ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 389

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

59. Jahrgang
21. Oktober 2016


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

2016/C 389/01

Entschließung zu dem Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm der Kommission für 2017

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

2016/C 389/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Auswirkungen der möglichen Gewährung des Marktwirtschaftsstatus an China auf Schlüsselindustrien (und auf Beschäftigung und Wachstum) (im Hinblick auf Handelsschutzinstrumente) (Initiativstellungnahme)

13

2016/C 389/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Schaffung eines Bündnisses der Zivilgesellschaft und der subnationalen Gebietskörperschaften zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris (Initiativstellungnahme)

20

2016/C 389/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die digitale Säule des Wachstums: E-Senioren, ein Potenzial in einer Größenordnung von 25 % der europäischen Bevölkerung (Initiativstellungnahme)

28

2016/C 389/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Europäische Bürgerinitiative (Überarbeitung) (Initiativstellungnahme)

35


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

2016/C 389/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer — Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen [COM(2016) 148 final]

43

2016/C 389/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Industrie 4.0 und digitaler Wandel: wohin der Weg geht [COM(2016) 180 final]

50

2016/C 389/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Die Stahlindustrie: Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa [COM(2016) 155 final]

60

2016/C 389/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit technischen Maßnahmen für die Erhaltung der Fischereiressourcen und den Schutz von Meeresökosystemen, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1098/2007 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und (EU) Nr. 1343/2011 und (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 894/97, (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 2549/2000, (EG) Nr. 254/2002, (EG) Nr. 812/2004 und (EG) Nr. 2187/2005 des Rates [COM(2016) 134 final — 2016/0074 (COD)]

67

2016/C 389/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels [COM(2016) 87 final]

74

2016/C 389/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Bereitstellung von Düngeprodukten mit CE-Kennzeichnung auf dem Markt und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1069/2009 und (EG) Nr. 1107/2009 [COM(2016) 157 final — 2016/0084 (COD)]

80

2016/C 389/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine Luftfahrtstrategie für Europa [COM(2015) 598 final]

86

2016/C 389/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/50/EG des Rates und der Richtlinie 91/672/EWG des Rates [COM(2016) 82 final — 2016/0050 (COD)]

93


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/1


Entschließung zu dem Beitrag des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Arbeitsprogramm der Kommission für 2017

(2016/C 389/01)

2017 — Neue Dynamik und mehr Solidarität in Europa

Grundsatzerklärung

Der EWSA bedauert die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs für den Austritt aus der EU. Es war dies eine demokratische Entscheidung und ein legitimer Beschluss, aber die Folgen werden nicht nur von einem gespaltenen Vereinigten Königreich, sondern auch von der gesamten EU zu tragen sein. Nun werden lange und schwierige Verhandlungen eröffnet werden, um die Bedingungen für diesen Austritt festzulegen. Noch ist nicht bekannt, wie und wann Artikel 50 des Vertrags von Lissabon umgesetzt wird, aber der EWSA fordert einen raschen Beginn der Verhandlungen, um die derzeitige Unsicherheit über die Zukunft der EU und ihre institutionelle und politische Struktur auszuräumen. Die Reaktion der Finanzmärkte spricht eindeutig dafür, dass erneut eine Rezession (nicht nur im Vereinigten Königreich) wahrscheinlich ist, und dass die EU umgehend handeln muss.

Der EWSA fordert, an den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich umfassend beteiligt zu werden. Es liegt auf der Hand, dass das Votum der britischen Bürger ein neuer, dringlicher Weckruf für die Organe und Einrichtungen der EU ist; die Bürger fordern, am EU-Entscheidungsprozess beteiligt zu werden, und die Auswirkungen des Brexit sind eine zentrale Frage, die mit umfassender Unterstützung seitens der Bürger — auch der der anderen EU-Mitgliedstaaten — bewältigt werden muss. Der EWSA als Vertretungsorgan der organisierten Zivilgesellschaft ist bereit, aktiv an diesem Prozess mitzuwirken.

Schließlich ist der EWSA davon überzeugt, dass die Europäische Kommission die zehn Prioritäten ihres Programms überdenken und auch der Notwendigkeit einer dringlichen Bewältigung des Brexit mit all seinen institutionellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen Rechnung tragen sollte.

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist zutiefst besorgt über den derzeitigen Zustand der Europäischen Union. In der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Situation und angesichts des zunehmenden Misstrauens europäischer Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Integrationsprozess der EU sollte sich die Kommission für die Wiederherstellung des Geistes von Solidarität und Verantwortung einsetzen, wie sie dies bereits in ihrem Arbeitsprogramm für 2016 bekräftigt hat. Immer deutlicher wird erkennbar, dass die Mitgliedstaaten nicht willens sind, gemeinsame und kohärente Lösungen zu finden. Gleichzeitig muss es ein zentrales Anliegen der EU-Politik sein, die Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass sie Verantwortung für die Ziele der Europäischen Union tragen.

2.

Die Flüchtlingskrise verlangt dringende humanitäre Hilfe. Ebenso verdienen jedoch die Schwierigkeiten der europäischen Regierungen besondere Aufmerksamkeit, Lösungen zu entwickeln, die von allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern — die sich unsicher und verängstigt fühlen — mitgetragen werden. Sichere legale Korridore müssen eröffnet werden und die EU muss alles daran setzen, zu einem gemeinsamen Asylsystem zu kommen und die neuen politischen und legislativen Initiativen vom Mai und Juli 2016 abzuschließen. Die Europäische Kommission sollte sich stärker um die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Bereich Migration und Asyl bemühen und eine verantwortliche Verwaltung des Schengen-Raums sicherstellen, um das gegenseitige Vertrauen und die Stabilität des Raums der Freizügigkeit wiederherzustellen. Eine Infragestellung des Schengener Übereinkommens würde das europäische Einigungswerk in seinen Grundfesten erschüttern und seinen Fortschritt bremsen. Die berechtigte Forderung nach einer stärker reglementierten Kontrolle und Verwaltung der Außengrenzen unter strenger Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, das legitime Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit und die Forderung einer engeren Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terrorismus können nicht bedeuten, dass innerhalb der EU neue Grenzen errichtet werden und die Freizügigkeit der Menschen eingeschränkt wird.

3.

Noch beunruhigender ist die Ausbreitung antieuropäischer Ansichten und die zunehmende Vertretung fremdenfeindlicher und populistischer Bewegungen in nationalen Parlamenten und in der Gesellschaft insgesamt, wodurch die demokratischen Werte in Europa bedroht werden. In einigen Mitgliedstaaten sind diese Bewegungen so stark, dass sie Einfluss auf die Regierung nehmen können. Diese Feindseligkeit gegenüber Europa insgesamt kann zu einer gefährlichen Debatte über Opt-out-Verfahren für Regierungen auf der Grundlage ihrer jeweiligen aktuellen politischen Bedürfnisse führen, wie die Brexit-Debatte gezeigt hat. Die EU muss diesen protektionistischen und nationalistischen Tendenzen begegnen, indem sie sich mit ihnen auch auf einer kulturellen Ebene auseinandersetzt.

4.

Wir dürfen jedenfalls die bisherigen Errungenschaften der EU nicht vergessen oder untergraben. Die wirtschaftliche Integration muss nun gemeinsam mit einer stärkeren politischen und sozialen Integration vollendet werden. Der Binnenmarkt ist eine zentrale Komponente der europäischen Integration, und sein Funktionieren muss auf jeden Fall sichergestellt werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen diesen Fortschritt aktiv mitgestalten. Der Dialog auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene muss intensiviert und strukturiert werden, und zwar mit Hilfe der Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner, die für die Neugestaltung des europäischen Weges von zentraler Bedeutung sind.

5.

Bei diesem kulturellen Wandel haben die Anliegen junger Menschen Vorrang, da sie am stärksten von Arbeitslosigkeit bedroht sind, andererseits aber auch das größte Potenzial für die Überwindung der Krise bieten. Dank der gewonnenen Erfahrungen zeigt die „Generation Erasmus“ eine große Offenheit und Bereitschaft, sich mit unterschiedlichen Menschen und Kulturen auszutauschen und mit ihnen zusammenzuwachsen. Aus diesem Grund muss die Kommission Chancen bieten, die über die bescheidenen Ergebnisse der Jugendgarantie hinausgehen, damit alle jungen Menschen unabhängig von ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit vom europäischen Austausch profitieren können.

6.

In einem wirtschaftlichen und sozialen Klima, das von lang anhaltender Unsicherheit geprägt ist, muss die Kommission unbedingt alle verfügbaren Ressourcen aufbieten, um das Wachstum anzukurbeln und die Entstehung hochwertiger Arbeitsplätze sowie den sozialen Fortschritt voranzubringen. Finanzielle, produktive und soziale Investitionen sind noch weit von den Vorkrisenniveaus entfernt. Erforderlich ist ein wachstumsfreundliches makroökonomisches Umfeld, das durch ein günstiges Investitionsklima in einem reibungslos funktionierenden Binnenmarkt geprägt ist. Alle Aspekte der internationalen Wettbewerbsfähigkeit müssen auf den Prüfstand; eine höhere Binnennachfrage kann europäische Unternehmen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger machen und eine positive Dynamik auslösen, die allen zugutekommt.

7.

Die wirtschaftspolitische Steuerung muss auf Wachstum und sozialen Fortschritt ausgerichtet sein und dabei alle Prioritäten umsetzen, die in der Mitteilung der Kommission „Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ und im Jahreswachstumsbericht 2016 formuliert sind. Bei den länderspezifischen Empfehlungen sollte die Flexibilität innerhalb der bestehenden Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts besser genutzt werden, um das Wachstum zu stimulieren. Die Mitverantwortung für das Europäische Semester muss gestärkt werden, wobei die Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit einzubeziehen und die Spezifizität der Sozialpartner auf europäischer und nationaler Ebene anzuerkennen ist.

8.

Die aktualisierte Strategie Europa 2020 sollte an die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren neu formulierten Zielen für eine nachhaltige Entwicklung anknüpfen. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte sind als untrennbare und einander bedingende Komponenten anzusehen, und es sind erneute Anstrengungen zur Erreichung dieser gesellschaftlichen Ziele, bei denen die EU im Rückstand ist, erforderlich.

9.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Führungsfunktion bei der Konsensfindung und der Förderung des Engagements im Europäischen Parlament und im Rat auszuüben, um die interne und externe Agenda der EU durchzusetzen.

10.

Vor diesem Hintergrund fordert der EWSA die Kommission auf, den Schwerpunkt ihres Arbeitsprogramms für 2017 auf die drei folgenden strategischen Bereiche zu legen und anzuerkennen, dass die interne und externe Dimension sowie die wirtschaftliche, soziale und ökologische Dimension nicht voneinander getrennt werden können:

10.1.    Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der EU

Um einen Investitionsplan zu erreichen, dessen Volumen mindestens 2 % des BIP der EU ausmacht, empfiehlt der EWSA fiskalpolitische Anreize, u. a. durch öffentliche Investitionen, die auf Investitionen zur Stimulierung von Innovation und Wachstum abzielen und die Bereichen wie Energie, Verkehr und Breitbandinfrastruktur, Digitalisierung, kohlenstoffarme Kreislaufwirtschaft, Sozialwirtschaft und Kompetenzen für unternehmerische Initiative sowie hochwertige Arbeitsplätze Priorität einräumen. Die Nutzung europäischer Fonds sollte mit diesen Zielsetzungen im Einklang stehen. Gefördert werden müssen nachhaltige Unternehmen und industrielles Wachstum ebenso wie ein zielgerichteter Plan für KMU.

Was den Prozess des Europäischen Semesters anbelangt, fordert der EWSA die Kommission auf, bei der Abfassung der länderspezifischen Empfehlungen für den sozialen Bereich alle sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen Zielsetzungen genau beizubehalten und zu berücksichtigen, damit konkrete Ergebnisse beim Erreichen der Ziele der Strategie Europa 2020 sowie im Kampf gegen Armut und Ungleichheit erzielt werden können.

Die Vollendung des Binnenmarkts setzt ein klares Bekenntnis der Kommission zu den für 2016 gesetzten Prioritäten voraus. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit sollte eine Priorität bleiben; faire Mobilität bedeutet, dass die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß dem EU-Besitzstand für europäische Arbeitnehmer eingehalten werden.

Die Aufnahme des Grundsatzes „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort“, wie von Kommissionspräsident Juncker erklärt, in den Rechtsrahmen für Arbeitsmobilität in der EU wird derzeit im EWSA erörtert. Der Ausschuss hat bereits seine Bedenken bezüglich der Verzerrungen geäußert, die die Integration in den Arbeitsmarkt und den fairen Wettbewerb unterminieren können.

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist das Herzstück des Binnenmarkts, und der EWSA dringt auf die Weiterentwicklung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Säulen. Der Euroraum einschließlich jener Länder, die beitreten wollen, braucht eine stärkere Identität.

Um die Chancen der Digitalisierung nutzen zu können, sind auf vielen Gebieten Maßnahmen erforderlich. Der EWSA fordert die Kommission auf, ein regelmäßiges Konsultationsverfahren einzuführen, um die Auswirkungen auf die qualitativen und quantitativen Aspekte von Beschäftigung, Produktion, Konsum und öffentlichen Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger besser steuern zu können. Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Umsetzung der Agenda für digitale Kompetenzen, vor allem in Bezug auf die Sicherstellung der Zugänglichkeit für alle.

Die Energieunion ist noch weit von ihrer Vollendung entfernt. Der EWSA appelliert an die Kommission, die Umsetzung der Strategie für die Energieunion zu beschleunigen, um mithilfe diversifizierter Energiequellen und eines voll integrierten Energiebinnenmarkts die Energieversorgungsicherheit und angemessene Preise sicherzustellen. Zur Unterstützung des Übergangsprozesses hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ist ein Übergangsfonds notwendig. Was die Klimapolitik anbelangt, ist rasches und konkretes Handeln erforderlich. Die Kommission sollte sicherstellen, dass die Zivilgesellschaft und die Bürger auf globaler, nationaler und subnationaler Ebene an der Entwicklung, Überarbeitung und vor allem an der Umsetzung des Übereinkommens von Paris stärker beteiligt werden.

Die Flüchtlingskrise erfordert ein sachgerechtes Management. Sichere humanitäre Korridore müssen eröffnet werden, und die EU muss alles daran setzen, zu einem gemeinsamen Asylsystem zu kommen.

10.2.    Stärkung der globalen Rolle der EU

2016 ist die EU als globaler Akteur noch wichtiger geworden. Sie sollte daher ihre Rolle bei der Förderung des Friedens und der Stabilität in Konfliktgebieten ausbauen. Dennoch haben ein unzureichender interner Zusammenhalt und mangelndes politisches Engagement bisher den Einfluss der EU in der Welt geschwächt. Für ein wirksames außenpolitisches Handeln sind möglichst weitreichende integrierte politische Maßnahmen zwischen der Außen- und der Innenpolitik der EU notwendig.

Zusätzliche praktische Maßnahmen sind erforderlich, um die Sicherheit in Europa wieder zu stärken: eine starke gemeinsame Außenpolitik zur Bewältigung offener Konflikte in Nachbarländern, eine Entwicklungspolitik, die mit der anderer internationaler Institutionen Hand in Hand geht, internationale Polizeizusammenarbeit und eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen ohne Einschränkungen für persönliche Freiheiten und die Privatsphäre.

Der EWSA hält es für unerlässlich, die aktuellen bilateralen Handels- und Investitionsverhandlungen abzuschließen, um einen in der Stellungnahme des EWSA zur Mitteilung der Kommission „Handel für alle“ genannten Interessenausgleich sicherzustellen, und sich für deren ordnungsgemäße Umsetzung einzusetzen. Transparenz und ein fairer Interessenausgleich müssen auch in dem multilateralen Ansatz für Handelsabkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation verfolgt werden. Ökologische, soziale, Arbeits-, Verbraucher- und andere Standards sowie öffentliche Dienstleistungen dürfen nicht durch EU-Übereinkünfte gesenkt bzw. abgebaut werden; vielmehr sollten diese Übereinkünfte auf eine Optimierung abzielen.

Die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen müssen in die vom auswärtigen Handeln der EU berührten Politikbereiche integriert werden.

Der EWSA fordert die Kommission auf, sich stärker darum zu bemühen, die Entwicklung und den Export von Klimatechnologien und -lösungen auf globaler Ebene mitzusteuern und voranzubringen.

10.3.    Stärkung des Verantwortungsbewusstseins der Bürgerinnen und Bürger für die EU

Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Diskussion über die Arbeitsweise der EU zu eröffnen. Die europäischen Werte müssen mit einer gemeinsamen Vision erneut bekräftigt werden, ebenso wie die Bedeutung der europäischen Solidarität, des sozialen Zusammenhalts und des Aufbaus einer partizipativen und inklusiven Demokratie.

Der EWSA empfiehlt der Kommission mit Nachdruck, die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechtecharta durch die Mitgliedstaaten aufmerksam zu überwachen und aktiv gegen Verstöße vorzugehen.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission den Beitrag des EWSA zum Arbeitsprogramm für 2016 nicht angemessen berücksichtigt hat und dass sie einen ausführlichen Meinungsaustausch zu ihren politischen Entscheidungen nicht für angebracht hielt. Der Aufbau eines systematischen Dialogs mit Organisationen der Zivilgesellschaft und die Intensivierung des sozialen Dialogs auf allen Ebenen sind für die Zielsetzungen der EU von zentraler Bedeutung.

EMPFEHLUNGEN UND VORSCHLÄGE FÜR MASSNAHMEN IN BEZUF AUF DIE ZEHN PRIORITÄTEN DER KOMMISSION

1.   Neue Impulse für Arbeitsplätze, Wachstum und Investitionen

Investitionen in Infrastruktur, Produktion und hochwertige Arbeitsplätze

Ein neu gestaltetes Europäisches Semester für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Fortschritt

Rasche Fortschritte hin zu einer kohlenstoffarmen Kreislaufwirtschaft

1.1.

Das Thema Beschäftigung hat auch 2017 oberste Priorität, insbesondere die Schaffung neuer Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose, Frauen, junge Menschen und Migranten.

1.2.

Die Kommission sollte die Verwendung der europäischen Fonds bewerten und sicherstellen, dass die Finanzmittel gezielt eingesetzt werden, um Innovation und Wachstum optimal anzuregen. Dabei sollten Investitionen in die Infrastruktur, die Produktion und in die Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen im Vordergrund stehen. Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung von Finanzmitteln der EU sollten besser überwacht und sanktioniert werden.

1.3.

Ein Großteil der Arbeitsplätze werden u. a. im Bereich der Sozialdienste geschaffen. Die Kommission sollte daher einen Aktionsplan entwickeln, um deren Potenzial zu maximieren, sowie den Europäischen Fonds für strategische Investitionen für den sozialen Sektor öffnen.

1.4.

Im Jahreswachstumsbericht 2017 sollte auch sozialen Investitionen Priorität eingeräumt werden; weniger entwickelten Wirtschaftssystemen sollte dabei geholfen werden, die ökonomischen und sozialen Standards der EU zu erreichen.

1.5.

Europa braucht eine Qualifizierungsoffensive auf der Basis der zügigen Umsetzung der Agenda für neue Kompetenzen und des Beschäftigungspakets für junge Menschen (Jugendgarantie und Europäische Ausbildungsallianz).

1.6.

Die im Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft vorgesehenen Maßnahmen müssen unverzüglich umgesetzt werden; dabei muss der Schwerpunkt auf Maßnahmen liegen, die ein stärker wettbewerbsorientiertes Umfeld für europäische Unternehmen sicherstellen helfen. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die Durchführbarkeit einer offenen europäischen Plattform für die Kreislaufwirtschaft zu sondieren, die alle Interessenträger zusammenbringt und vom EWSA ausgerichtet wird.

2.   Ein vernetzter digitaler Binnenmarkt

Verstärkte Digitalisierung der Infrastruktur, der Produktion und der öffentlichen Dienstleistungen

Bessere digitale Kompetenzen und höhere Akzeptanz des digitalen Wandels bei den Bürgern im Allgemeinen und bei den Arbeitnehmern

2.1.

Die Digitalisierung der Industrie wird für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft von zentraler Bedeutung sein. Der Prozess der Digitalisierung hat wesentlichen Einfluss auf die europäische Zivilgesellschaft und ist mittlerweile im Alltag der Menschen unentbehrlich geworden. Der EWSA mit seiner übergreifenden Zuständigkeit als Forum zur Vertretung der organisierten Zivilgesellschaft wird sich für die Erhöhung der Akzeptanz dieser Strategien in der europäischen Zivilgesellschaft einsetzen.

2.2.

Das Potenzial der digitalen Wirtschaft muss zusammen mit anderen wesentlichen wirtschaftlichen Veränderungen (z. B. Übergang zu einer Sharing Economy und zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft) strategischer auf die Ziele der nachhaltigen Entwicklung ausgerichtet werden.

2.3.

Um die Ungleichheiten zwischen Einzelpersonen und zwischen Kleinunternehmen zu beseitigen, sollte die Digitalisierungsagenda bei der Entwicklung intelligenter Fertigungsverfahren, intelligenter Energienetze, intelligenter Verkehrs- und Mobilitätskonzepte, intelligenter Haustechnik und intelligenter Gemeinschaften in vollem Umfang genutzt werden. Auch für eine Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen und der öffentlichen Verwaltung bietet die Digitalisierung beträchtliche Möglichkeiten. Die Kommission sollte den Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten in diesem Bereich fördern.

2.4.

Die Sozialpartner sollten als Teil einer europäischen koordinierten Strategie aufgefordert werden, alle Instrumente des sozialen Dialogs dafür einzusetzen, die Herausforderungen des Digitalisierungsprozesses zu bewältigen, um möglichst viele qualifizierte Beschäftigungsmöglichkeiten sowie Umschulungs- und Fortbildungsprogramme für betroffene Arbeitnehmer zu schaffen und neue Formen des Schutzes dieser Arbeitnehmer zu konzipieren. Zur Sicherstellung eines umfassenden Ansatzes ist es ratsam, ein regelmäßiges Konsultationsverfahren mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft einzurichten.

3.   Eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie

Umsetzung der Strategie für die Energieunion, einschließlich ihrer externen Dimension

Umsetzung und globale Erweiterung der Beschlüsse der COP 21

Ermöglichung eines fairen Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft

3.1.

Die Kommission muss weiterhin eine vorausschauende Strategie umsetzen, die mit dem Arbeitsprogramm im Anhang des 2015 vorgelegten Berichts zum Stand der Energieunion in Einklang steht.

3.2.

Der vom EWSA vorgeschlagene europäische Energiedialog muss ein Schlüsselmechanismus werden, mit dem sichergestellt werden kann, dass das Wissen, die Sorgen und die Interessen der Zivilgesellschaft in den Prozess der Energieunion miteinfließen.

3.3.

Die Beschlüsse der COP 21 müssen unverzüglich und unter der umfassenden Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft umgesetzt werden. Für im internationalen Wettbewerb stehende Firmen sind gleiche Rahmenbedingungen notwendig, um eine Verlagerung von CO2-Emissionen zu vermeiden. Das richtige Signal wäre es, die EU-Mitgliedstaaten aufzufordern, ihre geplanten nationalen Klimaschutzbeiträge bekannt zu geben. Ebenfalls ist es notwendig, die Investitionstätigkeit anzukurbeln und die Führungsrolle der EU im Bereich der grünen Technologien zu stärken.

3.4.

Angesichts der auf der COP 21 eingegangenen Verpflichtungen müssen die Risiken einer Verlagerung der CO2-Emissionen sorgfältig bewertet und Politikinstrumente eingeführt werden, um wirksam gegen diese Risiken vorzugehen, insbesondere im Kontext des EU-Emissionshandelssystems für den Zeitraum 2021-2030.

3.5.

Die Lebensmittelerzeugungskette ist sowohl einer der Hauptverursacher des Klimawandels als auch maßgeblich davon betroffen. Die Rolle der Agrar- und Ernährungswirtschaft bei der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels und ihrer Eindämmung muss gestärkt werden. Im Rahmen des Aktionsplans der EU zur Kreislaufwirtschaft sollte hervorgehoben werden, wie wichtig die Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverschwendung sowie die Bemühungen der Zivilgesellschaft sind.

3.6.

Neben dem Übergangsfonds muss die EU den Innovationsfonds und den Modernisierungsfonds umsetzen und die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft in die Verwaltung dieser Fonds einbinden.

3.7.

Anknüpfend an das Ergebnis der EWSA-Studie zu geplanter Obsoleszenz sollte ein Pilotprojekt gestartet werden, bei dem es um die Aufnahme der geschätzten oder durchschnittlichen Mindestlebensdauer in die Produktkennzeichnung geht.

4.   Ein vertiefter und fairerer Binnenmarkt mit gestärkter industrieller Basis

Eine wachsende Industrie und eine funktionierende Kapitalmarktunion

Förderung einer wettbewerbsfähigeren und umweltgerechteren Wirtschaft, der Entwicklung sozialwirtschaftlicher Unternehmen und der Umsetzung innovativer Modelle

Ermöglichung der Arbeitsmobilität für alle

Mehr Steuergerechtigkeit

4.1.

Da die Industrie ein zentrales Element des Binnenmarkts ist, muss die Europäische Union sich weiterhin auf die Wiederbelebung ihrer Industrie konzentrieren, damit das Ziel erreicht werden kann, den Anteil der Industrie am BIP der EU bis 2020 auf 20 % zu steigern. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Herausforderungen gelten, mit denen die Stahlindustrie konfrontiert ist. Hier wären eine Neuanpassung der staatlichen Beihilfen und eine gezieltere Verwendung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung vonnöten. Auch ein Aktionsplan für die europäische Verteidigungsindustrie, mit dem beträchtliche Einsparungen im Bereich der Beschaffung von Rüstungsgütern möglich wären, muss auf den Weg gebracht werden.

4.2.

Der EWSA fordert über die Initiativen im Rahmen der Kapitalmarktunion hinaus begleitende Maßnahmen für eine bessere Zugänglichkeit von Finanzmitteln. Der Regulierungs- und Aufsichtsrahmen (auf Mikro- und Makroebene) des Finanzsektors sollte so angepasst werden, dass die Gefahr der Aufsichtsarbitrage reduziert wird. Auch der Schattenbanken-Sektor muss in diesem Zusammenhang Diskussionsgegenstand sein. Darüber hinaus sollten Mittel und Wege entwickelt werden, um das in Staatsfonds verfügbare Kapital besser nutzen zu können. In dem zur Bankenunion führenden Prozess sollte die öffentliche Versorgungsfunktion von Bankdienstleistungen bedacht werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen in der Lage sein, diese Dienstleistungen in der Gewissheit zu nutzen, dass sie transparent, verlässlich und preiswert sind.

4.3.

Erforderlich ist ein konkreter Aktionsplan, um die Hindernisse zu beseitigen, mit denen KMU — einschließlich Kleinst- und Familienunternehmen — sowohl im Inland als auch im grenzüberschreitenden Handel konfrontiert sind.

4.4.

Im Sinne einer Freisetzung des vollen Potenzials von sozialwirtschaftlichen Unternehmen fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich auf, einen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft einzuführen, der ein vollständiges Ökosystem für deren Entwicklung und Wachstum ermöglicht.

4.5.

Der EWSA möchte den Stellenwert einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Förderung der grünen Wirtschaft hervorheben. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, bei der Überprüfung der Binnenmarktstrategie 2017 neben dem Grundsatz gleicher Wettbewerbsbedingungen neue Unternehmensmodelle zu unterstützen, bei denen wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte im Gleichgewicht gehalten werden. Die Sharing Economy, die Functional Economy und die Kreislaufwirtschaft brauchen klare Leitlinien, um florieren zu können. Unabdingbar ist ein umfassender Ansatz, der den verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten in einem einheitlichen politischen Rahmen Rechnung trägt. Von entscheidender Bedeutung ist die Einführung einer ambitionierteren Strategie der sozialen Verantwortung der Unternehmen; die Beiträge von Unternehmen zum Gemeinwohl müssen stärker gewichtet werden, indem über das BIP hinausgehende Indikatoren für Wohlergehen und soziale Entwicklung gemessen werden.

4.6.

Bezüglich der öffentlichen Auftragsvergabe nach den neuen Richtlinien ist es erforderlich, die Anwendung von Sozialklauseln und einen vorbehaltenen Markt zu erleichtern, wobei Leitlinien für öffentliche Auftraggeber zu erarbeiten sind.

4.7.

Es muss eine faire Arbeitskräftemobilität gewährleistet werden. In diesem Zusammenhang erarbeitet der EWSA derzeit eine Stellungnahme zu dem Vorschlag der Kommission zur Überarbeitung der Richtlinie 96/71/EG und befasst sich mit der Frage der Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs und der Wahrung sowohl des fairen Wettbewerbs im Dienstleistungsmarkt als auch der Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt.

4.8.

Die erforderlichen politischen Maßnahmen für die GAP im Zusammenhang mit der Halbzeitüberprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 sollten so ausgerichtet werden, dass Multifunktionalität, landwirtschaftliche Familienbetriebe und Nachhaltigkeit zentrale Aspekte der europäischen Landwirtschaft bleiben. Die Kommission sollte eine europäische Lebensmittelstrategie mit einem ganzheitlichen Ansatz erarbeiten, der die gesamte Lieferkette von der Landwirtschaft bis zu den Verbrauchern abdeckt, und die Politikkohärenz zwischen verschiedenen Politikbereichen von der Agrarpolitik bis hin zu Handels-, Bildungs- und Klimapolitik sicherstellen.

4.9.

Die EU-Städteagenda ist von entscheidender Bedeutung. Die Kommission sollte ein Weißbuch zu ländlichen Gebieten erstellen. Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass städtische und ländliche Gebiete eng miteinander verbunden sind und keine Alternativen haben.

4.10.

Es kommt ferner darauf an, die Vorteile, die die Ankurbelung des Binnenmarkts für die Beschäftigung bringt, zu nutzen, insbesondere im Hinblick auf Dienstleistungen, Digitalisierung und Arbeitsmobilität. Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sowie Rahmenbedingungen, die sowohl Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger als auch einen fairen Wettbewerb garantieren, sind Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung in Europa. Der EWSA betont auch, dass eine Lösung für Erwerbsarme gefunden werden muss, und dass wirksame Instrumente und Strategien zur Gewährleistung eines existenzsichernden Arbeitseinkommens benötigt werden; ebenso muss Sicherheit im Bereich neuer Beschäftigungsverhältnisse gewährleistet werden.

4.11.

Der Aktionsplan für eine wirksame Unternehmensbesteuerung muss vorangebracht werden, insbesondere in Bezug auf die Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage (GKKB). Der EWSA fordert entscheidende Schritte zur Eindämmung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung. Die Steuererhebung sollte am Ort der wirtschaftlichen Substanz erfolgen. Zu diesem Zweck will der EWSA erreichen, dass die EU voll und ganz in den Aktionsplan der OECD zur Bekämpfung von Steuerumgehung und Aushöhlung der Bemessungsgrundlagen für die Unternehmensbesteuerung sowie die Gewinnverlagerung (BEPS) einbezogen wird.

4.12.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission während des letzten Zyklus des Europäischen Semesters den Schwerpunkt auf eine progressive Umverteilung der Steuerlasten weg von den Steuerzahlern mit niedrigen Einkommen gelegt hat, um ein effizienteres und gerechteres Steuersystem zu erreichen, bei dem eine Verlagerung auf Steuerarten begünstigt wird, die weniger dämpfende Effekte haben als die Besteuerung von Arbeit. Darüber hinaus sind Steuerreformen erforderlich, damit Umverteilungseffekte von Steuersystemen genutzt werden können, um Ungleichheiten abzubauen.

5.   Eine vertiefte und fairere Wirtschafts- und Währungsunion

Ein Fahrplan für die Vollendung der WWU und der Bankenunion

Vorantreiben der wirtschaftlichen und politischen Union

Erreichung der Ziele der Strategie Europa 2020 und der sozialen Ziele des Europäischen Semesters

5.1.

Aufgrund der äußerst begrenzten Möglichkeiten der Geldpolitik zur Nachfragestimulierung befindet sich der Euroraum in einer sogenannten Liquiditätsfalle. Erforderlich ist eine größere Solidarität von Ländern mit strukturellen Überschüssen, die stärker zu expansiven Maßnahmen beitragen sollten.

5.2.

Der Euroraum muss sein Wachstumspotenzial und seine Fähigkeit zur Bewältigung asymmetrischer Schocks verstärken und die wirtschaftliche und soziale Konvergenz fördern. Dies erfordert eine neue Verordnung über eine spezifische Fiskalkapazität. Der EWSA fordert die Einführung eines makroökonomischen Dialogs im Euroraum als entscheidenden Beitrag zur demokratischen und sozialen Entwicklung der WWU. Der EWSA hebt hervor, dass künftige Diskussionen nicht auf „Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit“, sondern auf „Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und Nachhaltigkeit“ verweisen sollten. Der Euroraum muss in internationalen Gremien mit einer Stimme sprechen.

5.3.

Der EWSA erwartet von den europäischen Organen, dass sie 2017 in die zweite Phase des Fahrplans zur Vollendung der WWU eintreten und dem Euroraum eine klare Identität geben. Ein entsprechender Fahrplan sollte eine politische Diskussion über die Durchführung institutioneller Schritte beinhalten, die mitunter eine Änderung des Vertrags erforderlich machen könnten.

5.4.

Idealerweise sollte die Diskussion auf folgende Probleme eingehen: eine stabilere Struktur für den Euroraum, die Fiskalkapazität des Euroraums und gemeinsame Emission von Schuldtiteln durch Mitgliedstaaten des Euroraums, verwaltet durch einen Europäischen Währungsfonds; verbesserte Rechenschaftspflicht und demokratische Legitimierung für die WWU durch Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, eine besser strukturierte Interparlamentarische Konferenz und stärkeres Engagement der nationalen Parlamente sowie Abstimmungen über Fragen der WWU durch nur aus Ländern des Euroraums stammende MdEP.

5.5.

Der zivile und soziale Dialog kann als Bestandteil des Europäischen Semesters ein Motor für erfolgreiche, nachhaltige und inklusive wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Reformen werden. Die nationalen Parlamente müssen im Einklang mit den Zielen der Strategie Europa 2020 in die Planung und Bewertung nationaler Reformprogramme und in die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen eingebunden werden. Die Sozialpartner haben in Bezug auf ihre ausschließlichen Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Aufgaben eine besondere Rolle zu spielen.

5.6.

Erforderlich sind auch Sofortmaßnahmen zur Einführung von Sicherheitsnetzen für Geringverdiener und Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, zur Sicherstellung eines existenzsichernden Einkommens in Privathaushalten, zur Problembewältigung in Armutsbrennpunkten und zur Kompensierung von Ungleichheiten. Die europäische Säule sozialer Rechte muss klar definiert und 2017 realisiert werden, und zwar unter aktiver Beteiligung der Sozialpartner und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft. Gleichwohl sollte die EU-Säule sozialer Rechte zur Förderung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen; sie sollte daher konkrete Ergebnisse zeitigen, damit die Lebens- und Arbeitsqualität der Menschen in Europa verbessert und gut funktionierende und integrative Arbeitsmärkte sowie hochwertige und für alle zugängliche öffentliche Dienstleistungen vorangebracht werden.

5.7.

Als Teil der Finanzunion ist die Bankenunion entscheidend für eine Wahrung der Integrität des Euro und für eine erhöhte Risikoteilung mit dem privaten Sektor. Der Vorschlag eines europäischen Einlagensicherungssystems ist ein wesentliches Element der Bankenunion. Eine weitere Risikoteilung, wie sie im Vorschlag eines europäischen Einlagensicherungssystems vorgesehen ist, sollte mit einer weiteren Risikominderung in der Bankenunion einhergehen. Beide Fragen müssen parallel in Angriff genommen und tatsächlich umgesetzt werden. Die Kommission sollte eine umfassende und gründliche Folgenabschätzung vornehmen, um die Legitimität des Vorschlags zu untermauern.

6.   Vernünftige und ausgewogene Freihandelsabkommen

Abschluss der Handelsabkommen mit ehrgeizigen und innovativen Kapiteln zu den Themen Handel und nachhaltige Entwicklung

Nutzung der Vorteile des zivilen und sozialen Dialogs

6.1.

Zwischen Entwicklungs- und Handelspolitik ist Kohärenz erforderlich. In ihrer Mitteilung „Handel für alle“ erklärt die Kommission, dass Übereinkünfte der EU das Niveau von ökologischen, sozialen, Arbeitsschutz-, Verbraucher- und anderen Standards sowie von öffentlichen Dienstleistungen keinesfalls senken, allenfalls verbessern dürfen.

6.2.

Der Ausschuss hält es unter diesen Bedingungen für wichtig, dass der Abschluss aktueller Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen (einschließlich TTIP, CETA, EU-Japan, Investitionsabkommen EU-China, Verhandlungen mit ASEAN-Staaten und alle ausstehenden WPA) in ausgewogener Form erfolgt und dass nach der Ratifizierung der Abkommen deren wirksame Umsetzung überwacht wird.

6.3.

Transparenz und ein fairer Interessenausgleich müssen auch in den plurilateralen Verhandlungen über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA) und Umweltgütern angestrebt werden.

6.4.

Bilaterale Handelsverhandlungen sollten die Verpflichtung der EU gegenüber der WTO und für ein starkes multilaterales globales Abkommen nicht beeinträchtigen. Die mögliche Kollision von Regelungen sollte vermieden werden. Im Rahmen der WTO-Verhandlungen ist ein zielgerichteterer Ansatz, z. B. beim digitalen Handel, erforderlich.

6.5.

Der Handel ist ein zentrales Thema, wenn es um das verarbeitende Gewerbe in der EU und um die Verteidigung des europäischen Marktes gegen unfaire Praktiken und Preisdumping geht. Mithilfe aktualisierter handelspolitischer Schutzinstrumente sollte der Binnenmarkt vollständig gegen unfaire Einfuhren aus Nicht-EU-Ländern geschützt werden. Auch sollte die Kommission die Auswirkungen der Entscheidung über den Marktwirtschaftsstatus Chinas sorgfältig bewerten.

6.6.

Obwohl die vor Kurzem von der Kommission vorgeschlagene Investitionsgerichtsbarkeit eine Verbesserung gegenüber dem in Misskredit geratenen und von den USA unterstützten Investitionsschutzverfahren darstellt, ist sie immer noch umstritten und bedarf einer weitergehenden Evaluierung.

6.7.

Die Handelspolitik der EU sollte die unterschiedlichen Stellungnahmen zu den Folgen von Handelsabkommen berücksichtigen. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Einbindung gemeinsamer Gremien gelten, die alle Aspekte von Freihandelsabkommen überwachen und alle Teile der Zivilgesellschaft umfassen. Das Expertenwissen des EWSA ist für diese Arbeit von einzigartigem Wert. Folgenabschätzungen zu künftigen oder laufenden Verhandlungen sind auch weiterhin ein wichtiges Instrument für alle, die an der Überwachung der Verhandlungen beteiligt sind.

7.   Auf gegenseitigem Vertrauen fußender Raum des Rechts und der Grundrechte

Verbesserung der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger

Wahrung der Rechtsstaatlichkeit

Beseitigung von Hindernissen und Schließung von Lücken

7.1.

Das wachsende Sicherheitsbedürfnis der Unionsbürger erfordert eine unmittelbare Reaktion, um die wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration zu schützen und das Vertrauen unter den Mitgliedstaaten wiederherzustellen. Die Terrorismusbekämpfung erfordert eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und deren Behörden.

7.2.

Die Friedensbemühungen im Nahen Osten, die internationale polizeiliche Zusammenarbeit, die wirksame Kontrolle der Außengrenzen und die Entwicklungspolitik sind unerlässliche Ergänzungen zu den Maßnahmen für mehr Sicherheit in Europa.

7.3.

Die EU muss im Jahr 2017 die in der Europäischen Sicherheitsagenda festgelegten Säulen für EU-Maßnahmen festigen. Die Europäische Sicherheitsagenda muss die umfassende Wahrung der Rechtstaatlichkeit und der Grundrechte in den Mitgliedstaaten sicherstellen. Dazu gehören Demokratie, Menschenrechte, wirtschaftliche und soziale Rechte sowie ein effektiver Dialog der Zivilgesellschaft.

7.4.

Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung (COM(2008) 426 final) und die erhebliche Stärkung des partizipativen Aspekts der Zivilgesellschaft dürfen nicht länger blockiert werden.

7.5.

Die Strategie zur Gleichstellung von Frauen und Männern 2010–2015 muss neu belebt werden und klare Ziele, praktische Maßnahmen und eine effektive Überwachung der Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, bei der politischen Entscheidungsfindung sowie bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt vorsehen.

7.6.

Die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen sollte gemäß den Beobachtungen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung durch einschlägige Rechtsvorschriften und die Einführung eines in allen Mitgliedstaaten anerkannten EU-Bevorrechtigungsausweises verbessert werden.

7.7.

Im Zuge der Armutsbekämpfung müssen spezifische Indikatoren und Ziele für schutzbedürftige Kinder festgelegt werden.

7.8.

Für neue Formen der Schutzbedürftigkeit müssen Lösungen gefunden werden, z. B. in Bezug auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Erwerbstätigenarmut sowie die Lebenssituationen von älteren und jungen Frauen, alleinerziehenden Müttern und Migrantinnen.

8.   Hin zu einer neuen Migrationspolitik

Angemessenes Flüchtlingsmanagement

Integration von Migranten

Bekämpfung von Populismus und Fremdenfeindlichkeit

8.1.

Die EU muss Lösungen finden für die Migrations- und Asylprobleme mittels einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und vereinheitlichter und praktischer Maßnahmen. Der EWSA verweist auf seine Empfehlungen und seinen Bericht auf der Basis von Informationsreisen in elf Mitgliedstaaten. Priorität müssen die Vorschläge erhalten, die aus dem Bericht des Europäischen Parlaments über die Lage im Mittelmeerraum und die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes der EU für Migration hervorgehen.

8.2.

2017 müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Ausnahmeregelungen für Grenzkontrollen, wie sie im Schengener Abkommen festgelegt sind, beendet werden und die Rechtsstaatlichkeit bei der Verwaltung des Schengen-Raumes gewährleistet wird.

8.3.

Das vorgeschlagene Gemeinsame Asylsystem ist vernünftigerweise mittelfristig machbar. Die von der Kommission vorgeschlagenen Gesetzgebungs- und politischen Initiativen müssen zügig verabschiedet werden, wobei das übergeordnete Interesse von Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, und Rechtstaatlichkeit als Ausdruck der konkreten Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu respektieren sind.

8.4.

Daher ist es von zentraler Bedeutung, den Vorschlag über Neuansiedlung, Umsiedlung und Schutz von Asylbewerbern nochmals zu überprüfen, um legale und sichere Routen für Schutzsuchende zu eröffnen.

8.5.

In diesem Zusammenhang möchte der EWSA darauf hinweisen, dass das Abkommen zwischen der EU und der Türkei die nötigen Garantien für die Sicherstellung der Einhaltung der Grundrechte der EU und der internationalen Verpflichtungen vermissen lässt. Ein entschlossenes Vorgehen ist erforderlich, um die positive Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden und den Behörden der Nachbarländer, die nach wie vor von höchster Wichtigkeit für die Sicherung der EU-Grenzen sind, wiederherzustellen.

8.6.

Die Migrationspolitik benötigt Mittel für die Integration von Migranten und Flüchtlingen. Der Ausschuss begrüßt die Bemühungen, die im Rahmen der verschiedenen europäischen Fonds verfügbaren Gelder rationaler einzusetzen. Für jene Mitgliedstaaten, die der Herausforderung zur Integration von Migranten oder Flüchtlingen am stärksten ausgesetzt sind, müssen die Mittel erhöht werden, insbesondere im Rahmen des ESF.

8.7.

Es ist unerlässlich, dass die Menschen, die sich legal in Europa aufhalten, an Ausbildungsmaßnahmen beteiligt werden und Hilfe beim Eintritt in den Arbeitsmarkt sowie bei der gesellschaftlichen Integration im Allgemeinen erhalten. Ebenso wichtig ist es, Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit und Populismus zu bekämpfen, die sich immer mehr ausbreiten und häufig im Zusammenhang mit großen Migrationsströmen auftreten. Die gemeinsame Erklärung, die europäische Sozial- und Wirtschaftspartner (ETUC, BussinessEurope, CEEP, UEAPME und Eurochambres) abgegeben haben, sowie die Arbeit zahlreicher Organisationen der Zivilgesellschaft und sozialwirtschaftlicher Interessengruppen sind auf diesem Gebiet wegweisend.

9.   Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne

Interner Zusammenhalt für außenpolitisches Handeln

Zusammenarbeit mit Nachbarn und strategischen Partnern

9.1.

Die EU sollte ihre Position als globaler Akteur, der sich für Frieden und Stabilisierung in Konfliktregionen einsetzt, im Rahmen internationaler Institutionen ausbauen und kohärenter handeln. Für ein wirksames außenpolitisches Handeln sind integrierte politische Maßnahmen zwischen der Innen- und der Außenpolitik der Kommission notwendig. Die Verbesserung der Beziehungen und der Zusammenarbeit mit den strategischen Partnern ist ausschlaggebend, wenn die EU ihrer Rolle als globaler Akteur mehr Gewicht verleihen möchte.

9.2.

Bei ihren Bemühungen um Zusammenarbeit und Entwicklung sollte die EU Demokratisierungsprozessen in ihren Nachbarländern Vorrang einräumen. Konkrete Maßnahmen sind erforderlich, flankiert von gut geplanten Investitionen, die von der EU in Koordination mit der Weltbank finanziert werden.

9.3.

Der Dialog mit Organisationen der Zivilgesellschaft und direkte Kontakte zwischen den Menschen sollten fest in die Außenpolitik der EU eingebunden werden. Um die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) bewerten zu können, muss unbedingt ein strukturierter Dialogs mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Region eingerichtet werden. Darüber hinaus sollte der soziale Dialog zu einem festen Bestandteil der EU-Programme für Zusammenarbeit und Entwicklung werden.

9.4.

Die Bewertung der ENP sollte Priorität haben. Der Schwerpunkt in den Beziehungen zu Ländern östlich und südlich des Mittelmeers sollte nicht auf einer durch Sicherheitsaspekte oder die Flüchtlingskrise bedingten Abwehrhaltung liegen, sondern zu einer auf wirkliche Entwicklungszusammenarbeit ausgerichteten Politik zwischen gleichberechtigten Partnern werden.

9.5.

Besondere Aufmerksamkeit sollte den Beziehungen zu Russland gewidmet werden, einschließlich einer aktiveren Diplomatie in Bezug auf dieses Land, insbesondere im Hinblick auf die Energiepolitik.

9.6.

Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Notwendigkeit, sowohl die Ziele für nachhaltige Entwicklung als auch die Ziele der COP 21 zu erfüllen und mit ihrer Umsetzung zu beginnen. Besonders die Ziele für nachhaltige Entwicklung müssen sich in der Ausgestaltung der Entwicklungsagenda der EU niederschlagen. Die EU muss proaktiv sein, wenn es darum geht, die Mittel — einschließlich der Haushaltsmittel — zu bewerten, die sie zur Bewältigung dieser Herausforderungen benötigen wird. Ein geeigneter Regulierungsrahmen muss die intensive Einbindung der Zivilgesellschaft sicherstellen. Der EWSA wiederholt seinen Vorschlag eines europäischen Forums für nachhaltige Entwicklung.

10.   Eine Union des demokratischen Wandels

Förderung der aktiven Bürgerschaft und partizipativen Demokratie

Mehr Offenheit und Transparenz

Stärkung des zivilen und des sozialen Dialogs

10.1.

Um die allgemeinen komplexen Herausforderungen bewältigen zu können, vor denen die EU steht, ist es unverzichtbar, alle Sektoren und Ressourcen für die Ausarbeitung gemeinsamer Lösungen zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft ist von zentraler Bedeutung für das Gelingen dieser entscheidenden Innovation, und ein Wandel braucht insbesondere das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Daher müssen die Akteure der Zivilgesellschaft zu den gleichen Bedingungen wie andere Interessenträger einbezogen werde, um umfassend zu gewährleisten, dass aus ihren Beiträgen der größtmögliche Nutzen gezogen wird. Dies erfordert einen kulturellen Wandel, aber auch die Wertschätzung einer starken und unabhängigen Zivilgesellschaft auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Union.

10.2.

In diesem Zusammenhang erinnert der EWSA die Kommission an seine Forderung, ein Grünbuch zu einer effizienten und dauerhaften Organisation des Dialogs mit der Zivilgesellschaft vorzulegen.

10.3.

Der EWSA wiederholt auch seine Forderung, das Verfahren zur Konsultation der betroffenen Parteien im Hinblick auf Repräsentativität, Zugänglichkeit, Transparenz und Rückmeldungen zu verbessern.

10.4.

Was den Vorschlag einer Überarbeitung der Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative betrifft, müssen Schritte unternommen werden, um deren Wirksamkeit zu verbessern.

10.5.

Der EWSA hält es weiterhin für vordringlich, die partizipative Demokratie zu stärken, um die demokratische Resilienz der politischen Entscheidungsfindung in der Europäischen Union zu erhöhen. In diesem Rahmen sollte die neue interinstitutionelle Vereinbarung zwischen der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament es institutionellen beratenden Einrichtungen wie dem EWSA ermöglichen, einen stärkeren Einfluss auf Legislativvorschläge im Entscheidungsfindungsprozess auszuüben.

10.6.

Mithilfe der Methode der besseren Rechtsetzung sollten effizientere und einfacher formulierte Legislativentwürfe mit klaren und transparenten sichergestellt werden. Der Vorschlag eines „legislativen Fußabdrucks“ für eine bessere Überwachung der Rechtsetzung sollte in Erwägung gezogen werden; so würden Organisationen der Zivilgesellschaft sich beteiligen können und die Mitwirkung der Sozialpartner am Rechtsetzungsprozess gestärkt werden, um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse und Erwartungen erfüllt werden.

10.7.

Die Kommission sollte das REFIT-Programm, in dem der EWSA eine wichtigere Rolle einnehmen sollte, fortführen. Das REFIT-Programm sollte jedoch weder Arbeitnehmer- und soziale Rechte noch den Umwelt- und Verbraucherschutz beeinträchtigen. Eine effizientere Regulierung, auch für KMU, kann sich aus der Offenheit und Transparenz besserer Rechtsetzungsprozesse ergeben; dies sollte Leistungsempfänger bestärken, Bottom-up-Gesetzgebungsinitiativen vorzuschlagen, und vor allem zu einer stärkeren Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure führen.

10.8.

Am 2016. März legten die europäischen Sozialpartner vier gemeinsame Standpunkte zur Belebung des sozialen Dialogs, zu Flüchtlingen, zu industriepolitischen Strategien und zur Digitalisierung vor. Diese müssen in das Arbeitsprogramm der Kommission für 2017 eingearbeitet und unterstützt werden.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/13


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auswirkungen der möglichen Gewährung des Marktwirtschaftsstatus an China auf Schlüsselindustrien (und auf Beschäftigung und Wachstum) (im Hinblick auf Handelsschutzinstrumente)“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 389/02)

Berichterstatter:

Herr Andrés BARCELÓ DELGADO

Ko-Berichterstatter:

Herr Gerald KREUZER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. Januar 2016 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Auswirkungen der möglichen Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China auf Schlüsselindustrien (und auf Beschäftigung und Wachstum) (im Hinblick auf Handelsschutzinstrumente)“

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli) mit 194 Stimmen bei 4 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Es könnte kaum akzeptiert werden, dass China unter marktwirtschaftlichen Bedingungen tätig ist, da es vier der fünf Kriterien, die gemäß der gängigen Praxis der Kommission im Einklang mit der Grundverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates) angelegt werden, nicht erfüllt.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass — ungeachtet der unterschiedlichen Zahlen der verschiedenen Quellen — Hunderttausende von Arbeitsplätzen (eine nicht hinnehmbare Zahl) verlorengehen werden, wenn die Instrumente zur Gewährleistung eines freien und fairen Handels mit China nicht mehr zur Verfügung stehen.

1.3.

Da die Verluste in bestimmten Branchen — beispielsweise Aluminium, Fahrräder, Keramik, Elektroden, Ferrolegierungen, Glas, Papier, Solarpaneele, Stahl und Reifen — und Regionen konzentriert auftreten würden, werden weitergehende branchen- und gebietsspezifische Studien empfohlen.

1.4.

Hauptbetroffene sind die Hersteller und Verbraucher von Halbfertigprodukten; für die privaten Verbraucher wird die Verringerung der Antidumpingmaßnahmen infolge dessen wahrscheinlich nicht von Vorteil sein.

1.5.

Industriezweige, in denen Produkte verwendet werden, die Gegenstand von Dumping sind, würden kurzfristig von subventionierten Importen profitieren. Mittelfristig könnte ihnen jedoch ebenfalls Gefahr drohen, da China auch nachgelagerte Wertschöpfungsbranchen fördert. Die schlechte Bilanz Chinas im Bereich der gewerblichen Schutzrechte stellt in diesem Sinne ebenfalls eine Gefahr dar.

1.6.

Industriearbeitsplätze können, wenn sie erst einmal verloren gegangen sind, nur selten zurückgeholt werden. Wenn es den betroffenen Arbeitnehmern gelingt, eine neue Arbeit zu finden, müssen sie in der Regel niedrigere Löhne auf Arbeitsplätzen akzeptieren, für die ihre Qualifikationen nicht wertgeschätzt werden. Eine solche Entwicklung, bei der hochwertige Industriearbeitsplätze durch schlecht bezahlte, unsichere Arbeitsplätze ersetzt werden, birgt auch die Gefahr zunehmender Ungleichheiten in unserer Gesellschaft in sich.

1.7.

Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass eine Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China die Industriestruktur in der EU und die Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie ernsthaft gefährden würde. Sie würde die Möglichkeit beeinträchtigen, eine Neubelebung der europäischen Industrie herbeizuführen und dabei auf hochwertige und dauerhafte Beschäftigung und die Einführung und Verbreitung von technologischen Innovationen und FuE zu setzen — beides Haupttriebkräfte für die Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Systems in Europa.

1.8.

Vor diesem Hintergrund würde die Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China industrielle Cluster und lokale Produktionssysteme von KMU, deren Erzeugnisse durch unlautere Wettbewerbspraktiken Chinas bedroht sind, in ihrer Existenz gefährden. Dadurch droht ein Verlust spezialisierter Produktionskapazitäten in KMU und von Arbeitsplätzen für hochspezialisierte Facharbeiter, die das Rückgrat der europäischen verarbeitenden Industrie bilden.

1.9.

Der EWSA appelliert an die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat, einen fairen internationalen Wettbewerb zu fördern, um diese Arbeitsplätze wie auch die gesellschaftlichen Werte Europas aktiv zu schützen und Einkommen und Wohlstand in der Europäischen Union anzukurbeln.

1.10.

Der Schutz dieser Arbeitsplätze und der damit verbundenen Investitionen in der EU sind nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch für die soziale und ökologische Nachhaltigkeit förderlich. Die Verlagerung der Produktion von höchst ressourcenschonenden und energieeffizienten europäischen Produktionsstätten in die kohlebasierte chinesische Wirtschaft würde unsere ehrgeizigen Zielen in Bezug auf Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung zunichtemachen. Auch die Einhaltung der Arbeitnehmer- und Menschenrechte bleibt in China weiterhin problematisch.

1.11.

Die Schutzmaßnahmen müssen im Einklang mit dem EU-Recht und den internationalen Verträgen stehen. Im Rahmen dieser Maßnahmen sollten außerdem die Einhaltung von Abkommen durch Dritte durchgesetzt und die Verhandlungen mit wichtigen Handelspartnern wie beispielsweise den USA berücksichtigt werden. Wirksame handelspolitische Schutzinstrumente (TDI) gewährleisten einen fairen Wettbewerb. Sie sind notwendig, um die Zukunft der europäischen Industrie zu sichern und das Ziel zu unterstützen, den Anteil der Industrie am BIP in der EU auf 20 % anzuheben.

1.12.

Solange China die fünf EU-Kriterien für die Einstufung als Marktwirtschaft nicht erfüllt. sollte die Kommission bei Antidumping- und Antisubventionsuntersuchungen in Bezug auf Einfuhren aus China eine nicht standardmäßige Methode gemäß dem auch weiterhin gültigen Teil der Bestimmungen von Abschnitt 15 des Protokolls über den Beitritt Chinas zur WTO anwenden.

1.13.

Die Erhaltung der Industrien in der EU bildet die Grundlage für prosperierende FuE-Netzwerke, die wiederum für künftiges Wachstum und die Lösung unserer „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ (Bevölkerungsalterung, Energie, Klima, Gesundheitsversorgung und Mobilität) unverzichtbar sind.

1.14.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verfügen nicht über die notwendigen Ressourcen, um Antidumpingverfahren anzustrengen oder mit der Kommission bei deren Ermittlungen voll zusammenzuarbeiten. Der EWSA fordert ein vereinfachtes Verfahren für diejenigen Branchen, in denen die Beteiligung der KMU wichtig ist.

1.15.

Angesichts der strategischen Bedeutung dieses Themas ist diese Stellungnahme erst der Anfang des Engagements des EWSA. Der EWSA plant ein kontinuierliches Engagement und empfiehlt, ein EWSA-Projekt „Marktwirtschaftsstatus für China“ aufzulegen, damit der Ausschuss diese Angelegenheit vonseiten der Zivilgesellschaft verfolgen kann. Für diese Aufgabe sollten angemessene Ressourcen zugewiesen werden.

2.   Einleitung

2.1.

Nach den WTO-Regeln kann ein Land — zusätzlich zu den Zöllen — für Produkte aus Drittländern Antidumpingzölle verhängen, wenn eine Untersuchung zeigt, dass diese Produkte zu niedrigeren Preisen als den Inlandspreisen in das betreffende Land eingeführt werden und dadurch die lokale Wirtschaft schädigen. Als China im Dezember 2001 der WTO beitrat, wurde durch eine Übergangsregelung die Möglichkeit geschaffen, China in Antidumpingverfahren als Land ohne Marktwirtschaft (NME) zu behandeln, wenn chinesische Unternehmen nicht nachweisen können, dass sie nach marktwirtschaftlichen Prinzipien tätig sind. Aufgrund von Chinas derzeitigem NME-Status können bei der Berechnung der Dumpingspanne statt der (in NME durch staatliche Intervention künstlich niedrig gehaltenen) Inlandspreise die Preise eines Vergleichslands zugrunde gelegt werden. Die Anwendung der NME-Methodik ist in Abschnitt 15 des Protokolls über den Beitritt Chinas zur WTO beschrieben, aber die Bestimmung 15(a)(ii) wird im Dezember 2016 auslaufen. Mit dem Auslaufen dieser Bestimmung wird die Kommission gezwungen sein, die Methodik für die Entscheidung über die Vergleichbarkeit der Preise bei Antidumpingverfahren zu ändern.

2.2.

Der EWSA konzentriert sich in dieser Stellungnahme auf die Auswirkungen der möglichen Zuerkennung des Marktwirtschaftsstatus für China sowie der Änderung der TDI-Methodik auf die Wirtschaft und Beschäftigung in der EU, und zwar unabhängig von der rechtlichen Diskussion, da dieses Thema seiner Meinung nach für die EU-Wirtschaft und die damit verbundenen Arbeitsplätze äußerst wichtig ist.

2.3.

Das Europäische Parlament hat mit großer Mehrheit eine Entschließung angenommen, in der die Anwendung einer von der Standardmethode abweichenden Methode gefordert wird, die im Einklang mit dem Protokoll über den WTO-Beitritt Chinas steht und zugleich die Schaffung eines wirksamen Rahmens für freien und fairen Handel ermöglicht.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Wirtschaftliche Entwicklungen

3.2.

China hat in den letzten 15 Jahren ein noch nie da gewesenes Wachstum verzeichnet, das die globale industrielle und handelspolitische Landschaft verändert hat. Das chinesische Wachstumsmodell basiert auf der Investitionstätigkeit, die 2015 laut IWF 46 % seines BIP ausmachte. Diese Zahl liegt über dem Anteil der Investitionen in anderen entwickelten Volkswirtschaften wie beispielsweise der EU (19 %) und den USA (20 %).

3.3.

Umfang und Geschwindigkeit des Wandels wurden weitgehend staatlich gelenkt. Der EWSA stellt fest, dass China keine Marktwirtschaft im Einklang mit der EU-Definition ist und außerhalb der Institution in dieser Frage grundsätzlich Einigkeit herrscht. Laut Bericht der Weltbank hat der Staat über staatliche Verwaltungs- und Preiskontrollen, Bürgschaften, Kreditrichtlinien, allgegenwärtige Eigentumsrechte an Finanzinstituten (1) sowie ordnungspolitische Maßnahmen extensiv und direkt in die Verteilung der Ressourcen eingegriffen.

3.4.

Es gibt unzählige Beispiele für Auswüchse in der Entwicklung Chinas. Zwischen 2011 und 2013 hat das Land 6,6 Mrd. t Zement verbraucht, mehr als die USA im gesamten 20. Jahrhundert (4,4 Mrd. t). Das bedeutet, dass China in drei Jahren so viel Zement verbraucht hat, wie notwendig war, um die USA über ein Jahrhundert hinweg aufzubauen. Von der ineffizienten Nutzung von Ressourcen abgesehen wurden auch enorme Industriekapazitäten geschaffen, um in sehr kurzer Zeit eine solche Materialmenge bereitzustellen.

3.5.

China hat inzwischen begonnen, sein Modell auf ein stärker konsum- und dienstleistungsorientiertes Wachstum umzustellen. Die Wirtschaft steht vor einem Abschwung, was bedeutet, dass ein erheblicher Teil der Produktion der chinesischen Schwerindustrie in China keine Abnehmer finden wird.

3.6.

Wie die Europäische Handelskammer in China berichtet, sind bereits erhebliche Überkapazitäten bei Rohstahl, Aluminium, Zement, Chemikalien, Schiffbau, Raffination, Flachglas, Papier und Pappe festzustellen. Die chinesische Regierung räumt dies ein und hat beschlossen, die Rohstahlkapazitäten bis 2020 um 100 Mio. auf 150 Mio. Tonnen (2) zu verringern und die Kohleproduktion über den gleichen Zeitraum um 500 Mio. Tonnen zu senken (3).

3.7.

Trotz dieser Absichtsbekundungen wird die Verringerung der Gesamtkapazitäten eine langfristige Aufgabe sein. Die in den letzten zehn Jahren geschlossenen Fabriken wurden durch moderne, produktivere ersetzt, wodurch das Problem nur noch größer geworden ist. Die Nachfrage der privaten Haushalte nach Halbfertigprodukten kann die industrielle Nachfrage niemals ersetzen.

3.8.

Für die EU war die Lösung dieses Problems in den 1980er und 1990er Jahren ein langwieriger und schwieriger Prozess, und auch für China gibt es keine schnelle Lösung.

3.9.

Überkapazitäten kombiniert mit einer schwachen Binnennachfrage führen zu einem Produktionsüberschuss, der dann auf die internationalen Märkte drängt.

3.10.

Daten zu den chinesischen Exporten

3.10.1.

Laut WTO ist China mit einem Anteil von 18 % weltweit der größte Exporteur von Industrieerzeugnissen. Dieser Anteil hat seit 2010 um 20 % zugenommen. Im Lauf des Jahres 2014 sind die chinesischen Exporte um 6 % gestiegen, die der restlichen Welt hingegen nur um 3,5 %. Wenn man den Zeitraum 2010-2014 betrachtet, war der Anstieg mit 49 % für China doppelt so hoch wie für den Rest der Welt.

3.10.2.

Nach den Daten von Chinas staatlichem Statistikamt war 2014 das stärkste Wachstum bei folgenden Produkten zu verzeichnen: Zink und Zinklegierungen (+2 360 %), Baumwolle (+ 100 %), Koks (+ 82 %), Dioden und andere Halbleiter (+ 61 %) und Walzstahl (+ 50 %). Seit 2010 hat sich das Exportvolumen bei Baumwolle, Walzstahl und Dioden und anderen Halbleitern verdoppelt, bei Koks, Zink und Zinklegierungen sogar verdreifacht.

3.10.3.

Dieser Aufwärtstrend bei den Exporten wird in den nächsten Jahren voraussichtlich anhalten, da für China eine schrumpfende Binnennachfrage prognostiziert wird. Falls die handelspolitischen Schutzinstrumente (TDI) Europas erheblich schwächer sind als die unserer Handelspartner, könnten die derzeitigen Exporte, die aus China in die NAFTA-Länder oder nach Japan gehen, in die EU umgelenkt werden.

3.10.4.

Dieses vom Export angetriebene Wachstumsmodell hat zu einem hohen Defizit von 137 Mrd. EUR (48,8 Mrd. EUR im Jahr 2000) in der Warenhandelsbilanz der EU geführt, die Importe der EU aus China sind doppelt so hoch wie ihre Exporte nach China.

3.10.5.

Vor diesem Hintergrund hat China die Initiative „One Belt, One Road“ (OBOR — neue Seidenstraße) mit dem Ziel auf den Weg gebracht, die Verkehrsinfrastruktur (Schiene, Straße, Seeweg) des euro-asiatischen Raums zu verbessern, um vor allem seinen Unternehmen den Zugang zu den an der Initiative beteiligten euro-asiatischen Märkten zu Nichtwettbewerbsbedingungen zu eröffnen und diese als Absatzmärkte für die Sektoren mit Überproduktion zu nutzen. Die Gewährung des Marktwirtschaftsstatus würde eine erhebliche Gefahr für europäischen Unternehmen der an der OBOR-Initiative beteiligten EU-Mitgliedstaaten darstellen.

3.11.

Fakten zu Dumpingpraktiken

3.11.1.

Dieser drastische Anstieg der chinesischen Exporte wurde zum Teil mit unfairen Praktiken bewerkstelligt, wie die zahlreichen nach den WTO-Regeln eingeleiteten Dumpingverfahren belegen.

3.11.2.

China ist das am stärksten von Antidumpingmaßnahmen betroffene Land. 34 % der Handelsschutzuntersuchungen wurden gegen China durchgeführt, 667 Maßnahmen wurden verhängt. Allein 2015 waren 76 Antidumpingmaßnahmen gegen China in Kraft bzw. eingeleitet.

3.11.3.

67 % der gegen China verhängten Antidumpingmaßnahmen betrafen Wirtschaftszweige wie Textilien und Bekleidungsartikel, Glas und Keramik, Grundmetalle, Kunststoffe, Maschinen und elektrische Geräte sowie petrochemische Erzeugnisse. Im letzten Jahr galten 79 % der gegen China verhängten Maßnahmen diesen Wirtschaftszweigen.

3.11.4.

Obwohl die EU mit 15,8 % des Gesamtvolumens einer der aktivsten Teilnehmer am Welthandel ist, wurden gegen sie nur 133 Antidumpingmaßnahmen verhängt. Dies entspricht 7 % der weltweiten Fälle. China hingegen ist Ziel von 47 % dieser Maßnahmen und wurde allein 2015 in drei Fällen mit Sanktionen belegt.

4.   Besondere Bemerkungen zu Arbeitsplatzverlusten in Europa

4.1.    Unmittelbar betroffene Wirtschaftszweige

4.1.1.

Theoretisch hätte der Marktwirtschaftsstatus für China negative Auswirkungen auf den Wohlstand in der EU. Die Liberalisierung des Handels ist für die EU von entscheidender Bedeutung. Sie hat positive Netzwerkeffekte, obwohl es natürlich immer Branchen gibt, denen es dadurch schlechter geht.

4.1.2.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass es in diesem Fall nicht um einen Verhandlungsprozess geht, bei dem auf beiden Seiten Schranken abgebaut werden. China würde im Gegenzug keine Zugeständnisse machen, während die EU einseitig ihre Möglichkeiten verringern würde, die durch die unfaire staatliche Unterstützung der zentralen und lokalen Regierungsebene in China verursachte Wettbewerbsverzerrung auszugleichen.

4.1.3.

Der EWSA stellt fest, dass bereits Industriearbeitsplätze ins Ausland verlagert wurden. Zwischen 2000 und 2014 haben die europäischen Industrien 6,7 Mio. Beschäftigte verloren, das sind 12 % von ursprünglich 56,3 Mio. Das Importvolumen (Index) ist über den gleichen Zeitraum um 144 % gestiegen. Untersuchungen in den USA (deren Industriesektor kleiner ist als der der EU) haben gezeigt, dass zwischen 1999 und 2011 infolge der steigenden Importdurchdringung mit chinesischen Produkten rund 985 000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren gegangen sind (4).

4.1.4.

Nicht nur in den Grundindustrien, sondern auch in innovativen Industrien sind Arbeitsplatzverluste aufgetreten. Die einstmals marktführende europäische Mobiltelefonbranche ist vom Markt verschwunden. In einem für unsere Zukunft lebenswichtigen Wirtschaftszweig wie Fotovoltaikpaneele haben zwischen 2010 und 2012 34 Hersteller Insolvenz angemeldet, zwei sind aus dem Solargeschäft ausgestiegen, fünf haben die Produktion ganz oder teilweise eingestellt und drei wurden von chinesischen Investoren übernommen (5).

4.1.5.

Besonders gefährdet sind diejenigen Sektoren, die für Chinas Fünfjahrespläne von strategischer Bedeutung sind: Aluminium, Fahrräder, Keramik, Glas, Kfz-Teile, Papier und Stahl.

4.1.6.

Mehrere Institutionen haben Folgenabschätzungen durchgeführt. Die Europäische Kommission hat eine Studie in Auftrag gegeben, die jedoch nicht veröffentlicht wurde, weshalb der EWSA den Standpunkt der Kommission zu dieser drängenden Frage nicht analysieren kann.

4.1.7.

Das Economic Policy Institute schätzt die Zahl der in der EU gefährdeten Arbeitsplätze auf 1,7 bis 3,5 Mio. Diese Schätzung basiert auf einem Input-Output-Modell, bei dem die direkten Verluste (von einem Importanstieg direkt betroffene Industriezweige), die indirekten Verluste (Zuliefer- und Verarbeitungsindustrien für die direkt betroffenen Industriezweige) und Einbrüche bei der Wiederverausgabung (aufgrund verringerter Einkommen und Ausgaben der privaten Haushalte) einfließen. Das Hauptmanko dieser Studie ist, dass die Auswirkungen eines jeden chinesischen Imports berücksichtigt werden, selbst in denjenigen Sektoren, die in keinster Weise betroffen sind.

4.1.8.

Berücksichtigt man lediglich die mit Antidumpingmaßnahmen belegten Industriezweige, so liegen die direkten und indirekten Arbeitsplatzverluste zwischen 0,5 und 0,9 Mio. Laut dem Bericht beträgt die direkte Beschäftigung in den durch einen Anstieg von Dumpingimporten gefährdeten Industriezweigen insgesamt 2,7 Mio. Arbeitsplätze.

4.1.9.

Der Wiederverausgabungseffekt allein für diese Industriezweige wird in der Studie nicht errechnet. Die Studie zeigt allerdings, dass die gefährdeten Arbeitsplätze in den von Antidumpingmaßnahmen betroffenen Industriezweigen 60 % der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie entsprechen. Wendet man das gleiche Verhältnis auf die indirekten Verluste und die Wiederverausgabungseffekte an, könnten die Arbeitsplatzverluste zwischen 1,1 und 2,1 Mio. liegen.

4.1.10.

Ein zweiter Bericht gibt drei Studien wieder, die von drei Stahlherstellerverbänden aus den NAFTA-Ländern (Nordamerikanische Freihandelszone) in Auftrag gegeben wurden und sich mit den voraussichtlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China auf ihre Länder befassten. Für den Fall, dass alle drei NAFTA-Länder China den Marktwirtschaftsstatus zuerkennen, wird in diesem Bericht der volkswirtschaftliche Schaden aufgrund der rückläufigen Nachfrage nach Arbeitskräften zwischen 15 Mrd. und 32 Mrd. USD beziffert, der Großteil davon in den USA. Dies entspricht einem Rückgang der Arbeitsplätze um schätzungsweise 0,4 bis 0,6 Mio.

4.1.11.

Beide Studien basieren auf allgemeinen makroökonomischen Gleichgewichtsmodellen. Würden Studien dieser Art jedoch gesondert für Wirtschaftsräume wie die EU oder die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) durchgeführt, würde die einseitige Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China nach Auffassung des EWSA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit direkte Wohlstandsverluste in der Größenordnung von mindestens Hunderttausenden verlorengegangener Arbeitsplätze zur Folge haben. Die Zahl derjenigen, die sich eine neue Einkommensquelle suchen müssten, läge aber wahrscheinlich näher an der einen Million.

4.1.12.

Der EWSA weist auf mehrere Aspekte hin, die bei der Bewertung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens derartiger Verluste relevant sind:

Dumpingimporte treten nicht nur bei Produkten auf, für die gegenwärtig Antidumpingmaßnahmen in Kraft sind. Weitere Maßnahmen werden gegenwärtig von der Europäischen Kommission bzw. von den Herstellern geprüft. Es gibt auch Wechselwirkungen zwischen den Produkten: Sobald eine Antidumpingmaßnahme verhängt wird, werden die betroffenen Exporteure ihre Exporttätigkeit wahrscheinlich auf nicht darunter fallende Produkte umstellen.

Niedrige Preise aufgrund gedumpter Importe haben Auswirkungen auf andere Produkte der gleichen Branche.

Einmal verloren gegangene Fertigungskapazitäten können niemals wiederhergestellt werden, da auch das gesamte wirtschaftliche Umfeld des betreffenden Industriezweigs verloren geht.

4.1.13.

In geografischer Hinsicht bekräftigt der EWSA, dass die Arbeitsplätze, die vermutlich verloren gehen, nicht über alle Gebiete gleichmäßig verteilt sind. Die Konzentration der Arbeitsplatzverluste auf bestimmte Gebiete könnte an den betroffenen Standorten zu einer kritischen Situation führen, auch wenn andere Regionen in der Union nicht stark getroffen werden. In den am stärksten betroffenen Ländern könnte die Zahl der Erwerbstätigen um bis zu 2,7 % zurückgehen.

4.1.14.

Diese Arbeitsplätze sind vielfach in großen Industrieanlagen mit starker Bindung zum wirtschaftlichen und industriellen Gefüge angesiedelt. In jüngster Zeit waren erhebliche Verluste in Sektoren wie beispielsweise dem Stahlsektor zu beobachten, wo mehrere Tausend Arbeitsplätze von einem Unternehmen abhängen, was dramatische soziale Auswirkungen auf die betroffenen Standorte hatte.

4.1.15.

Der EWSA hebt auch die Qualität industrieller Arbeitsplätze hervor: Arbeitsplätze in der Verarbeitungsindustrie sind im Schnitt sicherer und besser bezahlt als in anderen Wirtschaftszweigen. Die Europäische Kommission wies 2014 (6) darauf hin, dass das Monatseinkommen von Arbeitnehmern in der Fertigungsindustrie um 5 % über dem allgemeinen EU-Durchschnitt liegt. In den USA sind die Wochenlöhne in der Fertigungsindustrie um 8 % höher als in anderen Branchen. Diese höheren Einkommen sind das Ergebnis einer höheren Produktivität.

4.1.16.

Die Industrie bietet hochwertige Arbeitsplätze für qualifizierte und gering qualifizierte Arbeitnehmer, für die es extrem schwierig wäre, alternative Arbeitsplätze mit den gleichen Arbeitsbedingungen zu finden. Dadurch trägt der Niedergang der Industrie zu Ungleichheiten in unserer Gesellschaft bei.

4.1.17.

Laut den Eurofound-Erhebungen zu den Arbeitsbedingungen ist Teilzeitarbeit in der Fertigungsindustrie (12 %) weit weniger verbreitet als im EU28-Durchschnitt (24 %). Auch hat die Fertigungsindustrie tendenziell regelmäßigere Arbeitszeiten, und atypische Arbeitszeiten sind erheblich seltener als in der EU-Wirtschaft insgesamt (7).

4.1.18.

Es sollte auch darauf geachtet werden, Schaden für das Wissensumfeld zu vermeiden: Der verarbeitende Sektor hat bei weitem den größten FuE-Bedarf, und der Trend geht zunehmend dahin, FuE-Leistungen von innovationsorientierten Dienstleistungsunternehmen zu beschaffen (8). Laut einer Studie des ECSIP-Konsortiums erreicht der durchschnittliche Dienstleistungsanteil bei den in der EU gefertigten Waren fast 40 % des Gesamtwerts der gefertigten Endprodukte. Bei diesen Dienstleistungen handelt es sich größtenteils um Vertriebsdienstleistungen (15 %), Transport und Kommunikation (8 %) sowie Unternehmensdienstleistungen, die in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zwischen unter 10 % und bis zu 20 % und darüber liegen. Zur letzteren Kategorie gehören auch Dienstleistungen wie FuE, Werbung und Marktforschung, Ingenieurleistungen und IKT-Dienstleistungen.

4.1.19.

Der EWSA hat bereits in Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass wegen der mangelnden Einhaltung der Vorschriften durch bestimmte Länder auf höhere Regulierungsstandards für geistiges Eigentum hingewirkt werden muss. Bei der Konzipierung der EU-Handelspolitik sollte dies nicht vergessen werden.

4.2.    Nicht unmittelbar von TDI betroffene Wirtschaftszweige:

4.2.1.

Bei einer Bewertung der Auswirkungen, die es hätte, wenn China einseitig der Marktwirtschaftsstatus gewährt würde, müssen auch die potenziellen Vorteile in anderen Wirtschaftszweigen berücksichtigt werden, insbesondere die Vorteile für die Verbraucher von Produkten, bei denen China eine starke Produktionstätigkeit vorweisen kann bzw. plant.

4.2.2.

Die bislang betroffenen Industriezweige sind in vielen Fällen die Hersteller von Halbfertigprodukten, d. h. von Waren, die zu Endprodukten weiterverarbeitet bzw. zusammengebaut werden.

4.2.3.

Die weltweite Industrieproduktion hat noch nicht wieder den gleichen Stand wie vor der Finanzkrise erreicht. Es gibt daher Unmengen überschüssiger Industriekapazitäten, und die Kunden chinesischer Produkte, für die Antidumpingmaßnahmen in Kraft sind, könnten ihren Bedarf ohne nennenswerte Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit in anderen Drittländern decken.

4.2.4.

Wenn man zulässt, dass China seinen Marktanteil mit unfairen Methoden ausbauen und sich einen oligopolistischen Vorteil verschaffen kann, wird es dies zweifelsohne später ausnutzen, um die Preise wieder anzuheben, wobei die Abnehmerbranchen in der EU die Leidtragenden wären. China verhält sich schon jetzt so, um seine heimischen Industrien zu fördern. Dem Europäischen Parlament (9) liegen Beweise für Maßnahmen zur Beschränkung des Handels mit natürlichen Ressourcen vor, die möglicherweise gegen die WTO-Regeln verstoßen. 2009 hat China seinen Entwicklungsplan für seltene Erden 2009-2015 aufgestellt, in dem die Exportquoten auf 35 000 t pro Jahr festlegt wurden. Im darauffolgenden Jahr haben sich die Preise für seltene Erden aus China verdreifacht. Ein weiteres Beispiel ist der Elektronikmarkt, wo China den Export von Teilen stärker besteuert als den von Endprodukten, um so die lokale Montage von Geräten zu schützen.

4.2.5.

Diese Beispiele zeigen, dass die chinesische Politik Industrien mit einer höheren Wertschöpfung begünstigt. Ohne die Möglichkeit, Antidumpingverfahren anzustrengen, würden Branchen wie beispielsweise die Geräte- oder Automobilherstellung früher oder später ebenfalls unlauterem Wettbewerb ausgesetzt sein. China ist außerdem für seine Verstöße gegen die Rechte des geistigen Eigentums bekannt, sodass noch nicht einmal Patente viel nützen würden, um innovative Industrien in der EU zu erhalten.

4.2.6.

Auf lange Sicht würde die Gewährung des Marktwirtschaftsstatus für China durch die negativen Auswirkungen auf die Innovation auch der gesamten industriellen Wertschöpfungskette schaden. In der EU ist man weithin der Überzeugung, dass Innovation für unsere Gesellschaften die einzige Möglichkeit ist, um sich gegen rein kostenorientierte Wettbewerber zu behaupten. Innovation wird aber nicht mehr isoliert in Einzellaboratorien entwickelt. Hingegen wurde in einer KPMG-Studie festgestellt, dass 85 % der Befragten aus der weltweiten Metallindustrie die Zukunft der Innovation für ihre Organisationen in Partnerschaften sehen. Mehr als 75 % gaben an, sich bereits in stärker auf Zusammenarbeit ausgelegten Geschäftsmodellen mit Zulieferern und Kunden engagiert zu haben. Es ist daher nicht vorstellbar, dass innovative Industrien in Zukunft außerhalb der Wissensnetzwerke existieren werden.

4.3.    Einkommen in der EU

4.3.1.

Langfristig und unabhängig von der Entwicklung einzelner Branchen wird der Wohlstand in der EU nur über eine solide Entwicklung des verfügbaren Einkommens nachhaltig wachsen können. Die derzeitigen politischen Maßnahmen der Kommission zur Förderung von Beschäftigung und Investitionen tragen dieser Tatsache Rechnung und sollten bei Entscheidungen zur Bewältigung dieses Problems berücksichtigt werden.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Weltbank, China Economic Update, Juni 2015.

(2)  Curb to be placed on metal overcapacity, English.gov.cn, Februar 2016.

(3)  Coal capacity guideline issued, English.gov.cn, Februar 2016.

(4)  For balanced trade EU — China, (nur auf Englisch verfügbar), S&D-Fraktion, März 2016.

(5)  Fair competition, EuProSun.

(6)  Europäische Erhebungen über die Arbeitsbedingungen.

(7)  ECSIP (Europäisches Konsortium für Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Industriepolitik), 2014.

(8)  Generaldirektion Externe Politikbereiche, EP, 2016.

(9)  Generaldirektion Externe Politikbereiche, EP, 2015.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Schaffung eines Bündnisses der Zivilgesellschaft und der subnationalen Gebietskörperschaften zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 389/03)

Berichterstatter:

Lutz RIBBE

Mitberichterstatterin:

Isabel CAÑO AGUILAR

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. Januar 2016, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Schaffung eines Bündnisses der Zivilgesellschaft und der subnationalen Gebietskörperschaften zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt nahm ihre Stellungnahme am 30. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli) mit 183 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die Beschlüsse der COP 21 von Paris und sieht in ihnen einen wichtigen Wendepunkt für einen wirkvollen Kampf gegen den Klimawandel.

1.2.

Allerdings gibt es zwei große Probleme: Zum einen stimmen die eingereichten Ziele für die Reduzierung von Emissionen der einzelnen Mitgliedstaaten (INDC) nicht mit den Ergebnissen von Paris überein. Zum anderen wird — einigen kleinen Fortschritten zum Trotz — die Bedeutung der Zivilgesellschaft nicht hinreichend gewürdigt.

1.3.

Heute sehen sich zivilgesellschaftliche Akteure großen Hindernissen gegenüber, wenn sie Klimaschutzmaßnahmen initiieren und umsetzen wollen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Politik nicht erkennt, welch großes Potenzial das zivilgesellschaftliche Handeln für Klimaschutz hat. Sie interessiert sich bisher nicht ausreichend dafür, welche Klimaschutzstrategien zivilgesellschaftliche Akteure vorhaben, welche Bedürfnisse sie haben, welche Unterstützung sie brauchen. Zum Teil verhindern sogar regulative Vorgaben zivilgesellschaftlichen Klimaschutz systematisch.

1.4.

In der Folge finden zivilgesellschaftliche Akteure allzu oft keinen Handlungsrahmen vor, der es ihnen erlauben würde, ihre Pläne für „Klimaschutz von unten“ umzusetzen. Dies liegt auch daran, dass sie ihre Vorhaben nicht finanzieren können, obwohl eigentlich genügend Investivmittel zur Verfügung stehen müssten.

1.5.

Der EWSA schlägt daher als unmittelbare Antwort auf die Beschlüsse von Paris ein Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vor. Die Aufgabe des Bündnisses muss es sein, die Hürden für zivilgesellschaftlichen Klimaschutz zu minimieren, indem es:

Klimaschutz von unten bewirbt und das Prinzip von „global denken, lokal handeln“ neu belebt,

unter Berücksichtigung der Heterogenität und Vielfalt der zivilgesellschaftlichen Akteure das breite Spektrum an möglichen zivilgesellschaftlichen Klimaschutzstrategien erfasst,

eine Mehr-Ebenen-Governance entwickelt, die zivilgesellschaftlichen Klimaschutz erleichtert, nicht behindert.

1.6.

Die Handlungen des Bündnisses müssen auf verschiedenen Politikebenen ansetzen. Im Wesentlichen geht es darum, die fünf Aufgaben umzusetzen:

(1)

Entwicklung eines Verständnisses, welche Klimaschutzstrategien zivilgesellschaftliche Akteure umsetzen wollen, können, könnten bzw. sollen und dürfen, und zwar vor allem auf lokalem und regionalem Niveau;

(2)

Identifikation und Überwindung struktureller Hindernisse;

(3)

europaweite Kommunikation von Erfolgsbeispielen;

(4)

Benennung von Erfolgsbedingungen und -faktoren, vorrangig auf nationaler Ebene;

(5)

Entwicklung eines politischen Rahmens für die erfolgreiche Umsetzung zivilgesellschaftlichen Klimaschutzes auf allen Ebenen.

1.7.

Um diese fünf Aufgaben umzusetzen, bedarf es eines strukturierten, aber offenen Dialogs innerhalb des Bündnisses, das in diesem Sinne ein Diskussionsforum darstellen muss. Daher ist es wichtig, dass die Teilnehmer die Heterogenität der Zivilgesellschaft widerspiegeln müssen und eine Kultur der Offenheit, der Kreativität und Kollaborativität entwickeln. Das Diskussionsforum sollte sicherstellen, dass der zu entwickelnde politische Rahmen tatsächlich zivilgesellschaftlichen Klimaschutz unterstützt.

1.8.

Damit das Bündnis seine Aufgaben erfüllen kann, bedarf es administrativer Unterstützung, mit deren Hilfe

möglichst viele zivilgesellschaftliche Akteure einbezogen,

eine systematische Recherche und Erfolgs- bzw. Misserfolgsanalyse von geplantem und schon realisiertem zivilgesellschaftlichem Klimaschutzhandeln erfolgen kann, auf deren Basis akteursspezifisch prototypische Handlungsmuster beschrieben und

eine paneuropäische Kommunikation dieser Prototypen konzipiert und umgesetzt werden können.

1.9.

Mit dem Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft soll ein weiteres Ziel erreicht werden, das der EWSA unterstützt: die Notwendigkeit einer gerechten Veränderung der Arbeitswelt in Richtung Nachhaltigkeit mit einer strukturellen Partizipation der Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

Die Ergebnisse der COP 21 in Paris stellen einen wichtigen Wendepunkt in den Klimaschutzverhandlungen dar, denn es ist das erste völkerrechtlich verbindliche Übereinkommen, in dem sich ausnahmslos alle Vertragsstaaten verpflichten, die als bedrohlich anerkannten Klimaveränderungen aktiv anzugehen.

2.2.

Die Weltgemeinschaft hat sich gemeinsam verpflichtet, die Erderwärmung auf unter 2 Grad Celsius — möglichst sogar auf 1,5 Grad — zu begrenzen.

2.3.

Das Übereinkommen enthält eine weitere wichtige konkrete Handlungsanweisung, nämlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts globale Treibhausgasneutralität zu erreichen.

2.4.

Der EWSA hat diese Ergebnisse begrüßt (1), er sieht allerdings auch zwei große Probleme:

2.4.1.

Erstens korrelieren die von den Mitgliedstaaten eingereichten nationalen Minderungsziele (INDC) nicht mit dem Ergebnis der COP: Ihre Umsetzung würde die Erderwärmung nicht auf 2 Grad Celsius begrenzen, sondern auf 2,5, eventuell sogar auf über 3 Grad Celsius ansteigen lassen.

2.4.2.

Zweitens wird die Bedeutung der Zivilgesellschaft nicht hinreichend gesehen. Zwar wurden in der Vergangenheit gewisse Fortschritte hinsichtlich Transparenz und Mitwirkung erzielt, doch die eigentliche Rolle der Zivilgesellschaft in der Klimapolitik ist noch nicht ausreichend verstanden worden: Es sind nicht die Verhandler der COP, sondern die Zivilgesellschaft, die die Ergebnisse von Paris umsetzen und mit Leben erfüllen muss.

2.5.

Eine Strategie, die Zivilgesellschaft als strategischen Partner zur Umsetzung der COP-Beschlüsse zu nutzen, ist nicht vorhanden oder erkennbar. Dies gilt auch für die Ebene der Europäischen Union, deren Klimaschutzpolitik deshalb neben der „Klimadiplomatie“ ein zweites Standbein erhalten muss. Dieses ist darauf auszurichten, die Bedeutung und Rolle der Zivilgesellschaft zu verstehen, zu stärken und es der großen Vielfalt zivilgesellschaftlicher Akteure zu erleichtern, Handlungsstrategien für Klimaschutz in ihrem lebensweltlichen Bereich zu entwerfen und umzusetzen.

„Aktionen von unten“ für einen erfolgreichen Klimaschutz

2.6.

Klimapolitik kann und darf nicht nur „von oben“ verordnet werden, sondern wird nur erfolgreich sein, wenn sie auf breiter Zustimmung und aktiver Mitarbeit bei einer Mehrheit von Unternehmen, den Gebietskörperschaften und der Bürger fußt. Sie wird folglich vorrangig „von unten“ umgesetzt, oder sie scheitert.

2.7.

Tatsächlich wurden in der Vergangenheit maßgebliche Erfolge in der Nachhaltigkeits- und Klimapolitik deswegen erzielt, weil Vertreter der Zivilgesellschaft — und dazu sind ausdrücklich auch „einfache“ Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger zu zählen — sich nicht darauf beschränkten, nur auf politische Vorgaben zu reagieren bzw. sich als „Instrument der Umsetzung“ zu verstehen. Vielmehr haben gerade sie als Pioniere des Wandels gewirkt und aktiv gehandelt und damit — im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten — wesentliche Erfolge bewirkt — sowie politischen Druck ausgeübt. Dies gilt sowohl technologisch als auch ökonomisch und vor allem aber gesellschaftlich (hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Technologien, insbesondere aber beim „Mainstreaming“ des Wandels, also dem Sozialen Lernen sowie dem „learning from community“).

2.8.

Während z. B. die bisherige, für den Klimawandel mitverantwortliche Energieproduktion und -politik zumeist auf endliche Energieträger und große, zentrale Strukturen mit wenigen Playern ausgerichtet war und die Zivilgesellschaft zumeist lediglich als „Konsument“ aufgetreten ist, wird klimaverträgliches Handeln zukünftig viel dezentraler stattfinden und das Engagement aller voraussetzen. Die Bereitschaft dazu ist zweifelsfrei vorhanden, und diese muss konsequent genutzt und gefördert werden.

2.9.

In dem heute schon zu beobachtenden zivilgesellschaftlichen Handeln schlummert ein enormes Innovationspotenzial, das sich aus dem Denken, Wirken und Handeln von Städten und Gemeinden, Gebietskörperschaften, großen Unternehmen und Gewerkschaften sowie von Privatleuten (Einzelpersonen, Landwirten, Kooperativen, KMU usw.) ergibt.

2.10.

Dieses Handeln ist heute sehr oft organisationsungebunden und sehr konkret projektbezogen. Gerade daraus erfährt es seine besondere gesellschaftliche Dynamik. Allerdings heißt dies auch: Scheitern solche Initiativen, müssen die Akteure den Misserfolg voll aus eigener Tasche zahlen. Damit sind nicht nur finanzielle Risiken angesprochen. Denn zivilgesellschaftliches Handeln erfordert neben Geld auch Motivation und Engagement, es kostet Zeit. Es muss sich daher „lohnen“ (und dies ist nicht nur ökonomisch zu verstehen), und das Risiko des Scheiterns muss überschaubar sein. Hier ist die europäische und nationale Politik gefragt, einen möglichst breiten und sehr offenen Rahmen für zivilgesellschaftliches Handeln zu schaffen.

Zivilgesellschaftlichem Handlungswillen stehen Hindernisse entgegen, die es zu überwinden gilt:

2.11.

In der Europäischen Union gibt es zwar bereits zahlreiche Erfolgsbeispiele, die belegen, wie wichtig und wirkungsvoll es ist, wenn sich zivilgesellschaftliche Akteure für Klimaschutz engagieren, doch diese Beispiele werden an keiner Stelle systematisch erfasst und ausgewertet. Es findet keine Auseinandersetzung darüber statt, was aus diesen vielen unterschiedlichen Initiativen politisch gelernt werden kann, welche Hindernisse beseitigt werden müssen, um sie noch erfolgreicher zu machen und zu vervielfältigen, oder aus welchen Gründen sie scheitern.

2.12.

Außerdem existieren keine validen Anreiz-Schemata, die eine Refinanzierung des eingesetzten Kapitals möglich machen. Es sind auch keine Mechanismen vorhanden, von denen die gewünschte Signalwirkung für nicht-staatliche Akteure jenseits von industriellen Großunternehmen ausgeht. Vielmehr lässt sich heute in Europa sogar ein entgegengesetzter Trend erkennen: die Realisierung entsprechender Initiativen wird durch falsche politische Vorgaben oft zusätzlich erschwert oder sogar unmöglich gemacht. In vielen Fällen besteht also folglich kein (!) Handlungsrahmen für die Erstellung und — mehr noch — für die Umsetzung von Klimaschutzkonzepten durch zivilgesellschaftliche Akteure; sie können ihre Ideen nicht umsetzen. Manchmal ist es schlicht, dass der rechtlich-administrative Rahmen nicht stimmt, manchmal finden sie keine Finanzierung für ihre Vorhaben, in wiederum anderen Fällen erweist sich die Tatsache, dass nach wie vor die externen Kosten der fossilen Energieträger nicht voll internalisiert werden (2) und so der Kohlenstoff — trotz gegenteiliger Ankündigung — keinen „richtigen“ Preis hat, als unüberwindbares Hindernis.

2.13.

Allzu oft ist von den „Verlierern“ einer ambitionierten Klimapolitik die Rede und genauso oft wird der Eindruck vermittelt, Klimaschutz bedeute in erster Linie Verzicht. Natürlich müssen die Probleme, die die Transformation hin zu einer weitgehend kohlenstofffreien Wirtschaft mit sich bringt, ausreichend adressiert und berücksichtigt werden. Jedoch müssen auch die positiven Elemente mindestens so stark betont werden, um für eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung zu sorgen. Spätestens die technologischen und ökonomischen Fortschritte der letzten Jahre (etwa bei der Energieerzeugung aus regenerativen Energien, der Speicherung von Energie, vor allem aber auch bei digitalen Anwendungen, die erhebliche Fortschritte bei einer effizienten und intelligenten Ressourcennutzung erlauben) berechtigen zu dieser Stimmung.

2.14.

Europa ist heute technisch und ökonomisch so aufgestellt, dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit einen Gewinn für alle darstellen können. Die Europäische Energieunion setzt genau an diesem Gedanken an. Voraussetzung ist, dass die Politik entsprechende Initiativen unterstützt oder mindestens ermöglicht und nicht — etwa weil sie bestehende Strukturen infrage stellen — zu verhindern versucht. Das im Prinzip leicht erschließbare Potenzial für Veränderungen und Fortschritte beim Klimaschutz wird dann bei Weitem nicht ausgeschöpft.

3.   Dringender Bedarf für ein Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft

3.1.

Wir brauchen einen neuen Ansatz des Mehrebenen-Regierens. Der EWSA schlägt die Schaffung eines ehrgeizigen Bündnisses aus zivilgesellschaftlichen Akteuren, lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und den verantwortlichen politischen und administrativen Strukturen auf nationaler bzw. europäischer Ebene vor.

3.2.

Das Bündnis soll:

die Ansätze auf den unterschiedlichen Politikebenen der Europäischen Union koordinieren, um nichtstaatliche Klimaschutzmaßnahmen zu aktivieren,

das Potenzial und die Wirkung dieser Maßnahmen verdeutlichen und

ein Forum für einen strukturierten Dialog zwischen Zivilgesellschaft und den Entscheidungsträgern auf EU- und nationaler Ebene darstellen, in dem zivilgesellschaftliche Akteure ihre Ideen und Umsetzungsprobleme, mit denen sie konfrontiert sind, vortragen, Handlungsempfehlungen an die Politik artikulieren und in dem sie eine qualifizierte Antwort auf die von ihnen aufgeworfenen Fragen und Probleme erhalten.

3.3.

Auf diese Weise kann das Bündnis — als Ausdruck eines Mehrebenen-Regierens — dazu beitragen, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Klimaschutz erfolgreich zu bewältigen.

Klimawandel impliziert Veränderungen im alltäglichen Leben der Menschen

3.4.

Die Ziele der COP sind klar benannt und der Europäische Rat hat weitreichende Visionen für ein kohlenstoffarmes, ressourceneffizientes Europa festgelegt. Danach sollen im Jahr 2050 80-95 % weniger Treibhausgase emittiert werden als heute. Dies wird sich auf die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen europäischen Bürgers, jedes einzelnen Unternehmens und seiner Belegschaft massiv auswirken.

3.5.

Der ESWA hat in seiner Sondierungsstellungnahme zur Nachhaltigen Entwicklung (3) bereits beschrieben, wie wichtig es ist, genau diese Fragen der Alltagskonsequenz anstehender grundlegender Politikveränderungen sehr ernst zu nehmen.

3.6.

Dem Risiko, dass nachhaltige Entwicklung als Bedrohung und nicht als Zukunftschance angesehen wird, lässt sich begegnen, wenn eine einfache Botschaft vermittelt wird: Klimaschutz bedeutet Veränderungen, aber jedes Mitglied der Gesellschaft hat die Chance, alleine oder im Verbund mit anderen diese Veränderungen aktiv zu gestalten — und zwar so, dass nicht nur das Klima profitiert, sondern sich auch die Lebensbedingungen vor Ort verbessern.

3.7.

Diese Botschaft muss sich sowohl an diejenigen richten, die definitiv absehbare „negative“ Veränderungen unmittelbar spüren werden (z. B. der gesamte Bereich fossiler Energien), als auch das gesellschaftlich vorhandene positive Potenzial derer ansprechen und aktivieren, die handlungsbereit sind und anderen als Modell dienen können.

Die große Akteursvielfalt erkennen, akzeptieren und nutzen

3.8.

Unsere Zivilgesellschaft ist äußerst heterogen. Bei Klimaschutz macht sich dies bemerkbar: Was dem einen Akteur leicht möglich ist, ist für einen anderen Akteur nur schwer zu realisieren. Diese Unterschiedlichkeit muss ernst genommen und diese Vielfalt als Chance begriffen und genutzt werden.

3.9.

Im Kern geht es darum, „Klimaschutz“ zu konkretisieren. Hier besteht auch ein Wissensdefizit. Denn es sind zwar viele Fallstudien erstellt worden, aber es fehlt eine Systematisierung, die beispielsweise nach Akteurskategorien unterscheidet. Dies erscheint deswegen erforderlich, weil die unterschiedliche Ressourcenausstattung einzelner Akteure auch vollkommen unterschiedliche Handlungsstrategien nahelegt. Zum Beispiel:

im Bereich von erneuerbaren Energien Initiativen von Hausbesitzern, Mietergemeinschaften oder Gewerbetreibenden, die ihren Strom selbst erzeugen,

Unternehmer, Start-ups und KMU, die durch die Entwicklung und Nutzung von neuen Technologien, Digitalisierung usw. sowie die Schaffung neuer Geschäftsmodelle (beispielsweise auf der Grundlage der Sharing Economy), Produkte, Dienstleistungen und Arbeitsplätze signifikant zu einer klimaneutralen Gesellschaft beitragen,

Gewerkschaften, die gemeinsam mit ihren Mitgliedern Klimaschutzprojekte für Arbeitnehmer entwickeln und umsetzen,

Transition-Town-Initiativen für die Entwicklung von Kohlendioxidsenken (Begrünungen) in ihren Stadtquartieren.

3.10.

Die beispielhafte Aufzählung verdeutlicht, dass die Ressourcen der zivilgesellschaftlichen Akteure sehr unterschiedlich sind, die Handlungslogik sich aber stets gleicht. Sie werden ihre endogenen, materiellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen nur dann einsetzen, wenn sie eine realistische Chance erkennen, eine unmittelbare Resonanz zu erzielen. Im Umkehrschluss heißt dies auch: Dort, wo eine positive Betroffenheit nicht hergestellt werden kann, droht Inaktivität bis Widerstand (z. B. gegen neue Investitionsprojekte).

3.11.

Die Beispiele verdeutlichen auch, dass das Spektrum an Handlungsstrategien, die in ganz Europa primär von nicht-staatlichen Akteuren entworfen und umgesetzt werden, so breit und vielfältig ist wie die Zivilgesellschaft selbst.

Klimaschutz von unten als offenen Prozess verstehen lernen und soziale Sicherheit garantieren

3.12.

Es wäre völlig falsch, wenn die Politik den zivilgesellschaftlichen Akteuren im Rahmen von Top-down-Ansätzen einfach nur eine politisch ausgedachte Rolle zuschreiben würde.

3.13.

Beim anstehenden Wandel ist ein besonderes Augenmerk auf den Erhalt der sozialen Sicherheit zu setzen. „Klimaschutz von unten“ meint zwar, dass die private Initiative Einzelner an Bedeutung gewinnt und daraus wichtige wirtschaftliche Impulse entstehen, aber dies darf nicht auf Kosten der sozialen Sicherheit gehen.

3.14.

Es ist daher wichtig, dass die „Klimaschützer von unten“ Teil der Solidargemeinschaft bleiben. In bestimmten Fällen wird dies bedeuten, dass neu zu bestimmen ist, wie die Solidargemeinschaft konstituiert ist und wer welche Beiträge für die Solidargemeinschaft erbringt. Dies ist schon alleine deshalb notwendig, weil bisher die Verfeuerung und Verwertung fossiler Rohstoffe wesentliche Stützen des sozialen Wohlfahrtsstaats waren. Die Abkehr hiervon und der Wandel hin zur weitgehend kohlenstofffreien Wirtschaft dürfen nicht auf Kosten der sozialpolitischen Standards und des Wohlstands gehen, die in der Europäischen Union erreicht wurden. Darauf hat das Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft besonders zu achten; mehr noch: daraus sollten ganz neue Strategien entwickelt werden.

Ein Beispiel hierzu:

3.15.

Energie aus erneuerbaren Ressourcen kann dezentral mittlerweile so billig hergestellt werden, dass — in Verbindung mit Energieeffizienzmaßnahmen — sogar das Problem der (sozialen) Energiearmut gelöst werden könnte. Die Politik müsste allerdings entsprechenden Initiativen einen guten Rechtsrahmen und Zugang zu Investitionskapital verschaffen.

Das Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft muss das Prinzip „global denken — lokal handeln“ — neu beleben.

3.16.

Zivilgesellschaftliches Engagement im Bereich Klimaschutz ist meist lokal oder regional ausgerichtet. Die COP-Verhandlungen und viele politische Diskussionen sind jedoch global angesiedelt. Nirgendwo aber gilt der Grundsatz „Global denken, lokal handeln“ mehr als beim Klimaschutz. Die Wirkungen zivilgesellschaftlichen Handelns dürfen sich nicht in einem globalen Raum verlieren, sie müssen unmittelbar, d. h. am Ort des Handelns, erlebbar, erfahrbar, wahrnehmbar sein.

3.17.

Für die europäische Politik bedeutet dies ein Um- bzw. Weiterdenken: Mit z. B. der JI/CDM-Logik des Kyoto-Protokolls können lokale Initiativen nur wenig anfangen. Dies ist ein grundsätzliches Problem: Denn das Handeln von zivilgesellschaftlichen Akteuren findet regelmäßig auf lokaler und regionaler Ebene statt, die Rahmenbedingungen dafür werden aber vornehmlich auf nationaler und europäischer Ebene gesetzt. Der EWSA beobachtet mit Sorge, dass sich zwischen diesen Ebenen eine Kluft aufzeigt.

3.18.

Aktiver, praktizierter Klimaschutz durch zivilgesellschaftliches Handeln als zweite, tragende Säule der europäischen Klimapolitik muss vor Ort wirken und manifest werden, oder zivilgesellschaftliche Akteure handeln gar nicht.

3.19.

Eine wichtige Rolle spielen die Regionen, Städte und Gemeinden. Der EWSA beobachtet mit großer Anerkennung, welche vielfältigen Initiativen hier bereits ergriffen wurden, um diese Aktivitäten zu koordinieren. Man denke u. a. an den „World Summit on Climate and Territories“, den Bürgermeisterkonvent, an das Netzwerk ICLEI usw. Das sind vielfach Initiativen, die mittlerweile auch auf unterschiedliche staatliche Unterstützung bauen können.

3.20.

Regionalentwicklung und klimaschonende Energiepolitik könnten sich gut ergänzen, wenn die dezentrale Energieproduktion durch lokale oder regionale Strukturen geschehen und so die Wertschöpfung aus der Nutzung von Wind, Sonne und Biomasse vor Ort geschehen würde. Die Erhöhung der Akteursvielfalt macht also Sinn, doch in keinem offiziellen Dokument der EU wird diese denkbare strategische Verbindung bisher hinreichend erörtert.

3.21.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass die EU das Potenzial der Zivilgesellschaft nicht umfassend genug nutzt. So wird auch der Bürgermeisterkonvent primär als eine Stütze bei der Umsetzung der von der EU gesetzten Ziele gesehen. Die Rolle des Konvents als Impulsgeber für neue politische Initiativen wird hingegen nicht ausreichend gewürdigt bzw. nicht systematisch abgerufen.

4.   Die fünf Aufgaben eines Bündnisses aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft

4.1.

Im Bündnis wird es um folgende fünf Aufgaben gehen:

4.1.1.

Erstens brauchen wir ein besseres Verständnis, welche Klimaschutzhandlungen zivilgesellschaftliche Akteure in unterschiedlichen Rollen vorhaben und umsetzen wollen.

4.1.2.

Zweitens sind die strukturellen Probleme und Barrieren, die einer erfolgreichen Umsetzung im Wege stehen, zu identifizieren und zu beheben. Daraus entsteht dann die Aufgabe an die Politik die bürokratischen Hürden und komplexen Verfahren zu beseitigen, die das Nicht-Handeln von zivilgesellschaftlichen Akteuren bedingen oder das Handeln maßgeblich erschweren. Mit der Mitteilung „Verbesserte Möglichkeiten für die Energieverbraucher“ hat die EU-Kommission einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen (4). Er ist aber bei Weitem nicht ausreichend, u. a. weil der Prosumer-Begriff viel zu eng ausgelegt wird (5).

4.1.3.

Drittens sind die Erfolgsbeispiele noch besser bekannt zu machen.

4.1.4.

Viertens sind die entscheidenden Erfolgsbedingungen und -faktoren zu benennen.

4.1.5.

Fünftens gilt es, einen politischen Rahmen zu entwickeln, der die notwendigen Handlungsbedingungen schafft, damit zivilgesellschaftliche Akteure Handlungsstrategien für Klimaschutz entwerfen und umsetzen können. Die Vermittlung des Handlungsrahmens ist als Aufgabe des Mehrebenen-Regierens zu beschreiben. Denn für die Umsetzung des Handlungsrahmens ist ein gemeinsames Verständnis bei politischen Entscheidungsträgern auf europäischer, nationaler und subnationaler Ebene ebenso erforderlich wie deren koordiniertes Handeln.

4.2.

Die Umsetzung der Aufgaben erfordert zusätzliche administrative Unterstützung, mit der folgende Arbeiten als Grundlage für die Diskussionen im Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft erstellt werden müssen:

Umfassende Erfassung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die für Klimaschutz von unten infrage kommen.

Systematische Recherche von Beispielen für bereits realisiertes zivilgesellschaftliches Klimaschutzhandeln vorrangig auf regionaler oder lokaler Ebene, auf deren Basis im Diskussionsforum akteursgruppenspezifische Prototypen definiert werden können.

Entwicklung und Umsetzung einer europaweiten, später auch globalen Kommunikationsstrategie der als prototypisch identifizierten Handlungsmodelle, und zwar spezifiziert nach Akteursgruppen.

Analyse der auf dem Diskussionsforum als prototypisch identifizierten Handlungsmodelle hinsichtlich der zentralen Erfolgsbedingungen und -faktoren mit entsprechenden wissenschaftlichen Methoden und Aufbereitung der Analyseergebnisse.

Unterstützung von ressourcenschwachen zivilgesellschaftlichen Akteuren, damit sie aktiv am Bündnis teilnehmen können.

4.3.

Die Rolle von Politik und Verwaltung wird sein, dieses Bündnis — ggf. in Zusammenarbeit mit dem EWSA — zu koordinieren, sich mit den dargestellten Hindernissen auseinander zu setzen und diese möglichst abzubauen; oder zumindest klare Antworten darauf zu geben, weshalb sie glauben, dass bestimmte Initiativen eben nicht umgesetzt werden sollten.

Der notwendige Handlungsrahmen — Auswirkungen auf die Finanzierung von zivilgesellschaftlichem Klimaschutz und die Entwicklung neuer Wirtschaftsmodelle.

4.4.

Nur wenn ein Handlungsrahmen, der die vielfältigen Rollen der Akteure der Zivilgesellschaft würdigt, die unterschiedliche Ressourcenausstattung anerkennt, Erfolgsfaktoren berücksichtigt und positive Rahmenbedingungen schafft, existiert, werden die Akteure der Zivilgesellschaft auch Zugang zu Kapital und weiteren Investivmitteln finden. Dies ist bis heute ein relevantes praktisches Problem, das von der Politik zu wenig Berücksichtigung findet. Denn das Übereinkommen von Paris hat enorme finanzielle Auswirkungen, die weit über den globalen Klimaschutzfonds in Höhe von 100 Mrd. USD jährlich hinausgehen.

4.5.

Gerade kleine, lokale Banken und andere Fremdkapitalgeber vergeben nur dann Kredite an zivilgesellschaftliche Initiativen für Klimaschutz, wenn die Refinanzierung relativ sicher ist. Auch diese Bedingung — die wenig riskante Refinanzierung von Investitionen in Klimaschutz durch zivilgesellschaftliche Akteure — muss der politische Rahmen erfüllen.

4.6.

Der Handlungsrahmen muss langfristige Planungs- und Investitionssicherheit schaffen. Nichts ist schädlicher für das notwendige Engagement als die Unsicherheit, die von ständigen politischen Umorientierungen ausgeht.

4.7.

Es werden alternative Investitionsmöglichkeiten für lokal wirksame Projekte gebraucht, deren Chancen und Risiken zivilgesellschaftliche Akteure aus eigener Anschauung selbst einschätzen und managen können — beispielsweise als Mitglied in einer Genossenschaft. Wenn die Allgemeinheit erkennt, dass Investitionen „bei ihnen“ ankommen und sich nicht im Geflecht von Finanzinstitutionen und Großinvestoren anonymisieren, kann dies auch das erschütterte Vertrauen in die Finanzinstitutionen verbessern.

4.8.

Soweit ein stabiler und solider Handlungsrahmen vorliegt, ist ein anderes Wachstum in veränderten Wirtschaftsstrukturen möglich. Für das neue „Wachstum“ wird Sozialkapital vermutlich ebenso wichtig werden wie Finanzkapital. Die Entfremdung der Arbeit wird durch die Entwicklung von Prosumkonzepten partiell aufgehoben werden, und die Arbeitsteilung wird stärker in Gemeinschaftsstrukturen organisiert werden. Hieraus ergibt sich ein immenses Potenzial für soziale Innovation, die für eine ambitionierte Klimaschutzpolitik unentbehrlich ist. Neue Rollen, die mit Prosumer, Plattformen und Aggregatoren noch ungenau beschrieben sind, entstehen. Gerade im „Prosum“ kann ein wesentlicher Erfolgsfaktor gesehen werden, um zu einer nachhaltigen Lebensführung und zum nachhaltigen Wirtschaften zu gelangen.

4.9.

Diese neue Form der Wirtschaft ist keine Utopie, sondern wird bereits heute in zahlreichen, vor allem lokal organisierten Klimaschutzinitiativen sichtbar und insofern auch skalierbar. Skalierung, Nachahmung und Ausweitung sind nicht nur wegen der ambitionierten Klimaschutzziele dringend notwendig. Vielmehr sind sie Voraussetzung dafür, die Kosten des Wandels zu reduzieren und einen Konflikt zwischen klima- und sozialpolitischen Zielen zu vermeiden.

4.10.

Der EWSA hebt hervor, dass im Übereinkommen von Paris ausdrücklich die Notwendigkeit einer gerechten Umgestaltung der Arbeitswelt verankert ist, was bereits auf der Klimakonferenz von Lima festgestellt wurde. Im Rahmen des neuen Wirtschaftsmodells müssen qualitativ hochwertige Arbeitsplätze geschaffen werden. Möglich ist dies auf dem Wege eines starken sozialen Dialogs und über Tarifverhandlungen, in die sich die Unternehmer einbringen und die durch Inhalte bzw. Maßnahmen flankiert werden, wie bspw. durch Fortbildungsmaßnahmen für Arbeitnehmer zur Vermittlung der neuen Qualifikationen, die im Rahmen der Energie- und Ökologiewende erforderlich sind, und durch Maßnahmen zur Stärkung der Sozialschutzsysteme. Auch hierfür ist ein positiver Handlungsrahmen nötig. Nur dann ist es zivilgesellschaftlichen Akteuren möglich, die Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeitsverluste in einigen Sektoren, die bei einer Transformation unvermeidlich sind, zu kompensieren und wirtschaftliches Wachstum, das sozial, nachhaltig und inklusiv ist, zu ermöglichen.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe Debatte in der ESWA Plenartagung am 20. Januar 2016.

(2)  Siehe IMF Working Paper „How Large Are Global Energy Subsidies?“ (WP/15/105).

(3)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 18.

(4)  COM(2015) 339 final.

(5)  ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 22.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die digitale Säule des Wachstums: E-Senioren, ein Potenzial in einer Größenordnung von 25 % der europäischen Bevölkerung“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 389/04)

Berichterstatterin:

Laure BATUT

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. Januar 2016 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die digitale Säule des Wachstums: E-Senioren, ein Potenzial in einer Größenordnung von 25 % der europäischen Bevölkerung“.

(Initiativstellungnahme)

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 21. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 13. Juli) mit 189 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

In Anbetracht des Wirtschaftspotenzials der Senioren, die 25 % der EU-Bevölkerung ausmachen, ist es nach Meinung des EWSA dem Wachstum abträglich, die Senioren als alltagsferne Bevölkerungsgruppe zu betrachten. Es gilt vielmehr, ihre Fähigkeiten und Erwartungen anzuerkennen und ihre Inklusion als wirtschaftliche und soziale Akteure des digitalen Zeitalters sicherzustellen. Der EWSA empfiehlt, rasch folgende Maßnahmen umzusetzen:

1.

Neue Herangehensweise an die Seniorenwirtschaft oder Silver Economy, da die Digitalisierung zur Überbrückung der Generationenkluft beiträgt und die Senioren Akteure der Wertekette sind und ihr Leben selbstständig gestalten können;

2.

Förderung der digitalen Inklusion der Senioren im Zuge des Treffens der für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz zuständigen Minister im Juni 2016 und des Gipfels der Staats- und Regierungschef im Dezember 2016 zur Thematik „Senioren“ zur Bewältigung des digitalen und des demografischen Wandels;

3.

Entwicklung einer globalen Governance zur Einbeziehung der Senioren in die Digitalisierung, indem leistungsfähige öffentliche Dienste entwickelt werden, die auf allen Ebenen, auch der Gebietskörperschaften, über eine angemessene Mittelausstattung verfügen und von den Auflagen des Europäischen Semesters ausgenommen sind;

4.

Festlegung einer horizontalen EU-Klausel für die Gleichstellung der Senioren und Anreize für ihre Umsetzung durch die für Gleichstellung in den Mitgliedstaaten zuständigen Ministerien;

5.

Einbeziehung der repräsentativen Seniorenverbände und des EWSA in die Überlegungen der Gruppe der Interessenträger zum Thema Sharing Economy, die vom Europäischen Parlament gefordert wurde;

6.

Förderung des Zugangs der Senioren zur digitalen Welt und der digitalen Barrierefreiheit durch den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, indem für ihre erfolgreiche Inklusion unverzüglich Schulungsprogramme im Zuge des lebenslangen Lernens entwickelt werden, durch die Anpassung von Hard- und Software und durch Mentoring;

7.

Festlegung von Indikatoren zur Messung der wirtschaftlichen Bedeutung der Senioren, ihrer Lebensqualität und der Vorteile aus den einschlägigen Innovationen;

8.

Förderung des Zugangs der Senioren zu einem europäische Programm für den Austausch bewährter Verfahren, beispielsweise über eine Plattform mit dem Namen „SENEQUE — Seniors Equivalent Erasmus“;

9.

Vertrauensbildung und Sensibilisierung der Bürger für die europäischen Rechtsvorschriften zur Digitalisierung durch ihre Veröffentlichung in Form eines Kodexes und über eine digitale zentrale Stelle, wobei der Mehrsprachigkeit Rechnung zu tragen ist;

10.

Anerkennung des Zugangs zum Internet als Grundversorgungsanspruch, der erschwinglich sein muss, in allen Mitgliedstaaten; im Falle von Preisbarrieren Förderung der Festlegung regulierter Tarife bzw. Bereitstellung eines freien und kostenlosen Internetzugangs in bestimmten Räumen für Senioren mit geringem Einkommen;

11.

Förderung der Schaffung öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP), die in Humankapital investieren, indem IKT-Großunternehmen im Rahmen ihrer sozialen Verantwortung in allen Grundschulen der EU (außerhalb der Schulzeiten) kostenlose Kurse für Senioren anbieten;

12.

Abbau der Hindernisse für Senioren beim Zugang zu Darlehen;

13.

Förderung eines „Freiwilligendienstes“ zur Bekämpfung des digitalen Analphabetismus.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die Europäische Union steht vor einer Herausforderung, der sich noch keine Gesellschaft zuvor stellen musste: Zum einen steigt die Lebenserwartung der Bevölkerung und zum anderen wird gleichzeitig die Digitalisierung Teil des Alltags. Hierfür müssen echte wirtschaftliche und soziale Strategien erarbeitet werden.

2.2.

Im Jahr 2060 wird es Prognosen zufolge (siehe Bericht der Europäischen Kommission „The 2015 Ageing Report“) doppelt so viele ältere wie junge Menschen geben, wobei die Zahl der Hochbetagten die Zahl der unter 5-Jährigen übertreffen wird. Ausgehend vom Medianalter (Eurostat) werden Schweden, Deutschland, Polen, Rumänien und die Slowakei als erste Mitgliedstaaten von dieser Entwicklung betroffen sein, gefolgt von Belgien, Dänemark und Irland einige Jahre später und schließlich den restlichen Mitgliedstaaten.

2.3.

Die Senioren und älteren Arbeitnehmer werden sowohl als Bedrohung für die Sozialschutzsysteme als auch als Chance für den Waren- und Dienstleistungssektor angesehen. Im Jahr 2011 legte die EU eine Agenda für Erwachsenenbildung (1) mit fünf strategischen Schwerpunkten auf, um eine Wirtschaft mit hohem Beschäftigungseffekt zu schaffen und die Qualität und die Wirksamkeit des Aus- und Weiterbildungsangebots für Erwachsene zu verbessern.

2.4.

Der EWSA hält fest, dass die Senioren von dieser Agenda nicht unmittelbar betroffen waren.

Was ist ein Senior?

2.5.

Als erste Generation, die in den EU-Ländern ohne Krieg aufgewachsen ist, sind die so genannten Babyboomer (die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg) und ihre Eltern die proeuropäischste Generation der Geschichte. Sie werden heute als „Senioren“ angesehen. In ihrem Hintergrunddokument „Growing the European Silver Economy“ von Februar 2015 bringt die Europäische Kommission ihre Absicht zum Ausdruck, den Bedürfnissen der Bürger über 50 Rechnung zu tragen. Diese Bevölkerungsgruppe wird manchmal in drei Untergruppen unterteilt: aktiv, schutzbedürftig und abhängig. Der EWSA übernimmt diese Begriffsbestimmung, die seinen Vorschlag untermauert, dass ein neues „Senioren“-Konzept erforderlich ist: Sie müssen als Akteure des Wachstums anerkannt werden.

2.6.

Die Bevölkerungsalterung bedeutet eine Zunahme des Anteils älterer Menschen an einer Bevölkerung aufgrund des Rückgangs der Geburten- und der Sterberate. Japan („Étude comparative du marché des seniors français et japonais — Opportunités croisées“, David Barboni, in Eurasiam, Série Management no 001, 2007), wo der demografische Wandel deutlich weiter vorangeschritten ist, hat eine eigene Konsumdynamik für Senioren in den Segmenten Wohlergehen, Gesundheit, Finanzen, Versicherungswesen, Vertrieb und Fremdenverkehr angestoßen. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) gehören zu den Gütern, die eine Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen. Sie sind allerdings auf die Senioren als Verbraucher und nicht als Akteure der digitalen Gesellschaft zugeschnitten — im Mittelpunkt stehen kurzfristige Gewinne für die IKT-Unternehmen. Das ist zwar wichtig, aber auch einseitig gedacht.

2.7.

In der EU fallen die Babyboomer nicht einfach in die Kategorie „Senioren als Verbraucher“. Sie haben als erste Generation in der Geschichte Europas vielfach eine Sekundar- und Hochschulausbildung abgeschlossen und sind dann als aktive und produktive Marktteilnehmer aufgetreten. Viele dieser Männer und Frauen können nun weiterhin aktiv bleiben — in der Marktwirtschaft oder in der Sozial- und Solidarwirtschaft.

2.8.

Zuweilen herrscht der Eindruck, Senioren würden sich nur langsam mit den IKT auseinandersetzen und hätten Schwierigkeiten bei deren Nutzung. Im Gegenteil: Sie waren oftmals die ersten, die IKT eingesetzt und Neuerungen angestoßen haben („The Seven Myths of Population Aging“, Julika Erfurt et al., Accenture, Februar 2012). Im Jahr 2010 erfolgten in Frankreich mehr als 16 % Unternehmensgründungen durch über 50-Jährige, wobei wiederum fast die Hälfte dieser Unternehmer — erwerbstätige Senioren, noch aktive Unternehmer oder sogar Rentner — hierfür eigene Mittel einbrachten (siehe Artikel von Yann Le Galès, Le Figaro, 27. April 2012).

Eine neue Herangehensweise

2.9.

Der Begriff Seniorenwirtschaft oder Silver Economy wird in der EU erst seit der Erklärung und dem Internationalen Aktionsplan der UN über das Altern (2002) und der Erklärung des Rates der EU über das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen (2012) verwendet. Nach Meinung der Europäischen Kommission muss alles getan werden, um ein Altern in Würde zu ermöglichen, insbesondere dank IKT. Die EU sollte hierbei eine Führungsrolle übernehmen. Als Seniorenwirtschaft können die wirtschaftlichen Perspektiven bezeichnet werden, die sich durch die privaten und öffentlichen Ausgaben in Verbindung mit der Alterung der Bevölkerung und den besonderen Bedürfnissen der Bevölkerung über 50 eröffnen (Europäische Kommission, Website „Silver Economy“).

2.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Aspekte Wohlergehen, Autonomie und Abhängigkeit und Markt berücksichtigt werden müssen. Die europäischen Senioren stellen beinahe 125 Mio. Bürger, die ihr Leben, die Wirtschaft und das Wachstum selbstständig gestalten wollen; Informationstechnologien müssen genauso Teil ihres Lebens wie des Lebens der erwerbstätigen Bevölkerung sein.

2.11.

Daher betont der EWSA, dass für das Alter eine Herangehensweise gefunden werden muss, die im fließenden Übergang zu den anderen Lebensabschnitten steht und nahtlos daran anschließt, wobei jeder fitte Senior über seine Lebenserfahrung und digitalen Kompetenzen verfügt und nicht aus der Gesamtheit aller Akteure der Wertekette herausgelöst werden kann. Es bedarf einer dynamischen und inklusiven Vision der Senioren, und zwar nicht nur im letzten Lebensabschnitt. Die Digitalisierung darf nicht nur auf die „technisch-medizinische Unterstützung“ ausgerichtet sein.

2.12.

Dies tut weder dem Rentenanspruch (Artikel 25 und 34 der Charta der Grundrechte sowie Artikel 153 und 156 AEUV) noch den Rentensystemen, die in den Mitgliedstaaten unterschiedlich sind, einen Abbruch.

2.13.

Eine umfassende und inklusive Herangehensweise könnte eine Garantie für alle älteren europäischen Bürger sein, dass digitale Innovation für sie von Belang ist. Nach Ansicht des EWSA müssen alle Ebenen ihrer Verantwortung nachkommen, damit die EU die angestrebte führende Rolle in Bezug auf die Seniorenwirtschaft auch wirklich übernehmen kann.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.    Alle Unionsbürger über 50 müssen dringend E-Senioren werden

IKT und digitale Kompetenz sind ein Muss. Hierfür sind politischer Wille und Ressourcen notwendig. Sämtliche Institutionen beschäftigen sich mit dem digitalen Wandel; der EWSA fordert, die 125 Mio. Bürger über 50 Jahre darin einzubeziehen.

3.1.1.

Die Generation der Babyboomer, nunmehr in ihrem dritten Lebensabschnitt angelangt, verfügt über ein Atout: die IKT-Revolution. Es ist dringend erforderlich, sich von einer reinen Marktorientierung zu lösen und alle Bürger in die Welt des Wissens und die IKT-Welt zu integrieren, denn die Vernetzung ist allgegenwärtig. Die EU muss zum einen die europäische Interoperabilität gewährleisten und zum anderen die Mitgliedstaaten in einem sehr fragmentierten Umfeld schützen. Die im April 2016 vorgelegten Kommissionsmitteilungen (COM(2016) 176, 178 und 179 final) betreffen indes nur technische Aspekte und klammern die soziale Dimension aus. Die Mitteilung der Europäischen Kommission von Juni 2016 „Eine neue europäische Agenda für Kompetenzen“ (COM(2016) 381 final) und der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Einführung einer Kompetenzgarantie (COM(2016) 382 final) heben auf Beschäftigungsfähigkeit und Produktivität ab. Darin gibt es keinerlei Verweis auf die Senioren und auch nur einige wenige Verweise auf die Digitalisierung. Der EWSA hofft, dass auf dem Treffen der zuständigen EU-Minister im Juni und dem Gipfel der EU-Staats- und -Regierungschefs im Dezember 2016, auf deren Tagesordnung die Thematik „Senioren“ steht, der Weg für die digitale Inklusion der Senioren sowie die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen geebnet wird. Dies ist unabdingbar, um den digitalen und den demografischen Wandel zu bewältigen.

3.1.2.

Zur Förderung des Zusammenhalts sowie zur Information und Sensibilisierung älterer Menschen und aller Bevölkerungsgruppen insgesamt schlägt der EWSA vor, sämtliche bereits angenommenen EU-Dokumente zur Digitalisierung in Form eines Kodexes zu veröffentlichen und die Einrichtung einer digitalen zentralen Stelle in Betracht zu ziehen, wobei der Mehrsprachigkeit Rechnung zu tragen ist.

3.2.    Als Senior in der digitalen Gesellschaft leben  (2)

3.2.1.

Mittels Digitalisierung kann man insbesondere auch im Alter und bei eingeschränkter Mobilität Neues erlernen und proaktiv sein. Sie kann verhindern, dass Menschen ins Abseits gestellt werden, und erleichtert den Wissensaustausch. Sie kann auch zu einer Umkehr des Mentoringprozesses zwischen den Generationen und der Überbrückung der Generationenkluft führen.

3.3.    Abfederung des Renteneintritts der Generation der Babyboomer: Bewusste Nutzung der Digitalisierung

3.3.1.

Der EWSA hat eine Reihe von Stellungnahmen zu den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten der digitalen Innovationen veröffentlicht, u. a. Infrastruktur, Rechte, Kosten, Telemedizin, Online-Gesundheitsdienste (eHealth), aktives Altern, Computerkriminalität, intelligente Städte, intelligente Mobilität, intelligente Inseln und Netzneutralität.

3.3.2.

Die Europäische Kommission sollte alle Generationen ohne regionale Unterschiede berücksichtigen und mit einem langfristigen Zeithorizont (2060) arbeiten, da die Kurve der Bevölkerungsalterung (3) in allen Mitgliedstaaten steiler wird.

3.3.3.

In ihren Mitteilungen vom 19. April 2016 (4) hält die Europäische Kommission fest, dass sie sich mit der IKT-Normung „als Eckpfeiler des digitalen Binnenmarkts“, der Digitalisierung der Wirtschaft und Cloud Computing auseinandersetzen will.

3.3.4.

Der niederländische und der slowakische Ratsvorsitz haben den EWSA um eine Sondierungsstellungnahme zu den sozialen Auswirkungen mit dem Titel „Der Wandel der Beschäftigungsverhältnisse und seine Auswirkungen auf die Wahrung eines existenzsichernden Arbeitseinkommens sowie Auswirkungen technischer Entwicklungen auf das System der sozialen Sicherheit und das Arbeitsrecht“ ersucht, die der Ausschuss am 26. Mai 2016 verabschiedet hat.

3.3.5.

In seiner Entschließung vom 19. Januar 2016 zum Thema „Auf dem Weg zu einer Akte zum digitalen Binnenmarkt“ (Ziffer 80) fordert das Europäische Parlament„die Kommission auf, eine Interessenträgergruppe einzurichten, die für die Verbreitung bewährter Verfahren in der Wirtschaft des Teilens zuständig ist.“ Die Sharing Economy (so die vom EWSA gewählte Bezeichnung) beruht großteils auf der Digitalisierung. Die Senioren können sehr gut die Aufgabe der Repräsentation der Zivilgesellschaft übernehmen. Der EWSA ist bereit, sich an dieser Initiative zu beteiligen.

3.4.    Sind die Risiken für die E-Senioren größer?

3.4.1.

In Verbindung mit Big Data, Cloud Computing, dem Internet der Dinge, 3D-Druck und weiteren Technologien, die mit der äußerst schnellen Verbreitung des Internet in unserem Alltag entstanden sind, sind einige Ängste nach wie vor weit verbreitet. Senioren sind für diese Ängste anfälliger als die junge digitale Generation und blockieren aufgrund der

Angst vor einer komplizierten Nutzung;

Angst vor einem Eingriff in die Privatsphäre;

Angst, bei Online-Zahlungen „ausgeraubt“ zu werden;

Angst, dass das alles gefährlich ist.

3.4.2.

Der EWSA stimmt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments zu, „dass das Vertrauen der Bürger und Unternehmen in das digitale Umfeld ausschlaggebend ist, wenn es gilt, das Innovations- und Wachstumspotenzial der digitalen Wirtschaft vollständig zu erschließen“.

3.4.3.

Durch die Krise und die Ausrufung des Notstands wird das Gefühl einer Bedrohung der Freiheiten und der Hyper-Überwachung noch verstärkt und werden die Ängste vor Cyberkriminalität noch geschürt.

3.4.4.

Die Dokumente, die die EU und ihre Mitgliedstaaten zum Schutz der Nutzer verabschiedet haben, sind kaum bekannt. Die Senioren, die nicht mehr über die Schule an IKT herangeführt werden können, müssen für diese Technologien sensibilisiert, über sie informiert und für ihre Nutzung geschult werden, ohne dabei jedoch überfordert zu werden. So könnten Fortschritte erzielt und die Informationsdiskrepanz zwischen den großen, meist ausländischen Betreibern, und den Bürgern als Nutzer verkleinert werden.

3.5.    Die EU, die nationalen Behörden, die Unternehmen und der Dienstleistungssektor müssen handeln

3.5.1.   Auf EU-Ebene

Die Digitalisierung sollte die sozialen Kosten in Verbindung mit der Bevölkerungsalterung senken. Rund 58 Mio. Unionsbürger zwischen 16 und 74 Jahren haben noch nie das Internet genutzt (Bridging the digital divide in the EU, Briefing des Europäischen Parlaments). Schätzungen einer Wohltätigkeitsorganisation aus dem Jahr 2014 zufolge ist der Anteil der Menschen zwischen 50 und 59 Jahren, die soziale Unterstützung erhalten, zwischen 2000 und 2013 von 13 auf 17 % gestiegen (Secours catholique, Zitat aus Le Monde, 6. November 2014). Dies zeugt von der massiven Zunahme der Arbeitslosenquote von Senioren und der Verschlechterung der Lage für aktive Senioren und unterstreicht deutlich, dass dringend gehandelt werden muss, da dies das Wachstum, das mit der Digitalisierung angetrieben werden sollte, bremst.

3.5.1.1.   Der Grundsatz der Gleichheit (Artikel 20 der Charta der Grundrechte) darf nicht allein auf die Idee von Pflege (care) reduziert werden.

Der EWSA fordert, dass die EU eine horizontale Klausel für die Gleichstellung der Senioren festlegt und die für Gleichstellung in den Mitgliedstaaten zuständigen Ministerien mit ihrer Anwendung beauftragt. Und Vernetzung hat ihren Preis. Angesichts der Risiken für die Rentensicherung sollten für Senioren nach Meinung des EWSA in allen Mitgliedstaaten ein freier und kostenloser Internetzugang in bestimmten Räumen bereitgestellt und im Falle von Preisbarrieren die Festsetzung regulierter Tarife erwogen werden.

3.5.1.2.   Eine globale Governance

3.5.1.2.1.

In einem Gesamtansatz könnte eine neue Governance eine aktive generationenübergreifende Solidarität anstoßen und für einen nachhaltigen sozialen Sektor sorgen.

Nach Ansicht des EWSA sollten die Akteure der Zivilgesellschaft, darunter auch die potenziellen Nutznießer von Innovationen im Bereich Gesundheit und Unabhängigkeit, an Dialogstrukturen teilhaben.

Der EWSA empfiehlt, dass die Senioren sich auf allen Ebenen zusammenschließen, um ihre Repräsentativität zu gewährleisten.

Der EWSA unterstützt die Aussagen, dass „die Bürger zu aktiver Mitwirkung angeregt werden“ müssen, damit „sie vom digitalen Wandel profitieren können“ und „fordert die Kommission auf, auch künftig zu beobachten, wie sich die Gesellschaft in der EU im Zuge der digitalen Revolution wandelt“. Nach Ansicht des EWSA müssen dabei auch den Entwicklungen im Seniorenbereich Rechnung getragen werden.

3.5.1.3.   Finanzierung

In der Industrie und im Dienstleistungssektor wurden bereits erhebliche Veränderungen auf den Weg gebracht (5).

3.5.1.3.1.

Es stehen spezifische Mittel (Forschung, Breitband, Nachrichtendienste) sowie Strukturfonds und eigene Programme zur Förderung der Digitalisierung zur Verfügung. Die erforderlichen Investitionen zur Wahrung der Vorrangstellung der EU wurden indes nicht quantifiziert. Die Bedürfnisse aller Unionsbürger, von den Schulkindern bis zu den Senioren unter Berücksichtigung des lebenslangen Lernens, sollten allerdings beziffert werden. Die Vorschriften für die Haushaltsdisziplin dürfen keinesfalls auf die bereitgestellten Mittel Anwendung finden. Außerdem müssen die Hindernisse für den Zugang älterer Menschen zu privaten Finanzierungsmöglichkeiten (Darlehen) dringend abgebaut werden (6).

3.5.1.3.2.

Die Europäische Kommission schlägt öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) vor. Der EWSA steht diesem Vorschlag skeptisch gegenüber, da das Risiko immer das gleiche ist: Der private Sektor wird erst dann tätig, wenn er einen möglichen Gewinn sieht, die Zinskosten belasten die öffentliche Verschuldung, und in der Praxis wurde ein Teil des öffentlichen Sektors effektiv bereits privatisiert.

3.6.    Auf Ebene der nationalen und regionalen Behörden

3.6.1.

Eine echte öffentliche digitale Politik für Senioren

Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass der Zugang zum Internet als Grundversorgungsanspruch anerkannt werden muss, und dabei betont, dass er wirtschaftlich erschwinglich sein muss, um die sozialen und geografischen Ungleichheiten zu bekämpfen. Die Errichtung öffentlicher Räume für Senioren mit freiem Internetzugang wäre ein Schritt in diese Richtung.

Auch die öffentlichen Dienstleistungen müssen den Problemen von Senioren Rechnung tragen: Verkehrs-, Gesundheits-, Postdienste, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, soziale Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse usw.

3.6.2.

Die nationalen und regionalen Behörden müssen dafür sorgen, dass die Senioren sich neue Gewohnheiten in Sachen Datenschutz und Datensicherheit aneignen. Soziale Inklusion und digitale Inklusion müssen untrennbar miteinander verbunden sein. Dies ist umso wichtiger, je stärker Senioren an Autonomie verlieren. Die territoriale Ebene fördert eine derartige Entwicklung aufgrund ihrer Nähe zu den Senioren. Der EWSA schlägt die Einrichtung eines „Freiwilligendienstes“ zur Bekämpfung des digitalen Analphabetismus vor.

3.6.3.

Es gilt, nationale Sensibilisierungskampagnen zu starten

3.6.4.

Inklusion der Senioren: Es sollte Aufgabe der Mitgliedstaaten sein, ihre Bürger über die Schulungsmöglichkeiten zu informieren, die sie den Senioren zum Erwerb digitaler Kompetenzen bieten. Sensibilisierungskampagnen in den Medien könnten dazu beitragen.

3.6.4.1.   Durch Kompetenzen und Schulungen

3.6.4.2.

Die Senioren müssen digitale Kompetenzen aufbauen bzw. aufrechterhalten. Die wichtige Arbeit der NGO reicht nicht aus. Die Senioren wollen ihre Qualifikationen anerkannt wissen und lebenslang lernen. In der Slowakei beispielsweise gibt es 18 Hochschulen für Senioren und zahlreiche Akademien für ältere Menschen mit einem geringeren Bildungsniveau.

3.6.4.3.

Durch Bildung und digitale Kompetenz: Der EWSA bekräftigt seine Forderung, die Medien- und Internetkompetenz aller EU-Bürger und insbesondere von Benachteiligten und Schutzbedürftigen, zu fördern (7), und begrüßt die Schaffung einer „Großen Koalition für digitale Arbeitsplätze“ auf europäischer Ebene. Er betont, dass viele Akteure zu den Schulungen beitragen.

3.6.4.4.

Nach Meinung des EWSA sollte die Europäische Kommission mit den Mitgliedstaaten und den Hochschulen bei der Ermittlung des Kompetenzbedarfs der Senioren und möglicher Lösungen zusammenarbeiten, beispielsweise durch den Aufbau institutioneller Kontakte zu den Hochschulen, um den Zugang der Senioren zu Online-Kursen („massive open online courses“ — MOOC) zu erleichtern.

3.6.5.

Durch Barrierefreiheit und Teilhabe aller Senioren

3.6.5.1.

Wie das Europäische Parlament (8) hebt auch der EWSA hervor, „dass geschlechterspezifische Stereotypen unbedingt überwunden werden müssen“, betont, „dass Innovatorinnen und Unternehmerinnen ein erhebliches Potenzial mitbringen und beim digitalen Wandel eine wichtige Rolle spielen können“ und unterstützt „ihre Integration in die und ihre Mitwirkung an der Informationsgesellschaft“. Der EWSA ist sich bewusst, dass Seniorinnen oftmals nur eine von Unterbrechungen geprägte berufliche Karriere verfolgen konnten und stärker als Männer von Altersarmut in der Rente betroffen sind. Diesem Umstand muss bei der Ausarbeitung von Maßnahmen zur Inklusion von Frauen in die digitale Welt der Senioren Rechnung getragen werden.

3.6.5.2.

Der EWSA stellt fest, „dass der digitale Binnenmarkt allen Bürgern und auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen, älteren Menschen, Minderheiten und anderen Angehörigen benachteiligter und schutzbedürftiger Gruppen Zugang und Teilhabe ermöglichen kann, wobei dies […] für alle Aspekte der Digitalwirtschaft gilt“ (9), er möchte jedoch, dass „ältere Menschen“ Wirtschaftsakteure bleiben und nicht durchweg stigmatisiert und als „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ angesehen werden.

3.6.5.3.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Richtlinie zur Barrierefreiheit (10), bedauert jedoch, dass dieser erst so spät vorgelegt wird und der Vertrag von Marrakesch nicht ratifiziert wurde. Er versteht unter Barrierefreiheit im digitalen Bereich den barrierefreien Zugang zu Hard- und Software. Es bedarf einer erleichterten Bedienung für Senioren und einer stärker ihren Bedürfnissen angepassten mehrsprachigen Software sowie öffentlicher digitaler Räume, die Menschen miteinander vernetzen. Für Benachteiligte und Schutzbedürftige ist die soziale Vernetzung lebensnotwendig.

3.6.6.

Der EWSA empfiehlt, das europäische Programm „Erasmus +“ um die Dimension „Senioren“ zu erweitern, die als Plattform für den Austausch bewährter Verfahren mit dem Namen „SENEQUE — Seniors Equivalent Erasmus“ gestaltet sein könnte.

3.6.7.

Förderung von Kreativität und Innovation in allen Altersstufen mittels Digitalisierung: Die Senioren selbst wissen am besten, was sie benötigen, und können so die Menschen und Verbände, die sie unterstützen, darauf hinweisen.

3.7.    In den Unternehmen und im Dienstleistungssektor: Tätigkeit und Beschäftigung

Der EWSA schlägt eine ÖPP vor, die in Humankapital investiert, indem kostenlose Kurse von den IKT-Großunternehmen als Teil ihrer sozialen Verantwortung angeboten werden: Die Unternehmen sollten Mitarbeiter, die kurz vor der Rente stehen, betreuen und diese Kurse ferner für alle Senioren anbieten und dafür öffentliche Schuleinrichtungen (außerhalb der Schulzeiten) in allen Mitgliedstaaten nutzen.

In der EU fehlt es an den notwendigen digitalen Kompetenzen (900 000 offene Stellen im IKT-Bereich (11)). Die Umschulung älterer Arbeitnehmer könnte hier Abhilfe schaffen, wobei die Situation im Vergleich zur globalen Konkurrenz bewertet werden muss. Um digitales Unternehmertum, Bildungsmaßnahmen und Start-ups, den Auf- und Ausbau der digitalen Kompetenzen aller Bürger und die Verbesserung ihres Wohlbefindens zu fördern, sind erhebliche öffentliche Investitionen erforderlich.

Angesichts der Massenarbeitslosigkeit können die Senioren dank der Wirtschaft 4.0 Netze aufbauen und neue Unternehmen gründen und somit dauerhafte Arbeitsplätze mit hohem Mehrwert vor Ort schaffen, u. a. in den Bereichen personenbezogene Dienstleistungen und Gesundheit, Unterstützung der Autonomie und Prävention (12).

Im Zusammenhang mit der Sharing Economy und ihren verschiedenen Formen bringt die EU ihre Grundsatzhaltung zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und zur Vereinbarkeit der Sharing Economy mit dem Ziel einer „sozialen Marktwirtschaft“ nicht deutlich zum Ausdruck, obwohl ein zunehmender Anteil der betroffenen Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts de facto rechtswidrig tätig ist. Senioren laufen Gefahr, stärker als andere Bevölkerungsgruppen von dem Einfluss der Digitalisierung auf den sozialen Zusammenhalt betroffen zu sein.

3.8.    Revolutionen

3.8.1.

Die Digitalisierung macht es möglich, die sozialen Beziehungen sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben zu gestalten, insbesondere in Bezug auf das Alter.

3.8.2.

Die Sharing Economy kann Menschen einander näherbringen, namentlich durch Lernmethoden, mit denen alle Formen von Intelligenz gefördert werden, und durch innovative Gesundheitslösungen, damit Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen umfassend an der Gesellschaft teilhaben und, wenn sie schon nicht mobil sind, so doch agil sein können (ubiquitous).

3.8.3.

Gleichzeitig bewirkt sie jedoch auch eine Auflösung der klassischen Arbeitsverhältnisse. Neben der Bevölkerungsalterung hat auch die Digitalisierung erhebliche Auswirkungen auf das, was seit dem Zweiten Weltkrieg den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft ausgemacht hat, und zwar die Solidaritätssysteme, die Krisen (wie 2008) abgefedert haben.

3.8.4.

Das Abhängigkeitsverhältnis eines Arbeitnehmers gegenüber einem Arbeitgeber wird durch die vierte industrielle Revolution, die Vernetzung, die Seniorenflut und die Aufweichung der Grenzen durcheinandergebracht. Rund 10 % der E-Senioren sind zwar online, aber arm und könnten wie in früheren Jahrhunderten wieder zu den alten Familienangehörigen werden, die sich nicht mehr selbst erhalten können (klassisches Familienbild). Ist ein Wandel mit Weitergabe von Wissen unter diesen Umständen überhaupt noch möglich?

3.8.5.

Für eine inklusive und digitale soziale Marktwirtschaft (13) ist es entscheidend, die Rentensysteme aufrechtzuerhalten. Bis 2060 müssen sie jedoch auf eine andere Grundlage als die Beschäftigung allein gestellt werden, wobei die Gefahren in Verbindung mit Pensionsfonds zu vermeiden sind: Es müssen eingehende Überlegungen zur Bemessungsgrundlage und zur Umverteilung des Wohlstands geführt werden, um uns seelisch und moralisch darauf einzustellen.

Brüssel, den 13. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Entschließung des Rates über eine erneuerte europäische Agenda für die Erwachsenenbildung, ABl. C 372 vom 20.12.2011, S. 1.

(2)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 16.

(3)  http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Population_structure_and_ageing/de.

(4)  COM(2016) 176 final.

(5)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(6)  Richtlinie 2013/36/EU (ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 338).

(7)  ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 25.

(8)  Europäisches Parlament, ebda., Ziffer 113.

(9)  Europäisches Parlament, ebda., Ziffer 114.

(10)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 103.

(11)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-518_de.htm.

(12)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 39.

(13)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Europäische Bürgerinitiative (Überarbeitung)“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 389/05)

Berichterstatter:

Antonio LONGO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. Januar 2016 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Europäische Bürgerinitiative (Überarbeitung)“.

(Initiativstellungnahme)

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss nahm seine Stellungnahme am 17. Mai 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 13. Juli) mit 107 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Vier Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative (EBI) bekräftigt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), dass die Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Rolle im europäischen Projekt spielen und dass dieses Instrument dazu beitragen kann, das Demokratiedefizit zu beheben, indem es die aktive Bürgerschaft und die partizipative Demokratie fördert.

1.2.

Der EWSA teilt die bereits vom Europäischen Parlament, dem Ausschuss der Regionen und der Europäischen Bürgerbeauftragten formulierten Standpunkte und vertritt die Auffassung, dass die EBI wegen einer überarbeitungsbedürftigen Verordnung ihr Potenzial nicht voll entfalten konnte.

1.3.

Der EWSA hat nämlich erhebliche Probleme technischer, rechtlicher und bürokratischer Natur wie auch eine offenkundige aus ihren Zuständigkeiten resultierende Überlastung der Europäischen Kommission festgestellt, wodurch eine umfassende Verbreitung, Umsetzung und Weiterverfolgung erfolgreicher Initiativen verhindert werden.

1.4.

Im Hinblick auf die Überarbeitung der Verordnung schlägt der Ausschuss folgende Maßnahmen vor:

1.4.1.

Den Bürgerausschüssen sollte es ermöglicht werden, die Sammlung von Unterstützungsbekundungen zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl einzuleiten.

1.4.2.

Den Bürgerausschüssen sollte rechtliche Anerkennung verliehen werden, um die rechtliche Haftung für Organisatoren nach dem Vorbild der Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu begrenzen.

1.4.3.

Es sollte eine einzige physische und virtuelle Anlaufstelle geschaffen werden, wo die Bürger Informationen erhalten und über die Einreichung von Initiativen aufgeklärt werden können.

1.4.4.

Die Vorschläge zur Herabsetzung des Mindestalters für die Unterstützung von und die Teilnahme an einer EBI sollten, wie es das EP und der AdR fordern, geprüft werden.

1.4.5.

Der offenkundige Interessenkonflikt innerhalb der Kommission sollte durch die Trennung ihrer Rollen als „institutionelle Impulsgeberin“ und „Richterin“ gelöst werden. In diesem Sinne bekräftigt der EWSA seine Bereitschaft, sein Engagement hinsichtlich der bereits laufenden Initiativen fortzusetzen und kommt naturgemäß als Mittler und institutioneller Impulsgeber infrage.

1.4.6.

Es sollten adäquate Folgemaßnahmen zu den erfolgreichen Initiativen dadurch sichergestellt werden, dass die Kommission dazu aufgerufen wird, einen Legislativvorschlag innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf der Kampagne zu erarbeiten bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag vorzulegen, hinreichend zu begründen. Der EWSA ist der Ansicht, dass das Europäische Parlament bei Ausbleiben eines Vorschlags im Sinne von Artikel 225 AEUV Druck auf die Kommission ausüben sollte.

1.5.

Der EWSA unterstreicht, dass einige Probleme keine Überarbeitung der Verordnung erfordern und deshalb unverzüglich angegangen werden sollten, um potenzielle Unterstützer nicht zu entmutigen. Um dieses Instrument wirksamer und benutzerfreundlicher zu gestalten, regt der Ausschuss die Umsetzung folgender Maßnahmen an:

1.5.1.

Die Kommission sollte im Interesse eines transparenteren Anmeldeverfahrens klare und einfache Regeln festlegen sowie ausführliche Antworten und mögliche Lösungen liefern, wenn eine Initiative als unzulässig erachtet wird, wobei die Ausschüsse die Möglichkeit erhalten sollten, diese Initiative umzugestalten und erneut zu präsentieren.

1.5.2.

Die Kommission muss die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten fortsetzen, um das für die Datensammlung vorgesehene System nationaler Bestimmungen zu vereinfachen, zu verschlanken und zu vereinheitlichen. Es wird insbesondere vorgeschlagen, die Anforderungen hinsichtlich persönlicher Identitätsnachweise zu begrenzen und es allen Bürgern zu ermöglichen, die Initiativen des jeweiligen Wohnsitzlands zu unterzeichnen.

1.5.3.

Die kostenlose Software für die Online-Sammlung von Unterstützungsbekundungen (OCS) (1) sollte auf Dauer zur Verfügung stehen, um die Sammlung und Katalogisierung der Unterstützungsbekundungen sowie ihre Überprüfung durch die nationalen Behörden zu vereinfachen. Darüber hinaus sollte dieses Instrument auch für Personen mit Behinderungen zugänglicher gestaltet werden.

1.6.

Um die EBI grundsätzlich stärker zu verbreiten und zu etablieren, spricht der EWSA folgende Empfehlungen aus:

1.6.1.

Die Aufklärung und Sensibilisierung der Bürger bezüglich der EBI sollten durch Ad-hoc-Kampagnen verstärkt werden, um den Bürgerausschüssen die Möglichkeit zu geben, die Unterzeichner über die erreichten Ergebnisse zu informieren — vor allem im Rahmen eines größeren Engagements der Kommission für die Veröffentlichung der Folgemaßnahmen zu erfolgreichen Initiativen.

1.6.2.

Die Mehrsprachigkeit sollte sichergestellt sein. Darüber hinaus sollten Methoden zur Verknüpfung zwischen der Online-Unterschriftensammlung und den sozialen und digitalen Medien ausgelotet werden, um ein immer größeres Publikum zu erreichen.

1.6.3.

Es sollte gewährleistet werden, dass grundsätzlich alle EU-Bürgerinnen und Bürger eine EBI auf den Weg bringen können und dass die wesentlichen Ausgaben im Rahmen der Kampagne für den Fall gedeckt werden, dass eine EBI formell registriert wurde.

1.7.

Der EWSA schlägt vor, ein institutionelles Forum für die Beteiligung der europäischen Bürger einzurichten, das dann nach dem Vorbild des Europäischen Migrationsforums ein ständiges Diskussionsforum innerhalb des Ausschusses werden und damit den mit dem Tag der europäischen Bürgerinitiative eingeschlagenen Weg fortsetzen sollte. Das Thema könnte Gegenstand eines spezifischen und detaillierteren Vorschlags seitens des Ausschusses sein, das in einer Initiativstellungnahme auf Ad-hoc-Basis behandelt würde.

2.   Einleitung

2.1.

Die Europäische Bürgerinitiative wurde durch den Vertrag von Lissabon (2) als innovatives Instrument der partizipativen transnationalen Demokratie eingeführt. Die Europäische Bürgerinitiative macht es möglich, dass 1 Million EU-Bürgerinnen und -Bürger aus mindestens sieben EU-Ländern die Europäische Kommission aufrufen können, einen Rechtsakt in Bereichen vorzuschlagen, in denen die EU zuständig ist. Die Bürger sollen aktiv in den Beschlussfassungsprozess der EU eingebunden werden, indem ihnen indirekt ein legislatives Initiativrecht an die Hand gegeben wird.

2.2.

Die Regeln und Verfahren der Europäischen Bürgerinitiative sind in einer EU-Verordnung geregelt, die am 16. Februar 2011 vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union verabschiedet wurde und am 1. April 2012 in Kraft trat (3).

2.3.

Jeder EU-Bürger, der das für die Wahlen zum Europäischen Parlament erforderliche Mindestalter erreicht hat, kann eine Initiative organisieren (4). Bürgerinitiativen können nicht von Organisationen geleitet werden. Eine Organisation kann jedoch eine Initiative fördern oder unterstützen, sofern dies in voller Transparenz geschieht.

2.4.

Das Verfahren für die EBI lässt sich in drei Phasen zusammenfassen:

2.4.1.

In der Startphase erfolgen die Bildung eines „Bürgerausschusses“ (5), die offizielle Registrierung der Initiative (6) nach vorheriger Bewertung der Zulässigkeit durch die Kommission (7) und die Zertifizierung des Online-Sammelsystems (8).

2.4.2.

In der Phase der Sammlung müssen in mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten 1 Million „Unterstützungsbekundungen“ (Unterschriften) innerhalb eines Zeitraums von höchstens 12 Monaten gesammelt werden (9). Das Ergebnis muss von den zuständigen nationalen Behörden bescheinigt werden (10).

2.4.3.

In der Phase der Vorlage prüft die Kommission die Initiative nach vorherigem Treffen mit den Organisatoren und einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament. Die Kommission hat drei Monate Zeit, um in Form einer Mitteilung zu reagieren und zu entscheiden, ob sie den Vorschlag annimmt und somit das Rechtsetzungsverfahren in Gang setzt.

3.   Die ersten vier Jahre der Europäischen Bürgerinitiative

3.1.

Bislang haben über 6 Millionen Unionsbürger eine EBI unterzeichnet. Obwohl 56 Initiativen eingereicht wurden, sind nur 36 von der Kommission registriert worden, von denen wiederum nur drei mindestens 1 Million Unterschriften bekommen haben (11). Keine erfolgreiche Initiative hat bislang zu einem neuen Legislativvorschlag geführt, auch wenn die Europäische Kommission in einigen Fällen dem Standpunkt der Öffentlichkeit zu spezifischen Aspekten Rechnung getragen hat.

3.2.

Die beträchtlichen Schwierigkeiten, auf die die Organisatoren in technischer, rechtlicher und bürokratischer Hinsicht gestoßen sind, und die dürftigen legislativen Auswirkungen der erfolgreichen Initiativen haben die Glaubwürdigkeit der EBI untergraben. Dies zeigt sich am drastischen Rückgang der registrierten Initiativen, die von 16 im Jahr 2012 auf fünf im Jahr 2015 gefallen sind (12), und der Anzahl gesammelter Unterstützungsbekundungen, die von über 5 Millionen im Jahr 2012 auf einige Tausende in 2015 sanken (13).

3.3.

Im Laufe dieser vier Jahre haben zahlreiche Organisatoren und Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft (14) die Unzulänglichkeiten und die Starrheit eines Instruments moniert, das eigentlich klar, einfach und benutzerfreundlich sein sollte. Derartige Aussagen wurden auch in einer vom EWSA am 22. Februar 2016 veranstalteten öffentlichen Anhörung bekräftigt.

3.4.

Im Februar 2015, also drei Jahre nach Inkrafttreten der EBI-Verordnung, hat das Europäische Parlament eine Studie (15) über den Stand der Umsetzung der Verordnung vorgelegt und eine Überarbeitung gefordert. Die Schlussfolgerungen dieser Studie wurden im Oktober 2015 in einer Entschließung (16) aufgegriffen, mit der das Parlament diese Forderung formell an die Kommission gestellt und entsprechende klare und präzise Vorschläge vorgelegt hat.

3.5.

Die Europäische Bürgerbeauftragte verfasste im März 2015 infolge einer Untersuchung, mit der das tatsächliche Funktionieren des EBI-Verfahrens sowie Rolle und Verantwortlichkeiten der Kommission geprüft werden sollten, Leitlinien zur Verbesserung der Initiative (17).

3.6.

Der Ausschuss der Regionen verabschiedete im Oktober 2015 eine Stellungnahme, in der auch er eine rasche und substanzielle Überarbeitung der Verordnung befürwortet (18).

3.7.

Die Kommission hat als Reaktion auf zahlreiche Ersuchen um Änderung der Verordnung im April 2015, wie in der Verordnung vorgesehen, einen Bericht (19) über die bisher erzielten Ergebnisse und anschließend im Februar 2016 Folgemaßnahmen (20) zu den vom Parlament eingereichten Vorschlägen veröffentlicht. In beiden Fällen hat die Kommission jedwede Möglichkeit einer kurzfristigen Überarbeitung der geltenden Verordnung mehrfach abgelehnt, obwohl sie die verschiedenen Schwierigkeiten der EBI-Organisatoren anerkennt und mit etwaigen Verbesserungen bei der Umsetzung des bestehenden Regelungsrahmens einverstanden ist.

3.8.

Mittlerweile besteht breiter Konsens unter den europäischen Institutionen, den Organisatoren und den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft darüber, dass die EBI trotz einiger positiver Ergebnisse immer noch weit davon entfernt ist, ihr volles Potenzial in Gestalt politischer Vorschläge und aktiver Teilhabe der Bürger zur Entfaltung gebracht zu haben.

3.9.

Die Hauptkritikpunkte, die unisono von den Institutionen und Interessenträgern vorgebracht wurden, lauten:

3.9.1.

Geringes Wissen und Bewusstsein der Bürger und der einzelstaatlichen Institutionen bezüglich des Instruments EBI (21).

3.9.2.

Die Bürgerausschüsse sind auf zahlreiche technische, rechtliche und bürokratische Hindernisse bei der Registrierung und Sammlung von Unterstützungsbekundungen gestoßen, durch die der Ausgang der Initiative selbst aufs Spiel gesetzt wurde.

3.9.3.

Die Bürger, die eine Initiative unterzeichnen wollten, stießen auf zahlreiche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den einzelnen nationalen Datenschutzgesetzen.

3.9.4.

Die wenigen erfolgreichen Initiativen wurden von der Kommission nicht bei der Ausarbeitung neuer Legislativvorschläge sondern nur bei indirekt mit ihnen verbundenen Legislativvorschlägen berücksichtigt.

3.10.

Die größten Schwierigkeiten, auf die Bürgerausschüsse stoßen, sind bei genauerer Betrachtung folgende Elemente:

3.10.1.

Bürgerausschüsse sind rechtlich nicht anerkannt; dies beeinträchtigt andere wichtige praktische Aspekte der EBI wie das „Fundraising“ oder die bloße Eröffnung eines Girokontos. Darüber hinaus wirkt die Tatsache abschreckend, dass die Organisatoren persönlich haften „für alle Schäden, die sie bei der Organisation einer Bürgerinitiative verursachen“ (22).

3.10.2.

Die Zulassungsvoraussetzungen für EBI werden viel zu streng ausgelegt. Rund 40 % der Initiativen wurden von der Europäischen Kommission in der ersten Verfahrensphase, der sog. Registrierung der Initiative, für unzulässig erklärt (23). Das Europäische Parlament hält es für angezeigt, den internen Interessenkonflikt der Europäischen Kommission genauer zu untersuchen, welche einerseits gehalten ist, die Organisatoren zu informieren und eine Bewertung der Zulässigkeit der Initiative vorzunehmen, und andererseits Adressatin eben dieser Initiative ist (24).

3.10.3.

Überschneidungen im Zeitplan einer EBI. Die für die Zertifizierung der Online-Sammelsysteme in jedem Mitgliedstaat erforderlichen Zeiträume verringern die ohnehin schon kurze Frist von zwölf Monaten für die Sammlung von Unterstützungsbekundungen.

3.10.4.

Fehlen einer angemessenen Unterstützung durch die Kommission vor allem in den Phasen des Anlaufens und der Durchführung einer Initiative. Eingehender untersucht werden sollten der Hosting-Service und die OCS, die von der Kommission kostenlos angeboten werden, sowie die Schwierigkeiten der Organisatoren bei der Erstellung und Verbreitung von Dokumenten in mehreren Sprachen.

3.10.5.

Die Durchführung einer EBI ist eine kostspielige Angelegenheit. Dies zeigt die Tatsache, dass die drei erfolgreichen Initiativen auf die technische, organisatorische und finanzielle Unterstützung durch große zivilgesellschaftliche Organisationen zählen konnten. Um das Grundprinzip der Europäischen Bürgerinitiative nicht auszuhöhlen, halten es viele Organisatoren für notwendig, auf Unionsebene stärkere Unterstützung für den Start der Kampagne zu erhalten.

3.10.6.

Mangelnde Flexibilität bei der Sammlung und Verarbeitung personenbezogener Daten. In einigen Mitgliedstaaten haben die einschlägigen Vorschriften letztlich Menschen davon abgehalten, neue Initiativen zu organisieren bzw. an diesen teilzunehmen. Außerdem sehen die Gesetze für die Datenerhebung in einigen Ländern vor, dass nur die Stimmen der auf dem nationalen Hoheitsgebiet wohnhaften Bürger berücksichtigt werden, womit de facto 11 Millionen Personen das Recht auf Teilnahme vorenthalten wird (25).

3.10.7.

Geringe Einbeziehung der Organisatoren in die Folgemaßnahmen. Die Treffen und Anhörungen scheinen angesichts der geringen Folgemaßnahmen zu erfolgreichen Initiativen nicht auszureichen, damit die Kommission einen konkreten Legislativvorschlag erarbeitet.

3.11.

2016 ist für die EIB im Rahmen des Prozesses, der zu ihrer Überarbeitung führen könnte, ein entscheidendes Jahr. Mit dieser Stellungnahme will der EWSA zu diesem Prozess beitragen — unter Berücksichtigung der enormen nicht ausgeschöpften Potenziale eines derart wichtigen und innovativen Instruments in den europäischen Entscheidungsverfahren und im Hinblick auf eine echte europäische Bürgerschaft.

4.   Der EWSA und die Europäische Bürgerinitiative

4.1.

Als Brücke zwischen den europäischen Institutionen und der organisierten Zivilgesellschaft ist der EWSA an der Debatte über die EBI von Anfang an beteiligt gewesen. Davon zeugen die bislang verabschiedeten Stellungnahmen (26) und die Einsetzung einer Ad-hoc-Gruppe, die die Entwicklung und Umsetzung dieses Rechts kontinuierlich mitverfolgt (27).

4.2.

Darüber hinaus war der Ausschuss in seiner Doppelrolle als Katalysator für Initiativen und als institutioneller Impulsgeber aktiv am Prozess der Entwicklung der EBI (28) beteiligt. Zu den Initiativen und Zuständigkeiten des EWSA zählen u. a.:

4.2.1.

der jährlich stattfindende „Tag der Europäischen Bürgerinitiative“, an dem gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren der Stand der Umsetzung und die Wirksamkeit der Bürgerinitiative analysiert werden. Diese Veranstaltung ist außerdem für den Austausch bewährter Verfahrensweisen und die Vernetzung zwischen den Initiatoren und anderen Interessenträgern förderlich;

4.2.2.

Einrichtung eines „EBI-Unterstützungsbüros“, das unter anderem die Übersetzung der Beschreibung der von der Kommission gebilligten Initiativen in die EU-Amtssprachen anbietet;

4.2.3.

Bereitstellung der Ausschussräumlichkeiten zur Förderung der Verbreitung von Kampagnen;

4.2.4.

Erstellung eines praktischen Leitfadens (mittlerweile die dritte Auflage) zur Bekanntmachung und Förderung der EBI (29). Eine Schlüsselrolle misst der Ausschuss der EBI darüber hinaus in der Veröffentlichung Europäischer Pass für aktive Bürgerschaft  (30) bei, in der die europäischen Bürgerinnen und Bürger über ihre Rechte informiert werden und die grenzüberschreitende partizipative Demokratie gefördert wird;

4.2.5.

Einrichtung (im Jahr 2016) einer öffentlichen Sammlung aller akademischen und wissenschaftlichen Unterlagen im Zusammenhang mit der EBI, die alle Bürgerinnen und Bürger kostenfrei einsehen können;

4.2.6.

Die erfolgreichen registrierten Initiativen könnten auf der Plenartagung oder alternativ in einer Fachgruppensitzung vorgestellt werden, sofern sie nicht im Widerspruch zu der offiziellen, in seinen Stellungnahmen zum Ausdruck gebrachten Politik des Ausschusses stehen. Dadurch könnte der EWSA ihnen eine angemessene Öffentlichkeitswirksamkeit verleihen, ohne seine neutrale Haltung aufzugeben;

4.2.7.

Der EWSA nimmt mit Abordnungen an den im Europäischen Parlament veranstalteten Anhörungen zu den erfolgreichen Initiativen teil und trägt zu den Analysen und eingehenderen Prüfungen durch die Kommission bei.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1.

Der EWSA bekräftigt mit Nachdruck seine Unterstützung für die Europäische Bürgerinitiative. Vier Jahre nach dem Inkrafttreten der EBI-Verordnung liegen ermutigende Daten im Hinblick auf die Beteiligung vor, das Potenzial ist aber noch weitgehend ungenutzt. Der Ausschuss ist in der Tat der Ansicht, dass eine ordnungsgemäße und vollständige Umsetzung der EBI zur Überwindung der wachsenden Kluft zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Europäischen Union beitragen kann.

5.2.

Der EWSA teilt die vom Europäischen Parlament, vom Ausschuss der Regionen und von der Europäischen Bürgerbeauftragten bereits geäußerte Auffassung, dass die teilweise und begrenzte Umsetzung der EBI auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen ist. Zu nennen sind insbesondere technische, rechtliche und bürokratische Einschränkungen, aber auch ein offensichtlicher institutioneller „Kurzschluss“ aufgrund der Tatsache, dass die Europäische Kommission über zu viele Befugnisse und Zuständigkeiten verfügt.

5.3.

Des Weiteren ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission einige der vorgenannten Probleme bereits erfolgreich gelöst hat (z. B. Bereitstellung eines kostenfreien OCS-Systems), während hingegen andere ohne eine Überarbeitung der Verordnung bedauerlicherweise nicht angegangen werden können.

5.4.

Deshalb ruft der Ausschuss die Kommission auf, zweigleisig aktiv zu werden und zum einen die einfacheren und offensichtlicheren technischen und bürokratischen Probleme in aller Entschlossenheit zu lösen und/oder zu mindern und zum anderen so bald wie möglich einen Vorschlag für eine Überarbeitung der vorgenannten Verordnung vorzulegen, um die komplexeren institutionellen, rechtlichen und organisatorischen Probleme zu beseitigen.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1.

Mit Blick auf eine Vereinfachung und stärkere Wirksamkeit der EBI, unterbreitet der EWSA für eine Überarbeitung der Vorordnung folgende Vorschläge:

6.1.1.

Den Bürgerausschüssen sollte ermöglicht werden, die Sammlung von Unterstützungsbekundungen zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl zu beginnen. Dies ist für die Einhaltung der zwölfmonatigen Frist für die Sammlung der Bekundungen von wesentlicher Bedeutung.

6.1.2.

Den Bürgerausschüssen sollte rechtliche Anerkennung (erforderlichenfalls ein Sonderstatus) verliehen werden, um nach dem Vorbild der Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt die rechtliche Haftung für Organisatoren auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu begrenzen.

6.1.3.

Es sollte eine einzige physische und virtuelle Anlaufstelle geschaffen werden, wo die interessierten Bürger Informationen erhalten und über die Einreichung von Initiativen aufgeklärt werden können. Von wesentlicher Bedeutung ist eine technisch-rechtliche Unterstützung der Bürgerausschüsse, um die Einreichung von Vorschlägen zu erleichtern und den Anteil der als zulässig eingestuften Initiativen zu steigern.

6.1.4.

Die Vorschläge zur Herabsetzung des Mindestalters für die Unterstützung von und die Teilnahme an einer EBI sollten, wie es das EP und der AdR fordern, geprüft werden, um jungen Menschen die Möglichkeit zur aktiven Mitwirkung am Aufbau der Europäischen Union zu geben.

6.1.5.

Die Rollen des „institutionellen Impulsgebers“ und des „Richters“ sollten getrennt werden — derzeit werden beide von der Kommission wahrgenommen. Dies ist sehr wichtig, um den offensichtlichen Interessenkonflikt innerhalb der Kommission zu lösen und die vollständige und wirksame Umsetzung der EBI zu fördern.

6.1.5.1.

In diesem Sinne bekräftigt der EWSA seine Bereitschaft, sein Engagement hinsichtlich der bereits laufenden Initiativen fortzusetzen und kommt naturgemäß als Mittler und institutioneller Impulsgeber infrage.

6.1.6.

Zu den erfolgreichen Initiativen sollten adäquate Folgemaßnahmen sichergestellt werden. Die Europäische Kommission wird unter Achtung ihres Initiativrechts ersucht, einen Legislativvorschlag innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf der Kampagne zu erarbeiten bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag vorzulegen, hinreichend zu begründen. Wird innerhalb der festgelegten Frist kein Vorschlag unterbreitet, sollte das Europäische Parlament nach Auffassung des EWSA Druck auf die Kommission im Sinne von Artikel 225 AEUV ausüben. Darüber hinaus sollte die Kommission engere Beziehungen zu den Antragstellern dieser Initiativen pflegen, die über die bloße Anhörung im Europäischen Parlament hinausgehen, um sicherzustellen, dass der erarbeitete Vorschlag den Erwartungen jener entspricht, die die Initiative unterstützt haben.

6.2.

Außerdem sollte die Kommission nach Auffassung des Ausschusses:

6.2.1.

den Registrierungsprozess transparenter und effizienter gestalten. Sie sollte insbesondere eine proaktivere Rolle übernehmen und im Falle einer für unzulässig befundenen Initiative ausführliche Antworten geben und mögliche Lösungen anbieten, um den Ausschüssen die Möglichkeit zu geben, die Initiative an die in den geltenden Vorschriften festgelegten Kriterien anzupassen;

6.2.2.

die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten fortsetzen, um das für die Datensammlung vorgesehene und für die Unterzeichnung einer Unterstützungsbekundung notwendige System nationaler Bestimmungen zu vereinfachen, zu verringern und zu vereinheitlichen. Es wird insbesondere vorgeschlagen, die Anforderungen hinsichtlich persönlicher Identitätsnachweise auf ein Minimum zu beschränken und es allen europäischen Bürgern zu ermöglichen, die Initiativen des jeweiligen Wohnsitzlandes zu unterzeichnen (31);

6.2.3.

einen dauerhaften Einsatz des kostenlosen OCS-Systems vorzusehen, das die Sammlung und Katalogisierung der Unterstützungsbekundungen sowie ihre Überprüfung durch die nationalen Behörden vereinfacht. Darüber hinaus sollte dieses Instrument auch für Personen mit Behinderungen zugänglicher gestaltet werden.

6.3.

Insbesondere wird empfohlen,

6.3.1.

die Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen zur EBI auszuweiten, in erster Linie durch von der Kommission und den Mitgliedstaaten geförderte spontane Kampagnen. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, dass die Bürgerausschüsse die interessierten Unterstützer über die Entwicklungen und die im Rahmen der Kampagnen erzielten Ergebnisse informieren. Ähnliches gilt auch für die Kommission: Sie muss die Folgemaßnahmen zu den erfolgreichen Initiativen effizienter bekannt machen und davon insbesondere die Bürgerausschüsse in Kenntnis setzen;

6.3.2.

die Mehrsprachigkeit zu gewährleisten. Sie ist unerlässlich, um eine hohe Beteiligung zu erreichen und um neue Methoden zur Verknüpfung zwischen der elektronischen Unterschriftensammlung und den sozialen und digitalen Medien zu erproben und dadurch ein immer größeres Publikum zu erreichen;

6.3.3.

zu gewährleisten, dass grundsätzlich alle EU-Bürgerinnen und Bürgern eine EBI auf den Weg bringen können und dass die wesentlichen Ausgaben im Rahmen der Kampagne für den Fall gedeckt werden, dass eine EBI formell registriert wurde.

6.4.

Schließlich schlägt der EWSA vor, ein institutionelles Forum für die Beteiligung der europäischen Bürger einzurichten, das dann nach dem Vorbild des Europäischen Migrationsforums ein ständiges Diskussionsforum innerhalb des Ausschusses wird und damit den mit dem Tag der europäischen Bürgerinitiative eingeschlagenen Weg fortsetzt. Um in diesem Zusammenhang eine stets qualifizierte Beteiligung zu gewährleisten, würde der EWSA u. a. Vertreter der beteiligten Einrichtungen, einen Vertreter der Bürgerausschüsse, deren Initiative offiziell registriert wurde, sowie alle beteiligten Interessenträger einladen. Das Thema könnte Gegenstand eines spezifischen und detaillierteren Vorschlags seitens des Ausschusses sein, das in einer Initiativstellungnahme auf Ad-hoc-Basis behandelt würde.

Brüssel, den 13. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „OCS“ ist die Abkürzung für „Online Collection Software“, ein von der Europäischen Kommission kostenlos zur Verfügung gestelltes Instrument zur Online-Datensammlung. Dieses Programm vereinfacht sowohl die Erhebung der Daten als auch ihre Überprüfung durch nationale Stellen. Die OCS steht zudem im Einklang mit der Verordnung (EU) 211/2011des Europäischen Parlaments und des Rates und der Durchführungsverordnung (EU) 1179/2011 der Kommission. https://joinup.ec.europa.eu/software/ocs/description.

(2)  Art. 11 Abs. 4 EUV und Art. 24 Abs. 1 AEUV.

(3)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/welcome.?lg=de.

(4)  In der Regel liegt das Mindestalter bei 18 Jahren mit Ausnahme von Österreich, wo das Wahlalter 16 Jahre beträgt.

(5)  Der Bürgerausschuss muss sich aus mindestens sieben EU-Bürgern und -Bürgerinnen zusammensetzen, die in mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten wohnen.

(6)  Die Beschreibung der Initiative darf höchstens 800 Zeichen umfassen (100 für die Bezeichnung, 200 für die Beschreibung und 500 für die Einzelheiten zu den Zielen).

(7)  Verordnung (EG) Nr. 211/2011, Art. 4. Abs. 2. Vor der offiziellen Registrierung der Initiative und ihrer Aufnahme auf dem Internetportal der Kommission, hat diese zwei Monate Zeit, um zu prüfen, ob: 1) der Bürgerausschuss gebildet und die Kontaktpersonen benannt wurden; 2) die Initiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegt, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorzulegen, um die EU-Verträge umzusetzen; 3) die Initiative nicht offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös ist; 4) die Initiative nicht offenkundig gegen die vertraglich verankerten Werte der Union verstößt. Die Entscheidung, eine geplante Initiative zu registrieren oder nicht, basiert auf rechtlichen Gründen und kann daher angefochten werden. Wenn die Kommission die Registrierung ablehnt, informiert sie die Organisatoren über die Gründe der Ablehnung und alle möglichen gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsbehelfe, die ihnen zur Verfügung stehen. Dazu gehört u. a. die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof anzurufen oder beim Europäischen Bürgerbeauftragten Beschwerde (über Missstände) einzureichen.

(8)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011, Art. 6. Gemäß der Verordnung sind dafür die Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats zuständig, in dem die Unterstützungsbekundungen gesammelt werden.

(9)  Nach Maßgabe der Verordnung muss eine Mindestzahl an Unterschriften pro Land im Verhältnis zur Einwohnerzahl erreicht werden http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/signatories.?lg=de.

(10)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011, Art. 15.

(11)  Die erfolgreichen Initiativen sind: „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut, keine Handelsware“, „Stop Vivisection“, „Einer von uns“: http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/successful?lg=de.

(12)  Die Zahl der registrierten Initiativen ist im Laufe der Jahre schrittweise zurückgegangen: 16 in 2012, 9 in 2013, 5 in 2014 und 5 in 2015.

(13)  Die in den letzten drei Jahren zur Unterstützung einer EBI gesammelten Unterschriften verweisen unmissverständlich auf einen Rückgang der Beteiligung und des Interesses aufseiten der Bürger. 2013 wurden 5 402 174 Unterschriften gesammelt, 2014 waren es 628 865 und 2015 lediglich 8 500.

(14)  C. Berg, J. Tomson, An ECI that works! Learning from the first two years of the European Citizens‘ Initiative, 2014. http://ecithatworks.org/.

(15)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative. Die Erfahrung der ersten drei Jahre, 2015. http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/home.html.

(16)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 28. Oktober 2015 zur europäischen Bürgerinitiative (2014/2257(INI)). Berichterstatter: Schöpflin.

(17)  Fall: OI/9/2013/TN. Geöffnet am 18.12.2013; Entscheidung vom 4.3.2015. http://www.ombudsman.europa.eu/de/cases/decision.faces/de/59205/html.bookmark.

(18)  Ausschuss der Regionen. Stellungnahme zum Thema Europäische Bürgerinitiative (ABl. C 423 vom 17.12.2015, S. 1).

(19)  Bericht COM(2015) 145 final, Bericht über die Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 über die Bürgerinitiative, 2015.

(20)  Follow up to the European Parliament resolution on the European Citizens‘ Initiative, von der Kommission am 2. Februar 2016 angenommen.

(21)  Eurobarometer-Umfrage The promise of EU, September 2014, S. 51.

(22)  Verordnung (EU) Nr. 211/2011, Art. 13. Hier ist an das Risiko von Fehlern bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu denken.

(23)  Besonders restriktiv erscheint die Auslegung des Konzepts, dass der Vorschlag einer Initiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegt, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. Auf diese Weise wurden sämtliche Initiativen zur Änderung der Verträge systematisch blockiert. Die einzige Ausnahme ist „Let me vote“. Mit dieser Initiative sollen die in Artikel 22 Absatz 2 AEUV genannten Rechte der Unionsbürger durch das Recht ergänzt werden, in dem Wohnsitzmitgliedstaat an allen politischen Wahlen unter denselben Bedingungen wie die Bürger dieses Staates teilzunehmen.

(24)  EPRS: Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative. The experience of the first three years, 2015, Ziffer 3.1.4.

(25)  EPRS: Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative. The experience of the first three years, 2015, Ziffer 6.

EPRS Disenfranchisement of EU citizens resident abroad, Kurzzusammenfassung.

(26)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Europäische Bürgerinitiative (ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 182).

Stellungnahme des EWSA zum Thema Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die Europäische Bürgerinitiative (Artikel 11), ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 59.

(27)  Die Ad-hoc-Gruppe „Europäische Bürgerinitiative“ wurde im Oktober 2013 eingerichtet und ihr Mandat 2015 verlängert.

(28)  http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.members-former-eesc-presidents-henri-malosse-speeches-statements&itemCode=35383.

(29)  www.eesc.europa.eu/resources/docs/qe-04-15-566-de-n.pdf.

(30)  http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/qe-04-15-149-de-n.pdf.

(31)  Irische und britische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien, Frankreich, Österreich, der Tschechischen Republik und Portugal sind bislang von diesem Recht ausgenommen.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

518. Plenartagung des EWSA vom 13./14. Juli 2016

21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer — Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen

[COM(2016) 148 final]

(2016/C 389/06)

Berichterstatter:

Daniel MAREELS

Mitberichterstatter:

Giuseppe GUERINI

Die Europäische Kommission beschloss am 2. Mai 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer — Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen

[COM(2016) 148 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 29. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 13. Juli 2016) mit 113 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt den Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer, der darauf abzielt, eine endgültige Mehrwertsteuerregelung für die EU festzulegen, und befürwortet sowohl die Zielsetzungen der Kommission als auch den von ihr auf kurze und mittlere Sicht verfolgten, auf vier Pfeilern beruhenden Ansatz. Die Herausforderung besteht nun darin, qualitative Fortschritte („Quantensprung“) zu machen, um so den Binnenmarkt zu stärken und einen Beitrag zu Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit zu leisten.

1.2.

Für den EWSA ist es wichtig, sich bei Umsetzung der einzelnen Elemente des Aktionsplans bewusst zu sein, dass sie ein untrennbares Ganzes bilden. Dies gilt insbesondere für den Übergang zur endgültigen Mehrwertsteuerregelung. Dieser Übergang, der im Aktionsplan erst in einer zweiten Phase vorgesehen und an die Bedingung einer individuellen Bewertung durch die einzelnen Mitgliedstaaten geknüpft ist, muss in jedem Fall innerhalb einer angemessenen Frist vollzogen werden, andernfalls könnte die Verwirklichung der gesteckten Ziele gefährdet sein.

1.3.

Im Hinblick auf die im Aktionsplan vorgesehene erste Phase, die sich gegenwärtig nur auf bestimmte Lieferungen von Waren beschränkt, fordert der EWSA alle Interessenträger auf, zu prüfen, wie die Dienstleistungen schneller in die neue Regelung eingebunden werden können, denn dadurch würden sich auch die Probleme im Zusammenhang mit dieser (Übergangs-)Phase verringern. Darüber hinaus könnten Methoden erwogen werden, um die Finanzdienstleistungen generell der Mehrwertsteuer zu unterwerfen.

1.4.

Nach Ansicht des EWSA muss die Umgestaltung der derzeit geltenden Reglung zu einem endgültigen Mehrwertsteuersystem führen, das eindeutig, kohärent, solide und ausgewogen sowie verhältnismäßig und zukunftssicher („future proof“) ist. In diesem Zusammenhang befürwortet der EWSA den Vorschlag, das Bestimmungslandprinzip zur Grundlage des endgültigen Mehrwertsteuersystems zu machen, weil dadurch für alle Anbieter auf dem gleichen nationalen Markt gleiche Ausgangsbedingungen geschaffen werden, während gleichzeitig die Marktverzerrungen zurückgehen.

1.5.

Große Aufmerksamkeit muss nach Ansicht des EWSA auch einem geeigneten Umfeld für die Unternehmen und insbesondere für die KMU geschenkt werden. Ungeachtet der im Aktionsplan aufgeführten Innovationen und Vereinfachungen geben die komplexe und komplizierte künftige Regelung sowie der hohe Verwaltungsaufwand, der mit ihrer Anwendung einhergehen kann, Grund zu großer Besorgnis.

1.6.

Unbeschadet der Klarheit und Rechtssicherheit, die bei der Ausarbeitung der endgültigen MwSt.-Regelung im Vordergrund stehen müssen, spricht sich der EWSA dafür aus, weitere Überlegungen zu zusätzlichen Vereinfachungen und einer Verringerung des Verwaltungsaufwands anzustellen, wobei ein dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichteter Ansatz zugunsten der KMU in Erwägung gezogen werden kann, ohne dadurch jedoch der Ausgewogenheit und der übrigen wesentlichen Merkmale des endgültigen MwSt.-Systems Abbruch zu tun. Sie sollten am besten von Anfang an in die Konzipierung dieses Systems einbezogen werden.

1.7.

Darüber hinaus sollte erwogen werden, nützliche Informationen für Unternehmen umfassend und auf moderne Weise zur Verfügung zu stellen, etwa über ein Webportal. Das sollte insbesondere kleinen Unternehmen dabei helfen, unter gleichen Bedingungen mit anderen Unternehmen und mit Anbietern des öffentlichen Sektors zu konkurrieren. Generell geht es darum, grenzübergreifende Tätigkeiten innerhalb der EU für alle Unternehmen und insbesondere für KMU einfacher und attraktiver zu machen.

1.8.

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Kommission der Schließung der MwSt.-Lücke und der Betrugsanfälligkeit dieser Steuer besonderes Augenmerk widmet, insbesondere jetzt, da die Summen, um die es dabei geht, sich auf bis zu 170 Mrd. EUR pro Jahr belaufen. Es ist wichtig, dieser Zielsetzung vorrangige Bedeutung beizumessen und zu raschen Ergebnissen zu kommen, beispielsweise durch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen, mit den Zollbehörden in der EU und mit Drittländern, durch effizientere Steuerbehörden und eine Stärkung der Rolle von Eurofisc sowie durch eine bessere freiwilligere Einhaltung der Vorschriften und eine wirksamere Steuererhebung.

1.8.1.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Mitgliedstaaten die personellen, finanziellen und technischen Kapazitäten ihrer Steuerverwaltungen in allen Bereichen erhöhen. Auf diese Weise sollen sie in die Lage versetzt werden, ihren Beitrag zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens der neuen Regelung zu leisten, so dass auch der Betrug zurückgeht.

1.8.2.

Unbeschadet der im Aktionsplan vorgesehenen Maßnahmen auf diesem Gebiet fragt sich der EWSA, ob nicht noch weitere oder andere Mittel erforderlich sind, etwa ein automatischer Informationsaustausch im Bereich der direkten Steuern, wie er in jüngster Zeit in einigen internationalen Vereinbarungen festgelegt wurde.

1.8.3.

In diesem Sinne muss nach Ansicht des EWSA den spezifischen Merkmalen und Eigenschaften des endgültigen MwSt.-Systems im Hinblick auf die Betrugsanfälligkeit große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die neuen Vorschriften, eine angemessene Überwachung und eine verstärkte Kontrolle einschließlich der erforderlichen Ressourcen für ihre Durchführung, zu denen auch rechtliche Schritte gehören, müssen letztendlich zu einem ausgewogeneren und korrekter angewandten MwSt.-System führen. In diesem Zusammenhang muss auch die bestehende Freistellung für kleine Sendungen von Anbietern aus Drittstaaten auf den Prüfstand gestellt werden, doch spricht sich der EWSA hier für einen differenzierten Ansatz aus.

1.9.

Die konkrete Betrugsbekämpfung sollte nach Ansicht des EWSA zielgerichtet und auf Grundlage der Verhältnismäßigkeit gestaltet werden. Redliche Unternehmen müssen geschützt werden, und es dürfen ihnen keine neuen unverhältnismäßigen Maßnahmen auferlegt werden.

1.10.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission einen der Schwerpunkte auf die neuen Entwicklungen im Bereich des elektronischen Geschäftsverkehrs und der Unternehmensformen legt. Es kommt darauf an, hier für alle Beteiligten Klarheit und Deutlichkeit zu schaffen, wobei gleichzeitig die Gleichbehandlung aller Anbieter gewährleistet sein muss, unabhängig davon, ob sie diesen Entwicklungen folgen oder eher an den herkömmlichen Wegen und Formen festhalten und für alle ihre Tätigkeiten, unabhängig davon, ob sie grenzübergreifend sind oder nicht.

1.11.

Im Hinblick auf die höhere Flexibilität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die ermäßigten Mehrwertsteuersätze und die im Aktionsplan enthaltenen zwei Optionen behält sich der EWSA seinen Standpunkt vor, da weitere Informationen über die vorgeschlagenen Möglichkeiten, die Art und Weise, wie sie umgesetzt werden sollen, und die für sie geltenden Regeln erforderlich sind. Daher beschränkt sich der EWSA an dieser Stelle darauf, eine Reihe von Kriterien für die künftige Regelung anzuführen. Dabei müssen Flexibilität und Rechtssicherheit Hand in Hand gehen, die Regelung muss transparent sein, und aus Gründen der Einfachheit muss die Zahl der ermäßigen Mehrwertsteuersätze und der Ausnahmeregelungen beschränkt werden. Unter den gegebenen Umständen und auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen gibt der EWSA Option 1 den Vorzug, da sie den vorgenannten Kriterien am ehesten entspricht.

2.   Hintergrund  (1)

2.1.

In ihrem Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer legt die Kommission dar, wie die Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraums vonstattengehen soll. Dieser Raum soll eine Stütze für den Binnenmarkt sein, zur Förderung von Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit beitragen und so den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Das neue System muss einfacher, betrugssicherer und benutzerfreundlicher sein.

2.2.

Das derzeitige Mehrwertsteuersystem ist stark fragmentiert und sehr kompliziert, vor allem mit Blick auf den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr. Es hat nicht mit den Herausforderungen der heutigen globalisierten, digitalen und mobilen Wirtschaft Schritt halten können. Es klafft eine große Lücke zwischen den erwarteten und den tatsächlichen MwSt.-Einnahmen (die „Mehrwertsteuerlücke“), und das System ist anfällig für Betrug.

2.3.

Der vorgeschlagene Ansatz zielt auf die Modernisierung des Mehrwertsteuersystems, auf einen Neustart ab. Andere Ansätze werden nicht als echte Alternative angesehen. Änderungen des Systems erfordern die Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten.

2.4.

Der Aktionsplan umfasst vier Komponenten und mindestens 27 Maßnahmen (2). Einige von ihnen sind in Übereinstimmung mit den Leitlinien für eine bessere Rechtsetzung (REFIT) entwickelt worden.

2.4.1.

Das Kernstück und damit auch den wichtigsten Teil des Aktionsplans bilden zweifellos die zentralen Grundsätze für einen künftigen einheitlichen Mehrwertsteuerraum. Ziel ist es, 2017 einen Legislativvorschlag für eine abschließende Regelung vorzulegen.

2.4.1.1.

Dieses endgültige Mehrwertsteuersystem wird auf dem Prinzip der Besteuerung im Bestimmungsland der Waren und Dienstleistungen (3) beruhen, weil sich das Ursprungslandprinzip als nicht realisierbar erwiesen hat. Dies gilt für alle Tätigkeiten einschließlich des grenzübergreifenden Handels. Die Art der Steuererhebung wird Schritt für Schritt zu einem System weiterentwickelt, das weniger anfällig für Betrug ist. Diese Vorschläge sollen in zwei Schritten umgesetzt werden.

2.4.2.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von vor Kurzem abgeschlossenen und laufenden Initiativen. Sie betreffen:

einerseits die Beseitigung der Hindernisse, die dem elektronischen Geschäftsverkehr im Binnenmarkt im Wege stehen. Die Kommission plant, Ende 2016 einen Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfachung der Mehrwertsteuer, insbesondere für KMU, vorzulegen;

andererseits die Lancierung eines Maßnahmenpakets für KMU im Jahr 2017. Dabei geht es um die Durchführung von Vereinfachungsmaßnahmen, die sich auf die MwSt.-Befolgungskosten auswirken und kleinen Unternehmen zugutekommen.

2.4.3.

Das größte Paket betrifft die dringenden Maßnahmen zur Schließung der Mehrwertsteuerlücke und zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs. Hier liegt der Schwerpunkt auf:

der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen sowie mit den Zollbehörden in der EU und mit Drittländern;

dem Bemühen um effizientere Steuerverwaltungen und die Stärkung der Rolle von Eurofisc;

der Verbesserung der freiwilligen Einhaltung der Vorschriften;

der Steuererhebung;

der Erstellung eines Berichts über die Bewertung der Richtlinie über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen.

2.4.4.

Schließlich geht es auch darum, auf längere Sicht zu einem moderneren Ansatz für die Festsetzung der Mehrwertsteuersätze zu gelangen. Ziel ist es, den Mitgliedstaaten mehr Freiheit und Flexibilität bei der Festsetzung der Mehrwertsteuersätze zu geben, insbesondere in Bezug auf die ermäßigten Steuersätze. Entsprechende Initiativen werden 2017 vorgelegt.

3.   Bemerkungen und Kommentare

3.1.   Der Aktionsplan

3.1.1.

Der EWSA begrüßt den Aktionsplan zur Schaffung eines einheitlichen Mehrwertsteuerraums in der EU. Es ist ein ehrgeiziger, dringend erforderlicher Aktionsplan, der sich nahtlos in den Aufbau eines moderneren und wettbewerbsfähigeren Binnenmarkts einfügt.

3.1.2.

Der EWSA befürwortet das auf vier Komponenten (4) beruhende Konzept und den Ansatz einer zeitlich differenzierten Umsetzung auf kurze und mittlere Sicht. Ziel ist es, die Schwächen und Lücken der bestehenden Übergangsregelung zu beseitigen und im Einklang mit den Erfordernissen eines Binnenmarkts qualitative Fortschritte („Quantensprung“) zu machen.

3.1.3.

Der Ausschuss befürwortet den Vorschlag, dass das endgültige Mehrwertsteuersystem auf dem Bestimmungslandprinzip beruhen soll. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass das neue System eindeutig, kohärent, solide und ausgewogen sowie verhältnismäßig und zukunftssicher sein muss. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, vorsichtshalber die Möglichkeit der Einführung eines generellen Systems zur allgemeinen Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (5) für alle grenzüberschreitenden Umsätze zwischen Unternehmen (B2B) in Erwägung zu ziehen. Obwohl das Verfahren zur allgemeinen Umkehrung der Steuerschuldnerschaft in einigen Mitgliedstaaten bereits genutzt wird, um den Mehrwertsteuerbetrug im Zusammenhang mit bestimmten Wirtschaftszweigen zu verringern, könnte eine generelle Anwendung dieses Grundsatzes zu einer Verlagerung des Risikos von Mehrwertsteuerbetrug auf die Einzelhandelsstufe führen.

3.1.4.

Es ist wichtig, dass dieser Übergang zu einer endgültigen Regelung gut flankiert wird. Dabei ist es von großer Bedeutung, die Leistungsfähigkeit der nationalen Steuerverwaltungen und ihre grenzübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern und dafür Sorge zu tragen, dass das Problem der Betrugsanfälligkeit des Systems angegangen wird. Im Hinblick auf eine effizientere Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Bekämpfung von Betrug ist es wichtig, die Entwicklung und den Austausch bewährter Verfahrensweisen in der gesamten EU zu fördern. So könnte auch erwogen werden, Fristen für die Mehrwertsteuerabrechnung zwischen den Mitgliedstaaten einzuführen. Es muss alles daran gesetzt werden, die Mehrwertsteuerlücke so weit wie möglich zu schließen. Dies sollte sowohl im Interesse der Behörden liegen (korrektes MwSt.-Aufkommen!) als auch dazu führen, dass die Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter möglichst gleich sind.

3.1.5.

Gleichzeitig ist es von größter Bedeutung, das System unternehmerfreundlicher zu gestalten. Dabei müssen Klarheit und Rechtssicherheit im Vordergrund stehen. Wichtig ist auch eine Verringerung des Verwaltungsaufwands, insbesondere für KMU, ohne jedoch Abstriche bei der Ausgewogenheit und den anderen grundlegenden Merkmalen (6) des endgültigen MwSt.-Systems zu machen. In diesem Zusammenhang sollten Anstrengungen unternommen werden, um einheitliche Formulare für MwSt.-Erstattungen zu entwickeln, Rückzahlungen fristgerecht vorzunehmen und ein zugängliches System von Mehrwertsteuersätzen zu schaffen.

3.1.6.

Nach dem Bestimmungslandprinzip sind die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer Steuersätze frei, was jedoch nicht zu Fragmentierung und übermäßiger Komplexität führen darf. Ein verhältnismäßiger Ansatz zugunsten der KMU ist angezeigt. Zudem sollte sowohl den jüngsten Entwicklungen im grenzübergreifenden Handel sowie in der digitalen und mobilen Wirtschaft als auch allen bestehenden und neuen Unternehmensformen Rechnung getragen werden.

3.1.7.

Nach Auffassung des EWSA müssen die Anstrengungen zur Schaffung eines moderneren Ansatzes für die Festsetzung der MwSt.-Sätze, die den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität bei ermäßigten Steuersätzen (7) ermöglicht, grundsätzlich im Rahmen des Ziels erfolgen, das „Bestimmungsland“-Prinzip anzuwenden, da es unter diesen Umständen normalerweise zu weniger Handelsstörungen kommt. Die Zahl der Ausnahmeregelungen muss begrenzt werden, und um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, sind öffentlich und privat bereitgestellte Waren und Dienstleistungen mehrwertsteuerlich in gleicher Weise zu behandeln (8). Je größer die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ist, desto niedrigere Steuersätze genügen, um dasselbe Steueraufkommen zu erreichen. Gleichzeitig lassen sich so wirtschaftliche Verzerrungen vermeiden.

3.1.8.

Für den EWSA ist es wichtig, dass dieser Aktionsplan als Ganzes und in allen seinen Teilen als untrennbare Einheit vollständig umgesetzt wird. Der Mangel an Gewissheit, der diesbezüglich derzeit eventuell herrscht, steht nicht im Einklang mit der Zielsetzung der Schaffung eines MwSt.-Systems für einen Binnenmarkt und könnte die gesteckten Ziele gefährden. Nach Ansicht des EWSA sollten alle erforderlichen Garantien für die Verwirklichung dieser Zielsetzung in den Aktionsplan eingebaut werden. Dies gilt insbesondere für den Übergang zum endgültigen MwSt.-System in zwei Phasen, wobei die zweite Phase derzeit (9) einer separaten Bewertung und einem Beschluss seitens der Mitgliedstaaten unterliegt. Die tatsächliche Umsetzung des endgültigen MwSt.-Systems über die zweite Phase muss in jedem Fall und innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens erfolgen.

3.1.9.

Mit Blick auf die vollständige Verwirklichung des Aktionsplans fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, die Zusammenarbeit für den Austausch von Informationen auszuweiten und zu vertiefen sowie bei den Bemühungen um die Umsetzung der Bestimmungen und die Erhöhung der MwSt.-Einnahmen Vertrauen aufzubauen. Nach Auffassung des Ausschusses müssen die Mitgliedstaaten dazu die Kapazitäten ihrer Steuerverwaltungen ausbauen, die sowohl personell als auch finanziell und technisch (u. a. IKT). über angemessene Ressourcen verfügen müssen. Der Ausschuss fordert in diesem Punkt nachdrücklich die Unterstützung der Kommission.

3.1.10.

Der Ausschuss geht davon aus, dass die Kommission zu gegebener Zeit eine gründliche und umfassende Folgenabschätzung der vorgeschlagenen Maßnahmen und des Aktionsplans insgesamt vorlegt. Darin müssen auch die Auswirkungen auf die KMU, für die Komplexität und Verwaltungsaufwand große Herausforderungen darstellen, berücksichtigt werden.

3.2.   Wichtigstes Ziel: hin zu einem soliden einheitlichen Europäischen Mehrwertsteuerraum — auf dem Weg zur endgültigen Mehrwertsteuerregelung

3.2.1.

Der EWSA befürwortet die Entscheidung für das Bestimmungslandprinzip, wodurch gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter auf demselben nationalen Markt geschaffen werden, unabhängig davon, wo sie ihren Sitz haben.

3.2.2.

Laut Aktionsplan soll das Bestimmungslandprinzip in der ersten Phase des Übergangs zur endgültigen Mehrwertsteuerregelung nur für Waren gelten. Im Interesse der Einfachheit und zur Vermeidung weiterer Komplikationen ruft der Ausschuss die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, zu prüfen, wie sich die Dienstleistungen schneller in das neue System integrieren lassen, und zu eruieren, wie finanzielle Dienstleistungen stärker der Mehrwertsteuer unterworfen werden können.

3.2.3.

Die Anwendung des neuen Systems birgt die Gefahr eines größeren Verwaltungsaufwands für die Unternehmen, weshalb der Ausschuss die Notwendigkeit vereinfachter Mehrwertsteuervorschriften, insbesondere für KMU, hervorhebt, die jedoch der Ausgewogenheit des Systems keinen Abbruch tun. Gleichzeitig bedarf es erheblicher Aufmerksamkeit für die Klarheit der Vorschriften und die Rechtssicherheit.

3.2.4.

Grenzübergreifende Tätigkeiten innerhalb der EU müssen für Unternehmen eine einfache und attraktive Option sein. Bei grenzübergreifenden Transaktionen impliziert das Bestimmungslandprinzip, dass die Anbieter den MwSt.-Satz des Mitgliedstaats anwenden, in dem ihre Kunden ansässig sind, was zu Komplikationen und zusätzlichem Aufwand führen kann. In der Tat kann dies bedeuten, dass sie mit den Systemen in allen weiteren 27 Mitgliedstaaten konfrontiert sind. Um zu gewährleisten, dass der sich daraus ergebende Aufwand überschaubar bleibt, sollten öffentliche Informationssysteme wie ein Webportal vorgesehen werden, wo u. a. die in allen Mitgliedstaaten geltenden Sätze einsehbar sind. Genauso wichtig ist es, dass Unternehmen sich nur in dem Land anmelden müssen, in dem sie niedergelassen sind. Daher begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission, laut dem die Pflicht zur Registrierung für MwSt.-Zwecke nur im Land des Steuersitzes gelten soll, wodurch die betreffenden Unternehmen schätzungsweise etwa 1 Mrd. EUR sparen könnten.

3.3.   Maßnahmen zur Schließung der Mehrwertsteuerlücke und zur Betrugsbekämpfung

3.3.1.

Der Ausschuss begrüßt die Aufmerksamkeit, die der Schließung der Mehrwertsteuerlücke und der Bekämpfung der Betrugsanfälligkeit des MwSt.-Systems gewidmet wird, umso mehr als sich die Verluste für die Behörden auf jährlich 170 Mrd. EUR belaufen, d. h. nicht weniger als 15,2 % der gesamten Mehrwertsteuereinnahmen. Allein der grenzübergreifende Betrug entspricht 50 Mrd. EUR jährlich.

3.3.2.

Es ist wichtig, diesem Ziel Priorität einzuräumen und rasch für Ergebnisse zu sorgen. Unbeschadet der verschiedenen im Aktionsplan vorgesehenen Maßnahmen in diesem Zusammenhang fragt sich der EWSA, ob nicht andere, zusätzliche Instrumente eingesetzt werden sollten, nach dem Beispiel der jüngsten internationalen Vereinbarungen auf dem Gebiet der Direktbesteuerung, unter anderem in Bezug auf den Austausch von Informationen, und nach dem Beispiel der Pläne (10) der Kommission zur Bekämpfung der Steuervermeidung.

3.3.3.

In diesem Sinne muss nach Ansicht des EWSA den spezifischen Merkmalen und Eigenschaften des endgültigen MwSt.-Systems im Hinblick auf die Betrugsanfälligkeit große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Tatsache, dass sich der Betrug durch die Anwendung des Systems der fraktionierten Zahlung für grenzübergreifende Transaktionen erheblich verringern lässt (11), bedeutet keineswegs, dass die EU sich jetzt auf ihren Erfolgen ausruhen kann.

3.3.4.

Die neuen Vorschriften, eine angemessene Überwachung und eine umfassende Kontrolle einschließlich der erforderlichen Ressourcen für ihre Durchführung, zu denen auch rechtliche Schritte gehören, müssen letztendlich zu einem ausgewogeneren und korrekter angewandten MwSt.-System führen.

3.3.5.

Für den EWSA ist es wichtig, dass gezielte Maßnahmen zur Schließung der Mehrwertsteuerlücke und zur Betrugsbekämpfung ergriffen werden. Maßnahmen zur Schließung dieser Lücke müssen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit übereinstimmen und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern. Redliche Unternehmen müssen geschützt werden, und es dürfen ihnen keine neuen unverhältnismäßigen Maßnahmen auferlegt werden.

3.3.6.

Schwächen und Lücken im derzeitigen System, wie die Steuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen durch Anbieter aus Drittländern führen zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen, verzerren den Markt und führen zu erheblichen Steuerausfällen für die Behörden (schätzungsweise 3 Mrd. EUR jährlich). Auch wenn eine solche Regelung grundsätzlich nicht in ein modernes europäisches MwSt.-System passt, so plädiert der Ausschuss mit Blick auf die Kosten doch für einen differenzierten Ansatz, wonach Transaktionen, die tatsächlich keine wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen haben, unter Umständen ausgeklammert werden, wie beispielsweise kleine und sporadische Lieferungen von geringem Wert für rein private Zwecke.

3.3.7.

Es sollten auch Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden. Insofern könnte überlegt werden, ob in Zukunft das MwSt.-Systems genau bewertet werden sollte: nicht nur seine Regeln und ihre Funktionsweise, sondern auch, noch genauer, ob sie den Anforderungen der Wirtschaft und der Behörden entsprechen und inwieweit sie zum Projekt Europa beitragen. Eine solche Bewertung könnte in regelmäßigen Abständen stattfinden.

3.4.   Berücksichtigung verschiedener neuer Entwicklungen im elektronischen Geschäftsverkehr und bei Unternehmensformen

3.4.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in ihrem Aktionsplan einen Schwerpunkt auf die innovativen Geschäftsmodelle und den technologischen Fortschritt in einem zunehmend digitalen Umfeld legt. Im weiteren Sinne ist es wichtig, allen wesentlichen und zukunftsweisenden Entwicklungen Rechnung zu tragen. Das würde auch die Zukunftssicherheit („Future-proof“-Charakter) des endgültigen Mehrwertsteuersystems erhöhen.

3.4.2.

Für den EWSA geht es darum, dass die MwSt.-Vorschriften in diesem Umfeld festgelegt werden, um für alle Beteiligten Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen.

3.4.3.

In gleicher Weise muss die Gleichbehandlung aller Anbieter sichergestellt werden, die — ob grenzübergreifend oder nicht — die gleichen Waren bzw. Dienstleistungen anbieten, unabhängig davon, ob sie den jüngsten Entwicklungen (digitale Form) folgen oder die eher herkömmlichen Wege und Methoden (physische Form) beibehalten. Der EWSA spricht sich dafür aus, Vereinfachungsmaßnahmen wie die gemeinsame EU-Mehrwertsteuerschwelle durchzuführen, um neu gegründete Unternehmen im Bereich des elektronischen Handels zu fördern, und fordert, dass diese Maßnahmen für alle KMU gelten.

3.5.   Berücksichtigung der Bedürfnisse von KMU

3.5.1.

Der Ausschuss begrüßt, dass den KMU in dem Aktionsplan so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, und hebt dies hervor. Es ist wichtig und unerlässlich, dass in dem Aktionsplan eine ganze Palette spezifischer Maßnahmen mit fairen und angemessenen Regelungen für KMU vorgesehen ist. Darauf wurde bereits an anderer Stelle in dieser Stellungnahme eingegangen.

3.5.2.

Die Absicht, ein umfassendes Paket von Vereinfachungsmaßnahmen zu ihren Gunsten vorzusehen, ist zu begrüßen. Die in dem Aktionsplan dargelegten Absichten müssen jedoch noch weiter verdeutlicht und konkretisiert werden. Für den EWSA ist es wichtig, die KMU hierin von Anfang an einzubeziehen.

3.5.3.

Für landwirtschaftliche Betriebe wäre es wünschenswert, dass die derzeit fakultative Möglichkeit, eine Entschädigung für die auf bestimmte Käufe entrichtete Mehrwertsteuer vorzusehen, für alle Mitgliedstaaten obligatorisch wäre. Gleichzeitig sollte die Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse durch landwirtschaftliche Erzeugerorganisationen oder vergleichbare Organisationen mit der landwirtschaftlichen Erzeugung auf eine Stufe gestellt werden.

3.6.   Maßnahmen im Bereich der ermäßigten Mehrwertsteuersätze

3.6.1.

Der EWSA befürchtet, dass eine größere Flexibilität bei der Festsetzung ermäßigter Mehrwertsteuersätze zu einer zunehmenden Fragmentierung der Mehrwertsteuersätze in den einzelnen Mitgliedstaaten führen könnte, was sich wiederum nachteilig auf die Klarheit und Durchführbarkeit des Systems, insbesondere für KMU, auswirken würde.

3.6.2.

Im Hinblick auf die im Aktionsplan vorgeschlagenen zwei Optionen behält sich der EWSA seinen Standpunkt vor, da weitere Informationen über die vorgeschlagenen Möglichkeiten, die Art und Weise, wie sie umgesetzt werden sollen, und die für sie geltenden Regeln erforderlich sind. Daher beschränkt sich der EWSA an dieser Stelle darauf, eine Reihe von Merkmalen der künftigen Regelung anzuführen. Dabei müssen Flexibilität und Rechtssicherheit Hand in Hand gehen, die Regelung muss transparent sein, und die Zahl der ermäßigen Mehrwertsteuersätze und der Ausnahmeregelungen muss beschränkt werden. Unter den gegebenen Umständen und auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen gibt der EWSA Option 1 (12) den Vorzug, da sie den vorgenannten Kriterien am ehesten entspricht.

3.6.3.

Der EWSA fordert, die Rolle und die strategische Bedeutung der sozialen Unternehmen (13) in der künftigen endgültigen Mehrwertsteuerregelung zu berücksichtigen. In diesem Sinne könnte eine Überarbeitung der Ziffer 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112/EG oder eine neue Bestimmung erwogen werden, die die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes für Dienstleistungen in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Bildung zugunsten benachteiligter Personen durch anerkannte soziale Einrichtungen vorsieht. Insbesondere sollte die Möglichkeit geprüft werden, im Rahmen der neuen Mehrwertsteuerregelung Waren und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen und benachteiligte Personen ganz oder teilweise von der Mehrwertsteuer zu befreien.

3.6.4.

Darüber hinaus müssen bereits bestehende MwSt.-Ausnahmeregelungen, die in einigen Mitgliedstaaten für gemeinnützige Organisationen gelten, aufgrund des spezifischen Charakters dieser Organisationen und des Fehlens einer grenzübergreifenden Dimension beibehalten werden.

3.6.5.

Im Rahmen der überarbeiteten MwSt.-Richtlinie könnte auch geprüft werden, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollen, auf Luxusgüter höhere Mehrwertsteuersätze als die Normalsätze anzuwenden, und wenn ja, welche Vorschriften in diesem Fall gelten sollten.

3.6.6.

Einigen europäischen Inseln und abgelegenen Gebieten wurden im Einklang mit der Richtlinie 2006/112/EG besondere, ermäßigte MwSt.-Sätze und Ausnahmeregelungen gewährt, um ihre dauerhaften natürlichen, wirtschaftlichen und demografischen Nachteile auszugleichen. Angesichts der Bedeutung solcher Regelungen für auf Inseln angesiedelte Unternehmen und die örtliche Wirtschaft, fordert der EWSA ihre Beibehaltung.

Brüssel, den 13. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Die folgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf dem Aktionsplan der Kommission.

(2)  Der Plan enthält sieben dieser Maßnahmen, und weitere zwanzig Maßnahmen sind im Dokument „20 Maßnahmen zur Schließung der Mehrwertsteuerlücke“ enthalten. Siehe http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/tax_cooperation/vat_gap/2016-03_20_measures_en.pdf.

(3)  Das „Bestimmungslandprinzip“.

(4)  Siehe oben Ziffer 2.4.

(5)  Auch bekannt unter dem englischen Begriff „Reverse-Charge-System“.

(6)  Vgl. Ziffer 3.1.3.

(7)  Siehe oben Ziffer 2.4.4.

(8)  Im Gesundheitswesen beispielsweise müssen private Unternehmen die Mehrwertsteuer in Rechnung stellen, während öffentliche Anbieter häufig davon befreit sind.

(9)  In der aktuellen Fassung des Aktionsplans. siehe Ziffer 4, letzter Absatz.

(10)  Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, den die Kommission am 28. Januar 2016 veröffentlicht hat (die so genannte Anti-BEPS-Richtlinie). Siehe http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52016PC0026 und http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-159_de.htm; siehe hierzu die EWSA-Stellungnahme ECO/405 zum Paket zur Bekämpfung der Steuervermeidung vom 28. April 2016 (ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 93).

(11)  Um etwa 40 Mrd. EUR bzw. 80 %.

(12)  Option 1 betrifft die „Erweiterung und regelmäßige Überprüfung des Verzeichnisses von Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können“.

(13)  Zu der Bedeutung der Sozialwirtschaft siehe die Mitteilung der Kommission „Initiative für soziales Unternehmertum — Schaffung eines ‚Ökosystems‘ zur Förderung der Sozialunternehmen als Schlüsselakteure der Sozialwirtschaft und der sozialen Innovation“, COM(2011) 682 final.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/50


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Industrie 4.0 und digitaler Wandel: wohin der Weg geht“

[COM(2016) 180 final]

(2016/C 389/07)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL

Ko-Berichterstatter:

Nicola KONSTANTINOU

Die Europäische Kommission beschloss am 19. April 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Industrie 4.0 und digitaler Wandel: wohin der Weg geht“

[COM(2016) 180 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli 2016) mit 98 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Mitteilung über die „Digitalisierung der europäischen Industrie“ (1). Er erachtet das Paket (2) als solches als den Anfang eines umfassenden europäischen Arbeitsprogramms, das in enger Zusammenarbeit aller öffentlichen und privaten Interessenträger durchgeführt werden muss.

1.2.

Der EWSA begrüßt das in der Mitteilung dargelegte kohärente, ehrgeizige, richtungsweisende, strategische industriepolitische Konzept, das vier Schwerpunkte umfasst: (1) Technologien und Plattformen; (2) Standards und Referenzarchitekturen; (3) geografischer Zusammenhalt über die Vernetzung von regionalen „Digital Innovation Hubs“; (4) Kompetenzförderung auf allen Ebenen.

1.3.

Es muss dringend gehandelt werden — so lautet die Schlussfolgerung aus der Analyse der Europäischen Kommission. Sie betont die Stärken der europäischen digitalen Wirtschaft, bringt aber auch Befürchtungen zum Ausdruck, dass die Wertschöpfung weitgehend nicht mehr in den Unternehmen, sondern auf proprietären digitalen Plattformen stattfinden könnte. In diesem Zusammenhang werden die fehlenden gemeinsamen Normen und interoperablen Lösungen angesprochen. Ferner herrscht großer Bedarf an digitalen Kompetenzen.

1.4.

Der Wandel zur Industrie 4.0 verläuft im Wesentlichen als Bottom-up-Prozess. Die öffentliche Hand, der dabei eine entscheidende — regulierende, vermittelnde und finanziell unterstützende — Rolle zukommt, sollte ihrerseits strategische Leitlinien aufstellen.

1.5.

Die Digitalisierung und Industrie 4.0 wirken sich tiefgreifend auf Geschäftsmodelle und das gesamte derzeitige Unternehmensumfeld aus. Von höchster Bedeutung sind Bewusstseinsbildung und gemeinsame Zielvorstellungen aller Interessenträger — neben Unternehmen auch Sozialpartner auf allen Ebenen, die Wissenschaft, Forschungseinrichtungen, öffentliche Akteure auf lokaler und regionaler Ebene, der Bildungssektor und die Verbraucher.

1.6.

Kein europäisches Land kann sich im Alleingang alle durch das digitale Zeitalter eröffneten Chancen zunutze machen. Europa als Ganzes erreicht die kritische Größe im Vergleich zu großen Märkten wie den USA und China. Die Digitalisierung der Industrie erfordert eine gemeinsame industriepolitische Strategie der EU und ihrer Mitgliedstaaten, um die industrielle Basis in Europa zu stärken und neue Investitionen sowie die Rückverlagerung von Investitionen und Arbeitsplätzen zu fördern und Europa mit Blick auf einen Beitrag der europäischen Industrie von 20 % zum BNE der EU bis 2020 auf Kurs zu halten.

1.7.

Ein verlässliches und berechenbares Umfeld ist wesentlich. Besondere Aufmerksamkeit muss Start-ups und Scale-ups gelten. Der Rat, insbesondere der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“, sollte auf Initiative der Europäischen Kommission schleunigst über eine Strategie Industrie 4.0 und die Vollendung des digitalen Binnenmarkts beschließen, um die aus 28 digitalen Strategien resultierende Fragmentierung zu überwinden. Der digitale Binnenmarkt (DBM) sollte ein integraler Bestandteil des überarbeiteten Binnenmarkts sein, um eine Fragmentierung des europäischen digitalen Umfelds zu verhindern.

1.8.

Zusammenarbeit ist entscheidend. Nationale und regionale 4.0-Plattformen sollten alle relevanten Interessenträger zusammenbringen. Innerhalb eines gemeinsamen EU-Rahmens sollte sich jede von ihnen eigenständig entfalten. Partnerschaften aller Art, Synergien und Clusterbildung, grenzübergreifende Verfahrensweisen und europäisches Benchmarking sollten gefördert werden.

1.9.

Desgleichen sind öffentlich-private Partnerschaften, wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (3) sowie Initiativen für elektronische Behördendienste zu unterstützen.

1.10.

Die zunehmenden Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei Industrieproduktion und technologischer Leistungsfähigkeit geben Anlass zur Sorge. Der EWSA drängt darauf, mit Hilfe einer gut durchdachten Zusammenarbeit die Entwicklung hin zu mehr Konvergenz anzustoßen.

1.11.

Der EWSA begrüßt, dass im Rahmen von Horizont 2020 5 Mrd. EUR für FuE im IKT-Bereich vorgesehen sind und weitere europäische Mittel, u. a. über die Juncker-Investitionsoffensive, bereitgestellt werden sollen. Die Europäische Kommission muss darlegen, wie diese Absichten in die Praxis umgesetzt werden sollen.

1.12.

Offenbar sind umfangreiche zusätzliche Finanzmittel erforderlich. Die Europäische Kommission spricht von 50 Mrd. EUR allein für Investitionen in IKT. Das erfordert umfangreiche finanzielle Beteiligungen des öffentlichen und privaten Sektors in ganz Europa. Bislang ist nicht klar, wie diese finanziellen Vorgaben innerhalb eines angemessenen zeitlichen Rahmens umgesetzt werden sollen.

1.13.

Privates Beteiligungskapital spielt eine wichtige Rolle bei der Finanzierung. Banken sollten angehalten werden, ihren Teil zu Industrie 4.0 beizutragen. Ein voll entwickelter europäischer Kapitalmarkt würde angemessene Unterstützung bieten.

1.14.

Maßgeschneiderte Produkte zu Massenproduktionspreisen kommen Anwendern und Verbrauchern sehr zugute. In den meisten Bereichen des persönlichen Verbrauchs werden sich Leistungs- und Qualitätsverbesserungen positiv bemerkbar machen.

1.15.

Es ist enttäuschend, dass in der Mitteilung nur knapp auf die umfangreichen sozialen Auswirkungen der Digitalisierung der Industrie eingegangen wird. Die Nettoeffekte sind nicht absehbar. Um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, muss denjenigen Generationen und Einkommensgruppen, die hart getroffen werden können, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Für viele andere werden sich neue Möglichkeiten auftun.

1.16.

Die Digitalisierung wird erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsorganisation haben, etwa Zunahme der Einkommensunterschiede und Beschneidung des Zugangs zu den Systemen der sozialen Sicherheit, die sich für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern als negativ erweisen können, wenn dem nicht angemessen entgegengetreten wird (4).

1.17.

Die Gewährleistung stabiler sozialer Beziehungen, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und gut ausgebildeter, motivierter Arbeitskräfte mit einem angemessenen Einkommen und hochwertigen Arbeitsplätzen setzt die aktive Mitwirkung aller Beteiligten voraus. Auf allen Ebenen — d. h. auf EU-Ebene, auf mitgliedstaatlicher Ebene, auf regionaler Ebene und auf Unternehmensebene — müssen umfangreiche soziale Dialoge geführt werden, um die Umstellung für die von der Digitalisierung betroffenen Arbeitnehmer durch rechtzeitige und ausreichende Maßnahmen zur beruflichen Anpassung fair zu gestalten.

1.18.

Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Bildungsprogrammen und -einrichtungen und sozialem Zusammenhalt. Aktuellste Kompetenzen und Qualifikationen der IKT-Nutzer und Umschulungsmaßnahmen sind von maßgeblicher Bedeutung. Die Wirtschaft und Sozialpartner sollten auf allen Ebenen aller Schul- und Ausbildungsgänge eng in die Aufstellung der Lehrpläne einbezogen werden.

1.19.

Der EWSA erwartet, dass die Kommission durch die praktische Umsetzung des Strategieplans die Entwicklung beschleunigt. Dazu müssen konkurrierende Ansätze wirksam koordiniert, Unsicherheiten ausgeräumt und die Fragmentierung des Markts überwunden werden. Dem digitalen Binnenmarkt kommt eine maßgebliche Bedeutung zu. Entscheidend ist eine schleunige europäische Standardisierung.

1.20.

Der EWSA erwartet ferner, dass die Kommission eine aktive Rolle in folgenden Bereichen übernimmt:

gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsbildung, insbesondere für die notwendige Aneignung digitaler Kompetenzen;

Analyse der weltweiten Entwicklungen und Bereitstellung verbesserter statistischer Daten über Dienste;

Vermittlung der wirksamen Koordinierung auf EU-Ebene als Vorbild für die Regierungen der Mitgliedstaaten;

Nachdruck auf Infrastrukturinvestitionen (Telekommunikation, Breitband);

Sicherstellung, dass die Umsetzung der DS-GVO (5) nicht zu Disharmonie im Binnenmarkt führt;

Eintreten für transparente Finanzierungsmodalitäten im öffentlichen und privaten Sektor;

Überwachung, Benchmarking und Bewertung, auch der länderspezifischen Empfehlungen im Europäischen Semester;

Förderung von 4.0-Plattformen, ÖPP und Zusammenarbeit zwischen Interessenträgern und Herstellung von Kontakten auf EU-Ebene;

Förderung der „Digital Innovation Hubs“ als Fortbildungszentren für Arbeitnehmer;

Vertiefung des sozialen Dialogs auf allen Ebenen in der EU, um die Folgen für den Arbeitsmarkt sowie die Anpassungen im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts zu erörtern, insbesondere wirtschaftliche und politische Maßnahmen zur Sicherstellung des Schutzes sämtlicher Arbeitnehmer (6).

2.   Einleitung

2.1.

Die Digitalisierung der Industrie ist ein wichtiger Teilbereich eines allgemeinen wirtschaftlichen Wandels, der auf Robotik, Materialwissenschaften und neuen Produktionsprozessen beruht und als Industrie 4.0 bezeichnet wird. Der damit verbundene Paradigmenwechsel wird Wirtschaft und Gesellschaft einschneidend verändern. Noch 2014 hatte die EU keinen wirklichen Überblick über die wirtschaftlichen, technologischen, sozialen und gesellschaftlichen Aspekte von Industrie 4.0. Der EWSA stellte eine Liste erstrebenswerter Maßnahmen auf (7).

2.2.

Im September 2015 nahm der EWSA eine Stellungnahme zu den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Digitalisierung in der Industrie und den disruptiven Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt an (8).

A.    Globale Entwicklungen

2.3.

Es sind branchenübergreifende Veränderungen insbesondere in den USA, China, der EU, Japan und Korea im Gange. Weitere werden folgen. Massendaten (Big Data) als neuer Rohstoff katalysieren Veränderungen von Prozessen bei Produkten und Dienstleistungen. Zuvor disjunkte Bereiche (9) treten nun in Wechselwirkung miteinander, während (vor allem digitale) Dienstleistungen in Werteketten erheblichen Mehrwert in Produktionsprozessen generieren.

2.4.

Heutzutage kann kein Unternehmen ohne digitale Strategie auskommen. Diese Strategie wirkt sich gleichzeitig auf die Produkte, die Dienstleistungen und die Prozesse in der gesamten Branche aus. Hinsichtlich der Erschließung neuer Märkte führt die Digitalisierung der Industrie zu scharfem Wettbewerb zwischen den Unternehmen und zwischen den Wirtschaftsblöcken. Zugleich ist mittlerweile eine weltweite vorwettbewerbliche Zusammenarbeit üblich.

2.5.

Triebfeder für die Maßnahmen ist eine fokussierte industriepolitische Strategie, insbesondere in den USA und in China, wo den Unternehmen große Binnenmärkte zugutekommen. Dabei handelt es sich um Politik auf hoher Ebene. Im Jahr 2011 startete die US-Regierung unter Präsident Obama ein umfassendes fortlaufendes Programm zu neuen Technologien, insbesondere IKT, unter Einbindung von Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Universitäten überall in den USA.

2.6.

Wie gewöhnlich werden private Projekte umfassend von neuen, jüngst von Bundesbehörden angekündigten Militärtechnologieprogrammen profitieren.

2.7.

Die USA beabsichtigen, den digitalen Wandel zu nutzen, um verlorenes Terrain auf den industriellen Märkten zurückzugewinnen. Dabei setzen sie auf die US-amerikanische unternehmerische Freiheit sowie auf die dominierende Stellung von US-basierten weltweiten Akteuren in den Bereichen IKT und Big Data, wie Google, Amazon, Microsoft, Cisco und anderen (10).

2.8.

Ein Konsortium von führenden Industrieunternehmen arbeitet auf das gleiche Ziel hin. Aus der Liste der 50 innovativsten Unternehmen des Jahres 2014 geht hervor, dass sieben von zehn führenden Unternehmen in den USA ansässig sind (11).

2.9.

Die chinesische Regierung nutzt die digitale Umgestaltung, um die weltweite Stellung Chinas zu stärken. In offiziellen Dokumenten wird das Ziel hervorgehoben, mit den USA gleichzuziehen.

2.10.

Diese ehrgeizigen Ziele Chinas sind klar formuliert in einem branchenübergreifenden vom Staat getragenen Programm mit dem Titel Made in China 2025, das auf den Zielen des deutschen Programms Industrie 4.0 beruht. Dabei handelt es sich um ein völlig neues Konzept für die Wirtschafts- und Fertigungsprozesse in China, das einen hohen Grad an Koordinierung zwischen Entscheidungsträgern, Wirtschaftsakteuren und innovativen Kräften vorsieht.

2.11.

Dafür werden enorme Finanzmittel eingeplant. Trotz des konjunkturellen Abschwungs sind diese spezifischen Programme unangetastet geblieben.

B.    Sachstand in Europa

2.12.

Das Interesse an Industrie 4.0 hat stark zugenommen. Gleichzeitig hat Digitalisierung für die Juncker-Kommission Priorität. Es muss eine optimale Koordinierung zwischen den Dienststellen der Kommission sichergestellt werden.

2.13.

Ein zielorientierter Ansatz innerhalb des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ ist Voraussetzung für eine gemeinsame Denkhaltung der Entscheidungs- und Interessenträger auf EU-, mitgliedstaatlicher und regionaler Ebene. Die Digitalisierung der Industrie und Big Data in der europäischen Fertigung müssen eine starke künftige Position sichern. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Bottom-up-Prozess unter Einbeziehung aller Interessenträger. Der öffentlichen Hand kommt dabei eine maßgebliche — regulierende, vermittelnde und finanziell unterstützende — Rolle zu.

2.14.

Seit 2011 geht die Initiative von Deutschland aus, durch gemeinsame Anstrengungen von Bundesregierung, Wissenschaft und Unternehmen. Nach dem Start von Industrie 4.0 2013 wurde der Prozess mittlerweile als Plattform 4.0 über eine Kooperationsvereinbarung zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften optimiert. Die Wirtschaft engagiert sich immer stärker in branchenübergreifenden Initiativen, oftmals im Zusammenwirken mit den Bundesländern.

2.15.

Mittlerweile gibt es Industrie 4.0 in Österreich, L’Industrie du Futur in Frankreich, Catapult im Vereinigten Königreich, Smart Industry in den Niederlanden und andere. Es ist ein breitgefächertes Spektrum, in dem jedes Land seine eigen Vision von 4.0 und der Industrie der Zukunft entwickelt. Die Intensität der Zusammenarbeit sowie das Bewusstsein für die Dringlichkeit schwanken jedoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich.

2.16.

Mitgliedstaatliche, regionale und lokale (Städte(!)-)Initiativen ergänzen sich. Die Europäische Kommission plant zu Recht grenzübergreifende Verfahrensweisen und Partnerschaften sowie den Austausch bewährter Verfahren.

2.17.

Großunternehmen und mittelständische Fachbetriebe gehen voran. Anlass zur Sorge geben vor allem die erheblichen Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten, der Nachholbedarf oder das mangelnde Bewusstsein der KMU und das zögerliche Engagement der Öffentlichkeit. Besonders problematisch ist die Fragmentierung des europäischen Marktes und das übliche deprimierende europäische Stückwerk aus 28 industriepolitischen und digitalen Strategien.

2.18.

Die Digitalisierung der Industrie und Industrie 4.0 gehen weit über rein technologische Aspekte hinaus. Die Unternehmen müssen sich auf einschneidende Veränderungen aufgrund mehrerer Faktoren einstellen: Geschwindigkeit, Umfang und Unvorhersehbarkeit der Fertigung, weitere Fragmentierung und Neuausrichtung von Wertschöpfungsketten, neue Beziehungen zwischen Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Privatsektor, neue Geschäftsmodelle, neue Verknüpfungen zwischen großen und kleineren Unternehmen, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen allen Ebenen in der Wirtschaft (Design, Fertigung, Verkauf, Logistik, Wartung), die Notwendigkeit von aktualisierten und neuen Fertigkeiten, die mit neuen Arbeitsweisen einhergehen, engere Verknüpfungen zwischen der Wirtschaft und dem Benutzer. Vor allem traditionelle Unternehmen werden sich einer Herausforderung durch brandneue Konzepte (12) stellen müssen.

2.19.

Die Verbraucher werden mehr denn je das Sagen haben. Dank der Zusammenführung von Fertigung und Dienstleistungen ermöglicht die Digitalisierung eine kundenspezifische Anpassung und eine maßgeschneiderte Fertigung zu gleichen oder niedrigeren Kosten als bei Serienfertigung, oftmals in einem neuen Umfeld. Gleichzeitig müssen die Verbraucher in die Lage versetzt werden, angemessene Informationen über die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Produkten einzuholen, um sachkundige Kaufentscheidungen treffen zu können.

3.   Industriepolitik sowie aktuelle und wünschenswerte Maßnahmen

3.1.

Zur Unterstützung von Industrie 4.0 und den betroffenen Interessenträgern — Unternehmer, Mitarbeiter, Sozialpartner, Lieferanten, Kunden, Bildungseinrichtungen — benötigt die EU eine industriepolitische Strategie mit einer geeigneten Arbeitsteilung zwischen allen Beteiligten. Dabei kommt dem Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ eine entscheidende Rolle zu. Wie stets in der Industriepolitik geht es auch hier um geteilte Zuständigkeiten.

3.2.

Der Europäische Rat (13) hat das Ziel festgelegt, dass die europäische Industrie bis 2020 statt der gegenwärtigen 12 % einen Beitrag von 20 % zum BNE der EU leisten sollte. Die zögerliche Haltung seitens der Investoren sowie ein Mangel an Richtungsvorgaben (auf EU-Ebene) führen jedoch zu einem Rückgang der verarbeitenden Industrie.

3.3.

Eingedenk der notwendigen Kohärenz zwischen den verschiedenen Politikbereichen sind die Kommissionsdienststellen derzeit mit der Erstellung eines eindrucksvollen Arbeitsprogramms — Rechtsetzung, Standardisierung, FuE und Finanzierung — in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und der Wirtschaft befasst.

3.4.

Der EWSA nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, dass der Großteil der siebzehn Empfehlungen, die er 2014 in seiner Stellungnahme (14) vorgelegt hat, derzeit in der Diskussion sind.

3.5.

Die Europäische Kommission, die Regierungen, die Wirtschaft und die Interessenträger nehmen richtigerweise gleichzeitig an strategischen Sitzungen zu Industrie 4.0 teil. Europäische öffentlich-private Partnerschaften (15) sowie das geplante wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse betreffend Komponenten mit niedrigem Stromverbrauch für das Internet der Dinge sollten gefördert werden. Es ist ein detaillierter Fahrplan für die Wirtschaft und für die Regierungen erforderlich

3.6.

Erheblichen Anlass zur Sorge gibt, dass immer noch 28 Digitalisierungsstrategien nebeneinander bestehen, die dem notwendigen Größeneffekt abträglich und damit ein wesentliches Argument sind, den digitalen Binnenmarkt voranzutreiben.

3.7.

Der digitale Binnenmarkt sollte ein integraler Bestandteil des überarbeiteten Binnenmarkts werden. Die intelligente Rechtsetzung und Regulierung müssen schneller vorangebracht werden. Die Agenda umfasst:

Beseitigung von internen Handelsschranken und Modernisierung von veralteten Rechtsvorschriften;

einheitlicher Umgang mit Big Data in ganz Europa;

digitale Infrastruktur (Telekommunikation, Breitband);

offene Normung mit Nutzung standardessenzieller Patente (SEP) unter fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien (FRAND) wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen;

eine rechtliche Regelung für die Lizenzierung und den Schutz von Daten, einschließlich arbeitnehmerbezogener Daten;

die Bedeutung des Datenschutzes für gegenwärtige und künftige Datennutzungen und Zugang zu realen Daten;

Haftung und Sicherheit bei autonomen vernetzten Geräten, Maschinen und Fahrzeugen;

Cloud-Computing und Standards für Cloud-Verarbeitungsplattformen;

Cybersicherheit und Vertraulichkeit;

Urheberrecht;

Durchsetzung von Sozial- und Steuerrecht in der Gig-Ökonomie sowie bei Online-Arbeitsverhältnissen (beispielsweise „Crowdworking“);

aktuelle und detaillierte Statistiken über Dienstleistungen.

3.8.

Der EWSA fordert nachdrücklich Konsultationen, um für ein angemessenes Gleichgewicht zwischen gesetzlichen Bestimmungen und Spielraum für Wirtschaftsakteure zu sorgen.

3.9.

Europa muss sich bemühen, in enger Zusammenarbeit mit außereuropäischen Akteuren weltweite Normen festzulegen.

3.10.

Die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) räumt den Mitgliedstaaten diverse Spielräume ein. Es muss sichergestellt werden, dass die DS-GVO nicht zur Einschränkung des Zugangs zu Daten und ihrer Weiterverwendung führt und damit Uneinheitlichkeiten auf dem Binnenmarkt weiter begünstigt.

3.11.

Die Cybersicherheit wird sowohl seitens der Wirtschaft als auch seitens der Staaten nach wie vor stark unterschätzt. Die Cyber-Kriminalität ist weltweit auf dem Vormarsch. Hier kommt der EU eindeutig eine wichtige Rolle zu.

3.12.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, den immer noch weitgehend unbeachteten Statistiken besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Detailliertere statistische Daten über Dienstleistungen sind von entscheidender Bedeutung für die Wirtschaft und für die politischen Entscheidungsträger.

4.   Mitgliedstaatliche und regionale Maßnahmen

4.1.

Mittlerweile befassen sich immer mehr Länder und Regionen ernsthaft mit der Digitalisierung.

4.2.

Das zunehmende Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten und die unterschiedlich ausgeprägte Sensibilisierung auf Unternehmensebene in den einzelnen Ländern geben jedoch erheblichen Anlass zur Sorge. Ein großes Anliegen ist die Interoperabilität zwischen Unternehmen und Lieferanten.

4.3.

Für Unternehmen und Interessenträger werden Sensibilisierungsprogramme eingerichtet. Jeder Mitgliedstaat sucht sich dabei seine eigenen Verfahren. Plattformen leisten — oft auf regionaler Ebene — einen wichtigen Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen großen und kleinen Unternehmen sowie zwischen diesen und Forschungseinrichtungen sowie Hochschulen.

4.4.

Der Ausbau regionaler und nationaler ÖPP sollte unterstützt werden, denn sie führen Partner mit verschiedenen Hintergründen zusammen, fördern die gegenseitige Inspiration und Zusammenarbeit und können dringend benötigte Finanzmittel erschließen.

4.5.

In Plattformen, Exzellenzzentren und sogenannten Vor-Ort-Laboren („Field Labs“) liegt der Schwerpunkt häufig auf spezifischen Teilaspekten der Digitalisierung, beispielsweise auf sich wandelnden Wertschöpfungsketten, auf neuen Geschäftsmodellen, auf sozialer Innovation oder Innovation am Arbeitsplatz (16) unter aktiver Mitwirkung der Beschäftigten und Gewerkschaften. Zentrale Anlaufstellen („One-Stop-Shops“) müssen gefördert werden. Branchenorganisationen kommt eine Rolle bei der Bewältigung von branchenspezifischen Problemen zu.

4.6.

(Technischen) Hochschulen, in deren Umfeld Gründerzentren angesiedelt werden — im Sinne eines „Business Campus“ — kommt ebenfalls eine proaktive Rolle zu. Das Konzept der unternehmerisch ausgerichteten Hochschulen, das sich in Europa ausbreitet, ist äußerst hilfreich (17).

4.7.

Netzwerke von Unternehmen, Plattformen, Branchenorganisationen und Hochschulen stärken wünschenswerte Trends. Der DBM sollte die Bedingungen für die grenzübergreifende Zusammenarbeit verbessern. Möglicherweise sind geeignete wirtschaftliche und rechtliche Bedingungen für die gemeinsame Wertschöpfung mittels Digitalisierung in der Industrie erforderlich, um die Kooperation zwischen Akteuren von (sehr) unterschiedlicher Größe zu fördern. Auf KMU und Start-up-Unternehmen ist ein besonderes Augenmerk zu richten. Den meisten dieser Unternehmen mangelt es an gezielten Informationen, und vielen von ihnen an Werkzeugen für Verbesserungen.

4.8.

Verglichen mit den USA ist die Start-up- und Scale-up-Szene eine ziemliche Schwachstelle in Europa. Die Förderung von Synergien zwischen großen und kleinen Netzwerken von (grenzübergreifenden) Gründerzentren zahlt sich aus. Business-Coaches, wie etwa erfahrene Unternehmer in Teilzeit oder im Ruhestand, sowie Mentoren können eine wichtige Rolle übernehmen.

5.   Finanzierung

5.1.

Die Digitalisierung wird zu einer Priorität für die europäischen Fonds (Horizont 2020, Regionalfonds und sonstige Fonds). Die Gemeinsame Forschungsstelle in Sevilla und die geplanten Innovationsdrehscheiben mit weltweiter Erfahrung können sehr hilfreich sein.

5.2.

Der EWSA hält es für weitaus schwieriger, die notwendigen Investitionsmittel aufzubringen, als dies in der Mitteilung dargestellt wird. Offenbar sind umfangreiche zusätzliche Finanzmittel erforderlich. Die Europäische Kommission spricht von 35 Mrd. EUR allein für Investitionen in IKT. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit zwischen EU-, nationalen und regionalen Finanzierungsquellen sowie eine aktive Beteiligung der Industrie über Plattformen und ÖPP erforderlich. Bislang ist nicht klar, wie diese finanziellen Vorgaben innerhalb eines angemessenen zeitlichen Rahmens umgesetzt werden sollen. Es stellt sich die übliche Frage: Wer soll was wofür bezahlen?

5.3.

Die Finanzierung in Europa wird zu Recht häufig als zu langsam und zu bürokratisch kritisiert, was in der Regel zu hohen Kosten führt und kleine Unternehmen abschreckt. Da sollte man sich ein Beispiel an den USA nehmen! Angepasste Verfahren und weniger Bürokratie sind unbedingt erforderlich, wobei zugleich die Fairness zu wahren ist. Es könnte hilfreich sein, die Zahl der vorgeschriebenen Partner bei FuE-Konsortien zu verringern (18).

5.4.

Das Ranking der universitären Inkubatoren kann nützlich sein, um vielversprechende Start-up-Unternehmen zu ermitteln und die bürokratischen Verfahren in der EU zu beschleunigen.

5.5.

Start-ups und Scale-ups wie bspw. die sogenannten Einhörner (19) sind Treiber innovativer digitaler Geschäftsprozesse. Die USA sind dabei führend. Zudem sind amerikanische Innovationssucher („innovation-watchers“) in Europa äußerst aktiv und halten laufend Ausschau nach profitablen Übernahmemöglichkeiten.

5.6.

Neben dem Bankensektor spielt privates Beteiligungskapital eine wichtige Rolle. Auch im Privatkundengeschäft der Banken ist die Digitalisierung in vollem Gange. Die Finanztechnologie („FinTech“) geht damit Hand in Hand. Es handelt sich um einen Ableger der digitalen Welt, der für mehr Geschwindigkeit, mehr Effizienz und mehr Transparenz sorgt und zu einer veränderten Haltung gegenüber den Kunden beiträgt. Es wäre hilfreich, wenn es neben London weitere FinTech-Hotspots in Europa gäbe.

5.7.

Die Banken und die Finanztechnologie sollten zentrale Partner im DBM sein, mit einem höheren Grad an Leistung und Wertschöpfung. Sie sollten ermuntert werden, als strategische Partner für die Industrie zu fungieren, indem sie professionelle Bewertungen des wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nutzens von Projekten erbringen. Grundlegend neue Formen von miteinander verknüpften Plattformen und Mehrwertdiensten können hilfreich sein.

5.8.

Die (Neu-)Regulierung des Finanzsektors sollte es Finanzinstituten nicht verwehren, über Investitionen in Industrie 4.0 kalkulierte Risiken einzugehen.

5.9.

Es ist ein voll entwickelter europäischer Kapitalmarkt erforderlich, um im Finanzsektor für gleiche Wettbewerbsbedingungen nach Vorbild der USA zu sorgen.

6.   Gesellschaft und Arbeitsmarkt

A.    Gesellschaft

6.1.

Industrie 4.0 und die digitale Gesellschaft betreffen alle. Das Bewusstsein dafür muss gefördert werden. Zu erörtern sind Risiken und Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft sowie die Chancen und Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Bedingungen und die Akzeptanz.

6.2.

In Nordwesteuropa ist die digitale Revolution bereits täglich in den Medien (Fernsehen, Presse, soziale Medien). In einigen Ländern ist die Öffentlichkeit einigermaßen gut informiert, aber es besteht noch erheblicher Verbesserungsbedarf in ganz Europa.

6.3.

Maßgeschneiderte Produkte zu Massenproduktionspreisen kommen Anwendern und Verbrauchern sehr zugute. In folgenden Bereichen steht eine merkliche Leistungssteigerung zu erwarten:

Landwirtschaft und Nahrungsmittel;

Kreislaufwirtschaft, COP 21;

automatische Prüfung und Diagnose, Reparatur und Wartung, Demontage;

elektronische Gesundheitsdienste (e-health), mobile Gesundheitsdienste (m-health) und mobile Informationssysteme im Gesundheitswesen (e-care);

Robotik im Gesundheitswesen (Nähe und Interaktion);

Hoch- und Tiefbau (20);

geringerer Energieverbrauch;

Verkehr und Mobilität;

elektronische Behördendienste („E-Government“);

intelligente Städte;

Entwicklung abgelegener Gebiete;

unterentwickelte Länder.

B.    Arbeitsmarkt

6.4.

Industrie 4.0 hat tiefgreifende Auswirkungen auf sämtliche Berufe auf dem Arbeitsmarkt. Somit muss die Arbeitsmarktpolitik ein Kernstück zukünftiger Entwicklungen bilden. Diesbezüglich fällt die Argumentationslinie der Mitteilung enttäuschend knapp und vergleichsweise oberflächlich aus.

6.5.

Im Jahr 2015 erörterte der EWSA eine breite Palette von Auswirkungen der Digitalisierung auf die Dienstleistungsbranche und die Beschäftigung (21). Es vollziehen sich Veränderungen hinsichtlich Berufsbildern, Fertigkeiten und Qualifikationen, allgemeiner und beruflicher Bildung, Arbeitsumfeldern und Ablauforganisation, Vertragsbeziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten, Arbeitsmethoden, Laufbahnplanung usw.

6.6.

Der Umgang mit Technologie, die sich rasant weiterentwickelt — wobei jedoch manche (potenziell: viele) Menschen auf der Strecke bleiben könnten — ist eine der großen Herausforderungen der Gegenwart (22). Die Politik und die Gesellschaft als solche, die Wirtschaft, die Gewerkschaften, gemeinnützige Einrichtungen und der öffentliche Sektor, Branchenorganisationen und NRO — sie alle müssen sich einbringen.

6.7.

Im digitalen Zeitalter wird der soziale Zusammenhalt weitgehend von der Bildung abhängen. Die Schul- und Berufsbildungssysteme in Europa müssen dringend modernste Kompetenzen und Qualifikationen vermitteln, wenn die Menschen mit den Entwicklungen und dem zunehmenden (internationalen) Mobilitätsbedarf Schritt halten sollen. Kreativität und Unternehmergeist sind zu fördern (23).

6.8.

Um die Arbeitnehmer in der EU mit den Fähigkeiten auszustatten, die sie im digitalen Zeitalter benötigen, müssen öffentliche und private Investitionen in die Berufsbildung gefördert und geprüft werden, ob es europäischer Maßnahmen bedarf, um gute Erfahrungen in Mitgliedstaaten zur Bildungsfreistellung in der EU zu verallgemeinern (24).

6.9.

Die EU braucht eine Qualifikationsagenda auf der Grundlage von Schlüsselkompetenzen. Ein EU-Forum für Bildung und Wirtschaft unter Einbeziehung der Sozialpartner wird dafür ausgezeichnete Unterstützung liefern. Auch die Sozialpartner der Anwenderbranchen sollten an der Definition der digitalen Kompetenzen für die Industrie beteiligt werden. Die europaweite Große Koalition für digitale Arbeitsplätze und einschlägige nationale Koalitionen sollten gut koordiniert werden.

6.10.

Die Digitalisierung eröffnet Chancen und ermöglicht den Menschen mehr Eigenverantwortung und Freiheit (beispielsweise hinsichtlich Arbeitszeit und -ort). Sehr vielen Menschen kommt dies zugute, entweder innerhalb ihrer bisherigen Unternehmen, oder aber indem sie zu neuen Unternehmen wechseln oder sich selbstständig machen. Es wäre zu prüfen, wie die Sozialpartner in den Mitgliedstaaten im Einklang mit nationalen Verfahrensweisen und Rechtsvorschriften verschiedene Formen der Flexibilität anwenden könnten, um einen fairen Ausgleich der Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu erreichen (25).

6.11.

Aufgrund der Robotisierung kommt es derzeit zu umfangreichen Entlassungen von zahlreichen Kategorien von Arbeitern, aber auch von Führungskräften. Besonders hart trifft es die untere Mittelklasse sowie die ältere Generation. Die Gesellschaft trägt eine klare Verantwortung gegenüber jenen, die — aufgrund von Alter oder unzureichenden Qualifikationen — nicht mehr am Arbeitsmarkt teilnehmen können.

6.12.

Zur Stärkung der Beschäftigung trotz sinkenden Arbeitskräftebedarfs müssen im Dialog aller Stakeholder mögliche Probleme aufgezeigt und entsprechend der Notwendigkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten entsprechende Lösungsstrategien entwickelt werden (z. B. auch im Bereich öffentliche Investitionen, beschäftigungsfördernde Innovation sowie Verteilung und Verkürzung der Arbeit) (26).

6.13.

Zugleich müssen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt korrigiert werden. Die Weiterqualifizierung all derjenigen, die dazu in der Lage sind, muss erleichtert werden. Überall in Europa gibt es Hunderttausende von unbesetzten Stellen im technischen Bereich und im IKT-Bereich. In diesem Zusammenhang ist eine geeignete Kommunikation erforderlich.

6.14.

Wirtschaft und Gewerkschaften sehen sich mit denselben Herausforderungen konfrontiert. Es liegt im Interesse aller, dass die Arbeitskräfte gut ausgebildet und motiviert sind sowie über ein angemessenes Einkommen und hochwertige Arbeitsplätze verfügen. Wenn der Wandel nicht sorgfältig gesteuert wird, kann es zu Widerständen in der öffentlichen Meinung und unter den Arbeitnehmern und in der Folge zu Spannungen mit schädlichen Auswirkungen kommen.

6.15.

Der soziale Dialog auf allen Ebenen — d. h. auf EU-Ebene, auf mitgliedstaatlicher Ebene, auf regionaler Ebene und auf Unternehmensebene — ist unbedingt erforderlich. Die Konjunktur und das soziale Umfeld, die Traditionen und die Kultur unterscheiden sich jedoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sämtliche Interessenträger gemeinsam Verantwortung tragen.

6.16.

Auf EU-Ebene sollte der soziale Dialog hinsichtlich Industrie 4.0 folgendes umfassen:

Analysen von komplexen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen und Antizipierung des Wandels, um ein gemeinsames Verständnis zu fördern;

Folgenabschätzungen für verschiedene Segmente des Arbeitsmarkts (untere, mittlere, obere) sowie für schutzbedürftige Gruppen;

Veränderungen in den Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen;

Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit und Haftung mit Blick auf automatisierte und vernetzte Maschinen und Fahrzeuge;

Berufsbilder;

Flexicurity und Mobilität angesichts der weiteren Fragmentierung der Wertschöpfungsketten;

Fertigkeiten und Qualifikationen mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Benutzer von digitaler Technologie sowie Umschulungsmaßnahmen sind daher von zentraler Bedeutung;

allgemeine Bildung, von der Grundschule bis zur Hochschule;

laufende Fort- und Weiterbildung sowie Umschulung;

ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen;

bewährte Verfahren, besonderes Augenmerk auf Förderung der Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten;

Mobilität (Schengen);

Kommunikation und Information.

6.17.

Parallel dazu findet ein sozialer Dialog auf Branchenebene statt. Ein Beispiel dafür ist der Dialog zwischen CEEMET und industriAll in der Metall- und Elektroindustrie. Die Europäische Bankenvereinigung (EBF), die Versicherungsbranche und die Zentralbanken führen einen entsprechenden Dialog mit dem Gewerkschaftsverband UNI-Europa Finance. Zudem engagieren sich die EBF und UNI-Europa für ein europaweites Umschulungsprojekt für 40 000 Beschäftigte.

6.18.

Der gleiche Ansatz wird auf mitgliedstaatlicher Ebene verfolgt bzw. sollte auf mitgliedstaatlicher Ebene verfolgt werden, und zwar unter Berücksichtigung der von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblichen Unterschiede hinsichtlich Kultur, Agenda und Praxis, des eigentlichen sozialen Dialogs als auch des Eingreifens des Staats als Gesetzgeber und Vermittler.

6.19.

Auf regionaler Ebene und auf Unternehmensebene wird sich der soziale Dialog auf Veränderungen bei Geschäftsmodellen sowie auf spezifische Situationen von Einzelpersonen, auf regionale Spezialisierungen und auf die Förderung von Synergien zwischen Unternehmen, Schulen, Hochschulen und Gründerzentren im Umfeld von Universitäten („Business Campus“) konzentrieren. Nationale und regionale Plattformen können auch in all diesen Bereichen äußerst hilfreich sein (27).

6.20.

Zusammenfassend ist festzustellen: Ein sorgfältig geführter sozialer Dialog ist von entscheidender Bedeutung, um eine gemeinsame Denkhaltung und gemeinsame Ziele von Gesellschaft, Unternehmen und unmittelbar betroffenen Interessenträgern in einem Bereich zu schaffen, in dem es nach wie vor zahlreiche wirtschaftliche und soziale Fallstricke gibt.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2016) 180 final.

(2)  Zu dem Paket gehören weitere Mitteilungen, u. a. zur europäischen Cloud-Initiative.

(3)  Gemäß Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe b AEUV und der Mitteilung der Kommission über Kriterien für die Würdigung der Vereinbarkeit von staatlichen Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse mit dem Binnenmarkt, ABl. C 188 vom 20.6.2014, S. 4.

(4)  Siehe die EWSA-Stellungnahme zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Dienstleistungsbranche und die Beschäftigung, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161, Ziffer 1.2.

(5)  Datenschutz-Grundverordnung.

(6)  Siehe die EWSA-Stellungnahme, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161, Ziffer 6.3.

(7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema Auswirkungen von Unternehmensdienstleistungen in der Industrie, ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 23, vor allem Ziffer 1.15.

(8)  Siehe die EWSA-Stellungnahme, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(9)  Künstliche Intelligenz, lernende Maschinen, Robotik, Nanotechnologie, 3D-Druck, Genetik und Biotechnologie.

(10)  Der Börsenwert der US-amerikanischen „Digital-Big-5“ liegt höher als der aller DAX-30-Unternehmen zusammen.

(11)  Analyse der Boston Consulting Group.

(12)  Hier ist beispielsweise auf autonom fahrende Autos in der Automobilindustrie oder auf Finanztechnologie („FinTech“) im Bankwesen zu verweisen.

(13)  Tagung des Europäischen Rates, 11. Dezember 2013.

(14)  Siehe Fußnote 7, insbesondere Kapitel 1, Schlussfolgerungen und Empfehlungen.

(15)  Z. B. FoF (Factories of the Future — Fabriken der Zukunft), SPIRE.

(16)  Siehe das Beispiel des Europäischen Netzwerks für Innovation am Arbeitsplatz EUWIN (European Network for Workplace Innovation).

(17)  Siehe auch die EWSA-Stellungnahme zum Thema Hochschulen engagieren sich für Europa, ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 11.

(18)  In einigen Bereichen von Horizont 2020 ist das bereits umgesetzt worden.

(19)  Ein Einhorn („Unicorn“) ist ein etabliertes Start-up-Unternehmen mit einem Wert von mindestens 1 Mrd. USD.

(20)  Siehe bspw. die niederländische BIM-Initiative, bei der im Zuge eines dreidimensionalen Gebäudedatenmodells alle an der Planung, Ausführung und Bewirtschaftung von Gebäuden Beteiligten über eine gemeinsame Datenbank vernetzt sind und zusammenarbeiten.

(21)  Siehe Fußnote 4.

(22)  Siehe — neben zahlreichen weiteren Studien und Analysen — Digitalisation of the economy and its impact on labour markets (Die Digitalisierung der Wirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte).

(23)  Siehe u. a. die EWSA-Stellungnahme zum Thema Hochschulen engagieren sich für Europa, ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 11.

(24)  Siehe die EWSA-Stellungnahme, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161, Ziffer 1.5.1.

(25)  Siehe Fußnote 4, EWSA-Stellungnahme ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161. insbesondere Ziffern 1.5.6, 1.5.8 und 1.5.9.

(26)  Siehe die EWSA-Stellungnahme ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161. Ziffer 1.5.9.

(27)  Ein interessantes Beispiel ist ein niederländisches Vor-Ort-Labor („Field Lab“) zur sozialen Innovation in Ypenburg, NL.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Die Stahlindustrie: Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa“

[COM(2016) 155 final]

(2016/C 389/08)

Berichterstatter:

Andrés BARCELÓ DELGADO

Ko-Berichterstatter:

Enrico GIBELLIERI

Die Europäische Kommission beschloss am 4. April 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Die Stahlindustrie: Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa“

[COM(2016) 155 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli 2016) mit 194 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss

1.1.1.

fordert die Organe der EU auf, der Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für die Stahlindustrie oberste Priorität einzuräumen;

1.1.2.

begrüßt die von der Kommission vorgelegte Mitteilung zur Bewältigung der Herausforderungen, vor denen die Stahlindustrie der EU in der gegenwärtigen Krise steht, und zur Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa;

1.1.3.

fordert die sofortige Wiedereinsetzung der Hochrangigen Gruppe Stahl, da spezifische Problemstellungen gegeben sind, die im Rahmen der umfassenden Gruppe für energieintensive Industrien nicht angemessen behandelt werden können;

1.1.4.

appelliert an die Kommission, nach Wiedereinsetzung der Hochrangigen Gruppe Stahl die Kommission, die Mitgliedstaaten, die EIB, die Sozialpartner, Industrieverbände und Gewerkschaften und die Technologieplattformen und Kompetenzzentren im FuE-Bereich in die Gruppe aufzunehmen;

1.1.5.

fordert den Rat und die Kommission nachdrücklich auf, einen Fahrplan mit konkreten Umsetzungsverpflichtungen, Ressourcen und Zielen zu erstellen, um den in der Analyse beschriebenen Bedrohungen und Herausforderungen begegnen zu können;

1.1.6.

ersucht die Kommission, in einem Jahr einen Folgebericht zur erfolgten Umsetzung der in der Mitteilung angeführten Maßnahmen vorzulegen;

1.1.7.

ruft die Kommission auf, die Wirksamkeit und Effizienz der bestehenden handelspolitischen Schutzinstrumente deutlich zu steigern und zu beschleunigen, um sofort gegen unlautere Handelspraktiken der Ausfuhrländer vorgehen und gleiche Wettbewerbsbedingungen wiederherstellen zu können;

1.1.8.

fordert die Organe der EU auf, ein Nicht-Standard-Verfahren für Antidumping- und Antisubventionsuntersuchungen der chinesischen Einfuhren nach Abschnitt 15 des Protokolls über den Beitritt Chinas zur WTO anzuwenden, solange China die fünf Kriterien (1) der EU zur Qualifizierung als Marktwirtschaft nicht erfüllt;

1.1.9.

fordert, dass eine geänderte Behandlung von chinesischen Einfuhren durch geeignete Maßnahmen flankiert wird, um eine Schädigung der europäischen Industrie durch unlautere Handelspraktiken zu verhindern;

1.1.10.

weist insbesondere die Mitgliedstaaten darauf hin, dass es wichtig ist, das Paket zur Modernisierung der handelsrechtlichen Schutzinstrumente zum Abschluss zu bringen, um den Prozess zu beschleunigen und die sogenannten „WTO+-Elemente“, insbesondere die „Regel des niedrigeren Zolls“, aus dem EU-System zu streichen;

1.1.11.

unterstreicht die dringend notwendige Abschaffung der Regel des niedrigeren Zolls, da der Einfuhrzoll auf Stahlprodukte nach dem Zollkodex der Gemeinschaften auf null festgesetzt ist;

1.1.12.

begrüßt, dass die Kommission zugesagt hat, die Anordnung von vorläufigen Maßnahmen zu beschleunigen, und weist darauf hin, dass bei der Berechnung der Schadensspanne die derzeitige Praxis der Festlegung der Zielgewinnspanne besser und auf transparente Weise definiert werden muss, um sicherzustellen, dass die Gewinnziele realistisch sind und durch sie zur Förderung der FuE-Aktivitäten in Europa beigetragen wird und dass Schäden effektiv beseitigt werden;

1.1.13.

stellt fest, dass die Wiedereinführung des früheren Überwachungssystems für bestimmte Stahlerzeugnisse für die Kommission hilfreich sein wird, um angemessen auf unfaire Einfuhren zu reagieren, und dass die Möglichkeit der Einleitung von Verfahren wegen drohender Schäden generelle Praxis werden sollte;

1.1.14.

fordert die Kommission nachdrücklich auf, Einfuhren zu registrieren, bevor vorläufige Maßnahmen verabschiedet werden, und endgültige Antidumping- und/oder Ausgleichszölle rückwirkend drei Monate vor Verabschiedung vorläufiger Maßnahmen im Rahmen der Grundverordnung anzuwenden;

1.1.15.

legt der Kommission nahe, von den anderen Handelspartnern volle Transparenz in Bezug auf staatliche Beihilfen und indirekte staatliche Unterstützungen für die Stahlindustrie zu verlangen und mehr Engagement einzufordern, um staatliche Eingriffe zur Unterstützung von Stahlanlagen, die marktwirtschaftlich nicht überlebensfähig sind, zu vermeiden;

1.1.16.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ein klares und effektives Verfahren festzulegen, im Rahmen dessen der Umstrukturierungsprozess in sozial nachhaltiger Weise gelenkt werden kann, wobei alle verfügbaren Instrumente unter Berücksichtigung der aktuellen weltwirtschaftlichen Lage anzupassen sind und verhindert werden muss, dass die bevorstehende Konsolidierung der Stahlindustrie in der EU einseitig die Arbeitnehmer belastet;

1.1.17.

hebt erneut hervor, wie wichtig die Förderung des sozialen Dialogs ist, um die Fähigkeiten der Arbeitnehmer zur Anpassung an neue Herausforderungen zu stärken, und weist darauf hin, dass zu diesem Zweck von der Kommission und den Sozialpartnern ein konkreter Fahrplan mit genauen Fristen vereinbart werden muss;

1.1.18.

fordert die Kommission auf, die derzeitigen spezifischen Regeln für staatliche Beihilfen zu überarbeiten und eine mögliche Einbeziehung der Stahlindustrie in den allgemeinen Rahmen zu prüfen;

1.1.19.

fordert die Kommission nachdrücklich auf, unter Berücksichtigung der spezifischen Aspekte des Forschungsfonds für Kohle und Stahl (Research Fund for Coal and Steel — RFCS)

die Beteiligung der Industrie im bisherigen Umfang beizubehalten, da diese für die Kommission von Vorteil ist, um das RFCS-Programm unter Wahrung seiner ursprünglichen spezifischen Merkmale, deren Wirksamkeit und Effizienz im Überwachungs- und Bewertungsbericht festgestellt wurden, zu verwalten;

das Netz von Sachverständigen, das seit mehr als 60 Jahren in der kooperativen Forschung aktiv ist, beizubehalten und seine volle Einbindung in die Auswahl der RFCS-Vorschläge und die Überwachung der laufenden Projekte sicherzustellen;

zu verhindern, dass der RFCS durch andere Programme untergraben wird;

1.1.20.

ersucht das Europäische Parlament und den Rat, dafür zu sorgen, dass bei der Überarbeitung des Emissionshandelssystems (EHS) den leistungsfähigsten Stahlwerken uneingeschränkt kostenfreie Emissionsrechte gewährt werden, um anderen Werken einen wirksamen Anreiz zur Verbesserung ihrer Leistung zu geben;

1.1.21.

betont, dass ein voller Ausgleich für die indirekten Kosten, die sich aus den höheren Strompreisen infolge der EHS-Vorschriften und der Förderung erneuerbarer Energieträger ergeben, in harmonisierter Form geboten werden muss, um der derzeitigen Verzerrung des EU-Binnenmarkts entgegenzuwirken;

1.1.22.

fordert die Kommission auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Schrottausfuhren aus Europa in voller Übereinstimmung mit den Umwelt- und Gesundheitsvorschriften gehandhabt und bearbeitet werden;

1.1.23.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, im Rahmen der Vorschriften für öffentliche Beschaffungen die freiwilligen Nachhaltigkeitskonzepte, die von der Stahlindustrie zur Stärkung des unternehmerischen Engagements für die heutige und künftige Generationen entwickelt wurden, zu berücksichtigen und angemessen zu honorieren, da dies der beste Weg ist, um das Konzept der Nachhaltigkeit im gesamten EU-Markt zu fördern.

2.   Einleitung

2.1.

Die Kommission stellt fest, dass die Stahlindustrie, die 1,3 % des BIP der EU ausmacht, die Grundlage für viele industrielle Wertschöpfungsketten bildet und 328 000 direkte Arbeitsplätze und eine noch weit größere Zahl indirekter Arbeitsplätze bietet. Die Industrie ist in ganz Europa verbreitet mit mehr als 500 Produktionsstandorten in 24 Mitgliedstaaten.

2.2.

Der Stahlsektor hat durch eine Flut unlauterer Einfuhren, die zum Einbruch der Stahlpreise geführt und binnen Kurzem die Existenzfähigkeit des gesamten Sektors bedroht haben, großen Schaden erlitten. Diese Situation folgt unmittelbar auf eine sieben Jahre währende Wirtschaftskrise, die die Stahlindustrie schwer getroffen und zum Verlust von rund 90 000 direkten Arbeitsplätzen geführt hat.

2.3.

Werke, die die Krise überlebt haben, arbeiten mit reduzierter Belegschaft und mit begrenztem Handlungsspielraum. Hinzu kommen hohe Energiepreise und die Auswirkungen einer Umwelt- und Klimapolitik, die für die europäische Stahlindustrie zusätzliche Hindernisse bei ihren Anstrengungen, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, darstellen. Und schließlich stehen die Probleme des Sektors auch mit sparpolitischen Maßnahmen in Zusammenhang, die sich nachteilig auf die Stahlindustrie auswirken, insbesondere in den Märkten Bauwirtschaft, Gebäudedienstleistungen, Transport und Infrastruktur.

2.4.

Trotz der hohen technischen Leistungsfähigkeit der Stahlindustrie in der EU entstand durch die fallende Nachfrage aus Schwellenländern und die globalen Überkapazitäten, insbesondere in China, eine bislang nie dagewesene Situation, die außerordentliche und dringliche Maßnahmen verlangt.

2.5.

In China hat die Kombination aus Überkapazitäten und unlauteren Handelspraktiken zu einem dramatischen Anstieg der Ausfuhren geführt, durch den die globalen Stahlmärkte destabilisiert und die Stahlpreise weltweit gedrückt werden. Da der EU-Markt der offenste Markt weltweit ist, ohne Zölle und ohne technische Handelsbarrieren, wurde die bescheidene wirtschaftliche Erholung auf dem Markt zum größten Teil durch extrem niedrigpreisige, unlautere Einfuhren absorbiert.

2.6.

Die Kommission hat zehn neue Untersuchungen zu unlauteren Handelspraktiken im Stahlbereich eingeleitet. Die Situation ist alles andere als normal und erfordert sofortige, langfristige Maßnahmen, um mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten.

2.7.

Die Beschäftigungszahlen und Investitionen im Stahlsektor sind eingebrochen, und wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, ist bald mit weiteren Arbeitsplatzverlusten zu rechnen.

2.8.

Der EWSA bedauert, dass der Fahrplan für den Stahl-Aktionsplan aus dem Jahr 2013 nicht aktualisiert wurde und bei einigen Aufgaben in eine Sackgasse geraten zu sein scheint.

2.9.

Wie der EWSA in seiner Stellungnahme vom 11. Dezember 2013 (2) ausführte, hat die Kommission mit dem Aktionsplan für die Stahlindustrie aus dem Jahr 2013 (3)„einen umfassenden Stahl-Aktionsplan“ vorgeschlagen. Bedauerlicherweise kann der EWSA keine gleichlautende Stellungnahme zu der jetzigen Mitteilung abgeben, da konkrete Zielsetzungen und spezifische kurz-, mittel- und langfristige Zielvorgaben fehlen.

2.10.

Der EWSA stellt fest, dass der europäische Stahl-Aktionsplan weiter verfeinert wurde, und hat einen Fahrplan mit spezifischen Maßnahmen zur Erhaltung der europäischen Stahlindustrie vorgeschlagen.

2.11.

Nach mehreren Tagungen des Rates (Wettbewerbsfähigkeit), der Tagung des Europäischen Rates am 17. März 2016 und dem G7-Treffen im Mai 2016 ist der EWSA der Auffassung, dass der essenzielle politische Wille besteht und es nun an der Zeit ist, diesen Willen in wirksame und angemessene Maßnahmen umzusetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie in der EU wiederherzustellen.

3.   Handelspolitik

3.1.    Handelspolitische Schutzmaßnahmen

3.1.1.

Die EU wird weiterhin weltweiter Vorreiter für offenen und freien Handel sein, sofern der Handel unter fairen Marktbedingungen stattfindet. Angesichts fehlender internationaler Wettbewerbsregeln sind handelsrechtliche Schutzinstrumente unverzichtbar, um unlautere Handelspraktiken, durch die der Industrie in der EU Schaden zugefügt wird, anzugehen.

3.1.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission zugesagt hat, die Verabschiedung vorläufiger Maßnahmen weiter zu beschleunigen, indem die internen Verfahren gestrafft und die notwendigen Ressourcen zugeteilt werden. Durch Änderung der aktuellen Praxis und Durchführung von Überprüfungsbesuchen nach der Anordnung vorläufiger Maßnahmen könnte der Prozess beschleunigt werden, ohne dass die Grundverordnungen geändert werden müssen.

3.1.3.

Für den Fall von Antisubventionsverfahren fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich auf, die Untersuchungen auszuweiten und alle im Verlauf einer Untersuchung aufgedeckten Subventionsprogramme einzubeziehen, auch wenn diese in der ursprünglichen Beschwerde nicht aufgeführt wurden.

3.1.4.

Die Kommission und die EU insgesamt müssen die Frage des Marktwirtschaftsstatus (MWS) von China so angehen, dass die Wirkung der Antidumpingmaßnahmen nicht untergraben wird. Auch wenn Abschnitt 15 a Buchstabe ii des Protokolls über den Beitritt Chinas zur WTO im Dezember 2016 ausläuft, sollte China deshalb nicht automatisch und unverdient der MWS zuerkannt werden, sofern es nicht die Kriterien in der EU-Antidumpinggrundverordnung erfüllt.

3.1.5.

Der EWSA hofft, dass die von der Kommission aktuell durchgeführte Folgenabschätzung umfassend und branchenbasiert angelegt ist und darin auch die spezifischen Auswirkungen berücksichtigt werden, die eine MWS-Zuerkennung an China speziell für einige europäische Regionen zur Folge haben würde, wenn nicht gleichzeitig geeignete und wirklich wirksame Begleitmaßnahmen erfolgen.

3.2.    Überkapazitäten

3.2.1.

Der EWSA würdigt die Anstrengungen der Kommission in bilateralen oder multilateralen Verhandlungen zur Erzielung einer Einigung über Kapazitätsreduzierung und mehr Transparenz bei staatlichen Beihilfen. Doch ist die bisherige Bilanz dieser bilateralen und multilateralen Verhandlungen unbefriedigend.

3.2.2.

Um die Ursachen der Überkapazität zu bekämpfen, bedarf es eines verstärkten Engagements für eine regelmäßige Berichterstattung zu staatlichen Beihilfeprogrammen und spezifischen Maßnahmen unter dem Schirm der OECD und der WTO.

3.2.3.

Der EWSA hofft, dass der Rat die Kapitel zu Energie und Rohstoffen in das Mandat für alle neuen Freihandelsabkommen (FHA) aufnehmen wird, damit die Kommission diese Themen in die Gesamtverhandlungen für jedes einzelne FHA einbeziehen kann.

3.2.4.

Darüber hinaus muss auch die volle Wahrung der Rechte der zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Gewerkschaften und der einzelnen Arbeitnehmer in Umweltangelegenheiten als wichtiger Punkt in die bevorstehenden Verhandlungen und neuen Abkommen aufgenommen werden.

3.2.5.

Die Kommission sollte Fälle, in denen ein Land seine Verpflichtungen hinsichtlich Transparenz und Meldung von staatlichen Beihilfen nicht erfüllt, öffentlich machen und dies in Handelsschutzverfahren als nicht-kooperatives Verhalten werten.

3.2.6.

Diplomatische Verhandlungen dürfen die Anordnung von Handelsschutzmaßnahmen nicht verhindern, wenn diese notwendig sind.

4.   Investitionen

4.1.

Was den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) betrifft, so schafft er eigentlich eine zusätzliche Risikotragfähigkeit im Markt, um realisierbare Investitionsvorhaben zu unterstützen, die von Stahlunternehmen in der EU entwickelt wurden. Allerdings ist es bedauerlich, dass derzeit nur wenige Unternehmen diesen Fonds in Anspruch nehmen können, da aufgrund der Bedingungen auf dem Stahlmarkt kein angemessener Ertrag des investierten Kapitals gesichert ist, solange sich die Preise auf so niedrigem Niveau befinden.

4.2.

Vorrangige Aufgabe muss deshalb sein, den Rahmen zu schaffen, mit dem ein angemessener Ertrag des in die Stahlindustrie investierten Kapitals sichergestellt wird. Innerhalb des derzeitigen Rahmens stehen dank der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Fülle von Finanzierungsmitteln zu Verfügung.

4.3.

Investitionen in die europäische Stahlindustrie müssen forciert werden, um die Werke und Anlagen zu modernisieren, und Forschung und Entwicklung neuer Produkte und Prozesse müssen stärker gefördert werden.

5.   Investieren in Menschen

5.1.

Der EWSA unterstützt die Mitteilung der Kommission in vollem Umfang, vermisst aber einen genauen Aktionsplan, mit dem sichergestellt wird, dass die Stahlindustrie eine attraktive Branche für talentierte junge Menschen bleibt. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, ein klares und effektives Verfahren festzulegen, das es ermöglicht, den Umstrukturierungsprozess in sozial nachhaltiger Weise unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente (EGF, Strukturfonds usw.) zu steuern, wobei ihre Flexibilität und ihre Fähigkeit zur Anpassung an die Herausforderungen einer sich rasch wandelnden Weltwirtschaft weiterhin gewahrt werden müssen. Um den sozialen Dialog zu fördern und die Fähigkeiten der Arbeitnehmer zur Anpassung an neue Herausforderungen zu stärken, muss zwischen der Kommission und den Sozialpartnern ein konkreter Fahrplan mit genauen Fristen vereinbart werden.

5.2.

Im Rahmen der derzeitigen Regeln über staatliche Beihilfen haben einige Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Unterstützung der — für die gesamte nachgelagerte verarbeitende Industrie nach wie vor entscheidend wichtigen — Stahlindustrie ergriffen. Diese staatlichen Eingriffe erfolgten in unterschiedlicher Form, beispielsweise durch Förderung von Investitionen in FuE, energieeffiziente Technologien und Investitionen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer oder durch einen Ausgleich für indirekte Energiekosten.

5.3.

Um die Kompetenzen der Arbeitnehmer bei einem konjunkturbedingten Marktrückgang zu erhalten, wurden Maßnahmen wie z. B. Kurzarbeit (in Deutschland), Programme für den Ersatz von Mitarbeitern (contrato relevo in Spanien) und Solidaritätsverträge (in Italien) eingeführt.

6.   Wettbewerbspolitik und Flexibilität bei staatlichen Beihilfen für FuE

Der EWSA fordert die Kommission auf, im zweiten Halbjahr 2016 einen Workshop mit den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern zu organisieren, um Leitlinien für die Umsetzung der im Rahmen der neuen Regeln über staatliche Beihilfen zulässigen Flexibilität zu erstellen.

7.   FuE

7.1.

Die Europäische Plattform für Stahltechnologie (ESTEP) hat wichtige Partnerschaften begründet, an denen die gesamte europäische Stahlindustrie und deren Lieferanten und Kunden (Transportindustrie, Bauwirtschaft und Energiesektor) sowie KMU, private und öffentliche Forschungseinrichtungen, Behörden und Gewerkschaftsvertreter beteiligt sind.

7.2.

Der neue Fahrplan für Forschung und Innovation, den die Europäische Kommission vorgeschlagen hat, wurde von den ESTEP-Arbeitsgruppen eingehend analysiert, und es wurden bereits für den Stahlsektor relevante Themen in die überarbeitete Agenda aufgenommen.

7.3.

Mit dem Forschungsfonds für Kohle und Stahl (RFCS) wurde 2002 erfolgreich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) abgelöst. In den vergangenen zehn Jahren ist die kooperative Forschung im europäischen Stahlsektor — sowohl innerhalb des RFCS als auch des Rahmenprogramms — gefördert und ausgebaut worden. An der ESTEP-Spiegelgruppe sind Vertreter aus 20 der 28 Mitgliedstaaten der EU beteiligt.

7.4.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige Stahlindustrie in Europa ist, dass diese weiterhin technisch auf dem neuesten Stand bleibt, indem die Kompetenzen des europäischen Stahlsektors im FuE-Bereich erhalten und weiterentwickelt werden. In diesem Zusammenhang ist der RFCS ein zentrales und unverzichtbares Instrument. Im September 2013 hat die Europäische Kommission ihren Bericht zur Überwachung und Bewertung des RFCS-Programms veröffentlicht, in dem die Leistungsfähigkeit des RFCS klar belegt wird.

7.5.

Vor Kurzem hat die GD RTD aus rein administrativen Gründen entschieden, die bewährte und essenzielle Rolle der Industrie in der RFCS-Programmverwaltung zu beschneiden, wodurch ihr direkter Kontakt zur Industrie gefährdet wird. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, diese Entscheidung rückgängig zu machen.

8.   Energie

8.1.

Dass sich das Preisgefälle zwischen den USA und der EU verringert hat, kann die Kommission nicht als eigenen Erfolg verbuchen, da diese Entwicklung ohne Intervention der Kommission eingetreten ist. Die Preisunterschiede bleiben inakzeptabel und belasten die Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie in der EU schwer.

8.2.

Es sollten aktive Maßnahmen getroffen werden, um sicherzustellen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Stahlindustrie nicht durch die Energiepreise untergraben wird.

9.   Überarbeitung des Emissionshandelssystems

9.1.

Der EWSA begrüßt, dass sich der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen (23./24. Oktober 2014) um einen Ausgleich zwischen dem Ziel der Reduzierung der Treibhausgasemissionen einerseits und dem der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie andererseits bemüht.

9.2.

Die europäische Stahlindustrie ist die umweltfreundlichste weltweit, und die EU muss handeln, um die Verlagerung von Produktionsanlagen in Drittländer mit niedrigeren Umweltstandards und höheren Emissionen als in der EU zu verhindern.

9.3.

Es sollte nicht willkürlich ein linearer Reduzierungsfaktor auf Benchmarks angewandt werden, da dadurch der Umfang der kostenlosen Zuteilung von Emissionsrechten auf ein Niveau unterhalb des technisch und wirtschaftlich Erreichbaren gesenkt würde.

9.4.

Die Überarbeitung der Benchmarks muss sich auf realistische, technisch und wirtschaftlich erreichbare Werte stützen und den leistungsfähigsten Stahlwerken einen vollen Ausgleich anbieten.

9.5.

Kapitalintensive Industrien wie die Stahlindustrie benötigen einen klaren und vorhersehbaren Regelungsrahmen, der weit im Voraus festgelegt ist, um eine korrekte Planung der notwendigen Investitionen zu ermöglichen. Alle Interessenträger müssen in eine offene und konstruktive Diskussion zur Reform des EU EHS eingebunden werden.

9.6.

Der Innovationsfonds ist ein wertvolles Instrument, der Umfang der kostenlosen Zuteilung, der zum Schutz vor Verlagerung der CO2-Emissionen zur Verfügung steht, sollte durch ihn aber nicht reduziert werden. Es müssen dauerhafte Arbeitsplätze in der neuen Wirtschaft geschaffen werden, zu der auch Stahl als wesentlicher Bestandteil gehört. Für einen fairen Übergang muss sichergestellt sein, dass für die betroffenen Arbeitnehmer Wege geschaffen werden, um einen neuen Arbeitsplatz in Wachstumssektoren zu finden und gleichzeitig ihre Arbeitsbedingungen und gewerkschaftlichen Rechte zu wahren.

9.7.

Der EWSA besteht darauf, dass die Reform des EU EHS nicht zulasten der Beschäftigten in der Stahlindustrie gehen darf. Mit jeder Reform müssen die ehrgeizigen EU-Klimaziele mit einer erneuerten und modernisierten Stahlindustrie in Einklang gebracht werden, und es muss sichergestellt werden, dass die europäische Stahlindustrie revitalisiert und modernisiert wird und zur Erreichung der europäischen Klimaziele beiträgt.

10.   Kreislaufwirtschaft: Recycling

10.1.

Recycling ist ein wesentliches Konzept für den Schutz der Umwelt und Stahl eignet sich als dauerhaftes Material ideal für Recyclingzwecke. Es gibt jedoch keinen wirtschaftlichen Beleg für die Aussage, dass mit dem Recycling von Rohstoffen die Produktionskosten verringert werden müssen, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen ist in Wirklichkeit genau das Gegenteil der Fall. Wäre das Recycling eine rein wirtschaftliche Tätigkeit, gäbe es keinen Förderbedarf, da jeder Wirtschaftsakteur auch ohne Regelungsrahmen auf Recycling umstellen würde.

10.2.

Der EWSA kann der Feststellung, die Kriterien für das Ende der Abfalleigenschaft hätten dazu beigetragen, die Nachfrage nach Recyclingstahl anzukurbeln, nicht beipflichten. Die Anwendung dieser Kriterien beschränkt sich auf einige Mitgliedstaaten, und entgegen der Aussage der Kommission wurde mit ihr nicht zur Verbesserung der Schrottqualität beigetragen; der geringe Umsetzungsgrad rührt daher, dass der Verwaltungs- und Regelungsaufwand für den einheimischen Schrotthandel erhöht wird, ohne dass dem Vorteile oder Verbesserungen beim Recyclingverfahren gegenüberstehen.

10.3.

Im Paket zur Kreislaufwirtschaft finden sich viele gute Absichten, doch mangelt es am notwendigen Ehrgeiz, die Verwendung von Nebenprodukten wie zum Beispiel Schlacke tatsächlich zu fördern und dabei unnötigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, wie ihn einige Mitgliedstaaten einzuführen versuchen. Durch den Einsatz von Nebenprodukten wird wesentlich zu einem geringeren Bedarf an natürlichen Ressourcen und Deponien beigetragen.

10.4.

Stahl wird niemals verbraucht, sondern immer wieder umgeformt; die Verwendung natürlicher Ressourcen für die erstmalige Produktion von Stahl ist somit ein Umformungsprozess, durch den Eisen in einer „praktischeren Form“ für spätere Verwendungen (Lebenszyklen) zur Verfügung gestellt und damit der mittel-/langfristige Druck auf die natürlichen Ressourcen reduziert wird.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates, Antidumpinggrundverordnung (ABl. L 343 vom 22.12.2009, S. 51).

(2)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 91.

(3)  COM(2013) 407.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit technischen Maßnahmen für die Erhaltung der Fischereiressourcen und den Schutz von Meeresökosystemen, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1098/2007 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und (EU) Nr. 1343/2011 und (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 894/97, (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 2549/2000, (EG) Nr. 254/2002, (EG) Nr. 812/2004 und (EG) Nr. 2187/2005 des Rates“

[COM(2016) 134 final — 2016/0074 (COD)]

(2016/C 389/09)

Berichterstatter:

Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Der Rat beschloss am 7. April 2016 und das Europäische Parlament am 11. April 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit technischen Maßnahmen für die Erhaltung der Fischereiressourcen und den Schutz von Meeresökosystemen, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1098/2007 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und (EU) Nr. 1343/2011 und (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 894/97, (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 2549/2000, (EG) Nr. 254/2002, (EG) Nr. 812/2004 und (EG) Nr. 2187/2005 des Rates“

[COM(2016) 134 final — 2016/0074 (COD)].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt nahm ihre Stellungnahme am 30. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 13. Juli 2016) mit 74 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.

Der Ausschuss teilt vollends den Ansatz der Kommission, dass eine Aktualisierung und Vereinfachung des derzeitigen Regelungssystems für die technischen Maßnahmen auf der Grundlage einer langfristigen Strategie für die Ressourcenbewirtschaftung und -erhaltung geboten ist.

1.2.

Einige der vorgeschlagenen Neuerungen und Änderungen würden unmittelbar zur Anpassung der Flotte an die Anlandeverpflichtung und den höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) beitragen. Der EWSA kann sie daher nur begrüßen, handelt es sich doch um Reformen, die eine größere operationelle Flexibilität bieten und eine größere Selektivität der Fanggeräte fördern.

1.3.

Bei einigen Vorschlägen wurden jedoch die praktischen Bedingungen der Fangoperationen nicht in vollem Umfang berücksichtigt und auch die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen nicht bewertet. Der Ausschuss ist nicht davon überzeugt, dass diese Vorschläge einen angemessenen Kompromiss zwischen dem kurz- bis mittelfristigen Schutz der Interessen des Fischereisektors und einer besseren Erhaltung der Fischereiressourcen darstellen. In diesem Zusammenhang möchte der Ausschuss das Augenmerk besonders auf die folgenden Aspekte richten:

1.3.1.

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die vorgeschlagenen Änderungen bei den Maschengrößen zu überdenken und die bisher von der Flotte für die einzelnen Fischereien angewendeten Maschenreferenzgrößen ohne unnötige oder ungerechtfertigte Vergrößerungen oder Verkleinerungen zu verwenden.

1.3.2.

Der Ausschuss bekräftigt, dass die für bestimmte Arten bisher geltenden Mindestgrößen in dem Vorschlag keinesfalls ohne angemessene Begründung geändert werden sollten.

1.3.3.

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass Bestimmungen aufgenommen werden sollten, die die Innovation und Wertschöpfung für unerwünschte Fänge ermöglichen.

1.3.4.

Der Ausschuss fordert die Lockerung der Obergrenzen für die Fangkapazität (gemessen in Bruttoraumzahl — BRZ), die die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) den Mitgliedstaaten auferlegt, um die Fischereifahrzeuge an die Anlandeverpflichtung anzupassen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Bord zu fördern.

1.4.

Der EWSA ersucht den Rat, das Europäische Parlament und die Kommission, vor einer Entscheidung über die unterbreiteten Vorschläge einen echten Dialog mit den Fischern und ihren Vertretern einzurichten. Für die Erfüllung der Vorschriften ist die stillschweigende Zustimmung und Kooperation der Fischer erforderlich. Es ist wahrscheinlicher, dass sie eingehalten werden, wenn die Fischer umfassend in die Debatte eingebunden wurden.

1.5.

Der Ausschuss fordert, dieses Engagement für den Dialog mit den beteiligten Akteuren während des gesamten Prozesses der Regionalisierung aufrechtzuerhalten.

2.   Hintergrund

2.1.

Die technischen Maßnahmen sind ein großes Konglomerat von Vorschriften, durch die geregelt wird, wie, wo und wann Fischfang betrieben werden darf. Gegenwärtig gibt es eine Vielzahl von Verordnungen, Änderungen, Durchführungsbestimmungen und befristeten technischen Maßnahmen, die sowohl in den Unionsgewässern als auch für die außerhalb dieser Gewässer tätigen Fischereifahrzeuge aus der EU gelten. In der Praxis sind das mehr als 30 Verordnungen mit technischen Maßnahmen, von denen die Verordnungen für den Atlantik (1), das Mittelmeer (2) und die Ostsee (3) besonders wichtig sind.

2.2.

In der Vergangenheit gab es zwei Versuche, den komplexen Rechtsrahmen der technischen Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission zu überarbeiten und aktualisieren, die beide scheiterten.

2.3.

Eine Anpassung der Rechtsvorschriften und politischen Maßnahmen der EU auf dem Gebiet der Fischerei an die im Rahmen der GFP eingeführten Neuerungen — Anlandeverpflichtung und schrittweises Erreichen des MSY für sämtliche Bestände bis spätestens 2020 — ist dringend geboten. Diese neuen Ziele stellen die Fischwirtschaft der EU vor eine große Herausforderung.

2.4.

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass fischereipolitische Entscheidungen bis vor Kurzem ausschließlich durch den Rat getroffen wurden. Dies führte dazu, dass die technischen Maßnahmen einzeln in Form von EU-Verordnungen erlassen wurden, und nicht als auf regionaler Ebene erarbeitete Vorschriften, um den Besonderheiten der einzelnen Meeresräume und Fischereien Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang hat das Konzept des umfassenden Mikromanagements zusammen mit dem Bestreben der EU-Organe, alle technischen Einzelheiten in Form von Abänderungen zu regeln, zu einem komplexen rechtlichen System geführt, das wenig Handlungsspielraum lässt, schwer verständlich und von der Fischereiwirtschaft nur schwer einzuhalten ist.

2.5.

Die Kommission schlägt nun eine neue Rahmenverordnung (4) mit allgemeinen Bestimmungen, gemeinsamen Vorschriften und (regionalen) Mindestnormen vor, die als Standardmaßnahmen dienen würden, wenn auf regionaler Ebene keine spezifischen Maßnahmen ergriffen werden.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags der Kommission

3.1.

Mit dem vorliegenden Vorschlag will die Kommission einen Beitrag zur Verwirklichung der wichtigsten Ziele der neuen GFP durch flexible und regionale Ansätze leisten. Der Schwerpunkt wird dabei auf die notwendige Reduzierung der Fänge von Jung- und Laichfischen, Förderung einer größeren Selektivität der Fanggeräte, Verhinderung des Fangs geschützter Arten, Verringerung der Rückwürfe und Minimierung der Auswirkungen auf die Umwelt gelegt.

3.2.

Um diese Ziele zu erreichen, hat die Kommission einen Text vorgelegt, der auf die Vereinfachung des derzeitigen Regelungssystems für die technischen Maßnahmen auf der Grundlage einer langfristigen Strategie für die Bewirtschaftung und Erhaltung der Ressourcen abzielt. In ihrem Verordnungsvorschlag legt die Kommission besonderes Augenmerk auf die Frage der Rückwürfe, die Regionalisierung, eine noch stärkere Einbindung der Interessengruppen und mehr Verantwortung für die Fischer.

3.3.

Die wichtigsten Neuerungen und Änderungen, die mit dem Vorschlag eingeführt werden, sind folgende:

Konsolidierung und Aktualisierung der Ziele, Zielvorgaben, Schwellenwerte für Beifänge empfindlicher Arten, Grundsätze verantwortungsvoller Verwaltung und Begriffsbestimmungen, die bisher in verschiedenen Vorschriften enthalten waren.

Schaffung gemeinsamer Vorschriften und Maßnahmen, die für alle Meeresräume gelten und als dauerhaft anzusehen sind. Diese Maßnahmen umfassen u. a. verbotene Fanggeräte und -methoden, allgemeine Bedingungen und Beschränkungen für den Einsatz gezogener Fanggeräte und von Stellnetzen, Schutz empfindlicher Arten und Lebensräume und Mindestgrößen für die Bestandserhaltung sowie gemeinsame Maßnahmen zur Verringerung der Rückwürfe.

Entwicklung der Regionalisierung durch Festlegung von Standardmaßnahmen, vor allem in den Anhängen zum Vorschlag, die gelten, wenn keine regionalen Maßnahmen ergriffen werden. Darüber hinaus werden die erforderlichen Ermächtigungen für die Regionalisierung der technischen Maßnahmen durch Mehrjahrespläne, befristete Rückwurfpläne und Bestandserhaltungsmaßnahmen festgelegt. Es ist auch eine Schutzklausel für den Fall vorgesehen, dass zum Schutz von Meerestieren sofortiges Handeln erforderlich ist.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.    Vorbemerkungen

4.1.1.

Die derzeitigen Vorschriften über technische Maßnahmen bilden den zum gegenwärtigen Zeitpunkt am stärksten veralteten Rechtsrahmen, weshalb es nach Auffassung des EWSA von größter Bedeutung ist, dass die neue vereinfachte Verordnung zügig angenommen wird, damit sich der Sektor auf pragmatische und praktikable Weise den anstehenden Herausforderungen stellen kann.

4.1.2.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die technischen Maßnahmen erst nach direkter und zufriedenstellender Konsultation der Interessenträger angenommen werden sollten. Sie müssen flexibler sein, stärker den spezifischen Bedürfnisse Rechnung tragen und durch rasche und effiziente Beschlussfassung erlassen werden, die eine Anpassung an die Neuerungen ermöglicht.

4.1.3.

Die Reform der GFP hat eine neue Strategie für das Fischereimanagement auf der Grundlage einer Umstellung auf einen ergebnisorientierten Ansatz und die Einführung der Regionalisierung hervorgebracht. Der Ausschuss stimmt voll und ganz mit diesem neuen Ansatz überein.

4.2.    Erhaltung der Ressourcen

4.2.1.

Der Ausschuss unterstützt uneingeschränkt die Strategie der Kommission, bestehende Sperrgebiete oder Gebiete mit Fangbeschränkungen zum Schutz von Jungfischen (nahezu die Hälfte) zu streichen oder zu vereinfachen, die aufgrund der Bemühungen der Industrie, der Erholung der Bestände oder von Veränderungen der Umwelt nicht mehr operativ oder überholt sind.

4.2.2.

Der Ausschuss unterstützt auch den Ansatz, alle Anstrengungen auf die Verbesserung der technischen Maßnahmen zu richten, um so den Zustand der Fanggebiete zu verbessern und ihre Erhaltung zu erleichtern, wobei die Gutachten des Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsausschusses für Fischerei (STECF) die Grundlage bilden und die Anmerkungen der Mitgliedstaaten, des Fischereisektors und der übrigen Interessengruppen zu berücksichtigen sind.

4.3.    Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen

4.3.1.

Es ist klar, dass viele der vorgeschlagenen Bestimmungen größere Veränderungen bei den Fangmethoden und Fanggeräte erfordern, die spürbare Auswirkungen aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht haben werden. Die Kommission räumt ein, dass die neuen Herausforderungen der GFP erhebliche kurzfristige Auswirkungen auf dem Fischereisektor haben werden, der allerdings langfristig deutlich davon profitieren würde. Bislang hat die Kommission jedoch keinen Versuch unternommen, die auf kurze Sicht anfallenden wirtschaftlichen und sozialen Kosten einer Umsetzung des Vorschlags abzuschätzen. Nach Ansicht des Ausschusses ist es in Ermangelung dieser Informationen nicht möglich zu sagen, ob der Vorschlag einen angemessenen Kompromiss zwischen dem kurz- bis mittelfristigen Schutz der Interessen des Fischereisektors und einer besseren Erhaltung der Fischereiressourcen darstellt.

4.3.2.

Um den kurzfristigen negativen Auswirkungen (z. B. eine Reduzierung der Fänge von Zielarten und neue Ausgaben für die Anschaffung von Ausrüstung) für die Reeder und die Fischer entgegenzuwirken, ist nach Auffassung des Ausschusses eine Unterstützung des Fangsektors aus dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) geboten.

4.3.3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vorschlag keine Folgenabschätzung über die Sicherheit auf See enthält. Mit den Maßnahmen der neuen Fischereipolitik sind potenziell Risiken für die Sicherheit der Besatzung (z. B. Erhöhung der Arbeitszeit für die Verarbeitung der Beifänge) und Sicherheit der Fischereifahrzeuge (z. B. Stabilität des Fahrzeuges durch mehr Beifänge) verbunden, die es zu analysieren und zu berücksichtigen gilt.

4.4.    Umsetzung und Einhaltung

4.4.1.

Die neue Grundverordnung der GFP (5) sieht verschiedene Maßnahmen technischer Art und zur Bestandserhaltung vor, um die oben genannten Ziele zu erreichen. Die wichtigste Maßnahme dafür dürften die Mehrjahrespläne sein, die den Rahmen für die nachhaltige Bewirtschaftung der Bestände und marinen Ökosysteme bilden und insbesondere geeignete technische Maßnahmen (Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe f) umfassen sollten.

4.4.2.

Die Kommission ist der Ansicht, dass der Vorschlag notwendig ist, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, solange die mehrjährigen Bewirtschaftungspläne nicht genehmigt worden sind, und als Übergangslösung für die Anpassung der bestehenden Rechtsvorschriften an die neuen Anforderungen der GFP hinsichtlich der technischen Maßnahmen dient. Der EWSA ist der Ansicht, dass dieser Übergang notwendig ist.

4.4.3.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Entwicklung und Umsetzung der Regionalisierung auf der Grundlage der vorgelegten gemeinsamen Empfehlungen der Mitgliedstaaten Mehrjahrespläne und Rückwurfpläne vorschlagen sollte, um einen Rückfall in das Mikromanagement zu vermeiden. Die Kommission sollte ihre Rolle auf die Prüfung und Koordinierung der Vereinbarkeit der Vorschläge der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Erreichen der Ziele der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) beschränken. Dadurch könnte eine rasche Annahme dieser Maßnahmen zur Anpassung an die neuen fischereilichen Gegebenheiten im Rahmen eines „Bottom-up“-Konzepts gewährleistet werden, wobei die Maßnahmen von der Fischereiwirtschaft besser akzeptiert würden.

4.5.    Regionalisierung und Beschlussfassungsprozess

4.5.1.

Der Ausschuss stimmt zu, dass es unbedingt notwendig ist, bestimmte grundlegende gemeinsame Maßnahmen, die für alle Fischereien und Regionen gelten, beizubehalten, die sich allerdings auf die Festlegung von Definitionen, Grundsätzen und gemeinsamen Zielen im Einklang mit der neuen GFP beschränken, um hier kein rechtliches Vakuum entstehen zu lassen.

4.5.2.

Allerdings möchte der Ausschuss hervorheben, dass sich die derzeitige Fischereibewirtschaftung von Grund auf ändern wird, sobald die verschiedenen Wellen neuer Rechtsvorschriften zur Anlandeverpflichtung in Kraft getreten sind. Der Schwerpunkt wird dann nicht mehr auf der Anlandung von Fisch liegen, sondern auf den Fängen. Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, dass die Mitgesetzgeber nicht wieder die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit machen und akzeptieren, dass die verbindlichen technischen Maßnahmen der EU auf regionaler Ebene in enger Abstimmung mit denjenigen beschlossen werden, die diese Vorschriften tagtäglich anwenden und einhalten müssen.

4.5.3.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die Kommission ein Klima des Vertrauens fördern sollte, in dem die Fischer frei die Instrumente wählen können, die im Hinblick auf die angestrebte größere Selektivität und Verringerung der Beifänge am besten geeignet sind. Es darf nicht vergessen werden, dass die Fischer für ihre Fänge volle Verantwortung tragen und nicht für das, was sie anlanden. Deshalb sollte es ihnen überlassen bleiben, über die besten selektiven Maßnahmen zu entscheiden.

4.5.4.

Leider hat die Kommission diesen Ansatz nicht einheitlich auf die freie Wahl der optimalen Maschenöffnung angewendet, da es im Text des Vorschlags Unterschiede in Bezug auf die Maschenöffnung für kleine pelagische Arten und für Grundfischarten gibt. Für pelagische Arten wurde die Mindestmaschenöffnung sehr erheblich verkleinert, während sie für Grundfischarten vergrößert wurde. Diese Verordnung darf nicht dazu benutzt werden, die derzeit von den Fischern verwendeten Mindestmaschenöffnungen ohne angemessene Begründung zu ändern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Fischer aus dem Verkauf der gefangenen Arten möglichst hohe wirtschaftliche Erträge erzielen wollen und deshalb die Fänge von Nichtzielarten und Jungfischen vermeiden werden, da diese von ihren Quoten abgezogen werden und nur zur Herstellung von Fischmehl, Fischöl oder ähnlichen Erzeugnissen verkauft werden dürfen, wobei der Erlös beim Erstverkauf lächerlich niedrig ist.

4.5.5.

Die Regionalisierung setzt eine stärkere Einbeziehung der Interessenträger voraus. Es hat viele Vorteile, wenn die Vorschriften in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, den Beiräten, den Akteuren des Fischereisektors, Wissenschaftlern und anderen Beteiligten erlassen werden, nämlich u. a.: klarere und einfache Vorschriften, die an die besonderen Bedingungen der einzelnen Meeresgebiete und Fischereien angepasst sind; leichtere Anwendbarkeit für die Inspektoren; größere Glaubwürdigkeit und Legitimität der politischen Maßnahmen; bessere Abstimmung auf die Umweltziele und Verbesserung der Selektivität der Fischerei. Der Ausschuss empfiehlt daher, dass die technischen Maßnahmen in Bezug auf die Fanggeräte auf lokaler und regionaler Ebene konzipiert und angenommen werden.

4.5.6.

Ein gutes Beispiel dafür, welche negativen Auswirkungen sich aus der Missachtung des oben genannten Ansatzes ergeben können, ist die Mittelmeerflotte, die infolge der Einführung spezifischer verbindlicher Vorschriften (6) (z. B. Verringerung der Garnstärke) mit gravierenden Problemen zu kämpfen hatte. Diese technische Maßnahme hat Probleme in der Sicherheit und Navigation der Fischereifahrzeuge verursacht und zu einer erheblichen Zunahme zerstörter Netze aufgrund einer geschwächten und verminderten Netzbeständigkeit geführt. Weitere Folgen waren ein Verfall der Preise für die Fänge und eine unnötige Zunahme der Rückwürfe aufgrund der Verwendung eines derart dünnen und einschneidenden Garns.

4.6.    Anreize für die Fischer: Verhinderung, Verringerung und Vermeidung von unerwünschten Fängen

4.6.1.

Nach Ansicht des Ausschusses wird die umfassende Beteiligung der Fischereiwirtschaft am Entscheidungsprozess durch ihre Unternehmerverbände und Gewerkschaften als sehr starker Anreiz für die größtmögliche Einhaltung und ein besseres Verständnis der Vorschriften wirken.

4.6.2.

In Erwägungsgrund 21 des Vorschlags ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Unterstützung des Fangsektors bei der Umsetzung der Anlandeverpflichtung ergreifen sollten, zum Beispiel für die Lagerung und die Suche nach Absatzplätzen für unerwünschte Fänge. Allerdings wird dabei nur auf die Unterstützung von Investitionen in den Bau und den Umbau von Anlandeplätzen ausdrücklich verwiesen. Nach Ansicht des Ausschusses sollte an dieser Stelle auch auf Investitionen an Bord für die Lagerung, Verarbeitung und Gesamtwertschöpfung der unerwünschten Fänge hingewiesen werden.

4.6.3.

Zudem wird die Anpassung der Fischereifahrzeuge an das Rückwurfverbot durch die im Zuge der GFP auferlegten Größenbeschränkungen (GT) erschwert, weil das Rückwurfverbot ungeachtet der größeren Selektivität der verwendeten Fanggeräte einen Anstieg der unerwünschten Fänge verursachen wird, die an Bord gelagert und/oder verarbeitet werden müssen. Vor diesem Hintergrund schlägt der EWSA vor, das System flexibler zu gestalten (7). Er empfiehlt daher, dass bei jeder Erneuerung bzw. bei jedem Umbau des Fischereifahrzeugs, die das Volumen des Fischereifahrzeugs vergrößern (durch Einbau zusätzlicher Räume für die Lagerung oder Geräte zur Verarbeitung von unerwünschten Fängen), diese Vergrößerungen in einem separaten Register oder unter einer eigenen Kategorie außerhalb der Gesamttonnage der Fischereifahrzeuge zu registrieren.

4.6.4.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass zusätzliches Volumen nicht als Erhöhung der Fangkapazität angesehen werden sollte. Das in der vorstehenden Ziffer beschriebene Verfahren sollte daher auch im Falle einer Erneuerung des Fischereifahrzeugs und der Vergrößerung des Volumens aufgrund der zur Verbesserung der Sicherheit der Besatzung, Arbeitsbedingungen und Unterkunft an Bord durchgeführten Maßnahmen Anwendung finden, sofern das zusätzliche Volumen die Fangkapazität des Fahrzeugs nicht erhöht.

4.6.5.

Die Fischereiwirtschaft hat in den letzten Jahren gewaltige Anstrengungen zur Entwicklung von Hochtechnologie-Fangmethoden zur Minimierung der Rückwürfe und der möglichen Umweltauswirkungen unternommen. In der Tat hat der STECF mehrfach hervorgehoben, dass in puncto Verbesserung der Selektivität in den letzten vier Jahren mehr erreicht wurde als in den 20 Jahren davor. Der Ausschuss weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass mehr Anstrengungen und Investitionen bei den Grundfischereien notwendig sind, um hier technologische Fortschritte bei der Selektivität zu fördern.

4.6.6.

Der EWSA bekräftigt, dass diese Verordnung keinesfalls dazu benutzt werden darf, ohne triftigen Grund die geltenden Mindestgrößen für bestimmte Arten zu ändern. Auf der einen Seite gibt es Fälle, bei denen die Mindestgröße heraufgesetzt wird, z. B. bei der Roten Fleckbrasse im Mittelmeer, während die gleiche Mindestgröße auf Bereiche ausgedehnt wird, in denen sie bisher nicht galt (westliche Gewässer). Bei Seebarsch wird die Ende 2015 für bestimmte Meeresbereiche (nordwestliche Gewässer) beschlossene größere Mindestgröße auf Meeresgebiete ausgedehnt, die bislang nicht unter diese Rechtsvorschrift fielen (südwestliche Gewässer).

5.   Besondere Bemerkungen zu den Artikeln

5.1.    Artikel 6

In Anbetracht der Verwirrung, die viele Versuche der Begriffsbestimmung im betreffenden Sektor stiften, sollte nach Ansicht des EWSA für Definitionen, die sich auf ein Fanggerät oder einen Teil davon beziehen, auf einen Anhang mit Abbildungen zum leichteren Verständnis der definierten Sache verwiesen werden, in Anlehnung an die Vorgehensweise der Kommission in der Abbildung 2 in Anhang 1 zur Verordnung (EG) Nr. 2187/2005, die mit der neuen Verordnung über technische Maßnahmen aufgehoben wird.

5.2.    Artikel 13

In Absatz 2 dieses Artikels heißt es zum Schluss, dass „die Kommission besonderes Augenmerk darauf [legt], die negativen Auswirkungen der Verlagerung von Fischereitätigkeiten in andere empfindliche Gebiete einzudämmen“, was im Kontext des Schutzes empfindlicher Lebensräume verstanden werden kann. Dazu sollte eine Kartierung der zu schützenden Gebiete zur Verfügung stehen, um die Kenntnis des Meeresbodens zu verbessern, jedoch nicht jede Tätigkeit der Flotte sollte per se verboten werden, da diese aufgrund der neuen Politik der Anlandeverpflichtung ständig auf der Suche nach neuen Fischgründen für die befischten Arten sein müssen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission eine umfassende Kartierung aller schutzbedürftigen Meeresgebiete vornehmen sollte, damit genau bekannt ist, was geschützt ist und zu welchem Zweck. Zur Gewährleistung einer uneingeschränkten Nachhaltigkeit ist es außerdem wichtig, nicht nur die Umweltauswirkungen abzumildern, sondern auch die sozioökonomischen Folgen der möglichen Schließung von Fischereizonen aufzufangen.

5.3.    Artikel 17

Der Ausschuss ist besorgt über den Inhalt von Artikel 17 Absatz 2 des Vorschlags, da ja die europäische Flotte gleichzeitig eine Reihe von Arten fängt, die keinen zulässigen Fangmengen (TAC) und Quoten unterliegen, die zur Rentabilität der Fangreisen der Fischereifahrzeuge beitragen. Es wird dringend empfohlen zu berücksichtigen, dass diese Arten (8) zwar keinen zulässigen Fangmengen unterliegen, jedoch Teil der üblichen Fänge der Flotte und deshalb von Interesse sind.

5.4.    Artikel 37

Die Europäische Kommission nimmt keinen Bezug auf Investitionen an Bord für die Lagerung, Verarbeitung und Gesamtwertschöpfung der unerwünschten Fänge. Nicht nur dies, sie verbietet sogar jedwede mechanische oder chemische Verarbeitung zur Herstellung von Fischmehl oder Fischöl an Bord. Es gibt also kaum Anreize für die Fischer, die ungewollten Fänge an Bord zu behalten, wenn der Verkaufspreis bei rund einem Cent pro Kilogramm für nicht für den menschlichen Verbrauch bestimmte Fänge liegt. Aus diesem Grund spricht sich der Ausschuss dafür aus, Artikel 54a, dessen Einfügung in Artikel 37 vorgeschlagen wird, zu streichen.

6.   Besondere Bemerkungen zu den Anhängen

6.1.    Nordwestliche Gewässer (Anhang VI Teil B)

6.1.1.

Die EU sollte ein Klima des Vertrauens fördern, in dem die Fischer frei die Instrumente wählen können, die im Hinblick auf die angestrebte größere Selektivität und Verringerung der Beifänge am besten geeignet sind. Es darf nicht vergessen werden, dass die Fischer für ihre Fänge volle Verantwortung tragen und nicht für das, was sie anlanden. Deshalb sollte es ihnen überlassen bleiben, über die besten selektiven Maßnahmen zu entscheiden.

6.1.2.

Im Anhang zielt die Europäische Kommission darauf ab, dass Fischereifahrzeuge mit gezogenem Fanggerät Mindestmaschenöffnungen von 120 mm einsetzen, was diese Flotte zweifellos zum Verschwinden verurteilt, da bei einer Maschengröße von 100 mm (die in dem biologisch empfindlichen Gebieten verwendet wird) die Fänge im Vergleich zu einer Maschengröße von 80 mm bereits um 35 % zurückgehen.

6.1.3.

Der Ausschuss ist weder einverstanden mit der Einführung neuer Bereiche für den Einsatz von Schutzmaßnahmen für Wale, die nicht begründet wird, noch mit der Aufnahme von Maßnahmen zur Verhinderung des Beifangs von Seevögeln, denn diese Maßnahmen erfordern weitere Analysen und eine wissenschaftliche Begründung.

6.2.    Südwestliche Gewässer (Anhang VII Teil B)

6.2.1.

Der Ausschuss ist nicht einverstanden mit der Vergrößerung der Mindestmaschenöffnung für alle Grundfischereien. Die Vergrößerung der Maschenöffnung von 70 auf 100 mm bedeutet für die Fischereifahrzeuge, dass sie lediglich ihre Netze baden und ihr Gewerbe letztlich einstellen müssen. Die Fangmethoden, die wenigen Rückwürfe und die Vielfalt der Zielarten sprechen für eine Beibehaltung der Maschenöffnung von 70 mm.

6.2.2.

In Bezug auf die Maßnahmen zur Reduzierung des unbeabsichtigten Fangs von Walen und Seevögeln in den ICES-Untergebieten VIII und IXa ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Kommission vor ihrer Annahme die erforderlichen wissenschaftlichen Begründungen vorlegen sollte, da diese Maßnahmen früher schon einmal abgelehnt worden waren, da es in diesen Gewässern keine oder kaum Wale und Seevögel gibt.

6.3.    Mittelmeer (Anhang IX Teil B)

6.3.1.

In Bezug auf das Verbot der Verwendung von Netzen mit einer Garnstärke von über 3 mm ist der Ausschuss der Ansicht, dass diese auf 5 mm angehoben werden sollte, denn die Beibehaltung der Garnstärke von höchstens 3 mm ist aus der Sicht der Erhaltung der Ressourcen nicht gerechtfertigt und verursacht lediglich wirtschaftliche Schäden, da die Netze häufiger reißen. Der Ausschuss stützt sich dabei auf eine wissenschaftliche Studie des spanischen Instituts für Ozeanografie (IEO).

6.3.2.

In Bezug auf das Verbot, pro Schiff mehr als 250 Reusen zum Fang von Tiefsee-Krebstieren (einschließlich Plesionika spp.) an Bord mitzuführen oder einzusetzen, ist der Ausschuss der Ansicht, dass für diese Garnelenart an der derzeit zulässigen Höchstzahl von Reusen festgehalten werden sollte, d. h. 1 500. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die gegenwärtige Fangmenge eine Gesamtbiomasse ermöglicht, die über der Biomasse des höchstmöglichen Dauerertrags liegt, und dass die Fangtätigkeit unter den derzeitigen Bedingungen nachhaltig ist und verantwortungsbewusst ausgeübt wird.

Brüssel, den 13. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates vom 30. März 1998 zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren für den Nordostatlantik (und seit 2012 das Schwarze Meer) (ABl. L 125 vom 27.4.1998, S. 1).

(2)  Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates vom 21. Dezember 2006 betreffend die Maßnahmen für die nachhaltige Bewirtschaftung der Fischereiressourcen im Mittelmeer (ABl. L 409 vom 30.12.2006, S. 9).

(3)  Verordnung (EG) Nr. 2187/2005 des Rates vom 21. Dezember 2005 mit technischen Maßnahmen für die Erhaltung der Fischereiressourcen in der Ostsee, den Belten und dem Öresund (ABl. L 349 vom 31.12.2005, S. 1).

(4)  COM(2016) 134 final.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 1380/2013, Artikel 7.

(6)  Verordnung (EG) Nr. 1967/2006.

(7)  Im Einklang mit den Empfehlungen des Beirats für pelagische Arten, V1 2015 04 18.

(8)  Gemeint sind beispielsweise folgende Arten: Roter Knurrhähne (Triglidae), Kalmar (Loligo spp), Meeraal (Conger conger), Gemeiner Tintenfisch (Sepia officinalis), Petersfisch (Zeus faber), Hundszunge oder Rotzunge (Glyptocephalus cynoglossus), Brachsenmakrele (Brama brama), Nördlicher Kurzflossen-Kalmar (Illex spp.), Schwarzer Degenfisch (Aphanopus carbo) und sogar die Große Jakobsmuschel (Pecten maximus).


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/74


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels“

[COM(2016) 87 final]

(2016/C 389/10)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Die Europäische Kommission beschloss am 4. März 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels“

[COM(2016) 87 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt nahm ihre Stellungnahme am 30. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli 2016) mit 143 Stimmen ohne Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission zu einem Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels und stellt mit Genugtuung fest, dass eine Reihe von wichtigen Vorschlägen, die in seiner früheren Stellungnahme zu diesem Thema gemacht wurden, berücksichtigt wurde.

1.2.

Der Ausschuss betrachtet den ganzheitlichen Ansatz, der auch eine weltweite Allianz von Ursprungs-, Transit- und Zielmarktländern umfasst, als wichtige Voraussetzung für die Bekämpfung der unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen des illegalen Artenhandels.

1.3.

Der EWSA legt verschiedene Schwerpunktmaßnahmen für die unterschiedlichen Ebenen der Lieferkette des illegalen Handels fest.

Auf lokaler Ebene in den Ursprungsländern muss der Schwerpunkt auf der Sensibilisierung und Schaffung nachhaltiger Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten liegen.

Bezüglich des organisierten Verbrechens besteht die Priorität darin, ein System gemeinsamer, wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Kontrollen und Sanktionen durchzusetzen und entsprechende Ressourcen für die polizeiliche Arbeit bereitzustellen.

Was die Nachfrageebene betrifft, muss der Schwerpunkt sowohl aus Sicht von Unternehmen wie Verbrauchern auf Sensibilisierung, Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung liegen. Dies sollte insbesondere auf europäischer Ebene geschehen.

Auf Ebene der Justiz muss der Schwerpunkt auf Strafverfolgung liegen, und zwar durch die zielgerichtete Fortbildung von Richtern, um eine kohärente und einheitliche Strafzumessung sicherzustellen.

1.4.

Der EWSA ist der Überzeugung, dass ein strukturierter Dialog und eine strukturierte Zusammenarbeit mit Drittländern durchgesetzt werden sollten, wobei die Bekämpfung des illegalen Artenhandels eine Voraussetzung für alle bilateralen und multilateralen Handelsvereinbarungen der EU sein muss. Die Auswirkungen außenpolitischer Maßnahmen der EU im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in Drittländern müssen im Einklang mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen vor allem an der Lebensqualität und den alternativen nachhaltigen Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung gemessen werden.

1.5.

Der Ausschuss betont in Übereinstimmung mit der Londoner Erklärung, dass ein Kennzeichnungs- und Rückverfolgbarkeitssystem eingeführt werden muss, um einen legalen und nachhaltigen Artenhandel sicherzustellen.

1.6.

Der EWSA bedauert, dass der Kommissionsvorschlag keinerlei Verweis auf die Gefahr enthält, die der illegale Artenhandel für die öffentliche Gesundheit und die heimischen Tier- und Pflanzenarten darstellt. Der Ausschuss betont, dass die vorstehend genannten Systeme der Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit zusammen mit angemessenen Veterinär- und Pflanzenschutzkontrollen zur Verhinderung des Auftretens und der weltweiten Ausbreitung solcher Epidemien beitragen können.

1.7.

Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, den Auswirkungen des elektronischen Handels auf den illegalen Artenhandel erheblich mehr Bedeutung beizumessen und besondere Maßnahmen zum Schutz des legalen und nachhaltigen Artenhandels vor dem illegalen Handel umzusetzen, der über die missbräuchliche Nutzung von elektronischen Handelsportalen und sozialen Medien oder über spezielle, illegal im „Deep Web“ geschaffene Netzwerke erfolgt.

1.8.

Der EWSA hebt die Bedeutung der bevorstehenden 17. Sitzung der Konferenz der CITES-Vertragsparteien (CoP 17) hervor und fordert die EU nachdrücklich auf, eine entschlossene Haltung zur Unterstützung der Ziele dieses Aktionsplans einzunehmen. Der EWSA fordert die Kommission auf, den Vorschlag der Schließung heimischer Märkte für Elfenbein als entscheidenden Beitrag für die Verhinderung der drohenden Ausrottung der Afrikanischen Elefanten zu unterstützen.

2.   Einleitung

2.1.

Der illegale Artenhandel ist kein neues Phänomen (1), allerdings haben sich Umfang, Charakter und Auswirkungen in den letzten Jahren erheblich verändert (2). Der illegale Artenhandel ist aufgrund seines schnellen und weltweiten Wachstums zusammen mit illegalem Menschen-, Drogen- und Waffenhandel eine der schlimmsten Formen des organisierten Verbrechens. Der damit erzielte Umsatz bewegt sich schätzungsweise zwischen 8 Mrd. und 20 Mrd. EUR pro Jahr.

2.2.

Der illegale Artenhandel ist aufgrund der starken Nachfrage (3) und des geringen Risikos (Aufdeckung und Sanktionen) zu einer der profitabelsten illegalen Aktivitäten weltweit geworden. Im Vergleich zu anderen Arten von Verbrechen wird dem illegalen Artenhandel weit weniger Bedeutung beigemessen und zu seiner Bekämpfung werden erheblich weniger Ressourcen aufgewendet. Auch in der EU gibt es keinen einheitlichen Strafzumessungsrahmen, was dazu führt, dass die illegalen Tätigkeiten in Länder mit geringer Strafandrohung oder geringerer Effizienz der Tätigkeit der zuständigen Behörden verlagert werden.

2.3.

Die Auswirkungen des illegalen Artenhandels sind nicht nur aus ökologischer Sicht messbar und sichtbar (4). Der Verlust der biologischen Vielfalt, die Rodung von Wäldern (5), die mögliche Ausrottung von beliebten Arten mit starkem Symbolcharakter (6) und die Verringerung der Fischbestände (7) sind nur zum Teil die Folge eines weitaus gefährlicheren Phänomens.

2.4.

Wie im Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) (8) hervorgehoben, ist der illegale Artenhandel eng mit anderen illegalen Aktivitäten internationaler krimineller Organisationen wie etwa Geldwäsche und Korruption verknüpft.

2.5.

Der illegale Artenhandel stellt eine Gefahr für die weltweite Sicherheit dar. Er schürt Konflikte und bedroht die regionale und nationale Sicherheit, weil er für militante Gruppen und terroristische Netzwerke eine Finanzierungsquelle darstellt (9).

2.6.

Der illegale Artenhandel stellt eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und für die heimischen Tier- und Pflanzenarten dar. Die Umgehung angemessener Pflanzengesundheitskontrollen setzt einheimische Pflanzenarten der erheblichen Gefahr einer Ansteckung durch neue Pathogene aus (10). Schätzungen zufolge sind 75 % der ansteckenden neuen Infektionskrankheiten tierischen Ursprungs und gehen zum Großteil auf wild lebende Arten zurück (11).

2.7.

Der Diebstahl gefährdeter Arten ist ein weiteres erhebliches Problem, auf das noch nicht genügend hingewiesen wurde. Aus Zoos der EAZA (12) wurden seit dem Jahr 2000 insgesamt 739 Tiere gestohlen, die 44 verschiedenen Tierarten angehörten. Viele von ihnen konnten nicht mehr aufgefunden werden. Gefährdete Primaten und Vogelarten sind begehrte Objekte. Für die Zuchtprogramme dieser seltenen Arten führt dies zu Problemen in puncto Tierschutz und biologischer Vielfalt.

2.8.

Das Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten frei lebender Tiere und Pflanzen (CITES) ist im Kampf gegen illegalen Artenhandel von großer Bedeutung. Im Jahr 2013 riefen die Vereinten Nationen eine große politische Kampagne (13) zu diesem Thema ins Leben, der eine erste, von der Generalversammlung im Juli 2015 angenommene Resolution in dieser Sache folgte (14). Die internationale Gemeinschaft schlug daraufhin einen parallelen Weg ein, um eine weltweite Allianz unter Beteiligung von Ursprungs-, Transit- und Zielmarktländern für wild lebende Tiere und Pflanzen zu schmieden, die zur Unterschrift der Londoner Erklärung (15) im Februar 2014 führte.

2.9.

Die EU ist als einer der wichtigsten Zielmärkte für illegale Wildtier- und Wildpflanzenprodukte und als Umschlagplatz für illegale Ware aus Afrika, Lateinamerika und Asien von zentraler Bedeutung. Das Europäische Parlament forderte die Kommission 2014 auf, einen Aktionsplan der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels auszuarbeiten (16). Der EWSA unterstützte in einer Stellungnahme (17) nachdrücklich die daraus hervorgegangene Mitteilung der Kommission über das Konzept der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels (18).

2.10.

Vom illegalen Artenhandel sind Wirtschaftssektoren unmittelbar oder mittelbar in Form von Unternehmen betroffen, die am legalen und nachhaltigen Artenhandel beteiligt sind (also im Bereich Luxusgüter, Heimtiere und traditionelle chinesische Medizin), sowie von mittelbar beteiligten Unternehmen (also Transportunternehmen, Kurierdienste und Online-Handelsunternehmen). In Anerkennung dieser Tatsache haben viele Unternehmen eine Reihe von Initiativen gegen den illegalen Artenhandel wie beispielsweise Bescheinigungssysteme und SVU auf Ebene des Einzelunternehmens oder mehrerer Unternehmen eingeführt (19).

3.   Zusammenfassung des Vorschlags der Kommission

3.1.

Der Aktionsplan zielt darauf ab, die Zusammenarbeit und Synergien zwischen den Akteuren zu verbessern und vorhandene Instrumente und Strategien effizienter zu nutzen. Die im Rahmen des Aktionsplans erzielten Ergebnisse werden 2020 bewertet.

3.2.

Die Maßnahmen beruhen auf drei Schwerpunkten:

Unterbindung des illegalen Artenhandels,

Anwendung und Durchsetzung bestehender Vorschriften,

Stärkung der globalen Partnerschaft zwischen Ursprungs-, Zielmarkt- und Transitländern.

3.3.

Um die Ursachen für den illegalen Artenhandel zu beseitigen, konzentriert sich die EU auf vier Bereiche:

Verringerung der Nachfrage,

Einbindung ländlicher Gemeinschaften in den Artenschutz,

stärkere Beteiligung der Wirtschaft,

Bekämpfung von Korruption.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission und betrachtet den Aktionsplan der EU gegen den illegalen Artenhandel als wichtiges Instrument zur Bekämpfung dieses weitreichenden und gefährlichen Phänomens. Die Analyse der Mängel der bestehenden Strukturen zur Bekämpfung der Zunahme des illegalen Artenhandels in der beigefügten Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen sollte als Grundlage für künftige weitere Bewertungen und Maßnahmen dienen (20).

4.2.

Der Ausschuss stellt erfreut fest, dass eine Reihe von wichtigen Vorschlägen aus seiner vorherigen Stellungnahme zum illegalen Artenhandel aufgenommen wurde (21).

4.3.

Aufgrund der komplexen und vielschichtigen Dimensionen des illegalen Artenhandels und seiner unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen betrachtet der EWSA den ganzheitlichen Ansatz als grundlegenden Eckpfeiler des Aktionsplans der EU.

4.4.

Nach Auffassung des EWSA muss die Strategie von der Stärkung und Koordinierung der bereits bestehenden internationalen Übereinkommen (insbesondere CITES), Gesetze, Regelungen, Maßnahmen und Durchsetzungsinstrumente ausgehen und zu einer stärkeren Integration aller betroffener Bereiche wie Umweltschutz, Zollkontrollen, Justiz, Wirtschaftsinteressen, Bekämpfung der organisierten Kriminalität usw. führen. Außerdem muss eine wirksamere Zusammenarbeit zwischen den Behörden in den Ursprungs-, Transit- und Zielmarktländern wildlebender Arten erreicht werden.

4.5.

Der Ausschuss ist der Meinung, dass die EU die organisierte Artenschutzkriminalität nur dann wirksam bekämpfen kann, wenn bestimmte Ziele (siehe Anhang des Vorschlags) erreicht werden:

Alle Mitgliedstaaten müssen die bestehenden EU-Vorschriften zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels so schnell wie möglich umsetzen.

Verbesserung eines gemeinsamen Mechanismus für die Zusammenarbeit, Koordinierung, Kommunikation und den Datenfluss zwischen den zuständigen Durchsetzungsbehörden in den Mitgliedstaaten mit einer besonderen Strategie für grenzüberschreitende Maßnahmen und Ermittlungen, einschließlich der Entwicklung einem gemeinsamen Verzeichnis von Schmugglern.

Einführung eines angemessenen Systems für die einheitliche und regelmäßige Schulung und Sensibilisierung der gesamten Durchsetzungs-/Justizkette, die an der Bekämpfung des illegalen Artenhandels beteiligt ist, einschließlich Experten für das organisierte Verbrechen, Cyberkriminalität und der damit verbundenen illegalen Finanzströme.

Die Mitgliedstaaten müssen ihre Gesetzgebung mit internationalen Vereinbarungen in Einklang bringen und sicherstellen, dass illegaler Artenhandel ein schweres Verbrechen ist, das mit einer Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren belegt werden kann, und diesen illegalen Handel ebenso behandeln wie Straftaten, für die Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Korruption ergriffen werden.

4.6.

Der Vorschlag zur Schaffung einer weltweiten Allianz gegen den illegalen Artenhandel, um einen strukturierten Dialog und eine Zusammenarbeit mit Ursprungs-, Transit- und Zielmarktländern einzurichten, an denen auch die nationalen Regierungen, lokalen Gemeinschaften, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor beteiligt sind, trägt nachhaltig dazu bei, die Ziele des Plans zu erreichen.

4.7.

Der EWSA schlägt verschiedene Schwerpunktmaßnahmen für verschiedene Ebenen der Lieferkette des illegalen Handels vor.

Auf Gemeinschaftsebene muss der Schwerpunkt in den Ursprungsländern auf der Sensibilisierung und Schaffung nachhaltiger Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten liegen.

Auf Ebene des organisierten Verbrechens besteht der Schwerpunkt darin, gemeinsame, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Kontrollen und Sanktionen umzusetzen und die Ressourcen für die polizeiliche Arbeit bereitzustellen.

Auf Nachfrageebene muss der Schwerpunkt sowohl aus Sicht von Unternehmen und Verbrauchern auf Sensibilisierung, Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung liegen. Dies sollte insbesondere auf europäischer Ebene geschehen.

Auf Justizebene muss der Schwerpunkt auf der Strafverfolgung liegen, und zwar mittels zielgerichteter Fortbildung von Richtern, um eine kohärente und verhältnismäßige Strafzumessung sicherzustellen.

4.8.

Nach Auffassung des EWSA sind mehr Mittel und gezieltere Initiativen zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels beispielsweise in den Ursprungsländern erforderlich. Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, die Bekämpfung des illegalen Artenhandels zu einer Voraussetzung für alle bilateralen und multilateralen Handelsvereinbarungen der EU zu machen.

4.9.

Der Ausschuss misst der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung und Verhinderung des illegalen Artenhandels sowohl in den Ursprungs- wie in den Zielmarktländern zentrale Bedeutung bei. Insbesondere hält der Ausschuss die aktive und bewusste Beteiligung der Verbraucher und des Privatsektors für wichtig, um die nachhaltige Beschaffung von Produkten wild lebender Arten zu fördern, und unterstützt die Einführung eines Systems für Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit.

4.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die ländliche Bevölkerung an wirksamen Entwicklungspfaden beteiligt werden muss, damit sie vom Artenschutz profitieren kann (z. B. Ökotourismus). Der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft in Drittländern muss zuerst an der Lebensqualität und den Beschäftigungsmöglichkeiten gemessen werden und in Übereinstimmung mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und den damit zusammenhängenden Zielen für nachhaltige Entwicklung stehen.

4.11.

Der EWSA betont, dass den Bevölkerungen von Drittländern, die an den ersten Stufen des illegalen Artenhandels beteiligt sind, alternative nachhaltige Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten bereitgestellt werden müssen. Dies kann in Form von Ökotourismus oder sogar durch eine Verbesserung der Renditechancen von Ökosystemdienstleistungen im Zusammenhang mit dem lokalen Lebensraum und den wild lebenden Tieren und Pflanzen erfolgen.

4.12.

Der EWSA betont, dass die Wirtschaft eingebunden werden muss, um einen wechselseitigen Dialog und Informationsfluss zu ermöglichen, um eine positive Rolle bei der Bekämpfung des illegalen Artenhandels zu spielen. Eine Strategie zur Bewältigung dieser Probleme kann nicht im luftleeren Raum unter Ausschuss der Privatwirtschaft durchgeführt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Der EWSA schlägt vor, eine breit angelegte europäische Sensibilisierungskampagne zu starten, damit Verbraucher und Privatwirtschaft an der Senkung von Angebot und Nachfrage von Produkten aus wild lebenden Tieren und Pflanzen mitwirken. Angesichts der umfassenden Definition von „illegalem Artenhandel“ empfiehlt der Ausschuss, sich ebenso auf weniger bekannte bzw. weniger symbolbehaftete Pflanzen und Tiere (22) sowie deren Produkte (23) zu konzentrieren.

5.2.

Der EWSA bekräftigt seine Bereitschaft, die von der EU geplanten Initiativen zu unterstützen und sich an ihnen zu beteiligen, z. B. im Rahmen des im Ausschuss bestehenden Netzwerkes wirtschaftlicher und sozialer Akteure in den Beziehungen der EU zu Afrika. Der EWSA würde Initiativen der Kommission zur Einrichtung eines Diskussionsforums über die Umsetzung des Aktionsplans begrüßen und wäre bereit, eine diesbezügliche Veranstaltung zu organisieren.

5.3.

Der EWSA unterstützt die in der Londoner Erklärung verkündete notwendige Einführung spezifischer Maßnahmen für ein verantwortungsbewusstes Handeln des Privatsektors. Er spricht sich aus für die Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, das die Rechtmäßigkeit und die ökonomische, ökologische und für die lokalen Gemeinschaften soziale Nachhaltigkeit des Handels mit wild lebenden Tieren und Pflanzen sicherstellt. Diesbezüglich können die geltenden Regelungen für den Handel mit Kaviar oder mit Tropenholz als Richtschnur gelten (24). Das von der Europäischen Vereinigung von Zoos und Aquarien (EAZA) verwendete Zoologische Informationsmanagementsystem (ZIMS) könnte sich als gute Referenz für ein gemeinsames Rückverfolgbarkeitssystem für lebende Tiere eignen.

5.4.

Der Ausschuss bedauert, dass im Vorschlag der Kommission nicht auf die Gefahr hingewiesen wird, die der illegale Artenhandel für die öffentliche Gesundheit und die heimischen Tier- und Pflanzenarten darstellt. Dieses Problem ist von großer Bedeutung, daher fordert der EWSA mit Nachdruck, die Thematik in den Aktionsplan der EU aufzunehmen. Der Ausschuss betont, dass die vorstehend genannten Systeme der Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit zusammen mit angemessenen Veterinär- und Pflanzenschutzkontrollen zur Verhinderung des Auftretens und der weltweiten Ausbreitung solcher Epidemien beitragen können. Die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sollte ausgebaut werden.

5.5.

Der neue Schauplatz bei der Bekämpfung des illegalen Artenhandels ist der elektronische Handel. Der EWSA stellt fest, dass es mehrere illegale Werkzeuge für den elektronischen Handel wie beispielsweise die zweckentfremdete Nutzung von kommerziellen Websites und Foren in sozialen Medien oder spezielle, beschränkte Online-Plattformen im „Deep Web“ gibt. Im Zusammenhang mit Ersterem hebt der Ausschuss eine Reihe von bewährten Verfahren hervor, die die Europäische Kommission berücksichtigen sollte, z. B. die im Juni 2013 zwischen dem staatlichen italienischen Forstkorps und den beiden wichtigsten Internet-Anzeigeportalen („eBay annunci“ und „Subito.it“) unterzeichnete Vereinbarung (25). Darin wird vorgesehen, den Verbrauchern mehr Informationen zur Verfügung zu stellen, außerdem können verdächtige Anzeigen zügig entfernt werden. Die Vereinbarung sieht auch eine Kontrolle der Einträge mittels Filterung vor. Dabei können nur Anzeigen veröffentlicht werden, die die Rückverfolgbarkeit der zum Verkauf angebotenen Waren sicherstellen. Was das „Deep Web“ betrifft, schlägt der EWSA die Bildung einer besonderen Arbeitsgruppe mit Unterstützung von Experten für Cyberkriminalität vor.

5.6.

Der EWSA weist mit Nachdruck auf die Bedeutung der 17. Sitzung der Konferenz der CITES-Vertragsparteien (CoP 17) im September/Oktober 2016 in Südafrika hin. Die EU hat 28 Stimmen und muss die in diesem Aktionsplan enthaltenen entschlossenen Positionen zum Ausdruck bringen. Einige der von der Kommission vorgelegten Vorschläge tragen zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels bei, einschließlich der Aufnahme einer größeren Zahl von relevanten Arten in die CITES-Liste. Der EWSA fordert die Kommission auf, den Vorschlag der Schließung heimischer Märkte für Elfenbein als entscheidenden Beitrag für die Verhinderung der drohenden Ausrottung der Afrikanischen Elefanten zu unterstützen.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Illegaler Artenhandel wird als internationaler und nicht internationaler illegaler Handel mit wild lebenden Tier- und Pflanzenarten und Folgeprodukte sowie eng damit zusammenhängenden Straftaten wie Wilderei definiert.

(2)  Zwischen 2007 und 2013 stieg die Wilderei in einem Maße an, dass die Erholung, die im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte erzielt wurde, zunichte gemacht wurde. Die Wilderei stellt somit inzwischen eine echte Gefahr für die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die nachhaltige Entwicklung dar. Jedes Jahr werden in Afrika beispielsweise zwischen 20 000 und 25 000 Elefanten zur Gewinnung von Elfenbein getötet, allein zwischen 2010 und 2012 waren es 100 000 Tiere.

(3)  Der illegale Handel ist angesichts der wachsenden Nachfrage nach aus wild lebenden Tieren gewonnenen Produkten wie Elfenbein, Nashornhorn und Tigerknochen vor allem in bestimmen asiatischen Ländern (z. B. China und Vietnam) auf dem Vormarsch.

(4)  Die Folgen des illegalen Artenhandels auf die Natur können durch weitere Faktoren wie globalisierter Konsum, eine nicht nachhaltige Bodenbewirtschaftung, Klimaveränderungen, exzessive Ausbeutung von Heilpflanzen und einen intensiven Tourismus einschließlich Jagdtourismus verstärkt werden.

(5)  Der illegale Holzeinschlag macht bis zu 30 % des weltweiten Holzhandels aus und trägt zu mehr als 50 % zur Abholzung tropischer Wälder in Zentralafrika, im Amazonasgebiet und in Südostasien bei. Er beraubt die indigenen Bevölkerungsgruppen wichtiger nachhaltiger Entwicklungsmöglichkeiten.

(6)  Die Internationale Union zur Erhaltung der Natur und der natürlichen Hilfsquellen (IUCN) erklärte das Westliche Spitzmaulnashorn 2011 als aufgrund von Wilderei ausgestorben.

(7)  Es wird davon ausgegangen, dass der Wert der illegalen Fischerei etwa 19 % des angegebenen Werts der Fänge entspricht.

(8)  UNODC, World Wildlife Crime Report: Trafficking in protected species, 2016.

(9)  Europäische Kommission, Mitteilung über einen Aktionsplan für ein intensiveres Vorgehen gegen Terrorismusfinanzierung, COM(2016) 50 final.

(10)  ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 52.

(11)  Bericht des WWF: http://awsassets.panda.org/downloads/wwffightingillicitwildlifetrafficking_lr.pdf.

(12)  Die Europäische Vereinigung von Zoos und Aquarien (EAZA) ist mit 377 Mitgliedseinrichtungen in 43 Ländern in Europa und im Mittleren und Nahen Osten die führende Organisation in diesem Bereich.

(13)  In einer 2013 von der Kommission für Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege der Vereinten Nationen angenommenen und vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen gebilligten Resolution wird der illegale Artenhandel als eine Form der „schweren organisierten Kriminalität“ bezeichnet, die vom gleichen Typus von weltweit organisierten kriminellen Gruppen begangen wird, die auch für den illegalen Menschen-, Drogen- und Waffenhandel verantwortlich sind.

(14)  Resolution 69/314 der Vereinten Nationen, Tackling illicit trafficking in wildlife, 30. Juli 2015.

(15)  Die Londoner Erklärung wurde von den Staats- und Regierungschefs, Ministern und Vertretern von 46 Staaten im Rahmen der Konferenz über den illegalen Wildtierhandel 2014 unterzeichnet. Mit der Erklärung wurden neue Standards für die Bekämpfung des illegalen Artenhandels gesetzt. Dazu gehören die Änderung des geltenden Rechts, um Wilderei und illegalen Artenhandel als „schwere Straftaten“ einzustufen, auf die Nutzung bedrohter Arten zu verzichten, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auszubauen und die Koordinierung der Netze zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels zu stärken.

(16)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2014 zu Straftaten im Zusammenhang mit wild lebenden Tier- und Pflanzenarten (2013/2747(RSP)).

(17)  Siehe Fußnote 10.

(18)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Konzept der EU zur Bekämpfung des illegalen Artenhandels — COM(2014) 64 final.

(19)  Ricardo Energy & Environment „Strengthening cooperation with business sectors against illegal trade in wildlife“. Bericht für die GD Umwelt der Europäischen Kommission, 2015.

(20)  Europäische Kommission, Analysis and Evidence in support of the EU Action Plan against Wildlife Trafficking, Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, SWD (2016) 38 final.

(21)  Siehe Fußnote 10.

(22)  In CITES sind drei Anhänge enthalten, in denen Kategorien von Arten abhängig vom erforderlichen Schutzgrad aufgeführt sind, d. h. je nachdem, wie stark diese Arten durch den internationalen Handel gefährdet sind. In den Anhängen sind rund 5 600 Tierarten und 30 000 Pflanzenarten aufgeführt, die vor exzessiver Ausbeutung durch den internationalen Handel geschützt werden. Weniger bekannte Arten mit geringerer Symbolwirkung wie beispielsweise Schuppentiere, die zu den Arten gehören, die am stärksten illegal gehandelt werden, sind ebenfalls durch den illegalen Handel bedroht.

(23)  Der illegale Artenhandel kann lebende Tiere und Pflanzen betreffen, angesichts der zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten (Inhaltsstoffe für die traditionelle Medizin, Lebensmittel, Brennstoff, Futtermittel, Baustoffe, Kleider und Schmuck usw.) aber auch deren Produkte. http://www.traffic.org/trade/.

(24)  Im Rahmen von CITES gibt es ein System zur allgemeinen Kennzeichnung und Identifizierung von Kaviar, dessen Einfuhr nur nach der Genehmigung durch die zuständigen Behörden möglich ist (www.cites.org/common/resource/reg_caviar.pdf). Was den Handel im Forstsektor betrifft, wird im Unionsrecht das Ziel verfolgt, den Handel mit Tropenholz mittels nationaler Systeme zur Rückverfolgbarkeit unattraktiv zu machen.

(25)  Auf „Ebay Annunci“ und „Subito.it“ werden 90 % der italienischen Anzeigen für elektronischen Handel abgewickelt http://www.corpoforestale.it/flex/cm/pages/ServeBLOB.php/L/IT/IDPagina/7388.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Bereitstellung von Düngeprodukten mit CE-Kennzeichnung auf dem Markt und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1069/2009 und (EG) Nr. 1107/2009“

[COM(2016) 157 final — 2016/0084 (COD)]

(2016/C 389/11)

Berichterstatter:

Cillian LOHAN

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 8. bzw. 11. April 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Bereitstellung von Düngeprodukten mit CE-Kennzeichnung auf dem Markt und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1069/2009 und (EG) Nr. 1107/2009“

[COM(2016) 0157 final — 2016/0084 (COD)].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt nahm ihre Stellungnahme am 30. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli 2016) einstimmig mit 184 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission, mit dem das Funktionieren des Binnenmarkts im Düngemittelsektor im Einklang mit dem Aktionsplan zur Kreislaufwirtschaft verbessert werden soll. Nach Auffassung des EWSA kann dieser Ansatz, sofern er umfassend auf andere Bereiche ausgeweitet wird, zur ökologischen Nachhaltigkeit insgesamt und somit auch zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum Umweltschutz beitragen.

1.2.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, den Anwendungsbereich der bestehenden Verordnung auszuweiten und so harmonisierte Rahmenbedingungen für organische und aus Abfällen gewonnene Düngemittel zu schaffen und Innovationshemmnisse zu beseitigen. Der EWSA empfiehlt jedoch, alle wichtigen Grundsätze des Umweltschutzes, einschließlich des Vorsorgeprinzips, beizubehalten und anzuwenden.

1.3.

Der EWSA befürwortet die Schaffung eines wirksamen und für alle Beteiligten verpflichtenden Systems der Kontrolle, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, um die Qualität und Sicherheit der Produkte zu gewährleisten. Der EWSA schlägt vor, das bereits verwendete Kennzeichnungssystem für Pflanzenschutzmittel anzuwenden, um klare Informationen über die Verwendung und Aufbewahrung von Düngemitteln bereitzustellen. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA die Einrichtung eines offiziellen Analyseverfahrens, um die Eignung der Kennzeichnungssysteme zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Verlässlichkeit der verwendeten Kennzeichnungen ausreichend gesichert ist.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass die Fruchtbarkeit und der Schutz der Böden ein Kernaspekt des Kommissionsvorschlags ist, merkt jedoch an, dass dieses Ziel ohne eine Boden-Rahmenrichtlinie schwer erreichbar sein wird. Zudem betont der EWSA, dass die unterschiedliche Bodenbeschaffenheit in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist, was die Festlegung gezielter Standards nötig macht.

1.5.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag, Grenzwerte festzulegen, um den Gehalt an Cadmium und anderen Schwermetallen in Düngemitteln zu verringern. Der EWSA ist sich bewusst, dass durch eine solche Entscheidung die Produktionskosten von Düngemitteln, deren Phosphat aus abgebautem Grundgestein gewonnen wird, steigen wird, und betont, dass dies eine wichtige Gelegenheit ist, organischen Düngemitteln auf biologischer Basis einen bedeutenden Marktanteil zu sichern. Dies wird wiederum weitere Möglichkeiten eröffnen und dazu beitragen, Innovation, Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern.

1.6.

Der EWSA ist sich im Klaren darüber, dass die Hersteller zwischen der Einhaltung europäischer oder nationaler Kennzeichnungsvorschriften wählen können, unterstreicht jedoch — angesichts der potenziellen Auswirkungen unterschiedlicher einzelstaatlicher Vorschriften und Standards auf die Verzerrung und Fragmentierung des Marktes — die Bedeutung eines Ansatzes, bei dem unlauterer Wettbewerb und Verstöße durch höchste Rückverfolgbarkeits-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards vermieden werden.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass einige Begriffsbestimmungen und Normen für Düngemittel, die aus Sekundärrohstoffen gewonnen werden, nicht eindeutig sind. Insbesondere der Begriff „Sekundärrohstoff“ muss unbedingt definiert werden, zumal Richtlinien und Verordnungen vorgelegt werden, in denen es um die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft geht. Im Hinblick auf eine bessere Umsetzung der neuen Verordnung empfiehlt der EWSA eine sorgfältigere Integration und Angleichung mit der bzw. an die bestehende Abfallrichtlinie.

1.8.

Der EWSA sieht den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft als eine bedeutsame Zukunftsaufgabe für Europa und für künftige Generationen. Um diesen Weg fortzusetzen, empfiehlt er, Anreize für Unternehmen zu schaffen, die an einer Umstellung ihrer Produktion interessiert sind, und Initiativen einzuleiten, die auf eine Unterstützung des Wandels in den Bereichen Information, Sensibilisierung, Bildung und Berufsbildung abzielen.

1.9.

In den Abwasseraufbereitungs-, Infrastruktur- und Bewirtschaftungsstrategien der Mitgliedstaaten sollte berücksichtigt werden, dass Abwässer und Klärschlamm für die organische Düngemittelindustrie wertvolle Rohstoffquellen sind.

1.10.

Eine auf regionaler Ebene stattfindende Sammlung und Produktion, flankiert durch Verteilungsnetze in allen Mitgliedstaaten, sollte ein fester Bestandteil im Gefüge eines Marktes für organische Düngemittel sein.

2.   Einleitung

2.1.

Der Kommissionsvorschlag wurde erarbeitet, um konkrete Lösungen für die Probleme aufzuzeigen, die im Rahmen der Ex-post-Bewertung (1) der bestehenden Düngemittelverordnung (2) und im größeren Kontext des Aktionsplans zur Kreislaufwirtschaft (3) zutage traten.

2.2.

Insbesondere zielt der Vorschlag auf zwei offensichtliche Probleme ab, die sich auf das Funktionieren des Binnenmarktes in der Düngemittelbranche auswirken:

Beim Wettbewerb zwischen Düngemitteln aus organischen Stoffen oder sekundären Rohstoffen, die im Einklang mit dem Kreislaufwirtschaftsmodell aus Quellen innerhalb der EU gewonnen wurden, und Düngemitteln, die nach dem linearen Wirtschaftsmodell hergestellt werden, haben Letztere die Nase vorne (4). Diese Wettbewerbsverzerrung (5) bremst Investitionen in nachhaltigere Produkte und behindert den Übergang hin zu einer Kreislaufwirtschaft (6).

Die geltende Düngemittelverordnung geht nicht auf die spezifischen Probleme und Grenzwerte für die Auswirkungen von EG-Düngemitteln auf Böden, Binnengewässer, Meere und Lebensmittel ein. Da Vorgaben seitens der EU fehlen, haben die Mitgliedstaaten einseitig Grenzwerte und insbesondere Cadmiumhöchstgehalte für anorganische Phosphatdünger festgelegt, wodurch die Marktfragmentierung verstärkt wurde.

2.3.

Die Kernpunkte des Kommissionsvorschlags sind:

Die Kennzeichnung „EG-Düngemittel“ (7) soll leichter zugänglich gemacht werden, und es sollen harmonisierte und faire Wettbewerbsbedingungen für die innovativsten und nachhaltigsten Düngeprodukte geschaffen werden, darunter auch für Düngeprodukte aus organischen Stoffen (einschließlich Bioabfälle und tierische Nebenerzeugnisse) sowie aus sekundären Rohstoffen. Produkte zur Verbesserung pflanzlicher Ernährungsprozesse, wie agronomische Zusatzstoffe und Pflanzen-Biostimulantien (8), sollen ebenfalls in die Aufstellung der Düngeprodukte mit CE-Kennzeichnung aufgenommen werden.

Außerdem soll durch ein entsprechendes System zur Kontrolle, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit unter Einbindung von Herstellern, Importeuren, Händlern und Wirtschaftsakteuren (9) sowie durch eine Überarbeitung der Konformitätsbewertungsverfahren und der Marktüberwachung in Übereinstimmung mit dem neuen Rechtsrahmen für Produktrechtsvorschriften gewährleistet werden, dass die in Verkehr gebrachten Produkte sicher und von guter Qualität sind. Die derzeitige Möglichkeit, dass Hersteller wählen können, ob sie sich nach den neuen harmonisierten Anforderungen oder nach den nationalen Vorschriften richten (10), bleibt weiter bestehen.

Es sollen Höchstgehalte für die in Düngeprodukten enthaltenen Schwermetalle (insbesondere Cadmium (11)) und Kontaminanten festgelegt werden, um Investitionen in nachhaltigere Düngemittel zu befördern.

2.4.

Laut Kommission würde der Vorschlag eine Reihe von positiven Auswirkungen zeitigen, darunter

die Schaffung von ca. 120 000 Arbeitsplätzen durch das Recycling von Bioabfällen in organischen Düngemitteln;

die Verringerung der Abhängigkeit von Rohstoffen, die aus Drittstaaten importiert werden müssen (wie Phosphate), wobei recycelte Bioabfälle bis zu 30 % der anorganischen Düngeprodukte ersetzen könnten;

die Senkung der Treibhausgasemissionen und des Energieverbrauchs für die Herstellung anorganischer Düngeprodukte;

eine geringere Umweltverschmutzung durch ein Übermaß an Nährstoffen und insbesondere eine geringere Eutrophierung der Ökosysteme;

eine höhere Ressourceneffizienz;

insgesamt eine Senkung der Befolgungskosten für die Wirtschaftsakteure sowie

eine 65-prozentige Senkung der Kosten für das Inverkehrbringen neuer Produkte für die Industrie.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt den Kommissionsvorschlag, der sowohl Lösungsansätze für bestimmte kritische Fragen im Bereich des Düngemittelmarkts bietet als auch einen Beitrag zum Übergang hin zu einer Kreislaufwirtschaft leistet.

3.2.

Der EWSA bekräftigt seine Unterstützung für jedwede Initiative, die den Aktionsplan zur Kreislaufwirtschaft (12) abrundet. Er ist der Auffassung, dass die Schaffung harmonisierter, fairer Wettbewerbsbedingungen für organische Düngemittel ein wichtiges umweltpolitisches Ziel ist und starke Impulse für die Wirtschaftsentwicklung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze setzen kann.

3.3.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Hemmnisse, die den freien Verkehr von sekundären Rohstoffen (einschließlich organischer Sekundärrohstoffe) sowie Innovationen behindern, beseitigt werden müssen, wobei alle wichtigen Grundsätze des Umweltschutzes, darunter auch das Vorsorgeprinzip, beibehalten und angewandt werden müssen.

3.4.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag zur Schaffung eines wirksamen Systems von Kontrollen, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit zur Gewährleistung der Sicherheit und der Qualität der Produkte. Insbesondere spricht er sich dafür aus,

das bereits verwendete Kennzeichnungssystem für Pflanzenschutzmittel (13) anzuwenden, um für die Landwirte klare Informationen über die Verwendung und Aufbewahrung von Düngemitteln bereitzustellen;

einen gemeinsamen Standard für die Darstellung und die Übermittlung der in Anhang III geforderten Informationen festzulegen;

ein offizielles Analyseverfahren einzurichten, um die Eignung der Kennzeichnungssysteme zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Verlässlichkeit der verwendeten Kennzeichnungen ausreichend gesichert ist.

3.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass Hersteller wählen können, ob sie ihre Produkte nach EU-Vorschriften oder nationalen Gesetzen kennzeichnen, die Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Vorschriften und Normen jedoch einer der Hauptgründe für die gegenwärtige Wettbewerbsverzerrung und Marktfragmentierung sind. Aus diesem Grund empfiehlt er, zielgerichtet dafür zu sorgen, dass keine neuen potenziellen Quellen für unlauteren Wettbewerb und die Nichteinhaltung der höchsten Standards im Bereich der Rückverfolgbarkeit, der Qualität und der Sicherheit entstehen.

3.6.

Der EWSA stellt fest, dass die Fruchtbarkeit und der Schutz der Böden Kernaspekte des Kommissionsvorschlags sind, merkt jedoch an, dass dieses Ziel ohne eine Rahmenrichtlinie für den Bodenschutz, in der gemeinsame Standards für die nachhaltige Nutzung und den Schutz von Böden festgelegt werden und für die Durchsetzung dieser Standards gesorgt wird (14), nur schwer erreichbar sein wird. Zudem betont der EWSA, dass die unterschiedliche Bodenbeschaffenheit in den einzelnen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist, was die Festlegung gezielter Standards erfordert.

3.7.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag, Grenzwerte festzulegen, um den Gehalt an Cadmium und anderen Schwermetallen in Düngemitteln schrittweise zu verringern. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass eine sofortige und radikale Senkung des Cadmiumgehalts in Düngemitteln zu einem Anstieg der Produktionskosten und somit der Kosten für die Landwirte und die Verbraucher führen wird. Im Einklang mit den Umwälzungen, die Teil des Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft sind, könnte diese Kostenverlagerung und die daraus resultierende Preisverschiebung als wirtschaftliches Instrument genutzt werden, um den Wandel auf der Ebene der Landwirte und der Verbraucher voranzubringen. Landwirte müssen vor drastischen Preissteigerungen geschützt werden, weshalb sichergestellt werden muss, dass sie Zugang zu den von ihnen benötigten Düngemitteln haben.

3.8.

Der EWSA betont, dass sich zusätzliche Befolgungskosten auf die Wettbewerbsfähigkeit von KMU auswirken könnten (15). Im Hinblick auf die strategische Bedeutung dieser Verordnung empfiehlt der EWSA, KMU mit Anreizen zu ermuntern, ihre Produktion nachhaltiger zu gestalten (16). Sowohl der für Forschung als auch der für Landwirtschaft zuständigen Generaldirektion der Europäischen Kommission kommt hierbei eine wichtige Rolle zu.

3.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Übergang zu nachhaltigeren Düngeprodukten sowie zu einer Kreislaufwirtschaft ein starkes Engagement seitens aller Beteiligten (Hersteller, Landwirte, Arbeitnehmer und Verbraucher) voraussetzt. Technische Beratung und bewährte Verfahren werden ständig weiterentwickelt, aber nicht immer gut vermittelt. Wie in anderen Bereichen auch sind Informations- und Sensibilisierungskampagnen, berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von grundlegender Bedeutung (17). Das in der Stellungnahme NAT/676 zum Paket zur Kreislaufwirtschaft vorgeschlagene Forum Kreislaufwirtschaft, das vom EWSA veranstaltet würde, könnte zur Erreichung dieses Ziels beitragen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass Artikel 46 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 geändert werden sollte und Pflanzen-Biostimulantien nicht als Pflanzenschutzmittel eingestuft, sondern in die Liste der Düngeprodukte mit CE-Kennzeichnung aufgenommen werden sollten. Gleichwohl fordert der EWSA die Kommission auf, diesen Prozess sorgfältig zu überwachen, um sicherzustellen, dass dies nicht zur Umgehung des Gesetzes über Pflanzenschutzmittel genutzt wird, was mögliche Gesundheits- und Umweltrisiken zur Folge haben würde.

4.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass Düngemittel aus sekundären Rohstoffen in Zukunft ein wichtiger Bestandteil einer integrierten Kreislaufwirtschaft sein können (18). Im Hinblick auf eine Harmonisierung mit der bestehenden Abfallrahmenrichtlinie (19) schlägt der EWSA Folgendes vor:

Die Begriffe „landwirtschaftliches Material zur Nutzung in der Landwirtschaft“ (von der Abfallrahmenrichtlinie ausgenommen), „Abfall“, „Nebenprodukt“ und „Ende der Abfalleigenschaft“ müssen schärfer voneinander abgegrenzt werden. Die Definitionen dieser Begriffe sind nicht immer klar und können dazu führen, dass Innovationschancen vertan werden;

der Begriff „Nebenprodukt“ sollte im Zusammenhang mit einer Nutzung als Düngemittel besser definiert werden;

es sollte stärker zwischen der Nutzung von produktiven Abfälle/Nebenprodukten als Düngemittel in der Landwirtschaft (z. B. Dung oder Gärrückstände) oder als Bestandteile unterschieden werden.

4.3.

Der Begriff „Ende der Abfalleigenschaft“ (20) gilt laut Kommissionsvorschlag nur für Düngemittel, nicht jedoch für ihre Bestandteile. Der EWSA schlägt vor, dass dieses Konzept auch für Bestandteile gelten sollte, da jede Verwertung auf der Grundlage der ursprünglichen Bestandteile und nicht auf der Basis der Düngemittel als Endprodukte erfolgt.

4.4.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass das „Nudge-Konzept“ im Zusammenhang mit dem Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft ein nützliches Instrument zur Verwirklichung des allgemeinen Ziels eines effizienteren Funktionierens des Binnenmarktes sowie zur aktiven Einbindung der Hersteller, der Landwirte und der Verbraucher und zur Förderung nachhaltigerer Entscheidungen und Verhaltensweisen sein kann.

4.5.

Kommunales Abwasser kann von dieser Wachstumsbranche als sekundärer Rohstoff genutzt werden. Die Mitgliedstaaten sollten ermuntert werden, eine Analyse ihrer Abwasserinfrastruktur durchzuführen und bei Investitionen und Infrastrukturprojekten eine genaue Kosten-Nutzen-Analyse zu erstellen, wobei der Schwerpunkt auf die Bereitstellung von qualitativ hochwertigem, gut getrenntem und nährstoffreichem Abwasser gelegt werden sollte. Urin kann eine gute Quelle für Phosphor und Stickstoff sein, ohne den Schwermetallgehalt wie bei den Gesteinsvorkommen, die insbesondere Phosphate enthalten.

4.6.

Eine auf regionaler Ebene stattfindende Sammlung und Produktion, flankiert durch Verteilungsnetze in allen Mitgliedstaaten, sollte ein fester Bestandteil im Gefüge eines Marktes für organische Düngemittel sein. Dieses Modell kann durch eine Vielzahl von Sammelstellen und — wenn möglich auch — Produktionseinheiten auf kommunaler Ebene ergänzt werden.

4.7.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich die ehrgeizigen Ziele im Bereich der Senkung des Cadmiumgehalts leichter umsetzen lassen, wenn der Schwerpunkt vor allem auf Düngemittel mit Phosphat gelegt wird, das nicht aus mit Cadmium verunreinigtem Gestein aus dem Bergbau stammt.

4.8.

Außer für Kompost muss es weitere Ausnahmen von der REACH-Verordnung (über die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe) geben, um neue Marktchancen zu eröffnen und Innovation in Bereichen wie Struvit und verwandten Produkten zu ermöglichen.

4.9.

Der EWSA bestärkt die Kommission darin, weitere Komponentenmaterialkategorien in die Anhänge aufzunehmen, um dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen, der die Herstellung sicherer und wirksamer Düngemittel aus verwerteten sekundären Rohstoffen wie Pflanzenkohle und Asche ermöglicht.

4.10.

Der EWSA fordert die Kommission auf, Anreize zu schaffen, um die Verwertung von Viehdung im Einklang mit den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft zu unterstützen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir keine Systeme schaffen, die eine übermäßige Erzeugung von Dung begünstigen. Angesichts der erforderlichen Reform unserer Agrarsysteme ist, wie in anderen Stellungnahmen zur GAP-Reform (21) bereits festgestellt wurde, eine Reduzierung in Regionen mit hoher Dungerzeugung als Teil einer vollständigen Umgestaltung unserer Nahrungsmittelwirtschaft zu einem nachhaltigen Modell notwendig.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Centre for Strategy and Evaluation Services (CSES), Evaluation of Regulation (EC) No 2003/2003 relating to Fertilisers — Schlussbericht, 2010.

(2)  Verordnung (EG) Nr. 2003/2003.

(3)  COM(2015) 614/2.

(4)  Die Kommission schätzt, dass anorganische Düngemittel 80 %, organische und organisch-mineralische Düngemittel zusammen 6,5 % und Kultursubstrate, Bodenverbesserer und Calcium-/Magnesium-Bodenverbesserungsmittel etwa 10,5 % des Marktwerts ausmachen. Pflanzen-Biostimulantien und agronomische Zusatzstoffe machen nur 3 % des Marktwerts aus, bergen jedoch ein erhebliches Marktentwicklungspotenzial.

(5)  In der bestehenden Verordnung ist der freie Warenverkehr ausschließlich für Düngemittel vorgesehen, die in Anhang I aufgelistet sind. Um die Kennzeichnung „EG-Düngemittel“ zu erhalten, ist grundsätzlich eine Änderung von Anhang I erforderlich. Dies ist jedoch so kompliziert, dass 50 % der gegenwärtig vermarkteten Düngemittel dem Anwendungsbereich der Verordnung entgehen — der Großteil davon sind Düngemittel aus organischen Materialien oder recycelten Bioabfällen aus der Lebensmittelproduktion.

(6)  Die Kommission weist im Zusammenhang mit dem Einsatz von Düngemitteln auf drei Herausforderungen hin: Erstens werden Nährstoffe an die Umwelt abgegeben, was hohe Kosten für Gesundheit und Schadensbegrenzung nach sich zieht, zweitens ist Phosphor ein kritischer Rohstoff, der von außerhalb Europas importiert werden muss (90 % der Phosphatdünger kommen aus Drittstaaten), und drittens ist Cadmium ein zentrales Element von Phosphatdüngern, das besonders gefährliche Umweltfolgen hat.

(7)  In der Düngemittelverordnung aus dem Jahr 2003 wurden zwei unterschiedliche Kategorien geschaffen: „EG-Düngemittel“ und „andere Düngemittel“ (auch „nationale Düngemittel“ genannt). Letztere können auf dem Inlandsmarkt in Verkehr gebracht werden, da sie den nationalen Anforderungen entsprechen, und gemäß der Verordnung (EG) Nr. 764/2008 über die gegenseitige Anerkennung können sie auch auf dem EU-Binnenmarkt vermarktet werden.

(8)  COM(2016) 157 final. Einleitung Ziffern 14 bis 15.

(9)  COM(2016) 157 final. Einleitung Ziffern 23 bis 27.

(10)  Hersteller können ihre Produkte in anderen EU-Mitgliedstaaten verkaufen, ohne diese als „EG-Düngemittel“ zu kennzeichnen, sofern es eine gegenseitige Anerkennung zwischen den jeweiligen Mitgliedstaaten gibt.

(11)  Die Höchstgehalte für Cadmium in Düngeprodukten werden nach drei Jahren von 60 mg/kg auf 40 mg/kg und nach zwölf Jahren auf 20 mg/kg gesenkt.

(12)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Paket zur Kreislaufwirtschaft“, ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98.

(13)  Verordnung (EU) Nr. 547/2011.

(14)  Stellungnahme des EWSA zu der „Thematischen Strategie für den Bodenschutz“ (ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 29).

(15)  Europäische Kommission, „Competitiveness proofing — fertilising materials“, 2013. Diese Studie zeigt, dass die neuen Befolgungskosten für bestimmte Unternehmen wie z. B. KMU, die Kompost herstellen, 10 % der Produktionskosten ausmachen würden, was bei den KMU unmittelbare Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit hätte.

(16)  Stellungnahme des EWSA zur „Nachhaltigen Verwendung von Phosphor“, Ziffer 3.4.4 (ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 78).

Stellungnahme des EWSA „Ökologische/biologische Produktion und Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen“, Ziffer 1.1 (ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 75).

(17)  Siehe Fußnote 12.

(18)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Kreislaufwirtschaft: Neue Arbeitsplätze und grüner Aktionsplan für KMU“, Ziffer 2.8 (ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 99).

(19)  2008/98/EG, Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f.

(20)  COM(2016) 157 final. Artikel 18.

(21)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/86


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine Luftfahrtstrategie für Europa“

[COM(2015) 598 final]

(2016/C 389/12)

Berichterstatter:

Jacek KRAWCZYK

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Dezember 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine Luftfahrtstrategie für Europa“

[COM(2015) 598 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 21. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 14. Juli 2016) mit 234 Stimmen bei 5 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Übergeordnetes Ziel der EU-Luftfahrtstrategie (gemäß COM(2015) 599 final) (im Folgenden „die Strategie“) sollte die Verbesserung des Investitionsklimas sein, um mehr europäische Investitionen in die EU-Luftfahrtindustrie zu mobilisieren, die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu erhöhen und seine Rolle für die Wirtschaft zu stärken und so das allgemeine Wirtschaftswachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern.

1.2.

Die Europäische Kommission hat zu Recht auf die Bedeutung der Luftfahrt für die EU in Bezug auf den zunehmenden Mobilitäts- und Konnektivitätsbedarf wie auch für das Wirtschaftswachstum und die Zahl und Qualität der direkten und indirekten Arbeitsplätze hingewiesen. Die EU-Akteure müssen sich nun vorrangig auch das Wachstum der internationalen Luftfahrt zunutze machen. Die EU-Luftfahrt sollte außerdem die klimapolitischen Herausforderungen als Chancen für Forschung und Innovation ansehen.

1.3.

Mit der Strategie sollen hohe Standards für Sicherheit und Gefahrenabwehr aufrechterhalten, die Sozialagenda gestärkt und hochwertige Arbeitsplätze im Luftfahrtsektor geschaffen sowie der Schutz der Fluggastrechte gewahrt werden, aber auch die Kapazitätsengpässe am Boden und in der Luft bewältigt, das Wachstum dieses Sektors in Europa und weltweit erleichtert, Innovationen und Multimodalität gefördert sowie eine vorausschauende, auf einem internationalen Konsens beruhende Klimapolitik vorangebracht werden. Der EWSA fordert die Europäische Kommission indes auf, weitere praktische Maßnahmen zur Vermeidung der negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung zu ergreifen, auf die er bereits in seiner Stellungnahme TEN/565 zum Sozialdumping in der Zivilluftfahrt einging (1), und hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen.

1.4.

Zur erfolgreichen Umsetzung dieser ehrgeizigen und umfassenden Ziele muss die Strategie auf einem „ganzheitlichen Ansatz“ für die Luftfahrt beruhen, der eine neue, eingehendere und multidisziplinäre Bewertung des Sektors umfasst. Der EWSA befürwortet voll und ganz einen ganzheitlichen Ansatz — ein Muss für die weitere Entwicklung des Luftfahrt-Ökosystems.

1.5.

Der EWSA beglückwünscht die Europäische Kommission zu dieser politischen Initiative, mit der die vielschichtige Rolle der Luftfahrt wieder auf das politische Radar in Europa und weltweit gebracht wird. Sie wird ein Signal für die Regulierungsbehörden sein, dass eine weitreichendere Überarbeitung der Anforderungen der Luftfahrtindustrie notwendig ist, und zwar nicht nur unter dem Regulierungs- und Infrastrukturaspekt, sondern auch aus sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Sicht. Die verschiedenen Funktionen der Luftfahrt müssen von der EU und den Mitgliedstaaten politisch stärker anerkannt und unterstützt werden.

1.6.

Der EWSA pocht darauf, dass die Strategie auf der Grundlage eines konstruktiven sozialen Dialogs umgesetzt werden muss. Auf EU-Ebene sollten die EU-Institutionen den Ausschuss für den sektoralen sozialen Dialog für die Zivilluftfahrt zu Initiativen für den Luftverkehrssektor konsultieren. Wenn diese Initiativen soziale Auswirkungen auf die Beschäftigungsbedingungen haben, sollte nach Ansicht des EWSA ein Dialog zwischen den Sozialpartnern aufgebaut werden. Der EWSA bekräftigt seine Standpunkte und Empfehlungen aus der Stellungnahme zum Thema „Sozialdumping in der europäischen Zivilluftfahrt“ (2).

1.7.

Der EWSA bekräftigt die Empfehlungen, die er in seiner jüngsten Stellungnahme zum Thema „Integrierte europäische Luftverkehrspolitik“ (3) zu dieser Strategie ausgesprochen hat. Er nimmt zur Kenntnis, dass zahlreiche Vorschläge aus dieser Stellungnahme bzgl. Binnenmarkt, internationale Dimension der EU-Luftfahrt und soziale Dimension in dem Kommissionsdokument aufgegriffen wurden. Er wiederholt zudem seine in weiteren Stellungnahmen zur EU-Luftfahrt vertretenen Standpunkte, u. a. zum Thema „Flughafenkapazität in der EU“ (TEN/552), zu der „Mitteilung der Kommission: Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften“ (CCMI/125) und zum Thema „Einheitlicher europäischer Luftraum II+“ (TEN/504). Seiner Meinung nach sind diese Empfehlungen für die EU-27 genauso relevant wie für die EU-28.

1.8.

Die Europäische Kommission hat mehrere Regulierungsinitiativen für die europäische Luftfahrt entwickelt. So überarbeitete sie die Leitlinien für staatliche Beihilfen für Luftfahrtunternehmen und Flughäfen sowie die Vorschriften zum Schutz vor Schädigung der Luftfahrtunternehmen durch Subventionierung und unlautere Preisbildungspraktiken und legte ein „Flughafenpaket“ sowie Rechtsvorschriften zur Förderung der Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Luftraums (SES) vor u. v. a. m. Die Verwirklichung dieser Maßnahmen und Regelwerke ist dringend erforderlich, um die vollständige Umsetzung der Strategie durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dies gilt auch für die Fortführung des Forschungsprojekts zum Flugverkehrsmanagement im einheitlichen europäischen Luftraum (SESAR), eines sehr erfolgreichen EU-Innovationsprojekts, und die Weiterführung des Gemeinsamen Unternehmens Clean Sky, eines Forschungsprogramms für technologische Entwicklung zur erheblichen Verbesserung der Umweltleistung des Luftverkehrs. Die erforderliche zielgerichtete EU-Finanzierung sollte durch private Mittel ergänzt werden und sektorübergreifende Entwicklungen anstoßen.

1.9.

In Bezug auf Luftfahrtunternehmen, Flughäfen und Flugverkehrskontrolldienste muss die Strategie eine klare Ausrichtung liefern, wie sowohl die künftige Liberalisierung als auch gleiche Ausgangsbedingungen (lauterer Wettbewerb) gewährleistet werden können. Eine stärkere Konsolidierung ist durchaus möglich, doch muss gleichzeitig eine sehr zuverlässige Konnektivität auf hohem Niveau in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden.

1.10.

Die Frage des lauteren Wettbewerbs umfasst auch die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer. Es gilt, Bestimmungen, die mit Artikel 17 a) des Luftverkehrsabkommens der EU mit den Vereinigten Staaten vergleichbar sind, in die Verhandlungen mit Drittländern einzubeziehen. Fairer Wettbewerb und Gegenseitigkeit sowie höchste und durchführbare Sicherheits-, Gefahrabwehr- und Sozialstandards sind von entscheidender Bedeutung. In den Vereinbarungen im Bereich der EU-Luftfahrtaußenpolitik sollte den ILO-Grundsätzen Rechnung getragen werden; außerdem sollten allseits annehmbare Mittel zur Sicherstellung der Einhaltung gesucht werden (4).

1.11.

Die Rolle der Mitgliedstaaten und anderer Komponenten des Luftfahrt-Wertenetzes wie die Hersteller von Flugzeugen, Triebwerken und deren Bauteilen muss im Zuge der Umsetzung der Strategie eingehender beleuchtet werden. Der EU-Luftverkehrssektor muss in der Lage sein, sich die Vorteile einer vernetzten digitalen Luftfahrt zunutze zu machen. Er muss umfassend und aktiv an der industriellen Revolution 4.0 teilhaben. Für die Zivilluftfahrtindustrie in der EU sind die Rolle und die Kapazität der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) von strategischer Bedeutung, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt für Zivilluftfahrt aufrechtzuerhalten.

1.12.

Der EU-Luftverkehrssektor braucht mehr Klarheit darüber, wie Bestimmungen betreffend Eigentum und Kontrolle flexibler und auf Gegenseitigkeitsbasis behandelt werden können, wobei gleichzeitig eine europaweit einheitliche Anwendung und Durchsetzung sowie die kontinuierliche Übereinstimmung der Kontrolle dieser Unternehmen mit dem Unionsrecht gewährleistet werden müssen. Innerhalb der EU können EU-Bürger ohne Beschränkungen betreffend den Kapitalanteil oder den Grad und die Reichweite der Kontrolle über das Unternehmen in ein EU-Luftverkehrsunternehmen investieren — dies ist weltweit einzigartig. Daher stellt sich die Frage: Warum investieren sie nicht?

1.13.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Europäische Kommission umsichtig vorgehen muss, um die Unterstützung der Mitgliedstaaten und weiterer Interessenträger für ihre Vorschläge zu gewinnen. Dennoch muss sie unbedingt die politische Führungsrolle übernehmen. Die Aufgaben der EASA und von Eurocontrol sollten derart festgelegt werden, dass diese beiden Einrichtungen einander in ihrer Arbeit ergänzen und Überschneidungen vermieden werden können.

1.14.

Der EWSA bekräftigt, dass er die Europäische Kommission in ihrem Bemühen um die Förderung der politischen Debatte über die Frage, wie Europas Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Luftverkehr am besten gesichert werden kann, und zur Erstellung und Durchführung des notwendigen Legislativ- und Regulierungsrahmens voll unterstützt. Die Brexit-Debatte ist ein Anstoß für den EWSA, sich noch mehr für eine stärkere Integration der EU-Luftfahrt einzusetzen, die heute notwendiger denn je ist.

1.15.

Aufgrund seiner einzigartigen Zusammensetzung und Sachkenntnis ist der EWSA bestens aufgestellt, um die Standpunkte der organisierten Zivilgesellschaft über die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Regulierungsinitiativen im Luftverkehrssektor und die geeignetsten und ausgewogensten Mittel für die Umsetzung der Strategie in die politische Debatte einzubringen. Daher wird der EWSA die Umsetzung der Strategie kontinuierlich im Rahmen eines eigenen Projekts verfolgen, für das geeignete Ressourcen und Know-how bereitgestellt werden.

1.16.

Der EWSA empfiehlt, dass die Einbeziehung der Interessenträger in die Umsetzung der Strategie von einer Bereitstellung strukturierter und konkreter Informationen über die Art und Weise, wie die Strategie umgesetzt werden soll, begleitet wird. Neben einem Aktionsplan mit einer Auflistung der Initiativen und ihres geplanten Beginns ist auch ein Fahrplan notwendig, in dem die Europäische Kommission darlegt, wie sie die Interessenträger erreichen will, um ihre unerlässliche Mitwirkung sicherzustellen. Die Mobilisierung aller Interessenträger in der Luftfahrt, die gemeinsam an der Verwirklichung der Strategie arbeiten müssen, ist nicht einfach, aber unverzichtbar.

2.   Hintergrund

2.1.

Der Luftfahrtsektor der EU beschäftigt direkt 1,4 (Quelle: Steer Davies Gleave: „Study on employment and working conditions in air transport and airports“, Abschlussbericht, 2015) bis 2,2 Mio. Menschen (Quelle: „Aviation: Benefits Beyond Borders“, Bericht von Oxford Economics für ATAG, April 2014) und unterstützt insgesamt 4,8 bis 5,5 Mio. Arbeitsplätze (Quelle: Steer Davies Gleave: „Study on employment and working conditions in air transport and airports“, Abschlussbericht, 2015). Der unmittelbare Beitrag des Luftverkehrs zum BIP der EU beläuft sich auf 110 Mrd. EUR, während die Auswirkungen insgesamt, einschließlich des Tourismus, durch den Multiplikatoreffekt bei 510 Mrd. EUR liegen (Quelle: Steer Davies Gleave: „Study on employment and working conditions in air transport and airports“, Abschlussbericht, 2015). Dies zeigt deutlich, dass das wirtschaftliche Potenzial des Luftverkehrs seine direkten Auswirkungen bei Weitem übertrifft.

2.2.

Es ist jedoch wichtig, die globalen Auswirkungen des Luftverkehrssektors, insbesondere der von ihm verursachten Emissionen, auf das Klima zu berücksichtigen. Im Rahmen einer jeden Luftverkehrsstrategie müssen die Möglichkeiten zur Verbesserung der Nachhaltigkeit ausgelotet werden, bspw. durch den Einsatz innovativer Biotreibstoffe und neuer Treibstoffmixe. Europa sollte durch einschlägige Forschung und Innovation eine Vorreiterrolle anstreben.

2.3.

Trotz der steigenden Anzahl der von EU-Luftverkehrsunternehmen beförderten Flugpassagiere wird seit 2008 ein Beschäftigungsrückgang von 2,2 % jährlich verzeichnet, der über dem gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsrückgang von 0,7 % jährlich liegt. Gleichzeitig haben jedoch die Anzahl und Vielfalt der „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ (befristete und Teilzeitbeschäftigung, Leiharbeit, selbstständige Tätigkeit, Null-Stunden-Verträge, Entsendung, „pay-to-fly“-Regelungen usw.) erheblich zugenommen.

2.4.

Da der Beitrag der Luftfahrt zur Gesamtleistung der EU-Wirtschaft und ihrer weltweiten Präsenz so bedeutend ist, muss die EU-Luftfahrtbranche unbedingt wettbewerbsfähig bleiben, ihre weltweite Führungsposition halten und weiter wachsen können. In den letzten Jahrzehnten war die EU-Luftfahrt, auch für andere Wirtschaftssektoren, ein Vorbild dafür, wie Reformen größere Vorteile für die Bürger, die Arbeitnehmer, die Unternehmen und die Umwelt bringen können.

2.5.

Der EWSA hat sich durch eine Reihe von Stellungnahmen und durch die Organisation von Veranstaltungen der Interessenträger und öffentlicher Anhörungen aktiv in die Maßnahmen und Rechtsvorschriften zur europäischen Luftfahrt eingebracht. Er hat eine ganze Reihe konkreter Vorschläge zu verschiedenen Elementen der Wertekette in der EU-Luftfahrt, ihrer Organisation und Leistung vorgelegt und sich in einem nachdrücklichen Plädoyer für einen umfassenden sozialen Dialog ausgesprochen (5). (Er hat u. a. Verbesserungen bei der Umsetzung der Luftverkehrsvorschriften in Europa, die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für alle Teile der Wertekette in der Luftfahrt sowie dringliche und ehrgeizige Maßnahmen zur Bewältigung der bevorstehenden Kapazitätskrise gefordert.)

2.6.

Viele europäische Interessenträger, der EWSA eingeschlossen, haben dringend eine solide, umfassende, marktorientierte und nachhaltige EU-Luftfahrtstrategie gefordert. In seiner jüngsten Stellungnahme zum Thema „Integrierte europäische Luftverkehrspolitik“ (6) hat der EWSA sechs Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Luftfahrt ermittelt: Sicherheit; wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit; Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und Digitalisierung; soziale Dimension; operative Exzellenz und Vernetzung (7). Der EWSA bekräftigt vollinhaltlich die Empfehlungen, die er in dieser Stellungnahme für die Luftfahrtstrategie ausgesprochen hat.

2.7.

Ein starker politischer Wille, Weitsicht und Mut tun not, um die Anforderungen der Souveränität mit der Notwendigkeit der Kompromissfindung auf EU-Ebene in Einklang zu bringen. Nach dem Referendum im Vereinigten Königreich ist dies wichtiger denn je zuvor. Wirtschaftlich gesehen sollte die Strategie darauf abzielen, Investitionen, nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Wohlstand in ganz Europa zu fördern. Aus rechtlicher Sicht sollte die Strategie auf Makroebene für einen soliden Rechtsrahmen und auf Mikroebene für Planungsstabilität sorgen. Diese Stabilität sollte ein Anreiz für europäische Investoren sein, stärker in den europäischen Luftverkehrssektor zu investieren. Außerdem sollten EU-Investoren einen besseren Zugang zu internationalen Wachstumsmärkten auf Gegenseitigkeitsbasis erhalten.

2.8.

Der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments kam 2014 zu dem Schluss, dass die Gesamtkosten eines „Nicht-Europa“ in der Luftfahrt sich in den kommenden 20 Jahren auf rund 3,4 Mrd. EUR jährlich belaufen würden. Ohne eine klare Strategie und deren praktische Umsetzung würden der EU-Luftfahrt weltweit Wachstumschancen und Möglichkeiten zur Einflussnahme auf den Wettbewerb entgehen. Das Wachstum muss nachhaltig sein, indem faire Wettbewerbsbedingungen sichergestellt werden. Ist diese Strategie jedoch auf die Verwirklichung einer Vision mit den geeigneten Instrumenten angelegt, dann wird ihre erfolgreiche Umsetzung von der breiten Unterstützung aller Beteiligten und dabei insbesondere der Mitgliedstaaten abhängen.

2.9.

Die Strategie beruht auf einem „ganzheitlichen Ansatz“ für die Luftfahrt, deren wichtige gesellschaftliche Rolle anerkannt wird: Die Luftfahrt sorgt für die Anbindung von Regionen, die Mobilität von Fluggästen und Fracht, und sie bringt Vorteile für Einsparungen und technologische Innovation zur Abfederung der Auswirkungen des Klimawandels; die Luftfahrt sorgt mithin für wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Der EWSA befürwortet voll und ganz einen derartigen Ansatz.

3.   Die Luftfahrt als Wachstumsmotor

3.1.

Im Laufe der Zeit haben sich die Teilsektoren der Luftfahrt zu Unternehmen mit Umsätzen im mehrstelligen Milliarden-Euro-Bereich entwickelt, die auf verschiedenen Märkten agieren und konkurrieren und gemeinsam ein Wertschöpfungsnetz von aufeinander angewiesenen Unternehmen bilden. Mit dieser Strategie und im Zuge ihrer Umsetzung sollten die Stärken, die Schwächen und die Kapazitäten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze jedes einzelnen Teils dieses Wertenetzes ermittelt und ihre Stärken gefördert werden, um einen optimalen Rahmen zu schaffen. in dem die Teilsektoren sowohl einzeln als auch gemeinsam zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand beitragen können.

3.2.

Dieser breit gefasste ganzheitliche Ansatz für die Luftfahrt bezweckt, über die Herausforderungen für Luftfahrtunternehmen und Flughäfen alleine hinauszugehen und die Herausforderungen für alle Komponenten des Wertenetzes in Angriff zu nehmen. Die Mitgliedstaaten erwarten eine verbesserte, sichere, zuverlässige und rentable Anbindung an kleinere Märkte in Randlagen für Handel und Tourismus. Die Hersteller von Flugzeugen, Triebwerken und deren Bauteilen erwarten gute Bedingungen für Investitionen in neue Anlagen sowie Forschung und Entwicklung. Die Luftfahrtunternehmen und die Luftfahrtdienstleister erwarten, dass sie Anreize für Investoren bieten und auf zunehmend liberalisierten Märkten und unter zunehmend liberalisierten Bedingungen operieren können, die ein nachhaltiges Maß an gesundem Wettbewerb gewährleisten. Die Qualität der Beschäftigungsbedingungen, u. a. auch Fortbildungsmaßnahmen, sowie die Fluggastrechte sollten gewahrt werden.

3.3.

Die Europäische Kommission hat die richtigen Schlüsselbereiche für regulatorische Maßnahmen ermittelt, insbesondere in Bezug auf den einheitlichen europäischen Luftraum, die Notwendigkeit umfassender Mandate für internationale Verhandlungen zur Sicherung des Wachstums und einen fairen Wettbewerb auf dem Binnenmarkt und auf internationalen Märkten. Sie pocht zu Recht auf internationale Normen und Standards, mit denen hohe Niveaus für Flugsicherheit und Gefahrenabwehr sowie eine Verringerung der luftverkehrsbedingten Klimaauswirkungen erreicht werden können. Zur Förderung des weltweiten Handels mit Produkten des EU-Luftverkehrssektors sollte in den bilateralen Abkommen über die Flugsicherheit auch auf die gegenseitige Anerkennung von Normen für die Sicherheitsbescheinigung abgezielt werden.

3.4.

Für sämtliche Teile des Wertenetzes in der Luftfahrt ist ein investitionsförderndes politisches Klima wichtig. Aufgrund ihrer hohen Fixkosten brauchen Luftfahrtunternehmen und Flughäfen ferner einen Regulierungsrahmen, der Planungsstabilität gestattet. Einige Regulierungsfragen werden derzeit in den EU-Institutionen und in den Mitgliedstaaten erörtert. Die Europäische Kommission muss klare Orientierungshilfen für all diese Fragen geben. Wegen ihrer Bedeutung sind sie auch Teil der Umsetzung der Strategie (8).

3.4.1.

Eine Verfeinerung, Anwendung und Stärkung der Bestimmungen zu Eigentum und Kontrolle bei Luftfahrtunternehmen ist von grundlegender Bedeutung (Dieser Wortlaut wird in der Regel in bilateralen Luftverkehrsabkommen wie auch in den EU-spezifischer Bestimmungen von Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 verwendet). Diese Bestimmungen sind eine tragende Säule internationaler Luftverkehrsabkommen; ohne sie können die Vertragsparteien den vereinbarten gegenseitigen Rechten nicht nachkommen. Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen „Leitlinien für die Auslegung“ könnten nicht ausreichen, um systemische Probleme sowie Unterschiede in Bezug auf Anwendung, Rechtssicherheit und „Wirksamkeit“ der Vorschriften zu lösen. Es bedarf einer klaren Orientierungshilfe für den EU-Luftverkehrssektor, der vor einer beträchtlichen Konsolidierung steht. Angesichts der zunehmenden makroökonomischen Bedeutung der Tätigkeit der Luftfahrtunternehmen sowie der unterschiedlichen Rentabilität einzelner Fluglinien werden sie für internationale Investitionsfonds sowie strategische Investoren immer interessanter. Die Konsolidierung darf nicht zulasten der Konnektivität, insbesondere auf regionaler Ebene, gehen.

3.4.2.

Die Frage des lauteren Wettbewerbs umfasst auch die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer. Es gilt, Bestimmungen, die mit Artikel 17 a) des Luftverkehrsabkommens der EU mit den Vereinigten Staaten vergleichbar sind, in die Verhandlungen mit Drittländern einzubeziehen. Fairer Wettbewerb und Gegenseitigkeit sowie höchste Sicherheits-, Gefahrabwehr- und Sozialstandards sind von entscheidender Bedeutung. In den Vereinbarungen im Bereich der EU-Luftfahrtaußenpolitik sollte den ILO-Grundsätzen Rechnung getragen werden; außerdem sollten allseits annehmbare Mittel zur Sicherstellung der Einhaltung gesucht werden (9).

3.4.3.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Vereinbarungen über den sozialen Dialog zu erleichtern, um Sozialdumping und Hindernisse für den Binnenmarkt zu unterbinden. Selbst noch so geringfügige gewerkschaftliche Maßnahmen im Luftverkehr können eine erhebliche Zahl an Flügen, Fluggästen und Unternehmen, die vom Tourismus und Handel abhängig sind, beeinträchtigen. Die Europäische Kommission muss dieser Frage nachgehen, wenn sie die Erwartungen an die Entwicklung eines „ganzheitlichen Ansatzes“ für die Luftfahrt erfüllen will.

3.4.4.

Drohnen-Technologie ist ein wichtiges Thema und muss in der Strategie eingehender analysiert werden. Es geht nicht mehr nur um Hardware (d. h. die Größe und die Betriebsspezifikationen für Drohnen), sondern auch um Software und das Potenzial dieser Technologie. Der EWSA begrüßt die bisherigen einschlägigen Arbeiten der EASA. Angesichts der Regulierungsinitiativen in anderen Regionen der Welt muss die EU jedoch in diesem Innovationsbereich tonangebend bleiben, damit sie ihren Einfluss auf die Förderung dieser innovativen Technologie und die Ausarbeitung internationaler Normen und Standards nicht einbüßt. Sicherheit und Gefahrenabwehr in Verbindung mit der Nutzung von Drohnen müssen dringend angegangen werden.

3.4.5.

Die Europäische Kommission hat die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums zu Recht als sehr wichtig eingestuft und bekräftigt, dass das Paket „Einheitlicher Europäischer Luftraum II“ (SES II) angenommen und umgesetzt werden muss. Ein einheitliches Luftraummanagement für die EU wäre im Interesse der Bürger und Verbraucher, der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Luftfahrt insgesamt. Es bedarf weiterer eingehender Untersuchungen, warum nur relativ langsam Fortschritte erzielt werden. So blieben insbesondere die funktionalen Luftraumblöcke weit hinter den Erwartungen zurück. Notwendig wären eine umfassende Sensibilisierungskampagne, um intensive, offene und ehrliche Diskussionen mit den Mitgliedstaaten und den Flugsicherungsorganisationen zu gewährleisten, sowie maßgeschneiderte Vorschläge für die Mitgliedstaaten, um sie beim Abbau von Bedenken und Hindernissen in Verbindung mit der Modernisierung ihrer Luftverkehrsmanagementbehörden zu unterstützen. Der EWSA ist davon überzeugt, dass durch die Einbindung der Arbeitnehmer in die weiteren Verhandlungen und die Verwirklichung der Strategie die von den Sozialpartnern geäußerten Bedenken korrekt aufgegriffen werden können. SESAR als technologische Säule des einheitlichen europäischen Luftraums kann außerdem eine weitere Integration des Flugverkehrsmanagements in der EU durch die Entwicklung neuer gemeinsamer technologischer Anwendungen deutlich voranbringen. Die Netzmanager sollen die Auslegung des europäischen Streckennetzes zur Gewährleistung einer sicheren und effizienten Flugverkehrskontrolle weiterentwickeln.

3.4.6.

Es ist von grundlegender Bedeutung, die Flughäfen in den Bemühungen zur Vollendung eines umfassenden europäischen Verkehrsnetzes voll zu berücksichtigen und in diese einzubeziehen, wobei eine gute Anbindung an andere Verkehrsträger sichergestellt werden muss. Multimodalität ist ein Muss. IKT können ebenfalls dazu beitragen, die EU-Luftfahrt durch die Förderung von Multimodalität und Nachhaltigkeit effizienter zu machen.

3.5.

Hersteller in der Luftfahrtindustrie müssen sich dem Wettbewerb auf globalen Märkten stellen. Die industrielle Revolution 4.0 bietet hervorragende Chancen für sie. Es gilt, eine umfassende Synergie zwischen verschiedenen einschlägigen EU-Maßnahmen zu analysieren und in die Praxis umzusetzen. Diese Hersteller investieren in Produktionsstätten in ganz Europa und weltweit. Bei der Bewertung des Gesamteinflusses der Luftfahrt auf das Wachstum sollten die Bedeutung der Zertifizierung von Herstellern durch die EASA sowie wirtschaftliche Analysen nicht unterschätzt werden, da diese Unternehmen allesamt im weltweiten Wettbewerb stehende Großunternehmen sind.

3.6.

Die Strategie beruht auf europäischen Standards, auf deren Anwendung durch Drittländer in konzertierten und koordinierten Verhandlungen hingearbeitet werden sollte. Die EU hat bereits die Struktur für die Umsetzung und Weiterentwicklung des Luftverkehrsabkommens mit den Vereinigten Staaten festgelegt. Die darin enthaltenen Bestimmungen versetzen beide Parteien in die Lage, einen weiteren Konsens über die Verbesserung, gemeinsame Umsetzung und sogar Ausweitung dieser Standards auf Drittländer zu entwickeln. Die Strategie sollte daher auf die Nutzung von Instrumenten wie des Gemeinsamen Ausschusses EU/USA ausgerichtet sein, um weltweit mit ähnlich gesinnten Ländern Einmütigkeit darüber zu erzielen, dass eine nachhaltige Luftfahrt auf der Einhaltung grundlegender Werte beruht. Die EU und die Vereinigten Staaten könnten eine Führungsrolle bei der Festlegung gemeinsamer Standards (einschl. SESAR und NextGen) übernehmen. Sie haben nach wie vor die Möglichkeit, in der globalen Luftfahrt gemeinsam an der Weltspitze zu stehen.

3.7.

Der Erfolg der europäischen Luftfahrt hängt auch von den Kompetenzen und Qualifikationen ihrer Beschäftigten ab. Deswegen sollten Maßnahmen getroffen werden, um diese Branche attraktiver zu machen und qualifizierte Arbeitskräfte von einer Abwanderung in andere Branchen oder andere Teile der Welt abzuhalten.

4.   Umsetzung der Luftverkehrsstrategie — Bewältigung des Wandels

4.1.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die Europäische Kommission umsichtig vorgehen muss, um die Unterstützung der Mitgliedstaaten und weiterer Interessenträger für ihre Vorschläge zu gewinnen. Dennoch muss sie unbedingt die politische Führungsrolle übernehmen. Eine derart klare Verpflichtung ist unerlässlich, um das Potenzial des EU-Luftverkehrssektors freizusetzen. Gleichzeitig muss der Notwendigkeit Rechnung getragen werden, dass die Mitgliedstaaten eine zuverlässige und sichere Konnektivität gewährleisten müssen. Außerdem müssen die Sozialpartner die Gewissheit haben, dass ihre Einbeziehung in die Gestaltung und Umsetzung der erforderlichen Legislativmaßnahmen auch weiterhin sichergestellt ist.

4.2.

In ihrer Mitteilung behandelt die Europäische Kommission einige Aspekte, die in Regulierungsinitiativen aufgegriffen werden sollen, und bekräftigt, dass sie die Mitwirkung aller beteiligten Parteien sichern will. Neben einem Aktionsplan mit einer Auflistung der Initiativen und ihres geplanten Beginns ist auch ein Fahrplan notwendig, in dem die Europäische Kommission darlegt, wie sie die Interessenträger und die Öffentlichkeit erreichen will, um sich deren entscheidende Mitwirkung zu sichern.

4.3.

Die Europäische Kommission betont zu Recht die Notwendigkeit, den sozialen Dialog in diesem Sektor noch weiter auszubauen. Der Druck auf die Arbeitnehmer im Luftverkehr ist enorm. Unter derartigen Bedingungen ist der soziale Dialog von entscheidender Bedeutung, um die Sozialpartner in den Prozess einzubinden und ihre Mitwirkung sicherzustellen. Allerdings stellt sich die Frage, wie die Europäische Kommission den sozialen Dialog zu Aspekten, die sich aus ihrem ganzheitlichen Ansatz ableiten, zu strukturieren gedenkt.

4.4.

Es muss mehr Klarheit in puncto Arbeitsrecht und Sozialschutz für hochmobile Arbeitnehmer in der Zivilluftfahrt geschaffen werden. Wegen schwammiger Vorschriften gibt es erhebliche Lücken im Sozialschutz für europäisches Flug- und Kabinenpersonal. Die geltenden Rechtsvorschriften müssen überarbeitet und die technischen Vorschriften und die Vorschriften über die soziale Sicherheit aufeinander abgestimmt werden.

4.5.

Im Zuge der Umsetzung von Legislativmaßnahmen muss den Anliegen des Klimaschutzes Rechnung getragen werden. Bei der Entwicklung einer Luftverkehrsstrategie kann nicht die dringend notwendige Berücksichtigung der durch die vielfältigen klimarelevanten Auswirkungen verursachten (wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen) Kosten außer Acht gelassen werden. Die EU-Luftfahrt sollte außerdem die Herausforderungen in Verbindung mit dem Klimagasausstoß als Chancen für Forschung und Innovation ansehen.

4.6.

Es müssen kontinuierlich Informationen über die Strategie und ihre Umsetzung übermittelt werden. Außerdem müssen regelmäßig zielgerichtete Informationsveranstaltungen für die Interessenträger organisiert werden.

4.7.

Der allgemeine Ansatz der Europäischen Kommission für die Luftfahrt sollte darüber hinaus auch vorrangig und konsequent in den Dialog mit den Mitgliedstaaten einfließen. In einigen Fällen scheint das Hauptproblem in dem mangelnden Verständnis der tatsächlichen Anforderungen des Luftverkehrssektors auf nationaler Ebene zu liegen. Die Europäische Kommission sollte eine aktivere Unterstützung des Luftverkehrssektors auf nationaler Ebene in den Diskussionen mit den Mitgliedstaaten in Erwägung ziehen.

4.8.

Der EWSA fordert erneut alle Interessenträger in der Luftfahrt auf, aktiv an den weiteren Arbeiten zur Umsetzung der Strategie mitzuwirken. Eine starke und nachhaltige Luftfahrt ist im Interesse aller; wir dürfen uns die mit der Strategie eröffneten Möglichkeiten keinesfalls entgehen lassen.

Brüssel, den 14. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 110.

(2)  Siehe Fußnote 1.

(3)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 169.

(4)  ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 51.

(5)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 17. ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 123. ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 116.

(6)  Siehe Fußnote 3.

(7)  Ebenda.

(8)  Der EWSA verweist daher auf seine Stellungnahmen ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 29. ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 11 und siehe Fußnote 1.

(9)  Siehe Fußnote 4.


21.10.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 389/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/50/EG des Rates und der Richtlinie 91/672/EWG des Rates“

[COM(2016) 82 final — 2016/0050 (COD)]

(2016/C 389/13)

Berichterstatter:

Jan SIMONS

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 23. März bzw. 11. April 2016, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 91 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/50/EG des Rates und der Richtlinie 91/672/EWG des Rates“

[COM(2016) 82 final — 2016/0050 (COD)].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 21. Juni 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 518. Plenartagung am 13./14. Juli 2016 (Sitzung vom 13. Juli 2016) mit 118 gegen 2 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA befürwortet, dass das gemeinsame System von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt auf Anforderungen an die Befähigung statt, wie bisher, an die Erfahrung beruhen soll. Er geht ebenfalls davon aus, dass die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der gesamten EU der Entwicklung der Binnenschifffahrt zugutekommen wird.

1.2.

Die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU ist von grundlegender Bedeutung, um den strukturellen Mangel an qualifiziertem Deckspersonal zu beseitigen. Eine verpflichtende Prüfung der beruflichen Befähigung aller Mitglieder der Decksmannschaft wird das Bild und die Attraktivität des Berufszweiges verbessern.

1.3.

Die Wahrung der geltenden Sicherheitsstandards auf wichtigen internationalen Wasserstraßen muss als Mindestanforderung für die ordnungsgemäße Umsetzung des Vorschlags erachtet werden.

1.4.

Eine Verbesserung der Durchsetzbarkeit der Rechtsvorschriften durch die verantwortlichen Behörden wird zum einen von Sozialdumping abschrecken und zum anderen die Wettbewerbsfähigkeit und einen fairen Wettbewerb fördern.

1.5.

Die Fortsetzung und der Ausbau der engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den europäischen Flusskommissionen, insbesondere der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR), sind nach Ansicht des EWSA für eine gute Verwaltung des europäischen Binnenwasserstraßennetzes unverzichtbar.

1.6.

Der EWSA spricht sich, sofern bestimmte Flusskommissionen hinzugefügt werden, dafür aus, dass neben gemeinsamen Befähigungsanforderungen, die vom Ausschuss für die Ausarbeitung von Standards im Bereich der Binnenschifffahrt (CESNI) auszuarbeiten sind, objektive Kriterien für die Festlegung von Wasserstraßen oder Wasserstraßenabschnitten mit besonderen Risiken aufgestellt werden, für die die Mitgliedstaaten in Ergänzung zu den gemeinsamen Berufsqualifikationen noch zusätzliche Anforderungen festlegen können.

1.7.

Die Grundsätze und Ziele der gewählten Politik, auf der dieser Vorschlag beruht, müssen dringend klarer dargelegt werden.

2.   Einleitung

2.1.

Wettbewerbsfähige Industrien hängen von der Fähigkeit ab, große Frachtmengen auf kosteneffiziente Weise zu befördern. Binnenschiffe verfügen über eine Ladekapazität, die Hunderten von Lastkraftwagen entspricht — ein Konvoi aus vier Schubleichtern (= 7 000 Nettotonnen) entspricht 280 Lastkraftwagen mit einer Kapazität von je 25 Nettotonnen. Dadurch können Transportkosten eingespart und die Umwelt geschützt werden.

2.2.

Über Rhein und Donau, die durch den Main-Donau-Kanal verbunden sind, sind 13 Mitgliedstaaten über eine Strecke von 3 500 km von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer direkt miteinander vernetzt. Auf diesen Wasserstraßen werden jedes Jahr rund 500 Mio. Tonnen Fracht transportiert, wobei allein auf dem Rhein 67 % des Gesamtfrachtvolumens abgewickelt werden. Mehr als 75 % der Binnenschifffahrt in der EU erfolgen grenzüberschreitend. Der Anteil der Binnenschifffahrt am modalen Verkehr liegt in Deutschland bei 12,5 %, in Belgien bei 25 % und in den Niederlanden bei 38,7 %; im Rheinkorridor, der industriellen Schlagader Europas, beträgt dieser Anteil sogar mehr als 50 %.

2.3.

Mit einer jährlichen Frachtleistung von 150 Mrd. Tonnenkilometern ist die Binnenschifffahrt für das Funktionieren der multimodalen Logistikketten der EU von zentraler Bedeutung. Jüngsten Studien zufolge führt die Wertschöpfung der Binnenschifffahrt in Höhe von 2,2 Mrd. EUR zu einem direkten und indirekten wirtschaftlichen Wertzuwachs in Höhe von 13,2 Mrd. EUR, d. h., der Wertschöpfungsmultiplikator liegt bei 6,0.

2.4.

Im Folgenden einige Kennzahlen zum Arbeitsmarkt in der EU-Binnenschifffahrt:

In diesem Wirtschaftszweig Binnenschifffahrt sind 41 500 Arbeitnehmer beschäftigt, ca. 14 650 Schiffsführer und 26 850 Arbeitnehmer im fahrenden Personal;

80 % aller Arbeitnehmer kommen aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Italien, Belgien, Rumänien und Bulgarien;

die überwältigende Mehrheit der Arbeitnehmer ist auf dem Rheinkorridor tätig;

der Anteil ausländischer Arbeitskräfte beträgt in den Niederlanden 27 %, in Deutschland 23 % und in Belgien 14 %;

es gibt 9 482 Binnenschifffahrtsunternehmen, von denen 45 % in den Niederlanden niedergelassen sind.

2.5.

Der EWSA hat bereits in der Vergangenheit Stellungnahmen zu diesem Sektor an das Europäische Parlament, den Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission verabschiedet, u. a. zu sozialpolitischen Maßnahmen im Rahmen einer gesamteuropäischen Binnenschifffahrtsregelung (2005) (1), zum integrierten europäischen Aktionsprogramm für die Binnenschifffahrt „NAIADES“ (2006) (2) und zum Paket „NAIADES II“ (2014) (3).

2.6.

Darin erhob der EWSA zunächst die Forderung nach der „Schaffung einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik für die Binnenschifffahrt“, die dann „im Rahmen des sozialen Dialogs weiter vertieft“ wurde und „letztlich zu einer spezifischen Regelung für die Arbeitszeiten in der Binnenschifffahrt geführt“ hat und 2014 schließlich in die Forderung mündete, „weitere Initiativen in dieser Frage auf den Weg zu bringen. Die angestrebte, auf dem sozialen Dialog beruhende Harmonisierung der Berufsprofile und die Abstimmungen der Berufsqualifikationen auf europäischer Ebene spielen dabei eine wichtige Rolle; die Europäische Kommission wird dieses Unterfangen in enger Zusammenarbeit mit Flusskommissionen, insbesondere der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, in die Tat umsetzen.“

2.7.

Zu diesem Zweck hat die Europäische Kommission ihre Zusammenarbeit mit der ZKR inzwischen ausgebaut, und es konnten bereits einige wichtige Ergebnisse erzielt werden, beispielsweise die gemeinschaftliche Bestandsaufnahme der erforderlichen Befähigung (PLATINA-Kompetenztabellen) sowie aufgrund ihres gemeinsamen Anliegens, die Bestimmungen für die Binnenschifffahrt zu verbessern, die Einrichtung des Europäischen Ausschusses zur Ausarbeitung von Standards im Bereich der Binnenschifffahrt (Comité Européen pour l’élaboration de Standards dans le domaine de la Navigation Intérieure — CESNI) im Juni 2015. Der CESNI-Ausschuss hat seine Arbeit entschlossen aufgenommen und noch 2015 Standards für technische Vorschriften für Binnenschiffe erstellt. Außerdem wurde die Einrichtung einer CESNI-Arbeitsgruppe zu Berufsqualifikationen beschlossen. Der CESNI-Ausschuss sollte auch in Bezug auf Berufsqualifikationen durch die Erarbeitung der in der Richtlinie vorgeschlagenen Standards eine wichtige Rolle übernehmen.

2.8.

Der vorliegende Kommissionsvorschlag wurde nach umfassenden und intensiven Konsultationen vieler einschlägiger Organisationen und der Sozialpartner vorgelegt (Die folgenden Organisationen waren vertreten: Internationale Flussschifffahrtskommissionen: Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, Donaukommission, Save-Kommission; Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa; nationale Behörden, die für Politik, Gesetzgebung und Verwaltung im Bereich der Binnenschifffahrt zuständig sind; Berufsverbände: Europäische Binnenschifffahrtsunion, Europäische Schifferorganisation; Gewerkschaften: Europäische Transportarbeiter-Föderation, Sektion Binnenschifffahrt; PLATINA (Platform for the implementation of NAIADES); europäische Binnenschifffahrtsschulen (EDINNA); AQUAPOL und Europäischer Verband der Binnenhäfen. Die europäischen Sozialpartner für die Binnenschifffahrt umfassen die Europäische Binnenschifffahrtsunion, die Europäische Schifferorganisation und die Europäische Transportarbeiter-Föderation).

3.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

3.1.

Die Binnenschifffahrt ist ein kostengünstiger und energieeffizienter Verkehrsträger, der im Hinblick auf die Ziele der Europäischen Union im Bereich der Energieeffizienz, des Wachstums und der Industrieentwicklung wirksamer genutzt werden könnte. Ihrem Beitrag steht jedoch entgegen, dass es im Bereich der Mobilität der Arbeitskräfte Schwierigkeiten gibt, freie Stellen lange unbesetzt bleiben und ein Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage besteht. Da in jedem EU-Land andere Mindestanforderungen für Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt gelten, sehen sich einzelne Länder außerstande, die Berufsqualifikationen von Besatzungsmitgliedern aus anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, zumal hierbei auch die Sicherheit der Schifffahrt betroffen ist.

3.2.

Die Richtlinie zielt darauf ab, die Mobilität der Arbeitskräfte in der Binnenschifffahrt zu erleichtern, indem sichergestellt wird, dass Qualifikationen von Fachkräften unionsweit anerkannt werden. Die Initiative stützt sich auf eine über 19-jährige Erfahrung mit der Richtlinie 96/50/EG über den Erwerb einzelstaatlicher Schifferpatente und der Richtlinie 91/672/EWG über die gegenseitige Anerkennung einzelstaatlicher Schifferpatente für Schiffsführer, die auf anderen Binnenwasserstraßen der EU als dem Rhein tätig sind.

3.3.

Mit diesem Vorschlag wird die Anerkennung von Berufsqualifikationen über Schiffsführer hinaus auf alle Mitglieder der Decksmannschaft ausgedehnt und von der erforderlichen Befähigung abhängig gemacht. Er umfasst die Anerkennung im gesamten europäischen Binnenwasserstraßennetz auf der Grundlage von:

gemeinsamen Standards für die Befähigungszeugnisse von Schiffsführern und sonstigen Mitgliedern von Decksmannschaften;

gemeinsamen Kriterien und Verfahren zur Feststellung der erforderlichen Befähigungen;

der Festlegung von Kriterien, mit denen sichergestellt wird, dass die Fachkundeanforderungen für bestimmte Wasserstraßenabschnitte aufgrund des angestrebten Sicherheitsniveaus gerechtfertigt sind.

Nach Ansicht der Europäischen Kommission werden nicht nur die Arbeitnehmer von einer erhöhten Arbeitskräftemobilität und neuen Karrieremöglichkeiten profitieren, sondern der gesamte Sektor, der sowohl für Unternehmen als auch Arbeitnehmer attraktiver wird.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA befürwortet, dass das gemeinsame System von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt auf Anforderungen an die Befähigung statt, wie bisher, an die Erfahrung beruhen soll. Er geht ebenfalls davon aus, dass die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der gesamten EU der Entwicklung der Binnenschifffahrt zugutekommen wird.

4.2.

Der EWSA misst der Fortführung und dem Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den europäischen Flusskommissionen, vor allem der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR), große Bedeutung bei. So sind insbesondere die gemeinsamen Anstrengungen von Kommission und ZKR zur Harmonisierung und Modernisierung des Rechtsrahmens für die Gestaltung einer kohärenten Politik für das EU-Binnenwasserstraßennetz wichtig. Der EWSA betont, dass faire Wettbewerbsbedingungen in der Binnenschifffahrt geschaffen und aufrechterhalten werden müssen; die Modernisierung der Bestimmungen muss mit einer Modernisierung der Durchsetzung einhergehen.

4.3.

Als Bestandteil des Maßnahmenpakets „NAIADES II“ soll mit dem Vorschlag ein gemeinsames System kompetenzbasierter Mindestbefähigungsstandards eingeführt werden, das für das Sicherheitsniveau auf den Binnenwasserstraßen in der EU sehr wichtig ist. Der EWSA pocht darauf, dass dieses System die bewährten Verfahren für die verschiedenen Kategorien von Binnenwasserstraßen nicht beeinträchtigen darf.

4.3.1.

Zu diesem Zweck wird in der Richtlinie vorgeschlagen, dass die Mitgliedstaaten für bestimmte Wasserstraßen bzw. Wasserstraßenabschnitte Ausnahmeregelungen oder zusätzliche Anforderungen festlegen können. Diese Maßnahmen müssen selbstverständlich angemessen und verhältnismäßig sein, damit ihre Zahl sich auf das notwendige Maß beschränkt. Ganz allgemein ist keine Lockerung der geltenden Standards geplant. Die Sicherheitsstandards auf den verschiedenen Wasserstraßen können indes unterschiedlich sein.

4.4.

Die Transnationalisierung der Binnenschifffahrt hat zur Einrichtung von Flusskommissionen für internationale Wasserstraßen geführt, um eine einheitliche Regelung für die kommerzielle Nutzung zu gewährleisten. So gilt beispielsweise das Rheinschifffahrtsregime schon seit mehr als 200 Jahren. Später wurden auch Kommissionen für die Donau, die Mosel und die Save eingerichtet.

4.4.1.

Das Rheinschifffahrtsregime zeichnet sich nicht nur durch seine lange Geschichte, sondern vor allem auch durch sein weitreichendes Regelwerk aus, insbesondere den internationalen Rechtsrahmen.

4.4.2.

Nach Meinung des EWSA ist ein breiter und entsprechend fundierter institutioneller Kontext unverzichtbar, um die Kohärenz und Einheitlichkeit der Vorschriften für die Schifffahrt im europäischen Binnenwasserstraßennetz zu gewährleisten. Sowohl aus institutioneller als auch aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht werden die Fortsetzung und der Ausbau der engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und der ZKR dringend empfohlen.

4.5.

Der EWSA spricht sich, sofern bestimmte Flusskommissionen hinzugefügt werden, dafür aus, dass neben gemeinsamen Befähigungsanforderungen, die vom Ausschuss für die Ausarbeitung von Standards im Bereich der Binnenschifffahrt (CESNI) auszuarbeiten sind, objektive Kriterien für die Festlegung von Wasserstraßen oder Wasserstraßenabschnitten mit besonderen Risiken aufgestellt werden, für die die Mitgliedstaaten in Ergänzung zu den gemeinsamen Berufsqualifikationen noch zusätzliche Anforderungen festlegen können.

4.6.

Aus europäischer Sicht muss die Wahrung der geltenden Sicherheitsstandards auf wichtigen internationalen Wasserstraßen als allgemeine Voraussetzung für die ordnungsgemäße Umsetzung des Vorschlags erachtet werden. In einer langjährigen internationalen Tradition hat sich ein koordinierter, auf Flusseinzugsgebieten basierender Ansatz entwickelt, der im Allgemeinen von allen einschlägigen Interessenträgern akzeptiert wird.

4.6.1.

Dem Rhein sollte in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Auf dieser internationalen Wasserstraße, die aus nautischer Sicht zusammen mit der Donau zu den schwierigsten Wasserstraßen zählt, werden mehr als zwei Drittel des europäischen Binnenschiffsverkehrs abgewickelt. Die Rheinuferstaaten haben auf der Grundlage der Revidierten Rheinschifffahrtsakte und unter Aufsicht der ZKR bereits ein hohes Sicherheitsniveau erreicht.

4.7.

Die ZKR hat bereits einen verbindlichen multinationalen Mechanismus zur Ausweisung von Wasserstraßenabschnitten mit besonderen Risiken eingerichtet. Die Koordinierung nationaler Beschlüsse und der Beschlüsse der Flusskommissionen auf Gemeinschaftsebene wäre daher in den Augen des EWSA ein Fortschritt für die Mobilität qualifizierter Arbeitskräfte.

4.7.1.

Daher müssen gemeinsame Kriterien für die Ermittlung von besonderen Risiken festgelegt werden. Dem EWSA ist bewusst, dass die Festlegung universeller und objektiver Kriterien zur Ausweisung von Strecken mit besonderen Risiken den Vorteil bringt, dass ein transparenter Entscheidungsfindungsprozess mit einem erweiterten Anwendungsbereich gewährleistet wird.

4.7.2.

Für die Donau besteht noch kein verbindlicher multinationaler Mechanismus zur Ausweisung von Wasserstraßenabschnitten mit besonderen Risiken. Der EWSA erachtet allerdings die mit EU-Mitteln geförderten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Schiffbarkeit der Donau als ein entscheidendes Element für die Entwicklung dieses Schifffahrtskorridors.

4.7.3.

Ein Vorschlag für eine Methode für die Ausweisung von Wasserstraßen oder Wasserstraßenabschnitten mit besonderen Risiken wäre:

1.

Festlegung allgemeiner Kriterien für die erforderlichen beruflichen Qualifikationen.

2.

Innerstaatliche Flüsse: Die Uferstaaten legen einen Vorschlag vor, der im CESNI-Ausschuss beraten wird. Die Beschlussfassung erfolgt in Form eines delegierten Rechtsaktes der Europäischen Kommission.

3.

Internationale Flüsse: Flusskommissionen, die einer internationalen Regelung unterliegen, berücksichtigen die allgemeinen Kriterien. Die Uferstaaten legen ggf. nach Koordinierung mit den Flusskommissioneneinen Vorschlag vor, der im CESNI-Ausschuss beraten wird. Die Beschlussfassung erfolgt in Form eines delegierten Rechtsaktes der Europäischen Kommission.

4.8.

Mit dem Vorschlag soll die Arbeitskräftemobilität auf einem so breit wie möglich ausgelegten EU-weiten Arbeitsmarkt für die Binnenschifffahrt, der Arbeitnehmern aus allen Mitgliedstaaten offenstehen muss, gefördert werden, um den strukturellen Mangel an qualifiziertem Deckspersonal zu beseitigen. Der EWSA bekräftigt, dass diesem wichtigen Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.

4.8.1.

Eine verpflichtende Prüfung der beruflichen Befähigung aller Besatzungsmitglieder, auch im Schiffsbetrieb, werden das Bild und die Attraktivität des Berufszweiges verbessern, sowohl für Auszubildende mit einer Lehrstelle als auch Quereinsteiger.

4.8.2.

Der EWSA befürwortet die Absicht der Europäischen Kommission, diesen Sektor auch für stärker praxisorientierte Arbeitnehmer offenzuhalten. Er begrüßt auch neue Möglichkeiten zur zügigen Befähigung für Quereinsteiger, die bereits über maritime oder andere Vorkenntnisse verfügen.

4.9.

Der EWSA weiß, dass dieser Vorschlag auf wohlüberlegten politischen Entscheidungen beruht. Es ist indes nicht so einfach, diese aus dem Vorschlag selbst herauszulesen. Er empfiehlt daher auch dringend, die Grundsätze und Ziele der gewählten Politik klarer darzulegen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

Eine erhebliche Reduzierung der Zahl der erforderlichen Dokumente sowie ihre elektronische Verfügbarkeit und Aktualisierung werden die Effektivität der Durchsetzung verbessern, den Verwaltungsaufwand verringern und gleichzeitig eine effizientere Funktionsweise der Aufsichtsbehörden ermöglichen. Damit wird zum einen von Sozialdumping abgeschreckt und zum anderen werden die Wettbewerbsfähigkeit und ein fairer Wettbewerb gefördert.

5.1.1.

Der EWSA fordert ausdrücklich, dass die Sozialpartner, die internationalen Flusskommissionen und die einschlägigen Aufsichtsbehörden auch weiterhin in diese Bemühungen einbezogen werden und ihr Engagement gefördert wird.

5.2.

Praktische Prüfungen werden für gewöhnlich an Bord eines Schiffes durchgeführt, sollten jedoch auch an einem Simulator möglich sein, wobei der Prüfling dann natürlich auch über die geforderte praktische Erfahrung verfügen muss. Der CESNI-Ausschuss sollte daher einen einheitlichen Standard für die technischen Merkmale und Funktionalitäten von Binnenschiffsführungssimulatoren sowie Standards für die Zulassung dieser Anlagen festlegen.

5.2.1.

In dem Richtlinienvorschlag werden auch zugelassene Ausbildungsprogramme anstelle von Verwaltungsprüfungen akzeptiert. Nach Ansicht des EWSA muss diesbezüglich gewährleistet sein, dass kein Interessenkonflikt zwischen dem Prüfer und dem Lehrer bzw. Ausbilder eines Prüfungskandidaten besteht.

5.2.2.

Der EWSA begrüßt die Anerkennung zugelassener Ausbildungsprogramme, hegt jedoch ernsthafte Zweifel an dem Mehrwert dieser Maßnahme, wenn diese nicht durch ein zweckdienliches System zur Festlegung und Gewährleistung der Qualität flankiert wird.

5.2.3.

Die ebenfalls in dem Vorschlag vorgesehene Möglichkeit, die geforderten beruflichen Befähigungen im Rahmen von nichtformalem und informellem Lernen, d. h. in diesem Fall an Bord, zu erwerben und in einer praktischen Prüfung nachzuweisen, steht im Einklang mit der diesbezüglichen Stellungnahme des EWSA (4).

5.3.

Außerdem sollten zusätzliche Vorschriften für besondere Arten von Tätigkeiten in Betracht gezogen werden, wenn bereits internationale Sicherheitsstandards gelten, z. B. im Bereich der Fahrgastbeförderung. Der EWSA weist darauf hin, dass dies auch für die Anforderungen an Personen gelten kann, die am Bunkervorgang von Schiffen beteiligt sind, die Flüssigerdgas als Brennstoff verwenden. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass maritime Standards für Binnenschiffe weder geeignet noch angemessen sind.

5.4.

Laut der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission beträgt der Anteil der Selbstständigen in der europäischen Binnenschifffahrt 27 % und der Arbeitnehmer 73 %. Diese Zahlen sind jedoch wenig aussagekräftig, wenn sie nicht in Fracht- und Fahrgastbeförderung unterteilt werden, da 40 % der Arbeitnehmer in der Fahrgastbeförderung tätig sind und KMU, die nur ein einziges Schiff besitzen bzw. betreiben, 80 % bis 90 % des Marktes im westlichen Teil der EU, insbesondere in Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, abwickeln.

5.5.

Der EWSA begrüßt, dass sowohl die Europäische Kommission als auch die Mitgliedstaaten die Durchführung der Richtlinie überprüfen werden, ist jedoch der Ansicht, dass auch die Flusskommissionen in diese Überprüfung einbezogen werden müssen. Eine derartige Überprüfung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene wird ggf. eine gute Grundlage für eine etwaige künftige Überarbeitung der Richtlinie bieten.

Brüssel, den 13. Juli 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 73.

(2)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 218.

(3)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 58.

(4)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 49.