.bloomberg.com/news/articles/2016-07-21/turkish-assets-extend-selloff-after-s-p-cut-state-of-emergency.

https://www.ft.com/content/779ef1f6-5b22-11e6-9f70-badea1b336d4.

(7)  https://www.ft.com/content/5bbbcce4-83b2-11e6-a29c-6e7d9515ad15.

http://www.forbes.com/forbes/welcome/?toURL=http://www.forbes.com/sites/dominicdudley/2016/07/18/turkeys-economy-could-slump-in-aftermath-of-failed-coup/&refURL=https://www.google.gr/&referrer=https://www.google.gr/.

(8)  C.S.P. Magee, Trade creation, trade diversion, and the general equilibrium effects of regional trade agreements: a study of the European Community–Turkey customs union, in: Review of World Economics, Mai 2016, Bd. 152, Ausgabe 2, S. 383-399.

(9)  Weltbank, „Bewertung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei“ („Evaluation of the EU-Turkey Customs Union“), Bericht Nr. 85830-TR, 28. März 2014, https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/pdf/financial_assistance/phare/evaluation/2014/20140403-evaluation-of-the-eu-turkey-customs-union.pdf.

(10)  Gegen Wareneinfuhren aus der EU waren 2013 in der Türkei 13 handelspolitische Schutzinstrumente in Kraft. Mehr Informationen hierzu unter: http://ec.europa.eu/trade/policy/accessing-markets/trade-defence/actions-against-exports-from-the-eu/ (aufgerufen am 30.5.2016).

(11)  Im Gegensatz zum Streitbeilegungsverfahren des Abkommens von Ankara, das ein größeres Spektrum an Streitfällen abdeckt, allerdings nur bei Zustimmung beider Seiten eingeleitet werden kann.

(12)  Siehe Fußnote 9.

(13)  Andere Abkommen betreffen die ostafrikanischen Staaten, Ecuador, Singapur, Vietnam und Westafrika. Zwar sind die Abkommen bereits abgeschlossen, doch ist keines bisher in Kraft getreten.

(14)  Global Economics Dynamics Study, Turkey’s EU integration at a crossroads, What Consequences does the new EU trade policy have for economic relations between Turkey and Europe, and how can these be addressed?, Bertelsmann Stiftung, April 2016.

(15)  http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/october/tradoc_153880.PDF.

(16)  EWSA (J. Peel — Berichterstatter), Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Handel für alle — Hin zu einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik — COM(2015) 497 final (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 123).

(17)  Darüber hinaus gehören natürlich auch das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen sowie das Protokoll von Kyoto zu diesen Verpflichtungen. Zum Pariser Übereinkommen siehe Paris Agreement, FCCC/CP/2015/L.9, 2015.

(18)  ILO-Kernarbeitsnormen, OSZE-Leitsätze für multinationale Unternehmen, UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.

(19)  Einige dieser Bedenken wurden in Ziffer 8.8 der EWSA-Stellungnahme REX/464 „Der Standpunkt des EWSA zu spezifischen Kernaspekten der Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)“ (ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 30) zusammengefasst.


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/138


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen ‚Ein Leben in Würde: von Hilfeabhängigkeit zu Eigenständigkeit — Flucht und Entwicklung‘“

(COM(2016) 234 final)

(2017/C 075/23)

Berichterstatter:

Michael McLOUGHLIN

Befassung

Europäische Kommission: 21.6.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

16.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

203/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Empfehlungen zu „Ein Leben in Würde“

1.1.

Für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist die Mitteilung „Ein Leben in Würde“ ein ehrgeiziges Dokument zur rechten Zeit, das bewährten Verfahrensweisen bei der Entwicklungshilfe und der humanitären Hilfe folgt. Für die praktische Umsetzung des Konzepts muss sich die EU der Herausforderungen bewusst sein.

1.2.

Nach Auffassung des EWSA bieten die geografisch klar abgegrenzten Gebiete, in denen es zur Vertreibung kommt, die Möglichkeit für eine maßgeschneiderte und gezielte Reaktion sowie für gemeinsames und abgestimmtes Handeln der Europäischen Kommission und anderer Institutionen.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, dass der Europäische Auswärtige Dienst in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten eine hochrangige politische Strategie entwickeln sollte, um in Verbindung mit der Mitteilung „Ein Leben in Würde“ und angesichts der teilweise großen geopolitischen Herausforderungen mit Staaten und internationalen Organisationen in Kontakt zu treten.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, parallel zu dieser Mitteilung gezielte Konzepte zur Bewältigung der größten Probleme für Frauen und junge Menschen zu entwickeln, wobei diese Gruppen konsultiert und in die Umsetzung einbezogen werden müssen.

1.5.

Der EWSA hält es zwar für möglich, mit einem auf Entwicklung basierenden Konzept mit den derzeit verfügbaren Mitteln beträchtliche Ergebnisse zu erzielen, doch sollte die Notwendigkeit zusätzlicher Mittel nicht ausgeschlossen werden.

1.6.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Zivilgesellschaft, die Endbegünstigten, die Entwicklungspartner und NGO in die praktische Umsetzung der Mitteilung einzubeziehen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, die Strukturen und Verfahren für den sozialen und den zivilen Dialog in den Partner- und Aufnahmeländern auszubauen und zu verbessern, um so die Umsetzung der Mitteilung zu erleichtern.

1.8.

Der EWSA empfiehlt Maßnahmen der Wirtschaftsförderung in den betroffenen Regionen, um das selbstständige Unternehmertum als zukunftsfähigen Entwicklungspfad für viele Vertriebene zu fördern und zu entwickeln.

1.9.

Der EWSA empfiehlt, bei Maßnahmen im Gesundheitsbereich der psychischen Gesundheit und psychischen Erkrankungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und Artikel 11 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu beachten.

1.10.

Nach Ansicht des EWSA sollten Initiativen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung auf ein Konzept des lebenslangen Lernens gestützt werden, außerdem sollte die Möglichkeit, EU-Programme für Vertriebene zu öffnen, wo immer möglich in Betracht gezogen werden.

1.11.

Der EWSA empfiehlt, bei dem Politikwechsel in Richtung eines auf Entwicklung basierenden Konzepts die höchsten Standards in Bezug auf Rechenschaftspflicht und Transparenz anzusetzen.

1.12.

Der EWSA fordert parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene und der nationalen Ebene sowie die Kontrolle durch andere einschlägige Gremien als Teil des Politikwechsels hin zu einem auf Entwicklung basierenden Konzept.

2.   Hintergrund

2.1.

Die hohen Vertriebenenzahlen (Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Asylsuchende) sind eines der größten Probleme für die internationale Gemeinschaft, und ein Ende der andauernden Konflikte in Syrien, in Teilen Afrikas und anderen Gebieten ist leider nicht in Sicht. Im Zentrum dieser politischen Herausforderung steht das Entstehen einer ständigen Klasse von Vertriebenen, die viele Jahre nach ihrer ursprünglichen Vertreibung an Ort und Stelle bleiben.

2.2.

Diese Entwicklung wirft eine Reihe von Problemen auf, darunter vor allem die Tatsache, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft als „Notfallmaßnahme“ konzipiert wird, wenn eigentlich ein längerfristiges, auf Entwicklung basierendes Konzept besser geeignet wäre. Es ist schwierig, eine Lösung für dieses Dilemma zu finden, da Veränderungen die Aufnahmeländer, Geber, NGO und die Vertriebenen selbst je nach dem gewählten Konzept vor viele Fragen stellen können.

2.3.

2015 wurden mehr als 65 Mio. Menschen zu den Vertriebenen gezählt, 21,2 Mio. von ihnen gelten als Flüchtlinge und 40,8 Mio. als Binnenvertriebene, 3,2 Mio. werden als Asylsuchende betrachtet. Die Staaten, aus denen die meisten Vertriebenen stammen, sind Syrien, Afghanistan, Somalia, der Sudan, der Südsudan und die Demokratische Republik Kongo. Die Nachbarländer nehmen die meisten Flüchtlinge auf, Binnenvertriebene bleiben hingegen innerhalb der Grenzen dieser Staaten.

2.4.

Für Flüchtlinge sind die wichtigsten Nachbarländer Pakistan, der Iran, die Türkei, der Libanon, Jordanien und Äthiopien. Die Türkei hat weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Auch in vielen anderen Ländern ist diese Zahl im Verhältnis zur Einwohnerzahl äußerst hoch, wie etwa in Jordanien und im Libanon. Binnenvertriebene gibt es vor allem in Syrien (6,6 Mio.), Kolumbien (3,6 Mio.), dem Irak (3,3 Mio.), dem Sudan (3,2 Mio.), dem Jemen (2,5 Mio.) und Nigeria (2,1 Mio.).

2.5.

Die Europäische Union steht heute weltweit an der Spitze bei der Unterstützung in Form von Entwicklungshilfe und Soforthilfe. Diese Tatsache ist ein wesentliches Merkmal der Werte der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Zudem bemüht sich die EU um mehr Kohärenz und Wirksamkeit ihrer Hilfe und Notfallmaßnahmen durch eine stärkere Koordinierung in den Ländern, auf die sich die Bemühungen der Mitgliedstaaten und das EU-Konzept konzentrieren.

2.6.

2015 hat die EU humanitäre Hilfe im Wert von über 1 Mrd. EUR für Vertriebene zur Verfügung gestellt. Im April 2016 hat die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit dem EAD ein auf Entwicklung basierendes Konzept in Bezug auf Vertreibung angenommen. In der Mitteilung „Ein Leben in Würde“ wird zum ersten Mal dargelegt, wie sich die EU die Wende in Richtung einer neuen Art der Verteilung von Hilfe an Vertriebene vorstellt.

2.7.

In der Mitteilung „Ein Leben in Würde“ werden die Herausforderungen für Vertriebene skizziert. Das Argument, dass die Hilfsbedürftigkeit von Vertriebenen größeres Gewicht als der rechtliche Status haben sollte, wird klar herausgearbeitet. Die Kommission stützt sich in ihrer Mitteilung auf das Gesamtkonzept für Entwicklungshilfe und das EU-Konzept für Resilienz in diesem Bereich, ein „lineares Konzept“ wird somit vermieden. Die bisherigen Trennungen im politischen Prozess sollen überwunden und die zuweilen große Kluft zwischen der Welt der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe überbrückt werden.

2.8.

Nach Ansicht der Kommission dürfte dieses neue Konzept keine zusätzlichen Kosten verursachen, da auf diese Art vorhandene Mittel zusammengeführt werden. Ein besonderer Schwerpunkt wird bei den Regierungen der Aufnahmeländer und den Durchführungspartnern gesehen. Ebenso werden Frühwarnsysteme und die frühzeitige Einbindung aller Akteure empfohlen. Beispiele für bereits bestehende Praktiken in Bezug auf eine gemeinsame Programmplanung der Staaten und auf die strategische Planung werden genannt. Gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Planung sollen Vorrang haben.

2.9.

Zwei Elemente eines neuen politischen Rahmens sollen mit zusätzlichen Maßnahmen einhergehen: eine stärkere Verknüpfung von humanitärer Hilfe und Entwicklung sowie strategisches Engagement mit Partnern, einschließlich des Privatsektors. Zudem werden verschiedene Schwerpunkte nach Bereichen genannt, mit Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt (einschließlich des sozialen Dialogs) und Zugang zu Dienstleistungen wie Wohnraum, Trinkwasser- und Sanitärversorgung usw.

3.   Allgemeine Bemerkungen

Geopolitische Erwägungen

3.1.

Insgesamt ist die Mitteilung „Ein Leben in Würde“ eine sehr lohnenswerte Initiative, in der eine kühne Vision für einen strategischen Politikwechsel dargelegt wird, der auf die Bewältigung realer Probleme abzielt und auf die erforderlichen Veränderungen ausgerichtet ist, damit dieser Wechsel den am stärksten Bedürftigen zugutekommt. Dies entspricht im Wesentlichen der Denkweise in diesem Bereich wie auch der Denkweise der in diesem Bereich Tätigen, wodurch Brücken zwischen der humanitären Arbeit und der Entwicklungshilfe gebaut werden und ein Schlaglicht auf den längerfristigen Bedarf u. a. in Bezug auf Gesundheit und Bildung geworfen wird. Die EU ist hier ein überaus gewichtiger Akteur und kann gemeinsam mit den Mitgliedstaaten tatsächlich etwas bewirken. Die in der Mitteilung enthaltenen ehrgeizigen Vorschläge werden begrüßt. Die EU und die weiteren Akteure müssen sich des Ausmaßes der Aufgabe bewusst sein und ihr ehrgeiziges Konzept beibehalten.

3.2.

Die Bedeutung der Geopolitik in diesem Bereich sollte angemessen berücksichtigt werden. Tatsächlich war schon zu beobachten, dass sich gut gemeinte Pläne für die Neuansiedlung von weitaus geringeren Flüchtlingszahlen in der EU selbst in Luft aufgelöst haben. Menschen werden aufgrund komplexer und sensibler Konflikte vertrieben und sind leider nach ihrer Vertreibung immer noch Teil dieser Konflikte. Jeder Politikwechsel bzw. jedes geänderte Konzept — egal wie gut gemeint oder von den Gebern unterstützt — kann potenziell unerwartete Ergebnisse oder Auswirkungen auf einen Konflikt haben. Diese Auswirkungen können Nachbarländer oder angrenzende Regionen oder fein austarierte Gleichgewichte zwischen Ethnien, Machtverhältnisse oder geopolitische Verhältnisse betreffen. Besonders gilt dies, wenn eine Bevölkerung zwar als „vorübergehend“ bezeichnet, aber als „ständig“ betrachtet wird. Länder wie der Libanon und Jordanien bekommen diesen Druck bereits zu spüren. Positive Beispiele in der Mitteilung, wie etwa der Zugang zu Land in Uganda, könnten diesbezüglich hilfreich sein.

3.3.

Die Staaten, die vielen Vertriebenen eine Heimat bieten, sind häufig instabile oder schwache Staaten, was die Frage geopolitischer Empfindlichkeiten umso realer werden lässt. In anderen Fällen ist der Aufnahmestaat als Gastgeber eventuell ein autokratisches Regime, was aber an den Empfindlichkeiten nichts ändert. Unausweichlich sind „Nachbarländer“, „Aufnahmeländer“ und Konfliktparteien gelegentlich schwer voneinander zu unterscheiden bzw. gehen fließend ineinander über. Tatsächlich wirken sich Konflikte oft auf die Nachbarländer bzw. auf Teile der Bevölkerung in beiden Ländern aus. Ein Aufnahme- oder Nachbarland bzw. eine Region kann bei der Änderung des Status von Vertriebenen entweder profitieren oder verlieren und entsprechend reagieren.

3.4.

In der Mitteilung ist häufig zu lesen, dass auf die Stimmen vor Ort gehört werden muss, und dies ist rundum empfehlenswert. Unter bestimmten Umständen können diese Stimmen jedoch parteiisch oder von dem Konflikt bzw. den weiter gefassten Umständen, die den Konflikt ausgelöst haben, beeinflusst sein. Nicht zu unterschätzen ist die Herausforderung, in vielen Regionen für die Bereitschaft zu werben, dass Vertriebene dort längere Zeit bleiben können. Der vor kurzem erfolgte Beschluss, das seit 24 Jahren bestehende Flüchtlingslager von Dadaab in Kenia zu schließen sowie das Angebot finanzieller Anreize für afghanische Flüchtlinge in Pakistan veranschaulichen die hiermit verbundenen Herausforderungen. Es ist eine vielleicht traurige, aber unausweichliche Tatsache, dass das Recht des Aufnahmestaats Vorrang vor dem Völkerrecht hat, auch wenn eigentlich die Vertriebenen im Mittelpunkt stehen müssten.

3.5.

Da die Sicherheit konsequent als wesentlicher Motivationsgrund für die Menschen angesehen wird, zu bleiben oder zu gehen, hat das in der Mitteilung angesprochene Frühwarnsystem entscheidende Bedeutung. Auch viele Bewegungen werden als vorhersehbar angesehen. Damit wird das Erfordernis entschlossener politischer Maßnahmen und des Engagements für das Voranbringen der Ziele der Mitteilung noch verstärkt.

Gemeinsame Maßnahmen

3.6.

In der Mitteilung wird mit Recht auf die Notwendigkeit gemeinsamer Maßnahmen und gemeinsamer Konzepte insbesondere zwischen der Welt der Notfallmaßnahmen und der Welt der Entwicklungspolitik verwiesen. Der EWSA begrüßt dies nicht nur, sondern fordert zu noch mehr Ehrgeiz in dieser Richtung auf. Es könnte auch ein noch breiteres Spektrum politischer Maßnahmen ins Auge gefasst werden, mit denen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten das Leben der Vertriebenen verbessern könnten. Da die Länder klar definiert sind, könnten diese Maßnahmen Bereiche wie den Handel, Hilfe, Waffen und Menschenrechte umfassen. In der Mitteilung wird ferner ein deutlicher Schwerpunkt auf Synergien und gemeinsame Konzepte gelegt, was über die herkömmlichen Bereiche der Notfallmaßnahmen und der Entwicklungshilfe hinausgehen muss. Es wäre interessant zu erfahren, was andere Generaldirektionen der Kommission, wie etwa die GD TRADE, hierzu beitragen könnten. In der Mitteilung werden einige positive Beispiele angeführt, wie etwa der gemeinsame Rahmen für humanitäre Hilfe und Entwicklungsmaßnahmen für die Bekämpfung der Unterernährung im Norden Nigerias, jedoch müsste vor allem in Brüssel gezeigt werden, dass es sich um einen systematischen Ansatz handelt.

3.7.

Einige im Bereich der humanitären Hilfe tätige NGO bezweifeln, ob diese Aufgaben für die Helfer geeignet sind und ob die Besonderheit der humanitären Hilfe bei einem solchen Schritt beibehalten wird. Das in London ansässige Overseas Development Institute (ODI) sieht einen grundlegenden Reformbedarf des Systems der humanitären Hilfe angesichts der veränderten Umstände und der überwiegend begrenzten Zahl an Gebern und Empfängern.

Auch wenn es in der Kommissionsmitteilung heißt, dass mit der Umsetzung von „Ein Leben in Würde“ keine zusätzlichen Kosten verbunden sind, sollte die Möglichkeit, neue Finanzierungsquellen zu erschließen oder stärkere Synergien zu schaffen, nicht ausgeschlossen werden.

Die EU-Politik in Bezug auf Flüchtlinge und Asylsuchende

3.8.

In der Mitteilung „Ein Leben in Würde“ werden von der eigenen Politik der EU losgelöste und eigenständige Themen in Bezug auf Flüchtlinge und Asyl angesprochen. Ein gewisser Zusammenhang ist jedoch sehr wohl gegeben, insbesondere in Bezug auf eine spürbare und andauernde Neuansiedlungspolitik für eine bestimmte Zahl Vertriebener. Zudem ist die moralische Autorität der EU (und auch die einiger Mitgliedstaaten) in diesem Bereich nach dem Abschluss des Abkommens mit der Türkei ein wenig geschwächt, was das Einhalten der höchsten völkerrechtlichen Standards und bewährter Verfahrensweisen bei der Umsetzung dieser Mitteilung umso wichtiger macht. Wichtig ist auch die Einbeziehung der Endbegünstigten in die Umsetzung der Politik. Der soziale und der zivile Dialog bieten diesbezüglich großes Potenzial. Ferner müssen die integrationspolitischen Maßnahmen in der EU verbessert werden und sind für Vertreibung relevant, da die Neuansiedlung vieler Vertriebener eine Option sein muss. Hierzu zählen das Recht auf Arbeit, Unterstützung beim Spracherwerb und Schutz vor Diskriminierung. Die Schaffung „humanitärer Korridore“ in jüngster Zeit als Pilotprojekt insbesondere durch die italienische Regierung, aber auch durch andere EU-Mitgliedstaaten, die Schweiz, Kanada und die USA, ist in Bezug auf die Neuansiedlung durchaus empfehlenswert.

Beobachtung, Kontrolle und Rechenschaftspflicht

3.9.

Dass für die Finanzierung von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe die höchsten Maßstäbe für Rechenschaftspflicht und Transparenz angelegt werden müssen, ist selbstverständlich. Jeder Wechsel hin zu einem neuen Konzept für Vertriebene muss den höchsten Ansprüchen in Bezug auf die Rechenschaftspflicht genügen. Alle Ausgaben sollten vom Europäischen Parlament, dem Europäischen Rechnungshof, dem OLAF und dem Europäischen Bürgerbeauftragten sowie ggf. von entsprechenden nationalen Aufsichtsbehörden kontrolliert werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Auch wenn der Schwerpunkt der Mitteilung auf vergessenen Konflikten und Gebieten mit hohen Vertriebenenzahlen liegt, werden die Gebiete mit den meisten Langzeitvertriebenen hervorgehoben. Ungeachtet der politischen Sensibilität bestimmter Situationen verdienen einige Langzeitkonflikte besondere Aufmerksamkeit. Hier stechen die Fälle der Westsahara und der Palästinenser heraus. Auch die Lage in der Ukraine verdient aufgrund ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zur EU besondere Aufmerksamkeit.

4.2.

In der Mitteilung wird vortrefflich ausgesagt, dass der rechtliche Status von Vertriebenen unerheblich sein sollte, wenn es um humanitäre Hilfe und längerfristige Entwicklung geht; diese Aussage ist zu begrüßen. Unter bestimmten Umständen kann es jedoch förderlich sein, wenn ein rechtlicher Status Vertriebenen eine gewisse Sicherheit und Vorteile bringt, z. B. wenn sie die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 erfüllen, die Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaats oder eines Drittstaats besitzen, wenn ihre Kinder eine solche Staatsangehörigkeit besitzen, oder wenn sie selbst minderjährig sind oder sich in einer entsprechenden Lage befinden. Dies wäre z. B. besonders bei unbegleiteten Minderjährigen angezeigt.

4.3.

Das in der Mitteilung skizzierte Konzept könnte von einer externen oder unabhängigen Überprüfung sowie von akademischer Stringenz aus der Welt der Sozialwissenschaften oder der Psychologie profitieren. Als Beispiele für solche Konzepte könnten u. a. die Maslowsche Bedürfnishierarchie oder das Konzept der auf ihre Stärken gestützten Entwicklung von Gemeinschaften („assets-based community development“) herangezogen werden. Hier wären natürlich zahlreiche Beispiele zu nennen, doch muss der Schwerpunkt auf erweiterte menschliche Bedürfnisse über die reine Existenz hinaus gelegt werden.

4.4.

In der Mitteilung wird die operative Dimension des geplanten Politikwechsels in erster Linie durch aktuelle Beispiele aufgezeigt, die sehr wertvoll sind. Auch wenn die operative Dimension möglicherweise noch Zukunftsmusik ist, wäre sie es wert, verdeutlicht und entwickelt zu werden. Anders ausgedrückt: Wie soll sie aussehen, welche Instrumente sind geplant und wird sie nur durch Hilfe angetrieben? Dies sind wichtige Fragen für viele Interessenträger, wie etwa die Mitgliedstaaten, NGO, Entwicklungshelfer und natürlich die Vertriebenen selbst. Jede Veränderung kann Ängste hervorrufen. Unabhängig davon, ob ein System funktioniert oder nicht, gibt es bei einer Alternative in den meisten Fällen Gewinner und Verlierer; durch eine frühzeitige Festlegung der operativen Aspekte kann hierauf eingegangen werden.

4.5.

Auch wäre es wichtig, die geplante Umsetzung und Übertragung eines neuen Konzepts zu skizzieren, insbesondere in Bezug auf die betroffenen multilateralen Agenturen, Drittstaaten und NGO. Auch wenn die EU als ein wichtiger Akteur und vielleicht sogar als der wichtigste Akteur in diesem Bereich angesehen wird, ist sie nicht der einzige Akteur. Die anderen Interessenträger könnten andere und konkurrierende Prioritäten haben. Aufgrund der verschiedenen Fördertöpfe und Bemühungen, die bei den meisten Einsätzen zusammenkommen, ist eine gemeinsame Agenda von entscheidender Bedeutung.

4.6.

Demokratie und gute Regierungsführung sind entscheidend, damit Hilfe sinnvoll ist und bei den vorgesehenen Begünstigten tatsächlich ankommt. Die Rechtsstaatlichkeit bildet hier eine unverzichtbare Grundlage, ebenso wie die Korruptionsbekämpfung. Es wird davon ausgegangen, dass in der Vergangenheit mehr als 40 % der Mittel entweder für Waffenkäufe abgezweigt oder von führenden Politikern in die eigene Tasche gesteckt wurden. Durch Rechtsstaatlichkeit wird auch sichergestellt, dass die Zivilgesellschaft gehört wird und eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen kann, ohne deswegen Einschüchterungen oder sogar Freiheitsstrafen befürchten zu müssen.

4.7.

In der Mitteilung wird der Planung zu Recht erheblicher Raum gegeben; in diesem Bereich können sich die Ereignisse jedoch gelegentlich überschlagen, weswegen die Zeit ein ausschlaggebender Faktor sein kann. Jedes Konzept und alle operativen Pläne sollten flexibel an rasche Entwicklungen angepasst werden können.

4.8.

Wie in allen anderen Bereichen wird auch in der Mitteilung und an anderen Stellen eventuell eine Fachsprache bzw. Fachterminologie verwendet. Bei der Ausgestaltung der Politik sollte Fachjargon möglichst vermieden werden. Auch Synergien, Strategien, Plänen und gemeinsame Denkansätze wird erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt. In diesen Bereichen könnten konkretere Konzepte oder Anweisungen zum Einsatz kommen.

4.9.

Die Aussagen zum sozialen Dialog in der Mitteilung werden begrüßt und sollten bei allen einschlägigen Bestimmungen berücksichtigt werden. Bei den Komponenten Bildung und Arbeitsmarkt der vorgeschlagenen Maßnahmen könnte Selbstständigkeit und Unternehmertum mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Solche Aktivitäten sind in Vertriebenenlagern häufig zu beobachten, und Kreativität kann für die Menschen dort ein Ausweg aus ihrer Lage sein. Unterstützt wird dies vom Bericht der Weltbank über Vertreibung.

4.10.

Die Frage, welches Konzept in Zukunft angewandt werden soll, ist gerechtfertigt. Jeder Politikwechsel ist mit einem Übergang verbunden. Wird es einen Rückstand oder ein zweistufiges System geben? 25,1 Mio. Menschen gelten derzeit als Langzeitvertriebene. Wie wird auf veränderte Rahmenbedingungen reagiert werden, wenn sich an dieser Lage nichts ändert?

4.11.

Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf der lokalen Ebene sowie der Endbegünstigten (der Vertriebenen) muss bedacht werden. In den meisten Lagern gibt es Konsultationsstrukturen, aber wie sieht es damit in den Aufnahmeländern aus? Dies könnte sich als erhebliche Herausforderung herausstellen, sollte aber dennoch Teil eines Politikwechsels sein. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie schwierig dies für Binnenvertriebene in vielen Konflikten sein mag.

4.12.

Wie bei jedem größeren Politikwechsel und insbesondere angesichts der erforderlichen Transparenz sollten Kontrollmaßnahmen für das neue Konzept vorgesehen werden, an denen einschlägige zivilgesellschaftliche Akteure und NGO beteiligt werden sollten. Diesbezüglich könnten die zivilgesellschaftlichen Überwachungsmechanismen, die in bestehenden EU-Handelsabkommen für die Kapitel Handel und nachhaltige Entwicklung vorgesehen sind, hilfreich sein.

4.13.

Die Regionen müssen wirtschaftlich wiederbelebt werden, wenn dies den Vertriebenen, die sich hier aufhalten, zugutekommen soll. Die Regionen, auf die sich Vertreibung konzentriert, zählen jedoch zu den ärmsten Regionen weltweit und bieten ferner ein nicht sonderlich unternehmensfreundliches Umfeld und keinen guten Sozialschutz. Auch hier sollte die geografische Konzentration von Vertreibung Lösungen bieten, wie z. B. regionale Investitionspläne, die Steuerpolitik und der Infrastrukturausbau. Auch das Unternehmertum sollte bei Konzepten für die wirtschaftliche Entwicklung stärker gefördert werden. Ferner müssen würdige Arbeitsbedingungen und hochwertige Arbeitsplätze neben der Einbeziehung der Sozialpartner Vorrang erhalten.

4.14.

Viele der Regionen und Länder, die Vertriebene aufnehmen, schneiden bei den meisten Wirtschaftsindikatoren schlecht ab und bieten kein sonderlich unternehmensfreundliches Umfeld. U. a. weist die Weltbank auf den Bedarf an aussagekräftigen Daten hin. Wirtschaftliche Chancen müssen im Zentrum einer auf Entwicklung basierenden Reaktion auf Vertreibung stehen, und damit wird noch deutlicher, dass für die aktive Unterstützung der in der Mitteilung genannten Ziele weitere Akteure in der EU gewonnen werden müssen.

4.15.

Die Beschäftigung durch zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort und in den Lagern gilt derzeit als gängige und bewährte Verfahrensweise auch in den allgemeinen Reaktionen auf Vertreibung. Dies sollte ein wichtiger und deutlicher Aspekt der Maßnahmen in Bezug auf die Beschäftigung sein.

4.16.

Bei den Maßnahmen im Gesundheitsbereich sollten die psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen besonders berücksichtigt werden — dieser äußerst wichtige Bereich wird bei Vertriebenen häufig vernachlässigt. Die meisten Vertriebenen leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Störungen, die durch ihre anstrengende Flucht ausgelöst wurden. Die systematische und langfristige Versorgung ihrer psychischen Gesundheit in den Aufnahmeländern wird durch den Mangel an medizinischen Fachkräften behindert. Dieser Mangel könnte ausgeglichen werden, indem Vertriebene mit psychischen Erkrankungen an den öffentlichen Diensten für psychologische Betreuung beteiligt werden und indem zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützt werden, die vor Ort psychologische Beratungsdienste für Vertriebene anbieten.

4.17.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen — insbesondere Artikel 11 — sollte als Leitdokument für den Umgang mit vertriebenen Menschen mit Behinderungen dienen.

4.18.

Die Auswirkungen von Vertreibung zeigen sich insbesondere bei Frauen und Mädchen. Auch wenn mehr Informationen erforderlich sind, sind die größten Probleme die steigende Gefahr von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie von Menschenhandel. Zudem sollte die Geschlechtersensibilität bei der Erbringung von Dienstleistungen, beispielsweise in Bezug auf die Privatsphäre, beachtet werden. Auch ein höheres Risiko für Schwangerschaftskomplikationen wurde beobachtet.

4.19.

Selbstverständlich ist die Bereitstellung von Bildungsangeboten eine ganz wesentliche Reaktion. Jeder Wechsel hin zu einem wirksameren und längerfristigen Konzept sollte sich in der Art, der Höhe und der Intensität der Unterstützung für die Bildung widerspiegeln. Ein Konzept des lebenslangen Lernens könnte diesbezüglich dabei helfen, der Verschiedenartigkeit der Bedürfnisse gerecht zu werden. Angesichts der Bedeutung und der Menge der Kinder und Jugendlichen unter den Vertriebenen sollte erwogen werden, EU-Programme auf junge Vertriebene auszuweiten, z. B. das Programm Erasmus+ oder andere einschlägige Programme.

4.20.

Das Thema Vertreibung hat zunehmend Einfluss auf die Städte und bleibt nicht auf die Lager beschränkt. In dieser Hinsicht gilt es, einen Wandel in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Geber zu bewirken. Das Bündel von Maßnahmen für einen Wechsel hin zu einem auf Entwicklung basierenden Konzept muss dies in Bezug auf die Planung und Themen wie Wohnraum, Verkehr, Gesundheit und Bildung deutlich erkennbar werden lassen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


10.3.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „Eine integrierte Politik der Europäischen Union für die Arktis“

(JOIN(2016) 21 final)

(2017/C 075/24)

Berichterstatter:

Stéphane BUFFETAUT

Befassung

Europäische Kommission, 27.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

16.11.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

14.12.2016

Plenartagung Nr.

521

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

218/1/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der Bedeutung der Arktisregion für die Europäische Union und insbesondere für das Königreich Dänemark, Finnland und Schweden, die Mitglieder des Arktischen Rates sind, wohl bewusst.

1.2.

Der EWSA ist sich jedoch auch bewusst, dass die Europäische Union lediglich die Beratungen des Arktischen Rates beobachten darf, auch wenn sie mittlerweile de facto mehr als eine reine Beobachterrolle ausübt. Der EWSA hat bereits früher eine stärkere Rolle der EU in der Arktis gefordert (siehe Stellungnahme REX/371, Berichterstatter: Herr Hamro-Drotz (1)).

1.3.

Der EWSA unterstreicht, dass die EU Mitglied oder Teilnehmer anderer internationaler Gremien ist, die sich ebenfalls mit Problemen der Arktis befassen, und ihren Einfluss daher ausweiten kann, insbesondere in Verbindung mit dem Klimawandel, Meeres- und Seerechtsübereinkommen, der Fischerei und bestimmten Aspekten der Weltraumpolitik.

1.4.

Diese Mitteilung setzt bei den drei Schwerpunktbereichen Klimawandel, nachhaltige Entwicklung und internationale Zusammenarbeit an. Da ein Erfolg aber von den Ergebnissen der internationalen Zusammenarbeit abhängt und für die Vertreter der in der Region lebenden Völker die nachhaltige Entwicklung Vorrang hat, schlägt der EWSA vor, die Reihenfolge dieser Ziele aus Gründen der Verständlichkeit und Effizienz umzukehren, zumal die Ziele und Vorhaben der Kommission lobenswert sind und die damit verbundenen Absichten kaum Anlass zu Kritik geben dürften.

1.5.

Eine der Folgen des Klimawandels ist die Öffnung neuer Seewege im Norden, u. a. der legendären „Nordwestpassage“, nach der Chateaubriand bereits Ende des 18. Jahrhunderts vergeblich gesucht hatte. Diese Entwicklung eröffnet konkrete Möglichkeiten für die Schifffahrt, die Fischerei und sogar den Bergbau; dadurch steigt wiederum das Risiko von Schiffsunglücken oder Bohrunfällen, für die es vor Ort keine geeigneten Rettungsinfrastrukturen gibt. Der EWSA empfiehlt daher, Fragen der Sicherheit und Gefahrenabwehr nicht nur im Verkehr, sondern auch bei Bohrarbeiten größte Bedeutung beizumessen, und betont, dass die Umweltfolgen der durch die Eisschmelze bedingten Öffnung dieser Seewege noch nicht abzuschätzen sind.

1.6.

In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, dass die Errichtung von Galileo zur Überwachung und Verhütung von Schiffsunglücken und Verschmutzung beitragen und sich insbesondere für die Arktis als nützlich erweisen kann. Der EWSA unterstreicht außerdem, dass neben der Umwelt- und Klimapolitik auch andere EU-Politiken arktisrelevante Überlegungen beinhalten, insbesondere die EU-Strukturpolitik, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Fischereipolitik und die Meerespolitik.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA sollten die Grundsätze der verantwortungsvollen Fischerei in der Arktis Anwendung finden; die mögliche Entwicklung des Tourismus und weiterer Wirtschaftstätigkeiten sollte im Zeichen von Verantwortungsbewusstsein und Schutz dieser empfindlichen und anfälligen Region stehen, die durch die Erwärmung der nördlichen Hemisphäre bereits stark beeinträchtigt ist.

1.8.

Der EWSA unterstreicht darüber hinaus, dass die Arktis-Völker zum einen zwar ihre Kultur erhalten, zum anderen aber auch von den Möglichkeiten einer nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung profitieren wollen, was wiederum eine Verbesserung der materiellen und immateriellen Kommunikationsmittel erfordert. Der EWSA spricht sich für eine aktive Rolle der Zivilgesellschaft zur Förderung der Interessen und Anliegen der Arktis-Bewohner aus, die nicht Zuschauer, sondern Gestalter der Arktispolitik sein müssen. Der EWSA spricht sich dafür aus, die Ressourcen der Arktis, die das natürliche Kapital der künftigen Generationen sind, stärker zu schützen und die derzeit stattfindenden Veränderungen der Umwelt in der Region als Indikator für die europäischen und weltweiten Fortschritte im Bereich des Klimaschutzes zu sehen. Der Schutz der Arktisregion und die Bekämpfung des Klimawandels dürfen nicht ohne Berücksichtigung ihrer Einwohner erfolgen oder zu ihren Lasten gehen.

1.9.

Die Ziele der integrierten Arktispolitik der Europäischen Union können nicht ohne die Zustimmung und die Unterstützung von Staaten verfolgt werden, die keine EU-Mitglieder sind und dies auch niemals sein werden. Einige von ihnen sind internationale Supermächte, deren wirtschaftliche und strategische Ziele sich nicht unbedingt mit denen der EU decken. Der Erfolg und die konkrete Wirkung der Arktispolitik hängen daher vom diplomatischen Geschick der EU und ihrer Fähigkeit ab, diese Ziele zu einem übergreifenden Anliegen ihres diplomatischen Handelns in Bereichen zu machen, die über die Arktis als solche hinausgehen, sowie ihrem Vermögen, andere Staaten von ihren Standpunkten zu überzeugen. Die internationale Zusammenarbeit ist und bleibt das Kernstück jedweder Arktispolitik.

2.   Einleitung

2.1.

Acht Staaten sind arktische Staaten, darunter drei EU-Mitgliedstaaten, und zwar das Königreich Dänemark, Finnland und Schweden, sowie die Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums Island und Norwegen; die weiteren Staaten sind Kanada, die Vereinigten Staaten und Russland. Diese acht Staaten haben mit der Erklärung von Ottawa aus dem Jahr 1996 den Arktischen Rat gegründet, dessen Ziel die Förderung der nachhaltigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung der Region ist.

2.1.1.

Ohne in die Zuständigkeiten ihrer Mitgliedstaaten eingreifen zu wollen, hat die EU daher selbstredend ein Interesse an der Arktis als wichtiges strategisches Gebiet. Die Kommission legt indes einen deutlichen Schwerpunkt auf die Klimafrage, da diese Region der Welt eine äußerst wichtige Rolle für das Klima spielt und zugleich unter den Folgen des Klimawandels leidet. Jüngsten Studien zufolge schreitet die Erwärmung in der Arktis doppelt so schnell voran wie im Rest der Welt. Zudem ist die Arktis nicht nur selbst vom Klimawandel betroffen, sondern trägt auch ihrerseits stark zum Klimawandel bei. In der Arktis sind mehrere indigene Völker beheimatet.

2.1.2.

Die Europäische Union als solche ist allerdings nicht Mitglied des Arktischen Rates, verfügt indes über eine ständige Einladung, den Beratungen als Beobachter beizuwohnen; Beobachterstatus haben Deutschland, China, Südkorea, Spanien, Frankreich, Indien, Italien, Japan, die Niederlande, Polen, das Vereinigte Königreich und Singapur. Die EU hat 2008 den Status eines ständigen Beobachters beantragt. Es gibt noch keinen endgültigen Beschluss über diesen Antrag. Die große Zahl der Staaten mit Beobachterstatus in diesem Rat zeigt, dass die internationale Gemeinschaft der Arktisfrage hohe Bedeutung beimisst.

2.1.3.

„Ständige Teilnehmer“ sind hingegen die Vertretungen und Verbände der indigenen Völker (Samen (Saami Council), Aleuten (Aleut International Association), indigene Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens Russlands (Russian Association of Indigenous Peoples of the North), Alaska Athabasken (Arctic Athabaskan Council) usw.), was von dem echten Willen zeugt, das Schicksal und die Entwicklungserfordernisse dieser Völker zu berücksichtigen, die zwar nur wenige Angehörige zählen, aber in der Arktis leben und eine ausgeprägte eigenständige Kultur besitzen.

2.2.

Für die EU-Politik zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Begrenzung der Erderwärmung scheint in der Arktisregion ein prioritäre Anwendungsbereich zu bestehen; allerdings ist die EU nicht alleiniger Akteur und somit auf Mächte angewiesen, deren Prioritäten eher auf Militär- und Wirtschaftsstrategien sowie den Seeverkehr ausgerichtet sind. Überdies hat sich der Arktisrat bislang in erster Linie mit der Frage der Entwicklung der Region beschäftigt, immerhin aber aus dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit.

2.3.

Der Klimawandel kann erhebliche Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der in dieser Region lebenden Völker haben. Es steht außer Frage, dass die Klimapolitik nicht gegen, sondern mit den Völkern und für sie gestaltet werden muss.

2.4.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Arktis für die EU ist nicht unerheblich. So ist die EU Abnehmer zahlreicher aus der Arktis stammender Produkte, insbesondere Fischereierzeugnisse und Energie. Auch die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen der Öffnung neuer Seewege müssen berücksichtigt werden. Alle diese Punkte gelten natürlich nicht nur für die Europäische Union, sondern auch für die in der Region vertretenen Staaten. So haben die Vereinigten Staaten Genehmigungen für Ölbohrungen in der Arktis erteilt.

2.5.

Die Kommission gliedert ihr Dokument in drei Schwerpunktbereiche, die ihren Prioritäten entsprechen. Es stellt sich jedoch die Frage nach deren Relevanz:

Bekämpfung des Klimawandels und Schutz der arktischen Umwelt;

Förderung einer nachhaltigen Entwicklung;

Förderung der internationalen Zusammenarbeit in Arktis-Fragen.

2.6.

Der letzte Punkt ist von entscheidender Bedeutung und eine Voraussetzung für die ersten beiden, da die EU nur über drei Mitgliedstaaten unmittelbar betroffen ist und sich mit den drei Großmächten USA, Russland und Kanada ins Benehmen setzen muss, die alle drei beträchtliche wirtschaftliche und strategische Interessen in der Arktis verfolgen. Auch die asiatischen Staaten, insbesondere China, Japan, Südkorea und Singapur, zeigen großes Interesse an der Region.

2.7.

Zudem muss die Frage nach dem Stellenwert von Klima- und Umwelterwägungen gestellt werden, die zwar ein wichtiges Anliegen der Kommission, nicht aber notwendigerweise auch der internationalen Partner der EU sind, die der nachhaltigen Entwicklung zwar durchaus große Bedeutung beimessen, ihr aber keine Priorität einräumen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Kommission räumt der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels für die Arktis eindeutig Vorrang ein. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Fragen des Abtauens des Permafrosts, dessen Auswirkungen in Bezug auf Methan- und CO2-Emissionen verheerend sein können, und dem Schutz der Ökosysteme der Arktis. Diese Anliegen sind verständlich, doch der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme liegt nicht allein bei der EU.

3.2.

Die Kommission betont die Bedeutung der Forschung und der Beobachtung der Arktis, um besser für diese Herausforderungen gerüstet zu sein, und verweist auf die dafür bereitgestellten Finanzmittel. Sie unterstreicht, dass es einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit bedarf und spricht sich für einen transnationalen Zugang zu Forschungsinfrastrukturen und Datenressourcen aus.

3.2.1.

Dadurch wird noch einmal deutlich, dass die Wirksamkeit der EU-Politik von der Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit abhängt.

3.2.2.

Die Kommission stellt den Sonderfall Arktis in den übergeordneten Zusammenhang der EU-Klimaziele. In der Praxis steht sie vor dem allgemeinen Dilemma, dass ihr Handeln keine Wirkung zeigen kann, wenn ihre Ziele nicht auch auf internationaler Ebene und insbesondere von den arktischen Staaten verfolgt werden, selbst wenn sie dafür ganz konkret die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) einsetzt. Die Ratifizierung des Übereinkommens von Paris über den Klimawandel sollte die Wirksamkeit der Maßnahmen und Aktivitäten in der Arktisregion stärken.

3.3.

Die Kommission fordert zu Recht einen stärkeren Schutz der biologischen Vielfalt, die Einrichtung geschützter Meeresgebiete sowie die Bekämpfung der Belastung mit Schwermetallen und Schadstoffen. Allerdings sind geschützte Meeresgebiete auf hoher See kaum wirksam, mit Ausnahme des Verbots der Fischerei, weil Meeresgebiete naturgemäß nicht überwacht und geschützt werden können, da sich sowohl das Wasser als auch die dort lebenden Arten in ständiger Bewegung befinden.

3.4.

Die Kommission unterstreicht ebenso die notwendige internationale Zusammenarbeit im Bereich der Erdgas- und Erdölaktivitäten, insbesondere zur Verhütung schwerer Unfälle. Auch hier hängt die Wirksamkeit von den internationalen Beziehungen zu den anderen Staaten ab, die in der Arktis tätig sind. Diesbezüglich sollte darauf hingewiesen werden, dass die schwierigen Beziehungen zu Russland keine negativen Auswirkungen auf die Arktis gehabt haben, wo die Zusammenarbeit zufriedenstellend verläuft.

3.5.

Die riesige und dünn besiedelte Arktis verfügt über keine guten Verkehrsverbindungen, ist jedoch reich an einer Vielfalt von Ressourcen — Fische, Mineralien, Erdöl und Erdgas —, die Begehrlichkeiten wecken könnten. Die Kommission spricht sich für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung aus, die umso notwendiger ist, als die natürlichen Räume anfällig und durch den Klimawandel gefährdet sind. Die natürlichen Ressourcen der Arktis müssen als Zukunftsressourcen geschützt und gleichzeitig die Interessen der Arktis-Völker gewahrt werden. Der EWSA spricht sich dafür aus, die Ressourcen der Arktis, die das natürliche Kapital der künftigen Generationen sind, stärker zu schützen und die derzeit stattfindenden Veränderungen der Umwelt in der Region als Indikator für die europäischen und weltweiten Fortschritte im Bereich des Klimaschutzes zu sehen. Der Schutz der Arktisregion und die Bekämpfung des Klimawandels dürfen nicht ohne Berücksichtigung ihrer Einwohner erfolgen oder zu ihren Lasten gehen.

3.6.

Die EU sollte die Einführung innovativer Technologien in der Arktis unterstützen, insbesondere um den strengen arktischen Wintern standzuhalten. So könnte das Programm „InnovFin“ in der Arktis Anwendung finden. Die Kommission spricht sich auch für einen effektiven Zugang zum Binnenmarkt aus, der derzeit jedoch noch in weiter Ferne liegt. Es sind indes auch andere EU-Politiken betroffen: die Gemeinsame Agrarpolitik, die Fischereipolitik und die Meerespolitik.

3.7.

Die Kommission will ein Forum einrichten, um die Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den verschiedenen Finanzierungsprogrammen zu stärken; dieses Forum würde dann die Investitions- und Forschungsprioritäten festlegen.

3.7.1.

Ergänzend dazu soll im Rahmen von Interreg ein Netz von Verwaltungsbehörden und Interessenträgern geknüpft werden und in der Folge eine jährliche Konferenz der Interessenträger der Arktis stattfinden. Diese Überlegung ist interessant, sofern eine flexible, reaktive und anpassungsfähige Durchführung möglich ist.

3.8.

In Bezug auf die Investitionen legt die Kommission das Augenmerk vor allem auf das Verkehrsnetz, das notwendig ist, um der Arktis aus ihrer Isolierung zu helfen. Sie weist darauf hin, dass die nördlichen Teile Finnlands, Schwedens und Norwegens zum transeuropäischen Verkehrsnetz (TEN-V) gehören. Dieser Aspekt ist für die Anbindung der Region an den Rest der Welt von entscheidender Bedeutung.

3.9.

Aufgrund der Größe der Arktis und ihrer geringen Bevölkerungsdichte ist der Einsatz von Weltraumtechnologie besonders sinnvoll. Das Programm Copernicus und das europäische globale Satellitennavigationssystem Galileo sind daher von größtem Wert für diese Region. Der Ansatz der Kommission in diesem Bereich ist somit voll und ganz zu unterstützen.

3.10.

Die Eisschmelze hat zur Öffnung der Nordostpassage geführt; es gilt nun, die Sicherheit des Seeverkehrs auf diesen neuen Routen zu gewährleisten. Der EWSA begrüßt den diesbezüglichen Ansatz der Kommission ausdrücklich. Außerdem erachtet er die Einrichtung des Forums der arktischen Küstenwachen als sinnvoll.

3.11.

Der Erfolg der internationalen Zusammenarbeit hängt vom Gelingen oder Scheitern der politischen Maßnahmen ab.

3.11.1.

Die Kommission nennt die verschiedenen Rechtsinstrumente und einschlägigen Gremien und betont, dass die EU sich darin tatkräftig engagieren muss, weist aber auch auf die Notwendigkeit der bilateralen Zusammenarbeit hin, insbesondere mit den wichtigen Akteuren wie den Vereinigten Staaten, Russland und Kanada, aber auch mit Grönland und einigen asiatischen Staaten, die ein äußerst großes Interesse an der Arktis haben.

3.12.

Die Kommission unterstreicht, dass es eines Dialogs mit der indigenen Bevölkerung als den Hauptbetroffenen bedarf, die nicht unter den Folgen einer Politik leiden sollten, die ihren Interessen zuwiderläuft, insbesondere im Hinblick auf eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region. Die Zivilgesellschaft muss daher ihrer Rolle gerecht werden, damit die Anliegen der indigenen Völker sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht wirklich berücksichtigt werden. Der EWSA könnte diesbezüglich die Rolle eines „Sprachrohrs“ in der EU übernehmen.

3.13.

Auf wirtschaftlicher Ebene begrüßt die Kommission in diesem Sinne die von fünf Arktis-Anrainerstaaten unterzeichnete Erklärung über die Fischerei in der Arktis, weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die Frage nicht nur die Anrainerstaaten betrifft.

3.14.

In Bezug auf die Forschung tritt die Kommission für eine verstärkte wissenschaftliche Zusammenarbeit ein, insbesondere im Rahmen der Transatlantic Ocean (and Arctic) Research Alliance, und möchte bis 2020 eine Karte des gesamten Meeresbodens erstellen. Dies ist ein Ziel von großer wissenschaftlicher Bedeutung, das als solches zu begrüßen ist, dessen Auswirkungen jedoch über rein wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgehen und sowohl die Aspekte Sicherheit als auch Verkehr oder wirtschaftliche Nutzung betreffen.

Brüssel, den 14. Dezember 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 26.