ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 71

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

59. Jahrgang
24. Februar 2016


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

ENTSCHLIESSUNGEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

2016/C 071/01

Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Flüchtlingen

1

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

2016/C 071/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Vereinfachung der GAP (Sondierungsstellungnahme)

3

2016/C 071/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Hochschulen engagieren sich für Europa (Initiativstellungnahme)

11

2016/C 071/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der Ingenieure bei der Reindustrialisierung Europas (Initiativstellungnahme)

20

2016/C 071/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Nanotechnologie für eine wettbewerbsfähige Chemieindustrie (Initiativstellungnahme)

27


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

2016/C 071/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2014 [COM(2015) 247 final]

33

2016/C 071/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union — Fünf Aktionsschwerpunkte (COM(2015) 302 final)

42

2016/C 071/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Europäische Migrationsagenda [COM(2015) 240 final]

46

2016/C 071/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [COM(2015) 450 final — 2015/0208 (COD)]

53

2016/C 071/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung der Kosteneffizienz von Emissionsminderungsmaßnahmen und zur Förderung von Investitionen in CO2-effiziente Technologien [COM(2015) 337 final — 2015/0148 (COD)]

57

2016/C 071/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa (COM(2015) 192 final)

65

2016/C 071/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten (2015-2020) [COM(2015) 285 final]

75

2016/C 071/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erstellung einer gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten für die Zwecke der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und zur Änderung der Richtlinie 2013/32/EU [COM(2015) 452 final]

82


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

ENTSCHLIESSUNGEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/1


Entschließung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu Flüchtlingen

(2016/C 071/01)

Auf seiner Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 10. Dezember) nahm der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss folgende Entschließung mit 174 gegen 8 Stimmen bei 9 Enthaltungen an.

1.

Der EWSA würdigt vorbehaltlos die wichtige Arbeit der Zivilgesellschaft beim Umgang mit den Flüchtlingen, die aus vom Krieg zerrütteten Ländern fliehen und daher Anspruch auf Schutz nach dem Genfer Abkommen haben. Ohne diesen Einsatz hätte die tragische humanitäre Situation, die in vielen europäischen Ländern entstanden ist, in eine Katastrophe münden können. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist fest entschlossen, diese Tatsache beim Namen zu nennen und damit zu gewährleisten, dass sie von den EU-Institutionen, den Regierungen und anderen politischen Akteuren gebührend berücksichtigt wird.

2.

Der EWSA organisiert derzeit Besuche bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Flüchtlingen in elf Mitgliedstaaten (Ungarn, Polen, Malta, Griechenland, Deutschland, Österreich, Slowenien, Bulgarien, Schweden, Italien, Kroatien) und in der Türkei Hilfe anbieten. Diese Länder sind durch den Zustrom von Flüchtlingen am meisten betroffen. Als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft gegenüber den EU-Institutionen werden wir ihr auf europäischer Ebene Gehör verschaffen.

3.

Der EWSA ist der Ansicht, dass es die derzeitige Situation erforderlich macht, dass die EU sichere humanitäre Korridore für Flüchtlinge aus Ländern einrichtet, die von Krieg betroffen und durch Terrorismus bedroht sind, und dass dies in Zusammenarbeit mit den Ländern geschehen muss, in denen sich die meisten Flüchtlinge aufhalten. Darüber hinaus muss ein echtes gemeinsames europäisches Asylsystem geschaffen werden, dass auf unionsweit harmonisierten Verfahren beruht. Dies impliziert einen einheitlichen Asylstatus und die gegenseitige Anerkennung von Asylentscheidungen, gemeinsame Verantwortung und Solidarität, Umsiedlungs- und Neuansiedlungsmaßnahmen sowie eine überarbeitete Dublin-Verordnung. Darüber hinaus braucht es solidarische und tragfähige Systeme des Lastenausgleichs, wobei ein permanenter fairer und verbindlicher Schlüssel zur Verteilung der Schutzsuchenden auf alle Länder der EU der erste Schritt wäre. Wegen der außergewöhnlichen Umstände und im Einklang mit den Stabilitäts- und Wachstumspakt sollten die zusätzlichen Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen nach eingehender Prüfung nicht in die Berechnung der öffentlichen Defizite der Mitgliedstaaten einfließen.

4.

Der EWSA ist darüber hinaus äußerst besorgt über die gegenwärtige Aushöhlung des Schengen-Abkommens und des Grundsatzes der Freizügigkeit, der zu den fundamentalen Errungenschaften zum Nutzen der Unionsbürger gehört. Es ist wichtig, die Außengrenzen der Schengen-Staaten angemessen zu sichern. Der Wiederaufbau von Grenzzäunen und Mauern im Innern trägt jedoch in keiner Weise dazu bei, die EU-Bürger einander näher zu bringen und die Unionsbürgerschaft zu fördern.

5.

Es müssen auch unbedingt Sofortmaßnahmen gegen die Ursachen der derzeitigen Flüchtlingsströme ergriffen werden. Die EU muss in diesen Fragen mit den Herkunfts- und Transitländern zusammenarbeiten, und der EWSA fordert in diesem Zusammenhang, dass die Kommission die Menschenrechte und nicht nur auf Sicherheit ausgerichtete Überlegungen als Grundlage dieser Zusammenarbeit ansieht. Der EWSA unterstreicht außerdem, dass die Zivilgesellschaft in den Dialog mit Drittstaaten einbezogen werden muss.

6.

Der EWSA mit seiner langen Erfahrung in Migrationsfragen, in den letzten Jahren vor allem im Rahmen des Europäischen Integrations-/Migrationsforums, vertritt die Auffassung, dass die Integration und Inklusion von Flüchtlingen in unsere Gesellschaften als ein Prozess in beide Richtungen angelegt sein muss, wobei den Sozialpartnern und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen mit den Regierungen und den lokalen Gebietskörperschaften eine wesentliche Rolle zukommt. Von vorrangiger Bedeutung sollten der Zugang zum Arbeitsmarkt und insbesondere die Anerkennung von Qualifikationen sowie erforderlichenfalls die Berufs- und Sprachausbildung sein. Die Europäische Union sollte eine Reihe von Maßnahmen in den Aufnahmeländern und in der EU auf den Weg bringen, um die Anträge auf Beschäftigung, Ausbildung und Anerkennung von Qualifikationen zu bündeln.

7.

Um europaweit den notwendigen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, die Gleichbehandlung und die sozialen Rechte sowohl der Unionsbürger als auch der Flüchtlinge in Europa in vollem Umfang zu gewährleisten, wobei die schutzbedürftigsten Gruppen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Frühzeitige Investitionen zur Eingliederung der Flüchtlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt sind wichtig, um ihnen zu helfen, ihr Leben neu aufzubauen, und um gleichzeitig potenzielle Konflikte mit der örtlichen Bevölkerung auf ein Minimum zu beschränken und höhere Kosten in der Zukunft zu vermeiden. Eine angemessene Mittelausstattung der kommunalen öffentlichen Dienstleistungen und ein ziviler Dialog zwischen den Flüchtlingen und der örtlichen Bevölkerung sind für die Verwirklichung dieser Ziele ausschlaggebend.

Brüssel, den 10. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/3


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Vereinfachung der GAP

(Sondierungsstellungnahme)

(2016/C 071/02)

Berichterstatter:

Seamus BOLAND

Die Europäische Kommission beschloss am 2. September 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Vereinfachung der GAP

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 18. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember 2015) mit 196 gegen 9 Stimmen bei 26 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA erkennt an, dass es sich die Europäische Kommission zur Priorität gemacht hat, die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) stark zu vereinfachen, und bereits vorgeschlagen hat und auch künftig vorschlagen wird, bestimmte Rechtsakte der Kommission zu vereinfachen, um die Verständlichkeit des EU-Rechts und seine Umsetzung vor Ort zu erleichtern.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eine erhöhte Transparenz und Rechtssicherheit sowie die Reduzierung unnötiger Bürokratie und der dadurch den Landwirten, sonstigen Begünstigten, Erzeugerorganisationen und nationalen Behörden entstehenden Kosten ein unabdingbarer Teil der Vereinfachung sind.

1.3.

Vereinfachungen am System sollten so rasch wie möglich vorgenommen werden und insbesondere den Landwirten Erleichterungen bringen. Sie sollten unbedingt mit einer informations- und bildungsbasierten Unterstützung einhergehen.

1.4.

Der EWSA erkennt die Anstrengungen an, die die Kommission unternommen hat, um die Umsetzung der neuen GAP unter Berücksichtigung der Mitteilungen und Entscheidungen der Mitgliedstaaten zu vereinfachen. Bei dem gegenwärtig verfolgten Ansatz lässt sich die GAP nur schwer für die Landwirte vereinfachen, ohne die strikte Erfüllung der Anforderungen zu beeinträchtigen. Umgekehrt sind diese Anforderungen im Hinblick darauf, dass sie in echte öffentliche Güter und Vorteile für die Umwelt überführt werden sollen, nicht immer schlüssig und gerechtfertigt.

1.5.

Kontrollen und etwaige Geldbußen müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den von den Begünstigten erhaltenen Beträgen, den Gründen für die Nichtbefolgung und ihrer Bereitschaft zur Ergreifung von Abhilfemaßnahmen stehen. Klare Fälle von vorsätzlichem Betrug müssen nach den üblichen Verfahren geahndet werden. Der EWSA empfiehlt, das Missverhältnis zwischen großen Kürzungen der Unterstützung auch bei geringen Verstößen zu vermindern.

1.6.

Bei den Ökologisierungsmaßnahmen müssen unerwartete Faktoren wie Wetterbedingungen, Dürren oder sonstige derartige, die Durchführung der Maßnahmen behindernde Ereignisse einkalkuliert werden.

1.7.

Wenn Fragen wie Dauergrünland Gegenstand von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes sind, ist es wichtig, für die Urteilsbefolgung aufgestellte Regeln so zu konzipieren, dass die Vorschriften auf ein Minimum beschränkt und nicht vervielfacht werden.

1.8.

Das derzeitige Rechtsetzungsverfahren (Verordnung des Rates mit delegierten und Durchführungsrechtsakten) ist extrem kompliziert und für die Bürger kaum verständlich. Daher sollte in einer Studie untersucht werden, wie sich dieses System vereinfachen ließe.

1.9.

Nach der Einführung einer Pauschalregelung für Direktzahlungen sollte das komplexe System der Zahlungsansprüche überprüft werden.

1.10.

Wechselgrünland sollte den Ackerstatus behalten, unabhängig davon wie lange es als Grünland genutzt wird.

1.11.

Die aktuelle Definition eines „aktiven Betriebsinhabers“ darf sich nicht negativ auf die Landwirte auswirken und sollte darauf beruhen, dass beihilfefähige Flächen vom Landwirt landwirtschaftlich genutzt werden.

1.12.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Vereinfachung der GAP ein ehrgeiziges Vorhaben ist, insbesondere da die Agrarpolitik und die Politik für die Entwicklung des ländlichen Raums naturgemäß komplex sind. Die Vereinfachung muss unter anderem mit folgenden allgemeinen politischen Zielen vereinbar sein:

Umwelt;

Ernährungssicherheit;

Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln;

Zusammenhalt;

Schutz der finanziellen Interessen der Union und

Förderung der sozialen Inklusion, der Armutsbekämpfung und der wirtschaftlichen Entwicklung.

1.13.

Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Methode zur Ergreifung von Maßnahmen zur Senkung der Fehlerquoten so gestaltet wird, dass eine gerechte Umsetzung gewährleistet wird.

1.14.

Maßnahmen, die Nachwuchslandwirten den Zugang zu der Regelung für Junglandwirte erleichtern, sollten untersucht und unverzüglich eingeführt werden. Junge Leute, die es in die Landwirtschaft zieht, müssen unterstützt werden.

1.15.

Der EWSA empfiehlt, eine Vorschrift zur Begrenzung eines erhöhten Verwaltungsaufwands zu erlassen, so zum Beispiel eine Vorschrift zur Aufhebung einer geltenden Verordnung, wenn eine neue vorgelegt wird.

2.   Allgemeine Bemerkungen zur GAP

2.1.

Der GAP-Haushalt für den Zeitraum 2014-2020 beläuft sich mit 408 Mrd. EUR auf 38 % des Gesamthaushalts der EU. Die erste Säule entspricht mit 313 Mrd. EUR 77 % der Gesamtausgaben der GAP. Die Direktzahlungen machen mit 294 Mrd. EUR 94 % der ersten Säule aus.

2.2.

In die vorliegende Stellungnahme sind frühere Stellungnahmen des EWSA eingeflossen (1).

2.3.

Die letzte umfassende GAP-Reform von 2013 wurde als Teil des Mitentscheidungsverfahrens vereinbart. Dies bedeutet, dass das Europäische Parlament neben den Landwirtschaftsministern, deren Zahl seit der vorigen großen Reform im Jahr 2003 von 15 auf 28 gestiegen war, als gleichberechtigter Mitgesetzgeber daran teilgenommen hat.

2.4.

Bemerkenswerterweise hat die Kommission anlässlich einer früheren GAP-Reform einen Vorschlag für die Verordnung über Direktzahlungen vorgelegt, deren Bewertung einen um 15 bis 20 % gestiegenen Verwaltungsaufwand ergeben hatte. Gleichzeitig wurden beim Budget Kürzungen vorgenommen.

2.5.

Bereits in den Vorjahren wurden einige Änderungen eingeführt, wobei nicht immer klar zwischen einer Vereinfachung und einem Abbau von GAP-Maßnahmen unterschieden wurde. Beispiele hierfür sind:

Die ehemaligen 21 gemeinsamen Marktorganisationen (GMO) wurden durch eine einheitliche gemeinsame Marktorganisation ersetzt. Dadurch wurden 86 Rechtsakte des Rates aufgehoben und über 1 080 durch ca. 350 verfügende Artikel ersetzt.

Mit dem 2009 durchgeführten „Gesundheitscheck“ wurden mehrere Systeme, wie Zahlungen für Energiepflanzen und Hartweizen, sowie das System für den Absatz von Rahm, Butter und Butterfett entkoppelt und abgeschafft.

Bei den Einfuhren wurden die Lizenzanforderungen von 500 auf 65 reduziert und beim Export verbleiben nur noch 43 Lizenzanforderungen.

Die Kommission hob bei 26 Obst- und Gemüsesorten bestimmte spezifische Vermarktungsnormen auf, wodurch den Marktteilnehmern keine Befolgungskosten mehr entstehen, die nationalen Behörden keine Kontrollen mehr durchführen müssen und weniger landwirtschaftliche Erzeugnisse verschwendet werden.

Die Landwirte sind nicht mehr verpflichtet, zur Beziehung von Direktzahlungen zehn Monate lang landwirtschaftliche Flächen bereitzuhalten, und gewinnen so an Flexibilität bei der Betriebsführung und bei der Reaktion auf Marktentwicklungen.

2.6.

Laut der GD AGRI verteilen sich die Mittel folgendermaßen auf die einzelnen Prioritäten für die Entwicklung des ländlichen Raums:

technische Unterstützung und Wissenstransfer 3 %;

Verbesserung der Rentabilität der landwirtschaftlichen Betriebe 20 %;

Ökosysteme 43 %;

Förderung der Organisation der Nahrungsmittelkette 10 %;

Förderung der Ressourceneffizienz 9 %;

Förderung der sozialen Inklusion 15 %.

3.   Hintergrund

3.1.

Die vorliegende Sondierungsstellungnahme knüpft an die Teilnahme von Kommissionsmitglied Phil Hogan an der EWSA-Plenartagung vom Juli 2015 an, auf der er eine stärkere Vereinfachung der GAP zu seiner wichtigsten Priorität erklärte, sowie an das anschließende Schreiben von Frans Timmermans, Erster Vizepräsident der Europäischen Kommission, der den EWSA um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema GAP-Vereinfachung ersuchte.

3.2.

Nach Ansicht der Kommission wird die Vereinfachung zu einer Verringerung der gestiegenen Komplexität der GAP und des höheren Verwaltungsaufwands führen, den sie den Landwirten, sonstigen Begünstigten und Verwaltungsbehörden verursacht hat, ohne dabei ihre vorrangigen Ziele aus dem Blick zu verlieren.

3.3.

Die Europäische Kommission bringt derzeit eine Bewertung aller Beiträge anhand von drei Leitprinzipien zum Abschluss, die folgendes besagen:

den Strategien der Reform von 2013 ist Rechnung zu tragen;

im Mittelpunkt sollten die Vorteile für die Landwirte und sonstigen Begünstigten stehen und

die solide finanzielle Verwaltung der GAP-Ausgaben darf nicht gefährdet werden.

3.4.

Es liegt auf der Hand, dass durch eine Vereinfachung nicht die Beschäftigung im Agrarsektor bedroht werden darf.

3.5.

Durch die Säule der ländlichen Entwicklung erfüllt die GAP eine wesentliche Funktion im Hinblick auf soziale Inklusion, Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung. Sie nutzt der gesamten Bevölkerung ländlicher Gebiete. Der EWSA begrüßt ausdrücklich die in Artikel 5 Absatz 6 Buchstaben a bis c der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) benannten Schwerpunkte: Die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung der lokalen Entwicklung und die Förderung des Zugangs zu, sowie des Einsatzes und der Steigerung der Qualität von, Informations- und Kommunikationstechnologien. Demzufolge soll eine Vereinfachung der GAP Schritte setzen, die sicherstellen, dass entsprechende Gelder einfach und ohne bürokratische Hürden zur Verfügung gestellt werden.

3.6.

Die Kommission hat einen Prozess eingeleitet, der auch eine umfassende Überprüfung aller bestehenden Rechtsvorschriften beinhaltet, um Bereiche zu ermitteln, in denen Anpassungen und Verbesserungen möglich sind. Sie hat bereits Beiträge von den Mitgliedstaaten, Mitgliedern des Europäischen Parlaments und landwirtschaftlichen Organisationen aus der gesamten EU erhalten. Bereits jetzt umfassen diese Vorschläge mehr als 1 500 Seiten. Eine Prüfung der Unterlagen zeigt, dass sich die Vorschläge in zwei große Kategorien unterteilen lassen:

Abbau der Bürokratie für die Landwirte und

Schutzmaßnahmen zur Erreichung von Ökologisierungszielen.

3.7.

Der EWSA nimmt die vom Agrarministerrat und vom Ratsvorsitz erstellte Prioritätenliste für Vereinfachungsmaßnahmen zur Kenntnis. Diese Liste könnte als Grundlage für Vorschläge der Kommission dienen.

3.8.

Die Kommission stellt klar, dass die einzelnen Mitgliedstaaten über erheblichen Spielraum bei der Wahl ihrer eigenen Methode zur Verwaltung und Überwachung der GAP verfügen und sich eine Vereinfachung mittels einer vernünftigen Auslegung erzielen lässt. Dennoch sollten die Mitgliedstaaten versuchen, durch den Austausch bewährter Verfahrensweisen den Vereinfachungsprozess zu verbessern.

4.   Vereinfachungsansätze

4.1.

Es ist allgemein anerkannt, dass eine Vereinfachung erforderlich ist, damit die Umsetzung der GAP nicht unnötig verkompliziert wird.

4.2.

Die Kommission beabsichtigt, Vorschläge für ökologische Vorrangflächen (ÖVF) auf einem Hof, angrenzende ÖVF, die Kompensierung von ÖVF im Falle einer falschen Anmeldung sowie für das System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen (LPIS) vorzulegen.

4.3.

Sie will das bei den Direktzahlungen (insbesondere in Bezug auf die Ökologisierung), der Entwicklung des ländlichen Raums, der Obst- und Gemüseordnung und der Qualitätspolitik bestehende Vereinfachungspotenzial prüfen.

4.4.

Außerdem legt die Kommission ein Paket mit Direktzahlungselementen vor, z. B. für Junglandwirte, die gekoppelte Stützung und das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem (InVeKoS). Diese Änderungen sollten möglichst ab dem Antragsjahr 2016 oder spätestens bis zum Antragsjahr 2017 wirksam werden.

4.5.

Die für Dauergrünland geltenden Regeln führen zu Problemen bei der Einstufung von Wechselgrünland als Ackerland oder Dauergrünland. Die Beibehaltung des Status des (als Ackerland eingestuften) Wechselgrünlands sollte selbst dann möglich sein, wenn ein Landwirt beschließt, diese Flächen fünf Jahre lang oder länger kontinuierlich als Grünland zu nutzen. Hierdurch ließe sich vermeiden, dass Landwirte ihr Land umpflügen, nur damit es nicht zu Dauergrünland wird. Betroffene Flächen könnten dadurch länger in der ökologisch vorteilhaften Grünlandnutzung bleiben.

4.6.

Hinsichtlich der Marktmaßnahmen hat die Kommission ehrgeizige Vereinfachungen im Hinblick auf die Ausarbeitung der neuen delegierten Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte eingeleitet, um die auf Kommissionsebene geltenden Vorschriften an die neue Verordnung des Rates über eine einheitliche gemeinsame Marktorganisation (GMO-Verordnung) anzupassen. Dies dient nicht nur dazu, die Zahl und Komplexität dieser Vorschriften drastisch zu reduzieren, sondern auch eine echte Vereinfachung für Landwirte und Marktteilnehmer gleichermaßen herbeizuführen.

4.7.

Die Kommission hat vor Kurzem zwei passende Änderungen an den geltenden Vorschriften vorgenommen, und zwar mit:

einer Durchführungsverordnung, mit der für das Antragsjahr 2015 die Frist für die Einreichung von Beihilfeanträgen auf Direktzahlungen und Förderung im Rahmen bestimmter Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums auf den 15. Juni 2015 verschoben wird, sodass Landwirte und nationale Behörden mehr Zeit für das Stellen der Anträge erhalten, und

einer delegierten Verordnung, mit der die Vorschriften für Direktzahlungen geändert werden, indem die bei der freiwilligen gekoppelten Stützung für Tiere zu erfüllenden Anspruchsvoraussetzungen flexibler gestaltet werden, womit der Forderung zahlreicher Mitgliedstaaten, Parlamentsmitglieder und Interessenträger nachgekommen wurde.

4.8.

Die Kommission plant, eine Reihe von Vorschlägen für Änderungen zu unterbreiten, die im Rahmen der geltenden Leitlinien vorgenommen werden können. Beispiele hierfür sind:

Der Anbau reiner Leguminosen (z. B. Luzerne) soll nach fünf Jahren nicht automatisch als Dauergrünland gelten.

Die Zeit, in der Brachland als ÖVF deklariert wird, und die Zeit, in der Flächen einer Agrarumweltmaßnahme unterliegen, wird bei der Bemessung des Fünfjahreszeitraums für Dauergrünland nicht mitgerechnet.

Die Kommission wird einige Vorschläge in Bezug auf Direktzahlungen vorlegen.

Mit einem zweiten Paket, das die Kommission vorschlagen will, sollen Elemente abgedeckt werden, die nicht die Ökologisierung betreffen, wie zum Beispiel die Regelung für Junglandwirte, die freiwillige gekoppelte Stützung und gewisse Aspekte des InVeKoS. Diese Änderungen sollen möglichst noch im Antragsjahr 2016 oder spätestens im Folgejahr in Kraft treten.

Gemäß der Zusage der Kommission vom April 2014 sollen 2016, nach dem ersten Anwendungsjahr, die Ökologisierungsbestimmungen erneut geprüft werden. Dies soll 2016 in ein weiteres Maßnahmenpaket münden, das im Folgejahr (Antragsjahr 2017) in Kraft treten würde.

Die Kommission wird das Vereinfachungspotenzial bei der Entwicklung des ländlichen Raums prüfen: Erstellung und Genehmigung der Entwicklungspläne für den ländlichen Raum, Doppelfinanzierungen, Kontrollen, vereinfachte Kostenoptionen und Berichterstattung.

5.   Vereinfachungsfragen

5.1.

Die Ökologisierung der Direktzahlungen bildet nun einen zentralen Bestandteil der GAP-Reformen. Die Landwirte stellen sich zwar auf diese Veränderungen ein, sind jedoch besorgt, dass bestimmte Maßnahmen nicht flexibel genug sein könnten, um auf durch das Wetter oder Marktpreisschwankungen bedingte unerwartete Umstände zu reagieren.

5.2.

Offenbar werden unangekündigte Kontrollen erfolgen. Jedoch werden diese Kontrollen bestenfalls als große Unannehmlichkeit empfunden und sind schlimmstenfalls eine enorme psychische Belastung für die Landwirte. Es ist offenkundig, dass es die Fairness verlangt, den Landwirten Kontrollen rechtzeitig anzukündigen.

5.3.

Da die für Verstöße wegen Nichtbefolgung verhängten Geldbußen ungewöhnlich hoch sein werden, befürchten die Landwirte, dass sie keine Unterstützung erhalten werden, insbesondere in Form angemessener Informationen. Hier müssen die Mitgliedstaaten die am stärksten von den Änderungen betroffenen Landwirte entsprechend informieren, insbesondere sozial oder wirtschaftlich benachteiligte Landwirte.

5.4.

Der geltende Rechtsrahmen für die Definition des Begriffs „aktiver Betriebsinhaber“ ist unzureichend und wird den Verwaltungsaufwand vergrößern und erschweren. Daher besteht die Gefahr, dass Landwirte, die eine landwirtschaftliche Tätigkeit ausüben, ausgeschlossen und diejenigen, die keine solche Tätigkeit ausüben, eingeschlossen werden.

5.5.

Die Landwirte sind derzeit noch damit beschäftigt, mit der Ökologisierung — die sich erst in ihrem ersten Jahr befindet — und den daraus resultierenden drei Landbewirtschaftungsmethoden überhaupt zurechtzukommen. Die Diversifizierung der angebauten Kulturpflanzen, die Erhaltung von Dauergrünland und die Bereitstellung von 5 % der Fläche für ÖVF sind die drei Kriterien der Reform, die die Landwirte erfüllen müssen, um Anspruch auf Förderung zu haben.

5.6.

Es ist nicht hinnehmbar, dass Landwirte häufig für Fehler geradestehen müssen, die auf behördlicher Ebene gemacht werden. Insbesondere Landwirte mit geringem Einkommen, die auf diese Einkommensquelle angewiesen sind, geraten in die Situation, dass ihr Lebensunterhalt gefährdet ist.

5.7.

Ein wiederkehrendes Thema bei den meisten europäischen Berufsverbänden ist die „Verhältnismäßigkeit der Sanktionen“.

5.8.

Landwirte mit weniger als 15 Hektar oder solche, die Zahlungen von weniger als 10 000 EUR erhalten, sind der Ansicht, dass die Einhaltung der Auflagen mit einer leichten Kontrolle sichergestellt und weitere Kontrollen nur dann durchgeführt werden sollten, wenn es im Vorfeld Belege für einen schweren Verstoß gibt.

5.9.

Die durch das 2014 vom Gerichtshof der Europäischen Union gefällte Urteil aufgeworfenen Fragen in Bezug auf Dauergrünland müssen gelöst werden. In dem Rechtsstreit wurden viele problematische Fälle von Pufferstreifen (Ackerland), landwirtschaftlich nutzbarem Grünland, stillgelegten Ackerflächen und im Rahmen von Agrarumweltmaßnahmen bewirtschafteten Ackerflächen aufgezeigt, bei denen die Landwirte befürchteten, dass diese Flächen aufgrund der Fünfjahresdefinition offiziell zu Dauergrünland erklärt werden könnten.

5.10.

Wo Landwirtschaftsorganisationen eine Vereinfachung, größere Flexibilität und Verhältnismäßigkeit für erforderlich halten, sehen Umweltgruppen echte Risiken. Aus Sicht des EWSA ist dies darauf zurückzuführen, dass es nicht gelungen ist, das Ziel einer Verbesserung der Umweltqualität mit dem der Nahrungsmittelerzeugung in Familienbetrieben zu vereinbaren.

5.11.

Hinsichtlich der horizontalen Vorschriften könnte bei der Intensität der Kontrollen ein verhältnismäßigerer und stärker risikoorientierter Ansatz verfolgt werden, bei dem den jeweiligen Risiken und Beträgen, der Kosteneffizienz und den verschiedenen angestrebten Zielen und Ergebnissen Rechnung getragen wird.

5.12.

Mehrfachkontrollen sollten vermieden werden. Im Falle der Nichterfüllung der Auflagen, insbesondere bei geringfügigen Verstößen, sollten die Kürzungen und Verwaltungssanktionen verhältnismäßig sein. Darüber hinaus sollte:

die rechnerische Ermittlung dieser Sanktionen vereinfacht werden;

auch das Cross-Compliance-Kontroll- und -Sanktionssystem auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden;

die Möglichkeit geprüft werden, nach Abschluss der Verwaltungskontrollen Zahlungen, einschließlich Vorauszahlungen, zuzulassen;

die Methode für die Berechnung der Fehlerquoten vereinheitlicht werden und

ein höheres Maß an Toleranz bei geringfügigen, leicht korrigierbaren Verstößen gezeigt werden.

5.13.

Der Schwerpunkt muss auf dringend erforderlichen Schritten liegen, wie der Verbesserung der Leitlinien, der Bereitstellung technischer Unterstützung und der Förderung der Zusammenarbeit und des Austauschs bewährter Verfahren unter den Behörden.

5.14.

Nachwuchslandwirte haben Schwierigkeiten beim Zugang zu der Regelung für Junglandwirte. Hemmnisse, die den Zugang unnötig erschweren, dürften junge Leute vom Einstieg in die Landwirtschaft abhalten und müssen beseitigt werden. Junge Leute, die es in die Landwirtschaft zieht, müssen unterstützt werden.

5.15.

Etwaige Änderungen des aktuellen Rechtsrahmens sind mit genügend Vorlauf zu vereinbaren, damit die Landwirte adäquat für die Aussaat planen können. Insbesondere sollten Änderungen, die Anträge für 2017 betreffen, im Sommer 2016 veröffentlicht werden.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Modalitäten für die Durchführung der GAP-Reform (Informationsbericht), NAT/664; Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 89). Die GAP bis 2020 (ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 116).

(2)  Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 (ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 487).


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Neue Ziffer nach Ziffer 1.5

Eine neue Ziffer einfügen und die Nummerierung entsprechend anpassen:

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, dass Kontrollen auf einem Hof nur nach vorheriger Ankündigung an den Landwirt mit einer angemessenen Frist von mindestens vierzehn Tagen erfolgen.

Begründung

Unangekündigte Kontrollen, oft zu einer Zeit im Jahr, wenn am meisten zu tun ist, können die Gesundheit und Sicherheit des Landwirts gefährden und ihm Stress verursachen, wenn er eine wichtige Arbeit liegenlassen muss, wie z. B. beim Kalben, bei der Ernte usw.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

84

Nein-Stimmen:

104

Enthaltungen:

35

Neue Ziffer nach Ziffer 1.6

Eine neue Ziffer einfügen und die Nummerierung entsprechend anpassen:

Gegenüber kleineren Verstößen, die eine Nichteinhaltung geringen Umfangs darstellen und leicht zu beheben sind, sollte ein höheres Maß an Toleranz gelten.

Begründung

Manche Verstöße sind ihrem Wesen nach sehr geringfügig und können leicht abgestellt werden, und in vielen Fällen haben sie insgesamt keine Auswirkung auf die Produktionsleistung des Betriebs.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

75

Nein-Stimmen:

116

Enthaltungen:

40


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hochschulen engagieren sich für Europa“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 071/03)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. März 2015 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Hochschulen engagieren sich für Europa

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 143 Stimmen bei einer Gegenstimme und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1.

Die Zukunft Europas hängt in starkem Maße von der Verfügbarkeit des neuesten Wissens und talentierter Menschen in einer offenen und wissensbasierten Gesellschaft ab. Dabei kommt den Hochschulen eine wesentliche Rolle zu. Handelt jeder Mitgliedstaat im Alleingang, wird das Ergebnis stets suboptimal ausfallen.

1.2.

Der EWSA betont, dass die Mitgliedstaaten und die EU im Hinblick auf die Schaffung eines Europäischen Raums der Hochschulbildung ihre Zuständigkeiten teilen und genau aufeinander abstimmen sollten. Zudem kann das Konzept einer gesellschaftlich verankerten und unternehmensorientierten Universität (civic and entrepreneurial university) sehr hilfreich für die Förderung der Qualität der Hochschulbildung in Europa sein.

1.3.

Der aktuelle Stand der Dinge zeigt, dass ungeachtet gewisser Fortschritte weiterhin zahlreiche Hemmnisse und Beschränkungen bestehen, die auch eine wirksame Beteiligung der EU behindern. Kulturelle Unterschiede, Einzelinteressen, mangelnde finanzielle Ressourcen und demografische Entwicklungen machen eine zeitgemäße Reaktion auf dynamische Herausforderungen wie die Globalisierung, neue Technologien und Mobilität häufig schwierig.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU-Institutionen die Modernisierung der europäischen Hochschulbildung sowohl im Bereich der Lehre als auch in Bezug auf Forschung und Innovation stimulieren und beschleunigen müssen. Hochschulen haben einen eigenständigen Auftrag, der dem öffentlichen Interesse dient. Der Grundsatz der Subsidiarität und die vielgestaltige Universitätslandschaft lassen kein für alle gleiches Universalkonzept zu. Eine strategische Steuerung und Unterstützung auf EU-Ebene kann jedoch entscheidend zur Verbesserung der Rahmenbedingungen beitragen.

1.5.

Entscheidend ist, dass die Europäische Kommission den Prozess der Umgestaltung der europäischen Hochschulen zu wichtigen Motoren für Wachstum, sozialen Zusammenhalt und das Wohlergehen der Gesellschaft fördert und aktiv unterstützt.

1.6.

In den nationalen Reformprogrammen und den länderspezifischen Empfehlungen sollte ausdrücklich auf die Modernisierung der Hochschulbildung hingewiesen werden.

1.7.

Die EU sollte ihr Engagement für das Hochschulwesen im Rahmen der Strategie Europa 2020 (einschließlich des Europäischen Semesters), von Erasmus+ und Horizont 2020, der Regional- und Kohäsionsfonds sowie durch Erleichterungen der grenzüberschreitenden Mobilität von Studierenden und Lehrkräften unter Beweis stellen.

1.8.

Neben Diskussionen und Projekten in und zwischen Ländern und Hochschulen sollte es strategische Konsultationen auf EU-Ebene geben, um die Qualität der europäischen Hochschuleinrichtungen zu fördern. Nachahmenswerte Vorgehensweisen sollten systematisch verbreitet werden.

1.9.

Der EWSA betont erneut, dass die Hochschuleinrichtungen wirkliche Autonomie und Transparenz gewährleisten und Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen müssen, da dies unabdingbare Voraussetzungen für Modernisierung sind (1). Ohne angemessene und ausreichende Finanzmittel können diese Voraussetzungen allerdings nicht geschaffen werden.

1.10.

Die Umgestaltung der Hochschulen ist in Zeiten tiefgreifender sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen ein langfristiger und aufwendiger Prozess. Hochschulen müssen eine offene Haltung gegenüber den Bedürfnissen der Gesellschaft entwickeln und aktiv auf andere Interessenträger zugehen.

1.11.

Der EWSA begrüßt das Konzept der gesellschaftlich verankerten Universität und das Modell der „Dreifach-Helix“ und „Vierfach-Helix“ (2). Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Öffnung der Hochschulbildung, der Erweiterung der Zugangsmöglichkeiten, dem regionalen Kontext, der Einbeziehung von Ideen aller (potenziellen) Interessenträger in die Programme sowie einer intelligenten, zeitgemäßen Beziehung zwischen Forschung und Bildung.

1.12.

Die gesellschaftlich verankerte Universität weist eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der unternehmensorientierten Universität auf. Sie betont ihren eigenständigen Auftrag und ist offen für den Arbeitsmarkt und die soziale Relevanz von Ausbildungsprogrammen sowie von Forschung und Innovation. Plattformen für Interessenträger (3) können sich bei der gemeinsamen Festlegung von Anforderungen als sehr hilfreich erweisen. ÖPP-Strukturen zwischen Hochschulen und gesellschaftlichen Gruppen jeder Art können ebenfalls von Vorteil sein.

1.13.

Das Niveau der Lehre und eine angemessene Vorbereitung auf die Arbeitswelt sollten ungeachtet der Spezialisierung einer (Spitzen-)Universität weiterhin eine Priorität sein. Exzellenz in der Lehre muss ebenfalls belohnt werden.

1.14.

Die Kommission sollte eine impulsgebende Rolle bei grenzüberschreitenden und sich gegenseitig bereichernden Projekten zwischen Hochschulen, Lehrkräften und Studierenden, bei der Förderung der Weltoffenheit sowie ggf. bei der Entwicklung von Instrumenten wie U-Multirank für Studierende und andere Interessenträger spielen.

2.   Aktueller Stand

2.1.

Die erheblichen Unterschiede zwischen den Universitäten (4) in Europa sind auf die sehr verschiedenen Traditionen und Kulturen zurückzuführen. 1999 setzte der Bologna-Prozess eine erfolgreiche Entwicklung zur Modernisierung der Lehrpläne in Gang.

2.2.

Seit 2008 zwingt die Finanz- und Wirtschaftskrise die Universitäten, ihre Tätigkeiten noch eingehender zu bewerten, nach neuen Finanzierungswegen zu suchen und nach Wirtschaftlichkeit zu streben. Dies erhöht den Wettbewerb um knappe Ressourcen. Der Mangel an Finanzmitteln stellt für viele Universitäten ein echtes Problem dar und behindert den Modernisierungsprozess.

2.3.

Der tiefe und dynamische Wandel, den die Gesellschaft als Folge der Globalisierung und durch neue Technologien erfährt, geht auch an den Universitäten nicht spurlos vorüber. Hochschulwesen, Forschung und Innovation sind das Kernstück eines nachhaltigen Wirtschaftsaufschwungs, finanzielle Zwänge und der Transformationsprozess bringen jedoch zugleich deutliche Mängel auf den Märkten zutage.

2.4.

Ein wesentlicher Aspekt ist der Mangel an Autonomie, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Zwischen den Mitgliedstaaten bestehen hier allerdings gravierende Unterschiede (5).

2.5.

Bewährte Verfahren zeigen, dass eine Überarbeitung von Strukturen und Lehrplänen sowie mehr Offenheit und Zusammenarbeit die Qualität und die Leistung steigern.

2.6.

Hochschulbildung sollte heutzutage für alle begabten Menschen zugänglich sein. Ein zunehmender Zusammenhang zwischen dem Zugang zu Hochschulbildung und dem sozioökonomischen Hintergrund gefährdet den Grundsatz der Chancengleichheit. Ferner garantiert Hochschulbildung in zahlreichen Ländern keineswegs einen sicheren Arbeitsplatz. In der Krise hat ein Hochschulabschluss junge Menschen in keiner Weise vor Arbeitslosigkeit bewahrt.

2.7.

Demografische Entwicklungen wirken sich nachteilig auf (zunehmend) weniger bevölkerte und weniger wettbewerbsfähige Gebiete aus. Diese Entwicklung hat häufig gravierende Folgen für die Gewinnung von Lehrkräften und Studierenden und deren Qualität. Einige Länder sehen sich einer Abwanderung der besten Köpfe gegenüber. Neue private Universitäten in den betroffenen Ländern, denen es an einer angemessenen Qualitätssicherung fehlt, erzielen unbefriedigende Ergebnisse. Dies wird durch eine geringe Finanzausstattung des traditionellen Hochschulwesens verschärft.

2.8.

Der Wunsch nach engeren Beziehungen zwischen den Universitäten und der Gesellschaft ist überall Anlass für Diskussionen über deren gesellschaftliche Rolle sowie über Allianzen mit anderen Interessenträgern wie Unternehmen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft.

2.9.

Es besteht häufig ein schmerzlich spürbares Missverhältnis zwischen den Qualifikationen der Hochschulabsolventen und den Anforderungen des Arbeitsmarkts, zwischen Angebot und Nachfrage. Die Wirtschaft klagt über einen Mangel an Fachkräften, insbesondere in technischen Berufen und im IKT-Bereich. Aufgrund des raschen Wandels der globalen Wissensbasis bedarf es heute mehr denn je der richtigen Qualifikationen für das 21. Jahrhundert, damit die Hochschulabsolventen ihr Wissen systematisch auf den neuesten Stand bringen können.

2.10.

Darüber hinaus zwingen die neuen Technologien und die Digitalisierung das Hochschulwesen dazu, vorhandene Methoden anzupassen und gezielt abzustimmen. Neue Formen des Lehrens und Lernens wie ein auf die Studierenden ausgerichtetes Lernen und Online-Lernen setzen sich durch. Dem klassischen Universitätscampus wird jedoch weiterhin eine wesentliche Rolle für die lokalen und regionalen Gemeinschaften als Begegnungsstätte für Bildung, Forschung und Vernetzung zukommen.

2.11.

Studierende und Wissenschaftler/Lehrkräfte werden zunehmend weltweit mobil. Im oberen Segment wird ein ständiger „Kampf um Talente“ geführt, die generelle Tendenz ist jedoch umfassender. Die Qualität und die Attraktivität europäischer Universitäten sind maßgebliche Faktoren, wenn es darum geht, Studierende aus dem Ausland zu gewinnen, einen Beitrag zu Bildung und Forschung zu leisten und dauerhafte Netzwerke zu bilden.

2.12.

Beim Versuch, ihre Leistung zu steigern, legen (Spitzen-)Universitäten den Schwerpunkt oftmals auf Forschung als ihre wichtigste Aufgabe, und die Finanzvorschriften fördern dies. Liegt der Hauptschwerpunkt auf der Forschung, führt dies tendenziell zu einer Störung eines ausgewogenen Verhältnisses und der optimalen Interaktion zwischen Forschung und Lehre.

3.   Umbildung und Öffnung der Universitäten

3.1.

Die Entwicklung von Universitäten zu Wissenszentren in der Gesellschaft als integraler Bestandteil des Ökosystems der EU bietet Anlass für eine Diskussion über die wesentlichen Merkmale des Hochschulwesens, auf die sich die tägliche Praxis stützen muss.

3.2.

Ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze scheint ein gemeinsamer Trend darin zu bestehen, das Hochschulwesen für die Meinungen und Interessen der öffentlichen und privaten Interessenträger und der Studierenden sowie für Themen wie die gegenseitige Bereicherung von Forschung und Bildung und die stärkere Zusammenarbeit und Internationalisierung zu öffnen.

3.3.

Für die meisten Universitäten ist dies ein langfristiger und aufwendiger Prozess. Großen, traditionsbewussten Einrichtungen fallen solche Veränderungen nicht leicht. Darüber hinaus behindern in vielen Ländern bestehende (politische) Verfahren für die Ernennung von Rektoren/Präsidenten sowie von Lehrkräften und Forschern die nötigen Veränderungen. In solchen Fällen sind unabhängige Ansätze von und in Universitäten selten. Nach Ansicht des EWSA sollten die Öffnung des Hochschulwesens und die Sicherstellung von Aufgeschlossenheit höchste Priorität im Hochschulwesen in ganz Europa haben.

3.4.

Spitzenforschung und besser ausgebildete, hoch qualifizierte Menschen sind unabdingbar für die Widerstandsfähigkeit einer jeden Volkswirtschaft. Die Krise wirkt sich negativ auf die Ergebnisse in Wissenszentren aus — dabei weisen Analysen einen direkten Zusammenhang zwischen herausragender Forschung und Bildung einerseits und Wirtschaftsleistung andererseits nach.

3.5.

Die Universitäten zielen nicht mehr auf die Oberschicht der Gesellschaft ab. Ihre Zahl und Größe haben enorm zugenommen. Die Universitätslandschaft ist weitaus vielfältiger geworden: mehr Kategorien, insbesondere Fachhochschulen neben Forschungsuniversitäten, regionale Hochschuleinrichtungen neben nationalen und internationalen Universitäten, mehr Fakultäten, insbesondere in den Bereichen Technik und Wirtschaft, usw.

3.6.

Die Erweiterung der Zugangsmöglichkeiten zur Hochschulbildung ist zu Recht in ganz Europa eine politische Priorität. In der EU sollten 40 % der kommenden Generation die Möglichkeit haben, einen Hochschulabschluss zu erreichen. Außerdem unterscheiden sich Lehrpläne, Lernwerkzeuge (Einsatz moderner Medien im integrierten Lernen usw.), die Beziehung zwischen Forschung und Bildung sowie andere Aspekte wie Internationalisierung und öffentliches Interesse gänzlich von früher. Entsprechend müssen die Managementmethoden angepasst werden.

3.7.

Autonome, rechenschaftspflichtige und transparente Universitäten sollten in die Lage versetzt werden, innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der von der Basis ausgehende Impulse und Wettbewerb als wichtigen Beitrag zu einer breiteren Beteiligung und intelligenten Spezialisierung fördert, möglichst frei zu handeln.

3.8.

Eine offene Haltung, auch das Zugehen auf andere Interessenträger, sollte die Universitäten als Triebfedern für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt stützen.

3.9.

Die Konzepte der gesellschaftlich verankerten und der unternehmensorientierten Universität können sich als überaus nützlich für die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der örtlichen und regionalen Gemeinschaft erweisen. Zur Umsetzung dieser Konzepte braucht es sowohl Ehrgeiz als auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Universitäten, ihren Interessenträgern und den Behörden.

4.   Die gesellschaftlich verankerte Universität

4.1.

Der EWSA begrüßt das Konzept der gesellschaftlich verankerten Universität (civic university) (6), das über Lehre, wissenschaftliche Forschung und Wissen hinausgeht. Eine gesellschaftlich verankerte Universität bindet die Öffentlichkeit und die Gesellschaft, in die sie eingebettet ist, auf allen Ebenen aktiv ein. Jede Universität kann ihrer Leistung eine bürgerschaftliche Dimension hinzufügen, indem sie sowohl die Rolle einer intellektuell produktiven Sendestation für die Gemeinschaft als auch die einer Empfangsstation übernimmt, die andernorts entstandene herausragende Ideen in ihrem eigenen spezifischen Kontext umsetzt.

4.2.

Derartige Prozesse finden in ganz Europa statt — durch nachfrageorientierte Forschung, problemorientiertes Lernen, Zusammenarbeit zwischen Universitäten und örtlichen Gemeinschaften, Schulen, Krankenhäusern, Unternehmen usw. Es ist jedoch noch immer ein erhebliches Maß an Kapazitätsaufbau erforderlich (7).

4.3.

Auf regionaler Ebene können die Universitäten einen ganzheitlichen Ansatz unterstützen und bei der Zusammenführung relevanter Interessenträger eine führende Stellung einnehmen, um gemeinsame Herausforderungen anzugehen. Eine gut konzipierte gesellschaftliche Verankerung einer Universität kann ferner eine wichtige Rolle bei der Förderung der Leistung von in Schwierigkeiten befindlichen Regionen spielen.

4.4.

Die Ausgestaltung des Modells wird von Universität zu Universität unterschiedlich sein. Neben den Universitäten, die unmittelbar von benachteiligten Gebieten mit schwacher Wirtschaftsleistung und/oder demografischen Schwierigkeiten betroffen sind, gelten die Kriterien für die Einstufung einer Universität als „gesellschaftlich verankert“ für eine weitaus größere Gruppe. Bei europäischen Weltklasse-Universitäten und jenen, die einen solchen Status anstreben, stößt bürgerschaftliches Engagement zu Recht auf immer mehr Interesse.

4.5.

Die gesellschaftlich verankerte Universität stellt ein Modell für Universitäten dar, die eine Alternative zu veralteten Managementmethoden oder traditionellen Ansätzen suchen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn junge Talente aufgefordert werden sollen, einen Beitrag zur nationalen oder regionalen Wirtschaft zu leisten. Die Öffnung und Modernisierung muss durch eine vertiefte Zusammenarbeit mit den relevanten Interessenträgern in allen Regionen vorangetrieben werden.

4.6.

In den Erklärungen von Lund und Rom (8) verfolgte der jeweilige Ratsvorsitz zu Recht einen ähnlichen Ansatz und betonte, dass sich die Forschung auf die großen Herausforderungen unserer Zeit konzentrieren und dabei starre thematische Ansätze überwinden und Interessenträger aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor einbeziehen müsse. Wenn es um die Gestaltung des Europäischen Forschungsraums und der Innovationsunion geht, ist verantwortungsbewusste Forschung und Innovation ein zentrales Ziel für alle relevanten politischen Maßnahmen und Aktivitäten. Diesen Grundsätzen wird auch im Rahmen von Horizont 2020 Priorität eingeräumt.

4.7.

Neben dem „Dreifach-Helix“-Modell, das eine Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Privatwirtschaft und Staat vorsieht, gibt es das „Vierfach-Helix“-Modell, das auch lokale Gemeinschaften und die Zivilgesellschaft miteinbezieht. Es zeichnet sich durch starke Ortsverbundenheit, Zielgerichtetheit, Transparenz sowie Rechenschaftspflicht gegenüber den involvierten Akteuren und der breiteren Öffentlichkeit aus. Dies bietet der Zivilgesellschaft neue Möglichkeiten der Teilhabe.

4.8.

Eine spezifische Gruppe, der Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, sind die ehemaligen Studierenden: die Alumni. In Europa muss mehr unternommen werden, um sie in die Verbesserung der Leistung und des Rufs von Universitäten einzubeziehen. Europa könnte hier dem Beispiel gängiger Praxis in den USA folgen.

4.9.

Alumni sollten als integraler Bestandteil der universitären Gemeinschaft betrachtet werden. Sie können Botschafter für eine Universität auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene sein sowie treibende Kräfte in der Diskussion über Lehrpläne, was insbesondere in Zeiten dynamischer Veränderungen sehr sinnvoll ist. Sie können einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die Ausgewogenheit zwischen Forschung und Bildung sowie zwischen Forschung und Markt leisten. Ein spezifisches Ziel könnte es sein, Alumni als Betreuer für junge Akademiker, insbesondere Studierende der ersten Generation, einschließlich derjenigen mit Migrationshintergrund, einzusetzen.

4.10.

Durch eine höhere Mobilität von Alumni entstehen erfolgreiche internationale Netzwerke, die ihren Universitäten und der Wirtschaft gleichermaßen von Nutzen sein können.

5.   Die unternehmensorientierte Universität

5.1.

Die gesellschaftlich verankerte Universität weist eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der unternehmensorientierten Universität auf. Universitäten sind keine Unternehmen. Sie haben einen eigenständigen Auftrag im öffentlichen Interesse, vor allem in den Bereichen Bildung, (Spitzen-)Forschung und Nutzung von Wissen durch die Gesellschaft als Ganzes. Die unternehmensorientierte Universität ist auf zwei Schwerpunkte ausgerichtet: einerseits auf die Lenkung und Verwaltung der Institution und andererseits auf die Förderung der unternehmerischen Fähigkeiten und der Eigeninitiative der Studierenden.

5.2.

Die Arbeitsmarktrelevanz von Lehrplänen und die gesellschaftliche Relevanz von Forschung und Innovation sind sehr wichtig. Kommunikation und Interaktion mit dem Privatsektor auf nationaler/regionaler Ebene sind von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen.

5.3.

Die Scheuklappenmentalität ist nicht mehr sinnvoll. Die technologische Dynamik und gesellschaftliche Herausforderungen erfordern eine kontinuierliche Anpassung. Die Nachfrageseite zeigt sich zunehmend kompliziert und fordert inter- und transdisziplinäre Kompetenzen sowie Offenheit für jede neue Entwicklung. Neben fachlichen Qualifikationen erfordert dies auch die Weiterentwicklung von Kompetenzen. Plattformen der Interessenträger, die in Verbindung zu Hochschulen stehen, können sich bei der gemeinsamen Festlegung von Anforderungen als sehr nützlich erweisen. Der Lehrkörper muss auf diesen dynamischen Kontext angemessen vorbereitet sein. Außerdem sollte unternehmerische Kompetenz (9) EU-weit in allen Bereichen der Hochschulbildung gelehrt werden.

5.4.

Auch ÖPP-Strukturen zwischen Universitäten und gesellschaftlichen Gruppen, wie der Wirtschaft und dem Gesundheitssektor, können von Vorteil sein.

5.5.

Ein für die Universitäten wertvolles Vorhaben wäre die Schaffung von „Bildungswertschöpfungsketten“ in Zusammenarbeit mit einzelnen Branchen. Damit würden zwei Hauptziele verfolgt:

die Erleichterung von Verbindungen und des Informationsaustauschs mit Wirtschaftszweigen, um die Lernergebnisse im Interesse des einzelnen Absolventen und der Wirtschaft zu verbessern;

die Bereitstellung von Ressourcen und Finanzmitteln bei den verschiedenen Akteuren der „Bildungskette“, beginnend bei der Kommission und den nationalen Ministerien bis hinunter zu den Schulbehörden und letztlich den Studierenden. Parallel dazu sollten die gewerblich-technische und die Lehrlingsausbildung gefördert werden.

5.6.

Auch Leistungsvereinbarungen, wie sie in einigen Mitgliedstaaten angewendet werden, tragen zu einer stärkeren Spezialisierung der Hochschulen bei, schärfen ihr Profil und verbessern ihren Ruf. Sie können eine breite internationale und auch regionale Ausrichtung haben und die Ambitionen und die Qualität von Programmen und Studierenden stärken. Dazu ist ein konsequentes Engagement auf beiden Seiten (Regierungen und Hochschulwesen) von entscheidender Bedeutung.

5.7.

Innovation sollte sowohl Forschung und Bildung als auch die Governance betreffen. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Verbesserung aus der Praxis heraus ist HEInnovate, ein von der Europäischen Kommission entwickeltes unabhängiges Online-Selbstbewertungsinstrument (10), das viel umfassender genutzt werden sollte.

5.8.

Für Studierende, die mehr Mobilität anstreben, werden international präsentierte Universitätsprogramme und ein breites Spektrum konkurrierender Online-Kurse angeboten. Vergleichbarkeit und Transparenz sollten den Wettbewerb und die Konvergenz des Leistungsniveaus stärken. Transparenzinstrumente wie U-Multirank in der EU bergen ein großes Potenzial, und die Universitäten müssen prüfen, wie sie diese Art von Instrument wirksamer nutzen können.

5.9.

Alle begabten Menschen sollten die gleiche Chance auf Zugang zu Hochschulbildung erhalten. Immer häufiger sind Studiengebühren zu entrichten. Dies führt dazu, dass Studierende in Bezug auf die Bildung, die sie erhalten, kritischer werden. Jede Form sozialer Selektion durch die Einführung von Studiengebühren muss jedoch ausgeschlossen werden. Durch die Unterstützung der Studierenden (auf der Grundlage des sozioökonomischen Hintergrunds) muss ein gleicher Zugang zu adäquater Bildung für alle gewährleistet werden. Darüber hinaus dürfen Gebührensysteme nicht zur Streichung bestehender öffentlicher Finanzierung missbraucht werden.

5.10.

Auch demografische Entwicklungen erfordern zusätzliche Anstrengungen, um die Zahl der Absolventen in den betroffenen Regionen zu erhöhen, insbesondere um die Widerstandsfähigkeit und künftige Lebensfähigkeit dieser Regionen zu fördern.

5.11.

In den Bereichen, die die Studierenden und die Wirtschaft betreffen, müssen sich Hochschulbildung und Forschung stärker vernetzen. Finanzierungsmodelle begünstigen hingegen tendenziell Forschungsleistungen, was zu einem Rückzug von Universitätslehrkräften aus der Lehre führt.

5.12.

Die Universitäten müssen der Tatsache, dass die große Mehrheit der Absolventen mit Bachelor- und Master-Abschlüssen und sogar mit Promotion Arbeitsplätze in der Gesellschaft und der Wirtschaft außerhalb des akademischen Bereichs annimmt, gebührend Rechnung tragen. Dementsprechend sollten die Bildungsstandards und eine angemessene Vorbereitung auf die Arbeitswelt ungeachtet der Spezialisierung einer (Spitzen-)Universität weiterhin eine Priorität sein. In dieser Hinsicht bieten die USA ein Beispiel, dem Europa nicht folgen sollte (11). Die Formel für Europa besteht im Streben nach Exzellenz und Chancengleichheit.

5.13.

Die Digitalisierung ist ein Paradigmenwechsel, der tiefgreifende Auswirkungen auf das Hochschulwesen sowohl in Bezug auf Lehre und (integriertes (12)) Lernen als auch hinsichtlich der Kompetenzen der Lehrkräfte und der Studierenden sowie auf Steuerungsinstrumentarien hat. Auf allen Ebenen ist mehr Dynamik und Flexibilität gefordert. In dieser Hinsicht ist eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Hochschulwesen und der Privatwirtschaft von Vorteil, wenn nicht sogar entscheidend.

6.   Stärkung der europäischen Dimension

6.1.

Der EWSA begrüßt, dass alle oben erörterten Themen sowie die Modernisierung des Hochschulwesens verstärkt auf der Tagesordnung der EU stehen. Wünschenswert wäre es, einen gemeinsamen Ansatz zu finden, um die Schaffung des Europäischen Hochschulraums und des Europäischen Forschungsraums erfolgreich abzuschließen.

6.2.

Offene und transparente Universitäten sowie eine klar definierte europäische Gesamtstrategie werden sich äußerst förderlich auf den Binnenmarkt und die Modernisierung einer im internationalen Wettbewerb bestehenden europäischen Gesellschaft auswirken. Uneingeschränkte Mobilität von Studierenden, Forschern und Wissen spielt dabei eine zentrale Rolle.

6.3.

Die ersten Maßnahmen der EU im Hochschulwesen bestanden in der Förderung wissenschaftlicher Forschung mittels mehrerer Rahmenprogramme. Inzwischen hat die EU ihr Engagement im Bildungsbereich ausgeweitet. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt liegt der Schwerpunkt auf der Notwendigkeit der Beibehaltung wachstumsfördernder Ausgaben, zu denen insbesondere jene für die Hochschulbildung zählen.

6.4.

Zwei der fünf Kernziele der Strategie Europa 2020 stehen in direktem Zusammenhang mit der Hochschulbildung: Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation sowie Bildung. Für ihre Erreichung sind mehrere EU-Kommissionsmitglieder verantwortlich. 2014 zeigten die länderspezifischen Empfehlungen, dass in rund der Hälfte der Mitgliedstaaten ernsthafte Probleme in Bezug auf das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage und die Arbeitsmarktrelevanz sowie anhaltende Defizite bei der Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen und der Wirtschaft oder anderen Interessenträgern bestehen.

6.5.

In diesen Empfehlungen wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, der Beschäftigungsfähigkeit und den Anforderungen der Privatwirtschaft und der Studierenden/Absolventen als künftige Arbeitnehmer (oder Arbeitgeber) sowie der Wettbewerbsfähigkeit durch eine effizientere Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wirtschaft Rechnung zu tragen. Der EWSA verweist nachdrücklich darauf, dass die Folgemaßnahmen zu den länderspezifischen Empfehlungen effizienter überwacht und die Ergebnisse von Kommission und Rat offen diskutiert werden sollten.

6.6.

Der notwendigen Autonomie und Verantwortlichkeit der Hochschulen stehen jedoch politische Kräfte in den Mitgliedstaaten entgegen, die mehr Regulierung fordern, was zu einer Einschränkung der Unabhängigkeit führen würde. In diesen Fällen wird die Subsidiarität als Grundsatz geltend gemacht, wodurch die Harmonisierung der Hochschulsysteme in Europa verhindert wird. Dies würde die Interessen der Studierenden und der Gesellschaft als Ganzes beeinträchtigen.

6.7.

Höhere und umfassendere Qualifikationen sollten in der EU, aber auch darüber hinaus, genutzt werden. Dies erfordert eine grenzüberschreitende gegenseitige Befruchtung zwischen Universitäten, Lehrkräften und Studierenden sowie Weltoffenheit. Ein klares Engagement des Rates, der Mitgliedstaaten und der Kommission sollte durch eine bessere Verteilung und Feinabstimmung nationaler und europäischer Zuständigkeiten zu einer höheren Leistungsfähigkeit des Hochschulwesens führen.

6.8.

Der EWSA betont immer wieder die zentrale Bedeutung der Forschungs- und Innovationsprogramme der EU. Grenzüberschreitende Forschung fördert die Rentabilität, EU-Programme unterstützen die schwerpunktmäßige Ausrichtung auf Schlüsseltechnologien und strategische Themen, länderübergreifende Finanzierungen führen zu höheren Leistungen, und europäische Wissenschaftsallianzen stärken die Wettbewerbsfähigkeit Europas deutlich. Dazu muss auch für einen breiteren Austausch neuen Wissens gesorgt werden, insbesondere durch einen offenen Zugang.

6.9.

Der Europäische Forschungsrat unterstützt innerhalb des siebten Rahmenprogramms (RP7) und seit 2014 im Rahmen von Horizont 2020 erfolgreich exzellente Forschung durch eine wettbewerbsorientierte Förderung. Strukturelle Hemmnisse stehen jedoch noch immer der grenzüberschreitenden Mobilität von Forschern, Wissenschaftlern und Studierenden entgegen.

6.10.

Die Leistung von Hochschulen und Forschung wird in zunehmendem Maße bewertet und weltweit transparent gemacht. Universitäten kooperieren und konkurrieren auf globaler Ebene, arbeiten an gemeinsamen Forschungsprojekten, streben Spitzenleistungen an und gewinnen zunehmend sowohl Studierende als auch Mitarbeiter aus Ländern außerhalb der EU. Dies ist ein zentraler Punkt, aber einzelstaatliche Bestimmungen und fehlende Anreize können Fortschritte in diesem Bereich behindern. Internationale Erhebungen zeigen, dass sich die Kluft zwischen den besten Kräften Europas und den Übrigen vergrößert.

6.11.

Es müssen stärkere Anstrengungen unternommen werden, um Spitzenforscher aus ganz Europa in gemeinsame Projekte einzubinden. Über den Kontinent verteiltes, an einzelnen Stellen konzentriertes Fachwissen muss verknüpft und an Europas herausragenden Forschungsprojekten beteiligt werden.

6.12.

Die Mobilität von Wissenschaftlern und Studierenden in Europa ist begrenzt, da die grenzüberschreitende Mobilität noch immer künstlich behindert wird. In Europa ist dringend für gleiche Arbeitsbedingungen für Forscher und Wissenschaftler sowie für eine stärkere Konvergenz der Lehrpläne und Studienabschlüsse zu sorgen.

6.13.

Wenig aussagekräftige Statistiken sollten optimiert und besser zur Ermittlung des Mobilitätsniveaus sowie zu dessen Förderung genutzt werden.

6.14.

Die Öffnung und Qualitätsverbesserung der Universitäten sowie die kulturelle Diversifizierung durch verstärkte Internationalisierung wirken sich förderlich aus. Darüber hinaus werden Studierende ermutigt, mithilfe der modernen sozialen Medien, von Transparenzinstrumenten wie U-Multirank und der Spezialisierung der Universitäten, konkrete Entscheidungen zu treffen. Dabei sollten sie durch pragmatische Lösungen auf EU-Ebene unterstützt werden.

6.15.

Eine engere Zusammenarbeit zwischen denjenigen, die dazu bereit sind, könnte wegweisend wirken. Ein Beispiel dafür ist die kürzlich getroffene Vereinbarung zwischen den Benelux-Staaten in Bezug auf die automatische gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen. Dies ist ein entscheidender Schritt vorwärts (13). Die Entwicklung hin zur gegenseitigen Anerkennung der Universitätsabschlüsse und verschiedenen wissenschaftlichen Abschlüsse wird zur Beseitigung der Hemmnisse zwischen den Universitäten und zur Schaffung eines wirklich offenen Austauschs beitragen.

6.16.

Angemessene Qualitätssicherungssysteme, die einen klaren Europabezug aufweisen sollten, müssen internationalisiert werden. Dies umfasst auch die Notwendigkeit der Anerkennung von Akkreditierungsentscheidungen. Jede Initiative in diesem Bereich sollte begrüßt werden (14). Ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung sollte schrittweise zu einer europaweiten Akkreditierung führen und wird insbesondere die Qualität der Lehre an schwachen Universitäten verbessern.

6.17.

Eine solche Praxis würde sich in ganz Europa förderlich auf die Mobilität und die Beschäftigungsfähigkeit auswirken. Durch die Einführung eines einheitlichen Abschlusses für mehrere Universitäten würden gemeinsame Programme zwischen Universitäten erheblich an Anziehungskraft gewinnen. Auch die Unterstützung von Partnerschaften sollte in Erwägung gezogen werden. Der Austausch von Verwaltungs- und Lehrverfahren vor Ort kann die Qualität verbessern.

6.18.

Eine wesentliche Voraussetzung für Internationalisierung ist die Verwendung gemeinsamer Sprachen. Kenntnisse in (mehr als zwei) Sprachen sind aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen wünschenswert. Heute könnte Englisch als Lingua franca dienen. Die Verbesserung der Sprachkenntnisse kommt jedoch zu langsam voran. Es sollte angedacht werden, die Beherrschung einer Fremdsprache für Studierende verpflichtend zu machen.

6.19.

Das Programm Erasmus+ war ein großer Erfolg und ein gewaltiger Fortschritt bei der Erleichterung der Mobilität. Es wird auch von der Wirtschaft positiv aufgenommen und fügt sich hervorragend in den Leitgrundsatz der Kommission für Wachstum und Beschäftigung ein. Die Finanzierung des Programms sollte der wachsenden Nachfrage entsprechen. Alle gesetzlichen Beschränkungen des Studierendenaustauschs sollten aufgehoben werden.

6.20.

Die europäischen Struktur- und Investitionsfonds setzen ihren Schwerpunkt zu Recht auf Innovations- und Wachstumsfaktoren, einschließlich Forschung. Die Kommission muss eine führende Rolle bei der Verbesserung der Beteiligung von Universitäten an regionalen Projekten übernehmen.

6.21.

Im Regelfall sind Universitäten von lokalen und regionalen Behörden unabhängig, wenngleich es bemerkenswerte Ausnahmen gibt, die herausgestellt werden sollten. Einen sehr positiven Beitrag leistet ferner das ESIF-Programm, das die Forschung durch RIS3 (15) mit regionalen Programmen der Europäischen Union verbindet und so ein innovationsfreundliches Umfeld begünstigt.

6.22.

Die Universitäten sollten sich mit den RIS3 und ihrer Anwendung auf verschiedenen Ebenen vertraut machen. Sie sollten zusammen mit engagierten regionalen Behörden eine aktive Rolle in dem Programm spielen.

6.23.

Leider nutzen die Hochschulen aus administrativen Gründen ESIF-Programme noch immer zu wenig. Die eigentlich anzustrebenden Synergien zwischen EU-Programmen (ESIF, Horizont 2020 und Erasmus+) werden häufig durch kollidierende Bedingungen blockiert.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Vgl. die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Universitäten für Europa“ (ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 48).

(2)  Siehe Ziffer 4.7.

(3)  Diese Plattformen sollten sowohl Unternehmen und Sozialpartner als auch regionale Partner umfassen.

(4)  In dieser Stellungnahme wird der Begriff „Universität“ für alle Hochschuleinrichtungen verwendet. In einigen Ländern wird deutlich zwischen Forschungsuniversitäten und Fachhochschulen unterschieden, während andere Länder beide Kategorien als Universitäten bezeichnen.

(5)  Der Autonomie-Anzeiger („Autonomy scoreboard“) des Europäischen Universitätsverbands zeigt, dass die Autonomie hinsichtlich Organisation, Finanzen, Personalentscheidungen oder Wissenschaft und Lehre in einigen Ländern noch sehr zu wünschen übrig lässt (http://www.university-autonomy.eu).

(6)  Dieses Modell wurde von verschiedenen Organisationen unterstützt, z. B. ERRIN, dem Forschungs- und Innovationsnetzwerk der europäischen Regionen, und ECIU, dem Europäischen Konsortium innovativer Universitäten. Ein starker Fürsprecher ist auch John Goddard, ehemaliger Prorektor der Universität Newcastle.

(7)  EWSA-Workshop, 13. Juni 2014 — Universitäten für Europa.

(8)  Erklärung von Lund 2009, Erklärung von Rom 2014.

(9)  Empfehlung der Kommission über Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen (2006/962/EG). Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, Ideen in die Tat umzusetzen. Dies erfordert Kreativität, Innovation und Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit, Projekte zu planen und durchzuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen.

(10)  Siehe www.heinnovate.eu, HEInnovate, How entrepreneurial is your HEI?

(11)  Vgl. The Economist, 28. März 2015, Special report on American universities: Excellence v equity.

(12)  Beim integrierten Lernen kommen sowohl traditionelle als auch offene Lernmethoden (Online-Lernen) zum Einsatz.

(13)  Am 18. Mai 2015 unterzeichneten die Benelux-Staaten eine Vereinbarung über die automatische gegenseitige Anerkennung aller Universitätsabschlüsse. Als Teil des Bologna-Prozesses empfiehlt die Sondierungsgruppe, die automatische Anerkennung auf Systemebene auf einer regionalen Basis mit gleichgesinnten Partnerländern zu prüfen.

(14)  So haben beispielsweise der Akkreditierungsrat (Deutschland) und die NVAO (Niederlande, Flandern) am 9. Juli 2015 vereinbart, ihre Akkreditierungsentscheidungen in Bezug auf gemeinsame Programme zwischen den Ländern gegenseitig anzuerkennen.

(15)  RIS3: nationale/regionale Forschungs- und Innovationsstrategien für intelligente Spezialisierung.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Ingenieure bei der Reindustrialisierung Europas“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 071/04)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Ko-Berichterstatter:

Zbigniew KOTOWSKI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Februar 2015 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Rolle der Ingenieure bei der Reindustrialisierung Europas

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 5. November 2015 an. Berichterstatter war Antonello PEZZINI, Ko-Berichterstatter Zbigniew KOTOWSKI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 206 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass sowohl einzelne europäische Ingenieure und Techniker als auch ihre nationalen und europäischen Verbände beim Prozess der Reindustrialisierung Europas eine ausschlaggebende Rolle einnehmen, da sie zu einer schnelleren Umwandlung der Forschung in innovative Marktanwendungen beitragen.

1.2.

Die wirtschaftliche Entwicklung der EU ist zunehmend mit einem Reindustrialisierungsprozess verbunden, der als eine Strategie des Übergangs zu neuen nachhaltigen Konzipierungs-, Produktions- und Vermarktungsmodellen für innovative Produkte mit hohem Mehrwert zu verstehen ist, einschließlich neuer hochwertiger Technologien, Materialien und Diensten in einer zunehmend digitalisierten Welt.

1.3.

Nach Auffassung des EWSA muss die zentrale Rolle der Ingenieure und technischen Berufe bei diesem Prozess der Bewältigung der Probleme der europäischen Gesellschaft im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Reindustrialisierung stärker hervorgehoben und aufgewertet werden. Er fordert, dass eine partizipative Vorausschau bezüglich der Zukunft des Berufs eingeleitet wird.

1.4.

Der EWSA empfiehlt, mittels zahlreicher konkreter Maßnahmen zur Aufwertung der Ingenieur- und Technikerberufe die europäische Kultur des Unternehmertums und der Innovation zu fördern, die die Grundlage von Zivilisation und Wohlstand bilden.

1.5.

Gleichzeitig erachtet der EWSA einen ausgewogenen europäischen Rahmen zur Förderung des Ingenieurberufs mit folgenden Kennzeichen für notwendig:

gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen;

innereuropäische Mobilität und Unternehmergeist;

europäische Matrizen im Bereich der formalen und informellen lebenslangen allgemeinen und beruflichen Bildung mit Unterstützungsprogrammen;

besserer Zugang zu öffentlichen Aufträgen, insbesondere für Genossenschaften, neu gegründete Unternehmen und Netze von Unternehmen, vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen sowie der Berufsvereinigungen der Ingenieure;

besserer Zugang zu Finanzierungen und dem Kapitalmarkt;

Kampagnen zur Förderung der Attraktivität von Studiengängen und Laufbahnen und Anerkennung von Berufsqualifikationen;

Förderung der Interdisziplinarität und der Arbeit im digitalen Netz;

Flexibilität und Förderung der Gleichstellung der Geschlechter;

gemeinsame Regelung der Berufshaftpflicht auf dem gesamten Binnenmarkt;

aktive beschäftigungspolitische Maßnahmen zur Förderung der Einstellung von Ingenieuren durch KMU;

Förderung der Kultur des geistigen Eigentums.

1.6.

Nach Auffassung des EWSA ist das hohe Bildungs- und Qualifikationsniveau im Ingenieurwesen eine wesentliche Voraussetzung für ein wirksames System der gegenseitigen Anerkennung. Um das Vertrauen der einzelnen Staaten in eine gegenseitige berufliche wissensbasierte Mobilität zu gewährleisten, ist es erforderlich, weiterhin ein hohes Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung, u. a. durch Einführung einer fakultativen EU-Regelung auf der Grundlage der Erfahrungen mit den freiwilligen „Europäischen Berufsausweisen“ (1) und mit der aktiven Unterstützung der nationalen und europäischen Berufskammern der Ingenieure sicherzustellen.

1.6.1.

Im Zuge der derzeitigen Gesellschaftsentwicklung entstehen zahlreiche neue Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des technischen Bereichs, die aufgrund des Medieneinflusses und des Wunsches nach sozialer Beliebtheit junge Menschen anziehen, die eine schnelle und angesehene Karriere anstreben. Vor diesem Hintergrund wird der Ingenieurberuf als althergebracht wahrgenommen, der keine Möglichkeiten für eine leichte und schnelle berufliche Entwicklung bietet. Das Ingenieurwesen ist folglich für die künftigen Generationen uninteressant, was den Erfolg der europäischen Reindustrialisierung und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie erheblich beeinträchtigen kann. Dies stellt für die bestehenden Bildungssysteme eine große Herausforderung dar und macht deutlich, dass eine starke Ausrichtung der Primarbildung auf Mathematik, Physik und Technik und eine ansprechende Präsentation dieser Fächer erforderlich sind, um die Neugier der jungen Generationen zu wecken. Auch der Ansatz der dualen Ausbildung und die bewährten Verfahren in diesem Bereich (in Deutschland, Schweiz und Österreich) verdienen besondere Aufmerksamkeit seitens der Mitgliedstaaten, die nicht über dieses System verfügen.

1.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein Europäischer Binnenmarkt für den Ingenieurberuf und ein solides gemeinsames Konzept entwickelt werden müssen, um angesichts der Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung, insbesondere für unabhängige selbstständige Ingenieure die Mobilität im gesamten europäischen Raum zu steigern.

1.8.

Der EWSA empfiehlt die Sicherstellung einer herausragenden Rolle der Ingenieure bei der europäischen Standardisierungspolitik, um die Standardisierungsverfahren zu beschleunigen, zu vereinfachen und zu modernisieren und die Interoperabilität der Systeme und Netze zu gewährleisten.

1.9.

Der EWSA empfiehlt, dass die Organisationen, in denen Ingenieure tätig sind, auf der Grundlage des europäischen Rahmens für berufliche Qualifikationen elektronische Schulungsmodelle entwickeln, die an die jüngeren Generation und die neuen Governance- und Bewertungsmodalitäten sowie die Bedürfnisse der künftigen Ingenieure angepasst sind und mit einem attraktivem Arbeitsumfeld und entsprechenden Karrieremöglichkeiten einhergehen.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vertretungsorganisationen und die Berufskammern mehr Konvergenz erzielen sollten, um sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU eine aktivere Rolle zu spielen und den eigenen Mitgliedern eine kontinuierliche Weiterbildung im Einklang mit gemeinsamen europäischen Parametern anzubieten.

1.11.

Der EWSA legt der Kommission nahe, auf die Einrichtung des Europäischen Forums für die freien Berufe konkrete Maßnahmen folgen zu lassen. In diesem Gremium sollen Berufsverbände und Berufskammern (2) der Ingenieure umfassend vertreten sein. Er fordert die Schaffung eines europäischen Ingenieurportals, auf dem Probleme wie Haftung, geistiges Eigentum, Steuerfragen und Rentenansprüche, berufliche Weiterbildung, Verhaltenskodizes usw. thematisiert werden können.

1.12.

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission auf der Grundlage der Erfahrungen der nationalen Verbände von Ingenieuren und Technikern einen europäischen Verhaltenskodex für Ingenieure erstellt und für diese Berufsgruppen die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen für die Durchführung innovativer Projekte schafft, insbesondere für KMU und Akteure im Bereich der Forschung und Entwicklung.

1.13.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Beruf zunehmend auf die Bewältigung komplexer Probleme im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit ausgerichtet sein und zur Förderung fortschrittlicher multidisziplinärer Ansätze und einer angemessenen Interoperabilität zwischen Herstellungssystemen und dem neuen industriellen Umfeld 4.0 beitragen muss.

1.14.

Der EWSA ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 20./21. März 2014 gebührend Rechnung zu tragen, in denen sie aufgefordert werden, vorrangig die Engpässe in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik (die sogenannten STEM-Qualifikationen) anzugehen und dabei die Industrie verstärkt einzubeziehen.

2.   Einführung

2.1.

Die europäische Technik hat ihren Ursprung in dem vom Genie Leonardo da Vincis verkörperten Streben nach Erneuerung, das die Innovationsbereitschaft der europäischen Gesellschaft und den kulturellen Rahmen der Aufwertung bürgerschaftlichen Engagements, guter Regierungsführung und harter Arbeit widerspiegelt.

2.2.

Wie das EP betont, „hat die Krise die europäischen Volkswirtschaften schwer getroffen. Die EU benötigt eine umfassende Wachstumsstrategie, um solche Herausforderungen zu bewältigen“ (3).

2.3.

Im Mitteilpunkt der Strategie zur Reindustrialisierung der EU stehen in erster Linie Investitionen in Innovation, bei denen der Ingenieur eine Schlüsselrolle spielt, insbesondere in schnell wachsenden Sektoren.

2.4.

Die Konvergenz von digitalen Technologien, Kommunikationssystemen und intelligenten Netzen, Nanobiotechnologien, nachhaltigen industriellen Technologien, 3D-Druckern und sauberen sektorübergreifenden Schlüsseltechnologien führt zu einer grundlegenden Veränderung der Funktionsweisen von Wirtschaft und Gesellschaft in einem beispiellosen Tempo, das aufgrund der Globalisierung exponentiell zunimmt.

2.5.

Die Zukunft der EU hängt von einem Reindustrialisierungsprozess ab, der insbesondere als eine Strategie des Übergangs zu neuen nachhaltigen Konzipierungs-, Produktions- und Vermarktungsmodellen für innovative Produkte mit hohem Mehrwert zu verstehen ist, die neue Technologien, Materialien und Dienste in einer zunehmend digitalisierten Welt miteinander verbinden.

2.6.

Der EWSA ist davon überzeugt, dass es ohne technische und wissenschaftliche Fachkräfte, die in puncto Erfahrung und Wissen über das notwendige Potenzial verfügen, schwierig sein wird, die in der Strategie Europa 2020 festgelegten Ziele zu erreichen. Auch in diesem Zusammenhang muss die Rolle der Berufsverbände und Vereinigungen von Ingenieuren und Technikern auf nationaler und europäischer Ebene zur Geltung gebracht werden.

2.7.

In Europa entfällt der Großteil der technischen Kompetenzen auf das Ingenieurwesen, das rund 130 000 Unternehmen mit mehr als 10 Mio. hoch qualifizierten und sachkundigen Beschäftigten und einer Jahresproduktion von rund 1 840 Mrd. EUR umfasst, was etwa einem Drittel der gesamten EU-Ausfuhren entspricht. Zudem spielen Ingenieure und Techniker in allen Wirtschaftssektoren eine wichtige Rolle (4).

2.8.

Im Rahmen der EU-Politik muss ein neuer intelligenter Ansatz entwickelt werden, der Fachleuten mit technischem Hintergrund einen neuen Stellenwert einräumt. Es besteht ein wachsender Bedarf an der Steuerung intelligenter Umwandlungsprozesse in den Regionen, die im Rahmen der neuen europäischen Planung ausdrücklich gefordert werden.

2.9.

Um diese Ziele zu erreichen, muss die EU das Kompetenzniveau ihrer Arbeitskräfte steigern. Insbesondere in Bezug auf das ingenieurtechnische Fachwissen wird die Nachfrage seitens des öffentlichen und des privaten Sektors steigen. Der öffentliche Sektor wird auf mehr technische Kompetenzen angewiesen sein, um im Zuge der Umsetzung der neuen Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge mit neuen Formen der Zusammenarbeit in Unternehmensnetzen, mit Cluster-Arbeit und neuer Software die Herausforderungen in folgenden Bereichen zu bewältigen: Energie, Verkehr, Gesundheit, Abfallbewirtschaftung, Bildung, CO2-Fußabdruck, Internet der Dinge und Kreislaufwirtschaft.

2.10.

Auch der private Sektor wird verstärkt auf ingenieurtechnische Kompetenzen setzen müssen, wenn er von der Entwicklung der Kompetenzen am Arbeitsplatz profitieren will. Analysen des Verbraucherverhaltens lassen einen konstanten Anstieg der Nachfrage nach intelligenten Produkten und Dienstleistungen erkennen.

2.11.

Die Kenntnisse und die technischen Erfahrungen müssen stets auf den neuesten Stand gebracht werden, um den Herausforderungen der neuen industriellen Prozesse begegnen zu können. Erforderlich sind neue Lernformen und -methoden sowie neue Schulungsmaßnahmen, damit eine optimale und flexible Nutzung der Human- und Sozialressourcen in diesem Bereich gewährleistet werden kann. Zudem sind neue Arbeitsformen für die freien Berufe im Bereich der beruflichen, technischen und wissenschaftlichen Dienste in Europa vonnöten.

2.12.

Eine größere Mobilität auf den nationalen, europäischen und internationalen Arbeitsmärkten führt zu einer besseren Nutzung der im attraktiven europäischen Ingenieurwesen verfügbaren Arbeitskräfte. Mit der Möglichkeit, sich für eine fakultative EU-Regelung zu entscheiden, könnte die Verbreitung eines europäischen Berufsausweises gefördert werden. Dadurch könnten spezialisierte Ingenieure leichter berufliche Erfahrungen in verschiedenen europäischen Ländern erlangen.

2.13.

Um potenzielle Studierende des Faches Ingenieurwissenschaften für den Ingenieurberuf zu sensibilisieren, müssen Industrie und Hochschulen sowie Arbeitgeber und öffentliche und private Schulen, sowohl in der Primar- als auch Sekundarstufe und der FuE stärker zusammenarbeiten. Es geht darum, die soziale Verantwortung der Unternehmen umzusetzen und angemessene Bildungsmaßnahmen zu fördern.

2.14.

Kommen junge Menschen mit Unternehmern zusammen und stoßen sie auf neue und komplexere Probleme, wird ihnen schnell klar, dass Mathematik, Informationstechnologien, Physik und Chemie für die Lösung von Problemen der heutigen Gesellschaft erforderlich und den Schlüssel zu neuen innovativen Lösungen in den Bereichen Medizin und Gesundheitsversorgung, aber auch in puncto Verkehr, Umweltverschmutzung oder Energieeinsparungen darstellen.

2.15.

Diese Art der Zusammenarbeit muss auf lokaler Ebene entstehen, bewährte Verfahren und Erfahrungen müssen jedoch auf europäischer Ebene geteilt werden. Dies würde zur Entstehung neuer Arbeitsplätze und neuer beruflicher Möglichkeiten für Ingenieure beitragen sowie dazu, dass diese Fächer für die künftigen Generationen konkretere Gestalt annehmen und an Bedeutung gewinnen.

2.16.

Mit Blick auf die parallelen Fortschritte in zahlreichen Fachgebieten sowie die Interdisziplinarität der praktischen Anwendungen gilt es nun, Bildungswege einzuführen, die sowohl in der Sekundarstufe als auch an Universitäten weitere Fächer umfassen wie z. B. Sozialpsychologie und Teamverwaltung von Humanressourcen, Förderung kreativer Prozesse, Nanotechnologien, Biomedizintechnik, Technikgeschichte, Wirtschaftsgeografie usw. Dabei ist die Qualität und Effizienz dieser Bildungswege zu gewährleisten.

2.17.

U. a. könnte mittels einer Akkreditierung der Bildungsprogramme gewährleistet werden, dass diese Berufe den Standards entsprechen. Der Prozess der Qualitätssicherung setzt eine Festlegung von Bezugs- und Bewertungsstandards im Einklang mit dem europäischen und nationalen Rahmen für berufliche Qualifikationen voraus.

2.18.

Externe Akkreditierung und die Gewährleistung interner Qualität sind zwei sehr wichtige Prozesse für die Gewährleistung der Qualität der Ausbildung im Ingenieurwesen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Ingenieure als treibende Kraft für die Reindustrialisierung der EU

Der EWSA misst der entscheidenden Rolle der Ingenieure und Techniker bei der konkreten Umsetzung der europäischen Reindustrialisierungsstrategie zentrale Bedeutung bei. Dabei geht es um die Gewährleistung gangbarer Lösungen für schlanke, saubere und umweltfreundliche Prozesse, Produkte und Dienstleistungen, mit denen sich die Herausforderungen einer nachhaltigen und wettbewerbsorientierten Entwicklung bewältigen lassen.

3.1.1.

Gleichzeitig ist nach Auffassung des EWSA ein europäischer Rahmen zur Förderung des Ingenieurberufs notwendig. Dazu gehören:

gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Berufen;

interne und externe Mobilität im Binnenmarkt und Entwicklung von Unternehmergeist;

übereinstimmende europäische Matrizes für die fortlaufende Weiterbildung und lebenslanges, formales und informelles Lernen mitsamt Unterstützungsprogrammen;

einheitliche Rechenschaftspflicht und Haftpflichtversicherungen im Binnenmarkt;

Kampagnen zur Förderung der Attraktivität von Studiengängen und Laufbahnen sowie Anerkennung von Berufsqualifikationen einschließlich Gleichstellung der Geschlechter;

Förderung der Interdisziplinarität und der vernetzten Bewältigung komplexer Probleme;

Flexibilität und Aufwertung der Besonderheiten der neuen Generationen

Generation C (Connected Generation);

politische Maßnahmen zur Stärkung der Flexibilität bei der Verwaltung und Kommunikation, auch im sektorübergreifenden und multidisziplinären Bereich. Dabei ist die Interoperabilität zwischen Wissenschaft, Herstellung und Industrie 4.0 zu gewährleisten;

Stärkung der Rolle der Ingenieure und Techniker sowie ihrer sozioökonomischen Organisationen bei der Umsetzung von FuI-Programmen und der Verwendung von Strukturfonds;

Maßnahmen zur Förderung der Rechenschaftspflicht und der Anwendung von Verhaltenskodizes, insbesondere im öffentlichen Beschaffungswesen im Rahmen der neuen Richtlinien (5) mithilfe von Unternehmensnetzen und kollaborativen Clustern, und mittels spezifischen Ausschreibungen in den Bereichen grünes Beschaffungswesen, Verteidigung und Katastrophenschutz;

Rahmen für eine internationale Zusammenarbeit mit leichterem Zugang zu Drittlandsmärkten;

Änderungen der Rechtsvorschriften zur Sicherstellung des Schutzes geistigen Eigentums im Sinne der Entwicklung der Informationsgesellschaft.

3.2.   Gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen und Berufen, Mobilität und Unternehmertum

3.2.1.

Nach Auffassung des EWSA ist das hohe Bildungs- und Qualifikationsniveau im Ingenieurwesen die grundlegende Voraussetzung für ein wirksames System der gegenseitigen Anerkennung: Ein Absenken der Bildungsstandards zur Steigerung der Mobilität könnte möglicherweise das gegenseitige Vertrauen in eine wissensbasierte EU, die die neuen Herausforderungen im Ingenieurwesen bewältigen kann, beeinträchtigen.

3.2.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein detaillierter gemeinsamer Ansatz konzipiert werden muss, der folgende Elemente umfasst: einen europäischen Berufsausweis (6) mit stärker harmonisierten Ausbildungswegen, die Annahme einer parallelen fakultativen Regelung für einen freiwilligen europäischen Berufsausweis sowie einen gemeinsamen Rahmen für die Ausbildung und die Anerkennung erworbener formaler und/oder informaler Qualifikationen.

3.2.3.

Der EWSA empfiehlt, zahlreiche konkrete Maßnahmen zur Aufwertung der Ingenieurs- und Technikerberufe auf den Weg zu bringen, die bei der beschleunigten Umwandlung der Forschung in marktgängige Anwendungen und in Lösungen gesellschaftlicher Probleme die Hauptrolle spielen. Insbesondere fordert der Ausschuss eine speziell auf die Ingenieure zugeschnittene Stärkung der Initiative Erasmus für junge Unternehmer und der Verfahren für Mikrokredite sowie die Auslobung eines EU-Preises für kreative Ingenieure, um dem Beruf Ingenieur zu mehr Öffentlichkeitswirksamkeit zu verhelfen und um die Konzeption exzellenter Ideen und Projekte im Ingenieursbereich zu fördern.

3.3.   Formale und informelle lebenslange allgemeine und berufliche Bildung

3.3.1.

Aufgrund des raschen technologischen Fortschritts muss nach Auffassung des EWSA Europa Folgendes unterstützen: Entwicklung von Bildungsmodulen in Zusammenarbeit mit der Industrie, die auf den Erwerb hochwertiger spezifischer Kompetenzen abzielen; Entwicklung des kooperativen Lernens und von Learning-by-doing-Projekten, die zur besseren zwischenmenschlichen Kommunikation beitragen; Entwicklung von Online-Modulen im Bereich der digitalen Technologie sowie von Kommunikationsnetzen zur Erhebung und Auswertung von Informationen.

3.3.2.

Mithilfe von EU-Rechtsvorschriften sollten globale Normen für die Bestätigung der durch nichtformales Lernen erworbenen Führungsqualitäten und Risikokapazitäten (7) entwickelt werden.

3.3.3.

Die optimale Nutzung der Kompetenzen neuer, vernetzter Generationen („ConGen“) setzt eine Neugestaltung der Produktions-, Organisations-, Kommunikations- und Führungsstrukturen voraus.

3.4.   Ansehen und Zukunft der Ingenieure bei der Reindustrialisierung in der EU

3.4.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die zentrale Rolle der Ingenieure und der technischen Berufe bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Reindustrialisierung stärker hervorgehoben und aufgewertet werden sollte. Er fordert, eine partizipative Vorausschau unter Beteiligung der Akteure in den Bereichen Entwicklung, Verwaltung, politische Beschlussfassung und Interessenvertretung durchzuführen, um künftige Anforderungsprofile für den Beruf in puncto Problemlösung und raschen Erwerb und Anwendung neuer Technologien zu ermitteln und aufzuwerten.

3.4.2.

Diesbezüglich sollte den Ingenieuren bei der Qualifizierung dieses Reindustrialisierungsprozesses in Bezug auf ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit besondere Bedeutung beigemessen werden, um einen stufenweisen Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft zu ermöglichen, die „die Wiederaufarbeitung und Wiederverwendung beinhaltet“  (8).

3.5.   Bedeutung der Ingenieure und Techniker für FuI-Programme und Strukturfonds

3.5.1.

Nach Auffassung des EWSA sind Ingenieure und Techniker eine wesentliche Ressource für den Reindustrialisierungsprozess, da sie zu einer schnelleren Umwandlung der Forschungsarbeiten in innovative Marktanwendungen und Anwendungen zur Lösung komplexer Probleme beim Übergang zu einer sozialen, nachhaltigen, gesunden und wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft beitragen. Seiner Überzeugung nach muss eine solche Ressource Zugang haben zu und unterstützt werden durch innovative Lösungen, die nicht nur Wirtschaftlichkeit, sondern auch Qualität belohnen und alle Formen der Zusammenarbeit durch Vernetzung und Clusterbildung — im Rahmen folgender EU-Maßnahmen und Programme unterstützen:

strategische Maßnahmen im Rahmen der digitalen Agenda;

Horizont 2020, insbesondere durch Schlüsseltechnologien;

COSME und EIF;

Struktur- und Kohäsionsfonds.

4.   Abschließende Bemerkungen

4.1.

Die EU steht vor großen Herausforderungen, die auch die europäischen Ingenieure vor zahlreiche Schwierigkeiten stellt:

voraussichtliche Bevölkerungsalterung;

allgegenwärtige und invasive Digitalisierung;

zunehmende Ressourcenknappheit in einem immer kritischeren Umwelt- und Klimakontext;

geopolitisch-finanzielle Globalisierung mit Verlagerung des Schwerpunkts außerhalb Europas;

Konvergenz der Technologien, insbesondere IKT-Nano-Bio-Technologien und 3D-Systeme;

komplexe Probleme der integrierten Verwaltung, insbesondere in Ballungsräumen;

exponentielles Wachstums des Internets der Produkte und Dienste und der intelligenten Netze im Zuge der Entwicklung der Industrie 4.0;

massive autonome Entwicklung des Phänomens der in Echtzeit verknüpften kollektiven Intelligenz (Social Brain) unter den vernetzten Generationen;

4.2.

Nach Auffassung des EWSA sollte die neue vernetzte Generation von Ingenieuren höhere Niveaus formaler und informeller Qualifikationen und Kompetenzen erwerben — da die einfacheren Problemlösungen autonomen digitalen Systemen anvertraut werden — und interdisziplinäre Fähigkeiten und Flexibilität entwickeln, um komplexe Probleme in den Griff zu bekommen.

4.3.

Organisationen, in denen die Ingenieure tätig sind, sollten auf der Grundlage des europäischen Rahmens für berufliche Qualifikationen digitalisierte Ausbildungsmodule und Systeme mit Governance-Modalitäten entwickeln, die auf die Eigenschaften der neuen Ingenieure zugeschnitten sind, das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und Aufgaben des Unternehmens stärken und ein attraktives Arbeitsumfeld und Karrieremöglichkeiten fördern.

4.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vertretungsorganisationen und die Berufskammern der Ingenieure eine umfassendere Konvergenz auf europäischer Ebene anstreben sollten, um sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU bei der Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für den Ingenieurberuf eine aktivere Rolle zu spielen.

4.5.

Der EWSA empfiehlt, der Schaffung des Europäischen Forums für die freien Berufe konkrete Maßnahmen folgen zu lassen. In diesem Forum sollten Berufsverbände und Berufskammern (9) unabhängiger Ingenieure und von KMU im Ingenieursbereich umfassend vertreten sein. Er spricht sich aus für die Einrichtung eines europäischen Ingenieurportals, auf dem wichtige Fragen wie Haftungsmanagement, geistiges Eigentum, Steuerfragen und Rentenansprüche interaktiv behandelt werden können.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Siehe den „Europäischen Berufsausweis für Ingenieure“ des Europäischen Verbands nationaler Ingenieurvereinigungen (FEANI).

(2)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 10.

(3)  Siehe Entschließung des EP vom 15.1.2014.

(4)  Quelle: Eurostat.

(5)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65, S. 243, S. 1.

(6)  ABl. L 354 vom 28.12.2013, S. 132.

(7)  European Institute for Industrial Leadership (Positionspapier P20-2015).

(8)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 91.

(9)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 10.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Nanotechnologie für eine wettbewerbsfähige Chemieindustrie

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 071/05)

Berichterstatter:

Egbert BIERMANN

Ko-Berichterstatter:

Tautvydas MISIŪNAS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 28. Mai 2015 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Nanotechnologie für eine wettbewerbsfähige Chemieindustrie

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 5. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember 2015) mit 115 gegen 2 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA unterstützt die Aktivitäten zur Gestaltung einer europäischen Industriepolitik, insbesondere zur Förderung von Schlüsseltechnologien, die unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken. Wenn Europa international mit einer Stimme spricht, stärkt dies seine Rolle beim weltweiten Dialog. Die Innovationskraft aus Nanomaterialien und Nanotechnologie — insbesondere in der Chemischen Industrie — leistet dazu einen wichtigen Beitrag.

1.2.

Eine Initiative zur Förderung der Nanotechnologie kann dazu beitragen, die gemeinsame europäische Industriepolitik weiter zu entwickeln. Forschung und Entwicklung sind so komplex, dass sie nicht von einzelnen Unternehmen oder Institutionen allein zu leisten sind. Hierfür bedarf es einer übergreifenden Zusammenarbeit zwischen Universitäten, wissenschaftlichen Institutionen, Unternehmen und Gründerzentren. Ein positiver Ansatz sind Forschungs-Hubs, wie sie u. a. im Chemie- und Pharmasektor installiert wurden. Eine Integration der KMU ist zu gewährleisten.

1.3.

Für die Nanotechnologie sind europäische Exzellenzcluster (Nanocluster) weiter zu entwickeln. Die Kompetenzträger aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sollen sich vernetzen, um den Technologietransfer, die digitale und persönliche Zusammenarbeit, eine verbesserte Risikobewertung, eine spezielle Lebenszyklus-Analyse oder die Sicherheit von Nanoprodukten zu fördern.

Die Finanzinstrumente im Forschungsrahmenprogramm Horizont 2020 sind im Bereich Nanotechnologie vor allem für KMU-Betriebe einfacher und flexibler zu gestalten. Die öffentliche Finanzierung muss verstetigt sowie die Bereitstellung privater Finanzmittel angeregt werden.

1.4.

Um die multidisziplinäre Nanotechnologie besser in den Bildungs- und Ausbildungssystemen zu verankern, sollten befähigte Wissenschaftler und Techniker in Disziplinen wie Chemie, Biologie, Ingenieurwissenschaften, der Medizin oder den Sozialwissenschaften eingesetzt werden. Und die Unternehmen müssen durch gezielte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auf die steigenden Qualifikationsanforderungen an ihre Mitarbeiter reagieren. Die Beschäftigten mit ihren Erfahrungen und Kompetenzen sind einzubeziehen.

1.5.

Der EU-Normungsprozess ist weiter zu fördern. Normen spielen eine Schlüsselrolle bei der Einhaltung von Gesetzen, insbesondere wenn für die Sicherheit der Beschäftigten eine Risikobewertung verlangt wird. Deshalb sind für zertifizierte Referenzmaterialien Werkzeuge zu entwickeln, um Verfahren zu prüfen, die die Eigenschaften von Nanomaterialien messen.

1.6.

Die Verbraucher sind über Nanomaterialien umfassend zu informieren. Die gesellschaftliche Förderung der Akzeptanz dieser Schlüsseltechnologien ist unerlässlich. Es haben regelmäßig Dialoge zwischen Verbraucher- und Umweltverbänden, Wirtschaft und Politik stattzufinden. Dazu sind europaweite Informationsplattformen und Akzeptanzinstrumente zu entwickeln.

1.7.

Der EWSA erwartet, dass die EU-Kommission eine Beobachtungsstelle für Nanomaterialien einrichtet, die deren Entwicklungsprozesse und Anwendungen, Verwertung (Recycling) und Entsorgung erfasst und bewertet. Sie sollte auch die Wirkungen auf Beschäftigung und Arbeitsmarkt beobachten und bewerten sowie die daraus zu entwickelnden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Schlussfolgerungen beschreiben. Noch vor dem Jahr 2020 sollte ein aktueller „Bericht zu Nanomaterialien und Nanotechnologie in Europa“ vorlegt werden, der mögliche Entwicklungslinien bis 2030 aufzeigt.

2.   Nanotechnologie in einem innovativen Europa

2.1.

Es gab und gibt seitens der Europäischen Kommission vielfältige Initiativen zur Förderung von Innovation und Schlüsseltechnologien mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Als Beispiele seien die Mitteilungen der Kommission für eine „Gemeinsame Strategie für Schlüsseltechnologien“ (2009, 2012) und die Mitteilung „Forschung und Innovation“ aus dem Jahre 2014 genannt. In mehreren Stellungnahmen des EWSA (1) wurde die Nanotechnologie besonders gewürdigt.

2.2.

Mit der Verabschiedung des Juncker-Plans 2014 erhält die EU-Industriepolitik einen besonderen Stellenwert, und damit die Förderung von innovativen Technologien. Die formulierten Präferenztechnologien verdeutlichen, dass eine wettbewerbsfähige europäische Industriepolitik strategisch auf zukunftsorientierte Technologien und Materialien setzen muss. Dies trifft auf die Chemie- und Pharmabranche im besonderen Maße zu.

2.3.

Die europäische Chemie- und Pharmabranche ist ein Innovationsmotor für andere Branchen. Bei der Entwicklung neuer Produkte besitzt die Nanotechnologie eine Schlüsselfunktion. Dies steigert die Wettbewerbsfähigkeit und ist ein Beitrag zur nachhaltigen Industrieentwicklung.

2.4.

Nanomaterialien gibt es bereits heute in vielen Produkten des täglichen Lebens (z. B. Sportwäsche, Kosmetika, Beschichtungen). Daneben eröffnen sich Innovationen für neue Produkte und Verfahren (z. B. Energie- und Umwelttechnik, Medizintechnik, Optik, Chipentwicklung und -herstellung, technischer Datenschutz, Bauindustrie sowie bei Lacken und Farben oder bei Arzneimitteln und Medizintechnik).

2.5.

Aufgrund der geringen Größe können Nanomaterialien neue optische, magnetische, mechanische, chemische und biologische Eigenschaften besitzen. Mit ihnen können innovative Produkte mit neuen Funktionalitäten und besonderen Eigenschaften entwickelt werden.

2.6.

„Nanomaterialien“ sind gemäß einer von der Europäischen Kommission angenommenen Empfehlung Materialien, deren Hauptbestandteile eine Größe zwischen 1 und 100 milliardstel Metern haben. Diese Definition ist ein bedeutender Fortschritt, da darin klar beschrieben wird, welche Materialien als Nanomaterialien anzusehen sind, und sie die Wahl des am besten geeigneten Prüfverfahrens ermöglicht (2).

2.7.

Die Nanotechnologie bietet ein großes Wachstumspotenzial. Experten rechnen für den Zeitraum von 2006 bis 2021 mit einer Steigerung von 8 Mrd. USD auf 119 Mrd. USD pro Jahr (3).

3.   Nanotechnologie in der chemischen Industrie und in der Medizin  (4)

3.1.

Das Spektrum der Nanotechnologie in der chemischen Industrie ist riesig. Es sei darauf hingewiesen, dass vieles, was heute unter Nano subsumiert wird, nichts Neues ist, auch wenn „Nanotechnologie“ neu klingt. So enthalten farbige Kirchenfenster, die im Mittelalter entstanden, Gold-Nano-Teilchen. Das eigentlich Neue an der Nanotechnologie, wie wir sie heute verstehen, ist die Tatsache, dass man jetzt ihre Wirkungsweise besser kennt.

3.2.

Mit der Nanotechnologie ergeben sich viele Anwendungsfelder in der Medizin. Der Wunsch, einen Wirkstoff gezielt zum kranken Gewebe zu transportieren, ist so alt wie die Herstellung von Medikamenten und rührt daher, dass viele Wirkstoffe starke Nebenwirkungen haben. Solche Nebenwirkungen werden häufig durch eine unspezifische Verteilung der Wirkstoffe im Körper verursacht. Die Entwicklung nanoskaliger Wirkstofftransportsysteme ermöglicht es, die Wirkstoffe im kranken Gewebe gezielt anzureichern und so Nebenwirkungen zu reduzieren.

3.3.

Es gibt konkrete Nanoentwicklungen im Bereich der Lebenswissenschaften, so z. B. „Biochips“ für Tests, mit deren Hilfe Krankheiten wie Alzheimer, Krebs, multiple Sklerose oder rheumatoide Arthritis frühzeitig erkannt und behandelt werden können (5). Nanopartikel-basierte Kontrastmittel binden gezielt kranke Zellen und ermöglichen eine wesentlich schnellere und bessere Diagnostik. Nano-Gele beschleunigen die Regeneration von Knorpelmasse. Nanopartikel, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, tragen z. B. zu einer gezielten Behandlung von Hirntumoren bei (6).

3.4.

In Kunststoffmembranen sorgen rund 20 Nanometer kleine Poren dafür, dass Keime, Bakterien und Viren aus dem Wasser gefiltert werden können. Die sogenannte Ultrafiltration wird sowohl bei der Reinigung von Trinkwasser als auch von Prozesswasser, also Wasser aus industriellen Produktionsprozessen, eingesetzt.

3.5.

Nanotechnologie wird bereits in naher Zukunft die Wirkungsgrade von Solarzellen maßgeblich erhöhen. Durch neue Oberflächenbeschichtungen kann die Energiegewinnung und Energieeffizienz stark erhöht werden.

3.6.

Ob als Zusatz in Kunststoffen, Metallen oder anderen Materialien können sogenannte Nanotubes, Kohlenstoff-Nanoröhrchen oder Graphen, Werkstoffen neue Eigenschaften verleihen. Sie verbessern beispielsweise die elektrische Leitfähigkeit, erhöhen die mechanische Belastbarkeit oder fördern den Leichtbau.

3.7.

Auch die Nutzung von Windkraftanlagen kann mit der Nanotechnologie effizienter werden. Neue Baustoffe machen Windkraftanlagen leichter, was zu niedrigeren Stromentstehungskosten führt, aber auch zu einer Optimierung des Baus von Windkraftanlagen.

3.8.

Rund 20 % des weltweiten Energieverbrauchs verwenden wir für Beleuchtung. Da die Nanoforschung Energiesparlampen in Aussicht stellt, die mit sehr viel weniger elektrischer Energie auskommen, wird er sich um mehr als ein Drittel senken lassen. Und durch Lithium-Ionen-Batterien, die ohne Nanotechnologie nicht möglich wären, wird das Elektroauto erst wirtschaftlich.

3.9.

Beton ist einer der weitverbreitetsten Baustoffe. Dank nanobasierter Kristallteile aus Kalzium lassen sich Betonfertigteile zum einen sehr schnell und in besserer Qualität und zum anderen mit geringerem Energieverbrauch herstellen.

3.10.

Bereits heute arbeitet die Automobilindustrie mit Nanobeschichtungen, die mit besonderen Eigenschaften ausgestattet sind. Dies gilt auch für andere Verkehrsträger, z. B. Flugzeuge oder Schiffe.

4.   Nanotechnologie als wirtschaftliche Komponente

4.1.

Die Wettbewerbsfaktoren auf dem Weltmarkt verändern sich beständig. Manches ist geplant, doch einiges kommt auch unvorhergesehen. Um Entwicklungen zu verstetigen, werden politische Programme aufgelegt. So wurde im Jahr 2010 die Europa-2020-Strategie vereinbart. Sie zielt ab auf ein nachhaltiges und integratives Wachstum mit einer stärkeren Koordinierung transeuropäischer Maßnahmen. Der voll entbrannte „Kampf um Innovationen“ soll so gewonnen werden. Es geht um Forschung und Entwicklung, um Patentsicherung sowie um Produktionsstandorte und Arbeitsplätze.

4.2.

Die chemische Industrie ist eine der erfolgreichsten Industriebranchen der EU mit einem Verkaufserlös von 527 Mrd. EUR im Jahr 2013, was sie zum zweitgrößten Erzeuger macht. Trotz dieser Stärke scheint die aktuelle Lage Anlass zur Sorge zu geben. Nach einer raschen konjunkturbedingten Trendwende stagniert die Produktion seit Beginn 2011. Der Anteil der EU an der weltweiten Produktion und an den globalen Exporten ist über einen längeren Zeitraum hinweg zurückgegangen (7).

4.3.

Im Jahr 2012 investierte die chemische Industrie in der EU rund 9 Mrd. EUR in die Forschung. Diese Ausgaben stagnieren seit 2010 in dieser Größenordnung. Demgegenüber hat Nanotechnologieforschung und -entwicklung z. B. in den USA, in China, aber auch in Japan und Saudi-Arabien einen steigenden Stellenwert, sodass sich der Wettbewerb hier weiter zuspitzen wird.

5.   Nanotechnologie als Umweltkomponente

5.1.

Umweltgerechtes Wirtschaften ist in der europäischen Industriepolitik sowohl bei der Binnenmarkt- als auch bei der Weltmarktorientierung ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor.

5.2.

Nanomaterialien leisten sowohl als Vor-, Zwischen- oder auch als Endprodukte mit ihren vielfältigen Materialeigenschaften einen Beitrag zur Verbesserung der Effizienz bei der Energieumwandlung und zur Verringerung des Energieverbrauchs. Nanotechnologie bietet die Perspektive, CO2-Emissionen zu verringern (8). Damit trägt sie zum Klimaschutz bei.

5.3.

Das deutsche Bundesland Hessen hat eine Studie veröffentlicht, die die Innovationspotenziale der Nanotechnologie für den Umweltschutz hervorhebt (9), z. B. bei der Aufbereitung und Reinigung von Wasser, der Vermeidung von Abfall, der Energieeffizienz und der Luftreinhaltung. Hieraus ergeben sich gerade für KMU bessere Auftragslagen. Die chemische Industrie erforscht und entwickelt Grundlagen und entsprechende Vor- und Endprodukte.

5.4.

Die Umweltkomponente als Teil eines Nachhaltigkeitskonzeptes muss in die Strategien der Unternehmen integriert werden, also auch der KMU. Die Beschäftigten sind in diese Prozesse aktiv einzubeziehen.

5.5.

Das Vorsorgeprinzip ist ein wesentlicher Bestandteil der aktuellen Umweltpolitik und Gesundheitspolitik in Europa. Belastungen bzw. Gefährdungen für die Umwelt bzw. die menschliche Gesundheit sollen danach im Vorfeld minimiert werden. Es ist allerdings notwendig, die Verhältnismäßigkeit von Kosten, Nutzen und Aufwand bei der Umsetzung der Vorsorgemaßnahmen zu wahren, insbesondere zum Schutz der KMU.

6.   Nano als Beschäftigungskomponente/soziale Komponente

6.1.

Die Beschäftigungspotenziale durch Nanotechnologie in der chemischen Industrie werden weltweit sehr hoch angesiedelt. Der Anteil von Nanoarbeitsplätzen in der Europäischen Union wird bereits heute auf 300 000 bis 400 000 (10) geschätzt.

6.2.

Neben diesem Wachstum gilt es aber auch, die Risiken durch Arbeitsplatzabbau, Verlagerung von Produktionsstätten oder das sich wandelnde Qualifikationsspektrum zu betrachten.

6.3.

Die Zahl der Arbeitsplätze ist die eine Seite, die Qualität dieser Arbeitsplätze die andere Seite. In den „Nanobereichen“ der verschiedenen Unternehmen, nicht nur in der chemischen Industrie, entstehen in aller Regel gut bezahlte Arbeitsplätze für qualifizierte Beschäftigte (11).

6.4.

Dies führt in den Unternehmen zu einem großen Bildungs- und Weiterbildungsbedarf. Es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit. Sozialpartnerschaft wird hier selbst zu einem Innovationsfaktor in dem Sinne, dass ein ständiger Dialog z. B. über Arbeitsorganisation, Gesundheitsschutz und Weiterbildung stattfinden muss. In der deutschen Chemieindustrie gibt es hierzu sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen, die sehr weittragend sind (12).

7.   Chancen und Risiken der Nanotechnologie

7.1.

Bereits heute gibt die Europäische Kommission pro Jahr zwischen 20 und 30 Mio. EUR für Nanosicherheitsforschung aus. Hinzu kommen jährlich etwa 70 Mio. EUR aus den Mitgliedstaaten (13). Dies ist ein angemessener und ausreichender Rahmen.

7.2.

Es sollte ein umfassendes Programm öffentlicher und privater Langzeitforschung auf europäischer Ebene koordiniert werden, um das Wissen über Nanomaterialien, ihre Eigenschaften und potenziellen Chancen und Risiken für die Gesundheit von Beschäftigten und Verbrauchern und für die Umwelt zu erweitern.

7.3.

Viele Chemieunternehmen haben im Rahmen ihres Risikomanagements unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, einen nachhaltigen Arbeitsschutz und nachhaltige Produktsicherheit verantwortungsvoll umzusetzen. Dies geschieht vielfach unter dem Dach der weltweit etablierten „Responsible Care“-Initiative der chemischen Industrie (14). Vergleichbare Initiativen gibt es auch in anderen Sektoren.

7.4.

Die Produktverantwortung gilt von der Forschung bis zur Entsorgung. Bereits in der Entwicklungsphase untersuchen die Unternehmen, wie ihre neuen Produkte sicher hergestellt und verwendet werden können. Bis zur Markteinführung müssen die Untersuchungen abgeschlossen und Hinweise zur sicheren Verwendung erstellt sein. Zudem müssen die Unternehmen angeben, wie die Produkte fachgerecht zu entsorgen sind.

7.5.

In ihren Ausführungen zur Sicherheit von Nanomaterialien betont die Europäische Kommission, dass wissenschaftliche Studien belegt hätten, dass Nanomaterialien in ihrer Essenz als „normale Chemikalien“ gelten (15). Das Wissen über die Eigenschaften von Nanomaterialien wächst beständig. Die derzeit verfügbaren Methoden zur Risikobewertung sind anwendbar.

7.6.

Die Europäische Kommission betrachtet REACH (16) als den besten Rahmen für das Risikomanagement von Nanomaterialien. Für Nanomaterialien seien einige Klarstellungen und Präzisierungen in den Anhängen der REACH-Verordnung und im REACH-Leitfaden der europäischen Chemikalienagentur erforderlich — nicht jedoch im Kerntext der Verordnung (17).

7.7.

In der pharmazeutischen Industrie spielt bei der Verarbeitung von Nanomaterialien die Good Manufacturing Practice (GMP) eine zentrale Rolle. Darunter versteht man Richtlinien zur Qualitätssicherung der Produktionsabläufe in der Produktion von Arzneimitteln und Wirkstoffen.

7.8.

Selbstverständlich müssen Verbraucher informiert werden. Die Nano-Dialoge großer Chemieunternehmen sind hierfür positive Beispiele (18). Diese Dialoge zielen auf Information, auf Akzeptanzförderung und auf Gefahrenerkennung ab. Um Informationen über Nanomaterialien leichter zugänglich zu machen, hat die Europäische Kommission Ende 2013 eine Web-Plattform freigeschaltet (19). Sie enthält Hinweise auf alle verfügbaren Informationsquellen, darunter auch nationale oder branchenbezogene Register.

8.   Wettbewerbsfaktoren/Impulse für Nanotechnologie in Europa

8.1.

Ein positives Forschungs- und Innovationsklima ist ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor. Dies bezieht sich auf Produkt- und Prozessinnovationen und auf soziale Erneuerungen. Die Bedeutung der Nanotechnologie sollte auch in den Prioritäten der EU sowie ihren Forschungs- und regionalen Förderprogrammen stärker anerkannt und unterstützt werden.

8.2.

Forschung und Entwicklung müssen in der EU eine Schlüsselrolle einnehmen. Wichtig ist hier eine europaweite Vernetzung, Kooperation und Clusterbildung zwischen Start-Up-Unternehmen, etablierten Unternehmen, Universitäten sowie anwendungs- und grundlagenorientierten Forschungseinrichtungen. So lassen sich heute wirkungsvolle Innovationspotenziale generieren. Hubs werden zur Optimierung der Zusammenarbeit unternehmensübergreifend an geografischen Schlüsselpunkten etabliert.

8.3.

Aus- und Weiterbildung sind bei hochinnovativen Verfahren wie der Nanotechnologie ein zentraler Schlüsselfaktor. Eine Mischung aus Facharbeitern und Hochschulabsolventen zeigt dort die stärksten Innovationseffekte, wo der Wissensaustausch zwischen unterschiedlichen Qualifikationsarten unterstützt wird — durch komplementäre personal- oder organisationspolitische Maßnahmen wie Teamarbeit, Jobrotation und Delegation von Entscheidungen. Die weltweite Konkurrenz um Innovationen birgt auch eine Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte. Entsprechende Anreizsysteme müssen durch Politik und Wirtschaft entwickelt werden.

8.4.

Mehr Flexibilität bei der Ausrichtung der Forschung und weniger bürokratische Anforderungen würden die Wettbewerbsfähigkeit sichern. Medikamente, Medizintechnik, Oberflächenbeschichtungen, Umwelttechnik haben eine hohe Bedeutung für den europäischen Export und den Binnenmarkt. Insbesondere die Binnenmarktorientierung mit regionalen Schwerpunkten eröffnet hier vielfältige Chancen für KMU.

8.5.

Die Kosten für den Faktor Arbeit dürfen nicht nur als anfallende Gehaltskosten betrachtet werden. In die Bewertung müssen auch anfallende Verwaltungskosten (z. B. Kontrolltätigkeiten, Qualitätssicherung) einfließen.

8.6.

Energiekosten sind in der energieintensiven chemischen Industrie ein relevanter Wettbewerbsfaktor. Konkurrenzfähige Preise und eine stabile Energieversorgung in der EU sind Voraussetzung für eine Wettbewerbsfähigkeit insbesondere auch für KMU.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Technische Textilien als Wachstumsmotor (ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 14), Stellungnahme des EWSA zur Strategie für mikro- und nanoelektronische Komponenten und Systeme (ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 175).

(2)  Europäische Kommission, Brüssel, 18. Oktober 2011. Ein Nanometer entspricht einem milliardstel Meter. Auf diese Länge passen etwa fünf bis zehn Atome. Ein Nanometer ist im Verhältnis zu einem Meter so groß wie ein Fußball zur Erdkugel. Der Begriff Nanotechnologie bezeichnet die gezielte und kontrollierte Messung, Entwicklung, Herstellung und Anwendung von Nanomaterialien, die Strukturen, Partikel, Fasern oder Plättchen kleiner als 100 Nanometer besitzen.

(3)  Quelle www.vfa.de/…/nanobiotechnologie-nanomedizin-positionspapier.pdf.

(4)  Im Folgenden beinhaltet der Begriff „chemische Industrie“ auch die pharmazeutische Industrie.

(5)  Quelle: www.vfa.de/…/nanobiotechnologie-nanomedizin-positionspapier.pdf.

(6)  Quelle: www.vfa.de/…/nanobiotechnologie-nanomedizin-positionspapier.pdf.

(7)  Oxford Economics Report, Evolution of competitiveness in the European chemical industry: historical trends and future prospects, Oktober 2014.

(8)  So haben das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik aus Deutschland und ENEA aus Italien eine Technologie zum Speichern von CO2 als Methangas entwickelt. Quelle: Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik, 2012.

(9)  Quelle: Hess. Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, Einsatz von Nanotechnologie in der hessischen Umwelttechnologie, 2009.

(10)  Otto Linher, Europäische Kommission, Grimm u. a.: Nanotechnologie: Innovationsmotor für den Standort Deutschland, Baden-Baden, 2011.

(11)  IG BCE/VCI: Zum verantwortungsvollen Umgang mit Nanomaterialien. Positionspapier, 2011.

(12)  IG BCE: Nanomaterialien — Herausforderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz.

(13)  Otto Linher, Europäische Kommission.

(14)  http://www.icca-chem.org/en/Home/Responsible-care/.

(15)  Hintergrundpapier für die WHO-Leitlinien zum Schutz der Arbeitnehmer vor potenziellen Gefahren beim Umgang mit hergestellten Nanomaterialien (Guidelines on Protecting Workers from Potential Risks of Manufactured Nanomaterials).

(16)  REACH ist die Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. http://echa.europa.eu/web/guest.

(17)  Quelle: Sector Social Dialogue, Committee of the European Chemical Industry.

(18)  http://www.cefic.org/Documents/PolicyCentre/Nanomaterials/Industry-messages-on-nanotechnologies-and-nanomaterials-2014.pdf.

(19)  https://ihcp.jrc.ec.eur<opa.eu/our_databases/web-platform-on-nanomaterials.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

512. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Dezember 2015

24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2014“

[COM(2015) 247 final]

(2016/C 071/06)

Berichterstatterin:

Reine-Claude MADER

Die Europäische Kommission beschloss am 6. Juli 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2014“

[COM(2015) 247 final].

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 17. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember 2015) mit 128 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die verschiedenen Initiativen der Kommission zur Förderung eines lauteren Wettbewerbs, bei dem die Interessen der verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer (Unternehmen, Verbraucher, Arbeitnehmer) gewahrt werden.

1.2.

Der EWSA unterstützt die Maßnahmen der Kommission, um die Einhaltung der Wettbewerbsregeln zu gewährleisten. Dies betrifft insbesondere die Maßnahmen gegen wettbewerbswidrige Praktiken wie beispielsweise den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, die die wirtschaftliche Entwicklung der EU und insbesondere der für Wachstum und Beschäftigung entscheidend wichtigen KMU sowie der dem sozialen Zusammenhalt förderlichen sozialwirtschaftlichen Unternehmen behindern.

1.3.

Er bedauert jedoch, dass die Kommission auch diesmal wieder kein echtes rechtliches Verfahren der Sammelklage zur wirksamen Durchsetzung der Schadensersatzansprüche der Geschädigten wettbewerbswidriger Praktiken eingeführt hat.

1.4.

Er begrüßt den Einsatz der Kommission für Kenntnis und Transparenz der Regeln, was Stabilität für die Unternehmen und folglich für den Markt schafft. Er möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Praktiken des Einzelhandelssektors laufend überwacht werden müssen.

1.5.

Der EWSA stellt erfreut fest, dass die Kommission der Zusammenarbeit mit den nationalen Wettbewerbsbehörden, denen insbesondere bei der Prävention sowie bei der Entwicklung von Sensibilisierungskampagnen für das Wettbewerbsrecht eine entscheidende Rolle zukommt, neue Impulse verleiht. Er ist der Auffassung, dass sie mit den dafür notwendigen Mitteln ausgestattet werden müssen.

1.6.

Diese Zusammenarbeit muss aufgrund der Globalisierung auf die internationale Ebene ausgeweitet werden, um die EU vor unlauterem Wettbewerb zu schützen.

1.7.

Er spricht sich dafür aus, den Dialog zwischen den verschiedenen EU-Institutionen (EP, EWSA, Ausschuss der Regionen) zu verstärken.

1.8.

Der EWSA befürwortet die Änderungen, die an den Vorschriften über staatliche Beihilfen vorgenommen wurden, um innovative Unternehmen zu unterstützen, insbesondere im digitalen Bereich, was erhebliche Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Nutzen von Verbrauchern und Unternehmen eröffnet.

1.9.

Der EWSA ist sich der begrenzten Interventionsmöglichkeiten der Kommission in Sachen Steueroptimierung vollauf bewusst; er dringt jedoch darauf, dass die Kommission ihre Bemühungen fortsetzt, um steuerlichen und sozialen Verzerrungen abzuhelfen, sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten einzuschränken oder zu unterbinden und dabei eine Nivellierung nach unten zu vermeiden.

1.10.

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass dem Energiemarkt große Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Er spricht sich für die Schaffung einer Energieunion aus, um die Versorgungssicherheit und die Bereitstellung von Energie zu erschwinglichen Preisen im gesamten Unionsgebiet sicherzustellen.

1.11.

Große Bedeutung misst er im Übrigen Maßnahmen zur Energieeinsparung, zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Entwicklung erneuerbarer Energien bei.

1.12.

Die Öffnung des Energiemarkts muss seiner Meinung nach den privaten Verbrauchern zugutekommen, die über keine echte Verhandlungsmacht verfügen.

1.13.

Der EWSA plädiert dafür, mit allen Mitteln den freien Zugang zum digitalen Markt zu garantieren, um die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Gebiete zu ermöglichen. Zur Verwirklichung dieses Ziels ist Komplementarität zwischen privaten Investitionen und staatlichen Beihilfen geboten.

1.14.

Der EWSA fordert die Kommission auf, dem Finanzdienstleistungsangebot weiterhin besondere Aufmerksamkeit zu schenken, damit sich die Realwirtschaft mit Geld versorgen kann und damit die Verbraucher auch künftig Dienstleistungen zu den bestmöglichen Konditionen nutzen können.

1.15.

Der EWSA weist schließlich darauf hin, dass eine entsprechende Begleitung und Bewertung der ergriffenen politischen Maßnahmen unverzichtbar sind.

2.   Inhalt des Berichts über die Wettbewerbspolitik 2014

2.1.

Der Schwerpunkt dieses Jahresberichts liegt im Wesentlichen auf dem digitalen Binnenmarkt, der Energiepolitik und den Finanzdienstleistungen. Darin wird auch auf Fragen im Zusammenhang mit der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, der Kontrolle staatlicher Beihilfen, der Förderung der Wettbewerbskultur in der EU und über die EU-Grenzen hinaus sowie dem interinstitutionellen Dialog eingegangen.

2.2.

Die digitale Wirtschaft wird als ein Faktor hervorgehoben, der dem Energie- und Verkehrssektor, dem öffentlichen Dienst sowie dem Gesundheits- und Bildungswesen Innovation und Wachstum bringen könnte. Zu diesem Zweck wurden alle Instrumente des Wettbewerbsrechts genutzt, um den Ausbau und die Modernisierung der Infrastrukturen — u. a. der Hochgeschwindigkeitsnetze (der sogenannten „Netze der nächsten Generation“) — mithilfe staatlicher Beihilfen unter Einhaltung des Grundsatzes der Technologieneutralität zu fördern.

2.3.

Der Markt der intelligenten Mobilgeräte entwickelt sich sehr schnell, wie die Übernahme von WhatsApp (1) durch Facebook gezeigt hat, die nach der ersten Prüfung von der Kommission nach der EU-Fusionskontrollverordnung (EG) Nr. 139/2004 (2) ohne Auflagen genehmigt wurde.

2.4.

Für das Jahr 2014 wurde erneut festgestellt, dass sich die Anwendung des Wettbewerbsrechts im digitalen Sektor durch die komplexe Beziehung und das erforderliche Gleichgewicht mit der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums aus einem Patent (siehe Beschlüsse zu Samsung und Motorola (3)) oder einem Urheberrecht auszeichnet. Letzteres wird belegt durch die Einleitung eines förmlichen Verfahrens gegen eine Reihe von großen US-amerikanischen Filmstudios und europäischen Pay-TV-Sendern in der sogenannten Sache „Grenzübergreifender Zugang zu Pay-TV-Inhalten“ (4).

2.5.

Im Bericht wird anschließend auf den Energiesektor eingegangen und darauf hingewiesen, dass die EU-Energiepolitik reformiert werden muss. Die Kommission will Infrastrukturinvestitionen durch die Schaffung eines Rahmens für staatliche Beihilfen und die Vereinfachung der Verfahren für die Durchführung bestimmter Beihilfemaßnahmen fördern: Die neue allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung sieht (unter bestimmten Bedingungen) vor, dass für Beihilfen für Energieinfrastrukturen und die Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden, Betriebsbeihilfen für die Energieerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen, Beihilfen für die Sanierung schadstoffbelasteter Standorte sowie Beihilfen für das Recycling von Abfällen keine vorherige Genehmigung durch die Kommission mehr erforderlich ist (5).

2.6.

Die Beihilfen im Bereich der Kernenergie hingegen sind in den neuen Leitlinien nicht enthalten. Sie werden immer noch von den Kommissionsdienststellen nach Artikel 107 AEUV geprüft, wie beispielsweise die Pläne des Vereinigten Königreichs zur Förderung des Baus und Betriebs eines neuen Kernkraftwerks in Hinkley Point (6).

2.7.

Außerdem wurde die Wettbewerbspolitik als Instrument zur Senkung der Energiepreise verwendet, indem missbräuchliche Verhaltensweisen und wettbewerbswidrige Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern unterbunden wurden, wie beispielsweise von EPEX Spot und Nord Pool Spot (NPS) (7) sowie von OPCOM in Rumänien (wegen Missbrauchs seiner beherrschenden Stellung (8)), oder auch der Bulgarian Energy Holding (BEH) in Bulgarien (9) bzw. von Gazprom in Bezug auf vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa (10).

2.8.

2014 wurde im Rahmen der Wettbewerbspolitik außerdem versucht, die Transparenz des Finanzsektors und die Bankenregulierung und -aufsicht zu verbessern.

2.9.

Die Kommission hat die staatlichen Beihilfen in Griechenland, Zypern, Portugal, Irland und Spanien kontrolliert und dafür gesorgt, dass die Förderbanken den Wettbewerb nicht verzerren (11).

2.10.

Sie erließ außerdem zwei Kartellbeschlüsse gegen die Banken RBS und JP Morgan wegen ihrer Beteiligung zum einen an einem rechtswidrigen bilateralen Kartell zur Beeinflussung des Libor-Referenzzinssatzes in Schweizer Franken und zum anderen an einem Kartell mit UBS und Crédit Suisse im Bereich von Geld-Brief-Spannen für Zinsderivate in Schweizer Franken im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) (12). Die Kommission hat Geldbußen in Höhe von 32,3 Mio. EUR gegen sie verhängt (13).

2.11.

Darüber hinaus verfolgt die Kommission wettbewerbswidrige Verhaltensweisen von Visa Europe, Visa Inc., Visa International und MasterCard bei den multilateralen Interbankenentgelten weiter: Sie hat die Zusagen von Visa Europe für rechtsverbindlich erklärt und führt das Verfahren gegen Visa Inc. und Visa International in Bezug auf internationale Interbankenentgelte fort.

2.12.

Der Bericht zieht außerdem Bilanz bezüglich der Bemühungen der Kommission, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen, insbesondere der KMU, zu fördern durch die Erleichterung ihres Zugangs zu Finanzmitteln in ihrer Entwicklungsphase (14) und durch die Unterstützung von Forschung und Innovation mithilfe eines neuen Rechtsrahmens für staatliche Beihilfen durch die Einführung einer Gruppenfreistellung (15).

2.13.

Die KMU sind darüber hinaus die Hauptadressaten bei der Überarbeitung der „De-Minimis“-Bekanntmachung; diese dient als Leitfaden für die Beurteilung, ob von ihnen getroffene Vereinbarungen unter Artikel 101 AEUV zum Verbot illegaler Kartelle zwischen Unternehmen fallen (16).

2.14.

Im Jahr 2014 hat die Kommission auch besondere Aufmerksamkeit für die Nutzung unterschiedlicher Steuersysteme in gewissen Mitgliedstaaten durch bestimmte Unternehmen zur Verringerung ihrer Steuerbemessungsgrundlage gewidmet und förmliche Prüfverfahren gegen Apple in Irland, Starbucks in den Niederlanden und Fiat Finance & Trade in Luxemburg eingeleitet.

2.15.

Im vergangenen Jahr sind seit dem Erlass der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und der letzten Überarbeitung der Fusionskontrollverordnung (17) zehn Jahre vergangen. In dem Bericht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Fortschritte bezüglich der Unabhängigkeit der Wettbewerbsbehörden und des ihnen für die Verfolgung und Ahndung rechtswidriger Verhaltensweisen zur Verfügung stehenden Instrumentariums wünschenswert wären. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass die Fusionskontrolle stärker gestrafft werden muss.

2.16.

Als eine der Errungenschaften der Wettbewerbspolitik führt die Kommission dieses Jahr außerdem die Annahme der 2014 in Kraft getretenen Richtlinie über Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen das Kartellrecht auf; sie äußert die Auffassung, dass es dank dieser Richtlinie für europäische Bürger und Unternehmen einfacher wird, einen wirksamen Ersatz für Schäden zu erhalten, die ihnen durch Kartellrechtsverstöße (z. B. durch Kartelle oder den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) entstanden sind.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA unterstützt die Politik der digitalen Entwicklung sowie die Initiativen zur Förderung von Innovation und Wachstum. Seiner Ansicht nach muss Breitbandzugang im gesamten EU-Gebiet verfügbar sein, was staatliche Beihilfen in Verbindung mit ergänzenden EU-Mitteln erfordern könnte. Die Leitlinien für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau dürften in diesem Zusammenhang nützlich sein (18).

3.2.

Ohne flächendeckendes Breitbandnetz kann es keinen digitalen Binnenmarkt geben. Angesichts des mangelnden Interesses privater Betreiber an bestimmten — insbesondere ländlichen — Gebieten, deren wirtschaftliche Entwicklung gefördert werden muss, hat sich die Kommission jedoch bescheidenere Ziele gesteckt.

3.3.

Der EWSA unterstützt die Absicht der Kommission, Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln zu ahnden: Seiner Meinung nach müssen Geldbußen in abschreckender Höhe festgesetzt und im Wiederholungsfall verschärft werden. Darüber hinaus muss die Wettbewerbspolitik u. a. auch in den Unternehmen erläutert werden, um wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen vorzubeugen.

3.4.

Der EWSA stellt ebenso wie die Kommission fest, dass die Zahl der Nutzer intelligenter Mobilgeräte zunimmt. Innovation ist hier von entscheidender Bedeutung, aber die Spielregeln müssen den Wirtschaftsteilnehmern bekannt und transparent sein. Er ist der Auffassung, dass die Allgegenwart großer internationaler Konzerne wie Google, um nur ein Beispiel zu nennen, die Gefahr des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung birgt. Es muss für die Einhaltung der geltenden Regeln gesorgt werden, um neuen Akteuren den Zugang zum Markt zu ermöglichen.

3.5.

Darüber hinaus ist er der Auffassung, dass die Patentinhaber Lizenzverträge für ihre Patente zu fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Bedingungen anbieten müssen.

3.6.

Der EWSA befürwortet die Anpassung des Rechtsrahmens für das Urheberrecht an das digitale Zeitalter (19): Man muss „mit der Zeit Schritt halten“, wie die Kommission völlig zu Recht unterstreicht.

3.7.

Was das Funktionieren der Energiemärkte betrifft, ist nach Ansicht des EWSA wirtschaftliche Entwicklung nur mit einer gemeinsamen Energiepolitik möglich. Er begrüßt daher die von Kommission angestrebte Schaffung einer Energieunion.

3.8.

Diese Energieunion wird seiner Ansicht nach für die Unternehmen und Verbraucher von Vorteil sein, die auch in den Genuss erschwinglicher Preise und Versorgungssicherheit kommen müssen.

3.9.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission auf dem Energiemarkt für echten Wettbewerb sorgt und Maßnahmen zur Beseitigung der Wettbewerbshemmnisse auf diesen nicht regulierten Märkten ergreift. Die Kommission sollte alles tun, um Marktstörungen mit wirtschaftlichen Folgen zu vermeiden.

3.10.

Besondere Bedeutung misst er schließlich Maßnahmen zur Energieeinsparung, zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Förderung von erneuerbaren Energien und Bioenergien bei.

3.11.

Der gesamte Finanzsektor sollte nach Auffassung des EWSA ethischer und transparenter geregelt sein und das Wachstum unterstützen.

3.12.

Er begrüßt, dass die Kontrolle staatlicher Beihilfen zur kohärenten Bewältigung der finanziellen Herausforderungen und zur Begrenzung von Wettbewerbsverzerrungen beigetragen hat, wobei der Einsatz von Steuergeldern auf das erforderliche Minimum beschränkt wurde. Er stellt fest, dass durch die Kontrolle der staatlichen Beihilfen im Zuge der Schaffung und Stärkung von Aufsichtsmechanismen bestimmte Wettbewerbsverzerrungen auf den Märkten eingedämmt werden konnten.

3.13.

Der EWSA betont, dass durch die Maßnahmen der Kommission zur Senkung der Kosten für die Nutzung von Zahlungskarten die Kosten dieser Transaktionen im Binnenmarkt um 30 % bis 40 % verringert werden konnten.

3.14.

Die angekündigte Förderung des Wirtschaftswachstums ist eine absolute Notwendigkeit. Hierzu könnten innovationsfördernde Maßnahmen beitragen, die im „Unionsrahmen für staatliche Beihilfen zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation“ enthalten sind.

3.15.

Der EWSA hat in seinen vorhergehenden Stellungnahmen die Initiative der Kommission zur Modernisierung des Beihilfenrechts begrüßt und die Auffassung vertreten, dass die neuen Leitlinien (20) den Bedürfnissen der Mitgliedstaaten und den Realitäten des Markts besser entsprechen. Infolge der Stärkung der Transparenz wird seiner Meinung nach die Bewilligung staatlicher Beihilfen besser nachzuvollziehen sein. Durch die Überwachung seitens der Kommission kann die Einhaltung der Regeln bei der Zuteilung staatlicher Beihilfen sichergestellt werden. Außerdem können sich die Mitgliedstaaten dank der Evaluierung vergewissern, dass die zugeteilten Beihilfen sinnvoll verwendet werden.

3.16.

Die Kommissionsmitteilung über die für die Förderung europäischer Projekte notwendigen Bedingungen dürfte zusammen mit der angekündigten Schaffung des Europäischen Fonds für strategische Investitionen dazu beitragen, dass dieses Ziel erreicht wird.

3.17.

Der EWSA begrüßt überdies, dass die Notwendigkeit anerkannt wird, staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von in Schwierigkeiten geratenen, aber lebensfähigen Unternehmen zu gewähren. Er unterstützt die Maßnahmen zur Unterbindung illegaler Absprachen, die der Entwicklung insbesondere von Arbeitsplätze schaffenden KMU schaden und sich auf Beschäftigung und Preise auswirken.

3.18.

Der Ausschuss stellt fest, dass Großunternehmen dank der Unterschiede zwischen den Steuersystemen nach wie vor Steueroptimierung betreiben. Er begrüßt die Anstrengungen der Kommission, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Steuerumgehung infolge Steuerverzerrung abzuhelfen, sie einzuschränken oder zu unterbinden.

3.19.

Besonders wichtig sind die Bemühungen der Kommission, Konvergenz mit und unter den nationalen Wettbewerbsbehörden zu gewährleisten.

3.20.

Der Ausschuss wird die Folgemaßnahmen zu dem Weißbuch „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“, dem zufolge die derzeitigen Bestimmungen verbessert werden sollen, mit Interesse verfolgen.

3.21.

Angesichts der Globalisierung des Handels befürwortet der EWSA die Entwicklung der multilateralen Zusammenarbeit (im Rahmen von OECD, ICN und Unctad) sowie die Programme zur Zusammenarbeit und technischen Unterstützung.

3.22.

Durch den Dialog der GD Wettbewerb mit dem EP, dem EWSA und dem Ausschuss der Regionen muss die Transparenz der interinstitutionellen Debatte über die verfolgte Politik sichergestellt werden.

3.23.

Diese Dialogbereitschaft müsste umso nachhaltiger sein, als Präsident Juncker in seiner Aufgabenbeschreibung für Frau Vestager den Schwerpunkt auf diese politische Partnerschaft gelegt hat.

3.24.

Im Gegensatz zur Kommission ist der EWSA nicht der Meinung, dass die Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (21) und die Empfehlung über gemeinsame Grundsätze für kollektive Streitbeilegungsverfahren im Rahmen von Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen geeignet sind, den notwendigen kollektiven Rechtsschutz für die Geschädigten dieser Verstöße sicherzustellen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Das schwierige Gleichgewicht zwischen Innovation, Wettbewerb und gewerblichen Schutzrechten für einen vernetzten digitalen Binnenmarkt

4.1.1.

Nach Auffassung der Kommission sind verbesserte Normungsverfahren und höhere Interoperabilität für die Wirksamkeit ihrer digitalen Strategie von zentraler Bedeutung. Allerdings gilt es zu definieren, was sie unter „verbesserten“ Normungsverfahren versteht.

4.1.2.

Das Beispiel der Rechtssache Motorola (22), einer Episode im Kampf um Smartphone-Patente, dient als Richtschnur dafür, wie sich die Unternehmen dieser Branche verhalten sollten. In der Sache beschloss die Kommission, dass Motorola, das über standardessenzielle Patente (SEP) für die GPRS-Norm verfügt, seine marktbeherrschende Stellung missbraucht hat, indem es vor einem deutschen Gericht eine Unterlassungsverfügung gegen Apple beantragte. Diese SEP waren als standardessenziell eingestuft, da sie für die Anwendung des GSM-Standards notwendig waren. Unternehmen, die Inhaber von SEP sind, verfügen potenziell über eine beträchtliche Marktmacht, weshalb Normungsgremien häufig von ihnen verlangen, Lizenzen für ihre Patente zu fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien Bedingungen (fair, reasonable and non-discriminatory — sogenannter FRAND-Grundsatz) zu erteilen, um allen Marktakteuren Zugang zu diesen Patenten zu gewähren.

4.1.3.

Im vorliegenden Fall war es ohne Zugang zum grundlegenden Patent, das sich im Besitz von Motorola befand, für den Wettbewerber — hier Apple — nicht möglich, eine bestimmte Kategorie von Smartphones herzustellen und zu vertreiben.

4.1.4.

Die Einreichung einer Unterlassungsklage bei einem einzelstaatlichen Gericht durch einen Patentinhaber ist legitim, wenn ein solches Patent verletzt wird. Sie kann jedoch missbräuchlich sein, wenn der Inhaber eines SEP eine marktbeherrschende Stellung innehat und er sich verpflichtet hat, den Zugang nach dem FRAND-Grundsatz zu gewähren, und wenn der durch die Klage betroffene Wettbewerber bereit ist, eine Lizenz nach dem FRAND-Grundsatz zu erwerben. Trotzdem hat die Kommission gegen Motorola keine Geldbuße verhängt, da zur Rechtmäßigkeit von Unterlassungsbegehren auf der Grundlage von SEP im Lichte von Artikel 102 AEUV bisher noch keine Rechtsprechung der EU-Gerichte vorliegt und die einzelstaatlichen Gerichte bislang zu unterschiedlichen Auffassungen gelangt sind. Sie hat jedoch Motorola aufgefordert, ihr missbräuchliches Verhalten zu unterlassen.

4.1.5.

In einer ähnlichen Sache hat die Kommission die von Samsung vorgeschlagene Verpflichtung akzeptiert, keine Unterlassungsverfügungen auf der Grundlage seiner SEP für Smartphones und Tablet-Computer gegen Unternehmen zu erheben, wenn diese eine bestimmten Lizenzierungsrahmen einhalten.

4.1.6.

Diese Fälle zeigen, dass es sehr schwierig ist, ein Gleichgewicht zwischen Wettbewerb, Patentrecht und Innovation zu erreichen — mit dem letztlichen Ziel, den Verbrauchern den Erwerb erschwinglicher Technologieprodukte und eine möglichst breite Auswahl zwischen interoperablen Produkten zu ermöglichen.

4.1.7.

Der EWSA unterstützt das diesbezügliche Engagement der Kommission, die stets im Hinterkopf behalten sollte, dass die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften nicht dem Wettbewerb als solchem dienen, sondern vielmehr letztlich dem Verbraucher zugutekommen sollte.

4.1.8.

Der EWSA unterstützt die Idee, private Investitionen durch öffentliche Investitionen zu ergänzen, um eine digitale Kluft in der EU zu vermeiden, sofern staatliche Beihilfen nicht private Investitionen behindern. Die „Leitlinien der EU für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau“ (23) waren der erste endgültig angenommene Text im Rahmen der Modernisierung des Beihilfenrechts, was für das Interesse der Kommission für diese Thematik spricht.

4.1.9.

Der EWSA ist dennoch der Auffassung, dass das Bestreben der Kommission, bis 2020 eine vollständige Abdeckung mit schnellen Breitbanddiensten (30 Mbit/s) und eine Versorgung mit ultraschnellen Breitbanddiensten (100 Mbit/s) für 50 % der Europäer zu erreichen, nicht ehrgeizig genug ist.

4.2.   Energiemärkte

4.2.1.

Die Gewährleistung der Energieunabhängigkeit der EU und die Förderung eines integrierten Energiemarkts sind von primärer Bedeutung für den Zugang zu Energie, die Beseitigung von Energieinseln und die Versorgungssicherheit. Die EU muss von einem echten politischen Willen beseelt sein, dieses Ziel zu erreichen und zu einer Diversifizierung der Energiequellen unter Bevorzugung erneuerbarer Energien zu gelangen. Die von Kommissionspräsident Juncker geforderte europäische Energieunion (24) wird dabei sicherlich politische Impulse geben.

4.2.2.

Nach Auffassung des EWSA muss das dritte Energiepaket rasch umgesetzt werden, zumal die Vorschriften für den grenzüberschreitenden Energiehandel immer noch Stückwerk sind.

4.2.3.

Der EWSA betont, dass unverzüglich die erforderlichen Strukturreformen durchgeführt werden müssen, um die Hindernisse für Investitionen in Infrastrukturen — insbesondere grenzüberschreitender Dimension — zu beseitigen.

4.2.4.

Nach Ansicht des EWSA besteht kein Zweifel, dass die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln zur Öffnung der nationalen Energiemärkte beiträgt. Dies wird durch die Rechtssachen „Strombörsen“ und „OPCOM/rumänische Strombörse“ belegt, die im Kommissionsbericht genannt werden (25). Die Kommission verhängte diesbezüglich zum einen nach Artikel 101 AEUV eine Geldbuße gegen zwei Strombörsen, die vereinbart hatten, nicht miteinander zu konkurrieren und sich das Gebiet untereinander aufzuteilen. Zum anderen belegte sie die rumänische Strombörse OPCOM nach Maßgabe von Artikel 102 AEUV mit einer Geldbuße, da sie Stromhändler aus anderen Mitgliedstaaten diskriminiert hatte.

4.2.5.

Gleichwohl stellt der EWSA die Aussage infrage, dass die Großhandelspreise für Strom dank des verstärkten Wettbewerbs zurückgegangen seien; dies hat nur selten zu einer Senkung des allgemeinen Preisniveaus für die Endverbraucher (26) geführt.

4.2.6.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission nach Maßgabe von Artikel 102 AEUV durchgeführten Untersuchungen bezüglich des Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung von Gazprom für die Lieferung von Gas nach Mittel- und Osteuropa (27).

4.3.   Finanz- und Bankdienstleistungen

4.3.1.

Die grundlegende Überarbeitung der Rechts- und Aufsichtsvorschriften für Banken wurde 2014 fortgeführt. Die vorgeschlagenen Regeln sollen insbesondere die Transparenz auf den Finanzmärkten erhöhen.

4.3.2.

Die Kommission hat auch darauf geachtet, dass Finanzinstitute, die staatliche Beihilfen erhalten haben, sich umstrukturieren oder aus dem Markt ausscheiden. Besondere Aufmerksamkeit wird den Gefahren von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Finanzinstituten (28) gewidmet.

4.3.3.

Der EWSA hat mit Interesse die von der Kommission durchgeführten Untersuchungen wettbewerbswidriger Geschäftspraktiken verfolgt. Er begrüßt die von der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden gefassten Beschlüsse über Interbankenentgelte.

4.3.4.

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache MasterCard (29), das die Analyse der Kommission bestätigt, wurde vom EWSA begrüßt. Die von den Verbrauchern bei der Kartenzahlung entrichteten Interbankenentgelte wurden de facto immer höher, zahlreicher und undurchsichtiger.

4.3.5.

Ferner behinderten solche Geschäftspraktiken den Zugang zum Zahlungsmarkt für Nichtbanken, die dem Verbraucher andere mobile und sichere elektronische Zahlungsmöglichkeiten — z. B. über ihre Smartphones — anbieten können.

4.3.6.

Die Besonderheit der Rechtssache MasterCard bestand auch darin, dass der Mechanismus zur Festlegung multilateraler Interbankenentgelte eine „bewirkte“ und keine „bezweckte“ Beschränkung darstellte.

4.3.7.

Der EWSA begrüßt, dass der Gerichtshof ebenso wie das Gericht festgestellt hat, dass Interbankenentgelte für das Funktionieren des Systems MasterCard keine objektive Notwendigkeit darstellen.

4.4.   Mehr Unterstützung für KMU

4.4.1.

Der EWSA begrüßt die Aufmerksamkeit für KMU, die für das Wachstum und die Verwirklichung der Europa-2020-Ziele eine zentrale Rolle spielen. Er billigt die Entscheidungen der Kommission, die Finanzierung ihrer Aktivitäten zu unterstützen und die Vorschriften an ihre spezifischen Bedürfnisse anzupassen.

4.4.2.

Der EWSA begrüßt, dass diese Maßnahmen auch für die freien Berufe offenstehen, und anerkennt die entscheidende Rolle, die diese in Europa für das Wachstum spielen, da sie in jeder Branche für Bürger und Unternehmen einen unerlässlichen Beitrag zu dem für die Lösung komplexer Probleme erforderlichen Wissen sicherstellen; der EWSA empfiehlt der Kommission überdies, ihr diesbezügliches Engagement fortzusetzen und, wenn möglich, auszuweiten.

4.4.3.

Die „Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Risikofinanzierungen“ (30) könnten z. B. den Mitgliedstaaten ermöglichen, KMU den Zugang zu Finanzierungen in ihrer Startphase zu erleichtern. Zudem scheinen sie den Realitäten des Marktes besser gerecht zu werden.

4.4.4.

Ferner unterstützt der EWSA die Maßnahmen der Kommission gegen Fälle des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, die die Gründung und Entwicklung von KMU sowie ihre Geschäftstätigkeiten beeinträchtigen können.

4.4.5.

Die „De Minimis“-Bekanntmachung von 2014 (31) sieht eine Sicherheitszone (SAFE-Harbour-Bereich) für Vereinbarungen ohne spürbare Auswirkungen auf den Wettbewerb vor, da diese zwischen Unternehmen abgeschlossen werden, die einen bestimmten Marktanteil nicht überschreiten. Die Kommission hat im Übrigen einen diesbezüglichen Leitfaden für KMU veröffentlicht. Der EWSA hält gleichwohl Informationsmaßnahmen vor Ort für sinnvoll.

4.5.   Ausbau der Möglichkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden und der internationalen Zusammenarbeit

4.5.1.

Der EWSA begrüßt die gute Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Er ist der Auffassung, dass diese die für ein reibungsloses Funktionieren des Marktes erforderliche Interaktion gewährleistet.

4.5.2.

Er unterstützt sämtliche für die Zusammenarbeit der nationalen Wettbewerbsbehörden notwendigen Maßnahmen; diese müssen dafür über die notwendigen Ressourcen verfügen und unabhängig sein.

4.5.3.

Der EWSA befürwortet die Kommissionsinitiativen zur Schaffung eines echten europäischen Raums des Wettbewerbs. Dies setzt die Harmonisierung der Grundregeln der einzelstaatlichen Rechtssysteme voraus, da dadurch die Wirtschaftstätigkeiten im Binnenmarkt abgesichert werden.

4.5.4.

Er ist auch der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten über ein umfassendes rechtliches Instrumentarium verfügen müssen, um die erforderlichen Nachprüfungen vornehmen und wirksame und verhältnismäßige Geldbußen verhängen zu können.

4.5.5.

Kronzeugenregelungen, die sich im Kampf gegen Kartelle bewährt haben, müssen ebenfalls in allen Mitgliedstaaten Anwendung finden.

4.5.6.

Die multilaterale Zusammenarbeit mit der OECD, dem Internationalen Wettbewerbsnetz und der Unctad muss aufrechterhalten werden, und die Kommission muss dabei eine Vorreiterrolle spielen.

4.5.7.

Der EWSA unterstreicht schließlich, dass die Beitrittsgespräche mit den Kandidatenländern verstärkt durch technische Hilfe flankiert werden müssen.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Sache M.7217, Facebook/WhatsApp, Beschluss der Kommission vom 3. Oktober 2014.

(2)  Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) (ABl. L 24 vom 29.1.2004, S. 1).

(3)  Sache AT.39985, Motorola — Durchsetzung von standardessenziellen GPRS-Patenten, Beschluss der Kommission vom 29. April 2014. Sache AT.39939, Samsung — Durchsetzung von standardessenziellen UMTS-Patenten, Beschluss der Kommission vom 29. April 2014.

(4)  Sache AT.40023, Grenzübergreifender Zugang zu Pay-TV-Inhalten, 13. Januar 2014.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen (ABl. L 93 vom 28.3.2014, S. 17), und Mitteilung der Kommission — Leitlinien zur Anwendung von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Technologietransfer-Vereinbarungen (ABl. C 89 vom 28.3.2014, S. 3).

(6)  Sache SA.34947, Vereinigtes Königreich — Förderung des Kernkraftwerks Hinkley Point C, 8. Oktober 2014.

(7)  Sache AT.39952, Strombörsen, Beschluss der Kommission vom 5. März 2014.

(8)  Sache AT.39984, OPCOM/Rumänische Strombörse, Beschluss der Kommission vom 5. März 2014.

(9)  Sache AT.39767, BEH Strom.

(10)  Sache AT.39816, Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa, 4. September 2012.

(11)  Sache SA.36061, Business Bank des Vereinigten Königreichs, Beschluss der Kommission vom 15. Oktober 2014. Sache SA.37824, Portugiesische Einrichtung zur Entwicklungsfinanzierung, Beschluss der Kommission vom 28. Oktober 2014.

(12)  Sache AT.39924, Zinsderivate in Schweizer Franken, Beschluss der Kommission vom 21. Oktober 2014 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-1190_de.htm.

(13)  RBS wurde die Geldbuße gemäß der Kronzeugenregelung von 2006 erlassen, da das Unternehmen die Kommission von dem Kartell in Kenntnis gesetzt hatte; RBS entging dadurch einer Geldbuße von ca. rund 5 Mio. EUR wegen seiner Beteiligung an der Straftat. UBS und JP Morgan erhielten im Rahmen der Kronzeugenregelung der Kommission eine Ermäßigung ihrer Geldbußen für ihre Mitwirkung bei der Untersuchung. Allen vier Banken wurde jeweils eine Geldbußenermäßigung von 10 % gewährt, nachdem sie einem kartellrechtlichen Vergleichsverfahren mit der Kommission zugestimmt hatten.

(14)  Mitteilung der Kommission — Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Risikofinanzierungen (ABl. C 19 vom 22.1.2014, S. 4).

(15)  Mitteilung der Kommission — Unionsrahmen für staatliche Beihilfen zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation (ABl. C 198 vom 27.6.2014, S. 1).

(16)  Mitteilung der Kommission — Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-minimis-Bekanntmachung) (ABl. C 291 vom 30.8.2014, S. 1).

(17)  Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1 vom 4.1.2003, S. 1); siehe Fußnote 2.

(18)  Mitteilung der Kommission — Leitlinien der EU für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau (ABl. C 25 vom 26.1.2013, S. 1).

(19)  ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 72. ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 104.

(20)  Mitteilung der Kommission — Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Risikofinanzierungen (ABl. C 19 vom 22.1.2014, S. 4).

(21)  Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. L 349 vom 5.12.2014, S. 1).

(22)  Siehe Fußnote 3.

(23)  ABl. C 25 vom 12.11.2013, S. 1.

(24)  Jean-Claude Juncker, „Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel“, Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission, Rede zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments, 15. Juli 2014.

(25)  Sache AT.39952, Strombörsen, Beschluss der Kommission vom 5. März 2014 und Sache AT.39984, OPCOM/Rumänische Strombörse, Beschluss der Kommission vom 5. März 2014.

(26)  Mitteilung der Kommission „Energiepreise und -kosten in Europa“ vom 29. Januar 2014.

(27)  Sache AT.39816, Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa, 4. September 2012.

(28)  Sache SA. 38994, Liquiditätsregelung zugunsten bulgarischer Banken, Beschluss Kommission vom 29. Juni 2014.

(29)  Urteil des Gerichtshofs vom 11. September 2014 in der Rechtssache C-382/12P, MasterCard Inc. u. a./Europäische Kommission.

(30)  Mitteilung der Kommission — Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Förderung von Risikofinanzierungen (ABl. C 19 vom 22.1.2014, S. 4).

(31)  Mitteilung der Kommission — Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-Minimis-Bekanntmachung) (ABl. C 291 vom 30.8.2014, S. 1).


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union — Fünf Aktionsschwerpunkte“

(COM(2015) 302 final)

(2016/C 071/07)

Berichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Mitberichterstatter:

Paulo BARROS VALE

Die Europäische Kommission beschloss am 6. Juli 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union — Fünf Aktionsschwerpunkte

(COM(2015) 302 final).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 26. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 169 gegen 15 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung gehört zu den größten Anliegen der letzten Jahre sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Europäischen Kommission. Der von der Europäischen Kommission vorgelegte Aktionsplan zur Einführung einer fairen und effizienten Unternehmensbesteuerung ist ein wichtiger Schritt, um diese schädliche Praxis zurückzudrängen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Vorlage des Plans und unterstützt die Kommission bei der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung, die zu einer Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen der Mitgliedstaaten führt und unlauterem Wettbewerb Vorschub leistet.

1.2.

Wie bereits in seinen früheren Stellungnahmen (1) befürwortet der EWSA die Einführung einer — für grenzübergreifend tätige Unternehmen verbindlichen — gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB). Wäre sie nur unverbindlich, so wäre es um die Wirksamkeit dieser Maßnahme schlecht bestellt, da die Unternehmen, die zur Steuervermeidung Gewinne transferieren, die Annahme der GKKB ablehnen würden.

1.3.

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Mitgliedstaaten und die Kommission die GKKB künftig auf alle Unternehmen ausweiten, um die Koexistenz zweier verschiedener Besteuerungsgrundlagen zu vermeiden. Vor der Ausweitung der GKKB auf alle Unternehmen muss jedoch eine gründliche Folgenabschätzung durchgeführt werden, insbesondere mit Blick auf die Auswirkungen dieses Systems auf lokal tätige Kleinst- und Kleinunternehmen.

1.4.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei der Ausarbeitung des Richtlinienentwurfs auf klare Definitionen und Konzepte für die gemeinsame Bemessungsgrundlage zu achten. Diese klaren Definitionen sind unerlässlich, um eine reibungslose Umsetzung zu gewährleisten und um größere Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden, die die Wirksamkeit des Rechtsakts erheblich beeinträchtigen könnten.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Möglichkeit des Abzugs von in anderen Mitgliedstaaten entstandenen Verlusten, die die Kommission bis zur Einführung der Konsolidierung vorsieht, das Recht der Mitgliedstaaten auf Besteuerung der Gewinne unbeschadet lassen sollte, die durch Wirtschaftstätigkeiten auf ihrem Gebiet erzielt werden.

1.6.

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission im Anhang dieser Mitteilung die Liste der Drittstaaten und Steuergebiete veröffentlicht hat, die sich einer Zusammenarbeit im Steuerbereich verschließen. Er erinnert des Weiteren an seinen in früheren Stellungnahmen vorgebrachten Vorschlag, in den EU-Vorschriften Sanktionen für Unternehmen vorzusehen, die ihre Geschäfte weiterhin von Steuerparadiesen aus betreiben und somit die Zahlung der in den jeweiligen Mitgliedstaaten fälligen Steuern vermeiden, in denen sie wirtschaftlich tätig sind.

1.7.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, nach der Verabschiedung der GKKB-Richtlinie und der Einführung des Konsolidierungsverfahrens eine Analyse der Auswirkungen der neuen Vorschriften vorzunehmen. Sollte aus dieser Analyse hervorgehen, dass die Verschiebung der Gewinne in Mitgliedstaaten mit niedrigeren Steuersätzen nicht rückläufig ist, schlägt der EWSA vor, geeignete ergänzende Maßnahmen zu ergreifen.

1.8.

Im Rahmen der Überarbeitung des Mandats der Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen empfiehlt der EWSA der Kommission die Erwägung der Frage, ob dieser Plattform auch Vertreter der europäischen Sozialpartner angehören sollten. Diese können einen wichtigen Beitrag zur Arbeit der Plattform leisten.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1.

Am 17. Juni 2015 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Mitteilung (2) über einen Aktionsplan zur Einführung einer fairen und effizienten Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union. Der Aktionsplan folgt auf das im März von der Europäischen Kommission vorgelegte Paket zur Steuertransparenz, das u. a. einen Richtlinienentwurf mit der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen über Steuervorbescheide umfasst.

2.2.

Der Aktionsplan enthält vier Ziele, mit denen ein neues Konzept der Unternehmensbesteuerung in der EU gefördert werden soll: die Wiederherstellung der Einheit von Besteuerungsort und Ort der Wirtschaftstätigkeit; die Gewähr, dass die Mitgliedstaaten die Unternehmenstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet korrekt bewerten können; die Schaffung einer konkurrenzfähigen, wachstumsfreundlichen Unternehmensbesteuerung in der EU, die die Unternehmen entsprechend den im Rahmen des Europäischen Semesters ausgesprochenen Empfehlungen widerstandsfähiger macht, sowie der Schutz des Binnenmarkts und eine konsequente Haltung der EU zu externen Aspekten der Unternehmensbesteuerung, einschließlich der Maßnahmen zur Umsetzung des BEPS-Projekts der OECD.

2.3.

Im Aktionsplan ist eine Reihe von Maßnahmen aufgeführt, mit denen die Verwirklichung dieser Ziele vorangetrieben werden soll. Hierbei handelt es sich um die Schaffung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB); die Gewährleistung der wirksamen Besteuerung an dem Ort, wo die Gewinne erzielt werden; zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung des steuerlichen Umfelds der Unternehmen; neue Fortschritte im Bereich der Steuertransparenz sowie bei den europäischen Koordinierungsinstrumenten im Steuerwesen.

2.4.

Die Kommission beabsichtigt außerdem, die Frage der Steuererleichterungen anzusprechen, die die Mitgliedstaaten für Patente gewähren. Sie will vermeiden, dass dies zu einer Verzerrung des Binnenmarkts führt, und die entsprechenden Mitgliedstaaten an das neue Konzept heranführen. Sollte die Kommission feststellen, dass dies von den Mitgliedstaaten nicht systematisch angewendet wird, werde sie bindende legislative Maßnahmen vorgeben.

2.5.

Die Kommission führt die Zusammenarbeit mit den anderen internationalen Partnern weiter und betont die Bedeutung der Umsetzung des BEPS-Aktionsplans der OECD. Dieser Plan sollte zur Schaffung gerechter Wettbewerbsbedingungen für die Besteuerung der multinationalen Unternehmen führen, und zwar auch in den Entwicklungsländern.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Mit dem Plan der Kommission soll die schädliche Praxis der Gewinnverlagerung bekämpft werden, die von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen betrieben wird, die ihre Gewinne in Länder und Gebiete verlagern, in denen sie äußerst geringen Steuersätzen unterliegen oder gar von der Steuer befreit sind. Hierdurch werden die Steuerbemessungsgrundlagen der Mitgliedstaaten ausgehöhlt, die sich wiederum gezwungen fühlen, andere Steuern und Abgaben zu erhöhen, wodurch die Steuerlast für die rechtschaffenen Steuerpflichtigen — seien es natürliche Personen oder KMU — noch zunimmt. Der EWSA begrüßt die Vorlage des Plans und unterstützt die Kommission bei der Bekämpfung dieses Phänomens.

3.2.

Der wichtigste Vorschlag im Aktionsplan der Kommission ist die Einführung einer obligatorischen gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB). Im Richtlinienvorschlag der Kommission im Jahr 2011 wurde eine fakultative GKKB vorgeschlagen. Damals legte der EWSA eine Stellungnahme mit grundlegenden Vorschlägen bezüglich der GKKB (3) vor, hinter denen er weiterhin steht.

3.3.

Die Kommission hält eine obligatorische GKKB für erforderlich, da transnationale Unternehmen, die aggressive Steuerplanung betreiben, eine lediglich fakultative GKKB nicht annehmen würden. Der EWSA erklärt sich mit dem Vorschlag einverstanden, eine obligatorische GKKB einzuführen, und empfiehlt der Kommission, die Frage zu klären, ob die GKKB künftig auf alle Unternehmen angewandt werden soll, um zu vermeiden, dass die Mitgliedstaaten zwei unterschiedliche Bemessungsgrundlagen handhaben.

3.4.

Angesichts der Konsultationen mit den Mitgliedstaaten schlägt die Kommission vor, zunächst eine gemeinsame Grundlage einzuführen und die Konsolidierung erst in einer späteren Phase vorzusehen. Da die aggressive Steuerplanung den Wettbewerb auf der Ebene des Binnenmarkts stark verzerrt und zu erheblichen Steuerverlusten für die Mitgliedstaaten führt, empfiehlt der EWSA, den Zeitplan für die Umsetzung zu straffen.

3.5.

Der Richtlinienvorschlag sollte im kommenden Jahr vorgelegt werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei der Ausarbeitung des Entwurfs insbesondere auf klare Definitionen und Konzepte bezüglich der gemeinsamen Bemessungsgrundlage zu achten. Diese klaren Definitionen sind unerlässlich, um eine reibungslose Umsetzung zu gewährleisten und um größere Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden, die die Wirksamkeit des Rechtsakts erheblich beeinträchtigen könnten.

3.6.

In ihrem Richtlinienvorschlag sieht die Kommission bis zur Einführung der Konsolidierung in einer späteren Phase ein System für den grenzüberschreitenden Verlustausgleich vor. Da die Konsolidierung den wesentlichen wirtschaftlichen Vorteil der GKKB ausmacht, wäre es besser gewesen, wenn sie von Anfang an eingeführt worden wäre. Da es schwierig ist, eine politische Einigung in dieser Frage zu erreichen, unterstützt der EWSA das vorgeschlagene Verfahren. Angesichts der vom Europäischen Parlament, aber auch von einigen Mitgliedstaaten vorgebrachten Forderungen, dass eine Besteuerung an dem Ort möglich sein sollte, wo die Gewinne erzielt werden, ist der EWSA der Ansicht, dass dieses Ausgleichssystem nicht unangemessen in das Recht der Mitgliedstaaten auf Besteuerung der Gewinne eingreifen sollte, die durch Wirtschaftstätigkeiten auf ihrem Gebiet erzielt werden.

3.7.

Aus den Analysen der Kommission geht hervor, dass es Situationen gibt, in denen Unternehmen mit grenzübergreifenden Aktivitäten erzielte Gewinne in Mitgliedstaaten mit niedrigeren Steuersätzen transferieren. Dieses Phänomen wird durch die derzeit geltenden Rechtsvorschriften für Unternehmen gefördert (4). Sollte diese Praxis der Unternehmen im Binnenmarkt auch noch nach der Einführung der Konsolidierung anhalten, so ist der EWSA der Auffassung, dass zusätzlich geeignete rechtliche Maßnahmen ergriffen werden müssen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die von grenzübergreifend tätigen Unternehmen praktizierte aggressive Steuerplanung führt im Haushalt der Mitgliedstaaten zu Einbußen in der Größenordnung von mehreren hundert Milliarden Euro pro Jahr. Der EWSA befürwortet die Einführung der GKKB, die eine allgemeine Norm im Bereich der Gewinnbesteuerung in der EU werden sollte. Mit der GKKB kann die Besteuerung der Unternehmen vereinfacht sowie vermieden werden, dass die Mitgliedstaaten bei grenzübergreifend tätigen Unternehmen die GKKB und bei anderen Unternehmen eine hiervon abweichende Bemessungsgrundlage anwenden.

4.2.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, nach der Verabschiedung der GKKB-Richtlinie und der Einführung des Konsolidierungsverfahrens eine Analyse der Auswirkungen der neuen Vorschriften vorzunehmen. Sollte aus dieser Analyse hervorgehen, dass die Verschiebung der Gewinne in Mitgliedstaaten mit niedrigeren Steuersätzen nicht rückläufig ist, schlägt der EWSA vor, zusätzlich geeignete rechtliche Maßnahmen zu ergreifen, die grenzübergreifend tätige Unternehmen davon abhalten, ihre Gewinne auch weiterhin in Mitgliedstaaten zu transferieren, die niedrigere Steuersätze anwenden.

4.3.

Die Kommission schlägt eine bessere Regelung des Begriffs der Betriebsstätte eines Unternehmens vor. Der EWSA ist der Auffassung, dass eine Besteuerung der Gewinne, die durch Wirtschaftsaktivitäten auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats generiert werden, das einzige Mittel ist, mit denen den Unternehmen die Möglichkeit genommen werden kann, in bestimmten Situationen ihre steuerpflichtige Niederlassung in dem betreffenden Mitgliedstaat künstlich zu umgehen. Die Annahme des BEPS-Plans der OECD kann zu einer erheblichen Verringerung der Zahl der Situationen führen, in denen es Unternehmen gelingt, der Ertragssteuer zu entgehen, indem sie sich auf Bestimmungen der geltenden EU-Rechtsvorschriften berufen.

4.4.

Unter Konsolidierung versteht man das Verfahren, mit dem die Gewinne und Verluste eines Unternehmens für das gesamte EU-Gebiet miteinander verrechnet werden können. Der EWSA erkennt an, dass die Konsolidierung — sobald sie angenommen wird — das entscheidende Element der GKKB sein wird, wenn es darum geht, gegen die komplexen Techniken der Verrechnungspreise anzugehen, die Unternehmen bei grenzübergreifenden Geschäften in der EU anwenden, um weniger Steuern zahlen. Allerdings empfiehlt er der Kommission, den Schutz des Rechts eines jeden Mitgliedstaats zu berücksichtigen, die in seinem jeweiligen Hoheitsgebiet durch Wirtschaftstätigkeit erzielten Gewinne zu besteuern.

4.5.

Die Mitteilung der Kommission enthält einen Anhang mit einer Liste der Staaten und Gebiete, die sich einer Zusammenarbeit im Steuerbereich verschließen. Der EWSA hält dies nur für einen ersten Schritt bei der Bekämpfung solcher Steuergebiete, die gemeinhin als Steuerparadiese bezeichnet werden. Er erinnert des Weiteren an seinen in früheren Stellungnahmen (5) vorgebrachten Vorschlag, in den EU-Vorschriften Sanktionen für Unternehmen vorzusehen, die ihre Geschäfte weiterhin von Steuerparadiesen aus betreiben und somit die Zahlung der in den jeweiligen Mitgliedstaaten fälligen Steuern vermeiden, in denen sie wirtschaftlich tätig sind.

4.6.

Die Kommission erkennt die wichtige Rolle der Gruppen an, die dafür gesorgt haben, dass die Mitgliedstaaten im Bereich des Steuerwesens zusammenarbeiten. Hierbei handelt es sich insbesondere um die Gruppe „Verhaltenskodex“ (Unternehmensbesteuerung) und die Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen. Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten zu prüfen, ob die Bestimmungen des Kodex in das europäische Recht übernommen und somit verbindlich gemacht werden können.

4.7.

Im Rahmen der Überarbeitung des Mandats der Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen empfiehlt der EWSA der Kommission zusätzlich zur Verlängerung des Mandats über 2016 hinaus zu erwägen, ob dieser Plattform auch Vertreter der europäischen Sozialpartner angehören sollten. Diese können einen wichtigen Beitrag zur Arbeit der Plattform leisten.

4.8.

Der EWSA befürwortet, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die Vereinfachung und Harmonisierung des bestehenden Rechtsrahmens sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene weiterverfolgen. Dies könnte zu einer Förderung von Investitionen auf europäischer Ebene führen, indem die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze geschaffen werden.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zur Koordinierung direkter Steuern (ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 113), Stellungnahme des EWSA zur Schaffung einer gemeinsamen konsolidierten Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung in der EU (ABl. C 88 vom 11.4.2006, S. 48).

(2)  Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union — Fünf Aktionsschwerpunkte, COM(2015) 302 final.

(3)  Gemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung (GKKB) (ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 63).

(4)  Mutter- und Tochtergesellschaftsrichtlinie (Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011) und Richtlinie über Zinsen und Lizenzgebühren (Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003).

(5)  Stellungnahme des EWSA zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung (ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 34). Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema Eine demokratische und soziale WWU durch die Gemeinschaftsmethode (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 33).


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/46


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Europäische Migrationsagenda“

[COM(2015) 240 final]

(2016/C 071/08)

Berichterstatter:

Stefano MALLIA

Mitberichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Juni 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Europäische Migrationsagenda“

[COM(2015) 240 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 10. Dezember 2015) mit 161 gegen 10 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die „europäische Migrationsagenda“ der Kommission, die seiner Ansicht nach ein neues Verständnis der Notwendigkeit symbolisiert, die Migrationsthematik auf europäischer Ebene anzugehen, und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Umsetzung dieser Agenda gemeinsam zu unterstützen.

1.2.

Die unmittelbare Herausforderung für die EU besteht darin, die derzeit chaotische Situation unter Kontrolle zu bringen und sicherzustellen, dass Menschen, die internationalen Schutz suchen, angemessen behandelt werden. Der EWSA befürwortet die umgehende Einrichtung sogenannter Hotspots zur Unterstützung von Ländern, die mit einem großen Zustrom von Migranten konfrontiert sind, und fordert nachdrücklich, ihnen die erforderlichen Ressourcen und Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU aufgrund der derzeitigen Situation ein wirklich gemeinsames europäisches Asylsystem schaffen muss, das auf unionsweit harmonisierten Verfahren beruht. Dies impliziert einen einheitlichen Asylstatus und die gegenseitige Anerkennung von Asylentscheidungen, gemeinsame Verantwortung und Umsiedlungs- und Neuansiedlungsmaßnahmen sowie eine überarbeitete Dublin-Verordnung. Es braucht solidarische und tragfähige Systeme des Lastenausgleichs, vor allem einen permanenten, fairen und verbindlichen Schlüssel zur Verteilung der Schutzsuchenden auf alle Länder der EU. Darüber hinaus bedarf es langfristiger Lösungen für den Fall, dass die Massenzuwanderung anhält oder in Zukunft erneut auftritt.

1.4.

Europa ist mit den Phänomenen einer alternden Bevölkerung und eines Fachkräftemangels konfrontiert, denen durch Migration begegnet werden kann. Gleichwohl muss die EU auf eine wirksamere Einwanderungspolitik zurückgreifen können. Die EU sollte eine umfassende Politik für die legale Migration entwickeln, die auf ein für Neuankömmlinge positives Klima abzielt und außerdem transparent, vorhersehbar und gerecht ist. Allerdings ist Einwanderung zugegebenermaßen nicht die einzige Antwort auf Arbeitsmarktengpässe und die demografischen Herausforderungen, und die Mitgliedstaaten ziehen möglicherweise andere, geeignetere Lösungen in Betracht.

1.5.

Die Integration von Migranten und Flüchtlingen ist eine gewaltige Herausforderung, die die EU und ihre Mitgliedstaaten angehen müssen, indem sie robuste Integrationssysteme aufbauen. Der EWSA ist der Ansicht, dass der Preis eines Verzichts auf Integration weit höher ist als der mit Integration verbundene Kostenaufwand. Der EWSA, der sich seit Langem im Rahmen des Europäischen Integrations-/Migrationsforums engagiert, vertritt die Auffassung, dass Integration als ein Prozess in beide Richtungen angelegt sein muss, bei dem den Sozialpartnern, den lokalen Gebietskörperschaften und der Zivilgesellschaft gleichermaßen eine wesentliche Rolle zukommt. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und insbesondere die Anerkennung von Qualifikationen sowie die Berufs- und Sprachausbildung sollten Priorität erhalten. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Integration von Frauen.

1.6.

Die EU muss ihre Außengrenzen sichern. Angesichts der gegenwärtigen komplexen Sicherheitslage sind vielmehr europäische als nationale Anstrengungen erforderlich, weshalb möglicherweise einige nationale Befugnisse in diesem Bereich geteilt werden müssen.

1.7.

Die gesamte Außenpolitik muss gestrafft und darauf ausgerichtet werden, den Herkunftsländern dabei zu helfen, in Bezug auf menschliche Sicherheit, Stabilität und Prosperität ein angemessenes Niveau zu erreichen. Der EWSA ist sich allerdings darüber im Klaren, dass dies ein äußerst schwieriges langfristiges Unterfangen ist.

1.8.

Es muss für eine wirksame Zusammenarbeit im Bereich der Rückübernahme gesorgt werden, um eine effektive und rechtzeitige Umsetzung der Rückführungsrichtlinie zu gewährleisten.

1.9.

Die Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Migrationskrise, z. B. indem sie den Migranten die ersten erforderlichen Hilfen bei ihrer Ankunft bietet und die anschließenden Maßnahmen zu ihrer Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt organisiert. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass Regierungen, lokale Gebietskörperschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenarbeiten, um zwischen den europäischen Nationen einen kulturellen und sozialen Konsens darüber zu erreichen, dass die Investition in die Integration von Migranten in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt wichtig und nutzbringend ist.

1.10.

Der EWSA fordert deshalb die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu auf, nationale nichtstaatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen finanziell und materiell stärker zu unterstützen.

1.11.

Die entsprechenden Finanzmittel sind in einer gemeinsamen Kraftanstrengung durch die gesamte Staatengemeinschaft aufzubringen. Dabei ist klarzustellen, dass Ausgaben der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration von Asylwerbern bzw. Flüchtlingen keine dauerhaften bzw. strukturellen Ausgaben sind und daher auch nicht in die Berechnung der strukturellen Budgetdefizite einzurechnen sind. Die Aufbringung notwendiger Mittel darf nicht zulasten bestehender Mittel für soziale Ziele in der EU führen. Das würde die Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung infrage stellen.

2.   Mitteilung der Kommission und jüngste Entwicklungen

2.1.

Die Europäische Kommission veröffentlichte ihre Mitteilung zur europäischen Migrationsagenda am 13. Mai 2015. Diese Mitteilung und die nachfolgenden Umsetzungsvorschläge wurden zwischen Juni und Oktober in verschiedenen Ratskonstellationen erörtert. Der EWSA begrüßt die Kommissionsmitteilung, die seiner Ansicht nach umfassend ist, sich aber auch auf das Wesentliche konzentriert.

2.2.

Die Umsetzung der in der Agenda vorgeschlagenen Initiativen ist noch im Gange, und den meisten Mitgliedstaaten wird allmählich klar, dass nur ein gemeinsames Vorgehen gemäß den Grundsätzen der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung zu einer wirksamen Bewältigung der Migrationsproblematik führen kann. Ein wirksames Vorgehen erfordert die Bereitstellung von mehr Mitteln aus dem EU-Haushalt sowie größere Beiträge der Mitgliedstaaten. Dabei ist klarzustellen, dass Ausgaben der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration von Asylwerbern bzw. Flüchtlingen keine dauerhaften bzw. strukturellen Ausgaben sind und daher auch nicht in die Berechnung der strukturellen Budgetdefizite einzurechnen sind,

2.3.

Was die Finanzierung betrifft, so hat die EU die Mittelausstattung für die gemeinsamen Frontex-Operationen „Poseidon“ und „Triton“ verdreifacht. Parallel zu dieser Aufstockung werden von mehreren Mitgliedstaaten Geräte (Schiffe und Flugzeuge) bereitgestellt. Die Europäische Kommission hat außerdem 1,8 Mrd. EUR aus dem EU-Haushalt ausgewiesen, um einen Nothilfe-Treuhandfonds für Stabilität zu errichten und die Ursachen der irregulären Migration in Afrika anzugehen, 60 Mio. EUR zur Finanzierung von Mitgliedstaaten an den Außengrenzen mobilisiert, ein mit 50 Mio. EUR ausgestattetes Neuansiedlungsprogramm vorgeschlagen und 30 Mio. EUR für das regionale Entwicklungs- und Schutzprogramm freigemacht.

2.4.

Entscheidungsträger der EU haben mehr Mittel für Frontex, Europol und EASO in Aussicht gestellt, um die Außengrenzen der EU zu stärken, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der sogenannten Hotspots zwecks Identifizierung und Registrierung der Migranten und Abnahme ihrer Fingerabdrücke. Wenn die Hotspots effizient funktionieren und ihre Ziele erreichen sollen, müssen sie von der EU entsprechend finanziell unterstützt werden.

2.5.

Auf Tagungen des Rates im Juli und September kam eine Einigung zustande über die Umsiedlung von 160 000 Migranten aus Griechenland und Italien und die Neuansiedlung von weiteren 22 000 Menschen, die internationalen Schutz benötigen. Der Erfolg der Umsetzung dieser Entscheidungen, die sich in ihrer Anfangsphase befindet, ist maßgeblich für den Erfolg jeder künftigen EU-Migrationspolitik.

2.6.

Am 23. September 2015 nahm die Europäische Kommission 40 Beschlüsse über die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere Mitgliedstaaten wegen Nichtumsetzung der Rechtsvorschriften zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem an. Der EWSA begrüßt diese Entscheidung, ist jedoch sehr darüber besorgt, dass die Kommission auf diesen Mechanismus zurückgreifen musste, um die Mitgliedstaaten von der ordnungsgemäßen Umsetzung des EU-Rechts in diesem so bedeutenden Bereich zu überzeugen.

2.7.

Auf internationaler Ebene werden bestimmte Beschlüsse möglicherweise zu einer Verbesserung der allgemeinen Situation führen, u. a.: Aufstockung der EU-Haushaltsmittel für Soforthilfen für Flüchtlinge, Ausbau des Dialogs und der Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie dem Libanon, Jordanien und der Türkei sowie den Kandidatenländern im Westbalkan, Verstärkung der humanitären Hilfe im Jahr 2016 und Einrichtung des Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. Die Aufbringung notwendiger Mittel darf nicht zulasten bestehender Mittel für soziale Ziele in der EU führen. Das würde die Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung infrage stellen. Der EWSA begrüßt, dass der Europäische Rat am 23. September 2015 den gemeinsamen Aktionsplan mit der Türkei als Teil einer umfassenden Agenda für eine Zusammenarbeit begrüßt hat, die auf geteilter Verantwortung, gegenseitigen Verpflichtungen und deren Erfüllung beruht.

3.   Bewältigung der Krise

3.1.   Sofortmaßnahmen

3.1.1.

Das Konzept der intelligenten Grenzen ist begrüßenswert und längst überfällig. Die Hauptherausforderung in Verbindung mit solideren und intelligenteren Grenzen ist sicherzustellen, dass die Menschenrechte der Migranten nicht missachtet werden. Zudem sollte der Grundsatz der Nichtzurückweisung nicht ausgehöhlt werden, selbst wenn sich dies als schwierig erweisen sollte, weil nicht immer ohne Weiteres zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten klar unterschieden werden kann. Im Falle intelligenter Grenzen müssen die Grundrechte und Grundfreiheiten voll und ganz geachtet werden.

3.1.2.

Das Schengen-Abkommen ist eine der Säulen der EU und hat mehr als nur eine symbolische Bedeutung für die europäische Integration. Es handelt sich um eines der Rechte, die für die Unionsbürger am leichtesten fassbar sind und ihnen einen realen Eindruck vom grenzenlosen Europa vermitteln. Der EWSA möchte, dass der Betrieb des Schengen-Systems so schnell wie möglich wieder zum Normalzustand zurückkehrt, und fordert nachdrücklich die Mitgliedstaaten dazu auf, alle möglichen Schritte zu ergreifen, um einen dauerhaften Zusammenbruch des Systems zu verhindern.

3.1.3.

Bisher hat man sich auf die Umsiedlung von 160 000 Flüchtlingen in der EU geeinigt. Die rasche Umsetzung dieses Übereinkommens würde eine Vielzahl von Erfahrungen ermöglichen, die für die Erarbeitung langfristiger Lösungen für den Fall einer anhaltenden oder künftig erneut auftretenden Massenzuwanderung nützlich wären. Der EWSA hält einen größeren Ehrgeiz für erforderlich. Die weltweite Massenmigration wird noch viele Jahre anhalten.

3.1.4.

Es ist im Interesse aller Mitgliedstaaten, dass ein solidarisches und tragfähiges System von Lösungen für den Fall einer weiterhin anhaltenden Massenzuwanderung geschaffen wird. Eine sofortige Maßnahme muss ein permanentes, faires und verbindliches System des Lastenausgleichs sein, mit dem die Schutzsuchenden auf die Länder der EU verteilt werden. Dies muss durch einen dauerhaften Verteilungsschlüssel unterstützt werden, der auf einer Reihe von Kriterien beruht, z. B. Größe der Wirtschaft und des Hoheitsgebiets eines Lands, BIP, Beschäftigungsmöglichkeiten und Fachkräftemangel, Existenz von Bevölkerungsgruppen derselben Nation/Ethnie im Aufnahmeland. Ein solcher Verteilungsschlüssel sollte regelmäßig überprüft werden. Die Präferenzen der Asylsuchenden sollten ebenfalls berücksichtigt werden, sofern sie im Zusammenhang mit integrationsfördernden Aspekten stehen (z. B. Sprachkenntnisse oder Familienangehörige im jeweiligen Land). Das führt hoffentlich zu einem Ende der fortwährenden Misstöne auf den Ratstagungen, die das Öffentlichkeitsbild der EU beschädigt haben.

3.1.5.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, das Katastrophenschutzverfahren einzuleiten und Teams zur Unterstützung der Migrationssteuerung (Migration Management Support Teams) und für Soforteinsätze zur Grenzsicherung (Rapid Border Intervention Teams) zu mobilisieren, um den Mitgliedstaaten bei der Bewältigung von Notsituationen zu helfen.

3.1.6.

Der EWSA begrüßt auch die Aufstockung der Mittelausstattung von Frontex, EASO und Europol im Jahr 2015 und um weitere 600 Mio. EUR für die drei Agenturen im Jahr 2016 zur Unterstützung der am stärksten betroffenen Staaten. Diese Anstrengungen müssen durch eine effiziente Rückkehrpolitik ergänzt werden. Bisher wurden nur 38 % derjenigen, die als nicht schutzbedürftig erachtet wurden, in ihre Heimatländer zurückgeführt.

3.1.7.

Die EU muss ihre Hilfen für Entwicklungsländer zunehmend an die Durchführung interner Reformen knüpfen sowie eine wirksame Zusammenarbeit in Fragen der Migration — insbesondere der legalen Migration (einschließlich vorübergehende Einreise/Visa) — und der Rückkehrpolitik fördern. Es ist jedoch wichtig, dass die EU-Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung nachkommen, 0,7 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die Entwicklungshilfe bereitzustellen.

3.1.8.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zur Intensivierung diplomatischer Bemühungen mit dem Ziel, die Herkunfts- und Transitländer stärker an Kooperationsmaßnahmen zur Bewältigung dieses Problems zu beteiligen. Das erste diesbezügliche Eckdatum war der Migrationsgipfel am 11./12. November 2015 in Valletta.

3.1.9.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die EU ihren Partnern ebenso sehr zuhören wie auf Augenhöhe begegnen und sie als Partner behandeln muss. Es gibt noch immer viele Missverständnisse und Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen der EU und ihren Partnern in Afrika und im Mittleren Osten, was sowohl die Ziele als auch die Mittel und Wege zu ihrer Erreichung betrifft.

3.1.10.

Der EWSA begrüßt, dass die EU zugesichert hat, mit internationalen Organisationen wie UNHCR, UNDP, IOMN und dem Internationalem Roten Kreuz auch künftig enger zusammenzuarbeiten. Er stellt jedoch fest, dass viele EU-Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, wie der bedauerliche Mangel an Unterstützung des Welternährungsprogramms zeigt.

3.1.11.

Der EWSA begrüßt auch den Kommissionsvorschlag, die humanitäre Hilfe um 300 Mio. EUR im Jahr 2016 zu erhöhen, um die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge abzudecken.

3.1.12.

Der EWSA unterstützt den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Asylbescheiden. Nach Artikel 78 AEUV sollte die EU eine gemeinsame Politik für internationalen Schutz entwickeln, die einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus umfasst. Wenn es keinen von einer EU-Agentur gewährten unionsweiten Status gibt, bleibt als einzige Alternative die gegenseitige Anerkennung nationaler Bescheide.

3.1.13.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Absicht der Kommission, Vorschläge zur Überarbeitung der Dublin-Verordnung bis März 2016 vorzulegen. Er unterstützt auch die Zusage der Kommission, gleichzeitig ein neues Paket zur legalen Migration zu präsentieren, einschließlich einer überarbeiteten „Blue Card“-Richtlinie.

3.1.14.

Der Schutz der EU-Außengrenzen sollte eine gemeinsame Anstrengung sein, an der sich die Mitgliedstaaten mit materiellen und intellektuellen Ressourcen beteiligen.

3.1.15.

Der EWSA befürwortet voll und ganz die sofortige Einrichtung sogenannter Hotspots. Allerdings müssen diese angemessen personell und mit allen Mitteln ausgestattet sein, die für ihr wirksames Funktionieren notwendig sind. In Gebieten wie Italien oder Griechenland, wo täglich Tausende Migranten ankommen, kann nur eine starke Bündelung der finanziellen und materiellen Ressourcen totales Chaos verhindern.

3.1.16.

Der EWSA teilt die ernsten Bedenken des UNHCR hinsichtlich des Registrierung- und Auswahlprozesses in den Hotspots, der einsetzt, sobald die Einwanderer an die EU-Grenzen gelangen.

3.2.   Langfristige Maßnahmen

3.2.1.

Die EU kann die Migrationsströme nur dann auf ein zu bewältigendes Maß reduzieren, wenn sie sich auf sinnvolle Weise für die Lösung der zahlreichen Probleme einsetzt, die die Herkunftsländer betreffen. Das langfristige Ziel der Erreichung von Stabilität, Frieden und Wohlstand erfordert nie da gewesene Anstrengungen — nicht nur seitens Europas, sondern auch seitens der gesamten Weltgemeinschaft. Die EU muss sich um die Stärkung der internationalen Anstrengungen bemühen, insbesondere über die UN.

3.2.2.

Sie muss ihre institutionelle Präsenz in maßgeblichen Herkunfts- und Transitländern ausweiten, indem sie spezifische Migrationszentren als vorübergehende oder ständige Einrichtungen für die Bearbeitung von Asylanträgen schafft. In Ländern wie Algerien, Marokko, Mali, Libyen, dem Libanon und der Türkei ist eine stärkere Fokussierung und Unterstützung erforderlich.

3.2.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass eines der vornehmlichen Ziele der Agenda darin besteht, eine EU-Migrationspolitik auf den Weg zu bringen, die die legale Migration ermöglicht und gleichzeitig aber auch die wirksame Integration von Migranten anregt. Der EWSA ist gespannt auf die ersten legislativen und politischen Vorschläge in diesen Bereichen und erklärt sich bereit, die Europäische Kommission bei der Ausgestaltung dieser Vorschläge zu unterstützen.

3.2.4.

Der EWSA ermutigt die Mitgliedstaaten, die Genfer Konvention von 1951 uneingeschränkt zu achten und aktiv umzusetzen sowie dem Druck zu widerstehen, das Niveau des Schutzes und der Dienste für Flüchtlinge abzusenken.

3.2.5.

Der EWSA spricht sich für eine gemeinsame Asylpolitik aus, die auf vereinfachten, gemeinsamen Verfahren beruht. Eine solche Politik muss auch auf einer gemeinsamen Definition des Flüchtlingsstatus und den damit verbundenen Rechten basieren, um zu vermeiden, dass Flüchtlinge herumreisen und nach der „besten Behandlung“ Ausschau halten.

3.2.6.

Das System der Herkunftsländerinformation (COI) muss weiter ausgebaut werden. Über Asylanträge von Bürgern mit identischem Herkunftsland, die vermutlich mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sind, wird häufig unterschiedlich befunden. Das bestehende System sollte flexibel und zuverlässig genug sein, um die Entwicklungen in den Herkunftsländern in Echtzeit zu untersuchen und zu verarbeiten. Die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsdiensten der Mitgliedstaaten sollte kontinuierlich verbessert werden, weil diese Dienste wichtige Informationsquellen darstellen.

3.2.7.

Einen höheren Stellenwert sollten die Regelung der legalen Einwanderung und der Visapolitik, die Digitalisierung des Prozesses, die Anerkennung von Qualifikationen und der Zugang zur Bildungsmobilität erhalten.

3.2.8.

Die EU sollte sich stärker am Rückkehrmanagement und der Förderung von Wiedereingliederungsmaßnahmen beteiligen. Das Rückkehr-Pilotprojekt für Pakistan und Bangladesch ist für die derzeitige Notsituation von begrenzter Bedeutung. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich die Planung und Umsetzung ähnlicher Projekte mit angemessener Finanzausstattung und institutioneller Unterstützung.

3.2.9.

Die Stärkung der Grenzkontrollen in den Transitländern, die Ausweitung von Seepatrouillen und die Vernichtung von Schleuserschiffen können hilfreich sein, sind aber nicht die einzige Möglichkeit einer nachhaltigen Bewältigung dieses Problems. Die EU ist auf dem richtigen Weg, wenn sie einen umfassenden Ansatz verfolgt, der eine bessere Verwendung ihrer verschiedenen Instrumente und erheblichen Ressourcen gewährleistet.

3.3.   Zivilgesellschaft

3.3.1.

Die Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle beim Umgang mit der Migrationskrise. Die Akteure der Zivilgesellschaft können einen wesentlichen Beitrag zur notwendigen Erstversorgung von Migranten bei ihrer Ankunft leisten. Der Zivilgesellschaft kommt jedoch eine noch wichtigere Rolle zu, wenn es um langfristige Maßnahmen zur gesellschaftlichen Integration von Migranten geht. Die Zivilgesellschaft kann für die in allen Phasen der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen so wichtigen von direkten zwischenmenschlichen Beziehungen getragenen Antworten sorgen.

3.3.2.

Der EWSA lobt die Solidarität, die Teile der Zivilgesellschaft und Privatpersonen bei der freiwilligen Hilfe für Asylsuchende an den Tag gelegt haben. Der Umfang dieser positiven und spontanen Reaktionen reicht jedoch nicht aus, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Der EWSA fordert die EU-Mitgliedstaaten auf, die Rolle der Zivilgesellschaft anzuerkennen und wertzuschätzen, indem sie die nationalen nichtstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen stärker unterstützen, um ein strukturierteres und effizienteres Vorgehen zu gewährleisten. Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben die besondere Aufgabe, die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf dem jeweiligen Hoheitsgebiet zu ermitteln und sich mit ihnen zusammenzuschließen sowie den Kapazitätenaufbau dieser Organisationen stärker zu unterstützen.

3.3.3.

Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, dass die Kommission Anstrengungen unternimmt, um den Mitgliedstaaten mehr Ressourcen durch Partnerschaftsabkommen in puncto Strukturfonds bereitzustellen und so mehr ESF- und EFRE-Mittel für die Steuerung von Migrationsströmen und Integrationsmaßnahmen einzusetzen. In erster Linie sollten Nichtregierungsorganisationen und vor Ort tätige Organisationen in den Genuss solcher Mittel kommen. Diese sollten über die Mittel hinausgehen, die gegenwärtig aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds bereitgestellt werden.

3.3.4.

Der EWSA macht auf das Europäische Migrationsforum aufmerksam, mit dem das 2009 vom EWSA und der Europäischen Kommission eingerichtete Europäischen Integrationsforum fortgeführt wird. Dieses Forum ist eine Plattform des Dialogs zwischen den europäischen Institutionen und der Zivilgesellschaft über Fragen der Einwanderung, des Asyls und der Integration von Migranten.

4.   Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt

4.1.

Der EWSA hält es für wichtig und äußerst relevant, ein transparentes, berechenbares und gerechtes System der legalen Einwanderung in die EU zu schaffen. Die europäische Bevölkerung altert und wächst nur um 0,2 % pro Jahr, was signifikant unter dem Bestandserhaltungsniveau liegt. Europa wird bis 2050 schätzungsweise 30 Mio. Menschen im erwerbsfähigen Alter verlieren; wenn nicht schnell etwas getan wird, werden die Abhängigkeitsquoten in den meisten EU-Mitgliedstaaten rasch zunehmen, die Produktivität abnehmen, Unternehmen schließen und die Kosten der Aufrechterhaltung von Dienstleistungen (besonders für Ältere) deutlich ansteigen.

4.2.

Durch kollektives und organisiertes Handeln, das auf Solidarität fußt, kann die EU die gegenwärtige Situation in eine Chance verwandeln und so den aktuellen demografischen Trend und seine sozioökonomischen Folgen umkehren. Die Eingliederung von Migranten in den Arbeitsmarkt führt zu Wirtschaftswachstum und fördert ihre Unabhängigkeit. Hingegen wird durch eine Politik, bei der die Integration vernachlässigt wird, die Last der Unterstützung von Migranten auf öffentliche Dienste verlagert, was zu sozialen Spannungen von erheblicher Tragweite führen könnte.

4.3.

Der EWSA stellt fest, dass die Integration in hohem Maße von der Eingliederung in den Arbeitsmarkt abhängt. Allerdings gibt es eine Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit den Folgen der Einwanderung für den Arbeitsmarkt, die es zu erklären gilt. Dazu zählen die Auswirkungen von Einwanderern auf das Lohnniveau, die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen, der Druck auf das Fiskalsystem (Gesundheits- und Bildungswesen) und die Effekte des Multikulturalismus.

4.4.

Der Ausschuss hat bereits eine Sondierungsstellungnahme erarbeitet (1), die als Grundlage für die Vorbereitung der Ministerkonferenz 2010 in Saragossa diente (2), auf der eine wichtige Erklärung zur Arbeitsmarktintegration von Migranten und zu den Herausforderungen für europäische und nationale Einrichtungen und die Sozialpartner verabschiedet wurde.

4.5.

Studien zeigen, dass Migranten unter dem Strich der Wirtschaft mehr geben als nehmen, dass ihre Auswirkungen auf die Fiskalsystem minimal sind und dass sie Europa helfen, sein demografisches Defizit zu beheben und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die Auswirkungen der Migration betreffen aber nicht alle Regionen Europas in gleicher Weise und müssen hinsichtlich ihrer lokalen Folgen sorgfältig untersucht werden. Darüber hinaus gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der ordnungsgemäßen Einreise von Migranten im Rahmen der Umsetzung einer Maßnahme oder dem plötzlichen Zustrom Tausender Migranten, der nur schwer zu bewältigen ist und die lokalen, regionalen und nationalen Strukturen stark belastet, so wie in den letzten Wochen geschehen.

4.6.

Die Arbeitsmarktintegration von Migranten hängt von einer Reihe von Faktoren ab, z. B. der Höhe der Arbeitslosigkeit im Aufnahmeland, den Fähigkeiten der Migranten und ihrem Qualifikationsniveau, der Vorbereitung vor der Einreise in Bezug auf Spracherwerb und formelle Ausbildung sowie den Organisationen und Strukturen, die im Aufnahmeland geschaffen werden, um die Eingliederung von Einwanderern (einschließlich Flüchtlingen) in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Genau in diesen Bereich kommt der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zu.

4.7.

Es gibt jedoch auch andere Faktoren, die einer schnellen Integration entgegenwirken, z. B. die Anerkennung von Qualifikationen, bürokratische Hindernisse, mangelnde Transparenz, falsche Vorstellungen von Migranten in der Öffentlichkeit, Ausbeutung und rechtliche Hürden durch veraltete Gesetze sowie die fehlende oder schleppende Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften.

4.8.

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen maßgeblich dazu beitragen, die Herausforderung der Integration von Einwanderern in den Arbeitsmarkt zu bewältigen. Der EWSA empfiehlt, die Sozialpartner an der Konzipierung, Entwicklung, Umsetzung und Überwachung integrationspolitischer und anderer einschlägiger Maßnahmen auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene umfassend zu beteiligen.

4.9.

Die Regierung, die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und die Sozialpartner müssen zusammenarbeiten, um einen sozialen Konsens bezüglich der Mittel und Wege zur Integration von Migranten in Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen — vor allem um eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen benachteiligten Gruppen zu vermeiden.

4.10.

Die Zivilgesellschaft leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Migranten Zugang zu allgemeiner und beruflicher Bildung sowie Beschäftigung erhalten und der Diskriminierung im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft insgesamt entgegengewirkt wird.

Brüssel, den 10. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16.

(2)  http://www.integrim.eu/wp-content/uploads/2012/12/Report-20101.pdf, https://www.uclm.es/bits/archivos/declaracionzaragoza.pdf.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist

[COM(2015) 450 final — 2015/0208 (COD)]

(2016/C 071/09)

Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschlossen am 16. September bzw. am 21. Oktober 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“

[COM(2015) 450 final — 2015/0208 (COD)].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 10. Dezember) mit 152 gegen 6 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Flüchtlingskrise in der EU hat den Punkt erreicht, an dem die Grundprinzipien des Schutzes der Menschenrechte und der Demokratie in Frage gestellt werden. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass diese Prinzipien allen Schwierigkeiten zum Trotz aufrechterhalten und angemessen umgesetzt werden müssen.

1.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Tendenz einiger Regierungen, sich auf die eigene Souveränität zu berufen, und die negative Wahrnehmung der Migration und von Flüchtlingen einer stets wachsenden Zahl von Bürgern zurückgedrängt werden könnten, wenn die notwendigen umfassenden Anstrengungen unternommen würden, um die europäischen Grundwerte und die institutionellen Errungenschaften der EU hochzuhalten. In dieser außergewöhnlichen Situation brauchen wir mehr Europa, mehr Demokratie und mehr Solidarität.

1.3.

Obwohl sie vorauszusehen war, ist die aktuelle Flüchtlingskrise letztlich auf das Fehlen einer gemeinsamen Asylpolitik zurückzuführen, die mangels einer abgestimmten europäischen Politik ausblieb. In diesem Zusammenhang drängt der EWSA den Europäischen Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, Artikel 67 Absatz 2 und Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union umzusetzen, in denen die Voraussetzungen für die Schaffung einer echten Asylpolitik der EU dargelegt werden.

1.4.

Der Ausschuss hat immer wieder die Notwendigkeit von Solidarität, Verantwortung und gemeinsamem Handeln sowie die zentrale Rolle der Grundrechte unterstrichen.

1.5.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission um die Koordinierung einer gemeinsamen Reaktion auf die Flüchtlingskrise, einschließlich des Spitzentreffens zu den Flüchtlingsströmen entlang der Westbalkanroute.

1.6.

Der Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen ist ein konkretes Beispiele für eine auf Solidarität und Verantwortung fußende Zusammenarbeit. Der EWSA fordert jedoch, diesen Umsiedlungsmechanismus und ähnliche Initiativen in eine allgemeine Strategie einzubetten, um Kohärenz und Effizienz zu gewährleisten. Insbesondere braucht es solidarische und belastbare Systeme des Lastenausgleichs, v. a. einen permanenten fairen und verpflichtenden Verteilungsschlüssel zur Aufteilung für Schutzsuchende auf alle Länder der EU.

1.7.

Die Europäische Kommission und andere EU-Institutionen müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten aktiv dabei unterstützen, geeignete Bedingungen und Integrationsperspektiven für die umgesiedelten Asylbewerber zu schaffen. Unter anderem ist in diesem Kontext klarzustellen, dass Ausgaben der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration von Asylwerbern bzw. Flüchtlingen keine dauerhaften bzw. strukturellen Ausgaben sind und daher auch nicht in die Berechnung der strukturellen Haushaltsdefizite einzurechnen sind.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die aktuelle Flüchtlingskrise ist eine große Herausforderung, sowohl in verwaltungstechnischer — allein schon wegen ihres beispiellosen Ausmaßes — als auch in rechtlicher Hinsicht. Die EU hat den Punkt erreicht, an dem die Grundprinzipien des Schutzes der Menschenrechte und der Demokratie in Frage gestellt werden. Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur vollständigen Umsetzung internationaler Verträge wird infolge des Anstiegs der internationalen Mobilität als Folge der wirtschaftlichen Globalisierung beeinträchtigt. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Tendenz einiger Regierungen, sich auf die eigene Souveränität zu berufen, und die negative Wahrnehmung der Migration und von Flüchtlingen einer stets wachsenden Zahl von Bürgern zurückgedrängt werden könnten, wenn die notwendigen umfassenden Anstrengungen unternommen würden, um die europäischen Grundwerte und die institutionellen Errungenschaften der EU hochzuhalten. In dieser außergewöhnlichen Situation brauchen wir mehr Europa, mehr Demokratie und mehr Solidarität.

2.2.

Das europäische Asylsystem ist durch die Vielzahl von Krisen erheblich unter Druck geraten. Einige von ihnen haben ihren Ursprung in der internationalen Politik der 2000er Jahre, während andere negative Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise sind. Die jüngsten Krisen, der „Arabische Frühling“, die politische Instabilität in Libyen und der Bürgerkrieg in Syrien, haben unmittelbar zu einem beträchtlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen geführt.

2.3.

Die 47 Mitgliedstaaten des Europarates sind verpflichtet, die Menschenrechtsbestimmungen einzuhalten und dafür Sorge zu tragen, dass auf Grundlage von Artikel 3 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention alle Menschen geschützt werden. Im Gegensatz dazu garantiert das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahr 1951 gemäß Artikel 1 lediglich den Schutz einer bestimmten Kategorie von Personen, die dieses Schutzes auch leichter verlustig gehen können. Nach der Menschenrechtskonvention jedoch haben Personen, die internationalen Schutz benötigen, Anspruch auf eine Reihe von Rechten. In einigen Mitgliedstaaten, wie beispielsweise Rumänien, genießen gemäß den Verfassungsbestimmungen internationale Verträge eine Vorrangstellung gegenüber der nationalen Gesetzgebung. In Artikel 18 (2) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die nach Artikel 6 AEUV verbindlich geworden ist, wird das Recht der Menschen, die internationalen Schutz benötigen, festgeschrieben.

2.4.

Das Dublin-System hat dazu geführt, dass der Aufwand für die Bearbeitung von Asylanträgen in unverhältnismäßiger Weise einigen Mitgliedstaaten an den Außengrenzen aufgebürdet wurde (Malta, Italien, Zypern, Griechenland, Spanien und neuerdings Ungarn). Unter diesen Umständen wird es für einige Mitgliedstaaten immer schwieriger, den Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte und der darauf beruhenden Richtlinien in der Praxis einzuhalten. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass diese Prinzipien allen Schwierigkeiten zum Trotz aufrechterhalten und angemessen umgesetzt werden müssen.

2.5.

In Artikel 67 Absatz 2 und Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union werden die Voraussetzungen für die Schaffung einer echten Asylpolitik der EU dargelegt. Im Lichte dieser Artikel liegt der Schwerpunkt nicht darin, Mindestvorschriften zu erarbeiten, sondern eher ein gemeinsames System mit einheitlichen Verfahren zu schaffen. Obwohl sie vorauszusehen war, ist die aktuelle Flüchtlingskrise letztlich auf das Fehlen einer gemeinsamen Asylpolitik zurückzuführen, die mangels einer abgestimmten europäischen Politik ausblieb. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA den Europäischen Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament auf, die vorgenannten Artikel umzusetzen.

2.6.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission um die Koordinierung einer gemeinsamen Reaktion auf die Flüchtlingskrise, einschließlich des Spitzentreffens zu den Flüchtlingsströmen entlang der Westbalkanroute. An diesem Treffen nahmen Staats- und Regierungschefs von EU-Mitgliedstaaten und von Drittstaaten teil in dem Bemühen, die Maßnahmen in der Region in drei Schwerpunktbereichen besser zu koordinieren: Bereitstellung von Unterkünften, gemeinsame Steuerung der Migrationsströme und Grenzmanagement (3).

2.7.

Der EWSA hofft, dass der Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen der EU dabei helfen wird, ein konsensbasiertes System zu schaffen, das solide und flexibel genug ist, um die verschiedenartigen Herausforderungen der Migration zu bewältigen.

2.8.

Der Ausschuss hat immer wieder die Notwendigkeit von Solidarität, Verantwortung und gemeinsamem Handeln sowie die zentrale Rolle der Grundrechte unterstrichen. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass ernsthafte Bemühungen um die Integration von Migranten und Flüchtlingen unternommen werden müssen.

2.9.

Der Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen ist ein konkretes Beispiel für eine auf Solidarität und Verantwortung fußende Zusammenarbeit. Der EWSA fordert jedoch, diesen Mechanismus und ähnliche Initiativen in eine allgemeine Strategie einzubetten, um Kohärenz und Effizienz zu gewährleisten. Insbesondere braucht es solidarische und belastbare Systeme des Lastenausgleichs, v. a. einen permanenten fairen und verpflichtenden Verteilungsschlüssel zur Aufteilung für Schutzsuchende auf alle Länder der EU. Die „europäische Migrationsagenda“ der Europäischen Kommission ist ein richtiger Schritt in diese Richtung.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Jeder Mitgliedstaat, der sich nicht an dem Mechanismus beteiligt, sollte diese Entscheidung begründen müssen. Wenn dafür hauptsächlich finanzielle Gründe oder mangelnde Vorbereitung auf die Aufnahme von Asylbewerbern angeführt werden, sollten Vorkehrungen für eine vorgezogene finanzielle Unterstützung getroffen werden.

3.2.

Die Unterstützung der EU für zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Bewältigung der Flüchtlingskrise und die Integration von Migranten bemühen, ist noch immer unzureichend. Bürokratische Vorschriften und Verfahren schränken ihre Fähigkeit ein, vor Ort wirksam tätig zu werden.

3.3.

Um festzustellen, ob eine Krisensituation vorliegt, will die Europäische Kommission prüfen, ob sich die Lage so darstellt, dass sie auch von einem Mitgliedstaat mit einem „gut vorbereiteten Asylsystem“ nicht bewältigt werden kann. Wie wird dies definiert? Welche Kriterien werden herangezogen, um ein Asylsystem als „gut vorbereitet“ zu bezeichnen? Der Vorschlag enthält einige Kriterien, die die Kommission erwägen könnte; diese sind jedoch flexibel und werden als „unter anderem“ aufgeführt.

3.4.

Der Vorschlag geht nicht ausreichend auf die Abstimmung der Präferenzen des Mitgliedstaats, zu dessen Gunsten die Umsiedlung erfolgt, des Umsiedlungsmitgliedstaats und der Antragsteller ein. Es ist nicht deutlich, wie dies in der Praxis funktionieren wird.

3.5.

Es wird empfohlen, den Antragstellern einschlägige Informationen und Beratung an die Hand zu geben, die von den Behörden der Mitgliedstaaten, zu deren Gunsten die Umsiedlung erfolgt, und von den Verbindungsbeamten der Umsiedlungsmitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden.

3.6.

Es wird nicht deutlich, wie der Umsiedlungsmitgliedstaat veranlasst wird, für eine angemessene Aufnahme und Integration der umgesiedelten Antragsteller zu sorgen. Der Zustand der Infrastruktur, die Verfügbarkeit von Dienstleistungen (z. B. im medizinischen oder im Bildungsbereich) und finanzielle Zuweisungen werden die Bereitschaft der Antragsteller, sich in ein bestimmtes Land umsiedeln zu lassen, beeinflussen. Die Europäische Kommission und andere EU-Institutionen müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten aktiv unterstützen, um geeignete Bedingungen und eine Integrationsperspektive für die umgesiedelten Antragsteller zu schaffen.

3.7.

Der Vorschlag muss diesbezüglich deutlicher werden und ein Verfahren umreißen, mit dem die Entwicklung einer Infrastruktur und von Dienstleistungen im Asylbereich in allen Mitgliedstaaten bewertet und gefördert werden kann.

3.8.

Das System muss bis zu einem gewissen Grad den Präferenzen der Asylsuchenden für bestimmte Umsiedlungsmitgliedstaaten gerecht werden. Die Präferenzen müssen einen deutlichen und nachweisbaren Bezug zu den Aussichten auf eine erfolgreiche Integration aufweisen (Familienangehörige vor Ort, Sprachkenntnisse und frühere Verbindungen zu diesem Land, wie etwa ein Studium oder geschäftliche Beziehungen).

3.9.

„Kulturelle Bindungen“ werden als ein Faktor genannt, der bei der Umsiedlung einer Person in einen anderen Mitgliedstaat berücksichtigt werden sollte. Der EWSA ist der Auffassung, dass dieses Kriterium nicht als Vorwand für die Ablehnung von Asylbewerbern auf der Grundlage ihrer Religion genutzt werden darf.

3.10.

Aus dem Vorschlag geht nicht hervor, wie der Mechanismus für Länder wie Serbien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien funktionieren soll, die über eine klare Beitrittsperspektive verfügen und einen erheblichen Zustrom von Migranten und Asylbewerbern erleben.

Brüssel, den 10. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Nicht nur in Artikel 3 geht es um Asyl und internationalen Schutz. Die Ausweisung von Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, kann sich in Zusammenhang mit folgenden Artikeln als problematisch erweisen: Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Artikel 7 (keine Strafe ohne Gesetz), Artikel 3 des Protokolls Nr. 4 (Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger) und Artikel 4 desselben Protokolls (Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern). Weitere Artikel, die ins Feld geführt werden: Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) und Artikel 16 (Beschränkungen der politischen Tätigkeit von Ausländern).

(2)  Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet.

(3)  Siehe die im Anschluss an das Treffen veröffentlichte Erklärung der Staats- und Regierungschefs.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung der Kosteneffizienz von Emissionsminderungsmaßnahmen und zur Förderung von Investitionen in CO2-effiziente Technologien

[COM(2015) 337 final — 2015/0148 (COD)]

(2016/C 071/10)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 7. bzw. 21. September 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung der Kosteneffizienz von Emissionsminderungsmaßnahmen und zur Förderung von Investitionen in CO2-effiziente Technologien“

[COM(2015) 337 final — 2015/0148 (COD)].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 18. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 138 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass eine nachhaltige Reindustrialisierung mit einem wettbewerbsfähigen Wachstum und der Schaffung neuer und besserer Arbeitsplätze für Europa von zentraler Bedeutung ist, und dass das CO2-Emissionshandelssystem der EU (EU-EHS) in diesem Rahmen ein Schlüsselinstrument der europäischen Politik zur Bekämpfung des Klimawandels und für die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft sein muss.

1.2.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass das Emissionshandelssystems der EU als Instrument für die Senkung der EU-Energieemissionen ein Preissignal für CO2 geben, aber auch nachhaltige Investitionen in neue CO2-arme Technologien begünstigen muss.

1.3.

Nach Ansicht des EWSA muss der CO2-Markt über einen detaillierten und gut abgestimmten Rahmen verfügen und für alle wichtigen internationalen Akteure stabiler, flexibler und offener werden, um das Ziel einer wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Verarbeitungsindustrie zu erreichen.

1.4.

Die Kommission muss sich nach Auffassung des Ausschusses strikt an das Mandat halten, das vom Europäischen Rat in seiner Sitzung vom 23./24. Oktober 2014 im Rahmen für die Energie- und Klimapolitik bis 2030 vereinbart wurde. Dies betrifft insbesondere die klaren Hinweise auf die Bestimmungen zur Verlagerung der Kohlenstoffemissionen (Carbon Leakage), die im Rahmen der Reform des EU-EHS auszuarbeiten sind.

1.5.

Nach Ansicht des Ausschusses sollten angemessene Mechanismen für die Umstellung gewährleistet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu wahren und den Risiken von Investitionsverlagerungen und von unlauterem Wettbewerb seitens Ländern, in denen es keine vergleichbaren klimapolitischen Instrumente gibt, vorzubeugen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt, einen angemessenen globalen Regelungsrahmen zu gewährleisten — insbesondere in Bezug auf die Mengen der kostenlosen Zuteilungen, die Zulässigkeit des Carbon Leakage, die Überarbeitung der Benchmarking-Parameter und den Ausgleich der durch die Strompreise entstehenden Kosten. Damit soll in allen Mitgliedstaaten lückenlos die kostenlose Zuteilung und die vollständige Kompensierung der indirekten Kosten von 10 % der effizientesten Anlagen in Bereichen mit einem hohen Risiko des Carbon Leakage gewährleistet werden.

1.7.

Der EWSA empfiehlt bei der Reform folgende Aspekte zu berücksichtigen:

Abschaffung des sektorübergreifenden Korrekturfaktors für die direkten Kosten;

EU-weit harmonisierte Mechanismen für den Ausgleich der indirekten Kosten in der gesamten EU, um Wettbewerbsverzerrungen vorzubeugen (1);

Prämien- und keine Bestrafungssysteme für die Spitzenreiter, unabhängig von der Art der Leistung, einschließlich Abscheidung und Nutzung von CO2;

Festlegung von Benchmarks anhand solider und einmalig zu Beginn des Zeitraums festgelegter Industriedaten;

Zuteilung kostenloser Zertifikate an die Sektoren auf der Grundlage tatsächlicher und nicht historischer Produktionszahlen;

Möglichkeit des Fall-back-Konzepts in Phase 4 für die Sektoren ohne vorherige Referenzparameter;

flexiblere Festlegung des Risikos des Carbon Leakage durch die aktuellen qualitativen Risikokriterien ohne Einführung von Schwellenwerten;

teilweise Nutzung der Stabilitätsreserve zur Unterstützung des phasing-out jener Sektoren, die aus der Carbon-Leakage-Liste gestrichen wurden;

Ausnahme vom Mechanismus für Anlagen mit CO2-Emissionen unter 50 000 Tonnen;

umfassende Berücksichtigung der sozialen Dimension beim EU-EHS, um die Umstellung der Prozesse, technischen Fertigkeiten und beschäftigungsrelevanten Fähigkeiten auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft zu unterstützen;

Untersuchung der Möglichkeiten, wie die Prämiensysteme für die Spitzenreiter auf die Zivilgesellschaft ausgedehnt werden können, indem Familien, Gemeinden und öffentliche Verwaltungen, die ihren eigenen Verbrauch an CO2-erzeugender Energie spürbar senken und die Emissionen durch grüne Investitionen ausgleichen, EHS-Boni erhalten.

unabhängige Vorabstudie, um die optimalen Verfahren für das Funktionieren des EU-EHS im Hinblick auf die Erreichung der angestrebten Klimaschutzziele zu ermitteln.

1.8.

Der Ausschuss empfiehlt schließlich ein Höchstmaß an Kohärenz und Synergien und möglichst wenige Überschneidungen — sowie die Beseitigung unnötigen Verwaltungsaufwands — zwischen den neuen Vorschriften im Rahmen der Überprüfung des EU-Emissionshandelssystems und den parallelen und ergänzenden Vorschriften, mit denen sie interagieren.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass gestützt auf multilaterale und bilaterale internationale Übereinkünfte ein Rahmen für den Tausch von internationalen Gutschriften gewährleistet werden sollte, der bei der Erreichung der umfassenderen Emissionsreduktionsziele in Europa eine Rolle spielen sollte.

1.10.

Der Ausschuss hält es für wichtig, nach der Pariser Konferenz Ende 2015 eine diesbezügliche Initiativstellungnahme zu erarbeiten.

2.   Einführung

2.1.

Das Emissionshandelssystem der EU (EU-EHS-Emissions Trading System) trat am 1. Januar 2005 in Kraft und ist dank seiner Möglichkeit zur Senkung der Treibhausgasemissionen eines der wichtigsten Instrumente der Klimapolitik der EU.

2.2.

Seit seiner Schaffung sollte das EU-EHS auf Unionsebene einen Bezugspunkt für CO2 darstellen, der es ermöglicht, die Emissionen in sämtlichen Sektoren der europäischen Wirtschaft, die für etwa die Hälfte der Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich sind, zu reduzieren.

2.3.

Der EWSA hat das EU-EHS seit jeher als ein Schlüsselinstrument der EU-Klima- und Energiepolitik zur Reduzierung der Emissionen der europäischen Industrie betrachtet. Er drängt daher auf eine echte Reform dieses Systems, um die EU-Klimaziele für 2030 zu erreichen. Dabei müssen die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas erhalten und Investitionsverlagerungen verhindert werden.

2.4.

Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung vom 21. März 2014 Maßnahmen zum vollen Ausgleich der direkten und indirekten Kosten gefordert, die den im internationalen Wettbewerb stehenden Sektoren durch die EU-Klimapolitik verursacht werden, solange nicht ein umfassendes internationales Klimaabkommen weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen schafft.

2.4.1.

Gleichwohl schließt sich der EWSA den Bemerkungen des Europäischen Rechnungshofs an, der auf erhebliche Schwächen bei der Umsetzung des EU-EHS aufmerksam macht, und spricht eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung der Integrität und Umsetzung dieses Systems unter Bekräftigung des Begriffs der industriellen Effizienz, welche die uneingeschränkte wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der EU gewährleisten soll, aus.

2.5.

Der Europäische Rat hat am 23./24. Oktober 2014 den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 festgelegt. Er hat ferner Schlussfolgerungen angenommen und insbesondere einige wichtige Ziele gebilligt:

ein verbindliches Ziel der EU, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 % im Vergleich zu 1990 im Zuge einer linearen Verringerung von jährlich 1,74 % zu reduzieren;

ein verbindliches Ziel auf EU-Ebene, bis 2030 mindestens 27 % des Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen zu decken, allerdings ohne verbindliche Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten;

ein Richtziel, die Energieeffizienz bis 2030 um mindestens 27 % zu verbessern, das nicht verbindlich ist, aber auf 30 % angehoben werden kann;

die rasche Vollendung des Energiebinnenmarkts zu unterstützen, damit das 10 %-Ziel für den aktuellen Stromverbund spätestens 2020 erreicht wird.

2.5.1.

Das offiziell vom Rat „Umwelt“ auf seiner Tagung am 6. März 2015 festgelegte EU-Ziel, die internen Treibhausgasemissionen um mindestens 40 % zu reduzieren, stellt die Grundlage für den Beitrag der EU zu den Verhandlungen über ein neues globales Klimaschutzübereinkommen dar.

2.5.2.

Alle genannten Aspekte des Rahmens werden vom Rat regelmäßig geprüft, der auch in Zukunft strategische Leitlinien für vom EHS erfasste Sektoren und für nicht unter das EHS fallende Sektoren sowie für den Verbund und die Energieeffizienz vorgeben wird.

2.5.3.

Die Instrumente und Maßnahmen müssen sich an einem globalen und technologieneutralen Konzept orientieren, um die Emissionen zu senken und die Energieeffizienz zu fördern.

2.6.

Am 13. Mai 2015 haben sich der Rat und das EP mit dem Beschluss zu einer Marktstabilitätsreserve auf die Reform des EU-EHS geeinigt:

2018 wird eine Marktstabilitätsreserve eingerichtet, die am 1.1.2019 in Kraft tritt;

„einbehaltene“ Zertifikate (die 900 Mio. Zertifikate, deren für die Jahre 2014-2016 vorgesehene Versteigerung bis 2019-2020 zurückgestellt wurde) werden in die Marktreserve eingestellt;

nicht zugeteilte Zertifikate werden 2020 direkt in die Marktstabilitätsreserve überführt; über ihre zukünftige Nutzung wird im Rahmen einer umfassenderen Überprüfung des EU-EHS entschieden;

der 10 %-Solidaritätsanteil an den Zertifikaten wird vorübergehend, d. h. bis Ende 2025, vom Geltungsbereich der Marktstabilitätsreserve ausgenommen;

bei der Überprüfung des EU-EHS muss die etwaige Nutzung einer beschränkten Anzahl an Zertifikaten vor 2021 erwogen werden, um die vorhandenen Mittel für die Förderung von CCS (Abscheidung und Speicherung von CO2) zu nutzen;

bei den Überprüfungen des EU-EHS und der Marktstabilitätsreserve werden berücksichtigt:

die Verlagerung von CO2-Emissionen und Wettbewerbsaspekte und

beschäftigungs- und BIP-relevante Fragen.

2.7.

Im Rahmen der Energiestrategie der EU und im Hinblick auf die Klimakonferenz in Paris hat die Kommission ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, durch das u. a. das EU-System für den Handel mit Emissionsrechten gemäß den Vorgaben des Rates überarbeitet wird, unter Wahrung der Prioritäten der Reindustralisierung der europäischen Wirtschaft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit jener Industriesektoren, die der Gefahr der Produktionsverlagerung am stärksten ausgesetzt sind.

2.8.

Die Maßnahmen zur Überprüfung des EU-Emissionshandelssystems betreffen nicht nur die Energiepolitik, sondern auch zahlreiche andere EU-Politiken.

2.9.

Der EWSA hat eine Studie über die Auswirkungen von Maßnahmen in Auftrag gegeben, die durch die Umweltschutzinstrumente der EU finanziert werden (2). Darin wird betont, wie wichtig die effiziente Verwendung der Erlöse aus den marktbasierten Instrumenten ist, um Umweltverbesserungen im Sinne der Förderung einer grünen Wirtschaft zu erzielen, sowie jener aus dem EU-EHS, die eine besonders wichtige Möglichkeit für die Finanzierung derartiger Verbesserungen und für den industriellen und beschäftigungsrelevanten Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft darstellen.

3.   Vorschläge der Kommission

3.1.

Die Initiative der Kommission zur Änderung der Richtlinie EU-EHS 2003/87/EG würde durch eine Reihe von Vorschlägen den Umfang der jährlichen Emissionsminderung erhöhen, indem die Menge der jährlich im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vergebenen Zertifikate ab 2021 um einen linearen Faktor von über 2,2 % verringert würde, um im Jahr 2030 eine Reduzierung von 43 % gegenüber 2005 zu erreichen.

3.2.

Der Vorschlag sieht verschiedene Finanzierungsmechanismen vor, mit denen Wirtschaftsakteure unterstützt werden sollen, die gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen ankämpfen und sich den großen Innovations- und Investitionsherausforderungen stellen müssen, die für die Modernisierung ihrer Anlagen und die Energieeffizienz notwendig sind, um zur Emissionsminderung beizutragen.

4.   Die weltweiten Emissionshandelssysteme

4.1.

Emissionshandelssysteme nehmen jenseits der Grenzen der EU weltweit zu und sind in Gestalt nationaler oder subnationaler Systeme in verschiedenen Ländern in Kraft.

4.2.

In den USA hat Präsident Obama die Regeln für den „Clean Power Plan“ CPP angekündigt, in dem für jeden Staat die einzelnen Standards zur Reduzierung der CO2-Emissionen aus den Kraftwerken — hauptsächlich Kohle und Gas — bis 2030 vorgegeben werden.

4.2.1.

In Kalifornien trat 2012 das „cap-and-trade“-Programm in Kraft. In Connecticut, Delaware, Maine, Maryland, Massachusetts, New Hampshire, New York, Rhode Island und Vermont wurde die „Regional Greenhouse Gas Initiative“ (RGGI) eingeführt.

4.3.

In Australien ist ein Emissionshandelssystem in Kraft, das nach Maßgabe eines Abkommens mit der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2012 bis 2018 mit dem europäischen System zusammengeführt werden soll.

4.4.

In Kanada wurde das Québec’s Cap-and-Trade System for Greenhouse Gas Emissions 2012 eingeführt, das seit 2013 85 % der Emissionen in Quebec erfasst.

4.5.

In Neuseeland wurde 2008 ein Emissionshandelssystem NZ-ES gestartet, das auch Wälder und die Landwirtschaft, flüssige fossile Brennstoffe, Elektrizitätswerke und industrielle Verfahren erfasst.

4.6.

Die EU und China haben sich auf ihrem bilateralen Gipfeltreffen Ende Juni 2015 auf eine Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Klimawandels verständigt.

4.7.

In Südkorea gibt es seit Januar 2015 das Programm KETS, das erste Programm in Asien auf nationaler Ebene und das zweite weltweit nach dem EU-EHS.

4.8.

In Japan wurde im April 2010 das Tokyo Cap-and-Trade-Programm (TMG-EHS) als erstes obligatorisches Handelssystem eingeführt.

4.9.

In der Schweiz wurde das CH-EHS im Jahr 2008 für 5 Jahre auf freiwilliger Basis als Alternative zur CO2-Steuer auf fossile Brennstoffe aufgelegt und ist mittlerweile seit 2013 obligatorisch für die großen energieintensiven Industrien.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1.

Nach Ansicht des Ausschusses stellt das EU-EHS ein effizientes Schlüsselinstrument für die Senkung der EU-Energieemissionen dar, wenn es marktbasiert ist und so ein den Zielen entsprechendes Preissignal für CO2 gibt, aber auch Investitionen in CO2-arme Technologien und den Ausbau der erneuerbaren Energieträger sowie die Steigerung der Energieeffizienz begünstigt.

5.1.1.

Der EWSA ist besorgt angesichts eines möglicherweise sich beschleunigenden Prozesses der Verlagerung von Investitionen als eine spezifische Form der Verlagerung von CO2-Emissionen in bedrohten Branchen. Dies könnte die Wettbewerbsfähigkeit dieser Wirtschaftszweige und ihre Fähigkeit, die für eine ressourceneffiziente und kohlenstoffarme Wirtschaft notwendigen Maßnahmen im Einklang mit unlängst verabschiedeten Stellungnahmen (3) zu ergreifen, weiter schwächen.

5.2.

Der EWSA ist überzeugt, dass der CO2-Markt für alle wichtigen internationalen Akteure stabiler, flexibler und offener werden muss.

5.3.

Der vom Europäischen Rat am 23./24. Oktober 2014 festgelegte Rahmen für die Energiepolitik bis 2030 enthält ehrgeizige Ziele zur einseitigen Reduzierung, aber auch klare Hinweise in Bezug auf die Bestimmungen bezüglich des Carbon Leakage, die im Rahmen der Reform des EU-EHS konzipiert werden müssen.

5.3.1.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass die Reform des EU-EHS politisch abgestimmt werden sollte, insbesondere mit der Reform der nicht unter das EHS fallenden Sektoren (Lastenteilungsentscheidung) und der politischen Maßnahmen für erneuerbare Energien (EED) und Energieeffizienz (EED und EPBD).

5.4.

Nach Einschätzung des EWSA sollten bei der Reform u. a. folgende Aspekte berücksichtigt werden:

Abschaffung des sektorübergreifenden Korrekturfaktors für die direkten Kosten;

EU-weit harmonisierte Mechanismen für den Ausgleich der indirekten Kosten;

Prämien- und keine Bestrafungssysteme für die Spitzenreiter, unabhängig von der Art der Spitzenleistung, einschließlich Abscheidung und Nutzung von CO2;

Festlegung von Benchmarks anhand solider und einmalig zu Beginn des Zeitraums festgelegter Industriedaten;

Zuteilung kostenloser Zertifikate an die Sektoren auf der Grundlage tatsächlicher Produktionszahlen;

Möglichkeit des Fall-back-Konzepts in Phase 4 für die Sektoren ohne vorherige Referenzparameter;

flexiblere Ermittlung des Risikos des Carbon Leakage anhand aktueller qualitativer Risikokriterien;

teilweise Nutzung der Stabilitätsreserve zur Unterstützung des phasing-out jener Sektoren, die aus der Carbon-Leakage-Liste gestrichen wurden;

Ausnahme vom Mechanismus für Anlagen mit CO2-Emissionen unter 50 000 Tonnen;

umfassende Berücksichtigung der sozialen Dimension beim EU-EHS, um die Umstellung der Prozesse, technischen Fertigkeiten und beschäftigungsrelevanten Fähigkeiten auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft voll und ganz zu unterstützen.

5.4.1.

Allen von Verlagerung bedrohten Unternehmen sollte eine bestimmte Anzahl an Emissionsrechten kostenfrei zugeteilt werden.

5.5.

Nach Ansicht des Ausschusses sollten angemessene Mechanismen für die Umstellung auf eine ausgewogene Reduzierung der kostenlosen CO2-Emissionszertifikate gewährleistet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu wahren und den Risiken von Investitionsverlagerungen und von unlauterem Wettbewerb in der europäischen Wirtschaft und den europäischen Beschäftigungssektoren seitens Ländern, in denen es keine vergleichbaren Vorschriften gibt, vorzubeugen.

5.5.1.

Insbesondere gilt es, ein angemessenes globales Regelungspaket in Bezug auf die Mengen der kostenlosen Zuteilungen, auf die Zulässigkeit des Carbon Leakage, die Überarbeitung der Benchmarking-Parameter und den Ausgleich der durch die Strompreise entstehenden Kosten zu gewährleisten. Damit soll in allen Mitgliedstaaten voll und ganz die kostenlose Zuteilung und die vollständige Kompensierung der indirekten Kosten von 10 % der effizientesten Anlagen in Bereichen mit einem hohen Risiko des Carbon Leakage gewährleistet werden.

5.5.2.

Ferner sollte untersucht werden, ob die Prämiensysteme für die Spitzenreiter auf die Zivilgesellschaft ausgedehnt werden könnten, indem Familien, Gemeinden und öffentliche Verwaltungen, die ihren eigenen Verbrauch an CO2-erzeugender Energie spürbar senken und die Emissionen durch grüne Investitionen ausgleichen, EHS-Boni zugeteilt werden.

5.6.

Nach Ansicht des EWSA sollte der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) beibehalten, verbessert und ausgeweitet werden, und das EU-EHS sowie die neuen, in anderen Regionen der Welt entstehenden Systeme sollten entsprechend miteinander verzahnt werden.

5.7.

Der Klimawandel erfordert eine globale Lösung mittels eines Übereinkommens, das für alle großen Wirtschaftsräume der Welt klar umrissene und zuverlässige Ziele enthält.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1.

Der Ausschuss empfiehlt, die Modalitäten für die Aufteilung der Zertifikate zu überarbeiten und einen angemessenen Anteil kostenloser Zertifikate zu gewährleisten, um die Erfordernisse der anspruchsberechtigten Betreiber zu erfüllen. Die Definition der Sektoren, bei denen ein Risiko der Verlagerung besteht, birgt ab 2020 die Gefahr, das Carbon-Leakage-Verzeichnis mit einem Schwellenwert von 0,18 als Voraussetzung für die Förderfähigkeit beträchtlich zu kürzen.

6.2.

Der EWSA blickt mit Sorge auf die Verschärfung der Benchmarks, durch die Betriebe, die sich in Schwierigkeiten befinden, noch weiter benachteiligt würden: bei der sektorenübergreifenden Reduzierung der Richtwerte durch einen einheitlichen linearen Korrekturfaktor zwischen 0,5 % und 1,5 % jährlich wird die Lebensdauer der Anlagen und der reale Stand der Technologie in stark diversifizierten Sektoren nicht berücksichtigt.

6.3.

Nach Ansicht des EWSA sollten die Benchmarks für die Verlagerung von CO2-Emissionen technisch und wirtschaftlich durchführbar sein, um den realen technischen Fortschritt widerzuspiegeln, und er empfiehlt, dass die Methode zur Kürzung des Verzeichnisses jener Sektoren auf der Carbon-Leakage-Liste von 177 auf 52 im Zeitraum 2021-2030 von den Sozialpartnern mitgetragen und von phasing-out-Maßnahmen flankiert wird.

6.4.

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass der sektorenübergreifende Korrekturfaktor abgeschafft werden muss. Ein unzweckmäßig kalkulierter Korrekturfaktor würde Unsicherheit bei der kostenlosen Zuteilung schaffen und die gefährdetsten Anlagen in unverhältnismäßige Kosten stürzen.

6.5.

Der EWSA plädiert für einen EU-weit harmonisierten Kompensierungsmechanismus für die indirekten Kosten anhand bereits erstellter Parameter (4), der die derzeitigen Verzerrungen des Binnenmarktes behebt und die gegenwärtige Regelung auf der Grundlage der staatlichen Beihilfen verbindlich macht, indem die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, mindestens einen Teil der Versteigerungserlöse in eine hinlängliche Kompensierung der indirekten Kosten fließen zu lassen, welche die ökologischen Spitzenreiter in den gefährdeten Sektoren tragen müssen.

6.6.

Der Ausschuss fordert eine flexiblere und dynamischere Zuteilung der kostenlosen Zertifikate auf der Grundlage aktualisierter effektiver Produktionsvolumen. Zu diesem Zweck sollten Anlagen mit verbesserter Effizienz dadurch unterstützt werden, dass sie weiterhin dieselbe Menge kostenloser Zertifikate zugeteilt bekommen.

6.7.

Eine flexiblere Gestaltung des Kriteriums für die Ermittlung des Risiko eines Carbon Leakage ist notwendig, um die Auswirkung des Kohlenstoffpreises auf die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Sektoren, insbesondere für die KMU, nach einem 2008 festgelegten qualitativen Kriterium besser widerzuspiegeln.

6.8.

Nach Ansicht des EWSA sollten die drei Fonds des EU-EHS — Stabilitätsreserve, Innovationsfonds und Modernisierungsfonds — in einem Gesamtrahmen betrachtet werden, um korrekte Funktionsweisen und angemessene Verwaltungs- und Kontrollsysteme sicherzustellen sowie Doppelungen und Überschneidungen zu vermeiden.

6.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass

ein Teil der Stabilitätsreserve zur Unterstützung des phasing-out jener Sektoren, die aus der Carbon-Leakage-Liste gestrichen wurden, verwendet werden sollte;

der Modernisierungsfonds nicht nur Ländern mit einem BIP unter 60 % des EU-Durchschnitts zur Verfügen zu stehen hat, sondern auch für Stromerzeugungsmaßnahmen in den NUTS-2-Gebieten für die transparente Förderung von Investitionen ohne Wettbewerbsverzerrungen auf dem Energiebinnenmarkt geöffnet werden sollte;

der Innovationsfonds für neue Technologien und CO2-arme Industrieprozesse insbesondere in Sektoren, die sich im schrittweisen phasing-out befinden, zu nutzen ist;

die freiwilligen CO2-Versteigerungen wie z. B. „CarboMark“ als zusätzliche und freiwillig von den Waldeigentümern eingegangene Verpflichtungen weitergeführt werden sollten, um den indirekten ökologischen Nutzen des Waldes zu maximieren, durch den die Klimaschutzfunktion des Waldökosystems auch ökonomisch anerkannt werden könnte.

6.10.

Der Ausschuss plädiert dafür, dass die für Kleinanlagen mit CO2-Emissionen von weniger als 25 000 Tonnen vorgesehenen Maßnahmen auch auf Anlagen mit CO2-Emissionen von weniger als 50 000 Tonnen ausgeweitet werden, die EU-weit rund 75 % der unter das EHS fallenden Anlagen ausmachen, aber nur 5 % der Gesamtemissionen ausstoßen.

6.11.

Was die Emissionen im Rahmen des mineralogischen Prozesses anbelangt, so ist ihr Reduzierungspotenzial seitens der Betreiber praktisch gleich Null, weshalb die Betreiber ihre gesamten Zertifikate kostenlos zugeteilt bekommen sollten.

6.12.

Da die Maßnahmen zur Überprüfung des EU-Emissionshandelssystems nicht nur die Energiepolitik, sondern viele andere Unionspolitiken betreffen, empfiehlt der Ausschuss ein Höchstmaß an Kohärenz — und die Beseitigung unnötigen Verwaltungsaufwands bezüglich der neuen und der mit diesen interagierenden Vorschriften.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Vgl. Modernisierung der staatlichen Beihilfe für einen integrierten EU-Energiebinnenmarkt — Joaquín Almunia, für Wettbewerbspolitik zuständiger Vizepräsident der Europäischen Kommission, Brüssel, 2. Dezember 2013 — Energie: der Bereich, wo „mehr Europa“ am dringlichsten ist. Entwicklung gemeinsamer Grundsätze für die Bewertung staatlicher Beihilfen. Damit Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, müssen sie zu einem gemeinsamen EU-Ziel beitragen, nachgewiesenes Marktversagen korrigieren/Eigenkapitalbelange angehen, ein angemessenes Instrument sein, einen Anreizeffekt sicherstellen, verhältnismäßig/aufs Minimum beschränkt sein und unangemessene Wettbewerbs- und Handelsverzerrungen verhindern. Siehe auch „Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020“ (ABl. C 200 vom 28.6.2014, S. 1).

(2)  www.eesc.europa.eu/envistud.

(3)  Marktwirtschaftliche Instrumente — kohlenstoffarme Wirtschaft in der EU (ABl. C 226 vom 16.7.2014 S. 1), Rahmen für die Klima- und Energiepolitik 2020-2030 (ABl. C 424 vom 26.11.2014 S. 39), Das Paris-Protokoll (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 74).

(4)  Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014-2020 (ABl. C 200 vom 28.6.2014, S. 1).


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa“

(COM(2015) 192 final)

(2016/C 071/11)

Berichterstatter:

Raymond HENCKS

Mitberichterstatter:

Thomas McDONOGH

Die Europäische Kommission beschloss am 12. Mai 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa

(COM(2015) 192 final).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 219 gegen 2 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt die Kommissionsstrategie für einen digitalen Binnenmarkt, sieht indes mit Sorge, dass ein Teil der Mitgliedstaaten bisher kaum den notwendigen politischen Willen erkennen lässt, eine kreative, innovative und nicht nur konsumorientierte digitale Union auf den Weg zu bringen.

1.2.

Die von der Juncker-Kommission vorgeschlagene Strategie setzt bei den bisherigen Strategien und Programmen zur Förderung der Digitalisierung an und soll der schleppenden digitalen Politik der EU neue Impulse geben. Gleichzeitig beinhaltet sie eine Neuausrichtung auf den Handel und die Verbraucher sowie die notwendigen Maßnahmen, um den Handel auszuweiten, die Verbraucherzahlen zu erhöhen und die Verbraucherbedingungen wie auch den Verbraucherschutz zu verbessern.

1.3.

Oberstes Gebot in diesem Kontext ist die Schließung der Qualifikationslücke. Dabei geht es womöglich gleichermaßen um Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen wie um digitale Kompetenzen und deren verantwortungsvolle Nutzung. Dann muss der Umgang mit Plattformen einfach sein, damit die Marktentwicklung gefördert wird, und deshalb sollten die Tätigkeiten dieser Plattformen nicht eingeengt werden. Und da schließlich noch relevante Anwendungen benötigt werden, ist die Schwerpunktsetzung auf Normung zu begrüßen. Der Ausbau der elektronischen Behördendienste wird dazu beitragen, dass sich mehr Bürger näher mit digitalen Medien befassen. Aus Sicht der Verbraucher befürwortet der EWSA die Initiativen zur Sicherstellung eines besseren Zugangs für Verbraucher und Unternehmen zu digitalen Waren und Dienstleistungen in ganz Europa.

1.4.

Einige — nicht alle — der in Ziffer 4.2 (Schaffung der richtigen Bedingungen für florierende digitale Netze und Dienste) erläuterten Initiativen betreffen die Netzinfrastruktur und gehören zur digitalen Agenda. Diese Vorschläge sind aufgrund des Binnenmarktkontexts und des vorgesehenen knappen Zeitplans maßgeblich. Einige der anderen in dieser Ziffer genannten Initiativen sind für die Verbraucherrechte bedeutsam.

1.5.

Der EWSA befürwortet die Absicht der Kommission, die 28 unterschiedlichen nationalen digitalen Strategien und Märkte in einem europäischen Ansatz zusammenzuführen und der EU eine Führungsposition in der globalen digitalen Wirtschaft zu sichern, die inzwischen von Drittländern dominiert wird.

1.6.

Der EWSA geht davon aus, dass die EU aufgrund ihrer überragenden Kenntnisse und umfangreichen Erfahrungen in einigen Bereichen der Digitaltechnik ihren Rückstand noch aufholen kann. Der EWSA plädiert in diesem Kontext für die Entwicklung bereichsübergreifender Forschungszentren und europäischer Synergien im Rahmen des Europäischen Forschungsraums in Bereichen wie Cloud Computing, Nanoelektronik, Massendatenspeicherung und -verarbeitung, per Fernzugriff abfragbare oder steuerbare Geräte (vernetzte Objekte) sowie intelligente Dienste.

1.7.

Die EU kann ihren Rückstand aufholen, wenn es ihr gelingt, kurzfristig ihre Ressourcen zu bündeln und unter Einbeziehung aller Interessenträger in die Debatte über die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt die öffentlichen und privaten Anstrengungen der 28 Mitgliedstaaten zu mobilisieren und zu koordinieren. Der EWSA heißt die Absicht der Kommission gut, zu jeder im Rahmen der Strategie geplanten Maßnahme eine öffentliche Konsultation durchzuführen.

1.8.

Der EWSA bedauert, dass die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt keine soziale Dimension aufweist (vom Aspekt der digitalen Kompetenz einmal abgesehen), obwohl die Weiterentwicklung der Dienste und Geschäftsmodelle die Arbeitswelt tiefgreifend verändern wird. Neben den potenziellen Vorteilen müssen auch die zahlreichen Risiken und Herausforderungen, die sich insbesondere in den Bereichen Beschäftigungssicherheit und Arbeitsorganisation wie auch der sozialen Sicherheit stellen, sowie die im Vertrag vorgesehenen Verfahren für den sozialen Dialog und die horizontale Sozialklausel in der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt berücksichtigt werden (1). In Anbetracht der Auswirkungen auf die Beschäftigung sollte nach Meinung des EWSA die soziale Dimension den vierten Pfeiler der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa bilden.

2.   Einleitung

2.1.

Nach dem Verständnis des EWSA beinhaltet der Begriff „digitaler Binnenmarkt“ die Verlagerung von Geschäften und Tätigkeiten aus dem gegenwärtigen EU-Binnenmarkt ins Internet. Teilweise hat diese Verlagerung schon stattgefunden, doch zielen die Initiativen der Kommission darauf ab, das digitale Potenzial umfassend zum Tragen zu bringen. Die Markt- und Geschäftstätigkeiten umfassen die Produktion von Gütern und Bereitstellung von Dienstleistungen sowie anschließend Vermittlungsleistungen, Vertrieb und Verbrauch. Die Transaktionen zwischen Verbrauchern, Unternehmen und Behörden werden durch die sozialen Netzwerke und die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des Teilens geprägt. Die Behörden werden im digitalen Binnenmarkt zum Diensteanbieter.

2.2.

Die Vorteile einer Verlagerung von Geschäftsabläufen ins Internet sind erwiesen: besser integrierte Wertschöpfungskette, raschere Prozessabfolge von Entwurf bis Lieferung, verbesserte Kundenschnittstellen (vor allem aufgrund der sozialen Netzwerke) und insgesamt gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit. Mit dem fortschreitenden digitalen Wandel werden letztlich das Internet der Dinge und Industrie 4.0 Einzug halten.

2.3.

Das Besondere am Binnenmarkt ist, dass er transnational angelegt und daher grundsätzlich internettauglich ist. Jedoch gibt es Probleme auf dem Binnenmarkt selbst und mit der Anpassung von Vorschriften, Gesetzen und Regelungen an das digitale Umfeld, die digitalen Kompetenzen der Verbraucher, Unternehmen und Behörden sind noch nicht ausgereift, die technische Infrastruktur für den digitalen Binnenmarkt weist noch Mängel auf, und die Dominanz großer Plattformen ist potenziell bedenklich.

2.4.

Parallel zur Strategie für einen digitalen Binnenmarkt setzt die Kommission die digitale Agenda um, die aus der begründeten Besorgnis entstanden ist, dass die EU im Hard- und Softwarebereich ins Hintertreffen gerät, was den digitalen Binnenmarkt jedoch nur am Rande betrifft. Der Kommission zufolge wäre die Vollendung des digitalen Binnenmarkts äußerst vorteilhaft für die Wirtschaftsleistung und Beschäftigung, und sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten verfügen schon jetzt über die notwendigen Voraussetzungen, um ihn auf den Weg zu bringen.

2.5.

Das Scheitern der Vollendung des Dienstleistungsbinnenmarkts hat weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts. Der Dienstleistungssektor ist der bedeutendste Wirtschaftszweig in den Mitgliedstaaten. Die Bereitstellung von Dienstleistungen erfolgt zunehmend über Online-Transaktionen, und so könnte die fortschreitende Umsetzung der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt auch den Dienstleistungsbinnenmarkt voranbringen.

2.6.

Regeln, Bestimmungen und Gesetze, die für papiergestützte Verfahren und die Anfangszeiten des elektronischen Geschäftsverkehrs konzipiert wurden, erweisen sich für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts als Hemmschuh. Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen und den ehrgeizigen Zeitplan für ihre Umsetzung:

Rechtsetzungsvorschläge für einfache und wirksame grenzübergreifende Vertragsbestimmungen für Verbraucher und Unternehmen;

Überprüfung der Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz;

Maßnahmen auf dem Gebiet der Paketzustellung;

breit angelegte Überprüfung zur Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking;

Untersuchung des Wettbewerbs im Sektor des elektronischen Handels im Hinblick auf den Online-Handel mit Waren und die Online-Erbringung von Dienstleistungen;

Rechtsetzungsvorschläge für eine Reform des Urheberrechts;

Rechtsetzungsvorschläge zur Verringerung des Verwaltungsaufwands der Unternehmen infolge unterschiedlicher Mehrwertsteuer-Regelungen;

Initiativen in Bezug auf das Eigentum an Daten, den freien Datenfluss (z. B. zwischen Cloud-Anbietern) und eine europäische Cloud;

Überprüfung der e-Datenschutz-Richtlinie.

2.7.

Im Vergleich zu dem in Ziffer 2.6 skizzierten plausiblen Rechtsetzungsprogramm sind die zur Sensibilisierung der Unternehmen, Behörden und Verbraucher für digitale Medien sowie zur Verbesserung ihrer digitalen Kompetenzen vorgesehenen Maßnahmen weniger fasslich.

Die digitalen Fertigkeiten und Kenntnisse zahlreicher Gruppen von EU-Bürgern sind ebenso unzulänglich wie die diesbezüglichen Vorschläge der Kommission. Der EWSA bedauert, dass die Kommission diesem wichtigen Erfolgsfaktor für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts und die europäische Informationsgesellschaft nicht den erforderlichen Stellenwert einräumt;

Aufstellung eines Plans mit den Prioritäten für die IKT-Normung und Erweiterung des Europäischen Interoperabilitätsrahmens für öffentliche Dienste;

neuer e-Government-Aktionsplan mit einer Initiative zum Grundsatz der einmaligen Abfrage und einer Initiative zur Verknüpfung von Unternehmensregistern.

Insgesamt werden diese Initiativen Auswirkungen für die Bürger, KMU, behördliche sowie private Dienstleistungen und für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts notwendige Anwendungen haben, doch scheint es ihnen an Zielgenauigkeit und Dringlichkeitscharakter zu mangeln. Der EWSA wird die Entwicklung dieser Initiativen, für die durchweg die EU und die Mitgliedstaaten zuständig sind, aufmerksam verfolgen.

2.8.

Es werden einige wichtige Infrastruktur-Initiativen vorgeschlagen:

Überprüfung der Satelliten- und Kabelrichtlinie;

Rechtsetzungsvorschläge zur Reform der geltenden Telekommunikationsvorschriften;

Überprüfung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste;

Schaffung einer vertraglichen öffentlich-privaten Partnerschaft für Cybersicherheit.

Telekommunikation und Cybersicherheit haben offensichtliche Priorität, aber auch die Vorschriften für die Bereitstellung audiovisueller Inhalte über Kabel, Satellit und Breitband sollten schleunigst geklärt werden.

2.9.

Plattformen spielen eine wichtige Rolle im digitalen Binnenmarkt. Die meisten Verbraucher, Unternehmen und Behörden gehen täglich damit um. Zugang und Nutzung sind einfach und häufig kostenlos. Ihre Weiterentwicklung ist unerlässlich, aber nicht ganz unproblematisch:

Sie erleichtern disruptive Anwendungen, die Branchen und etablierte Firmen herausfordern und den Kunden Vorteile bieten, deren Legalität indes von den etablierten Firmen infrage gestellt wird.

Viele Plattformen haben marktbeherrschende Stellungen, die Fragen bezüglich eines potenziellen Missbrauchs aufwerfen.

Die meisten großen Plattformen sind außerhalb der EU beheimatet. Es gibt indes EU-Plattformen, die auf gleiche Ausgangsbedingungen angewiesen sind, um am Markt zu bestehen und zu gedeihen.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Konsultation, die eine umfassende Analyse der Rolle der Plattformen auf dem Markt einschließlich illegaler Inhalte im Internet zum Ziel hat. Der digitale Binnenmarkt ist auf florierende Plattformen angewiesen, und deshalb sollten die Tätigkeiten dieser Plattformen ansonsten nicht durch Rechtsvorschriften eingeengt werden.

2.10.

Der EWSA warnt in Anbetracht dieser Überlegungen, dass die in Ziffer 2.7 genannten Maßnahmen für die Verbraucher, Unternehmen und Behörden die Achillesferse der Strategie sein könnten, und äußert Vorbehalte in Bezug auf Plattformen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Europäische Union die herausragenden Möglichkeiten der digitalen Technologien bislang nicht ausgeschöpft hat. Das liegt vor allem daran, dass der europäische Markt immer noch in 28 nationale Märkte zersplittert ist.

3.2.

Nun ziehen es einige Mitgliedstaaten offensichtlich vor, eine rein nationale digitale Strategie weiterzuverfolgen und zu entwickeln als den Weg für eine kreative und innovative europäische digitale Union zu ebnen. Gleichzeitig haben der deutsche und der französische Wirtschaftsminister für die Schaffung eines gemeinsamen Rahmens plädiert, für den sie starke Impulse geben wollen.

3.3.

Der EWSA nimmt ferner zur Kenntnis, dass die Regierungschefs einiger Mitgliedstaaten in einem Schreiben an den Ratspräsidenten Vorbehalte über die Umsetzung der Strategie zum Ausdruck gebracht haben. Sie fordern darin, dass nur die Bereiche reguliert werden sollten, in denen dies nach dem Grundsatz der intelligenten Regulierung und anhand umfassender Folgenabschätzungen eindeutig angezeigt sei. Der digitale Binnenmarkt könne eindeutig nur dann zum Erfolg geführt werden, wenn Innovation, Investition und Unternehmergeist nicht im Keim erstickt würden. Der EWSA teilt diese Ansicht, sofern die Interessen der Verbraucher und Beschäftigten ebenbürtig berücksichtigt werden.

3.4.

Die Kommission knüpft mit dieser neuen Strategie für die Vollendung des digitalen Binnenmarkts an die Digitale Agenda für Europa aus dem Jahr 2010 an. Von den darin vorgesehenen 101 Maßnahmen sind laut Kommission 72 erfolgreich abgeschlossen worden, und 23 dürften fristgerecht abgeschlossen werden. Der digitale Binnenmarkt ist damit allerdings nicht vollendet, und deshalb findet sich ein Teil der Maßnahmen in der hier erörterten neuen Strategie wieder.

3.5.

Bei der Vorlage der politischen Leitlinien für die neue Europäische Kommission gab Kommissionspräsident Juncker zu bedenken, dass durch die Schaffung eines vernetzen digitalen Binnenmarkts ein zusätzliches Wachstum von bis zu 250 Mrd. EUR erzielt und somit hunderttausende neuer Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Der Mitteilung zufolge kann die Schaffung des digitalen Binnenmarkts mit zusätzlichen 415 Mrd. EUR zum europäischen BIP beitragen, und den beiden für die digitale Wirtschaft zuständigen Kommissionsmitgliedern zufolge wird ein digitaler Binnenmarkt 3,8 Mio. Arbeitsplätze hervorbringen.

3.6.

Nach Meinung des EWSA ist es kontraproduktiv, den Bürgern eine Unmenge von Zahlen als Wahrheit zu verkaufen, die eigentlich Schönfärberei sind und je nach Quelle innerhalb der Kommission auch noch unterschiedlich ausfallen. Auf diese Weise wird letztlich das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger untergraben, und es stellt sich Gleichgültigkeit gegenüber den wirklichen Problemen ein.

3.7.

Die Kommission hat bislang noch nie den Beweis erbracht, dass sich ihre derartigen Prognosen bewahrheitet haben. Der EWSA fordert sie auf, am Ende ihres Mandats Bilanz zu ziehen und die Ergebnisse ihren Vorhersagen gegenüberzustellen.

3.8.

Der EWSA hält eine Vollendung des digitalen Binnenmarkts während der laufenden Mandatsperiode der Kommission für unwahrscheinlich, zumal keine einschlägigen Folgenabschätzungen oder Forschungsergebnisse veröffentlicht werden, die diese Aussagen unterstützen. Die Schätzungen der Kommission sollten Studien gegenübergestellt werden, denen zufolge der digitale Wandel zu umfangreichen Arbeitsplatzverlusten führen wird (2).

3.9.

Laut Kommission würde die Vollendung des vernetzten digitalen Binnenmarkts gewährleisten, dass Europa auch in Zukunft zu den weltweiten Vorreitern der Digitalwirtschaft gehört, und den europäischen Unternehmen die Möglichkeit zur Expansion auf den Märkten außerhalb der EU eröffnen.

3.10.

Der EWSA stellt mit Bedauern fest, dass die EU ihr im Jahr 2000 in der Lissabon-Strategie festgeschriebenes Ziel, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen, sichtlich nach unten korrigiert hat.

3.11.

Die Europäische Union ist ins Hintertreffen geraten.

Die Digitalwirtschaft wird inzwischen von den USA und Asien dominiert. Für die ca. 50 großen europäischen Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste gelten 28 unterschiedliche nationale Regelwerke, während die sechs großen Netzbetreiber des US-amerikanischen Marktes und die drei chinesischen Telekommunikationsriesen jeweils einem einzigen Regelungsrahmen unterliegen. Die Vision eines innereuropäischen digitalen Markts als Integrationsfaktor ist in einer grenzenlosen digitalen Welt überholt und hat ohnehin nicht verhindert, dass sich die großen Plattformen aus Drittländern in den meisten EU-Mitgliedstaaten Monopol- oder Oligopolstellungen gesichert haben.

3.12.

Der EWSA hofft jedoch nach wie vor, dass die EU ihren Rückstand noch aufholen kann und die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa geeignet ist, dem Sektor neue Impulse zu geben. Voraussetzung ist jedoch, dass sie auf Kreativität angelegt ist und sich nicht auf die Nutzung von Digitaltechnik beschränkt, einen gesellschaftlichen Quantensprung hin zur digitalen Früherziehung fördert, auf die Schließung der digitalen Kluft hinarbeitet, Zugang und Barrierefreiheit für alle Bürger gewährleistet und angemessene öffentliche und private Investitionen in Schul- und Berufsbildung sowie Forschung sicherstellt.

3.13.

Dazu muss die EU ihre Ressourcen zusammenlegen und die öffentlichen und privaten Anstrengungen in den 28 Mitgliedstaaten mobilisieren und koordinieren, wenn sie nicht die umwälzenden Neuentwicklungen verpassen will, die die digitale Wirtschaft regelmäßig erfassen, wie bspw. die lawinenartige Entwicklung mobiler Apps innerhalb weniger Jahre, Cloud-Computing, Massendaten (Big Data) oder das strategische Potenzial der riesigen Plattformen für digitale Dienste, die mittlerweile für die Nutzung des Internet unausweichlich geworden sind. In die Debatte über die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt müssen alle Interessenträger einbezogen und der Schutz und die grundlegenden Rechte der Bürger, Verbraucher, Arbeitnehmer und Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden, um eine inklusive Gesellschaft sicherzustellen.

3.14.

Allerdings muss der EWSA feststellen, dass die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt keinerlei soziale Dimension aufweist. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigung und die damit verbundenen Gefahren werden weitgehend ausgeblendet, obwohl die ständige Weiterentwicklung der Dienste und Geschäftsmodelle einen tiefgreifenden Wandel in der Arbeitswelt bewirkt und das Wesen der Arbeit sowie die Art der Unternehmensstruktur wesentlich verändern und womöglich eine Auflösung der Tarifverträge herbeiführen wird. Deshalb müssen die im Vertrag vorgesehenen Verfahren für den sozialen Dialog sowie die horizontale Sozialklausel in der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt berücksichtigt werden. In seiner Stellungnahme CCMI/136 zum Thema „Auswirkungen der Digitalisierung auf die Dienstleistungsbranche und die Beschäftigung im Rahmen des industriellen Wandels“ hat der EWSA eine Reihe Empfehlungen ausgesprochen, um zu verhindern, dass die Digitalisierung nicht die Wirksamkeit der bestehenden Berufsbildungs-, Beschäftigungsschutz-, Sozialschutz- und Steuersysteme untergräbt. In Anbetracht der Auswirkungen auf die Beschäftigung sollte nach Meinung des EWSA die soziale Dimension den vierten Pfeiler der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa bilden.

3.15.

Die Massendatenverarbeitung ist ein weiterer Bereich, in dem die EU ihren Standpunkt geltend machen kann, denn die technischen Normen für die Datenerhebung und -verarbeitung müssen erst noch festgelegt werden. Dazu müssen die unterschiedlichen nationalen Vorschriften in einem kohärenten europäischen Rahmen zusammengeführt werden, bei dem über ein intelligentes Datenverarbeitungskonzept ein Ausgleich von wirtschaftlichen Interessen und Schutz der Privatsphäre bspw. im medizinischen Bereich, im Gesundheitswesen, bei Personendienstleistungen, in der Ernährungsindustrie usw. sichergestellt wird.

3.16.

Die Europäische Union kann ausgehend von den Diskussionen der Mitgliedstaaten über technische Normen eine europäische Datenpolitik entwickeln, die auf geeigneten rechtlichen Rahmenbedingungen beruht, und die Kontrolle über die Normen zum Schutz personenbezogener Daten behalten (siehe Swift-Abkommen), um zu verhindern, dass sie von anderen Akteuren vorgegeben werden.

3.17.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die IT-Branche eine ausgeprägt ungleiche Geschlechterverteilung aufweist und IKT-Fachleute meistens Männer sind. In Anbetracht der vielen offenen Stellen in der IT-Branche sollten die Europäische Union und die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um mehr Frauen für IT-Berufe zu gewinnen.

3.18.

In ihrem Bericht Golden growth: Restoring the lustre of the European economic model hat die Weltbank die Europäische Union in sechs Blöcke untergliedert und anhand von Digitalisierungsindikatoren die erheblichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Nutzung von Digitaltechnik, der digitalen Kompetenzen und Anwendungen sowie des elektronischen Geschäftsverkehrs aufgezeigt. Der EWSA fordert die Kommission auf, diesen Unterschieden bei der Festlegung der prioritären Maßnahmen ihres Arbeitsplans umfassend Rechnung zu tragen.

3.19.

Schließlich nimmt der EWSA die Aussage der Kommission zur Kenntnis, dass neben der EU-seitigen etwa 21,4 Mrd. EUR umfassenden Finanzierung der Europäische Fonds für strategische Investitionen eine breite Palette von digitalen Vorhaben unterstützen soll, und stellt fest, dass die Europäische Investitionsbank und der Europäischen Investitionsfonds umfangreiche zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten bereitstellen. Der EWSA begrüßt, dass sich die Kommission gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank, Projektträgern und Mitgliedstaaten darum bemühen wird, dass alle verfügbaren Investitionsmittel vollständig genutzt werden. Er fragt sich allerdings, warum die für die Mitgliedstaaten bereitgestellten Mittel weitgehend unausgeschöpft geblieben sind. Er fordert eine eingehende Untersuchung, um künftig eine wirksame und effektive Ausschöpfung sicherzustellen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.    Besserer Zugang für Verbraucher und Unternehmen zu digitalen Waren und Dienstleistungen in ganz Europa

4.1.1.   Rechtsetzungsvorschläge für einfache und wirksame grenzübergreifende Vertragsbestimmungen für Verbraucher und Unternehmen

Dies ist ein ehrgeiziges Unterfangen, dessen Erfolg zu begrüßen wäre. Der grenzüberschreitende elektronische und auch sonstige Geschäftsverkehr wird für KMU und Privatpersonen trotzdem weiterhin sprachliche und kulturelle Probleme aufwerfen. Durch faire und einfache standardisierte Vertragstexte in allen EU-Sprachen wird zwar ein Hemmnis ausgeräumt, doch bleiben Bedenken über die Sicherheit des inländischen und grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehrs bestehen. Deshalb begrüßt der EWSA die Cybersicherheitsinitiative.

Der EWSA geht davon aus, dass alle Vorschläge im Rahmen der Entwicklung der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt in Europa ein hohes Verbraucherschutzniveau gewährleisten und in keinem Mitgliedstaat eine Herabsetzung des gegenwärtigen Verbraucherschutzniveaus zur Folge haben.

In Kreisen der Sozialpartner werden nach wie vor gewisse Befürchtungen laut, dass der grenzüberschreitende elektronische Geschäftsverkehr die bestehenden inländischen Unternehmen bedrohen könnte. Aus diesem Grund muss die soziale Dimension in der Strategie verankert werden.

4.1.2.   Überprüfung der Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz

Eine wirksame Zusammenarbeit ist in jedem Fall eine unverzichtbare Voraussetzung für einen reibungslosen grenzübergreifenden Verbraucherschutz. Angemessene Rechtsschutz- und Entschädigungsmechanismen dürften für die Akzeptanz von grenzüberschreitendem Online-Handel wesentlich sein.

Es sollte alles darangesetzt werden, den bürokratischen Aufwand für KMU zu verringern.

Nach Meinung des EWSA sollte die Kommission

sicherstellen, dass die Verbraucher zu fairen und angemessenen Bedingungen grenzüberschreitend auf rechtmäßig verfügbare Inhalte zugreifen können;

untersuchen, in welchem Maße Verbraucher aufgrund ihres Wohnortlandes online diskriminiert werden und welche Folgen dies für die Wirtschaft und die Verbraucher hat; dementsprechend sollte sie Maßnahmen zur Bekämpfung jeglicher Diskriminierung vorschlagen;

die Einführung und Durchsetzung von Verbraucherrechten überprüfen, die Geltung von Verbraucherrechten für digitale Produkte darlegen und sicherstellen, dass Verbraucher und Unternehmen ihre Rechte verstehen und die Gewissheit haben, dass sie durchgesetzt werden.

4.1.3.   Maßnahmen auf dem Gebiet der Paketzustellung

Im inländischen Internethandel gewährleisten schnelle Reaktions- und kurze Lieferzeiten die Kundenzufriedenheit. Im grenzüberschreitenden Online-Handel besteht in dieser Hinsicht Handlungsbedarf, wenngleich bereits große internationale Paketdienste in Europa tätig sind.

4.1.4.   Breit angelegte Überprüfung zur Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking  (3)

Betroffen sind Online-Handel und audiovisuelle Dienste. Auf dem Gebiet des Online-Handels führen Suchen nach Gütern und Dienstleistungen selten zu Ergebnissen außerhalb des geografischen Bereichs des Interessenten. Dagegen könnte die Anzeige von Ergebnissen aus der gesamten EU den Suchenden überfordern.

In den Suchmaschinen können Einstellungen für die geografische Ausrichtung vorgenommen werden. Möglicherweise aber werden Verbrauchern je nach Nationalität oder Wohnsitz unterschiedliche Preisangebote unterbreitet, wie die Beschwerde gegen Disneyland Paris verdeutlicht. Der EWSA plädiert dafür, durch geeignete Maßnahmen gleiche Ausgangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Handel sicherzustellen, um die Verbraucher zu schützen. Ein weiteres Problem ist, dass in manchen Fällen der grenzüberschreitende Zugriff auf Websites schlichtweg verweigert wird.

Bei Geoblocking im audiovisuellen Bereich kommen zwei Aspekte ins Spiel: Zum einen können Nutzer zwar zu Hause, aber nicht von unterwegs auf rechtmäßig erworbene Dienste zugreifen, und zum anderen können EU-Bürger aus einem Mitgliedstaat nicht auf Dienste in einem anderen Mitgliedstaat zugreifen. Für den ersten Aspekt empfiehlt der EWSA zur Zugangserleichterung die Einführung digitaler Identitäten. Geoblocking im zweiten Fall beruht meistens auf rechtlichen Beschränkungen oder geschäftlichen Überlegungen. Ein effizienter Rechtsrahmen wäre hilfreich, doch sollte vermieden werden, Geschäftsmodelle zu behindern, die auf Werbung und Marktzugang angewiesen sind.

4.1.5.   Untersuchung des Wettbewerbs im Sektor des elektronischen Handels im Hinblick auf den Online-Handel mit Waren und die Online-Erbringung von Dienstleistungen

Der EWSA begrüßt eine Überwachung des Marktes durch die Wettbewerbsbehörden und die Verhängung strenger Sanktionen bei Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Indes gibt er zu bedenken, dass hinter der Entwicklung der Digitaltechnik und der digitalen Wirtschaft zum Nutzen von Wirtschaft und Gesellschaft große Unternehmen stehen. Er empfiehlt deshalb nachdrücklich, die geplanten Untersuchungen strikt auf die bewährten Grundsätze des Handels- und Wettbewerbsrechts zu stützen.

4.1.6.   Rechtsetzungsvorschläge für eine Reform des Urheberrechts

Der EWSA unterstützt diese Vorschläge unter der Voraussetzung, dass die verschiedenen Geschäftsmodelle praktikabel bleiben und die Rechte der Inhaber geistiger Eigentumsrechte respektiert werden.

4.1.7.   Überprüfung der Satelliten- und Kabelrichtlinie

Diese Richtlinie betrifft die Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung. Der EWSA stimmt zu, dass sie im Zusammenhang mit den in Ziffer 4.1.6 angesprochenen Rechtsetzungsvorschlägen für eine Reform des Urheberrechts und in Anbetracht der tiefgreifenden Veränderungen in diesen Branchen überarbeitet werden muss.

4.1.8.   Rechtsetzungsvorschläge zur Verringerung des Verwaltungsaufwands der Unternehmen, der sich aus unterschiedlichen Mehrwertsteuer-Regelungen ergibt

Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des digitalen Binnenmarkts ist ein Konzept zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft, da das europäische und nationale Steuerrecht für die moderne digitale Wirtschaft ungeeignet ist und Steuerumgehung und unlauteren Wettbewerb fördert. Der EWSA befürwortet den Mehrwertsteueransatz der Kommission (Erhebung im Land des Kunden und nicht im Land des Anbieters) sowie den Grundsatz der direkten Besteuerung von Gewinnen am Ort der Wertschöpfung. Er unterstützt auch die Bemühungen der Kommission, den Verwaltungsaufwand zu verringern, der den Unternehmen aus den unterschiedlichen Mehrwertsteuer-Systemen entsteht. Bezüglich Aktionsschwerpunkt iv wäre es einfacher, die Befreiung auf Transaktionen innerhalb der EU auszudehnen.

4.2.    Schaffung der richtigen Bedingungen für florierende digitale Netze und Dienste

4.2.1.   Rechtsetzungsvorschläge zur Reform der geltenden Telekommunikationsvorschriften

Der ins Auge springende Unterschied zwischen den Telekommunikationssektoren in Europa auf der einen und in Asien und den USA auf der anderen Seite ist die Fragmentierung des europäischen Markts. Im Hinblick auf den Aufbau von Organisationen, die über die notwendigen Investitions- und Forschungskapazitäten verfügen, um im globalen Wettbewerb zu bestehen, sollten in Anbetracht des exponentiellen Wachstums des elektronischen Datenverkehrs bei jeder Überprüfung auch die Kapazitäten der Tier-1- und Tier-2-Internetdiensteanbieter berücksichtigt werden. Bei der Überprüfung sollte auch eine ausgewogene Lösung für das Problem der Netzneutralität angestrebt werden. In dem Maße, wie audiovisuelle Inhalte gegenwärtig und künftig über das Internet bereitgestellt werden, müssen die Telekommunikationsbetreiber über die Flexibilität verfügen, die Erwartungen der Nutzer hinsichtlich Übertragungsqualität und -geschwindigkeit zu erfüllen.

Der EWSA begrüßt die durchgängige Absicht der Kommission, den Verbraucherschutz sicherzustellen, die Fragmentierung zu verringern und die Harmonisierung zu verstärken.

4.2.2.   Überprüfung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste

Es gibt durchaus große Unterschiede zwischen lizenzierten Rundfunkanstalten und nicht-regulierten Diensteanbietern. Die Grenzen werden jedoch durch die Weiterverbreitung von reglementierten Inhalten über Breitband und eine Vielzahl von Video-on-Demand-Anbietern, die unzähligen Blogger im Nachrichtenraum und die Tatsache, dass es von den meisten Zeitungen mittlerweile eine elektronische Ausgabe gibt, zunehmend verwischt.

Der EWSA bezweifelt indes, dass es wünschenswert ist, tunlichst sämtliche Dienste einer einheitlichen Regelung zu unterwerfen. Für den linearen Rundfunk müssen aufgrund der Gemeinwohlverpflichtung und der begrenzten Wahlmöglichkeiten der Zuschauer Standards festgelegt werden. Der Breitbandzugang zu Websites liegt im Ermessen des Nutzers, ebenso wie die Ausübung der elterlichen Kontrolle. In Anbetracht der Veränderungsdynamik in der audiovisuellen Industrie sind eine Überprüfung und Überarbeitung erforderlich, wobei auf Ausgewogenheit zu achten ist.

4.2.3.   Umfassende Analyse der Rolle der Plattformen auf dem Markt einschließlich illegaler Inhalte im Internet

In der EU wie auch in anderen Weltregionen wird die digitale Agenda weitgehend von Plattformen gestützt und auch von ihnen vorangetrieben. Die erfolgreichen großen Plattformen haben sich eine marktbeherrschende Stellung gesichert, die indes nicht missbraucht werden darf. Der EWSA warnt die Kommission jedoch davor, die Tätigkeiten dieser Unternehmen nur aufgrund ihrer Größe und Erfolge einzuengen, denn dadurch könnte die Entwicklung des digitalen Binnenmarkts in Europa behindert werden.

Indes sind die von der Kommission vorgeschlagenen Aktionsschwerpunkte vernünftig und durchdacht und können den Nutzen der Plattformen im digitalen Binnenmarkt steigern. Die Kommission sollte jedoch unbedingt einen ausgewogenen Ansatz verfolgen und nicht die legitimen Geschäftsinteressen der Plattformen ignorieren.

4.2.4.   Überprüfung der e-Datenschutz-Richtlinie

Der EWSA unterstützt diesen Ansatz für den Schutz personenbezogener Daten. Er glaubt allerdings nicht, dass das Recht auf Vergessenwerden in seiner jetzigen Form langfristig aufrechterhalten werden kann, da die Auslegung der EU zu weit gefasst und die Durchsetzung dieses Rechts im weltweiten Internet technisch schwierig ist. Der EWSA drängt die Kommission, dieses Recht zum Schutz der Schwachen weiterzuentwickeln, um seine globale Akzeptanz sicherzustellen.

4.2.5.   Schaffung einer vertraglichen öffentlich-privaten Partnerschaft für Cybersicherheit

Die verschiedenen Stufen der Wertschöpfungsketten in der digitalen Wirtschaft überschreiten Grenzen und die nationale Dimension, was der Cyberkriminalität Tür und Tor öffnet. Der EWSA begrüßt die in der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt vorgesehene Partnerschaft mit der Industrie im Bereich Cybersicherheit, die endlich auf eine schon lang angesagte Kultur des Risikomanagements und des wirksamen Informationsflusses abhebt.

Einen Aspekt von Cyberkriminalität hat die Kommission jedoch übergangen: Die Informations- und Kommunikationstechnologien bieten Möglichkeiten der Cyber-Überwachung, die unter Missachtung der Grundfreiheiten zur Überwachung von personenbezogenen Daten und persönlichen Mitteilungen sowie zur Spionage gegenüber Staaten und ihren politischen Führungskräften genutzt werden können. Nach Meinung des EWSA sollten auf EU-Ebene Informationen ausgetauscht und die Kapazitäten für Erkennung und Intervention verbessert werden.

Die Kommission macht keine Angaben zum Umfang, den Ergebnissen oder der Struktur (Anzahl der Partner) der vorgeschlagenen Partnerschaft. Der EWSA gibt ferner den derzeitigen Umfang an Marktinvestitionen in Cybersicherheit zu bedenken. Deshalb kann sich der EWSA erst zu diesem Vorschlag äußern, wenn ihm genauere Informationen vorliegen.

4.3.

Bestmögliche Ausschöpfung des Wachstumspotenzials der digitalen Wirtschaft

4.3.1.   Initiativen in Bezug auf das Eigentum an Daten, den freien Datenfluss (z. B. zwischen Cloud-Anbietern) und eine europäische Cloud

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass es bei der Massendatenverarbeitung einen Konflikt zwischen dem Schutz personenbezogener Daten und der notwendigen Zusammenführung von personenbezogenen Daten in wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Mega-Analysen gibt. Er drängt die Kommission, diesen Konflikt bei der geplanten Überprüfung zu lösen.

4.3.2.   Aufstellung eines Plans mit den Prioritäten für die IKT-Normung und Erweiterung des Europäischen Interoperabilitätsrahmens für öffentliche Dienste

Der EWSA unterstützt diese Initiative. Zwar sorgen internationale Ausschüsse für ein gewisses Maß an Normung von Hardware und Systemsoftware, doch gibt es unbestritten noch einen umfangreichen Normungs- und Interoperabilitätsbedarf auf sektoraler, Anwendungs- und App-Ebene — eine Voraussetzung für eine mächtige Steigerung von Nutzen und Relevanz des digitalen Binnenmarkts.

4.3.3.   Neuer e-Government-Aktionsplan mit einer Initiative zum Grundsatz der einmaligen Abfrage und einer Initiative zur Verknüpfung von Unternehmensregistern

Für e-Government sind die Mitgliedstaaten verantwortlich. Es gibt Vorreiter und Nachzügler. Die Fortentwicklung von e-Government und das reibungslose Funktionieren der elektronischen Verwaltung sind eine unerlässliche Voraussetzung für einen digitalen Binnenmarkt.

4.3.4.   Digitale Kompetenzen und Qualifikationen

Die Kommission plant keine Legislativmaßnahme zur Förderung der digitalen Kompetenzen und Qualifikationen, sondern überlässt das diesbezügliche Tätigwerden den Mitgliedstaaten. Der EWSA ist enttäuscht, dass es keine neuen Initiativen in diesem Bereich gibt. Es wäre zumindest eine Mitteilung der Kommission angebracht, die einen Überblick über Standards und bewährte Verfahren gibt. Zudem muss ein Schwerpunkt auf die Förderung von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen als wichtiger Bestandteil der digitalen Kompetenzen gelegt werden.

Die vom EWSA erwünschte Mitteilung würde einen auf die einzelnen Lebensabschnitte abgestimmten Rahmen aufstellen und dazu übergreifende Vorschläge für lebensbegleitendes Lernen unterbreiten. Der Rahmen sollte in vier Bereiche untergliedert sein: Bildung, Berufsleben, Ruhestand, Behinderung:

A

BILDUNG

A1

Primarbereich — Vermittlung grundlegender Fertigkeiten

A2

Sekundarbereich — zwei Zweige sind vorgesehen:

Vermittlung genereller Kompetenzen, die es den Lernenden ermöglichen, problemlos in der Informationsgesellschaft zu leben und zu arbeiten;

Vermittlung fachspezifischer digitaler Kompetenzen, um Lernende mit den entsprechenden Fähigkeiten für die IT-Fachpraxis zu rüsten und die Qualifikationslücke in der Branche zu schließen. In diesem Zusammenhang muss auch gezielt ein besseres Geschlechtergleichgewicht im IT-Bereich gefördert werden.

A1 und A2: Sowohl im Primar-als auch im Sekundarbereich muss ein Schwerpunkt auf die verantwortungsvolle Anwendung der digitalen Kompetenzen gelegt werden.

A3

Tertiärbereich — zwei Zweige sind vorgesehen:

Vermittlung berufsspezifischer Kompetenzen; in Lehrgängen wie Ingenieurwesen, Mathematik und Biotechnologie über Lehrveranstaltungen und Prüfungen;

Ausbildung in Spitzentechnologien im Hinblick auf die Besetzung offener Stellen im Hightech-Bereich.

B

BERUFSLEBEN

B1

Arbeitgeberseitige Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen und systematische berufliche Weiterbildung, damit die Qualifikationen immer auf dem neuesten Stand sind.

B2

Staatliche Ausbildungsmaßnahmen für Arbeitslose, die über die zuständigen Agenturen organisiert werden.

C

RUHESTAND

C1

IT-Skills für alle, die den Anschluss an die Informationsgesellschaft verpasst haben.

C2

Spezielle Programme, damit ältere Menschen den Anschluss an die Informationsgesellschaft nicht verlieren.

D

BEHINDERUNG

Unterstützung in jeder Phase, um Menschen mit Behinderungen und fortschreitenden Behinderungen dauerhaft in die Informationsgesellschaft zu integrieren.

Aus den Zahlenangaben der Kommission ist klar ersichtlich, dass es in jedem Lebensalter überall Qualifikationsdefizite gibt. Nach Meinung des EWSA kann nur über ein strukturiertes und geregeltes Programm in jedem Mitgliedstaat erreicht werden, dass, wenn überhaupt, nur wenige Bürger aus der Informationsgesellschaft und dem digitalen Binnenmarkt ausgeschlossen werden. Er hat bereits wiederholt konsequente Qualifizierungsmaßnahmen gefordert. Vor dem Hintergrund der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt ist es für die Kommission nun an der Zeit, zu handeln.

Brüssel, den 9. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Auswirkungen der Digitalisierung auf die Dienstleistungsbranche und die Beschäftigung“ (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161).

(2)  Siehe Fußnote 1.

(3)  Richtlinie 2006/123/EG.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten (2015-2020)“

[COM(2015) 285 final]

(2016/C 071/12)

Berichterstatterin:

Brenda KING

Die Europäische Kommission beschloss am 6. Juli 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen — EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten (2015-2020)“

[COM(2015) 285 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 10. Dezember 2015) mit 176 gegen 3 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die ausdrücklichen Ziele des EU-Aktionsplans gegen die Schleusung von Migranten (1), nämlich die „Bekämpfung und Verhütung der Migrantenschleusung“ bei gleichzeitigem „Schutz der Menschenrechte der Migranten“ und das Vorgehen „gegen die Ursachen der irregulären Migration“. Der EWSA erinnert daran, dass Flüchtlinge gemäß der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 eine besondere Rechtsstellung genießen.

1.2.

Der EWSA befürwortet die im Aktionsplan beschriebenen Anstrengungen zur Zerschlagung von Netzen der organisierten Kriminalität durch Geheimdienst- und Finanzermittlungen, zur Beendigung der Geldwäsche und zur Beschlagnahmung der durch illegale Aktivitäten erworbenen Vermögenswerte. Er spricht sich jedoch nachdrücklich dafür aus, dass der Plan auf einem ausgewogeneren und umfassenderen Ansatz beruhen sollte, wobei genau darzulegen wäre, wie die EU geschleuste Migranten schützen und unterstützen wird.

1.3.

„Wenn weniger Menschen versuchen würden, die Dienste von Schleusernetzen in Anspruch zu nehmen, könnte deren Position geschwächt werden“ — angesichts dieser Feststellung in der Mitteilung der Europäischen Kommission weist der EWSA darauf hin, dass es nach Darstellung des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung heutzutage für viele Menschen aus von bewaffneten Konflikten und Instabilität heimgesuchten ärmeren Ländern oder Regionen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, ein Schengen-Visum zu bekommen, wobei profitorientierte Personen und Gruppen diese Situation ausnutzten und lukrative Geschäfte mit der Nachfrage nach Grenzübertritten betreiben (2). Der EWSA empfiehlt deshalb, Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. In diesem Zusammenhang ist die Forderung des UN-Generalsekretär zu beherzigen, dass die EU erwägen sollte, mehr legale und sichere Wege nach Europa für Flüchtlinge und Migranten zu eröffnen, damit diese nicht Opfer krimineller Netze werden und nicht auf lebensgefährliche Reisen gehen müssen. Diese Positionen spiegeln das wider, was der EWSA bezüglich der Migration in zahlreichen Stellungnahmen empfohlen hat.

1.4.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es erforderlich ist, den Grundsatz der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung umzusetzen, um eine ausgewogenere Verteilung der Asylanträge auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu erreichen. Das Dubliner Übereinkommen müsste angepasst werden, um diesem inklusiveren System Rechnung zu tragen und das Schengener Abkommen zu schützen.

1.5.

Der EWSA unterstützt deshalb den Standpunkt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der die Mitgliedstaaten davor warnte, die Migrationskrise zu nutzen, um das Schengener Abkommen auszuhöhlen (3). Der EWSA fordert die Kommission auf, diese Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und eine rasche Rückkehr zum Normalzustand sicherzustellen.

1.6.

Der EWSA empfiehlt auch, dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) zur Ausübung seiner Arbeit mehr Befugnisse zu verleihen, insbesondere hinsichtlich seiner operativen Unterstützungstätigkeiten und der gemeinsamen Unterstützungsteams für Asylfragen in denjenigen Mitgliedstaaten, die besonderer oder dringender Unterstützung bedürfen. Die EU sollte unbedingt dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten — wie im gemeinsamen Visakodex festgelegt — auf einheitlichere, kohärentere, unabhängigere und flexiblere Weise von humanitären Visa Gebrauch machen.

1.7.

Der EWSA begrüßt den jüngsten Vorschlag der Kommission, „die externe Dimension der Flüchtlingskrise anzugehen“ (4), einschließlich der Schaffung eines Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. Dieser jüngste Vorschlag scheint der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Maßnahmen hinsichtlich der wesentlichen Migrationsursachen über Inneres und Sicherheit hinausreichen und auch andere Politikbereiche berühren, wie etwa Handel, Entwicklung, Außenpolitik und Integration. Dies steht in Einklang mit dem Grundsatz der politischen Kohärenz der internationalen Entwicklungszusammenarbeit der EU.

1.8.

Der EWSA empfiehlt, dass die Agenda für nachhaltige Entwicklung als langfristige Lösung genutzt werden sollte, um die tiefer liegenden sozioökonomischen Ursachen der Schleusung von Migranten anzugehen. Der EWSA möchte die EU-Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtung erinnern, 0,7 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die Entwicklungshilfe bereitzustellen. In vielen Fällen wurde dieser Verpflichtung nicht nachgekommen — einige Mitgliedstaaten haben ihre offizielle Entwicklungshilfe sogar gekürzt.

1.9.

Angesichts der Tatsache, dass Europa wegen des schwachen Wachstums, einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung sowie des Arbeitskräftemangels vor Herausforderungen steht, ist es auch wichtig, die EU-Migrationspolitik mit der Arbeitsmigrations- und Integrationspolitik als Aspekt des europäischen Arbeitsmarkts zu verknüpfen, zumal hinreichend nachgewiesen wurde, dass die Migration ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Erholung und Entwicklung in Europa ist.

1.10.

Der EWSA stimmt der Auffassung zu, dass die Rückkehrpolitik innerhalb der EU verbessert werden muss, und erinnert die Kommission an ihre zahlreichen Empfehlungen, denen zufolge die Menschenrechte von Asylsuchenden jederzeit geachtet werden sollten.

1.11.

Mit dieser Stellungnahme wird an die Vertreter der EU-Institutionen und der nationalen Regierungen appelliert, der zentralen Rolle der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft Rechnung zu tragen, da sie der europäischen Einwanderungspolitik eine soziale Perspektive und einen Mehrwert verleihen.

1.12.

Der EWSA fordert auch dazu auf, der systematischen Finanzierung jener zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die Migranten auf ihrer Suche nach Sicherheit sowie Integrationsbemühungen in entscheidendem Maße unterstützen, wodurch oftmals fehlende institutionelle Kapazitäten wettgemacht werden. Der EWSA begrüßt den Ansatz insofern, als die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen anerkannt wird, die zum Verständnis der Problematik der Migrantenschleusung beitragen und die als Mittler bei der Unterstützung von Menschen in Situationen fungieren, in denen weder die Nationalstaaten noch die EU an diese Menschen herankommen.

2.   Hintergrund

2.1.

In der am 13. Mai 2015 angenommenen europäischen Migrationsagenda (5) werden die Sofortmaßnahmen dargelegt, die die Kommission ergreifen sollte, um auf die Krisensituation im Mittelmeerraum zu reagieren, und die Bekämpfung der Migrantenschleusung als vorrangiges Ziel festgelegt, „durch dessen Verwirklichung die Ausbeutung von Migranten durch kriminelle Netze verhindert und die Anreize für irreguläre Migration verringert werden sollen“.

2.2.

Seit der Annahme dieser Agenda hat der drastisch hohe Zustrom von Asylsuchenden zu einer Ausnahmesituation geführt und die Europäische Kommission dazu bewogen, entschlossen zu handeln, dergestalt, dass sie am 9. September 2015 ein umfassendes Paket mit Vorschlägen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vorgelegt hat.

2.3.

Der Kommissionsvorschlag (6) ist darin begründet, dass sich der Migrationsdruck auf der zentralen und östlichen Mittelmeerroute verstärkt hat. Nach Angaben von Frontex erfolgten die meisten irregulären Grenzübertritte in die EU im Zeitraum 1. Januar bis 30. August 2015 über die zentrale und östliche Mittelmeerroute sowie über die Westbalkanroute (99 %). Frontex-Daten zeigen auch, dass auf die Westbalkanroute mehr als 30 % der gesamten irregulären Grenzübertritte im Jahr 2015 entfallen. Das entspricht einem Zustrom von ca. 500 000 Asylsuchenden, was die EU-Grenzstaaten unter erheblichen Druck setzt (7). Bei den über die zentrale Mittelmeerroute ankommenden Menschen handelt es sich überwiegend um Migranten aus Syrien und Eritrea, die Eurostat zufolge eine Asylanerkennungsquote von über 75 % haben. Die über die östliche Mittelmeerroute und die Westbalkanroute eintreffenden Migranten stammen mehrheitlich aus Syrien und Afghanistan. Dies steht im Einklang mit der Feststellung des UNODC, dass über 80 % der Personen, die dieses Jahr über den Seeweg in Europa angekommen sind, aus den zehn Ländern stammen, die die meisten Flüchtlinge hervorbringen (8).

2.4.

Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) waren am 4. Oktober 20154 185 302 Flüchtlinge aus Syrien registriert. Dieser Zahl umfasst 2,1 Mio. Syrer, die in Ägypten, Irak, Jordanien und dem Libanon registriert wurden, 1,9 Mio. Syrer, die von Regierungsstellen in der Türkei registriert wurden, sowie mehr als 26 700 syrische Flüchtlinge, die in Nordafrika registriert wurden (9).

2.5.

Im fünften Jahr seit Beginn des Konflikts in Syrien gibt es dem UNCHR zufolge eine rasche Verschlechterung der Lebensbedingungen der syrischen Flüchtlinge in Jordanien, wo zahlreiche Menschen wegen des Ausmaßes der Krise und der unzureichenden Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft (nur 37 % der vom UNCHR für Syrien geforderten Mittel wurden bereitgestellt) in extreme Armut geraten sind. Der UNCHR erklärt, dass auch weiterhin Menschen nach Europa auswandern werden, bis genügend Geld bereitsteht, um die Infrastrukturen von Aufnahmeländern (EU-Nachbarländern) und damit die Lebensbedingungen und -perspektiven der Flüchtlingsgruppen zu verbessern. Während die meisten Flüchtlinge zu arm sind, um die Flüchtlingslager zu verlassen, nehmen diejenigen, die es sich leisten können, die Dienste von Schleusern in Anspruch.

2.6.

In ihrem Vorschlag für einen Beschluss des Rates vom 9. September 2015 (10) führt die Kommission aus, dass sie die Entwicklung der Migrationsströme weiterhin beobachten wird, einschließlich der Situation in der Ostukraine, falls diese sich noch verschlechtert.

2.7.

Diese außerordentliche Flüchtlingskrise fällt in eine Zeit, in der sich die Wirtschaftslage in der EU auf die Fähigkeit und Bereitschaft einiger Mitgliedstaaten (insbesondere der Grenzstaaten) auswirkt, humanitäre Dienstleistungen im Einklang mit der Genfer Konvention zu erbringen (11). Von Sparmaßnahmen sind auch zivilgesellschaftliche Organisationen betroffen, die Dienstleistungen für Asylsuchende erbringen. Einige Mitgliedstaaten haben mit verschärften Grenzkontrollen reagiert, während andere Gesetze erlassen haben, um diejenigen zu inhaftieren und zu bestrafen, die die Schengen-Grenzen überqueren, um Asyl zu beantragen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA bekräftigt seine Botschaft an sämtliche Beschlussfassungsorgane, dass die EU als wirkliche Union agieren sollte, indem sie gemeinsame Vorschriften erlässt, achtet und umsetzt. Die neue Phase der europäischen Einwanderungspolitik muss strategisch auf mittel- bis langfristige Sicht angelegt sein und vor allem dem Ziel dienen, auf ganzheitliche und umfassende Weise offene und flexible legale Kanäle für die Aufnahme in die EU bereitzustellen (12). In Bezug auf die derzeitige Krise wird dies ein gemeinsames Konzept für das Außengrenzmanagement erfordern, wobei die Kommission und die europäischen Agenturen in die Lage versetzt werden sollten, mit den entsprechenden Finanzmitteln operationelle Aufgaben zu erfüllen.

3.2.

Der EWSA möchte zu diesem Zweck auf der Grundlage seiner früheren Stellungnahmen zu Fragen der Migration strategische Vorschläge unterbreiten (13). Bei den Diskussionen im Vorfeld der nächsten Phase der europäischen Einwanderungspolitik 2020 müssen die Rolle der Sozialpartner und Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft sowie der soziale Dialog durchgehend berücksichtigt werden. Die „soziale Perspektive“ ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, den Mehrwert dieser Politik sicherzustellen und ihre Verhältnismäßigkeit und Wirkung zu bestimmen.

3.3.

Der EWSA fordert, in diesem Zusammenhang der demografischen Situation und der Bevölkerungsalterung sowie der Altersstruktur der Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten gebührend Rechnung zu tragen. In der Sondierungsstellungnahme von 2011 (14) zur Rolle der Einwanderung vor dem Hintergrund der demografischen Situation in Europa hebt der EWSA hervor, dass der Zuzug von Arbeitnehmern und Familien aus Drittländern gesteigert werden sollte. Die EU benötigt offene und flexible Rechtsvorschriften, die die Einwanderung von sowohl hoch qualifizierten Arbeitnehmern und solchen mit mittleren Qualifikationen als auch solchen, die einfachen Beschäftigungen nachgehen, auf legalen und transparenten Wegen ermöglichen, unter der Voraussetzung, dass die Mitgliedstaaten weiterhin selbst bestimmen können, wie viele Drittstaatsangehörige in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen. Allerdings ist Einwanderung zugegebenermaßen nicht die einzige Antwort auf Arbeitsmarktengpässe ist und die Mitgliedstaaten ziehen möglicherweise andere, geeignetere Lösungen in Betracht.

3.4.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich die Überarbeitung der Dublin-Verordnung, auf deren grundlegende Mängel der Europäische Gerichtshof und der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hingewiesen haben. Die Verpflichtung zur Prüfung des Flüchtlingsstatus führt zu einer Überlastung der an den EU-Außengrenzen gelegenen Ersteinreiseländer.

3.5.

Der EWSA ist äußerst besorgt über die gegenwärtige Aushöhlung des Schengener Abkommens, das zu den grundlegenden Errungenschaften für die Unionsbürger gehört. Er bedauert, dass Mitgliedstaaten dazu übergegangen sind oder beabsichtigen, innerhalb des Schengen-Raums Grenzkontrollen wieder einzuführen, und fordert die Kommission auf, diese Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und für eine rasche Rückkehr zum Normalzustand Sorge zu tragen.

3.6.

In der Mitteilung heißt es, dass der Aktionsplan im weiteren Kontext der Bemühungen der EU zu sehen ist, die Ursachen der irregulären Migration anzugehen; im nächsten Satz wird dann die Aktion zur Aufspürung, Aufbringung und Vernichtung von Schleuserschiffen behandelt. Der EWSA teilt keineswegs die Ansicht, dass der Zugang zu einem Schiff eine Ursache der irregulären Migration ist. Im Gegenteil: Die strikte Fokussierung auf die Beschlagnahmung von Schiffen erhöht lediglich das Risiko für die geschleusten Migranten, weil die Schleuser die billigsten und gefährlichsten Schiffe nutzen.

3.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Mängel der Entwicklungshilfepolitik für die Herkunftsländer der Migranten angegangen werden sollten und die EU-Mitgliedstaaten sich erneut dazu verpflichten müssen, die versprochenen 0,7 % des BNE für die Entwicklungshilfe bereitzustellen. Darüber hinaus sollte die EU sicherstellen, dass sich entsprechend dem Grundsatz der politischen Kohärenz der internationalen EU-Entwicklungszusammenarbeit andere relevante Politikbereiche wie internationaler Handel, Landwirtschaft, Energie und Außenpolitik positiv auf die soziale und wirtschaftliche Stabilität und Entwicklung der Herkunftsländer auswirken.

3.8.

Der EWSA stellt fest, dass Hilfe aus EU-Mitgliedstaaten und die Unterstützung durch die EU nur in einer sicheren Gesellschaft ohne Krieg und größere soziale Probleme ihre Ziele erreichen können. Deshalb ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft die von Staats- und Regierungschefs aus aller Welt auf dem UN-Gipfel im September 2015 verabschiedeten Ziele der nachhaltigen Entwicklung umsetzt. Diese Ziele reichen von der Beendigung der Armut, der Verbesserung der Stellung von Mädchen und Frauen und der Verringerung der Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern bis hin zur Förderung des dauerhaften, inklusiven und nachhaltigen Wachstums, der menschenwürdigen Arbeit für alle sowie der Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt die Ziele, die die Kommission in ihrer Mitteilung zum EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten abgesteckt hat, betont aber auch, dass dieser Plan auf einem ausgewogeneren und umfassenderen Ansatz beruhen sollte, um zielführend zu sein. Der EWSA stellt fest, dass nicht näher darauf eingegangen wird, wie die EU die geschleusten Migranten schützen und ihnen helfen wird, und dass nicht ausdrücklich auf die positive Rolle der Migration für den europäischen Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung hingewiesen wird.

4.2.

Der EWSA stellt fest, dass zwar zwischen Migrantenschleusung und Menschenhandel unterschieden wird, nicht aber zwischen Migranten und Asylsuchenden. Dies ist ein wichtiger Aspekt. So erklärte der UN-Generalsekretär gegenüber den europäischen Entscheidungsträgern: „Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die sich auf kräftezehrende und gefährliche Reisen machen, sind Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, dem Irak und Afghanistan. Das internationale Recht fordert das — staatlich anerkannte — Recht von Flüchtlingen auf Schutz und Asyl. Bei der Beurteilung von Asylanträgen können Staaten keine Unterscheidungen treffen, die auf Religion oder anderen Identitätsmerkmalen beruhen; auch können sie Menschen nicht zwingen, dorthin zurückzukehren, woher sie aus begründeter Angst vor Verfolgung oder Angriffen geflohen sind. Es handelt sich hier nicht nur um eine Frage des internationalen Rechts, sondern auch um unsere Pflicht als Menschen.“ Er fügte hinzu: „Ich appelliere an alle beteiligten Regierungen, umfassende Maßnahmen zu ergreifen, sichere und legale Migrationskanäle zu eröffnen und mit Menschlichkeit und Mitgefühl und im Einklang mit ihren internationalen Verpflichtungen zu handeln“ (15). Der EWSA empfiehlt, alle Personen, die sich auf die gefährliche Reise nach Europa begeben, gemäß der Genfer Konvention von 1951 und ihrem Protokoll von 1967 so lange als Flüchtlinge zu behandeln, bis ein gegenteiliger Status nachgewiesen ist.

4.3.   Schärferes polizeiliches und justizielles Vorgehen

4.3.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass ein umfassenderer Ansatz zur Bekämpfung der Schleusung darin besteht, dass Asylsuchenden einen Zugang zu sicheren und legalen Migrationskanälen eröffnen wird. Ein solcher Ansatz wird in Verbindung mit der Aushebelung von Netzen der organisierten Kriminalität durch Geheimdienst- und Finanzermittlungen eine wirksamere, humanere und kosteneffizientere Maßnahme sein.

4.3.2.

Der EWSA empfiehlt den EU-Entscheidungsträgern sicherzustellen, dass sie „keinen Schaden anrichten“ und sowohl die beabsichtigten als auch unbeabsichtigten Konsequenzen ihrer Eingriffe bedenken. Der Beschluss der EU, von Mare Nostrum (Schwerpunkt: Suche und Rettung) auf Triton (Schwerpunkt: Grenzkontrollen) umzustellen, hat keine Verringerung der Zahl von Menschen bewirkt, die sich auf gefährliche Reisen nach Europa begeben. Sehr wohl hat dieser Beschluss aber zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Todesopfer im Mittelmeer geführt. Bis zum 31. Mai 2015 waren bereits 1 865 Menschen beim Versuch der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen — im Vergleich zu 425 im selben Zeitraum 2014 (16). Das erklärt auch die Verlagerung der Migrationsströme hin zur Landroute über den Westbalkan nach Ungarn. Die Personen, die auf beiden Seiten der ungarischen Grenze befragt wurden, gaben an, dass sie die Balkanroute gewählt hätten, weil sie preiswerter gewesen und von Schleusern empfohlen worden sei.

4.3.3.

Der EWSA stellt fest, dass die Schleuser in der Lage sind, sich auf politische Entscheidungen der EU wie intensivere Grenzpatrouillen im Mittelmeer oder die Zerstörung von Schiffen einzustellen. Die nicht beabsichtigten Folgen des EU-Konzepts des „Feldzugs gegen Schleuser“ sind Chaos an den EU-Außengrenzen, der Tod von Menschen auf europäischen Straßen und auf See sowie Spannungen zwischen Mitgliedstaaten.

4.4.   Verstärkte Vorbeugung gegen die Migrantenschleusung und Unterstützung schutzbedürftiger Migranten

4.4.1.

Der EWSA teilt die Ansicht, dass die Kommission mehr tun muss, um der Schleusung vorzubeugen und schutzbedürftige Migranten zu unterstützen; da die Rettung von Menschenleben höchste Priorität hat, muss das allerdings auf kohärentere Weise geschehen.

4.4.2.

Frontex-Daten zeigen, dass 70 % der Personen, die auf Schleuser zurückgreifen, um über die EU-Außengrenzen zu gelangen, aus Syrien, Eritrea und dem Irak stammen. Eurostat zufolge haben Staatsangehörige dieser Länder eine EU-Asylanerkennungsquote von 75 % und mehr. Angesichts der Tatsache, dass diese Einzelpersonen und Familien wegen Angst vor Verfolgung oder Angriffen fliehen, ist jedwede Medienkampagne über die Risiken des Schleusens müßig.

4.4.3.

Der EWSA erinnert die Kommission daran, dass es bereits Instrumente gibt, um gegen die Beschäftigung irregulärer Migranten auf nationaler Ebene vorzugehen. Der Vorschlag der Kommission, begrenzte Ressourcen einzusetzen, um bestimmte Wirtschaftsbereiche in der EU ins Visier zu nehmen, wird kostspielig sein und nichts bringen.

4.4.4.

Der EWSA begrüßt die Feststellung im Aktionsplan, „geschleusten Migranten und insbesondere schutzbedürftigen Gruppen wie Kindern und Frauen Unterstützung und Schutz zu bieten“. Der EWSA stellt jedoch fest, dass ansonsten aus dem Aktionsplan nicht genau hervorgeht, was konkret getan werden soll. Dies wäre aber wichtig, weil sehr viele der in Europa Schutz suchenden Menschen unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kinder sind. Allein in Italien, Ungarn und Malta sind in den ersten neun Monaten des Jahres 2015 etwa 19 000 unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kindern angekommen. Einige EU-Grenzstaaten erfüllen nicht vollkommen die internationalen Standards und bieten nur schlechte Aufnahmebedingungen, unzureichende Statusfeststellungsverfahren, geringe Anerkennungsquoten sowie einen mangelnden Zugang zu dauerhaften Lösungen im Gesundheits- und Wohnungswesen. Im Aktionsplan sollte genau dargelegt werden, wie die Mitgliedstaaten künftig mit den notwendigen Mittel unterstützt werden sollen, damit sie ihren Pflichten und Aufgaben gemäß dem internationalen humanitären Recht und den internationalen Menschenrechten, insbesondere im Einklang mit dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, nachkommen (17).

4.4.5.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die wirksamste Methode, um Unterstützung zu leisten und gleichzeitig die Schleusernetze zu schwächen, in einer Begrenzung der Zahl der Personen besteht, die diese Dienste in Anspruch nehmen möchten. Dazu sollten alternative, legale Wege zur Einreise nach Europa aus Drittstaaten in Europas Nachbarschaft eröffnet werden. Auf diese Weise werden die in der EU-Charta verankerten Grundrechte gewahrt.

4.4.6.

Der EWSA bekräftigt, dass unbedingt zwischen gewinnorientierten Schleusern und Menschen, die Migranten Hilfe leisten, unterschieden werden muss. Tausende europäischer Bürger haben Migranten Transport und Unterkunft geboten — entweder ohne Bezahlung oder für ein übliches oder reduziertes Entgelt. Humanitäre Hilfe und Solidarität sollten im Rahmen der EU-Agenda gegen die Schleusung von Migranten angeregt und nicht etwa bestraft werden.

4.4.7.

Der EWSA teilt die Ansicht, dass die Wirksamkeit der EU-Rückkehrpolitik verbessert werden muss, und möchte bei dieser Gelegenheit die Kommission an ihre zahlreichen Empfehlungen erinnern, denen zufolge die Menschenrechte von Asylsuchenden jederzeit — ab dem Augenblick ihrer Rettung oder Aufnahme — geachtet werden sollten, während ihr Antrag dahin gehend geprüft wird, ob sie im Einzelfall einen Schutzstatus benötigen oder sich in einer irregulären Situation befinden. Die Rückführung von Migranten muss im Einklang mit den geltenden Bestimmungen erfolgen, die gewährleisten, dass niemand in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für die betreffende Person das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Das ist das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement). Der EWSA spricht sich erneut gegen die Rückführung von unbegleiteten Minderjährigen, ärztliche Versorgung benötigenden Personen oder Schwangeren aus.

4.5.   Engere Zusammenarbeit mit Drittländern

4.5.1.

Der EWSA befürwortet nachdrücklich eine engere Zusammenarbeit mit den an der gesamten Schleuserroute gelegenen Drittländern. Der Ausschuss teilt die Ansicht, dass der Schwerpunkt auf der Förderung des Grenzmanagements liegen sollte, ist jedoch der Auffassung, dass gerade dabei Zusammenarbeit und Absprache auf EU-Ebene zwischen dem bestehenden Netz von Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen Priorität haben sollte.

4.5.2.

Ziel dieser Koordinierung sollte für die EU-Institutionen — Europäische Kommission, Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) — und die Mitgliedstaaten sein, vereinbarte Verfahren umzusetzen, die es Menschen ermöglichen, von ihren Heimatländern oder einem sicheren Nachbarstaat aus humanitäre Visa oder Asyl zu beantragen, um so eine alternative, humane und legale Route zur Einreise nach Europa zu bieten. In Nachbarländern wie der Türkei, dem Libanon, Jordanien oder Libyen könnten Hotspots eingerichtet werden, in denen die Fälle geprüft und bei Erfüllung der EU-Asylanerkennungsquote humanitäre Visa ausgestellt werden könnten (wie dies inzwischen in Brasilien praktiziert wird). Es ist auch wichtig, den Dialog anzuregen und die Organisationen der Zivilgesellschaft einzubeziehen, die bei diesen Tätigkeiten in unmittelbarem Kontakt mit Flüchtlingen stehen, um sowohl den Schutz der Menschenrechte als auch eine größere Effizienz der Antragsbearbeitung zu gewährleisten.

4.5.3.

Diese humanitären Visa haben den Vorteil, dass sie den Druck auf die EU-Grenzstaaten verringern, die Behandlung von Asylsuchenden im Einklang mit den EU-Grundrechten und der UN-Kinderrechtskonvention gewährleisten und die Schleusung von Migranten zu einem hochriskanten, wenig profitablen Geschäft machen. Das Bleiberecht könnte zeitlich befristet und davon abhängig gemacht werden, ob eine Rückkehr in das Herkunftsland sicher ist, oder an den Arbeitsmarkt geknüpft werden — angesichts des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften und den demografischen Herausforderungen, die auch für das Wachstum in Europa relevant sind.

Brüssel, den 10. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  COM(2015) 285 final.

(2)  Martina Hanke, Vertreterin des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC); aus einer Rede in der öffentlichen Anhörung des EWSA zum Thema „Schleusung von Migranten“ am 12. Oktober 2015 in Brüssel.

(3)  http://ec.europa.eu/commission/2014-2019/president/announcements/call-collective-courage_en.

(4)  Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt — 9. September 2015, Straßburg.

(5)  COM(2015) 240 final.

(6)  COM(2015) 451 final.

(7)  Siehe Fußnote 6.

(8)  Siehe Fußnote 2.

(9)  http://data.unhcr.org.

(10)  Pressemitteilung „Flüchtlingskrise; die Europäische Kommission handelt“ (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5596_de.htm).

(11)  http://www.unhcr.org/.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die europäische Einwanderungspolitik“, Hauptberichterstatter: Giuseppe Iuliano (ABl. C 458, 19.12.2014, S. 7).

(13)  EWSA, „Immigration: Integration and Fundamental Rights“, 2012, (http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/qe-30-12-822-en-c.pdf).

(14)  Sondierungsstellungnahme des EWSA zum Thema „Die legale Einwanderung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“, Berichterstatter: Luis Miguel Pariza Castaños (ABl. C 48, 15.2.2011, S. 6).

(15)  Erklärung vom 28. August 2015, New York (Anm. d. Übers.: Aus dem englischen Original übersetzte Textstelle).

(16)  Daten der Internationalen Organisation für Migration (abrufbar unter: http://missingmigrants.iom.int/incidents). „Migration Read All About It, Mediterranean Update: 101 900 migrant arrivals in Europe in 2015“ (abrufbar unter: http://weblog.iom.int/mediterranean-flash-report-0) (Zugriff in beiden Fällen am 10. Juni 2015).

(17)  http://www.ohchr.org/Documents/ProfessionalInterest/crc.pdf.


24.2.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 71/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erstellung einer gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten für die Zwecke der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und zur Änderung der Richtlinie 2013/32/EU“

[COM(2015) 452 final]

(2016/C 071/13)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DIAZ

Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission beschlossen am 16. September 2015 bzw. 15. Oktober 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erstellung einer gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten für die Zwecke der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und zur Änderung der Richtlinie 2013/32/EU“

[COM(2015) 452 final].

Darüber hinaus beschloss der Rat der Europäischen Union am 21. Oktober 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zum selben Thema zu ersuchen.

Die mit den Vorarbeiten betraute Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. November 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 512. Plenartagung am 9./10. Dezember 2015 (Sitzung vom 10. Dezember 2015) mit 180 gegen 4 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Schlussfolgerungen

1.

Die Kommission hält es für angezeigt, gemäß der Richtlinie 2013/32/EU (1) eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsstaaten zu erstellen.

1.1.

In einem Anhang zum Verordnungsvorschlag wird ebenfalls eine erste Liste von Drittländern vorgeschlagen, die in die gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden sollten: Albanien, Bosnien und Herzegowina, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Kosovo, Montenegro, Serbien und die Türkei.

1.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die spezifischen Kriterien, mithilfe derer bestimmt wird, ob ein Land im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU und insbesondere des Anhangs I zur Richtlinie 2013/32/EU sicher ist, konkreter, eindeutiger und verlässlicher festgelegt werden müssen.

1.3.

Insofern begrüßt der EWSA zwar die Initiative der Kommission, ist aber auch der Auffassung, dass die Erarbeitung einer konkreten Liste von Ländern, die definitionsgemäß als sicher gelten, derzeit übereilt sein könnte.

2.   Empfehlungen

2.1.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag und ist der Auffassung, dass auf der Grundlage der in der Richtlinie 2013/32/EU festgelegten gemeinsamen Kriterien eine gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten erstellt werden sollte. Dies wird den Mitgliedstaaten die Durchführung der Verfahren im Zusammenhang mit der Anwendung des Konzepts des sicheren Herkunftsstaats erleichtern und somit allgemein die Effizienz ihrer Asylsysteme steigern.

2.2.

In jedem Falle sollen mit der Erstellung einer gemeinsamen EU-Liste einige der derzeit bestehenden Unstimmigkeiten zwischen den von den Mitgliedstaaten geführten nationalen Listen „sicherer“ Herkunftsstaaten beseitigt werden.

2.3.

Auch wenn die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen könnten, die es ermöglichen, auf innerstaatlicher Ebene sichere Herkunftsstaaten zu bestimmen, die sich von den in der gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgeführten Ländern unterscheiden, wird durch die gemeinsame Liste sichergestellt, dass das Konzept von allen Mitgliedstaaten einheitlich gegenüber Antragstellern angewendet wird, deren Herkunftsstaaten auf dieser Liste stehen.

2.4.

Gleichwohl sollten in Artikel 2 der Verordnung die spezifischen, konkreten und definierten Indikatoren und Kriterien ausdrücklich genannt werden, anhand derer ein Land in die Liste sicherer Herkunftsländer aufgenommen wird; dazu gehören aktualisierte Informationen, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), vom Europarat und anderen Menschenrechtsorganisationen bereitgestellt werden.

2.5.

Die Entscheidung zur Aufnahme eines Landes in die gemeinsame Liste muss begründet und erläutert werden und auf einer Beurteilung aller in der vorhergehenden Ziffer erwähnten Kriterien beruhen, und zwar in Bezug auf alle zur Zuerkennung des internationalen Schutzes führenden Gründe im Zusammenhang mit Verfolgung und schweren Gefahren.

2.6.

Es sollte ein flexiblerer Mechanismus zur Änderung der Liste eingeführt werden, mit dem innerhalb eines angemessenen Zeitraums auf die sich verändernden Bedingungen der in der Liste enthaltenen Länder reagiert werden kann.

2.7.

Der EWSA ist der Ansicht, dass jede Änderung der Liste begründet und erläutert werden muss, wobei die Expertenmeinungen von UNHCR, EASO, Europarat und anderen Menschenrechtsorganisationen zu berücksichtigen sind.

2.8.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass ein Mechanismus geschaffen werden sollte, durch den anerkannte Menschenrechtsorganisationen sowie Ombudsleute und Wirtschafts- und Sozialräte das Verfahren zur Änderung der Liste initiieren können.

2.9.

Der EWSA schlägt vor, dass eine begründete Entscheidung darüber vorliegen muss, ob das Konzept des sicheren Herkunftslands nach einer individuellen Prüfung gemäß der Richtlinie 2013/32/EU auf den konkreten Fall anwendbar ist.

2.10.

Die Verfahrensgarantien für beschleunigte Verfahren sollten andererseits gestärkt werden, wobei stets eine Einzelfallprüfung des konkreten Falles zu gewährleisten und zu beurteilen ist, ob das Konzept des sicheren Herkunftslands anwendbar ist.

2.11.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass das Konzept des sicheren Herkunftslands keinesfalls für Länder gelten darf, in denen die Pressefreiheit missachtet oder gegen den politischen Pluralismus verstoßen wird — ebenso wenig wie für Länder, in denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts und/oder ihrer sexuellen Ausrichtung oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen Minderheit verfolgt werden.

2.12.

Der EWSA ist auch der Ansicht, dass die Mechanismen zur Ermittlung besonders schutzbedürftiger Antragsteller verbessert werden sollten. Erfolgt diese Ermittlung erst nach Anwendung des beschleunigten Verfahrens, sollte sofort das ordentliche Verfahren angewandt werden.

2.13.

Schließlich ist ein wirkungsvoller Rechtsbehelf gegen ablehnende Entscheidungen sicherzustellen, die auf der Einstufung des Drittstaats als sicheres Herkunftsland beruhen, und zwar mit der in Artikel 46 Absatz 5 der Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen aufschiebenden Wirkung.

3.   Hintergrund

3.1.

Die — bisher ergebnislosen — Anstrengungen der Europäischen Union zur Beseitigung der Unterschiede in den Asylsystemen der Mitgliedstaaten sind nicht neu. Die EU hat seit 1999 eine Reihe von Rechtsinstrumenten verabschiedet, um ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS) zu schaffen und die Rechtsvorschriften über Asylverfahren, Aufnahmebedingungen und andere Aspekte des Systems des internationalen Schutzes zu harmonisieren.

3.2.

In diesem Zusammenhang stellte der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 15. Oktober 2015 (EUCO 26/15) fest: „Die Bewältigung der Migrations- und Flüchtlingskrise ist eine gemeinsame Pflicht, die — im Geiste der Solidarität und Verantwortung — eine umfassende Strategie und entschlossene Anstrengungen auf längere Sicht erfordert. (…) Die vorstehenden Orientierungen bilden einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zu unserer umfassenden Strategie im Einklang mit dem Recht, Asyl zu beantragen, mit den Grundrechten und den internationalen Verpflichtungen. Es gibt jedoch noch andere wichtige vorrangige Maßnahmen, über die in den einschlägigen Gremien weiter beraten werden muss; dies gilt auch für die Vorschläge der Kommission. Auch muss über die gesamte Migrations- und Asylpolitik der EU weiter nachgedacht werden.“

3.3.

Gemäß der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedstaaten Ausnahme- und Eilverfahren anwenden, insbesondere beschleunigte Verfahren an den Grenzen oder in Transitzonen, sofern der Antragsteller Staatsangehöriger eines Landes ist, das nach den nationalen Rechtsvorschriften als sicherer Herkunftsstaat gilt und das für den Antragsteller unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände auch weiterhin als sicher angesehen werden kann. Bislang haben nur einige Mitgliedstaaten eigene nationale Listen sicherer Herkunftsstaaten erstellt.

3.4.

Die Neufassung der Richtlinie zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (2013/32/EU vom 26. Juni 2013): Mit dieser Richtlinie sollen die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Verfahren verringert und bei wiederholten Asylanträgen oder bei Anträgen, die keine neuen Elemente aufweisen, schnellere und gerechtere Asylentscheidungen gewährleistet werden. Trotz der mit dem neuen Wortlaut eingeführten Verbesserungen wird den Mitgliedstaaten weiterhin ein erheblicher Ermessensspielraum belassen, was das Ziel der Schaffung eines wirklich gemeinsamen Verfahrens behindern könnte.

4.   Bewertung:

4.1.

Das Konzept des sicheren Herkunftsstaats hat wichtige praktische Auswirkungen, wie z. B. die Möglichkeit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens auf die entsprechenden Anträge (Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe b, Richtlinie 2013/32/EU), die damit einhergehenden verkürzten Fristen für eine Entscheidung über die Begründetheit des Antrags, Schwierigkeiten bei der Ermittlung schutzbedürftiger Antragsteller binnen dieser kurzen Fristen (Artikel 24, Richtlinie 2013/32/EU) sowie schließlich erschwerter Zugang zu internationalem Schutz für Staatsangehörige dieser Länder aufgrund der Vermutung, dass ihr Antrag unbegründet sei (Artikel 32 Absatz 2, Richtlinie 2013/32/EU).

4.2.

Diese ungleiche Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz je nach Staatsangehörigkeit verstößt möglicherweise gegen das Verbot der unterschiedlichen Behandlung von Flüchtlingen aufgrund ihres Herkunftslands, das in Artikel 3 des Genfer Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge festgeschrieben ist. In Anbetracht all dieser Aspekte ist zu empfehlen, das Konzept des Herkunftsstaats restriktiv anzuwenden.

4.3.

Es muss hervorgehoben werden, dass die Annahme einer gemeinsamen Liste sicherer Herkunftsstaaten nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Harmonisierung führen wird, da parallel zu dieser gemeinsamen Liste nationale Listen der einzelnen Mitgliedstaaten bestehen können.

4.4.

Der Verordnungsvorschlag enthält eine Liste mit sieben Staaten, die von der Kommission in ihrem Vorschlag anhand folgender Indikatoren ermittelt wurden: Bestehen eines Rechtsrahmens zum Schutz der Menschenrechte; Ratifizierung von Menschenrechtsübereinkommen; Zahl der vom EGMR gegen das jeweilige Land ausgesprochenen Strafen; Status eines EU-Beitrittskandidaten; Anteil der Staatsangehörigen dieses Landes, denen internationale Schutz zuerkannt wurde; Aufnahme des jeweiligen Landes in die nationalen Listen sicherer Herkunftsstaaten.

4.5.

Diese Indikatoren scheinen den in Anhang I der Verfahrensrichtlinie aufgestellten Kriterien jedoch nicht angemessen Rechnung zu tragen, da — beispielsweise — die praktische Anwendung des Rechts und die tatsächliche Achtung der Menschenrechte ebenso wenig untersucht werden wie die Frage, ob eine Verfolgung oder ernsthafte Gefahr aus Gründen vorliegt, die einen Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes begründen.

4.5.1.

Nationaler und internationaler Rechtsrahmen im Bereich Menschenrechte: Ein solcher ist zweifelsohne eine Mindestanforderung, die jeder in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufzunehmende Staat erfüllen muss; dieses Kriterium ist jedoch nicht ausreichend, da nach Maßgabe von Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU beurteilt werden muss, ob die Menschenrechte in der Praxis gewahrt werden. In jedem Fall scheint die Kommission selbst diese Mindestanforderung nicht angemessen zu berücksichtigen, denn in ihrem Vorschlag werden Länder als sichere Herkunftsstaaten eingestuft, die — in einigen Fällen — die wichtigsten internationalen Menschenrechtsübereinkommen nicht ratifiziert haben, wie z. B. Kosovo.

4.5.2.

Die Zahl der 2014 durch den EGMR ausgesprochenen Verurteilungen gegen die jeweiligen Staaten spiegelt nicht die aktuelle Menschenrechtslage in den vorgeschlagenen Ländern wider. In den meisten Fällen des Jahres 2014 bezieht sich die Verurteilung auf Tatbestände, die etliche Jahre zurückliegen, was sowohl mit Verzögerungen beim EGMR sowie mit der Tatsache zusammenhängt, dass zunächst der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft werden muss, bevor der EGMR angerufen werden kann.

Die von der Kommission vorgenommene Datenanalyse kann zu Missverständnissen führen. Die Kommission betrachtet die ergangenen Verurteilungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Entscheidungen des EGMR betreffend den jeweiligen Staat, ohne dabei zu unterscheiden, wie viele dieser Urteile Sachentscheidungen darüber waren, in welchem Maße die Menschenrechte eingehalten wurden. So erging z. B. bezüglich der Türkei in nur 110 der dem EGMR vorgelegten 2 899 Fälle, die von der Kommission herangezogen wurden (auch wenn für diese Fälle weder ein Zeitraum und noch eine Verfahrensdauer angegeben wird), wirklich eine Entscheidung in der Sache, wobei das Gericht in 94 Fällen, d. h. 93 %, einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention feststellte (2). Im Fall von Bosnien und Herzegowina ergingen 2014 sieben Entscheidungen in der Sache, wobei in fünf Fällen (71 %) eine Verletzung der Menschenrechte konstatiert wurde (3). Für Montenegro liegt dieser Anteil bei 100 % (4), für Serbien bei rund 88 % (5), für Mazedonien bei etwa 66 % (6) und für Albanien bei 66 % (7).

Zudem erwähnt die Kommission weder, welche Menschenrechte verletzt wurden, noch geht sie auf den Inhalt der Urteile ein, obwohl dies grundlegende Informationen sind, um beurteilen zu können, ob eine Verfolgung aus Gründen vorliegt, die einen Anspruch auf internationalen Schutz begründen.

4.5.3.

Der Status eines EU-Beitrittskandidaten bedeutet nicht, dass das betreffende Land bereits die Kopenhagener Kriterien erfüllt, sondern dass es einen Prozess zur Prüfung der Erfüllung dieser Kriterien eingeleitet hat. In den in der Liste des Verordnungsvorschlags aufgeführten Fortschrittsberichten (8) über die EU-Kandidatenländer wird hingegen auf Schwächen in Bereichen wie Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Korruption, politische Kontrolle der Medien oder Unabhängigkeit der Justiz hingewiesen.

4.5.4.

Der prozentuale Anteil der Fälle, in denen 2014 in der EU Antragstellern aus diesen Ländern internationaler Schutz zuerkannt wurde: Die statistische Analyse der Kommission der 2014 in der gesamten EU erhobenen Daten kann zu Missverständnissen führen. Eine aufgeschlüsselte Analyse des prozentualen Anteils des in den Mitgliedstaaten zuerkannten internationalen Schutzes ergibt ein differenzierteres Bild. So wurde im zweiten Quartal 2015 EU-weit 18,9 % der aus dem Kosovo stammenden Antragsteller internationaler Schutz zuerkannt, wobei allerdings erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern wie Italien (60 %) oder Deutschland (0,4 %) bestehen (9).

4.5.5.

Die Aufnahme der Länder in die nationalen Listen sicherer Herkunftsstaaten: Auch die nationalen Listen sicherer Herkunftsstaaten, bei denen die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlichste Kriterien anwenden, sind uneinheitlich, weshalb sie bei der Erstellung einer gemeinsamen Liste nicht übernommen werden können.

4.6.

Die Kommission sollte bei ihrem Vorschlag, diese sieben Länder in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufzunehmen, auf weitere nützliche und wirksame Indikatoren verweisen, anhand derer sich ermitteln lässt, inwieweit die Rechtsvorschriften angewandt und die Menschenrechte gewahrt werden. Dies sind z. B. die Informationsquellen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (10) in seiner ständigen Rechtsprechung als für die Beurteilung der Lage im Herkunftsland und des Risikos im Falle einer Rückkehr relevant erachtet hat. In Artikel 2 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags in Bezug auf die Überarbeitung der Liste, nicht aber ihre Erstellung, werden diese Informationsquellen genannt, insbesondere Informationen „des EAD […], des EASO, des UNHCR, des Europarates und sonstiger einschlägiger internationaler Organisationen“.

4.7.

Daher wird für Indikatoren plädiert, die die Situation der Menschenrechte im Hinblick auf alle Gründe widerspiegeln, die einen Anspruch auf Zuerkennung des internationalen Schutzes begründen, wie z. B. die Achtung der Meinungs- und Pressefreiheit, die Achtung des politischen Pluralismus, die Situation lesbischer, schwuler, bi-, trans- und intersexueller Personen (LGBTI) oder ethnischer, kultureller oder religiöser Minderheiten.

4.8.

In Artikel 2 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags ist eine regelmäßige Überprüfung der gemeinsamen EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten vorgesehen. Bei den Änderungsverfahren, auf die im Verordnungsvorschlag verwiesen wird, handelt es sich um das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Artikel 2 Absatz 3) und im Falle einer plötzlichen Änderung der Lage im betreffenden Staat eine um ein weiteres Jahr verlängerbare einjährige Streichung von der Liste (Artikel 3).

4.9.

Jedes dieser beiden Verfahren, sowohl das ordentliche Gesetzgebungsverfahren im Wege der Mitentscheidung als auch die Streichung gemäß Artikel 3, scheinen keinen raschen, zügigen und flexiblen Mechanismus für eine Reaktion auf eine veränderte Lage in den Herkunftsstaaten der gemeinsamen Liste zu bieten. Bedauerlicherweise gibt es in verschiedenen Ländern einige Beispiele für eine rapide Verschlechterung der politischen Lage, der demokratischen Garantien und der Achtung der Menschenrechte, für die sich mit den vorgesehenen Mechanismen nur schwer eine Lösung finden ließe. Darüber hinaus können derartige Situationen länger anhalten, weshalb die höchstens zweijährige Dauer der Streichung knapp bemessen ist.

4.10.

Bei dieser Bewertung der plötzlichen Änderung der Lage in einem bestimmten Land sollte stets die fachkundige Einschätzung „des EASO, des UNHCR, des Europarates und sonstiger einschlägiger internationaler Organisationen“ eingeholt werden, genau wie im Fall einer Änderung im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens.

4.11.

Zudem wird durch den Erlass einer Verordnung die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Asylbewerber gegenüber den nationalen Behörden die Aufnahme eines Landes in die Liste anfechten, die jedoch bei den nationalen Listen durchaus besteht. Es ist empfehlenswert, die Möglichkeit einer Anfechtung dieser Änderung durch Menschenrechtsorganisationen oder Asylbewerber vorzusehen.

4.12.

Nach Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe b der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedstaaten Anträge von Staatsangehörigen eines sicheren Herkunftsstaates im beschleunigten Verfahren bearbeiten. Diese beschleunigte Bearbeitung darf keinesfalls infolge des knappen Zeitrahmens die Verfahrensgarantien (11) beeinträchtigen. Sie darf außerdem nicht dazu führen, dass diese Anträge auf internationalen Schutz nicht wie in Artikel 10 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie 2013/32/EU vorgeschrieben einzeln geprüft werden.

4.13.

In Artikel 36 Absatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU ist nämlich festgelegt, dass die in der Liste sicherer Herkunftsstaaten enthaltenen Länder erst nach individueller Prüfung des Einzelfalls als für einen bestimmten Antragsteller sicherer Herkunftsstaat betrachtet werden können. Im Rahmen dieser individuellen Prüfung wäre im Wege einer begründeten Entscheidung, bei der die Beweislast beim Mitgliedstaat liegt und gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, festzustellen, ob das Konzept des sicheren Herkunftsstaats auf den jeweiligen konkreten Fall anzuwenden ist.

4.14.

Da der Erlass einer Verordnung die Möglichkeiten der Asylbewerber, die Aufnahme eines Herkunftsstaats in die Liste sicherer Herkunftsstaaten anzufechten, einschränkt, müssen in jedem Einzelfall die Garantien für den Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf gestärkt werden, mit der in Artikel 46 Absatz 5 der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen aufschiebenden Wirkung.

4.15.

Ebenso ist die Ermittlung besonders schutzbedürftiger Antragsteller zu gewährleisten, bei denen gemäß Artikel 24 Absatz 3 der Richtlinie 2013/32/EU kein beschleunigtes Verfahren angewandt werden darf. In diesen Fällen muss eine Pflicht zur Vornahme dieser Ermittlung im Vorfeld der Entscheidung für ein beschleunigtes Verfahren, oder, sofern die Ermittlung der Schutzbedürftigkeit im Nachhinein erfolgt, die Möglichkeit vorgesehen werden, das beschleunigte Verfahren einzustellen und zum normalen Verfahren zurückzukehren.

Brüssel, den 10. Dezember 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 1.

(2)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil Türkei, Juli 2015

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Turkey_ENG.pdf.

(3)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil Bosnien und Herzegowina, Juli 2015

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Bosnia_and_Herzegovina_ENG.pdf.

(4)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil Montenegro, Juli 2015

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Montenegro_ENG.pdf. (ein Fall, in dem ein Sachurteil erging, in dem die Verletzung von Menschenrechten festgestellt wurde).

(5)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil Serbien, Juli 2015

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Serbia_ENG.pdf. In 16 der 18 Urteile in der Sache wurde eine Verletzung der Menschenrechtskonvention festgestellt.

(6)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Juli 2015

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_The_former_Yugoslav_Republic_of_Macedonia_ENG.pdf.

(7)  Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Länderprofil Albanien, Juli 2015.

http://www.echr.coe.int/Documents/CP_Albania_ENG.pdf. Von den 150 Entscheidungen im Jahr 2014 ergingen nur sechs in der Sache, wobei in vier Fällen ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention festgestellt wurde.

(8)  Siehe http://ec.europa.eu/enlargement/countries/package/index_en.htm.

(9)  Eurostat: First Instance decision on applications by citizenship, age and sex, Quartalsdaten. http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do.

(10)  Unter anderem NA./Vereinigtes Königreich Rechtssache Nr. 25904/2007, 17. Juli 2008; Gaforov/Russland, 21.10.2010.

(11)  Gerichtshof der Europäischen Union, Rechtssache C-175/11 vom 31. Januar 2013, Randnr. 74-75.