ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 332

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

58. Jahrgang
8. Oktober 2015


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

508. Plenartagung des EWSA vom 27./28. Mai 2015

2015/C 332/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Langzeitbetreuung und Deinstitutionalisierung (Sondierungsstellungnahme)

1

2015/C 332/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vollendung der WWU: Die politische Säule (Initiativstellungnahme)

8

2015/C 332/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Förderung von Kreativität, unternehmerischer Kompetenz und Mobilität in der allgemeinen und beruflichen Bildung (Initiativstellungnahme)

20

2015/C 332/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Eine EU-Industriepolitik für die Lebensmittel- und Getränkebranche

28

2015/C 332/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Welt von morgen. 3D-Druck, ein Werkzeug zur Stärkung der europäischen Wirtschaft (Initiativstellungnahme)

36

2015/C 332/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern

45


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

508. Plenartagung des EWSA vom 27./28. Mai 2015

2015/C 332/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU im Hinblick auf den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung [COM(2015) 135 final — 2015/0068 CNS] und dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates [COM(2015) 129 final — 2015/0065 (CNS)]

64

2015/C 332/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (COM(2015) 098 final — 2015/0051 (NLE))

68

2015/C 332/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 über den Handel mit Robbenerzeugnissen (COM(2015) 45 final — 2015/0028 (COD))

77

2015/C 332/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1236/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zu einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung, die auf dem Gebiet des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im Nordostatlantik anwendbar ist (COM(2015) 121 final — 2015/0063 COD)

81


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

508. Plenartagung des EWSA vom 27./28. Mai 2015

8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Langzeitbetreuung und Deinstitutionalisierung“

(Sondierungsstellungnahme)

(2015/C 332/01)

Berichterstatterin:

Gunta ANČA

Mitberichterstatter:

José Isaías RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO

Mit Schreiben vom 25. September 2014 ersuchte der amtierende Minister für auswärtige Angelegenheiten und Minister des Inneren der Republik Lettland, Rihards Kozlovskis, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des lettischen EU-Ratsvorsitzes gemäß Artikel 304 AEUV um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema:

Langzeitbetreuung und Deinstitutionalisierung.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 139 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA):

1.1.

ruft dazu auf, das Bewusstsein — für die Lage von Heimbewohnern durch kohärente und aufgeschlüsselte Daten zu schärfen und Menschenrechtsindikatoren zu entwickeln;

1.2.

fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, Maßnahmen gegen Diskriminierungen zu ergreifen und im Rahmen der Nationalen Reformprogramme (NRP) die umfassende gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern;

1.3.

kommt zu dem Schluss, dass die Sparmaßnahmen zu Kürzungen der Haushalte der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften geführt haben, was mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Sozialdienstleistungen verbunden ist. In einigen Mitgliedstaaten wurde hierdurch eine stärkere Institutionalisierung ausgelöst;

1.4.

empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds einsetzen sollten, um den Übergang von der institutionellen zur gemeindenahen Betreuung zu fördern, Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zu entwickeln und Mitarbeiter für Unterstützungsdienste zu schulen;

1.5.

empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Langzeitbetreuung auf der Grundlage einer Kosten-Wirksamkeitsanalyse zu reformieren, wobei ein auf lange Sicht angelegtes Konzept verfolgt werden sollte, das Investitionen in Menschen und in Dienste beinhaltet, statt Mittel zu kürzen;

1.6.

betont, dass die „Deinstitutionalisierung“ ein Prozess ist, für den eine langfristige politische Strategie und ausreichende finanzielle Ressourcen erforderlich sind, um alternative gemeindenahe Unterstützungsdienste zu entwickeln;

1.7.

fordert die Mitgliedstaaten eindringlich auf, die Geschäftsfähigkeit von Frauen und Männern mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit allen anderen anzuerkennen und erforderlichenfalls eine unterstützte Entscheidungsfindung anzubieten (1);

1.8.

empfiehlt als wichtigen Schritt bei der Deinstitutionalisierung die Entwicklung qualitativ hochwertiger, gemeindenaher Dienste (2). Es ist gefährlich, Einrichtungen zu schließen, ohne den Menschen eine Alternative anzubieten;

1.9.

ist der Ansicht, dass in Bezug auf die häusliche Pflege und Betreuung dafür gesorgt werden muss, dass professionelle Dienste zu erschwinglichen Preisen entwickelt werden;

1.10.

empfiehlt, Fachkräfte in ganz Europa für die Arbeit in gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu schulen und sie über die Deinstitutionalisierung zu informieren;

1.11.

empfiehlt, gemeindenahe Dienste lokal verfügbar und für alle erschwinglich und zugänglich zu machen;

1.12.

unterstreicht die Bedeutung des Zugangs zu einer Beschäftigung, um Menschen im Anschluss an eine Heimunterbringung eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Spezialisierte Arbeitsvermittlungen und die berufliche Bildung sollten allen, die sie benötigen, ohne Diskriminierung offen stehen;

1.13.

empfiehlt ferner, Partnerschaften zwischen allen an der Deinstitutionalisierung beteiligten Akteuren aufzubauen;

1.14.

weist darauf hin, dass unterschiedliche Nutzergruppen unterschiedliche Bedürfnisse haben, so dass individuelle Lösungen in Zusammenarbeit mit allen einschlägigen Akteuren entwickelt werden müssen, einschließlich der Nutzer und ihrer Vertretungsorganisationen, der Familien, der Dienstleister, der betroffenen Wirtschaftszweige und der Behörden;

1.15.

fordert die Europäische Kommission auf, einen europäischen Qualitätsrahmen für gemeindenahe Dienste aufzustellen, und bekräftigt das dringende Erfordernis verbindlicher Normen, um höchste Qualitätsstandards sicherzustellen;

1.16.

fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, unabhängige und effiziente Inspektions- und Kontrolldienste einzurichten, damit die Einhaltung rechtlicher Normen und von Qualitätsstandards bei Pflege- und Betreuungsdiensten gewährleistet ist;

1.17.

empfiehlt, gegen Vorurteile vorzugehen und mit inklusiven Aufklärungs- und Medienkampagnen in Schulen und in der Gesellschaft dieses Thema stärker bekannt zu machen.

2.   Einleitung

2.1.

Die Deinstitutionalisierung und die Achtung der Menschenrechte haben sich in Europa im vergangenen Jahrhundert auf unterschiedliche Weise entwickelt. Daher ist es schwierig, an vergleichbare Daten aus unterschiedlichen Ländern zu kommen.

2.2.

Nach Auffassung des EWSA müssen wir in unserer sich wandelnden Gesellschaft überall in der EU die Lage derjenigen Menschen analysieren, die Sozialfürsorge benötigen und einen großen Unterstützungsbedarf haben, um angemessen reagieren und bewährte Verfahren austauschen zu können.

2.3.

Der EWSA:

2.3.1.

weist darauf hin, dass europaweit mehr als eine Million Kinder und Erwachsene in Einrichtungen leben (3);

2.3.2.

versteht unter „Institution“ jede Heimpflege, bei der die Bewohner von der breiteren Gesellschaft isoliert sind und/oder unfreiwillig zusammenleben müssen. Die Bewohner haben keine ausreichende Kontrolle über ihr Leben oder über Entscheidungen, die sie betreffen, und die Erfordernisse der Organisation selbst haben tendenziell Vorrang vor den individuellen Bedürfnissen der Bewohner (4);

2.3.3.

macht darauf aufmerksam, dass mit hochwertigen gemeindenahen Pflege- und Betreuungsdiensten in Bezug auf die Lebensqualität bessere Ergebnisse erzielt werden als mit institutioneller Pflege, dass so die soziale Integration gefördert und die Gefahr der Absonderung von der Gemeinschaft verringert werden kann (5);

2.3.4.

verurteilt alle Formen von Diskriminierung und Misshandlung, der Männer, Frauen und Kinder mit und ohne Behinderungen, Menschen mit großem Unterstützungsbedarf oder Menschen mit psychosozialen Störungen in Einrichtungen und durch Leistungen von Pflege- und Betreuungsdiensten ausgesetzt sein können;

2.3.5.

verweist auf die Empfehlungen, die er in früheren Stellungnahmen ausgesprochen hat (6);

2.3.6.

verweist ferner auf die Verpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die sich aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (7) ergeben, die Würde des Menschen sowie seine Freiheit und das Recht behinderter Menschen, unabhängig zu leben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, zu achten und dafür zu sorgen, dass sie Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz;

2.3.7.

weist darauf hin, dass es im UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes heißt, dass ein Kind „zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen soll“. Die Verantwortung für die Erziehung der Kinder liegt vorrangig bei den Eltern, in der Verantwortung des Staates liegt es, über geeignete Instrumente des Sozialschutzes insbesondere die am stärksten benachteiligten Eltern zu unterstützen. Kinder haben das Recht auf Schutz vor Schadenzufügung und Misshandlung. Wenn ihre Familie trotz angemessener Unterstützung durch den Staat nicht die Betreuung leisten kann, die Kinder benötigen, haben sie das Recht, in eine Pflegefamilie aufgenommen zu werden.

2.3.8.

bekräftigt das Recht von Menschen mit Behinderungen und insbesondere mit geistigen Behinderungen, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.

3.   Übergang von der institutionellen zur gemeindenahen Betreuung

Der EWSA:

3.1.

begrüßt, dass viele Länder ihre staatliche Pflege und Betreuung von Kindern und Erwachsenen reformieren, indem sie einige oder alle Einrichtungen für die Langzeitbetreuung durch familien- und gemeindenahe Dienste ersetzen (8);

3.2.

weist darauf hin, dass die Deinstitutionalisierung so durchgeführt werden sollte, dass die Rechte der Nutzergruppen geachtet werden, die Gefahr von Schadenzufügung minimiert wird und positive Ergebnisse für alle Beteiligten entstehen. Neue Pflege-, Betreuungs- und Unterstützungssysteme müssen die Rechte und die Würde des Einzelnen und seiner Familie achten und den Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden;

3.3.

ist der Ansicht, dass jeder das Recht hat, frei zu entscheiden, wo und wie er leben möchte.

4.   Deinstitutionalisierung für verschiedene Interessengruppen

4.1.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass Kinder, Menschen mit Behinderungen — darunter Menschen mit psychosozialen Störungen — und ältere Menschen einen völlig unterschiedlichen Pflege- und Betreuungsbedarf haben. Daher sollten in Bezug auf die Langzeitbetreuung bei der Deinstitutionalisierung die spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Nutzergruppen berücksichtigt werden.

4.2.

Die gemeindenahe Pflege und Betreuung, worunter auch die professionelle Pflege und die häusliche Pflege bzw. die Pflege im sozialen Umfeld fallen, bieten einen Mehrwert, den die Heimbetreuung nicht erzeugt.

4.3.

Daher sollte das institutionelle System so angepasst werden, dass es gemeindenahe Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen während des Übergangszeitraums bzw. dort, wo diese nicht zur Verfügung stehen, ergänzt.

4.4.

Ein unabhängiges Leben bedeutet nicht, dass die Menschen isoliert leben müssen. Es bedeutet vielmehr, dass sie auf ein Angebot an spezialisierten Diensten und zugänglichen allgemeinen Dienstleistungen in der Gemeinschaft, für die sie sich entschieden haben, zurückgreifen können.

4.5.

Bei der Deinstitutionalisierung geht es nicht nur darum, geeignete Dienste, sondern auch das entsprechende gemeindenahe Umfeld zu schaffen. Die Öffentlichkeit muss für diesen Übergang vorbereitet und sensibilisiert werden, und Stigmatisierung muss vorgebeugt werden. Ansonsten würde aus der Deinstitutionalisierung eine Reinstitutionalisierung werden, indem „Gettos“ mit Menschen mit psychosozialen Störungen geschaffen würden, die zwar in der Gesellschaft leben, aber aufgrund von Vorurteilen dennoch isoliert wären. Die Medien spielen hier eine Schlüsselrolle.

4.6.

Der EWSA verweist auf die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten, vor allem hinsichtlich der Definition von Langzeitbetreuung. Diese Unterschiede können sich auch auf die Art der geleisteten Pflege/Betreuung und die damit verbundenen Dienstleistungen beziehen. Parallel dazu bestehen auch innerhalb der Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede zwischen Regionen und Gemeinden, vor allem zwischen städtischen und ländlichen Gebieten (9). Nach Auffassung des EWSA dürfen diese Unterschiede jedoch keine fehlenden Fortschritte eines Mitgliedstaats mit seinen ganz eigenen Merkmalen und Charakteristika rechtfertigen, und er unterstützt einen allmählichen Übergang zu einer gemeindenahen Betreuung.

4.7.

In einer früheren Sondierungsstellungnahme (10) empfahl der EWSA, die Fernversorgung (telecare) und das umgebungsunterstützte Wohnen (Ambient Assisted Living) zu bewerten und zu evaluieren und eine flächendeckende, dezentrale und wohnortnahe Infrastruktur zu schaffen, die den direkten Kontakt mit älteren Menschen erlaubt. Diese Empfehlung soll hier wiederholt werden; außerdem wird ein geeigneter Deinstitutionalisierungsprozess für ältere Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderungen jeden Alters und Menschen mit psychosozialen Störungen unterstützt (11).

4.8.

Diese Nutzergruppen schließen Menschen ein, deren Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, eingeschränkt sein kann oder ihnen aufgrund ihres Alters, einer Behinderung oder von Abhängigkeit fehlt. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten daher auf, diese Menschen bestmöglich zu schützen, im Rahmen eines schrittweisen und kontrollierten Deinstitutionalisierungsprozesses, damit ihre Rechte jederzeit geachtet werden und sie die bestmögliche Betreuung in der Gemeinschaft erhalten, was auch eine unterstütze Entscheidungsfindung einschließt.

4.9.

Der EWSA ist sich bewusst, dass der Übergang zu einem gemeindenahen Pflegesystem Auswirkungen auf die Beschäftigten dieser Branche haben kann. Alle am Deinstitutionalisierungsprozess beteiligten Behörden und Akteure müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die Deinstitutionalisierung für die Pflegenden Vorteile bringt und allmählich erfolgt. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen müssen immer gewährleistet sein.

4.10.

Die Alternative zu einer Heimunterbringung ist nicht die häusliche, sondern die gemeindenahe Pflege und Betreuung, weswegen Investitionen in die Dienstleistungsinfrastruktur gewährleistet sein müssen.

4.11.

Der EWSA begrüßt bewährte Verfahren, wie z. B. Pflegeurlaub/Pflegekarenz, Pflegeteilzeit und die Anerkennung eines Versicherungsschutzes für informell Pflegende (12). Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, den Austausch bewährter Verfahren anzustoßen.

4.12.

Der EWSA ist sich der Bedeutung der Pflegenden bewusst. Informell Pflegende leisten die Pflege und Betreuung freiwillig und versuchen, ihre Pflegeaufgaben zusätzlich zu ihren Aufgaben im Alltag zu leisten. Dies kann zu einem Erschöpfungssyndrom führen, wenn die Pflegenden physisch und psychisch an die Grenze ihrer Belastbarkeit stoßen. Die EU muss Sorge dafür tragen, dass vereinbarkeitsfördernde Maßnahmen und die Verantwortung für Betreuung und Pflege auf der Gleichheit für alle beruht und dass informelle Pflegeaufgaben gleich und gerecht geteilt werden (13); dass die Achtung der Grundrechte der Pflegenden und Betreuenden gewährleistet wird; dass informelle und familiäre Betreuung und Pflege anerkannt und unterstützt werden; und dass die Rolle der Ehrenamtlichen in der formellen und informellen Pflege und Betreuung anerkannt und unterstützt wird (14).

4.13.

Der EWSA weist darauf hin, dass viele der benachteiligten Gruppen, die tendenziell in Einrichtungen untergebracht werden, in der obdachlosen Bevölkerung überdurchschnittlich stark vertreten sind. Daher fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, Deinstitutionalisierungsstrategien und -programme zu entwickeln, die der Obdachlosigkeit sowie der Notwendigkeit Rechnung tragen, gemeindenahe Dienste bereitzustellen, um Obdachlosigkeit zu verhindern bzw. ihr zu begegnen.

4.14.

Die Entwicklung und Professionalisierung der Hausarbeit ist für die Gleichstellung im Erwerbsleben von strategischer Bedeutung, da es in erster Linie Frauen sind, die diese Arbeit leisten bzw. auf Betreuungsdienste für Kinder oder ältere Menschen und Reinigungsdienste angewiesen sind, um mit den Männern beruflich gleichgestellt zu sein. Diese Dienste kommen Einzelnen und der ganzen Gesellschaft zugute. Sie sind beschäftigungswirksam, erfüllen Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft, erleichtern die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, erhöhen die Lebensqualität, verbessern die soziale Inklusion und erleichtern es älteren Menschen, in ihrer eigenen Wohnung zu bleiben (15).

4.15.

Der EWSA verweist auf die Notwendigkeit, Fachkräfte in ganz Europa für die Deinstitutionalisierung zu schulen. Beispielsweise wird die neue Generation der Psychiater geschult werden müssen, um sicherzustellen, dass sie im Sinne des VN-Behindertenrechtsübereinkommens praktizieren.

4.16.

Der EWSA ist besorgt, dass Menschen in einigen Fällen ohne Konsultation oder die Befolgung klarer Verfahren in Einrichtungen untergebracht werden. Er verweist auf die Bedeutung einer formalen Bewertung der Notwendigkeit einer Langzeitbetreuung für einen Menschen. Hierbei ist die Würde der betroffenen Person zu wahren, und es müssen individualisierte Dienstleistungen entwickelt werden;

5.   Auswirkungen der Finanzkrise auf die Sozialdienstleistungen

5.1.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass die Bereitstellung der Langzeitpflege und -betreuung für die Nutzergruppen, die hierauf angewiesen sind, insbesondere in Zeiten einer Wirtschaftskrise wie der aktuellen eine der größten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen für die Europäische Union ist.

5.2.

In der Mitteilung zu Sozialinvestitionen (16) wird deutlich gemacht, dass die Sozialschutzsysteme aufgrund der Wirtschaftskrise gefährdet worden sind, da die Arbeitslosigkeit stieg, die Steuereinnahmen zurückgingen und sich die Zahl der Personen, die Leistungen in Anspruch nehmen müssen, erhöhte. Vor diesem Hintergrund ist sich der EWSA mit der Kommission darin einig, dass die Mitgliedstaaten dabei unterstützt werden müssen, langfristige Strategien für die Langzeitpflege aufzustellen, die die Folgen der Wirtschaftskrise minimieren.

5.3.

In seiner Stellungnahme (17) zu dieser Mitteilung brachte der EWSA das Argument vor, dass Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt auch dafür genutzt werden sollten, die Sozialdienstleistungen zu stärken. Dies könnte ferner die Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich und die Entwicklung neuer gemeindenaher Dienste fördern.

5.4.

Die Wirtschaftskrise hatte negative Folgen für die Fähigkeit von Menschen mit Behinderungen, ein unabhängiges Leben zu führen, sowie für Familien und schutzbedürftige Gruppen, die bereits zuvor einem höheren Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt waren.

5.5.

Mit dem Sozialinvestitionspaket sollen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise und dem demografischen Wandel angegangen werden (18).

5.6.

Der EWSA ist überzeugt, dass durch die Krise die Anerkennung sozialer Rechte massiv unter Druck geraten ist, da in diesem Bereich Haushaltskürzungen vorgenommen wurden. Der Ausschuss fordert daher den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Sozialinvestitionen in die Sozialschutzpolitik fließen, um das Niveau des Sozialschutzes zumindest auf dem Vorkrisenniveau wiederherzustellen (19).

5.7.

Der EWSA betont, dass die Bewältigung der sich aus der gestiegenen Lebenserwartung ergebenden neuen Bedürfnisse schwierige Fragen der generationenübergreifenden Gerechtigkeit und Solidarität aufwirft. Ziel muss es letztlich sein, den alten und hochaltrigen Menschen in Europa ein lebenswertes Altern in Würde und Sicherheit auch bei Pflegebedürftigkeit zu ermöglichen und gleichzeitig darauf zu achten, dass im Sinne einer Generationensolidarität dadurch den nachkommenden Generationen nicht Belastungen erwachsen, die sie nicht tragen können (20).

5.8.

Zwar traten die Unterschiede innerhalb der EU in Bezug auf die institutionelle oder gemeindenahe Langzeitbetreuung auch vor der Krise schon deutlich hervor, doch hat die Krise die schon zuvor großen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der EU verschärft. Sie hat die Ungleichheiten in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt hervortreten lassen und die Polarisierungstendenzen bei Wachstum und Entwicklung beschleunigt — mit entsprechenden negativen Folgen bezüglich der fairen Verteilung von Einkommen und Wohlstand und der Lebensqualität zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen (21).

6.   Nutzung der EU-Fonds für langfristige Sozialdienstleistungen und die Deinstitutionalisierung

Der EWSA:

6.1.

bedauert, dass die EU-Strukturfonds im letzten Programmplanungszeitraum für absondernde Institutionen und nicht für die gemeindenahe Betreuung eingesetzt wurden;

6.2.

begrüßt, dass die neuen Verordnungen über die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds 2014-2020 (ESIF) den Übergang von der institutionellen zur gemeindenahen Betreuung über Mittel des Europäischen Regionalfonds für die Verbesserung der Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur fördern;

6.3.

ist der Ansicht, dass ein Multifondsansatz den Übergang zur gemeindenahen Betreuung beschleunigen könnte; dieser sollte auch eine Nutzung des Europäischen Sozialfonds für „weiche“ Maßnahmen wie Schulungen für die Mitarbeiter von Unterstützungsdiensten und die Schaffung neuer Sozialdienstleistungen beinhalten;

6.4.

begrüßt die in der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für die ESIF enthaltene thematische Ex-ante-Konditionalität zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die die Mitgliedstaaten zur Aufstellung einer Deinstitutionalisierungsstrategie verpflichtet;

6.5.

empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds einsetzen sollten, um den Übergang von der institutionellen zur gemeindenahen Betreuung zu fördern, Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zu entwickeln und Mitarbeiter für Unterstützungsdienste zu schulen;

6.6.

ist der Auffassung, dass das Instrument für Heranführungshilfe und der Europäische Entwicklungsfonds dazu eingesetzt werden sollten, um das Recht auf ein Leben in der Gemeinschaft und das Aufwachsen in einer Familie zu unterstützen;

6.7.

ist sich bewusst, dass der Übergang von institutionellen zu gemeindenahen Diensten komplex ist, weswegen er die Kommission und die Mitgliedstaaten auffordert, auch und gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise eine Mitteilung vorzulegen bzw. politische Leitlinien zur Förderung der Deinstitutionalisierung aufzustellen.

7.   Hochwertige gemeindenahe Dienste

Der EWSA:

7.1.

fordert die Europäische Kommission auf, einen europäischen Qualitätsrahmen für gemeindenahe Dienste aufzustellen, und bekräftigt das dringende Erfordernis strenger und verbindlicher Normen, um höchste Qualitätsstandards sicherzustellen;

7.2.

kommt zu dem Schluss, dass Dienste in der Gemeinschaft auch in entlegenen und ländlichen Gebieten verfügbar sein müssen und dass Einzelpersonen mit einem ausreichenden Budget ausgestattet werden müssen, damit sie die Dienste, die sie benötigen, frei wählen können;

7.3.

ist der Auffassung, dass gemeindenahe Dienste in enger Abstimmung mit den Nutzern und ihren Vertretungsorganisationen entwickelt werden sollten und dass letztere die Qualität in Zusammenarbeit mit weiteren einschlägigen Akteuren, darunter Dienstleister, Behörden und Gewerkschaften, definieren sollten;

7.4.

fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, unabhängige und effiziente Inspektions- und Kontrolldienste einzurichten, damit die Einhaltung rechtlicher Normen und von Qualitätsstandards sowohl bei gemeindenahen als auch bei institutionellen Diensten gewährleistet ist;

7.5.

empfiehlt, gemeindenahe Dienste lokal verfügbar und für alle erschwinglich und zugänglich zu machen;

7.6.

hält eine Genehmigung dieser Dienste durch die zuständigen Behörden sowie eine Akkreditierung durch Zertifizierungsstellen für erforderlich;

7.7.

weist darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kinder und ältere Menschen, für ein Leben in der Gemeinschaft unterstützende Technologien und technische Hilfsmittel benötigen. Diese Technologien sind am effizientesten, wenn sie auf die Vorlieben der Nutzer abgestimmt werden und dabei die Privatsphäre gewahrt wird.

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Gemäß Artikel 12 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(2)  Auch für die Schließung geschlossener psychiatrischer Einrichtungen gilt, dass es echte Alternativen geben muss.

(3)  Kinder und Erwachsene mit Behinderungen (einschließlich Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen). Dies bezieht sich auf die EU und die Türkei. Quelle: Mansell, J., Knapp, M., Beadle-Brown, J. and Beecham, J. (2007): Deinstitutionalisation and community living — outcomes and costs: report of a European Study. Band 2: Hauptbericht, Canterbury: Tizard Centre, University of Kent („DECLOC Report“).

(4)  Bericht der Expertengruppe zum Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=4017&langId=en

(5)  Gemeinsame europäische Leitlinien für den Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft (www.deinstitutionalisationguide.eu).

(6)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 103; ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 2; ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 28.

(7)  Siehe http://www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml

(8)  Einige Beispiele für die Langzeitbetreuung sind einer Eurobarometer-Umfrage zu Gesundheit und Langzeitpflege zu entnehmen (http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_283_en.pdf). Weitere bewährte Verfahren sind in den gemeinsamen europäischen Leitlinien für den Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft enthalten (www.deinstitutionalisationguide.eu).

(9)  Langzeitpflege in der Europäischen Union. ISBN 978-92-79-09571-9. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union.

(10)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 10.

(11)  Ebda.

(12)  In Österreich bestehen entsprechende Rechtsvorschriften. Beispiele:

Pflegekarenz und Pflegeteilzeit: Im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit dem 1. Januar 2014 die Möglichkeit, für einen Zeitraum von einem bis drei Monaten Pflegekarenz (ohne Entgelt) oder Pflegeteilzeit (bei Verzicht auf einen Teil des Entgelts) zu vereinbaren. Während dieses Zeitraums haben sie Anspruch auf Pflegekarenzgeld, es besteht ein Motivkündigungsschutz und ein Sozialversicherungsschutz (der Bund übernimmt den Krankenversicherungsbeitrag und den Pensionsversicherungsbeitrag). Das Pflegekarenzgeld entspricht der Höhe des potenziellen Arbeitslosengelds. Diese Pflegekarenz oder Pflegeteilzeit soll den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Falle eines plötzlich auftretenden Pflegebedarfs einer/eines nahen Angehörigen oder zur Entlastung einer pflegenden Person für eine bestimmte Zeit die Möglichkeit einräumen, die Pflegesituation (neu) zu organisieren.

Pensionsversicherung für pflegende Angehörige: Pflegenden Angehörigen, die ihre gesamte Arbeitszeit bzw. einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit für die Pflege einer/eines nahen Angehörigen nutzen, stehen die folgenden Möglichkeiten für den Erwerb von Rentenanwartschaften zur Verfügung: Weiterversicherung für pflegende Angehörige in der Pensionsversicherung; Selbstversicherung für pflegende Angehörige in der Pensionsversicherung; Mitversicherung oder Selbstversicherung in der Krankenversicherung. Der Bund übernimmt die Versicherungsbeiträge, was bedeutet, dass hiermit keine Kosten für pflegende Angehörige verbunden sind.

(13)  Zwischen Männern und Frauen und zwischen Generationen.

(14)  Empfehlungen der Social Platform für den Pflege- und Betreuungsbereich: http://www.socialplatform.org/wp-content/uploads/2013/03/20121217_SocialPlatform_Empfehlungen_fuer_Pflege_DE.pdf

(15)  ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 16.

(16)  COM(2013) 83 final.

(17)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 91.

(18)  Es zielt u. a. auf Kinder und junge Menschen, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose und ältere Menschen ab. Die Ziele des Sozialinvestitionspakets: Sicherstellen, dass die Sozialschutzsysteme den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden; vereinfachte und gezieltere sozialpolitische Maßnahmen und Aufwertung wirksamer Strategien zur aktiven Inklusion in den Mitgliedstaaten. (Toolkit on the Use of European Union Funds for the Transition from Institutional to Community-Based Care — https://deinstitutionalisationdotcom.files.wordpress.com/2015/03/annex-1-en-orig.pdf).

(19)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23, und ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(20)  ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 103.

(21)  ABl. C 12 vom 15.1. 2015, S. 105.


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vollendung der WWU: Die politische Säule“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 332/02)

Berichterstatter:

die Herren Carmelo CEDRONE und Joost VAN IERSEL

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2015 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Vollendung der WWU: Die politische Säule.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 6. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 183 gegen 16 Stimmen bei 16 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Präambel

Mit Blick auf die neue Wahlperiode des Europäischen Parlaments und die neue Amtszeit der Europäischen Kommission verabschiedete der EWSA im Juli 2014 die Stellungnahme „Vollendung der WWU — nächste europäische Legislaturperiode“, die im November 2014 von den Berichterstattern aktualisiert wurde. Ziel war es, ein kohärentes Bündel an Maßnahmen zu formulieren, mit denen die Architektur und die Wirksamkeit der WWU gestärkt werden sollen.

Der EWSA unterscheidet vier Säulen: die geldpolitische und finanzielle Säule, die makro- und mikroökonomische Säule, die soziale Säule sowie die politische Säule, die alle vier in einer Wechselbeziehung stehen. Zur geldpolitischen und finanziellen, zur wirtschaftlichen und zur sozialen Säule hat der EWSA eine Reihe von Stellungnahmen verabschiedet. Nun beschäftigt sich der EWSA konkreter mit Fragen, die im Zusammenhang mit den übergeordneten politischen und institutionellen Aspekten der WWU stehen, die gänzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und des Europäischen Rates fallen. Dieser Aspekt setzt bei einer Kerngruppe von WWU-Staaten an, steht jedoch auch anderen potenziellen Euro-Kandidatenländern offen, die denselben Weg beschreiten wollen.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach sechs Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise scheint es schwieriger denn je zu sein, die wirtschaftliche und soziale Zukunft vorherzusagen. Angesichts der geopolitischen und wirtschaftlichen Probleme kann nur eine solide WWU zukunftsorientierte Stabilität gewähren.

1.2.

Die WWU ist nach wie vor fragil — siehe nachfolgende Bestandsaufnahme und SWOT-Analyse. Der EWSA ist der Auffassung, dass aufgrund der anhaltenden Ungleichgewichte sowie zur Schaffung von Vertrauen und Zuversicht in Europa eine wirksamere und demokratischere wirtschaftspolitische Steuerung — insbesondere in der Eurozone — erforderlich ist.

1.3.

Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass spektakuläre Fortschritte nicht über Nacht möglich sind, doch müssen zwei Aspekte bedacht werden: Erstens kann es sich Europa nicht leisten, Entscheidungen jahrelang hinauszuzögern, und zweitens muss zuerst einmal Einmütigkeit im gesamten Euroraum über die Grundsätze einer anzustrebenden Wirtschaftspolitik im Rahmen einer wirksamen Steuerung gefunden werden.

1.4.

Mit der wirtschaftlichen Konvergenz sind zugleich demokratische Legitimität, ein solider politischer Rahmen und das allgemeine Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals erforderlich. Zu diesem Zweck können im Rahmen der geltenden Verträge und Vorschriften konkrete Schritte unternommen werden. Auf mittlere bis längere Sicht sollten die institutionellen Bestimmungen durch eine Änderung des Vertrags an die unabdingbaren Anforderungen einer echten wirtschaftlichen und politischen Union angepasst werden.

1.5.

Wir brauchen ein kohärentes Zusammenspiel von Europäischem Rat, nationalen Regierungen, dem Europäischen Parlament, den nationalen Parlamenten und Europäischer Kommission, das demokratische Legitimation, Rechenschaftspflicht sowie Transparenz gewährleistet und das im Interesse der Bürger und der Wirtschaftsakteure reibungslos funktionieren kann.

1.6.

Es liegt nunmehr auf der Hand, dass das gegenwärtige System von Regeln, das der EU und insbesondere dem Euroraum zugrunde liegt, zu Verwirrung auf rechtlicher, institutioneller und demokratischer Ebene geführt hat. Daher muss die Methode geändert werden. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Dynamik kann die EU ihr derzeitiges institutionelles Gefüge nicht mehr unverändert beibehalten. Aus diesem Grund ist es für den EWSA von wesentlicher Bedeutung, die Integration des Euroraums zu vertiefen.

1.7.

In diesem Bewusstsein legt der EWSA einen Fahrplan mit folgenden Etappen vor:

1.7.1.

1. Etappe

1.

Ständiger Vorsitzender der Eurogruppe;

2.

Aufnahme der Arbeiten der interparlamentarischen Konferenz;

3.

„Parlamentarisierung“ des Euroraums (Großer Ausschuss des EP mit allen Abgeordneten der WWU).

1.7.2.

2. Etappe

4.

Rat (Legislative Angelegenheiten der WWU);

5.

Abstimmung der Parlamentarier des Euroraums über WWU-Fragen;

6.

Eine Exekutive (Regierung) für die WWU (derzeitige Eurogruppe und Kommission);

7.

Stärkung der Befugnisse und Zuständigkeiten der interparlamentarischen Konferenz (EP und nationale Parlamente).

1.7.3.

3. Etappe

8.

Stärkung der Befugnisse des EP im Bereich WWU (demokratische Legitimität) und Schaffung echter gesamteuropäischer Parteien;

9.

Staatenkammer (WWU) (Regierungen);

10.

Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive;

11.

Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips.

1.8.

Außerdem sollten folgende Initiativen zur Vorbereitung und Erreichung der oben beschriebenen Etappen ergriffen werden:

Vom EWSA/AdR zusammen mit dem EU-Ratsvorsitz und der Kommission organisierte Generalversammlungen der Zivilgesellschaft;

Interparlamentarische Konferenz;

Vorschläge des EP für weiteres Handeln ohne Änderung des Vertrags und für eine Überarbeitung des Vertrags von Lissabon;

Verfassungskonvent;

Abwägung der Möglichkeit eines europaweiten Referendums.

2.   Bestandsaufnahme

2.1.

Die WWU verfügt bereits jetzt über einen umfassenden Besitzstand. Sie besitzt eine gemeinsame Währung und eine Zentralbank, bis zu einem gewissen Grade trägt sie für die Koordinierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik Sorge. Sie trifft für die Länder verbindliche Entscheidungen, die im Grunde deren wirtschaftliche und haushaltspolitische Autonomie einschränken, Bedingungen für expansive Maßnahmen in den Mitgliedstaaten auferlegen und sie verpflichten, wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen.

2.2.

Die WWU ist also ein in der Entwicklung befindliches föderatives Gebilde, das gegenwärtig als „Hüterin“ fungiert, jedoch noch nicht gemeinsam tätig wird. Ihre Zielbewusstheit ist vergleichsweise stark ausgeprägt und hat einen öffentlichen Raum für Diskussionen geschaffen. Die WWU bedeutet eine stärkere Abtretung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten, obwohl ihre Verwaltung in erster Linie durch eine technokratische Struktur erfolgt.

2.3.

Diese Union muss vollendet werden, indem die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass diejenigen Länder, die bereits Mitglied sind oder dies zu werden wünschen, nicht nur Stabilität, sondern auch Entwicklung und Wohlstand schaffen können. Für sie sollte sich ein Beitritt zum Euroraum mehr lohnen als ein Euroverzicht.

2.4.

Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 und die darauffolgenden Entwicklungen sowie die katastrophalen Auswirkungen auf die Realwirtschaft und die europäische Gesellschaft waren ein Weckruf für all jene, die bis dahin meinten, die Architektur der WWU würde weiter mehr oder weniger zur Zufriedenheit funktionieren und die Konvergenz der Mitgliedstaaten würde ganz harmonisch durch Ausstrahlungseffekte gefördert.

2.5.

Bald nach dem anfänglichen Schock begannen die EU-Organe damit, nach kurzfristigen Lösungen für die dringendsten Probleme zu suchen. Ein großer Erfolg ist, dass Verfahren zum Schutz der WWU, des Euro und des Euroraums geschaffen worden sind, doch gab es auch Verzögerungen und erhebliche Versäumnisse wie das Fehlen eines gemeinsamen Plans zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung.

2.6.

Es ist auch eine enorme Errungenschaft, dass unter extrem schwierigen Bedingungen — zumindest teilweise — produktive Schritte unternommen wurden, um die WWU auf eine festere Basis zu stellen. Der EWSA hat alle diese Schritte begrüßt, aber auch kritisch ihre Grenzen aufgezeigt und andere Ideen vorgetragen, die zur Bewältigung der Krise besser geeignet sind.

2.7.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise entwickelte sich zu einem anhaltenden Wirtschaftsabschwung mit eklatanten Unterschieden zwischen den einzelnen Volkswirtschaften. Weite Teile der EU sind sechs Jahre danach in einer keinesfalls beneidenswerten Lage, die durch geringes Wachstum und stagnierende Beschäftigung gekennzeichnet ist. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sprechen für sich.

2.8.

Ungeachtet aller Fortschritte ist die WWU nach wie vor nicht vollendet. Die Lage ist sehr komplex. Trotz einiger hoffnungsvoll stimmender Anzeichen für einen Wiederaufschwung ist die Lage in einigen Ländern nach wie vor geprägt durch wirtschaftliche Stagnation, unzureichende Schaffung neuer Arbeitsplätze und Armut. Die zahlreichen Ursachen hierfür sind zum großen Teil tief verwurzelt und sind in der Krise deutlicher zu Tage getreten bzw. haben sich verschärft: Geschichte, existierende oder fehlende Traditionen in Bezug auf die Steuerung, unterschiedliche Wachstumsstrategien, unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Strukturen und unterschiedliche Außenpolitik.

2.9.

Im Euroraum herrscht nach wie vor Uneinigkeit zwischen den Verfechtern einer Stabilitätsunion, die durch wirtschaftliche Konvergenz und Reformen in den Mitgliedstaaten bestimmt wird, und den Befürwortern einer unmittelbaren Fiskalunion. Diese Kontroverse führt sowohl bei Politikern als auch bei Sozialpartnern auch zu unterschiedlichen Auffassungen darüber, was für eine Wirtschaftspolitik auf nationaler und europäischer Ebene vorrangig verfolgt werden sollte.

2.10.

Unterschiedliche Positionen und Herangehensweisen haben zunehmend zu einem Klima des Misstrauens geführt, nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in der Öffentlichkeit der einzelnen Länder, so oberflächlich die am jeweils anderen geübte Kritik auch sein mag. Diese Entwicklung gleicht immer mehr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung — sie engt den möglichen Handlungsspielraum der Politiker ein und löst bei den Bürgern Wellen der Europafeindlichkeit aus.

2.11.

Angesichts der Tatsache, dass die WWU vor allem von zwischenstaatlichen Entscheidungen und technokratischem Management dominiert wird, hat der Mangel an demokratischer Legitimität und Glaubwürdigkeit erhebliche Auswirkungen, die auch die Unterschiede zwischen den Partnerländern deutlicher hervortreten lassen.

2.12.

Aber dies betrifft nicht nur die EU. Andere große Staaten wie die USA, China, Russland, Indien und Brasilien sowie viele kleinere Länder leiden ebenfalls unter vergleichbaren schwierigen Konstellationen. Zweifellos haben jedoch die EU und vor allem der Euroraum im Vergleich zu den USA und dem asiatischen Kontinent („asiatische Fabrik“) große Schwierigkeiten, die Hindernisse zu überwinden.

2.13.

Der EWSA ist grundsätzlich der Auffassung, dass eine wirksamere politische Steuerung der WWU zu erheblich mehr Stabilität bei der Lösung der aktuellen und künftigen Probleme beitragen dürfte, auch wenn der gegenwärtige Zustand der europäischen Wirtschaft durch viele unterschiedliche und komplexe Aspekte geprägt ist. Wie dem auch sei, eine stärkere WWU wird für die Wahrung bestimmter wesentlicher Interessen der Europäer in der Welt unabdingbar sein.

2.14.

Der EWSA ist sich dessen bewusst, dass endgültige Lösungen gegenwärtig nicht in Reichweite sind. Ihm ist auch klar, dass die aktuellen Entwicklungen, die komplexe Gemengelage und die Probleme Hindernisse auf dem Weg zu einem robusten Fahrplan sind. Andererseits werden das Vertrauen und die wirtschaftliche Leistung dauerhaften Schaden nehmen, wenn sich an den aktuellen Mängeln im institutionellen Gefüge sowie bei der Steuerung nicht bald etwas ändert. Der EWSA hält die Verzögerungen, die Resignation und das Fehlen eines Konzepts für die Zukunft daher für nicht hinnehmbar.

2.15.

Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass kein Weg an einer ernsthaften Debatte über eine solide Architektur der WWU vorbeiführt, die ein Einvernehmen über die wirtschaftlichen und sozialen Ziele sowie eine vereinbarte Steuerung einschließt.

2.16.

Seit der Errichtung der WWU geht es bei den Diskussionen über mehr oder weniger Europa um nationale Souveränität. Nach Auffassung des EWSA ist dies ein falsches Paradigma, da nationale Souveränität ein Auslaufmodell ist. In der gegenwärtigen Zeit der Globalisierung und der damit verbundenen Herausforderungen sieht er keinen anderen gangbaren Weg als eine bessere Verankerung gemeinsamer oder gebündelter Souveränität in der EU und insbesondere im Euroraum. Hierfür wird eine solide gebündelte wirtschaftspolitische Steuerung bzw. eine Wirtschaftsregierung erforderlich sein. Gleichermaßen steht auch die Zukunft der WWU in engem Zusammenhang zu anderen entscheidenden, die Souveränität berührenden Politikbereichen wie der Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Energieunion.

3.   SWOT-Analyse der aktuellen Situation in der EU und im Euroraum

Stärken

Schwächen

Stärkeres Bewusstsein dafür, dass die Zukunft der Europäer in der Gemeinsamkeit liegt

Herausragende, wenn auch beschränkte Rolle der EZB (als supranationaler Institution)

ESM und kürzliche Anerkennung der Flexibilitätsregeln Stärkere Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten

Stärkere Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten

Zunehmende politische Akzeptanz der vereinbarten Regeln auf EU-Ebene durch die Regierungen, vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit von Strukturreformen in allen Mitgliedstaaten

Stärkerer Schwerpunkt der EU auf der Verbesserung der Governance und einer besseren Verwaltung in allen Mitgliedstaaten

Beginn der Bankenunion und Beschlussfassungsprozess zum einheitlichen Abwicklungsmechanismus

Quantitative Lockerung durch die EZB

Aktivere, wenngleich immer noch beschränkte Rolle der EIB und der vorgeschlagenen Investitionsoffensive für Europa

Das Semester und die länderspezifischen Empfehlungen, die eine stärkere Mitwirkung der EU an der Ermittlung von Schwachstellen in den nationalen Haushalten und bei der Governance implizieren

Mehr Transparenz in der öffentlichen Debatte über die Entwicklungen in den Partnerländern

Stärkere Akzeptanz der Tatsache, dass Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden müssen und dass die Voraussetzungen für in- und ausländische Investitionen verbessert werden müssen, durch alle Mitgliedstaaten.

Trotz Unterschieden innerhalb der EU gewährleisten europäische Modelle der sozialen Marktwirtschaft optimale und stabile gesellschaftliche Entwicklungen.

Andauernde ökonomische Ungleichgewichte im Euroraum, die eher zunehmen

Fehlende Solidarität zwischen den und innerhalb der Mitgliedstaaten

Nach wie vor Einstimmigkeitsprinzip in wesentlichen Fragen

Um Fortschritte zu erzielen, sind langwierige Diskussionen nötig, selbst bei Fragen, über die eigentlich schon eine Einigung erzielt wurde.

Trotz Euro gibt es keine „Schicksalsgemeinschaft“, während die Wirtschafts- und Haushaltspolitik großteils immer noch Sache der Mitgliedstaaten ist (1)

Fehlende demokratische Legitimität

Schwache Position der Kommission bei der Umsetzung der europäischen Vorschriften und des Semesters

Mangelhafte Umsetzung der vereinbarten Regeln in den Mitgliedstaaten: übermäßige Defizite, länderspezifische Empfehlungen

Negative Auswirkungen reiner Sparpolitik

Aus der Geschichte rührende nationale Vorurteile, die auch zu anhaltendem Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten — und zu einem geringeren Grad zwischen den Finanzministern führte

Geringe Einbindung der nationalen Parlamente und der Zivilgesellschaft in die Entscheidungsfindung und/oder in die Sensibilisierung in den meisten Mitgliedstaaten

Ungenügende Kommunikation, vor allem der Führungen in den Mitgliedstaaten

Uneinigkeit in der Öffentlichkeit und bei den politischen Parteien in Europa und im Euroraum

Schwerpunkt auf kurzfristigen Ansätzen, keine Langzeitvision, geschweige denn langfristiges Engagement

Unvollständige Bankenunion, bislang keine Entscheidung über das Einlagensystem

Ein vertiefter gesamteuropäischer Kapitalmarkt bleibt nur ein Wunschtraum, solange die Banken national ausgerichtet sind.

Unvollendeter und fragmentierter Binnenmarkt

Fehlen einer langfristigen politischen Vision für die künftige WWU/EU.

Chancen

Gefahren

Stärkung der Governance des Euroraums

Stärkung der demokratischen Legitimität

Korrekte Anwendung der vereinbarten Regeln

Vertrauensbildende Maßnahmen, die zu einem stabilen Investitionsklima führen

Anziehung von Investitionen innerhalb der EU und aus Drittstaaten, auch im Rahmen der Investitionsoffensive für Europa

Erfolg des QE-Programms der EZB

Konvergenz von Haushalts- und Finanzpolitik auf der Grundlage gemeinsamer Grundsätze: Weiterführung einer nationalen Politik innerhalb eines akzeptierten gemeinsamen Rahmens

Vertragliche Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU

Bewältigung wirtschaftlicher Ungleichgewichte in einem gemeinsamen Rahmen

Übereinkunft über nationale Reformen sowie über Initiativen für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen

Eine akzeptable Lösung für die Sorgen der Griechen (und anderer) durch Förderung der Konvergenz

Großbritannien zu vernünftigen Bedingungen in der EU halten, ohne die von anderen erzielten Fortschritte zu beeinträchtigen

Erfolgreiches Zusammenwirken von EZB, Kommission und Rat, vor allem im Euroraum

Eine solide Governance des Euroraums

Anerkennung einer vorausschauenden Funktion der Kommission, einschließlich einer konsequenten Anwendung der Gemeinschaftsmethode

Vollendung der Bankenunion und eines gesamteuropäischen Kapitalmarktes

Schaffung der Voraussetzungen für die Einführung von Eurobonds für Investitionen

Gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer

Planung einer Steuer-Bemessungsgrundlage für den EU-Haushalt und deren gleichzeitige Erweiterung

Eine einzige europäische Stimme in den internationalen Gremien

EU/Euroraum: zu wenig, zu spät

Negative Gefühle der Öffentlichkeit/Euroskepsis

Mangelndes Vertrauen der Investoren im In- und Ausland

Deflation

Weiterhin geringes Wachstum im Vergleich zu den wichtigsten globalen Konkurrenten

Anhaltende internationale (militärische) Konflikte, vor allem „vor der Haustür“ der EU

Die EU ist auf eine mögliche neue Wirtschaftskrise ungenügend vorbereitet

Zunehmende wirtschaftliche Unterschiede innerhalb der Union/des Euroraums

Grexit (oder etwas, das darauf hinausläuft)

Brexit (oder ein stagnierender Status quo im Verhältnis UK-Euroraum)

Stagnation der Bankenunion

Fortbestand der Kopplung der nationalen Banken an die Mitgliedstaaten, Fehlen eines gesamteuropäischen Kapitalmarkts

Mangelnde Umsetzung im Finanzsektor

Mangelnde Umsetzung im Binnenmarkt insgesamt und zunehmende Zersplitterung

Stagnation in anderen wichtigen Bereichen wie der Energieunion, der digitalen Union und der GSVP

Mangelnder Erfolg des QE-Programms der EZB.

4.   Vorschläge für die Politik der WWU und die Einrichtungen der Europäischen Union

4.1.   Demokratie, Transparenz und Legitimation

4.1.1.

Die grundlegenden Herausforderungen der Wirtschafts- und Währungsunion, die eine Übertragung maßgeblicher nationaler Zuständigkeiten auf die Union erforderlich macht, sind verbunden mit: der demokratischen Dimension und insbesondere der Frage der parlamentarischen Vertretung; der Wirksamkeit ihres Entscheidungssystems; der Wahrung des Grundsatzes der Verantwortlichkeit und der loyalen Zusammenarbeit sowie der Transparenz (Sichtbarkeit) ihrer Arbeitsweise. Nach Auffassung des EWSA ist aufgrund dieser Herausforderungen eine politische Union erforderlich, die die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie das Engagement aller Interessenträger für die europäische Integration wiederherstellt und gewährleistet.

4.1.2.

Die Schaffung der politischen Union ist ein Prozess in mehreren Etappen. Bestimmte Voraussetzungen und Maßnahmen können ohne eine Änderung der EU-Verträge realisiert werden, andere wiederum bedürfen einer Änderung der Verträge.

4.1.3.

Der EWSA empfiehlt aus Gründen der Verantwortlichkeit und der Zusammenarbeit, die auf nationaler Ebene bestehenden Teilhabemöglichkeiten auch auf EU-Ebene ordnungsgemäß anzuwenden. Dies betrifft insbesondere:

echte gesamteuropäische politische Parteien;

Schaffung politischer Mehrheiten und Oppositionen auf der Grundlage der Wahlprogramme;

Vereinheitlichung des Termins der Europawahlen.

4.1.4.

In jedem Mitgliedstaat und in der gesamten EU eine Schwachstelle (ein Paradebeispiel ist die Rolle der Troika im Rahmen der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung). Die Krise brachte ans Licht, dass die Verbindung zwischen Volksvertretern und Vertretenen immer brüchiger wird. Dieses Problem muss daher dringend in Angriff genommen werden im Rahmen der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion mit folgenden vier Säulen der Integration: Bankenunion, Fiskalunion, Wirtschaftsunion (die für den EWSA auch eine Sozialunion umfassen muss) und schließlich die politische Union.

4.1.5.

Zwecks Schaffung dieser politischen Union mit denjenigen Ländern, die nach dem Prinzip eines Europas der zwei Geschwindigkeiten vorangehen möchten, empfiehlt der EWSA, rechtzeitig den Weg eines Konvents zu beschreiten. Dieser soll nach Lösungen suchen, die über den Vertrag von Lissabon hinausgehen. Der EWSA wird sich dafür einsetzen, Vorschläge für eine wirksame Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Arbeiten eines solchen Konvents auszuarbeiten.

4.2.   Legislative:

Die repräsentative Demokratie: Europäisches Parlament und nationale Parlamente

4.2.1.

Bevorzugter Raum für die repräsentative Demokratie in der WWU ist das Europäische Parlament, in dem die Abgeordneten der gegenwärtigen und künftigen Länder des Euroraums vertreten sind.

Vorschlag A

Zwecks Sichtbarkeit, Kohärenz und Wirksamkeit des Handelns dieser Abgeordneten empfiehlt der EWSA, für diese ein ständiges Gremium im EP zu schaffen mit dem Ziel, die Rechenschaftspflicht der mit der Governance der Einheitswährung betrauten Institutionen zu stärken. Gleichzeitig werden folgende Ziele verfolgt: einen öffentlichen Raum des Dialogs und der Konsultation schaffen; die Dokumente erarbeiten und zur Abstimmung stellen, die dem Plenum zu Beschlussfassung in wirtschafts- und währungspolitischen Fragen vorgelegt werden; die gleichberechtigte Berücksichtigung der Grundsätze der Solidarität und der loyalen Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Maßnahmen der WWU gewährleisten.

4.2.2.

Die Verankerung der repräsentativen Demokratie in der WWU wäre unvollständig ohne die zweifache demokratische Legitimierung — auf nationaler und auf europäischer Ebene —, die ein Alleinstellungsmerkmal der Europäischen Union ist.

Vorschlag B

Der EWSA empfiehlt, gleichzeitig den Aufgabenbereich der interparlamentarischen Konferenz (ex-Artikel 13 des Fiskalpakts) aufzuwerten und auszuweiten. Diese soll die Befugnis bekommen, in den Bereichen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, Steuern und Sozialpolitik Erörterungen aufzunehmen und bindende Stellungnahmen abzugeben. Zudem sollte das Europäische Parlament seine internen WWU-Foren für die nationalen Abgeordneten der Staaten des Euroraums (oder die dem Euroraum beitreten werden) mit Beobachterstatus öffnen. Die interparlamentarische Konferenz könnte bestehen aus den Vorsitzenden der Haushalts- und Industrieausschüsse der WWU-Staaten und den Vorsitzenden der Ausschüsse des EP für Haushalt, Wirtschaft und Währung, Industrie, Forschung und Energie und Zusammenhalt. Neue Legislativvorschläge müssen mithilfe einer Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens besser legitimiert werden.

Vorschlag C

Die nationalen Parlamente müssen sich ihrerseits sichtbar an der Debatte über die europäische Politik beteiligen, was in einigen Staaten bereits der Fall ist — z. B. mittels Teilnahme der Kommission an den Parlamentsdebatten. Die bewährten Verfahrensweisen könnten verbreitet werden. Ziel ist es, dass sich die politischen Kräfte auf nationaler Ebene bezüglich der sie unmittelbar betreffenden Maßnahmen der Union stärker engagieren.

Der Rat

4.2.3.

Dieser politische Rahmen bietet günstigere Voraussetzungen für eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den europäischen Gipfeltreffen und/oder der Eurogruppe — ggf. auch mit den Staaten, die dem Euroraum beitreten werden, dem EP und den nationalen Parlamenten. Gemäß der Logik des Vorstehenden können die Minister der Staaten des Euroraums und der Staaten, die ihm beitreten möchten, die Gesetzgebungsfunktionen in WWU-Bereichen zusammen mit dem EP wahrnehmen.

4.2.4.

Das Handeln des Rates muss untermauert werden durch die Anstrengungen der einzelstaatlichen Verwaltungen, die mit dieser Entwicklung Hand in Hand gehen müssen, insbesondere mittels Austausch von Beamten und Stärkung der bilateralen Beziehungen.

4.2.5.

Der EWSA betont, dass die Ausweitung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in absehbarer Zeit die Vertiefung der politischen Integration in der EU erleichtern werden.

4.2.6.

Die besser strukturierte Zusammenarbeit und Konzertierung in der politischen Union werden so die Wirksamkeit der Maßnahmen in den zentralen Bereichen der WWU stärken. Dies wird für die gesamte EU von Vorteil sein.

4.2.7.

Wie in der Tabelle in Ziffer 5 aufgeführt, sind zahlreiche Maßnahmen auch ohne Vertragsänderung und bezüglich der WWU in den meisten Fällen durch eine direkte verstärkte Zusammenarbeit der Staaten möglich. Die WWU sollte daher mit einer Form der ständigen verstärkten Zusammenarbeit ausgestattet werden, die es ermöglichen würde, auch und besser über die EP-Abgeordneten der derzeitigen und künftigen Euroraum-Staaten zu agieren.

4.2.8.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Methode des sog. „Jumbo-Rates“ im Rahmen der Eurogruppe wiederbelebt werden. Dies würde einen regelmäßigen Dialog unter den Ministern für Finanzen, Wirtschaft und Soziales einerseits und den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft andererseits ermöglichen.

4.3.   Exekutive

Eine Exekutive für die WWU: die Kommission

4.3.1.

Nach einer Übergangsphase, die möglicherweise in eine Vertragsänderung mündet, wird ein echtes WWU-Führungsgremium entstehen. Sein Präsident sollte faktisch als Minister für Wirtschaft und Finanzen des Euroraums auftreten und Vizepräsident der Kommission sein, vergleichbar dem Amt des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik.

4.3.2.

In der einzigartigen europäischen Konstruktion wird die Europäische Kommission (kleiner und effizienter) auch weiterhin eine tragende Rolle spielen. Die „Gemeinschaftsmethode“ und das gegenwärtige Initiativrecht der Europäischen Kommission sind auch für die Vertiefung der WWU von ganz besonderer Bedeutung. Diese Aufgabe sollte in der politischen Union gewährleistet sein.

4.3.3.

Die Europäische Kommission sollte weiterhin eine Doppelfunktion als Bindeglied zwischen EU und WWU besitzen, bis eine eigene WWU-Exekutive geschaffen wurde. Unbeschadet des gegenwärtigen Initiativrechts der Kommission sollten Möglichkeiten gefunden werden, wie das EP angemessen in diesen Prozess einbezogen werden kann, um die Legitimität neuer Legislativvorschläge zu wahren.

4.3.4.

Der EWSA empfiehlt die Ernennung eines ständigen Vorsitzenden der Eurogruppe, der vor Ort in Brüssel besser mit der Kommission, dem EP, den Regierungen und den nationalen Parlamenten zusammenarbeiten kann. Gemäß der von Kommissionspräsident Juncker gewählten Methode könnte ein Vizepräsident der Kommission den Sitzungen der Eurogruppe vorstehen. Er/sie könnte die WWU auch in den internationalen Gremien vertreten.

4.4.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss

4.4.1.

Dies alles sollte uns mehr denn je dazu bewegen, ein engeres und konstruktiveres Verhältnis zu den Menschen in Europa aufzubauen und Wege zu finden, wie wir sie in das öffentliche Leben einbeziehen können. Vor allem im Euroraum sollten solide Formen der Konsultation zu konkreten Fragen unter Beteiligung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft gewährleistet sein, da diese Organisationen eine wichtige Rolle in unmittelbar von der WWU betroffenen Politikbereichen spielen. Oft beeinflussen sie auch die Politik auf nationaler Ebene. Unbeschadet der Rolle der Sozialpartner im sozialen Dialog kann der EWSA auf europäischer Ebene als Vermittler der Zivilgesellschaft agieren, der für die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft am Entscheidungsprozess in der EU verantwortlich ist, und zwar durch:

a)

ein Forum der organisierten Zivilgesellschaft zu konkreten Fragen, einschließlich der Bewertung der Grenzen der europäischen Integration und der Suche nach neuen Formen der Teilhabe,

b)

ein spezielles Forum für den Euroraum zur Bewertung der Zielbewusstheit und des Zugehörigkeitsgefühls als Mittel zur Überwindung von Vorurteilen und zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens,

c)

Stellungnahmen in Form prälegislativer Initiativen zu bestimmten Fragen, die für die Öffentlichkeit von besonderem Interesse sind und zu denen das EP und der Rat Rechtsvorschriften erlassen sollen.

5.   Rechtsinstrumente und Vertragsgegenstände

5.1.

Um laut Bericht der vier Präsidenten die vier Aspekte der Union — die den vom EWSA vorgeschlagenen vier Säulen (2) entsprechen — zu verwirklichen, können eine Reihe von Politiken oder Maßnahmen ohne Vertragsänderung umgesetzt werden (1. Spalte der untenstehenden Tabelle). Andere wiederum müssen gemeinsam auf europäischer Ebene (Euroraum) beschlossen werden, angefangen bei einem neuen Beschlussfassungsverfahren und neuen Instrumenten. Dabei kann auf die im Vertrag vorgesehene verstärkte Zusammenarbeit zurückgegriffen werden (2. Spalte der Tabelle). Ggf. sind Vertragsänderungen oder erforderlichenfalls ein neuer Vertrag für die WWU vonnöten (3. Spalte der Tabelle). Schließlich werden diese Etappen in der Tabelle zusammengefasst, und für die politische Säule der WWU werden Vorschläge vorgelegt, die die Institutionen und vorbereitende Initiativen betreffen (4. Spalte).

5.2.

Analyseraster für mögliche Schritte zur Vollendung der WWU (3)

(I) Politikbereiche nach geltendem Vertrag

(II) Verstärkte/strukturierte Zusammenarbeit Überleitungsklauseln (Artikel 136 AEUV)

(III) Über den Vertrag von Lissabon hinaus

Institutionelle Etappen zur Realisierung der politischen Säule: für den Euroraum und die Staaten, die dem Euroraum beitreten möchten

Finanz-, steuer- und geldpolitische Säule

Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)

Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion und des europäischen Aufsichtssystems

Finanzieller Beistand für einen in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedstaat (Art. 122 AEUV)

Durchführung der nationalen Reformprogramme

Finanz-, steuer- und geldpolitische Säule

Stärkung des ESM

Vervollständigung des Mandats der EZB

Gemeinsame Fiskalpolitik der WWU

(Fiskal-) und Haushaltsunion

Vergemeinschaftung der Schulden (oder nach Art. 125 AEUV?)

Solidaritäts- und Wettbewerbsmechanismus zur Abfederung von Ungleichgewichten und asymmetrischer Schocks (Fiskalunion)

Zahlungsbilanz WWU

Finanz-, steuer- und geldpolitische Säule

Eigenmittel

Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds als Schuldenagentur

Eurobonds für die Neuverschuldung

Steuerharmonisierung

1. Etappe

1.

Ständiger Vorsitzender der Eurogruppe

2.

Aufnahme der Arbeiten der interparlamentarischen Konferenz

3.

„Parlamentarisierung“ des Euroraums (Großer Ausschuss des EP mit allen Abgeordneten der WWU)

Wirtschaftliche Säule

Stärkung und Umsetzung des Juncker-Plans

Maßnahmen für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung

Eurobonds der EIB

Strategien zur Wissensverbreitung (Digitale Agenda)

Vollendung des Binnenmarkts (Energiebinnenmarkt, digitaler Binnenmarkt, Binnenmarkt für Forschung)

Flexibilität des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Bessere Durchführung des Europäischen Semesters und der vertraglichen Vereinbarungen (CCI)

Wirtschaftliche Säule

Regierung für makro- und mikroökonomische Fragen der WWU

Forschung und Innovation

Enge Koordinierung zwischen den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs des Euroraums, der Eurogruppe und der Arbeitsgruppe Euro

Neue Rechtsvorschriften für den Euroraum

Investitionen in soziale Infrastrukturen

Partizipative Demokratie in der Wirtschaft

Wirtschaftliche Säule

(Für den Fall, dass der WWU kein Mandat für die verstärkte Zusammenarbeit erteilt werden kann)

Hoher Vertreter der EU für die Wirtschafts- und Fiskalpolitik

Obligatorische Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (Änderung von Artikel 5 AEUV)

Mehrheitswahl für Maßnahmen im Bereich makro- und mikroökonomischer Politik im Mitentscheidungsverfahren mit dem Parlament (Parlamentarier der WWU)

Übertragung von Zuständigkeiten, angefangen bei Industrie und Energie

2. Etappe

4.

Rat (Legislative Angelegenheiten der WWU)

5.

Abstimmung der Parlamentarier im Euroraum über WWU-Fragen

6.

Eine Exekutive (Regierung) für die WWU (derzeitige Eurogruppe und Kommission)

7.

Stärkung der Befugnisse und Zuständigkeiten der interparlamentarischen Konferenz (EP und nationale Parlamente)

Soziale Säule — Rechte

Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention

Bildung und Ausbildung

Rahmenrichtlinie über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse

Berücksichtigung des Aspekts der Geschlechtergleichstellung

Entwicklungsindikatoren

Beitritt zur Sozialcharta des Europarates

Wahrung von Rechtsstandards

Horizontale Sozialklausel (Art. 9 AEUV)

Soziale Säule

Sozialpolitische Koordinierung

Harmonisierung der Sozialschutzsysteme

Einwanderungspolitik

Individuelle und grenzübergreifende Ruhegehaltsansprüche

Mindesteinkommen für alle Bürger

Europäische Kollektivgüter

Beschäftigungspolitische Maßnahmen

Arbeitsmarkt, Mobilität und Anerkennung von Qualifikationen

Qualität der öffentlichen Dienste

Soziale Säule

Mehrheitswahl bei Entscheidungen über sozial-, beschäftigungs-, bildungs- und gesundheitspolitische Maßnahmen

Änderung der Grundrechtecharta bezüglich der Grenzen der Eigentumsrechte

Übertragung einer Reihe von Befugnissen aus der Liste der unterstützenden Zuständigkeiten in die der geteilten Zuständigkeiten (insbesondere Bildung und Ausbildung)

3. Etappe

8.

Stärkung der Befugnisse des EP im Bereich WWU (demokratische Legitimität) und Schaffung echter gesamteuropäischer Parteien

9.

Staatenkammer (WWU) (Regierungen)

10.

Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive

11.

Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips

Politische Säule

Parlamentarisierung WWU

Großer Ausschuss (GA) (Parlamentarier des Euroraums)

Ständiger Vorsitzender der Eurogruppe

Rat (Legislative Angelegenheiten)

Interinstitutionelle Vereinbarungen

Umsetzung Nachbarschaftspolitik

Bilaterale und multilaterale Handelsvereinbarungen der EU

Politische Säule

Abstimmung der Parlamentarier im Euroraum über WWU-Fragen

Stärkung der interparlamentarischen Konferenz (Art. 13 des Fiskalpakts)

Europäische Verteidigung

Außenpolitik

Eine Stimme im UN-Sicherheitsrat

Außenvertretung der WWU

Europäische Staatsanwaltschaft

Europäisches Freiwilligenkorps für humanitäre Hilfe

Politische Säule

Neuer WWU-Vertrag

Europarlament (Parlamentarier WWU) mit permanenter verstärkter Zusammenarbeit (neuer Art. 136 AEUV)

Stärkung des EP (ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Initiativrecht bei Untätigkeit der Kommission)

Staatenkammer (Regierungen+)

Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips

Stark qualifizierte Mehrheit bei Vertragsänderungen

Europäische Exekutive (für WWU)

Europäische Parteien und Wahlprogramme und transnationale Listen

Gewaltenteilung

Außenpolitik

Die Initiativen

Vom EWSA/AdR in Zusammenarbeit mit dem EU-Ratsvorsitz und der Kommission organisierte Generalversammlungen der Zivilgesellschaft

Interparlamentarische Konferenz

Vorschläge des EP für weiteres Handeln ohne Änderung des Vertrags und für eine Überarbeitung des Vertrags von Lissabon

Verfassungskonvent

Abwägung der Möglichkeit eines europaweiten Referendums

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  „Vorbereitung der nächsten Schritte für eine bessere wirtschaftspolitische Steuerung im Euro-Währungsgebiet“ — analytischer Vermerk von Jean-Claude Juncker vom 12.2.2015, S. 1.

(2)  Auch auf der Grundlage der EWSA-Stellungnahme „Vollendung der WWU — nächste europäische Legislaturperiode“ (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 10).

(3)  Idem.


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Förderung von Kreativität, unternehmerischer Kompetenz und Mobilität in der allgemeinen und beruflichen Bildung“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 332/03)

Berichterstatterin:

Vladimíra DRBALOVÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Oktober 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Förderung von Kreativität, unternehmerischer Kompetenz und Mobilität in der allgemeinen und beruflichen Bildung.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 88 gegen 8 Stimmen bei 21 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt eine gemeinsame Initiative der Europäischen Kommission und des Dreiervorsitzes des Europäischen Rates mit dem Schwerpunkt auf unternehmerischer Kompetenz in der Bildung (1) sowie der Förderung einer unternehmerischen Einstellung in Europa.

1.2.

Der EWSA empfiehlt eine Rückkehr der Mitgliedstaaten zu dem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“) auf der Grundlage der nach wie vor gültigen Oslo-Agenda aus dem Jahr 2006.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten eigene Strategien für die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz in der Bildung entwickeln bzw. dieses Konzept in ihren nationalen Strategien für das lebenslange Lernen verankern.

1.4.

Der EWSA fordert die allmähliche Entwicklung von Schlüsselkompetenzen im Sinne der Definition der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates (2006) (2) mit dem Ziel, zu einer besseren Anpassungsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit, sozialen Inklusion und Mobilität beizutragen.

1.5.

Hochwertige Praktika, Ausbildungen, duale oder andere praxisorientierte Systeme, Start-ups und Inkubatoren-Programme, Freiwilligentätigkeit und sportliche Aktivitäten können den Übergang von der Schule ins Berufsleben bzw. in die selbstständige Erwerbstätigkeit erleichtern.

1.6.

Die Verfahren für die Anerkennung außerhalb der Schule erworbener Kenntnisse müssen verbessert werden, und Lernende, Lehrende und Arbeitgeber müssen in die Konzipierung der Anerkennungsprozesse eingebunden und durch diese motiviert werden (3).

1.7.

Die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz in der Bildung ist allerdings vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen und nicht nur des unternehmerischen Umfelds zu sehen. Auf unternehmerische Kompetenzen sollte in angemessener Weise auf allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung und lehrplanübergreifend bereits in jungen Jahren so abgehoben werden, dass sie kontinuierlich weiterentwickelt werden.

1.8.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, im Rahmen des Bezugsrahmens zu Schlüsselkompetenzen einen Bezugsrahmen für unternehmerische Kompetenz zu entwickeln. Dies würde zu einem unter den verschiedenen Bildungsebenen koordinierten Vorgehen und zur Berücksichtigung nichtformalen und informellen Lernens beitragen.

1.9.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, ein Programm für Lehrer, Ausbilder und Führungskräfte in Bildungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung und Vermittlung von unternehmerischer Kompetenz und Denkweise einzuführen. Die Bildungseinrichtungen sollten ihrerseits ein Lernumfeld bieten, das Unternehmergeist fördert und offen für die Einbindung weiterer Akteure ist.

1.10.

Der EWSA verweist auf die Bedeutung der Partnerschaft zwischen den verschiedenen Akteuren — staatlichen Verwaltungen, Schulen, Unternehmen, Arbeitsverwaltungen und Familien — und unterstreicht insbesondere die Rolle der Sozialpartner bei der Entwicklung von bedarfsgerechten fachlichen und Querschnittskompetenzen.

1.11.

Der EWSA appelliert an die Mitgliedstaaten, alle verfügbaren Programme und Instrumente zur Förderung von unternehmerischer Kompetenz in der allgemeinen und beruflichen Bildung, Kreativität, Innovation und Mobilität zu nutzen. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Erasmus+ angemessen zu unterstützen, damit alle Instrumente dieses Programms umfassend eingesetzt werden können.

2.   Der politische Rahmen auf europäischer Ebene

2.1.

Eine der in Anlage I zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 26./27. Juni 2014„Strategische Agenda für die Union in Zeiten des Wandels“  (4) genannten Prioritäten bezieht sich auf die Förderung der Entwicklung von Kompetenzen und der Entfaltung von Talenten und Lebenschancen für alle, indem die für die moderne Wirtschaft erforderlichen Kompetenzen und das lebenslange Lernen gefördert werden.

2.2.

Als Beitrag zur Halbzeitbilanz der Strategie Europa 2020 hat der italienische Ratsvorsitz (5) eine politische Debatte über die künftige Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Wachstumsagenda auf EU-Ebene und der nationalen Ebene angestoßen. Auch der lettische Ratsvorsitz wird die digitalen Möglichkeiten sowie die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz in der Bildung insbesondere auf der regionalen Ebene weiter fördern (6).

2.3.

Der Rat (Jugend, Bildung, Kultur und Sport) unterstrich in seinen Schlussfolgerungen vom 12. Dezember 2014 (7), dass unternehmerische Kompetenz und Bildung zu den Prioritäten der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum zählen. Die Entwicklung von Unternehmergeist kann für die Bürger für ihren beruflichen Werdegang wie auch ihren persönlichen Lebensweg von erheblichem Nutzen sein.

3.

Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der Schwerpunkt auf der unternehmerischen Bildung ist eine Rückkehr zur Oslo-Agenda „Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln in Europa“  (8) für raschere Fortschritte bei der Förderung von Unternehmergeist in der Gesellschaft sowie zu dem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“)  (9).

3.2.

Kreativität und Innovation sind entscheidend für die Entwicklung von Unternehmen und für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas. Investitionen in die allgemeine und berufliche Bildung zur Entwicklung von Kompetenzen haben ausschlaggebende Bedeutung für die Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Zunächst gilt es, den Erwerb von bereichsübergreifenden Schlüsselkompetenzen durch alle Bürger zu fördern, u. a. Computerkompetenz, Lernkompetenz, Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz sowie Kulturbewusstsein (10).

3.3.

Auch die Konferenz der Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (ABS) „Förderung von Start-up-Unternehmen zur Schaffung von Wachstum und Beschäftigung“ (11) zeigte deutlich auf, dass Bildung für unternehmerisches Denken vor dem Hintergrund des breiteren gesellschaftlichen Umfelds zu betrachten ist. Das unternehmerische Umfeld sollte indes auf die Förderung von Unternehmensneugründungen, den Bürokratieabbau und die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten ausgerichtet sein. Anreize für die Erwägung und die tatsächliche Durchführung einer Unternehmensneugründung sowie für den Ausbau von Unternehmen können wirkungsvoll mit anderen aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen verknüpft werden und müssen im Kontext eines weiter gefassten Rahmens für die Förderung und Entwicklung von Unternehmen gesehen werden.

3.4.

Die Überprüfung des „Small Business Act“ (12) bietet eine einzigartige Gelegenheit für eine stärkere Verknüpfung von Maßnahmen, die auf KMU und die Bildung für unternehmerisches Denken ausgerichtet sind, unter Nutzung aller verfügbaren Instrumente wie z. B. COSME. Einer der zehn Leitsätze für die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für KMU in der EU lautet: „Weiterqualifizierung und alle Formen von Innovation sollen auf der Ebene der KMU gefördert werden“.

4.   Schlüsselkompetenzen

4.1.

Mit der Aufnahme von Elementen der unternehmerischen Kompetenz in die allgemeine und berufliche Bildung sollte das Ziel verfolgt werden, allen Lernenden ungeachtet ihres Geschlechts, ihres sozioökonomischen Hintergrunds oder ihrer besonderen Bedürfnisse Gelegenheit zur Entwicklung der für die unternehmerische Kompetenz notwendigen Qualifikationen und Fähigkeiten zu geben.

4.2.

Neben Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen erfordert unternehmerische Kompetenz die allmähliche Entwicklung einer Reihe von Schlüsselkompetenzen im Sinne der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates aus dem Jahr 2006, die auch Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz sowie die Fähigkeit umfassen, Ideen in die Tat umzusetzen. Dies erfordert Kreativität, Innovativität und Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit, Projekte zu planen und durchzuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen.

4.3.

Fremdsprachliche Kompetenz ist von besonderer Bedeutung, um zu gewährleisten, dass die europäischen Bürger in der Lage sind, in ganz Europa zu reisen, zu arbeiten und zu lernen, und sie wird für junge Menschen zunehmend wichtiger (13).

4.4.

Digitales Unternehmertum ist in Zeiten des digitalen Binnenmarkts entscheidend für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, für innovative Ideen und für Cluster, die das Innovationstempo beschleunigen. Die EU muss einen politischen Rahmen zur Förderung von IKT-Kompetenzen entwickeln und die Mitgliedstaaten dazu anregen, voneinander zu lernen, wie sie mehr und besser qualifizierte Hochschulabsolventen mit IKT-Kompetenzen hervorbringen können, die den Bedürfnissen der Unternehmen gerecht werden.

4.5.

Das enorme Potenzial von Frauen muss erschlossen werden, und ihre besonderen Menschen- und Betriebsführungsqualitäten müssen erkundet werden. Die Mitgliedstaaten sollten in enger Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Akteuren Programme durchführen, die auf die Entwicklung von Unternehmen und unternehmerischen Kompetenzen sowie auf die Beteiligung von Unternehmen, die von Frauen geleitet werden, an den globalen Lieferketten ausgerichtet sind (14).

5.   Wie kann eine „unternehmerische Einstellung“ gefördert werden?

5.1.

Unternehmerische Kompetenz ist wichtig für das Leben im Allgemeinen sowie dafür, die Menschen zu befähigen, ihre Zukunft eigenständiger zu gestalten. Auf unternehmerische Kompetenzen sollte in angemessener Weise auf allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung und lehrplanübergreifend bereits in jungen Jahren so abgehoben werden, dass sie kontinuierlich weiterentwickelt werden.

5.2.

Alle Schülerinnen und Schüler sollten die Möglichkeit erhalten, Praktika zu absolvieren, um diese Kompetenzen zu erwerben; die Instrumente, die zur Bewertung der Fortschritte und für den Nachweis des Erwerbs von unternehmerischen Kompetenzen entwickelt wurden, sollten sich auf die Verbesserung der Qualität künftiger Praktika konzentrieren. Ein gutes Beispiel ist ein finnisches Arbeitsprogramm, das auf verschiedenen Bildungsebenen eine praxisorientierte Ausbildung bietet: „Yrittäjyyskasvatus“  (15).

5.3.

Die Vermittlung von unternehmerischer Kompetenz wird definiert als gesammelte formalisierte Lerninhalte, die der Information, Unterrichtung und Ausbildung aller dienen, die zur sozioökonomischen Entwicklung beitragen wollen über ein Projekt zur Förderung unternehmerischen Denkens und Handelns, der Gründung von Unternehmen oder des Ausbaus kleiner Unternehmen (16).

5.3.1.

Europa setzt heute seine gesamte Hoffnung auf die Förderung und den Ausbau dualer Systeme und ähnlicher Formen praxisorientierten Lernens. Die Mitgliedstaaten mit solchen Systemen erzielen damit langfristig gute Ergebnisse, und ihre Jugendarbeitslosigkeit liegt unter dem EU-Durchschnitt.

5.3.2.

Praktika sind ein wichtiges Instrument, um Arbeitslosigkeit und das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage anzugehen und für einen sicheren Übergang von der Schule bzw. Universität in die Arbeitswelt zu sorgen. Die Integration von Praktika in Studienpläne sollte stärker unterstützt werden (17).

5.3.3.

Praktika, die unternehmerisches Denken bei Arbeitnehmern und von Arbeitnehmern ausgehendes/soziales Unternehmertum fördern sollen, können als erfolgreiche Beispiele für ein System der Arbeitnehmerbeteiligung gesehen werden, um die wirtschaftlichen und sozialen Ziele der Organisationen und Unternehmen, für die sie arbeiten, zu erreichen.

5.3.4.

Über Freiwilligentätigkeit können wertvolle Kompetenzen erworben werden. Jugendorganisationen sind die wichtigsten Bildungsträger, die eine nicht-formale Bildung anbieten. Über ihre Bildungsprogramme tragen sie zur Entwicklung einer Reihe von Querschnittskompetenzen bei, wie etwa Teamarbeit, Sozialkompetenz, Eigeninitiative und Risikobereitschaft. Junge Menschen können in einem im Gegensatz zur realen Geschäftswelt geschützten Umfeld aus ihren Fehlern lernen.

5.4.

2012 veröffentlichte die Europäische Kommission den Bericht „Entrepreneurship Education at School in Europe“  (18), dessen Schwerpunkt auf nationalen Strategien, Lehrplänen und Lernergebnissen lag. Unternehmerische Kompetenz in der allgemeinen und beruflichen Bildung wird in den meisten europäischen Ländern gefördert, und das über verschiedene Ansätze: 1) Spezifische Strategien/Aktionspläne, die ganz auf die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz ausgerichtet sind, 2) weiter gefasste bildungs- oder wirtschaftspolitische Strategien, die Ziele für die Bildung für unternehmerisches Denken umfassen, 3) einzelne oder mehrere Initiativen für die Bildung für unternehmerisches Denken.

5.5.

Nicht alle Menschen sind geborene Geschäftsleute. Unternehmerisches Denken eröffnet ihnen nur weitere Optionen für ihren beruflichen Werdegang und ihren persönlichen Lebensweg. Jedoch sollten diejenigen gefördert werden, die unternehmerisches Talent und den Mut haben, ihre unternehmerischen Ideen in die Tat umzusetzen.

5.5.1.

Gründerzentren sind Zentren für Innovation und unternehmerische Tätigkeit. Sie sind bei vielen Hochschulen und Universitäten angesiedelt und bieten Studierenden ein sicheres Umfeld und professionelle Beratung bei der praktischen Umsetzung ihrer Geschäftsideen sowie beim Eingehen von Risiken, ohne Angst vor einem Scheitern haben zu müssen. Studierende wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten mit einem Gründerzentrum können auf einem direkteren Weg ein Unternehmen (mit-)gründen.

5.5.2.

Unternehmerische Kompetenz kann auch über Qualifizierungsprogramme erworben werden, die außerhalb der Bildungssysteme angeboten werden. Solche Programme können Coaching und Mentoring durch erfahrene Ausbilder, Unternehmer und Wirtschaftsfachleute umfassen. Sie bieten potenziellen Unternehmern nicht nur wertvolles betriebswirtschaftliches Know-how, sondern ermöglichen ihnen auch, Kontakte zu bestehenden Unternehmen und Unternehmern aufzubauen.

5.5.3.

Industrie- und Handelskammern in ganz Europa bieten Schulungen für unternehmerische Kompetenz an, die die gesamte Vielfalt an Lehren und Verfahren aufzeigen, die den Menschen dabei helfen, Geschäftsideen zu verwirklichen und ein Unternehmen zu gründen, die erforderlichen Ressourcen zu ermitteln und zu beschaffen und die mit der Unternehmung verbundenen Risiken einzugehen: Entrepreneurial Skills Pass (Österreich) (19), Startup@Campus (Belgien) (20), Incuba‘ school (Frankreich), Lange Nacht der Startups (Deutschland) (21), Tag der Jungunternehmer (Spanien) und Bright & Young (Belgien) (22).

5.6.

Interessenträger und zivilgesellschaftliche Organisationen können eine Schlüsselrolle übernehmen, indem sie einen wirksamen Beitrag zur Durchführung und Umsetzung von Initiativen zur Förderung von Unternehmergeist und einer unternehmerischen Einstellung leisten. Ein Beispiel ist die finnische Stiftung „Startup Sauna“ (23), die von finnischen Unternehmern in Zusammenarbeit mit verschiedenen staatlichen Akteuren ins Leben gerufen wurde.

6.   Wie können unternehmerische Kompetenzen anerkannt und transparenter gemacht werden?

6.1.

Die anhaltenden Probleme im Zusammenhang mit der Anerkennung und Transparenz von Kompetenzen und Qualifikationen bilden ein Hindernis für die Entwicklung der richtigen Mischung aus Kompetenzen und Qualifikationen sowie für die Mobilität, die für eine bessere Abstimmung zwischen Qualifikationen und dem Arbeitsplatzangebot und für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wohlstands erforderlich ist.

6.2.

Auf europäischer Ebene wurden verschiedene Instrumente entwickelt, um die Zusammenarbeit durch die Anerkennung und Transparenz von Qualifikationen und Kompetenzen zu erleichtern, die über die berufliche und die Hochschulbildung in der gesamten EU erworben wurden (24).

6.3.

Zusätzlich zu diesen Instrumenten soll mit verschiedenen Initiativen das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage überwunden werden: mit der europäischen Klassifizierung für Fähigkeiten/Kompetenzen, Qualifikationen und Berufe (ESCO) und dem Kompetenzpanorama. Für die Förderung der Mobilität gibt es ferner den Europass-Rahmen, d. h. den Europass-Lebenslauf und den Europäischen Qualifikationspass, und die vor Kurzem erfolgte Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen (25).

6.4.

Eine stärkere Kohärenz zwischen dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), dem Europäischen System zur Anrechnung von Studienleistungen (ECTS) bzw. dem Europäischen Leistungspunktesystem (ECVET) sowie der mehrsprachigen europäischen Klassifizierung für Fähigkeiten/Kompetenzen, Qualifikationen und Berufe (ESCO) würde zur Anerkennung von Qualifikationen, zur Validierung von nichtformalem und informellem Lernen und zur lebenslangen Berufsorientierung beitragen. Dieser Prozess muss kohärent bleiben und sollte von einer Evaluierung der verschiedenen beteiligten Instrumente begleitet werden, um deren Wirksamkeit zu gewährleisten.

6.5.

Zudem wird in der Mitteilung „Neue Denkansätze für die Bildung“ (26) darauf hingewiesen, dass die Kompetenzen, die Menschen außerhalb der Schule erworben haben, anerkannt, bewertet und validiert werden müssen, um so ein Qualifikationsprofil für potenzielle Arbeitgeber zu erstellen. Die Anerkennung von Kompetenzen, die nicht im Rahmen des formalen Lernens erworben wurden, ist bei Einstellungsverfahren wichtig — die Last der Bewertung und Validierung solcher Kompetenzen sollte jedoch nicht nur dem jeweiligen Arbeitgeber auferlegt werden.

6.6.

Außerdem sind Politiken und Rahmen zur Förderung der Übertragbarkeit von Qualifikationen in der Regel mit bestehenden EU-Rechtsvorschriften verknüpft, und auf der Ebene der Mitgliedstaaten gibt es verschiedene nationale Initiativen für die Validierung früherer Lernerfahrungen. Eine systematische Auswertung und Beobachtung solcher nationalen Initiativen sollte darauf abzielen, bewährte Verfahren zu ermitteln und das wechselseitige Lernen sowie gemeinsame Grundsätze zu fördern (27).

6.7.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission, im Rahmen des Bezugsrahmens zu Schlüsselkompetenzen einen Bezugsrahmen für unternehmerische Kompetenz zu entwickeln, der die einzelnen Bestandteile von Kompetenzen auf der Grundlage der Deskriptoren und Niveaus für die Lernergebnisse des EQR aufschlüsselt. Dies wird zu einem unter den verschiedenen Bildungsebenen koordinierten Vorgehen und zur Berücksichtigung nichtformalen und informellen Lernens beitragen.

6.8.   Der EWSA möchte die beiden folgenden gemeinsamen Initiativen der Europäischen Kommission und der OECD lobend erwähnen:

1.

Entrepreneurship360  (28): Mit dieser Initiative soll der Unternehmergeist an Schulen, Berufsschulen und in berufsbildenden Einrichtungen gefördert werden; sie bietet ein frei zugängliches Selbstbewertungsinstrument, das Einrichtungen und einzelne Lehrkräfte unterstützt, indem es ihre Strategien und Praktiken zur Förderung von unternehmerischer Initiative unterstützt; und das

2.

Online-Instrument HEInnovate, das Hochschuleinrichtungen dabei unterstützt, eine stärker unternehmerische und innovative Einstellung im internationalen Kontext zu fördern (29).

7.   Die Rolle von Lehrkräften, Ausbildern und Führungskräften in den Bildungseinrichtungen

7.1.

Lehrkräften und Ausbildern kommt eine entscheidende Funktion als Wissensvermittler und Multiplikatoren von Ideen zu. Die Einbeziehung neuer Lern- und Lehrverfahren in die Unterrichtspraxis ist keine leichte Aufgabe: sie erfordert qualifizierte und motivierte Lehrer, die diesen Prozess vorantreiben (30). Sie müssen alternative und nichtformale Bildungsansätze fördern und bei den individuellen Voraussetzungen ansetzen.

7.1.1.

Die Qualität von Lehrkräften und Mentoren ist ausschlaggebend für den Erfolg und die Wirksamkeit der Programme für die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz. Diesbezüglich schätzen potenzielle Unternehmer in der Frühphase ihres Wirtschaftslebens vor allem die Erfahrung und das Wissen von z. B. erfahrenen Lehrkräften und erfahreneren Unternehmern, die ihre eigenen Erfahrungen einbringen können (31).

7.1.2.

Ein Beispiel für die Wirksamkeit von Programmen für den Aufbau unternehmerischer Kompetenz ist das Programm der irischen nationalen Stiftung für die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz (Irish National Foundation for Teaching Entrepreneurship) (32), das Intensivschulungen für Ausbilder bietet, um Lehrkräfte der Sekundarstufe und Jugendbetreuer mit den erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen auszustatten, die sie befähigen, jungen Menschen unternehmerische Kompetenz zu vermitteln. Erfolgreiche Absolventen dieses Programms erhalten eine Qualifikation als „Certified Entrepreneurship Trainer“ (CET).

7.1.3.

Ein weiteres Beispiel ist das niederländische Aktionsprogramm für unternehmerische Kompetenz in der Bildung (33), das auf die Förderung von Unternehmergeist und unternehmerischem Denken bei Schülerinnen und Schülern abzielt, indem unternehmerische Kompetenz und Fertigkeiten im niederländischen Bildungssystem verankert werden. Das Programm besteht aus verschiedenen Modulen und Komponenten, die ein breites Spektrum an Tätigkeiten bieten sollen, um die unternehmerische Kompetenz von Schülerinnen und Schülern in den verschiedenen Phasen ihrer schulischen Laufbahn zu entwickeln; außerdem hält es Schulungen für Lehrkräfte bereit, die ihnen die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz im Unterricht erleichtern soll.

7.2.

Lehrkräfte, Ausbilder und Führungskräfte in den Bildungseinrichtungen sollten danach streben, ihre eigene Kreativität und innovative Ansätze zu entwickeln, während die Schulen ein Lernumfeld bieten sollten, das den Unternehmergeist fördert und offen für die Einbindung weiterer Akteure ist.

7.3.

Im Juni 2013 veröffentlichte die Kommission einen Leitfaden für Ausbilder  (34), der eine Liste mit Grundprinzipien für unternehmerisch orientierte Lehrkräfte zur Bewertung qualitativer Lernergebnisse, fächerübergreifendes Lernen, Erstausbildung sowie Weiterbildung von Lehrkräften, Mentoringprogramme, Innovation bei der Vermittlung unternehmerischer Kompetenzen sowie Kernbotschaften aus Praxisbeispielen enthält.

7.3.1.

Unternehmerisch orientierte Lehrerausbildungseinrichtungen sollten ein klares pädagogisches Konzept entwickeln, um Lehrern auch die Fähigkeiten mitzugeben, die sie für die Wissensvermittlung für den Arbeitsmarkt benötigen. Bildung, die unternehmerisches Denken und Handeln fördert, muss querschnittsmäßig und fächerübergreifend in den Studiengang einbezogen werden.

7.3.2.

Ausbildungsprogramme für unternehmerisch orientierte Lehrkräfte sollten angehende Lehrer dazu motivieren, ihre eigenen unternehmerischen Kenntnisse, Kompetenzen und Denkweisen auszubauen.

7.3.3.

Die Entwicklung frei zugänglicher und offener digitaler Instrumente und freier und offener Online-Instrumente, mit denen unternehmerische Kompetenzen erworben werden können, sollte unterstützt werden, und außerdem sollten denkbare Formen der Zusammenarbeit mit der Open-Source-Gemeinschaft zur Förderung frei zugänglicher Unternehmensinstrumente sowie der Ausbildung für diese Instrumente ausgelotet werden.

7.3.4.

Die Mobilität von Ausbildern in ganz Europa ist vor allem in der Hochschulbildung wichtig, über das EU-Programm für lebenslanges Lernen und/oder andere Instrumente, die speziell für diesen Zweck konzipiert wurden. In Europa sind mehr Mobilität und ein stärkerer Austausch von Erfahrungen erforderlich, und zwar nicht nur zwischen Hochschulen und Universitäten, sondern ggf. auch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Es müssen Programme entwickelt werden, die Ausbildern einen Aufenthalt an einer anderen Einrichtung und/oder im Privatsektor ermöglichen, damit sie wirklich interagieren, lernen und sich entwickeln können.

8.   Der Grundsatz der Partnerschaft

8.1.

Maßnahmen für unternehmerische Kompetenz im Bildungsbereich sollten in Abstimmung mit den Unternehmen geplant werden, um sicherzustellen, dass die Absolventen mit den erforderlichen Kompetenzen ausgestattet werden, um erfolgreich sein zu können. Die Unternehmen sollten ermuntert werden, sich verstärkt an der Ausbildung von Managern und Arbeitnehmern in den Bereichen unternehmerische Kompetenz, Zusammenarbeit und Mitwirkung im Management ihrer Organisation zu beteiligen. Die Unternehmen sollten ihre Beschäftigten auch für die erforderlichen Kompetenzen und neue Kenntnisse sowie für die Entscheidungsfindung unter Arbeitsbedingungen schulen, die ihnen einen Zugang zu diesen Schulungsprogrammen ermöglichen. Außerdem sollten sie mit dem Bildungssektor zusammenarbeiten, damit junge Menschen etwas über den Arbeitsmarkt lernen und ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt finden.

8.2.

Die Verbindung zwischen Gewerkschaften und jungen Menschen ist im Ausbildungsbereich besonders wichtig. Gewerkschaften können sich an der Ausbildung von jungen Menschen in anderen Arbeitsumfeldern als Schulen oder Bildungseinrichtungen beteiligen. Die erfahrensten und qualifiziertesten Arbeitskräfte können mit jungen Arbeitnehmern, Auszubildenden und Praktikanten/Freiwilligen als Mentoren und Tutoren arbeiten oder Lehrer an berufsbildenden Einrichtungen werden. Diese Verbindungen zu Unternehmen sind wichtig, um jungen Menschen Wissen über den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbeziehungen zu vermitteln. Lehrergewerkschaften sind eine wichtige Ressource für eine sinnhafte Politikgestaltung auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung, der direkte Kontakt zu Unternehmen ist jedoch von entscheidender Bedeutung.

8.3.

Vor allem müssen im Kontext der Sozialpartnerschaft die Arbeitgeber und die Arbeitnehmerorganisationen an der Gestaltung der nationalen Strategien für lebenslanges Lernen und der Maßnahmenprogramme für die Umsetzung der Jugendgarantie beteiligt werden. Der EWSA begrüßt den neuen Aktionsrahmen für die Beschäftigung junger Menschen (35), der von den europäischen Sozialpartnern ausgearbeitet wurde.

8.4.

Es ist unbedingt darauf zu achten, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft eingebunden werden. Auf diese Weise könnten sich die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen (mit Schwerpunkt auf Frauen, jungen Menschen, Familien, Menschen mit Behinderungen, Migranten, Minderheiten und anderen Gruppen) wirksamer auf die Bedürfnisse und Prioritäten der spezifischen Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt konzentrieren.

8.5.

Die Familie spielt auch weiterhin eine wichtige Rolle, wie der Ausschuss bereits in einer früheren Stellungnahme hervorhob (36).

9.   Effektive Nutzung vorhandener und neuer Programme

9.1.

Erasmus+  (37), ein neues Programm der Kommission für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport 2014-2020, soll Kompetenzen und Beschäftigungsfähigkeit verbessern und die Modernisierung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung und der Kinder- und Jugendhilfe voranbringen. Das auf sieben Jahre angelegte Programm ist mit Mitteln in Höhe von 14,7 Mrd. EUR ausgestattet, was einer Aufstockung um 40 % gegenüber dem derzeitigen Ausgabenniveau entspricht und das Engagement der EU für Investitionen in diese Bereiche widerspiegelt. Erasmus+ wird mehr als vier Millionen Europäerinnen und Europäern die Möglichkeit geben, im Ausland zu studieren, Arbeitserfahrung zu sammeln oder eine Freiwilligentätigkeit auszuüben. Dies ist ein wichtiger Schritt nach vorne mit umfassenden Möglichkeiten, die Erasmus+ bei der Unterstützung der Vermittlung von unternehmerischer Kompetenz bietet, beispielsweise durch Ermutigung zur Ausweitung von Kooperationen zwischen Bildung und Wirtschaft in Wissensallianzen für die Hochschulbildung und in Allianzen für branchenspezifische Fertigkeiten für die berufliche Aus- und Weiterbildung.

9.2.

Weitere Programme und Instrumente zur Förderung von unternehmerischer Kompetenz in der Bildung in der EU sind: der ESF  (38) , ESCO — die Europäische Klassifizierung für Fähigkeiten/Kompetenzen, Qualifikationen und Berufe  (39) , COSME  (40) , Horizont 2020  (41) , die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen  (42) und Kreatives Europa  (43).

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe die Definition in Ziffer 5.3.

(2)  Empfehlung vom 18. Dezember 2006, ABl. L 394 vom 30.12.2006, S. 10.

(3)  ABl. C 214 vom 8.7.2014, S. 31.

(4)  EUCO 79/14, S. 15.

(5)  Programm des italienischen Ratsvorsitzes „Europe — A fresh start“, S. 72.

(6)  Konferenz des lettischen Ratsvorsitzes, 11./12. Februar 2015 in Riga: „Entrepreneurship in regions to strengthen the European Union’s competitiveness“.

(7)  Schlussfolgerungen des Rates zur unternehmerischen Kompetenz in der allgemeinen und beruflichen Bildung vom 12. Dezember 2014, ABl. C 17 vom 20.1.2015, S. 2.

(8)  Oslo-Agenda „Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln in Europa“, 2006. http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/promoting-entrepreneurship/education-training-entrepreneurship/policy-framework/2006-conference/index_en.htm

(9)  Schlussfolgerungen des Rates vom 12. Mai 2009 zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“) — ABl. C 119 vom 28.5.2009, S. 2.

(10)  Gemäß dem strategischen Ziel 4 (ET 2020): Förderung von Innovation und Kreativität — einschließlich unternehmerischen Denkens — auf allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung in den Schlussfolgerungen des Rates vom 12. Mai 2009.

(11)  35. Sitzung der Arbeitsmarktbeobachtungsstelle des EWSA, 13. November 2014.

(12)  COM(2008) 394 final.

(13)  Strategischer Rahmen der Europäischen Kommission: 1) im Jahr 2002 von den Staats- und Regierungschefs vereinbartes Barcelona-Ziel und 2) von Staat und Regierung. Die Mitteilung aus dem Jahr 2008 „Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, aber auch gemeinsame Verpflichtung“ enthält einen Überblick über die Tätigkeiten der Kommission in diesem Bereich.

(14)  Research Report 2013, Entrepreneurs: What can we learn from them? Teil 2/3 — Inspiring female entrepreneurs. CIPD (Chartered Institute of Personnel and Development).

(15)  Finnisches Bildungsministerium (2009), Leitlinien für unternehmerische Kompetenz in der allgemeinen und beruflichen Bildung, Helsinki.

Finnisches Arbeits- und Wirtschaftsministerium (2012), Entrepreneurship review 2012.

(16)  Siehe die Definition der Unesco und von UNEVOC.

(17)  ABl. C 214 vom 8.7.2014, S. 36.

(18)  Eurydice, April 2012, Entrepreneurship education at school in Europe.

(19)  Entrepreneurial Skills Pass, Österreich.

(20)  Startup@Campus (Belgien).

(21)  Lange Nacht der Startups (Deutschland).

(22)  Bright & Young (Belgien).

(23)  Teknologiateollisuus (2012), Uusi Startup-säätiö vauhdittamaan suomalaisia kasvuyrityksiä, Helsinki.

(24)  Ein zentrales Instrument ist der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR), der alle Qualifikationsarten und -stufen betrifft; zu den Instrumenten der beruflichen Bildung zählen das Europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) und der Europäische Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (EQAVET). Instrumente für die Hochschulbildung umfassen u. a. die Europäischen Standards und Leitlinien für Qualitätssicherung in der Hochschulbildung (ESG) und das Europäische System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen (ECTS).

(25)  Richtlinie 2013/55/EU.

(26)  COM(2012) 669 final.

(27)  Auf der Grundlage des bevorstehenden Berichts von Eurofound (2015) „Youth Entrepreneurship in Europe“, EF 1507.

(28)  Das Projekt Entrepreneurship360 der OECD.

(29)  HEInnovate.

(30)  ABl. C 214 vom 8.7.2014, S. 31.

(31)  Auf der Grundlage des bevorstehenden Berichts von Eurofound (2015) „Youth Entrepreneurship in Europe“, EF 1507.

(32)  Programm der NFTE.

(33)  Programme Voortgangsrapportage Programma onderwijs en ondernemerschap und Landbouw en Innovatie, Brief Onderwijs en Ondernemerschap.

(34)  Der „Leitfaden für Ausbilder — Erziehung zu unternehmerischem Denken und Handeln“ wurde von ICF GHK für die Europäische Kommission, GD Unternehmen und Industrie erstellt.

(35)  Framework of Action on Youth Employment.

(36)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 1.

(37)  Erasmus+, ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 50.

(38)  ESF.

(39)  ESCO.

(40)  http://ec.europa.eu/cip/cosme/index_en.htm

(41)  http://ec.europa.eu/research/horizon2020/index_en.cfm?pg=home&video=none

(42)  COM(2013) 144 final.

(43)  Kreatives Europa.


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine EU-Industriepolitik für die Lebensmittel- und Getränkebranche“

(2015/C 332/04)

Berichterstatter:

Ludvik JÍROVEC

Ko-Berichterstatter:

Edwin CALLEJA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Lebensmittel- und Getränkebranche.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 151 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Schlussfolgerungen

1.1.1.   Trends

Bis 2050 werden eine wachsende und alternde Bevölkerung, Verstädterung und zunehmende Ungleichheit zu den wichtigsten demografischen Trends gehören. „Bis 2050 wird die Weltbevölkerung 9,1 Mrd. erreichen und damit um 34 % über dem heutigen Stand liegen. Fast der gesamte Bevölkerungszuwachs wird in den Entwicklungsländern stattfinden. Die Verstädterung wird beschleunigt voranschreiten, rund 70 % der Weltbevölkerung wird in Städten leben (gegenüber derzeit 49 %). Um den damit einhergehenden höheren Bedarf decken zu können, muss die Lebensmittelproduktion (ohne die für Biokraftstoff verwendeten Lebensmittel) allerdings um 70 % zunehmen“ (1).

1.1.2.   Die Rolle der europäischen Lebensmittel- und Getränkebranche

Die europäische Lebensmittel- und Getränkebranche wird ihre Entwicklungsstrategie in einem Umfeld konzipieren müssen, das durch bescheidenes Wirtschaftswachstum, weniger natürliche Ressourcen, strukturell hohe Rohstoff- und Energiepreise sowie einen schwierigen Zugang zu Kapital geprägt sein wird. Innovation wird das entscheidende Element für ihre Wettbewerbsfähigkeit sein.

Vor diesem Hintergrund muss die Branche für die Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen gerüstet werden. In dieser EWSA-Stellungnahme werden zentrale Politikbereiche ins Visier genommen, in denen gehandelt werden muss, um ein unternehmensfreundlicheres Umfeld zu schaffen. Dadurch sollte der Lebensmittel- und Getränkebranche nachhaltiges Wachstum, Innovation und die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht werden, während sie die Verbraucher weiterhin mit sicheren, nahrhaften, hochwertigen und erschwinglichen Lebensmitteln versorgt.

1.1.3.   Die Forderung nach einer branchenspezifischen Industriepolitik für die europäische Lebensmittel- und Getränkebranche

Der EWSA spricht sich nachdrücklich für eine branchenspezifische Industriepolitik für die europäische Lebensmittel- und Getränkebranche aus, die auf deren besondere Erfordernisse zugeschnitten ist. Seiner Ansicht nach kann dies durch eine Verlängerung des Mandats des Hochrangigen Forums für die Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette für den Zeitraum 2015-2019 erreicht werden, dessen Mandat am 31. Dezember 2014 endete.

1.2.   Empfehlungen

Der EWSA weist die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf die nachstehende Prioritätenliste für die weitere Entwicklung der europäischen Lebensmittel- und Getränkebranche hin. Außerdem macht er die in dieser Branche tätigen Unternehmen auf die von ihrer Seite notwendigen Initiativen und Maßnahmen aufmerksam.

1.2.1.   Fortschritte bei der Vollendung des Binnenmarkts

Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten sollten auf die Vollendung eines Binnenmarktes hinarbeiten, der den freien Verkehr von Lebensmittel- und Getränkeprodukten sicherstellt. Dies ist eine Voraussetzung für die Verbesserung der Wettbewerbsleistung der Lebensmittel- und Getränkeunternehmen in der EU, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise zusätzliche Rechtsvorschriften, sondern Maßnahmen für eine bessere Umsetzung der bestehenden Bestimmungen.

Die Kommission sollte die Fortschritte kartieren und überwachen in Bezug auf:

das laufende REFIT-Programm unter Federführung der Kommission, das zur Vollendung des Binnenmarkts für Lebensmittel beitragen sollte, wobei allerdings die derzeitigen Standards bei den Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer nicht aus den Augen verloren werden sollten;

die jüngste GAP-Reform, die so umgesetzt werden muss, dass sie keine Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten bewirkt und Anreize für eine nachhaltige Produktion schafft;

die Europäische Ausbildungsallianz, deren Umsetzung von den Mitgliedstaaten voll unterstützt werden muss.

1.2.2.   Erleichterung des weltweiten Handels mit Lebensmitteln und Getränken

Im Einklang mit seiner Stellungnahme vom 4. Januar 2010 zum Thema Handel und Ernährungssicherheit (2) weist der EWSA darauf hin, dass die Ernährungssicherheit auch weiterhin ein Hauptziel bei den laufenden weltweiten Handelsverhandlungen sein muss.

Die EU-Verhandlungsstrategien auf internationaler Ebene sollten auf die Abschaffung der Zölle auf EU-Ausfuhren und die Erleichterung des Handels durch die Umsetzung international anerkannter Standards in den Ländern mit dem größten Expansionspotenzial im Handel abzielen. Die Kommission sollte

einen positiven Abschluss noch schwebender wichtiger EU-Handelsabkommen (insbesondere mit den USA, Japan und südasiatischen Partnern) anstreben, da diese für die Lebensmittel- und Getränkeproduzenten in der EU erhebliche Vorteile bringen können;

die Umsetzung der geltenden Handelsabkommen überwachen;

sich um eine bessere Koordinierung zwischen bilateralen und multilateralen Abkommen bemühen;

eine auf Gegenseitigkeit beruhende Behandlung sowohl beim Abbau von Zollschranken als auch bei der Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse sicherstellen und die Einhaltung der geltenden EU-Standards im Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz gewährleisten.

Die Europäische Kommission sollte ihre Unterstützung für die stärkere Internationalisierung der KMU intensivieren. Öffentliche Unterstützung ist auch weiterhin von entscheidender Bedeutung, um

günstige Ausfuhrbedingungen durch den Abbau von Handelshemmnissen zu schaffen;

den Zugang zur Handelsfinanzierung (Exportkredite und -versicherungen) zu erleichtern;

Exportförderung auf der Grundlage von öffentlich-privater Zusammenarbeit zu unterstützen;

Informationen über die Einfuhranforderungen in Drittländern zu sammeln und den KMU-Verbänden zu übermitteln.

1.2.3.   Eigene Initiativen der Lebensmittel- und Getränkebranche zur Stärkung der Humanressourcen und Konsolidierung der Beschäftigung

Die Branche muss dringendst ihr Image insbesondere bei jungen Menschen verbessern. Die erforderliche Einstellung höher qualifizierter Arbeitskräfte sollte unterstützt werden mittels

besserer branchenspezifischer, in sämtlichen Mitgliedstaaten verfügbarer Arbeitsmarktinformationen, um das Problem der asymmetrischen Information zwischen Arbeitgebern und potenziellen Arbeitnehmern zu lösen sowie Missverhältnisse zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage zu ermitteln und zu beheben;

regelmäßiger Überprüfung der Studiengänge in höheren Bildungseinrichtungen unter Einbeziehung von Vertretern der Lebensmittel- und Getränkebranche, um eine bedarfsgerechte Berufsausbildung auf Dauer zu gewährleisten;

Öffnung der Ausbildungsprogramme für alle neu eingestellten Beschäftigten der Lebensmittel- und Getränkebranche, nicht nur für junge Menschen. Dies ist besonders wichtig, um das Potenzial weiblicher Wiedereinsteiger oder älterer Arbeitnehmer auf der Suche nach beruflicher Veränderung freizusetzen;

geeigneter Mittel und Ressourcen für Berufsbildung und lebenslanges Lernen, um über qualifizierte Arbeitskräfte zu verfügen. Der soziale Dialog ist dabei ein wesentliches Element.

Der EWSA ruft zur Errichtung einer Wissens- und Innovationsgemeinschaft (KIC) in der Lebensmittel- und Getränkebranche auf, da dies nicht nur eine wichtige Verpflichtung zur Erhöhung der FuE-Investitionen bis 2020 bedeutet, sondern auch maßgeblich zur Steigerung von Beschäftigung und Wachstum beiträgt.

Der EWSA weist außerdem auf die Bedeutung folgender Faktoren hin:

Schutz der europäischen Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte;

vollständige und wirksame Ratifizierung, Umsetzung und Durchsetzung der grundlegenden ILO-Standards;

europäische Qualitätsnormen in der Lebensmittel- und Getränkebranche.

1.2.4.   Gewährleistung einer nachhaltigen Lebensmittelversorgungskette

Der EWSA möchte nochmals betonen, dass es von Vorteil ist, die Maßnahmen zur Förderung von Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch eng mit dem Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa (3) zu verknüpfen, und ermuntert die Mitgliedstaaten, diese Maßnahmen mithilfe des Fahrplans und des europäischen Semesters (4) umzusetzen. Der EWSA würde daher einen umfassenden Plan zur Verwirklichung einer nachhaltigen Lebensmittelversorgungskette begrüßen. Der EWSA ruft die Kommission auf, eine Mitteilung zur Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme anzunehmen.

Der EWSA sollte auf der EXPO in Mailand intensive Öffentlichkeitsarbeit für die Empfehlungen dieser und anderer Stellungnahmen betreiben, die in den letzten Monaten zum Thema Lebensmittel abgegeben wurden.

1.2.5.   Lebensmittelverschwendung

Der EWSA bekräftigt die Aussage in seiner früheren Stellungnahme (5) bezüglich der Notwendigkeit einer Definition, einer gemeinsamen und global abgestimmten EU-Methodik zur Quantifizierung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung, einschließlich Recycling und Verwertung unverkaufter Lebensmittel. Er ist jedoch der Auffassung, dass unverzüglich etwas getan werden muss, ohne die Ergebnisse derzeit laufender Forschungsprojekte auf europäischer und internationaler Ebene abzuwarten. Notwendig sind u. a. Maßnahmen zur Sensibilisierung für Lebensmittelverschwendung über die gesamte Lebensmittelkette hinweg sowie ein Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung bewährter Verfahren.

Eine künftige Industriepolitik für die Lebensmittel- und Getränkebranche sollte einen ausgewogenen Ansatz widerspiegeln und der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung Rechnung tragen: Die Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung sollten auf die gesamte Lebensmittelkette vom Erzeuger zum Verbraucher abzielen.

Gründlich untersucht werden sollten auch die Steuerpolitik (MwSt.) sowie die Koordinierung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung von Spenden an Lebensmittelbanken als ein Mittel zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung.

1.2.6.   Faire Praktiken in der Versorgungskette

Der EWSA plädiert weiterhin für einen Kulturwandel bei den Geschäftspraktiken, um zu fairen Handelspraktiken über die gesamte Lebensmittelkette gemäß der Forderung in seiner Stellungnahme vom 9. Mai 2013 (6) zu gelangen; er begrüßt daher die von den Händlern und den Lebensmittel- und Getränkeherstellern unternommenen Anstrengungen bezüglich einer freiwilligen Initiative zur Förderung fairer Handelsbeziehungen entlang der Lebensmittelversorgungskette (SCI — Supply Chain Initiative (7)).

1.2.7.   FuE und Innovation

Die Lebensmittelbranche sieht sich großen Herausforderungen bei begrenzten FuE-Mitteln gegenüber. Der EWSA ist der Ansicht, dass FuE ganz gezielt eingesetzt werden muss und die Branche ein wichtiger Partner bei der Entscheidung über den dabei einzuschlagenden Weg ist. Außerdem kann Innovation seiner Meinung nach nur dann erfolgreich sein und auf Akzeptanz stoßen, wenn sie sie sich insbesondere an den Erwartungen der Verbraucher orientiert.

1.2.8.   KMU in der Lebensmittel- und Getränkebranche

Die Kosten für die Einhaltung der EU-Rechtsvorschriften sind für KMU eine besonders große Belastung. Häufige Änderungen und fehlende Harmonisierung z. B. bei den Etikettierungsanforderungen verursachen Aufwand und behindern das Wachstum. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass den speziellen Bedürfnissen der KMU besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, vor allem was die Verringerung des Verwaltungsaufwands angeht; er mahnt allerdings zur Vorsicht bei etwaigen Ausnahmeregelungen — insbesondere bezüglich der Lebensmittelsicherheit — für KMU, da dies einen negativen Effekt haben und sie aus dem Markt drängen könnte.

1.2.9.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, einen Bericht darüber zu erstellen, ob Angaben zu Zutaten und Nährwert alkoholischer Getränke bereitzustellen sind.

2.   Die derzeitige Situation der Europäischen Lebensmittel- und Getränkebranche

2.1.

Die Lebensmittel- und Getränkeindustrie ist mit einem Jahresumsatz von über 1 Billion EUR und 4,25 Mio. unmittelbar Beschäftigten in der EU der größte verarbeitende Sektor der EU-Wirtschaft. Sie ist außerdem Teil einer Wertschöpfungskette mit insgesamt 32 Mio. Beschäftigten, die 7 % des BIP der EU erwirtschaftet. Bei 99,1 % der Unternehmen in der Lebensmittel- und Getränkebranche handelt es sich um KMU (8).

2.2.

Der Anteil der privaten FuE-Investitionen entspricht 0,27 % des Umsatzes der Branche. Gemäß dem Anzeiger der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) für 2012 haben sich die in den vergangenen Jahren beobachteten Trends bestätigt, insbesondere dass die EU trotz gleichbleibend hoher privater FuE-Investitionen noch immer hinter ihren internationalen Konkurrenten zurückliegt (9).

2.3.

Die Lebensmittel- und Getränkebranche verarbeitet 70 % der Agrarerzeugnisse der EU und liefert den europäischen Verbrauchern sichere, hochwertige und nahrhafte Lebensmittel.

2.4.

2012 belief sich der Wert der weltweiten europäischen Exporte an verarbeiteten Lebensmittel- und Getränkeprodukten auf 86,2 Mrd. EUR (10), was Europa zum weltweit größten Exporteur in dieser Branche machte. Außerdem verzeichnete die EU-Handelsbilanz für 2012 einen Rekordüberschuss von 23 Mrd. EUR. Der Handel mit Lebensmitteln und Getränken zwischen den Mitgliedstaaten hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht und liegt inzwischen bei rund 450 Mrd. EUR (11).

2.5.

Es handelt sich um eine konjunkturunabhängige und stabile Branche mit starker Präsenz in allen Mitgliedstaaten, die zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zu den Bemühungen der verarbeitenden Industrie in der EU leisten dürfte, ihren Anteil am EU-BIP auf das von der Kommission im Kontext der Europa-2020-Strategie festgelegte Ziel von 20 % zu steigern (12). Der Ausschuss bekräftigt seine Unterstützung und wiederholt seine Empfehlung, dass dieses Ziel durch einen Schwerpunkt auf dem qualitativen Aspekt ergänzt werden sollte (13).

2.6.

Wichtige Indikatoren für die Wettbewerbsfähigkeit zeigen jedoch, dass die Branche dabei ist, ihren Wettbewerbsvorteil zu verlieren. Im Kontext der steigenden weltweiten Nachfrage hat der Exportmarktanteil Jahr für Jahr weiter abgenommen (2012 betrug er 16,1 % im Vergleich zu 20,5 % im Jahr 2002 (14)).

2.7.

Mit dieser EWSA-Stellungnahme soll ein besonderer Schwerpunkt auf die Lebensmittel- und Getränkebranche gelegt werden, indem die notwendigen Maßnahmen aufgezeigt werden, um diesen Negativtrend umzukehren und die Wettbewerbsfähigkeit der Branche sowohl im Binnenmarkt als auch weltweit zu verbessern.

2.8.

Die Verbraucher haben ein Recht auf wahrheitsgetreue und ausgewogene Information über alkoholische Getränke, um in Bezug auf ihren Konsum fundierte Entscheidungen treffen zu können. Für alle alkoholischen Getränke sollten unabhängig von ihrem Alkoholgehalt die gleichen Bestimmungen gelten. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, unverzüglich den gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 eigentlich bereits bis Dezember 2014 vorzulegenden Bericht darüber zu erstellen, ob die Verpflichtung, Angaben zu Zutaten und Nährwert bereitzustellen, künftig auch für alkoholische Getränke gelten sollte.

3.   Bemühungen zur Steigerung der Industrietätigkeit in Europa

3.1.   Initiativen der EU-Institutionen

Der Rat (Wettbewerbsfähigkeit) hat darauf hingewiesen, dass alle Industriesektoren einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Wirtschaft leisten können, und dazu aufgerufen, dass die Kommission sektorenbezogene Initiativen auf den Weg bringt (15).

Dieser Aufforderung wurde mit der Mitteilung der Europäischen Kommission „Für ein Wiedererstarken der europäischen Industrie“ (COM(2014) 14 final)  (16) entsprochen. Zwei Monate später betonten die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen im März 2014 außerdem, dass Europa eine „starke und wettbewerbsfähige industrielle Basis“ und „ein stabiles, einfaches und berechenbares Umfeld“ braucht; sie waren sich darin einig, dass „die Belange der industriellen Wettbewerbsfähigkeit […] systematisch in alle Politikbereiche der EU integriert werden [sollten]“ (17).

In der Zwischenzeit hat das Hochrangige Forum zur Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette  (18), das 2009 von dem für Industrie und Unternehmertum zuständigen Kommissionsmitglied eingerichtet wurde, seinen Abschlussbericht vorgelegt. Seine Empfehlungen zur Entwicklung einer Industriepolitik im Lebensmittelbereich wurden in seiner Abschlusssitzung am 15. Oktober 2014 einstimmig angenommen (19). Bei der Abfassung dieser EWSA-Stellungnahme wurde diesen Empfehlungen Rechnung getragen.

Der EWSA freut sich nun darauf, seinen Beitrag zu weiteren Initiativen der Europäischen Kommission zu leisten, u. a. mit seiner Präsenz auf der diesjährigen Expo in Mailand mit der Ernährungssicherheit als einem zentralen Thema seines Pavillons. Außerdem ist eine Studie zur Wettbewerbsposition der Lebensmittel- und Getränkebranche der EU in Vorbereitung, die bis Oktober 2015 veröffentlicht werden dürfte.

Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass die gerade eröffnete EXPO in Mailand unter dem Motto „Feeding the Planet, Energy for Life“ (Den Planeten ernähren, Energie für das Leben) steht. Die Europäische Kommission fördert die Debatte darüber, wie Wissenschaft und Innovation weltweit zu Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit beitragen können. Für den EWSA ist dies eine ausgezeichnete Gelegenheit, seine Standpunkte aus dieser und anderen Stellungnahmen, die er in den letzten Monaten zum Thema Lebensmittel abgegeben hat, in die öffentliche Debatte einfließen zu lassen. Der EXPO-Stand der Europäischen Kommission ist optimal geeignet, um diese Debatte im Rahmen eines oder mehrerer eigens zu diesem Zweck organisierter Informationsseminare zu führen.

3.2.   Gemeinsame Entscheidungen von Lebensmittelherstellern und Gewerkschaften

Im März 2014 unterzeichneten der Dachverband der europäischen Lebensmittelindustrie FoodDrinkEurope und der Europäische Verband der Landwirtschafts-, Lebensmittel- und Tourismusgewerkschaften EFFAT eine gemeinsame Erklärung über die Notwendigkeit branchenspezifischer Maßnahmen für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie auf EU-Ebene.

4.   Wichtigste Handlungsbereiche: Gestaltung einer Industriepolitik für die europäische Lebensmittel- und Getränkebranche

4.1.   Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette im Binnenmarkt für Lebensmittel und Getränke

4.1.1.

Das EU-Lebensmittelrecht ist weitgehend harmonisiert, und die Branche profitiert stark von den Chancen, die der Binnenmarkt bietet. Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten hat in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen und macht derzeit rund 20 % der Lebensmittel- und Getränkeproduktion der EU aus. Die Unternehmen berichten jedoch nach wie vor über eine unterschiedliche Auslegung und Umsetzung des EU-Lebensmittelrechts. Durch eine weitere Integration könnten neue Wachstumschancen eröffnet werden (20).

Die Verbesserung der Beziehungen innerhalb der Lebensmittelversorgungskette ist auch entscheidend für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittel- und Getränkebranche (21).

4.1.2.

Die Maßnahmen der EU-Kommission zur Überwachung der Wirksamkeit der europäischen Supply-Chain-Initiative (22) wie auch der Durchsetzung der Vorschriften auf nationaler Ebene sind von größter Bedeutung (23). Die Supply-Chain-Initiative ist eine wichtige freiwillige Initiative, die gemeinsam von verschiedenen Interessenträgern entlang der Lebensmittelversorgungskette ins Leben gerufen wurde. Sie dient der Schaffung eines Systems zur Verbesserung der Geschäftsbeziehungen untereinander und zur Beilegung eventueller dabei auftretender Meinungsunterschiede.

4.2.   Förderung von nachhaltiger Beschäftigung und Arbeitsproduktivität

4.2.1.

Im Bemühen um eine bessere Qualifikation der Arbeitnehmer in der Branche haben EFFAT und FoodDrinkEurope 2013 einen gemeinsamen Bericht vorgelegt, in dem die Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen umrissen werden, die für die Bewältigung der Herausforderungen des Arbeitsmarkts notwendig sind (24).

4.2.2.

Sie haben außerdem die „Europäische Ausbildungsallianz für die Lebensmittel- und Getränkebranche“ (25) gestartet, die auf eine hochwertige Ausbildung in den Lebensmittel- und Getränkeunternehmen in ganz Europa abzielt, insbesondere in den KMU.

4.3.   Stärkung des internationalen Handels

4.3.1.

Mit einer positiven Handelsbilanz von 23 Mrd. EUR für 2012 bleibt die EU weiterhin führender Exporteur für Lebensmittel- und Getränkeprodukte, obwohl ihr Marktanteil im globalen Handel in diesem Bereich schrumpft. Länder wie China und Brasilien hingegen haben ihren Exportmarktanteil in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert (26).

4.3.2.

Die Ernährungssicherheit ist anerkanntermaßen von größter Bedeutung (27), die Ausweitung des Exports ist für jede Branche einer der wichtigsten Wachstumsfaktoren. Aufgrund des wachsenden Anteils wohlhabender Bevölkerungsschichten in den Schwellenländern sollte die Branche dafür gerüstet sein, auf die steigende weltweite Nachfrage zu reagieren.

4.3.3.

Ein gut durchdachtes multilaterales Übereinkommen im Rahmen der WTO wäre die effektivste Lösung für die Öffnung von Märkten gewesen, aber in den verschiedenen Verhandlungsrunden konnte keine umfassende Einigung erzielt werden.

4.3.4.

Bilaterale Handelsabkommen haben daher erheblich an Bedeutung gewonnen und zu Ergebnissen für die europäische Industrie im Allgemeinen und die Lebensmittel- und Getränkebranche im Besonderen geführt. In den laufenden TTIP-Verhandlungen sollten sowohl tarifäre als auch nichttarifäre Handelshemmnisse angegangen werden, wobei der Schwerpunkt auf der auf Gegenseitigkeit beruhenden Behandlung von Lebensmittel- und Getränkeprodukten aus der EU liegen sollte; die Interessen der europäischen Verbraucher sollten jedoch in keiner Weise beeinträchtigt werden. Die Ergebnisse sollten der europäischen Lebensmittelbranche beträchtliche Vorteile bescheren (28).

4.3.5.

Die Absatzförderungspolitik der EU ist ein geeignetes Instrument, um das positive Image europäischer Agrarnahrungsmittelerzeugnisse weltweit zu nutzen und mit den Schlüsseleigenschaften europäischer Lebensmittel zu werben.

4.4.   Beitrag zu nachhaltiger Produktion und nachhaltigem Verbrauch

4.4.1.

Laut der EWSA-Stellungnahme von 2012 (29) steht „Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch, d. h., die Verwendung von Dienstleistungen und Produkten, die bei einem geringeren Verbrauch an natürlichen Ressourcen einen höheren Mehrwert erzeugen, […] im Mittelpunkt der Strategien zur Verbesserung der Ressourceneffizienz und zur Förderung einer grünen Wirtschaft.“

4.4.2.

Die europäische Lebensmittel- und Getränkebranche ist auf den Zugang zu entsprechenden Mengen landwirtschaftlicher Rohstoffe angewiesen, die spezifische Qualitätskriterien erfüllen und zu wettbewerbsfähigen Preisen verfügbar sind.

4.4.3.

Eines der Hauptprobleme ist die Lebensmittelverschwendung: Entlang der europäischen Lebensmittelkette landen jährlich rund 90 Mio. Tonnen Lebensmittel im Müll. Wenn Lebensmittel weggeworfen werden, bedeutet dies auch eine Verschwendung der für die Lebensmittelproduktion verwendeten Ressourcen wie Rohstoffe, Wasser, Dünger und Brennstoff. Durch verschiedene maßgebliche Initiativen ist eine Reihe von Partnerschaften mit den betreffenden Interessenträgern entstanden, wie beispielsweise die Kampagne „Every Crumb Counts“ (jeder Krümel zählt) und die Veröffentlichung eines Leitfadens für die Branche. Eine EWSA-Stellungnahme von 2013 zur Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverschwendung hatte einen Einblick in diesbezüglichen Probleme und Lösungsansätze vermittelt (NAT/570).

4.4.4.

Die Europäische Kommission hat empfohlen, die Lebensmittelbranche als prioritären Bereich für mehr Ressourceneffizienz anzusehen, und eine eingehende Konsultation zur Nachhaltigkeit des europäischen Lebensmittelsystems durchgeführt (30).

4.4.5.

Nachhaltigkeit sollte unter einem erweiterten Blickwinkel betrachtet werden, d. h. nicht nur unter dem Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit, sondern auch unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Säule der Nachhaltigkeit. Dieser Standpunkt wurde in einer gemeinsamen Erklärung von 11 Organisationen festgehalten, die die Lebensmittelkette im Kontext des Hochrangigen Forums vertreten haben (31).

4.5.   Schaffung einer Innovationsunion

4.5.1.

Im Vergleich zu anderen Teilsektoren des verarbeitenden Gewerbes und anderen Lebensmittel- und Getränkeindustrien weltweit sind die FuE-Investitionen in dieser Branche in der EU niedrig (32).

4.5.2.

Wissens- und Innovationsgemeinschaften (Knowledge and Innovation Communities — KIC) in der Lebensmittel- und Getränkebranche müssen ermutigt und gefördert werden. Sie sind auf einen langfristigen Zeithorizont von 7-15 Jahren ausgelegt, dienen zugleich aber auch der Verwirklichung bestimmter kurzfristiger Ziele wie beispielsweise der wichtigen Verpflichtung zur Erhöhung der FuE-Investitionen bis 2020 sowie zur Steigerung von Wachstum und Beschäftigung.

Lebensmittel- und Getränkeunternehmen sind bei der Einführung innovativer Produkte und Verfahren mit endlosen Problemen konfrontiert. Am meisten haben darunter KMU zu leiden — wegen der begrenzten Kapazitäten in puncto Organisation und Ressourcen und weil es ihnen an Managementkompetenz, Erfahrung und einer strategischen Vision mangelt. Die Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen neuer Produkte müssen beschleunigt werden; dabei muss das Vorsorgeprinzip beherzigt werden, stets nur Produkte auf den Markt zu bringen, die für die Verbrauchergesundheit unbedenklich sind.

4.6.   Verringerung des Verwaltungsaufwands insbesondere für KMU

4.6.1.

Insbesondere KMU leiden unter einem Wildwuchs von Strukturen, die unnötigen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. Die KMU spielen für die Wettbewerbsfähigkeit der Branche eine wichtige Rolle und bedürfen daher besonderer Aufmerksamkeit, ohne dass die Lebensmittelsicherheit oder die Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte darunter leiden dürfen.

4.6.2.

Im Kontext von REFIT hat die Kommission einen wichtigen Schritt unternommen, um die EU-Rechtsvorschriften unternehmensfreundlich zu gestalten und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern (33).

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  http://www.fao.org/fileadmin/templates/wsfs/docs/expert_paper/How_to_Feed_the_World_in_2050.pdf

(2)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 1.

(3)  COM(2011) 571 final.

(4)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 6.

(5)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 46.

(6)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Handelsbeziehungen zwischen großen Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln“ — aktueller Stand, veröffentlicht in ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 16.

(7)  http://www.supplychaininitiative.eu/

(8)  Quelle: Daten und Trends der europäischen Lebensmittel- und Getränkebranche 2013-2014 (nur auf Englisch).

http://www.fooddrinkeurope.eu/uploads/publications_documents/Data__Trends_of_the_European_Food_and_Drink_Industry_2013-20141.pdf

(9)  Quelle: 2012 EU Industrial R&D Investment Scoreboard (EU-Anzeiger für FuE-Investitionen der Industrie, Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) und Generaldirektion Forschung (GD RTD)).

(10)  http://www.fooddrinkeurope.eu/uploads/publications_documents/Data__Trends_of_the_European_Food_and_Drink_Industry_2013-20141.pdf

(11)  http://ec.europa.eu/internal_market/publications/docs/20years/achievements-web_de.pdf

(12)  http://ec.europa.eu/priorities/docs/pg_de.pdf

(13)  EWSA-Stellungnahme ABl. C 311 vom 12.9.2014, S. 47: Für ein Wiedererstarken der europäischen Industrie.

(14)  Quelle: UN Comtrade 2012.

(15)  http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=DE&f=ST%2017202%202013%20INIT

(16)  http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:52014DC0014

(17)  http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7-2014-REV-1/de/pdf

(18)  http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2010:210:0004:0005:DE:PDF

(19)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-1139_de.htm

(20)  http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=CELEX:52014SC0014

(21)  EWSA-Stellungnahme veröffentlicht in ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 16.

(22)  http://www.supplychaininitiative.eu/

(23)  COM(2014) 472.

(24)  http://www.effat.org/en/node/10599

(25)  http://ec.europa.eu/education/policy/vocational-policy/doc/alliance/fooddrinkeurope-effat-pledge_en.pdf

(26)  http://www.fooddrinkeurope.eu/uploads/publications_documents/Data__Trends_of_the_European_Food_and_Drink_Industry_2013-20141.pdf

(27)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 1.

(28)  Siehe gemeinsamer Standpunkt von Copa-Cogeca und FoodDrinkEurope: http://www.fooddrinkeurope.eu/news/statement/agri-food-chain-reps-call-on-negotiators-to-resolve-non-tariff-measures-in/

(29)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 6.

(30)  http://ec.europa.eu/environment/eussd/food.htm

(31)  Gemeinsame Erklärung „Actions towards a more sustainable European food chain“ vom 7. März 2014: http://www.fooddrinkeurope.eu/news/press-release/europes-food-chain-partners-working-towards-more-sustainable-food-systems/

(32)  Siehe Fußnote 15.

(33)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-682_de.htm


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Welt von morgen. 3D-Druck, ein Werkzeug zur Stärkung der europäischen Wirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2015/C 332/05)

Berichterstatter:

Dumitru FORNEA

Ko-Berichterstatterin:

Hilde VAN LAERE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Welt von morgen. 3D-Druck, ein Werkzeug zur Stärkung der europäischen Wirtschaft

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 28. Mai) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Additive Fertigung wird als wichtige Schlüsseltechnologie neue Fertigungsansätze sowie die Produkte und Fabriken der Zukunft prägen. Die digitale Revolution und dieser Wandel in der Fertigung werden Rückverlagerungen der Produktion aus Billiglohnländern nach Europa ermöglichen und infolgedessen in Europa Innovationen anregen und nachhaltiges Wachstum fördern.

1.2.

Nach Ansicht des Ausschusses kann die EU ihre Stellung als Global Player in der additiven Fertigung unter der Voraussetzung halten, dass auf europäischer und nationaler Ebene folgende Maßnahmen ergriffen werden:

1.3.

Investitionen in IKT-Infrastruktur müssen Vorrang haben, damit alle Bürger und Unternehmen Zugang zu Hochgeschwindigkeits-Internet mit den besten verfügbaren Qualitäts- und Sicherheitsstandards haben.

1.4.

Die europäischen Kapazitäten für die Speicherung und Übertragung großer digitaler Datenmengen müssen ausgebaut und aktualisiert und der Schutz dieser Daten im Einklang mit den legitimen Interessen der EU-Bürger und -Unternehmen gewährleistet werden.

1.5.

Die EU-Institutionen und nationalen Regierungen sollten die Bürger auf die Herausforderungen der digitalen Gesellschaft und der damit verbundenen disruptiven Technologien wie additiver Fertigung vorbereiten und dazu in kulturelle und bildungspolitische Programme investieren, die den sich rasch verändernden Anforderungen der neuen Beschäftigungsprofile für eine neue Generation von Produktionssystemen gerecht werden.

1.6.

Um das Potenzial der additiven Fertigung umfassend ausschöpfen zu können, müssen in Unternehmen und einschlägigen Bildungs- und wissenschaftlichen Einrichtungen Forschung und Kreativität (über finanzielle und steuerliche Anreize) gefördert werden.

1.7.

Es bedarf weiterer Forschung, um das Spektrum der Werkstoffe und der Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern und die Robustheit, Geschwindigkeit, Produktivität und Reife dieser Technologie zu verbessern. Die Entwicklung ausgereifter Fertigungsprozesse sollte in Europa stattfinden, um die europäische Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt zu sichern und die damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteile und hochqualifizierten Arbeitsplätze in der EU zu halten.

1.8.

Die Anstrengungen im Rahmen der Europäischen Innovationspartnerschaften müssen gebündelt und auf die Entwicklung neuer Werkstoffe für additive Fertigung ausgerichtet werden. Ein breiteres Werkstoffspektrum und mehr Anbieter fördern den Preiswettbewerb und die Entstehung neuer Industriezweige, generieren ein größeres Materialvolumen in der additiven Fertigung und sorgen für mehr Wettbewerb auf den Zuliefermärkten.

1.9.

Die EU sollte Investitionen in additive Fertigungsanlagen und die Entwicklung additiver Fertigungstechnologien in offenen Produktionssystemen fördern, die flexibel und einfach mit anderen Produktions- und Veredelungstechnologien verknüpft werden können, um so die Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern und den Umsatz zu steigern.

1.10.

Der EU- und die nationalen Regelungsrahmen konnten mit der dynamischen Entwicklung der additiven Fertigung nicht Schritt halten, und deshalb ist ein spezifisches Vorschriftenwerk erforderlich, um Fragen betreffend Standards, Zertifizierung, Urheberrecht, Verbraucherschutz, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Umweltschutz zu regeln.

1.11.

Die Entwicklung eines Rechtsrahmens für additive Fertigung muss auf einer bereichsübergreifenden und wissenschaftlichen Erforschung der Auswirkungen dieser Technologie unter umfassender Einbeziehung aller Interessenträger gründen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Das produzierende Gewerbe leistet einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft, insbesondere durch Innovation, Produktivität und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Industrie in Europa jedoch an Boden verloren, was zu einem Rückgang der Beschäftigung und der Wertschöpfung in der Industrie  (1) geführt hat. Nach einer jahrzehntelangen Ausdünnung des industriellen Sektors (infolge von Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer) erfolgt nun eine Rückbesinnung auf die Produktion in Hochlohnländern, die wichtige Rolle einheimischer Fertigungskapazitäten für die Entwicklung von Innovationen und die Fähigkeit, auf der Grundlage fortgeschrittener Technologien neue Produkte rasch serienmäßig zu fertigen. Innovation, Automatisierung und anspruchsvolle Verfahren liegen industriellen Erfolgsstrategien zugrunde und sind Voraussetzung, um eine führende Position zu halten (2). Mithilfe geeigneter fortgeschrittener Fertigungstechnologien könnte Europa die Produktion aus Billiglohnländern zurückholen und so Innovationen anregen und nachhaltiges Wachstum zu Hause fördern. Nur so könnte Europa sich selbst als Motor der neuen industriellen Revolution positionieren.

2.2.

Die additive Fertigung bezeichnet einen Prozess, bei dem auf der Basis von digitalen 3D-Konstruktionsdaten durch das Ablagern von Material schichtweise ein Bauteil aufgebaut wird. Sie unterscheidet sich dadurch von subtraktiven Fertigungsverfahren. Der Begriff „additive Fertigung“ entspricht der Industrie-Standardterminologie (ASTM F2792), während im allgemeinen Sprachgebrauch die Bezeichnung „3D-Druck“ verwendet wird.

2.3.

Additive Fertigung ist ein Überbegriff für eine Reihe von Technologien und Verfahren, bei denen verschiedene Werkstoffe (Metall, Kunststoff, Keramik u. a.) verwendet werden. Diese Technologien sind mittlerweile so weit ausgereift, dass immer mehr hochwertige kommerzielle Anwendungen möglich werden. Additive Fertigung gilt weltweit als wichtige Schlüsseltechnologie, die neue Fertigungsansätze sowie die Produkte und Fabriken der Zukunft prägen wird. Es gibt bereits so genannte FabLabs, d. h. Fabrikationslabore für 3D-Druck-Dienstleistungen und -Erzeugnisse.

2.4.

Additive Fertigung ist eine Wachstumsbranche. Das Wachstum hat sich in den letzten vier Jahren beschleunigt, da das Interesse an additiv gefertigten Produkten zunimmt und zahlreiche Unternehmen additive Fertigung als Dienstleistung anbieten. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (Compound Annual Growth Rate, CAGR) der in den letzten 25 Jahren weltweit durch Produkte und Dienstleistungen erzielten Erträge beträgt beeindruckende 27 %. Für die vergangenen drei Jahre (2011-2013) belief sich die CAGR auf 32,2 % und erreichte 2013 einen Marktwert von 2,43 Mrd. EUR (3). Das US-Marktforschungsunternehmen Wohlers Associates schätzt, dass das Marktvolumen 2016 bei über 5,5 Mrd. EUR und 2018 bei über 10 Mrd. EUR liegen wird. Da es sich aber um eine neue Technologie handelt, gehen Experten der additiven Fertigungsindustrie davon aus, dass die aktuelle Marktdurchdringung nur einen Bruchteil des ermittelten Anwendungspotenzials ausmacht. 2011 lag die Marktdurchdringungsrate Experten zufolge unter 8 % (was einem Marktgesamtvolumen von ca. 17 Mrd. EUR entspricht) (4). Wenn die additive Fertigung einen Anteil von lediglich 2 % am globalen Fertigungsmarkt erreicht, verzehnfacht sich bereits das Potenzial (auf ca. 170 Mrd. EUR) (5).

2.5.

Der Anwendungsbereich hat sich vom Prototypenbau („Rapid Prototyping“) Anfang der 90er Jahre weiterentwickelt und umfasst mittlerweile die Fertigung von Funktionsteilen. Das Wachstumspotenzial liegt hauptsächlich in der raschen, kostengünstigen, serienmäßigen Fertigung von komplexen Funktionsteilen aus diversen Werkstoffen (Kunststoff, Metall oder Keramik) und weniger in der Designprodukt- und Prototypenherstellung. „Rapid Prototyping“ gilt als ausgereift, die additive Fertigung von Bauteilen ohne notwendige Nacharbeiten befindet sich noch in der Entwicklung. Zwar werden innovative additiv gefertigte Produkte entwickelt, indes ist ihre Herstellung in Ermangelung robuster Fertigungsmaschinen und Massenfertigungsmöglichkeiten nicht rentabel.

2.6.

Innovative additive Verfahren werden sich disruptiv auf Design und Fertigung auswirken. Additive Fertigung kann bei herkömmlichen Produkten in bestehenden Lieferketten zu einer höheren Wertschöpfung führen oder Produkte, Lieferketten und Geschäftsmodelle von Grund auf verändern (6). Europa muss sich optimal auf die Industrialisierung der additiven Fertigung vorbereiten. Im Rahmen der europäischen Ökosysteme für additive Fertigung wird künftiges Wachstum voraussichtlich durch die Ausweitung der derzeitigen Tätigkeiten (Übergang vom Prototypenbau zur Fertigung von Endprodukten) und durch die Erschließung neuer Anwendungen entlang der Wertschöpfungskette entstehen.

2.7.

Additive Fertigung gilt weltweit als Schlüsseltechnologie für Innovationen bei Produkten und in Lieferketten, die sich etabliert und deren Weiterentwicklung massiv öffentlich gefördert wird (bspw. in den USA, China und Singapur). Die EU hat bislang eine gute Ausgangsposition. Ohne weiterführende Maßnahmen kann sie diese jedoch nicht halten und wird im Wettlauf um neue Märkte an Boden verlieren.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Disruption durch additive Fertigung

3.1.1.

Auf Unternehmensebene wird die additive Fertigung neue Ansätze in der Produktion und die Fabrik der Zukunft prägen:

Additive Fertigung macht es möglich, mit ein und denselben Anlagen, Werkstoffen und Verfahren zahlreiche unterschiedliche Endprodukte herzustellen, und eröffnet damit Produktionsansätze, die mit herkömmlichen Fertigungsverfahren unpraktisch oder unmöglich sind.

Ein großer Vorteil liegt in der Kombinationsmöglichkeit additiver Fertigungsverfahren mit anderen hochwertigen Fertigungslösungen innerhalb einer Prozesskette.

Additive Fertigung wird als Schlüsseltechnologie für die digitale Fabrikation im Rahmen von dynamischen, dezentralen Lieferketten eingesetzt. Digitales Design (bzw. technische Lösungen) und Spezifikationsdateien in einem global verteilten Umfeld ermöglichen die Individualisierung und Produktion am Einsatzort, so dass der Versand aus zentralen Produktionsstätten entfällt. Digitale Fabrikation führt zu einer verteilten und breit gefächerten Produktionsbasis und kundennaher Fertigung (u. a. Fertigungen geringen Umfangs in 3-D-Druckern von Privatanwendern oder in Printshops). In Lieferketten könnten kapitalintensive Fertigungsanlagen, in denen komplexe Produkte hergestellt werden, mit einer dezentralen kundenspezifischen Fertigung von Bauteilen im kleinen Maßstab verknüpft werden (Ateliers für Design und Drucken in Kundennähe bzw. am Einsatzort).

3.1.2.

Auf Produktebene wird additive Fertigung zum Eckpfeiler für Produktinnovation:

Konstruktionsfreiheit eröffnet den Weg zu neuen Produktgenerationen: die nahezu grenzenlose Formgebungsfreiheit bringt zahlreiche Vorteile für verschiedene Sektoren (Automobilindustrie, Raumfahrtindustrie, Medizinprodukte, Maschinen und Anlagen, Sportgeräte und Lifestyle-Produkte): Miniaturisierung, funktionelle Integration, Leichtbau-Strukturen, kundenspezifische und individuelle Eigenschaften und Geometrie usw.

Extrem kurze Durchlaufzeiten eröffnen neue Möglichkeiten für funktionale Prototypen oder innovative kundenspezifische bzw. individualisierte Fertigung von Produkten in B2B- und B2C-Bereichen in allen Industriesektoren.

In der Anwendungsentwicklung liegt eine enorme wirtschaftliche Chance für Europa. Die technische Entwicklung und Diffusion fortgeschrittener Anwendungen beginnt zunächst durch die Zusammenführung eines Ökosystems und die Digitalisierung aller Verfahrensschritte. Davon ausgehend wird ein zentrales Geschäftsmodell entworfen. Eine Ausweitung des regionalen oder ausländischen Marktanteils erfordert eine dezentrale Verteilung von Segmenten der Wertschöpfungskette. Das Franchising von Produkten, Design und Fertigungslösungen macht es möglich, in Europa Wert aus global verteilten Anwendungen zu schöpfen.

3.1.3.

Auf wirtschaftlicher Ebene wird die additive Fertigung disruptive Geschäftsmodelle hervorbringen:

Die digitale Fertigung führt zur Entstehung disruptiver digitaler Geschäftsmodelle, die eine dynamische Individualisierung ermöglichen. Über das Internet können nutzergenerierte Inhalte zum Hersteller physischer Güter gelangen. Eine Neubetrachtung der betrieblichen Produktions- und Lieferketten wird zu innovativen Produktionsketten und Geschäftsmodellen führen, wie bspw. bedarfsorientierte Just-in-Time-Herstellung in Kundennähe, Reparatur von Bauteilen, e-Manufacturing, digitale Warenlager für „Long-Tail“ (7) - Ersatzteile oder kundenindividuelle Massenproduktion. Die derzeitige Wertschöpfungskette kann vereinfacht und verkürzt werden.

Herkömmliche Dienstleister im Bereich der additiven Fertigung übernehmen Auftragsgeschäfte und Spezialanfertigungen für Kunden von Erstausrüstern (8). In Lieferketten werden Engineering-Werkzeuge und e-Manufacturing-Verfahren einbezogen, so dass eine Demokratisierung der Konstruktion — im Sinne von für Jedermann machbar — stattfindet, mit allen mit einem derartigen Geschäftsmodell verbundenen Vorteilen und etwaigen Problemen.

Additive Fertigung ermöglicht eine wirtschaftliche Serienfertigung auf der Grundlage eines digitalen 3D-Modells eines Produkts durch spezialisierte Dienstleister, Fertigungsunternehmen oder sogar zu Hause (sog. „Desktop Fabriken“). Neue Diensteanbieter entstehen: in europäischen Städten gibt es mittlerweile 3D-Printshops; es gibt Plattformen und Hubs, über die Kontakte zwischen Entwicklern von 3D-Inhalten, Kunden, die in Bibliotheken Ersatzteile bestellen, und 3D-Druck-Service-Anbietern hergestellt werden.

3.2.   Technologische Folgen der additiven Fertigung

3.2.1.   Notwendigkeit einer neuen Generation von Produktionssystemen

Internationale Fahrpläne für additive Fertigung (9), (10), (11), (12), (13) machen deutlich, dass noch beträchtliche technologische Fortschritte erforderlich sind, bis der potenzielle Zusatznutzen verwirklicht und additive Fertigung verbreitet eingesetzt werden kann. Die bisherigen additiven Fertigungsverfahren sind für den Bau von Prototypen entwickelt worden; die Anlagen sind bislang nicht für Massenproduktion ausgelegt. Auf additive Fertigung spezialisierte Unternehmen stoßen bei der Nutzung der Technologie für Serienfertigungen auf technologische Probleme. Die Maschinenarchitektur hat sich seit dem Prototypenstadium kaum verändert, es hat kaum Innovationen gegeben (im Innern sehen die Geräte von heute fast genauso aus wie ihre Vorgänger von vor 10 bis 15 Jahren). Die Branche muss durch disruptive maschinenbauliche Innovationen modernisiert werden (14).

Um die Entwicklung voranzubringen, benötigen Unternehmen und Forscher im Bereich der additiven Fertigung Zugang zu offenen Hardware- und Software-Plattformen, um die Beschränkungen durch die kommerziellen „Black Box“-Systeme zu überwinden.

Eine Steigerung der Qualitätseigenschaften (Kosteneffizienz, Robustheit und Zuverlässigkeit) würde die Einsatzmöglichkeiten der additiven Fertigung für größere Produktionszahlen und ein breiteres Anwendungsspektrum erweitern. Eine Verschiebung der technologischen Grenzen und eine Kombination mit anderen Prozessen (Hybridfertigung) wird einen Durchbruch in der Anwendung ermöglichen (15). Akzeptanz in der Fertigungsindustrie bedeutet, dass additive Fertigungstechnik in die Betriebsabläufe und Prozessketten integriert werden muss.

Neben den strategischen Forschungsarbeiten müssen neue disruptive Produktionssystemkonzepte erfunden werden, d. h., Produktionsprozesse müssen auf der Grundlage moderner additiver Fertigungstechnologien und ihrer Integration in die Betriebsabläufe überdacht werden. Die additive Fertigung der Zukunft wird nicht mehr in Gestalt eines diskontinuierlichen Chargenbetriebs von nebeneinanderstehenden Fertigungsanlagen erfolgen, sondern im Rahmen einer kontinuierlichen, über mehrere Produktionsstufen verketteten Fertigungsorganisation. Diese Produktionssystemkonzepte werden als „Additive Fertigung 2.0“ bezeichnet und werden die Weiterentwicklung der additiven Fertigungsanlagen bestimmen.

3.2.2.   Notwendigkeit neuer Verfahren im Hinblick auf eine Zertifizierung der additiven Fertigung:

Im Hinblick auf ihre industrielle Anwendung müssen additive Fertigungstechnologien zertifiziert werden. Zertifizierung wird additive Fertigung im industriellen Maßstab voranbringen. Zunächst müssen geeignete Verfahrensweisen entwickelt werden, die eine Zertifizierung ermöglichen, wie bspw. fortgeschrittene Prozessüberwachungs- und Qualitätssicherungsverfahren, um die Einhaltung von Normen zu gewährleisten. Zumindest sollte durch diese Verfahren festgestellt werden können, ob ein Produkt die Normen erfüllt, am besten aber sollte eine Methodik entwickelt werden, um Nichtkonformität zu verhindern und Fehler zu korrigieren.

3.2.3.   Notwendigkeit der Entwicklung und Zugänglichkeit neuer Werkstoffe:

Wer die Vertriebswege kontrolliert, sichert sich eine beherrschende Stellung; So schreiben etwa Maschinenbauunternehmen in ihren Wartungs- und Garantieverträgen die Verwendung kostspieliger Rohstoffe vor, die häufig nur von ihnen selbst vertrieben werden, oder sie sorgen bei Verbrauchsmaterialien für Herstellerabhängigkeit nach dem Rasierer-Rasierklingen-Geschäftsmodell. Aufgrund der Kontrolle über die Vertriebswege und einem immer noch vergleichsweise geringen Produktionsumfang (16) hatten die Anbieter von Werkstoffen kein Interesse an umfangreichen Investitionen in die Entwicklung neuer Werkstoffe.

Die begrenzte Anzahl der Werkstoffbezugsquellen führt zu überhöhten Rohstoffpreisen und gefährdet die Versorgungssicherheit der Endkunden. Dieser Marktmechanismus schränkt das Potenzial der additiven Fertigungstechnologien ein.

Derzeit verzeichnet der Markt ein zweistelliges Wachstum und die damit verbundenen wirtschaftlichen Chancen ziehen weitere Werkstoffanbieter an. Die Entwicklung von Werkstoffen muss unterstützt und gefördert werden. Das Werkstoffspektrum muss erweitert und die Werkstoffeigenschaften müssen verbessert werden. Mehr Anbieter fördern den Preiswettbewerb, so dass es leichter fällt, Gewährleistungsauflagen zu ignorieren, und fördern die Fertigung höherer Stückzahlen sowie den Wettbewerb auf den Werkstoffmärkten.

Ein breiteres Werkstoffspektrum begünstigt die Entstehung neuer Industriezweige und die Nachfrage nach einem höheren Werkstoffvolumen für additive Fertigung.

3.2.4.

Wesentliche technische Hemmnisse — Einem umfassenden industriellen Durchbruch, bspw. im Raumfahrt- oder Automobilsektor, im Medizinprodukte- oder Konsumgüterbereich, stehen in erster Linie folgende Produktivitätshemmnisse entgegen:

unzureichende Robustheit des Prozesses und zu niedriges Produktionstempo (und in der Folge überhöhte Produktionskosten),

Bedarf an additiven Fertigungstechnologien der nächsten Generation, die in das Betriebsumfeld und hybride Produktionssysteme integriert werden können,

unzureichende und unregelmäßige Werkstoff- und Produkteigenschaften, eine zu begrenzte Palette an Werkstoffen für additive Fertigung und langsame Werkstoffentwicklung,

fehlende Technologien für eine bereichsübergreifende Entwicklung bahnbrechender innovativer Anwendungen.

3.2.5.

Strategische Forschung tut Not, um:

additive Fertigung als Technologie für Serienfertigungen in Maschinen der nächsten Generation nutzen zu können,

additive Fertigung als echtes Produktionstool in Betriebsabläufe und -systeme zu integrieren,

das Werkstoffspektrum für additive Fertigung auszuweiten,

innovative Anwendungen (und ihre Entwicklungstools) zu entwickeln.

3.2.6.

Gefahr des Technologieabflusses aus Europa:

Die Technologien und der Markt für additive Fertigung haben einen gewissen Reifegrad erreicht, was sich in ersten Unternehmenszusammenschlüssen niederschlägt. Große US-amerikanische Unternehmen investieren und kaufen kleine KMU (häufig mit Sitz in der EU) mit Wissen, Urheberrechten und Patenten für additive Fertigungstechnologie. Das erworbene Wissen wird häufig außerhalb Europas eingesetzt, da die EU-Märkte unterschiedlich und schwierig zugänglich sind. Europäische KMU haben ein Interesse daran, von nicht in der EU ansässigen Großunternehmen erworben zu werden und so für ihre Anwendungen Zugang zu großen neuen Märkten zu finden. Aus beiden Gründen ergibt sich die Gefahr, dass europäische Entwicklungen in der additiven Fertigung aus Europa abfließen.

Für in der EU ansässige Unternehmen im Bereich der additiven Fertigung ist es nicht leicht, ihre Tätigkeiten innerhalb Europas auszuweiten. Die Vielzahl kleiner und sehr unterschiedlicher Märkte erfordert hohe Investitionskosten, bevor ein einigermaßen rentabler Marktanteil erreicht werden kann. Ein Einstieg in neue Märkte wird außerdem häufig durch fehlende Komponenten der Wertschöpfungskette erschwert. Deshalb sind in der EU ansässige Unternehmen im Bereich der additiven Fertigung am Einstieg in große Märkte außerhalb der EU interessiert, wo sie ihr Wissen frühzeitig nutzbringend einsetzen können.

3.3.

Rechtsfragen in Verbindung mit additiver Fertigung (17):

Additive Fertigung wird heute weithin (in den Medien, in der Öffentlichkeit und in der Politik) als einfache 3D-Druck-Technologie für intelligentes Drucken zu Hause und weniger als künftige Produktionstechnologie betrachtet. Obwohl beides Zukunft hat, unterscheiden sich die jeweiligen Entwicklungstendenzen, Hemmnisse und Forschungsprioritäten erheblich. Themen wie Normung, Rechte des geistigen Eigentums und Haftung erfordern je nach Technologie und Anwendungen eine vollkommen unterschiedliche Betrachtungsweise.

Normung und Zertifizierung: Es wird allgemein anerkannt, dass sich additive Fertigung in wichtigen Industrien wie der Luft- und Raumfahrt oder der Medizin- und Dentaltechnik wegen fehlender Normen nicht richtig durchsetzen konnte. Normen werden den verstärkten Einsatz der Technologien fördern und umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Fachmärkte sind häufig anspruchsvoll und verlangen eine Zertifizierung, was die Anwendung neuer Technologien erschwert. Einer verbreiteten Anwendung der additiven Fertigungstechnologien stehen sowohl technische als auch rechtliche Hemmnisse im Weg. Deshalb ist eine Mitwirkung der Industrie in den ASTM F42-, BSI- und ISO-Arbeitsgruppen wesentlich für die Weiterentwicklung dieser Technologien.

Geistiges Eigentum: In Fachkreisen herrscht Besorgnis angesichts der unvermeidlichen Konflikte zwischen der zunehmenden Nutzung additiver Fertigung und den Regeln zum geistigen Eigentum (18).

Additive Fertigung kann zu einer Bedrohung für geistiges Eigentum werden, da es vergleichsweise einfach ist, in einer digitalen Datei dargestellte Objekte zu vervielfältigen, verbreiten und nachzuahmen. Durch die Entstehung neuer, nicht-kommerzieller Modelle im Spannungsfeld zwischen Innovation und Produktpiraterie könnte es zu genau den Problemen kommen, denen schon die Musik- und Filmindustrie gegenüberstehen (19).

Der Schutz des geistigen Eigentums von Entwicklern ist ein riesiges Problem und mit dem Schutz der Rechte in der Musik- und Filmindustrie vergleichbar. Die additive Fertigungsindustrie sollte selbst Lösungen für den Schutz des geistigen Eigentums entwickeln. Eine verbreitete und allgemein genutzte Technologie zum Schutz des geistigen Eigentums würde Bedenken ausräumen, dass additive Fertigungstechnik über relevante Schutzrechte von einigen wenigen Organisationen kontrolliert wird, die den Wettbewerb und die Entwicklung neuer Anwendungen hemmen, die Innovation verlangsamen und eine Verringerung der Systemkosten verhindern.

Haftung: Es gibt eine Reihe haftungsrechtlicher Fragen, die sich insbesondere für Amateure bzw. nicht fachkundige Designer, Teilehersteller oder Händler stellen. Wer haftet für Produktfehler? Für die additive Fertigungsindustrie ist dies eine zunehmend kritische, durch Flexibilität, Individualisierung und Selbstbau erschwerte Frage. Für die additive Fertigung von Produktelementen und die damit verbundenen Geschäftsrisiken müssen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden.

Qualifizierung und Zertifizierung in der additiven Fertigung  (20): Jeder Bestandteil von additiver Fertigungstechnologie (Werkstoffe, Anlagen, Verfahren usw.) muss zur Gewährleistung einer hochwertigen reproduzierbaren Fertigungsqualität einer Qualifizierung und Zertifizierung unterzogen werden. Ohne Standardisierung ist es schwierig, gleich beim ersten Mal ein hochwertiges Teil zu fertigen. Die Entwicklung von Qualifizierungs- und Zertifizierungsstandards für additive Fertigung wird durch die zahlreichen Abwandlungen der Anlagen, Werkstoffe und Verfahren und das Fehlen eines zentralen Datenregisters bzw. einer zentralen Regulierungsinstanz erschwert. Der Ausbau der additiven Fertigung erfordert die Entwicklung von Standards, um eine raschere und kosteneffizientere Zertifizierung aller Werkstoffe, Verfahren und Produkte zu ermöglichen.

3.4.   Die Auswirkungen der additiven Fertigung auf Beschäftigung und Bildung

Der Einsatz additiver Fertigungstechnologien wird sich unmittelbar auf die herkömmlichen Produktionsmodelle und insbesondere die Betriebsabläufe auswirken. In Abhängigkeit von der Nachfrage werden im Rahmen der additiven Fertigung Kleinanlagen in Kundennähe entstehen. Dadurch werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Beschäftigungseffekt lässt sich indes noch nicht absehen, da die Industriereife erst kürzlich erlangt worden ist.

Die realen Auswirkungen auf die Beschäftigung sind schwierig einzuschätzen, da keine einschlägigen Untersuchungen durchgeführt wurden und außerdem höchstwahrscheinlich eine Ersetzung gegenwärtiger Arbeitsplätze durch künftige additive Fertigungstätigkeiten stattfinden wird.

Für Arbeitsplätze im Bereich der additiven Fertigung sind neue Qualifikationen erforderlich, bspw. müssen Anlagenbediener mit verfahrensspezifischer Software umgehen oder Techniker Bauteile mit neuen Systemen konstruieren können: Topologieoptimierung, Re-Engineering usw.

Im Zuge des verbreiteten Einsatzes additiver Fertigungstechnologien müssen Schul- und Berufsbildungseinrichtungen dazu beitragen, die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer sicherzustellen und weiterzuentwickeln. Bislang wird die additive Fertigung in den Lehrplänen der Schul- und Berufsbildungseinrichtungen in Europa weitgehend ignoriert. In Schulungen werden meist nur die Technologien und ihre Möglichkeiten erläutert, ohne dass den Lernenden echtes praktisches Wissen vermittelt würde. Zumindest für die Berufsbildung sollte die additive Fertigung von den Bildungsbehörden in die Lehrpläne aufgenommen werden. Die Attraktivität der 3D-Druck-Technologie, die in kurzer Zeit den gesamten Innovationsprozess (Konzept, Design, Informatik, Robotik und Herstellung eines physischen Endprodukts) umspannt, könnte als effizientes Lehrmittel in den Schulen eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit der Schüler auf Technologie und verarbeitende Industrie zu richten.

Lehrangebote sollten aufgrund einer Zusammenarbeit von Industrie, Behörden, Bildungseinrichtungen und Arbeitnehmerorganisationen aufgestellt und an den praktischen Bedarf der einschlägigen Unternehmen angepasst sein.

3.5.   Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz

Es gibt nur wenige Untersuchungen zur Auswirkung der additiven Fertigung auf Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, dabei wären sie aufgrund folgender Risiken wirklich am Platze:

chemische Risiken aufgrund flüchtiger Harze, die bei der additiven Herstellung von Polymerteilen verwendet werden, und flüchtiger metallischer wie auch nichtmetallischer Additive in Metallpulvern;

chemisch-physikalische Risiken durch den Einsatz von Pulvern, insbesondere wenn diese Nanopartikel enthalten;

Explosionsgefahr aufgrund des Einsatzes von Pulvern;

spezifische Risiken in Verbindung mit dem Einsatz von Lasern und Elektronenstrahlen usw.

Mit Blick auf die Industriereife der additiven Fertigung sind dringend Risikoanalysen erforderlich, um Arbeitnehmerschutzsysteme und -standards zu entwickeln. Ferner müssen Sicherheitsschulungen für Arbeitnehmer entwickelt werden, die additive Fertigungsanlagen bedienen. Dies könnte im Rahmen der Verbesserung oder Konzipierung der Bildungsprogramme erfolgen.

Brüssel, den 28. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Industry 4.0 The new industrial revolution: How Europe will succeed, Roland Berger Strategy Consultants 2014.

(2)  Production in the Innovation Economy (PIE Study), MIT, 2013.

(3)  Wohlers Associates, 3D Printing and Additive Manufacturing: State of the Industry, Annual Worldwide Progress Report 2014.

(4)  Special Interest Group Additive Manufacturing for the Technology Strategy Board of the UK (2012) „Shaping our national competency in Additive Manufacturing, A technology innovation needs analysis“.

(5)  Wohlers Associates, 3D Printing and Additive Manufacturing: State of the Industry, Annual Worldwide Progress Report 2014.

(6)  3D Opportunity Additive manufacturing paths to performance, innovation, and growth, Deloitte Review 2014.

(7)  Eingeschränkt verfügbare und daher teure Ersatzteile.

(8)  Original Equipment Manufacturer, OEM.

(9)  European AM Platform, errichtet auf der Konferenz Manufuture 2013, „Additive Manufacturing: Strategic Research Agenda“. 2013, Konsultationsdokument in englischer Sprache.

(10)  DMRC (Direct Manufacturing Research Centre), Universität Paderborn, Deutschland (2012) „Thinking ahead the Future of Additive Manufacturing — Analysis of Promising Industries“.

(11)  Innovatie Zuid (2013) Hightech Systemen en materialen: Roadmap 3D-Printen.

(12)  EFFRA (2013), „Factories of the Future 2020: Factories of the Future Public-Private Partnership roadmap“.

(13)  Flanders MAKE, Additive Manufacturing for Serial Production: Research Roadmap, 2014.

(14)  Flanders MAKE, Additive Manufacturing for Serial Production: Research Roadmap, 2014.

(15)  EPSRC Centre for Innovative Manufacturing in Additive Manufacturing, http://www.3dp-research.com/Home

(16)  Wohlers Associates, 3D Printing and Additive Manufacturing: State of the Industry, Annual Worldwide Progress Report 2014.

(17)  European AM Platform, errichtet auf der Konferenz Manufuture 2013, „Additive Manufacturing: Strategic Research Agenda“, Konsultationsdokument in englischer Sprache.

(18)  The National Law Journal, Is intellectual property law ready for 3D printers? The distributed nature of Additive Manufacturing is likely to present a host of practical challenges for IP owners, February 4, 2013.

(19)  Scapolo, F., Churchill, P., Castillo, H. C. G. & Viaud, V., December 2012. Entwurf einer vorausschauenden Studie im Auftrag der Europäischen Kommission zum Thema „How will standards facilitate innovation and competitiveness in the European Union in the year 2025?“.

(20)  Measurement Science: Roadmap for metal-based Additive Manufacturing, National Institute of Standards and Technology, May 2013.


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern

(2015/C 332/06)

Berichterstatter:

Sandy BOYLE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat in Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Drittländern.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 28. April 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 199 gegen 55 Stimmen bei 30 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

Glossar der in dieser Stellungnahme verwendeten Abkürzungen

BIT — bilaterales Investitionsabkommen

CETA — umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen (Kanada)

GRCh — Charta der Grundrechte

ZG — Zivilgesellschaft

ZGO — zivilgesellschaftliche Organisation

EK — Europäische Kommission

EMRK — Europäische Menschenrechtskonvention

ECV — Vertrag über die Energiecharta

EuGH — Europäischer Gerichtshof

EP — Europäisches Parlament

EU — Europäische Union

ADI — ausländische Direktinvestitionen

FHA — Freihandelsabkommen

ICSID — Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten

IIA — internationales Investitionsabkommen

INTA — EP-Ausschuss für internationalen Handel

AS — Investitionsschutz

ISDS — Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat

LSE — London School of Economics

MS — EU-Mitgliedstaaten

NAFTA — Nordamerikanisches Freihandelsabkommen

OECD — Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

KMU — kleine und mittlere Unternehmen

TBC — Transatlantischer Wirtschaftsrat

EUV — Vertrag über die Europäische Union

AEUV — Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

TTIP — Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft

UNCITRAL — Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht

UNCTAD — Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen

WTO-DSP — Streitbeilegungsverfahren bei der Welthandelsorganisation

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Schlussfolgerungen

1.1.

Ausländische Direktinvestitionen sind ein wichtiger Beitrag zum Wirtschaftswachstum und ausländische Investoren müssen weltweit vor direkter Enteignung geschützt werden, dürfen keinerlei Diskriminierung unterliegen und müssen die gleichen Rechte genießen wie inländische Investoren.

1.2.

Das Recht eines Staates, im öffentlichen Interesse Vorschriften zu erlassen, ist von größter Bedeutung und darf durch internationale Investitionsabkommen nicht ausgehöhlt werden. Eine eindeutige Bestimmung, die dieses Recht auf allen Ebenen verankert, ist von wesentlicher Bedeutung.

1.3.

Durch den ISDS-Mechanismus darf der Status von transnationalem Kapital nicht dem Status des Kapitals eines souveränen Staats gleichgestellt werden bzw. dürfen ausländische Investoren nicht in die Lage versetzt werden, das Recht der Regierungen auf Regulierung und Selbstbestimmung anzufechten.

1.4.

Im Laufe der Zeit wurde eine Reihe von Fällen festgestellt, in denen ISDS missbräuchlich angewandt wurde und die jetzt angegangen werden müssen. Zu den systematischen Mängeln in der Funktionsweise von ISDS gehören die Intransparenz, das Fehlen klarer Vorschriften über das Schiedsverfahren, das Fehlen eines Rechtsmittels, die Diskriminierung einheimischer Investoren, die das ISDS-System nicht in Anspruch nehmen können, die Befürchtung, dass rein spekulative Investitionen, z .B. solche, die keine neuen Arbeitsplätze schaffen, geschützt werden, und die Angst vor einer Instrumentalisierung des Systems durch spezialisierte Anwaltskanzleien. Das Ziel besteht nun darin, eine alternatives Streitbeilegungsverfahren vorzuschlagen, das sowohl den legitimen Forderungen der Investoren als auch den Bedenken der anderen zivilgesellschaftlichen Akteure infolge der geschilderten negativen Wahrnehmung von ISDS ausgewogen Rechnung trägt.

Die Anhörung der Europäischen Kommission zum Thema ISDS in der TTIP hat eine große Diskrepanz zwischen der Meinung der Mehrheit der Unternehmen einerseits und der großen Mehrheit der Antworten der übrigen Zivilgesellschaft andererseits deutlich gemacht.

1.5.

Es gibt Bedenken darüber, dass ein aus drei privaten Rechtsanwälten bestehendes Gremium die Befugnis hat, in Bereichen von großem öffentlichem Interesse zu urteilen und bindende Entscheidungen zu treffen. Ungeachtet der Tatsache, dass UNCITRAL vor kurzem neue Vorschriften für die Transparenz erlassen hat, gibt es noch Bedenken, dass das derzeitige System in großen Teilen nicht transparent genug ist und kein Rechtsmittel vorsieht.

1.6.

Der ursprüngliche Gedanke hinter der ISDS ist längst in den Hintergrund gerückt. Das System hat sich inzwischen zu einem äußerst gewinnbringenden Geschäftsmodell für eine kleine Zahl marktbeherrschender, auf das Investitionsrecht spezialisierter Anwaltskanzleien entwickelt.

1.7.

Bestimmte spezialisierte Kanzleien bewerben nun den ISDS-Mechanismus als wichtiges Instrument zur Risikominderung im Vorfeld von Investitionen. Bekannt sind zum Beispiel Fälle, in denen ISDS zu einem Lobbyinstrument geworden ist, bei dem die bloße Androhung von Rechtsstreitigkeiten einen lähmenden Effekt auf die Rechtsetzung hat, die den Gesetzgeber davon abhält, legitime Maßnahmen von öffentlichem Interesse durchzusetzen. Es besteht auch Besorgnis angesichts der Tatsache, dass ISDS spekulative Investitionen von Hedge-Fonds usw. angezogen hat.

1.8.

Angesichts einer Reihe großzügiger Auslegungen der Frage, was unter einer Enteignung zu verstehen ist, wächst die Sorge, dass dem Steuerzahler Entschädigungszahlungen für Maßnahmen von öffentlichem Interesse, die angeblich gewinnschmälernd sind, aufgebürdet werden.

1.9.

Das Ende 2014 unterzeichnete Abkommen der EU mit Kanada (CETA) und das gesonderte Kapitel über Investitionen, um das das Freihandelsabkommen EU-Singapur ergänzt wurde, enthalten erstmals seit Einführung der EU-Zuständigkeit für Investitionen durch den Lissabon-Vertrag 2009 von der EU ausgehandelte Investitionskapitel. Obwohl diese Kapitel auf Verbesserungen am derzeitigen ISDS-System und die Einführung eines nach Angaben der Kommission neuen, modernen EU-Modells für ISDS abstellen, reichen sie bei weitem nicht aus, um die Befürchtungen der Öffentlichkeit zu zerstreuen. Die Modelle in Singapur und im CETA sind nicht identisch, und nach Ansicht vieler ist ISDS nach wie vor ein unausgewogenes und sehr teures Verfahren, das die Demokratie beschneidet, kein Rechtsmittel vorsieht und das Recht einer Regierung zur Festlegung von Vorschriften dadurch infrage stellt, dass ausländische Investoren Rechte erhalten, die über die in den jeweiligen nationalen Verfassungen verankerten oder die inländischen Investoren zustehenden Rechte hinausgehen. Der EWSA stellt mit Sorge fest, dass die CETA-Bestimmungen über ISDS derzeit die Grundlage für entsprechende Verhandlungen im Rahmen des Freihandelsabkommens EU-Japan bilden.

1.10.

Der Rollenwechsel zwischen Schiedsrichter und Berater stellt einen klaren Interessenkonflikt dar, der im CETA nicht gelöst wird. Dies bestätigt die Auffassung, dass die ISDS keine gerechte, unabhängige und ausgewogene Methode für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten ist.

1.11.

Der EWSA begrüßt die öffentliche Konsultation zum Thema ISDS in der TTIP. Im Gegensatz zum CETA hat sie dazu beigetragen, die TTIP-Verhandlungen transparenter zu gestalten und einen wichtigen Präzedenzfall geschaffen, der nach Überzeugung des Ausschusses nun auch auf alle künftigen Handelsverhandlungen ausgeweitet werden muss. Als Reaktion auf die Konsultation hat die Kommission vier Bereiche genannt, in denen weitere eingehende Überlegungen angestellt werden sollen, wobei der EWSA diese Liste für unvollständig hält und deshalb in den Abschnitten 7 bis 10 dieser Stellungnahme detaillierte Vorschläge zu diesen speziellen Themen unterbreitet.

1.12.

Der Ausschuss begrüßt zudem das Ziel, „unseriöse Klagen“ aus einem künftigen Mechanismus für den Investitionsschutz auszuschließen. Es ist wichtig, dass die an IIA beteiligten Parteien durch einen allgemeinen politischen Filter geschützt werden, mit dem sie in beiderseitigem Einvernehmen ggf. verhindern können, dass ein bestimmter Anspruch in ein Schiedsverfahren mündet, wenn berechtigte Gründe dafür vorliegen.

1.13.

Die Investoren sollten darin bestärkt werden, die in dem Abkommen verankerte Möglichkeit wie möglich zu halten.

1.14.

Der Schutzbedarf für ausländische Direktinvestitionen ist von Land zu Land unterschiedlich. aus.

1.15.

ISDS könnte sowohl die TTIP als auch das CETA zum Scheitern verurteilen. Die Kommission muss prüfen, ob es sinnvoll und richtig ist, dieses politisch heikle und in der Öffentlichkeit unpopuläre Ziel weiterzuverfolgen.

1.16.

Es gibt eine klare Botschaft aus Entwicklungsländern, dass ISDS ein inakzeptabler Mechanismus ist, der von einer zunehmenden Zahl wichtiger Global Players entschieden abgelehnt wird. Wird kein alternatives System gefunden, wird es immer schwieriger werden, den Investitionsschutz in künftige Abkommen aufzunehmen, gerade mit denjenigen Ländern, in denen dieser Schutz am dringendsten benötigt wird.

1.17.

Es bestehen erhebliche Bedenken auf der Ebene der EU-Verträge und des Verfassungsrechts in Bezug auf die Frage, in was für einem Verhältnis die im Rahmen der ISDS ergehenden Entscheidungen zur Rechtsordnung der EU stehen. Private Schiedsgerichte sind befugt, auch Schiedssprüche zu fällen, die nicht mit dem EU-Recht in Einklang stehen oder gegen die Grundrechtecharta verstoßen. Daher ist es nach Auffassung des EWSA unbedingt erforderlich, dass der EuGH vor der Beschlussfassung durch die zuständigen Institutionen und vor dem vorläufigen Inkrafttreten von der Kommission ausgehandelter internationaler Investitionsabkommen im Rahmen eines Gutachtens formell überprüft, ob die ISDS mit dem EU-Recht im Einklang steht.

Empfehlungen

1.18.

Soll eine Patentlösung für die Beilegung von Streitigkeiten gefunden werden, darf diese nicht in einer geringfügigen Überarbeitung des derzeitigen ISDS-Systems bestehen, das in der Öffentlichkeit nur sehr wenig Unterstützung findet.

1.19.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stehen alle G7-Staaten in fortgeschrittenen Verhandlungen über umfassende Handels- und Investitionsabkommen, und damit bietet sich die einzigartige Gelegenheit, ein glaubwürdiges System zu entwickeln, das die legitimen Interessen der Investoren und die Rechte eines Staates miteinander in Einklang bringt.

1.20.

Soll die Lösung in einem einheitlichen Gremium bestehen, dann darf sich dieses nicht aus privaten Rechtsanwälten zusammensetzen, muss im stärkeren Maße KMU offenstehen und muss grundsätzlich die Möglichkeit eines Rechtsmittels vorsehen.

1.21.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, die Vorschläge der UNCTAD zur Reform des ISDS-Systems zu prüfen, und kommt zu dem Schluss, dass die Einrichtung eines internationalen Investitionsgerichts die beste Lösung zur Gewährleistung eines demokratischen, fairen, transparenten und ausgewogenen Systems ist.

2.   Einleitung

2.1.

Gleichzeitig mit der mit überwältigender Mehrheit erfolgten Verabschiedung der Stellungnahme REX/390 (1) beschloss der EWSA, eine Initiativstellungnahme zum Thema ISDS zu erarbeiten. Zwar zielte die Empfehlung ursprünglich auf die TTIP ab, später wurde aber eine Ausweitung auf die Thematik Investitionsschutz und ISDS in Handels- und Investitionsabkommen mit Drittländern vereinbart.

2.2.

Auch wenn in dieser Stellungnahme die allgemeinen Folgen von ISDS-Vereinbarungen untersucht werden sollen, bezieht sich ein Großteil der verwendeten Materialien und Referenzen unvermeidlich auf die TTIP. Während der TTIP-Verhandlungen war die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat ein zentrales Thema für die Interessenträger aus der EU und den USA.

2.3.

Die Kommission führte eine 15 Wochen währende öffentliche Online-Konsultation (März bis Juli 2014) zum Thema ISDS in der TTIP durch. Der EWSA erachtete es als sinnvoll, vor Verabschiedung seiner Stellungnahme zunächst die Veröffentlichung der Ergebnisse dieser Konsultation abzuwarten und anschließend selbst eine öffentliche Anhörung durchzuführen. Die Ergebnisse der Konsultation wurden Mitte Januar 2015 veröffentlicht, und die Anhörung fand am 3. Februar 2015 statt. Die Beiträge waren bei der Erarbeitung dieser Stellungnahme äußerst hilfreich.

3.   Hintergrund

3.1.    Das System

3.1.1.

Der ISDS-Mechanismus ist ein Instrument des internationalen Rechts, das einem ausländischen Investor erlaubt, im Rahmen der Bestimmungen eines IIA ein Verfahren zur Streitbeilegung gegen einen ausländischen Staat anzustoßen. Die Abkommen sollen bei Auslandsinvestitionen grundlegende Verpflichtungen für die beteiligten Parteien schaffen und garantieren, dass Staaten wesentliche Grundsätze beachten, so z .B.:

die Verpflichtung, nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren und eine faire und ausgewogene Behandlung zu gewährleisten;

das Verbot einer direkten oder indirekten Enteignung ohne eine umgehende und angemessene Entschädigung mit Schutzwirkung;

den Schutz der Möglichkeit des Kapitaltransfers.

3.1.2.

Sollte ein ausländischer Investor im Rahmen eines internationalen Investitionsabkommens eine Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen durch einen Staat vermuten, so kann er über den ISDS-Mechanismus ein internationales Schiedsverfahren anstoßen. Er muss nachweisen, dass ihm durch die betreffenden Maßnahmen ein erheblicher Schaden entstanden ist. Sollte der Klage stattgegeben werden, so hat der Gaststaat den entstandenen Schaden zu ersetzen. Im Gegensatz zu den WTO-Mechanismen zur Streitbeilegung ist ein verurteilter Staat hier nicht zur Änderung seiner Rechtsvorschriften verpflichtet.

3.1.3.

Das ISDS-System basiert weitgehend auf dem Argument, dass es ein entpolitisiertes und neutrales Forum für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen ausländischen Investoren und Gastgeberstaaten bietet. Es gibt Unternehmen die Möglichkeit, Staaten vor internationalen Gerichtshöfen zu verklagen. Diese Möglichkeit besteht ausschließlich für ausländische Unternehmen oder multinationale Unternehmen, die über ein Tochterunternehmen in einem anderen Land agieren. Die beteiligten Kommunen, Bürger, inländischen Unternehmer und Staaten können auf diesen Mechanismus nicht zugreifen.

3.1.4.

Die Schiedsrichter sind im Gegensatz zu nationalen Rechtssystemen keine Berufsrichter im öffentlichen Amt. Die Schiedsgerichte setzen sich zumeist aus drei privaten Rechtsanwälten zusammen und werden ad hoc besetzt. Sie tagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ihre Entscheidung ist endgültig und es besteht keine Möglichkeit, Rechtsmittel dagegen einzulegen.

3.1.5.

Das ISDS-Verfahren kann auf Wunsch beider Streitparteien unter dem völligen Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden, auch wenn die Streitigkeit Fragen des öffentlichen Interesses berührt. Obwohl die Standard-BIT der USA für mehr Transparenz sorgen, gibt es in vielen bestehenden Abkommen nach wie vor Heimlichtuerei. Die UNCITRAL-Regeln über Transparenz werden zu einer erheblichen Verbesserung der Lage führen, sofern sie allgemein umgesetzt werden.

3.2.    Fakten und Statistiken

3.2.1.

93 % der bilateralen Investitionsschutzabkommen enthalten eine ISDS-Klausel (2). ISDS ist auch Bestandteil bestimmter internationaler Handelsabkommen, so z .B. des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA), und internationaler Investitionsabkommen wie des Energiecharta-Vertrags. Im Jahr 2014 löste der Energiecharta-Vertrag das NAFTA-Abkommen als das am häufigsten geltend gemachte Abkommen ab (3).

3.2.2.

Die EU-Mitgliedstaaten haben seit den 1950er Jahren mehr als 1  400 bilaterale Investitionsschutzabkommen geschlossen, d. h. in etwa die Hälfte aller weltweit geschlossenen Abkommen dieser Art (4). In allen finden sich weitgehend ähnliche Bestimmungen zum Investitionsschutz und zur ISDS. Berichten zufolge werden ISDS-Verfahren weltweit am häufigsten von Investoren aus der EU angestrengt (50 % aller Fälle).

3.2.3.

Zurzeit führt die EU Verhandlungen mit den USA über die TTIP und mit Japan über ein umfassendes Freihandelsabkommen, und sie hat kürzlich die Verhandlungen über ein Abkommen mit Kanada abgeschlossen. Mehr als jeder andere Aspekt haben diese Verhandlungen eine breite öffentliche Debatte darüber angestoßen, ob es nötig ist, in jedem Investitionskapitel einen ISDS-Mechanismus vorzusehen.

3.2.4.

Lediglich neun EU-Mitgliedstaaten haben bilaterale Investitionsabkommen mit den USA (Bulgarien, Kroatien, die Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei), sieben Mitgliedstaaten haben ein bilaterales Investitionsabkommen mit Kanada und kein EU-Land hat ein Abkommen mit Japan. Alle diese Abkommen bestanden bereits, bevor das jeweilige Land der EU beigetreten ist.

3.2.5.

Der Bestand ausländischer Direktinvestitionen von US-Investoren in den genannten neun Mitgliedstaaten entspricht 1 % der gesamten ausländischen Direktinvestitionen aus den USA in der EU. Die ausländischen Direktinvestitionen aus diesen Mitgliedstaaten in den USA machen gerade einmal 0,1 % des gesamten Bestands ausländischer Direktinvestitionen in den USA aus (5).

3.3.    Zahl der Verfahren

3.3.1.

Die Zahl der ISDS-Verfahren ist zwischen 2002 und 2014 drastisch gestiegen (auf 58 im Jahr 2013 und 42 im Jahr 2014) (6), wobei es bis Ende 2014 insgesamt 610 Schiedsverfahren auf Grundlage von Abkommen gab. Da die meisten Schiedsgerichte aber kein öffentliches Fallverzeichnis führen, ist damit zu rechnen, dass die tatsächliche Zahl der Verfahren höher liegt.

3.3.2.

Von den 356 bekannten Fällen, die zu einem Abschluss gekommen sind, wurden 25 % zugunsten des Investors und 37 % zugunsten des Staates entschieden. Bei 28 % der Fälle wurde nicht öffentlich gemacht, wie sie ausgegangen sind.

3.4.    Zeit und Kosten

3.4.1.

Die durchschnittlichen Kosten eines Schiedsverfahrens liegen bei 4 Mio. US-Dollar pro Partei, davon sind ca. 82 % Rechtskosten (7). Einige Verfahren können mehrere Jahre dauern.

3.4.2.

Die hohen Kosten haben dazu geführt, dass die Klagen zunehmend von Dritten finanziert werden. Damit sinkt das finanzielle Risiko für Unternehmen und steigt die Zahl der unseriösen Klagen, für die die Staaten aber dennoch im vollen Umfang die rechtlichen Kosten tragen müssen. Der Ausschuss lehnt spekulative Investitionen von Hedgefonds in bestimmte ISDS-Verfahren gegen einen Anteil an der gewährten Entschädigung nachdrücklich ab (8).

4.   Argumente für ISDS

4.1.

Abgesehen von Irland haben alle Mitgliedstaaten eine ISDS-Klausel in ihren bilateralen Investitionsabkommen vorgesehen. Darüber hinaus gibt es 190 EU-interne bilaterale Investitionsabkommen, auf die 16 % aller weltweit registrierten ISDS-Verfahren entfallen.

4.2.

Das Verhandlungsmandat der Europäischen Kommission, das 2012 von den damals 27 Mitgliedstaaten erteilt wurde, umfasst auch das Ziel der Schaffung eines ISDS-Systems, das einen effektiven und modernen Streitbeilegungsmechanismus bietet.

4.3.

Die Europäische Kommission (9) sieht in der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat

ein wichtiges Instrument zum Schutz von Investitionen und daher zur Förderung und Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums in der EU;

eine effektive Möglichkeit zur Durchsetzung der Verpflichtungen, die unsere Handelspartner gegenüber unseren Investoren bei der Unterzeichnung von Investitionsabkommen eingehen.

4.4.

Ein von der Gruppe der Arbeitgeber im EWSA organisiertes Wirtschaftsdiskussionsforum zum Thema TTIP kam in seiner gemeinsamen Erklärung (10) zu dem Schluss, dass ein internationales Abkommen wie die TTIP die richtigen Bedingungen schaffen sollte, um im hohen Maße künftige Investitionen im transatlantischen Markt anzuziehen. Dazu gehörten u. a. die Gewährung eines umfassenden Zugangs und die nichtdiskriminierende Behandlung von Investoren auf beiden Seiten sowie die Verbesserung des gegenwärtigen Rahmens für den Investitionsschutz (einschließlich ISDS), indem dieser für KMU zugänglicher gemacht wird, und die Schaffung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Rechten der Investoren und dem Recht der Mitgliedstaaten und der lokalen Gebietskörperschaften, im öffentlichen Interesse Vorschriften zu erlassen. Darüber zu wachen, dass die in der TTIP vorgeschlagenen ISDS-Bestimmungen die Mitgliedstaaten der EU nicht in ihrer Fähigkeit beschneiden, Regeln im öffentlichen Interesse aufzustellen, wurde auch in den Schlussfolgerungen einer gemeinsamen Sitzung zu den transatlantischen Verhandlungen im Juni 2014 von den Interessengruppen Verbraucher, Umweltschützer und Landwirte gefordert.

4.5.

Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks sehen eine dringende Notwendigkeit für einen ISDS-Mechanismus als wesentliche Garantie für ausländische Investitionen. Sie argumentieren, dass ein derartiger Mechanismus

ein entscheidender Teil des Investitionsschutzes ist, einen neutralen und auf Fakten gegründeten Streitbeilegungsmechanismus bietet und Regeln enthält, die die Einhaltung der Bestimmungen fördern und Missbrauch verhindern;

das Recht von Staaten auf Erlassung von Vorschriften und das Recht der Investoren auf Schutz durch das internationale Recht fördert.

4.6.

Ferner wird damit argumentiert, dass ISDS ein letztes Mittel sei, das nur in Extremfällen zum Einsatz komme, wenn alle anderen Optionen gescheitert seien, und dass 90 % der bilateralen Investitionsabkommen noch nie von Investoren genutzt worden seien, um Ansprüche geltend zu machen. Der weltweite Bestand an ausländischen Direktinvestitionen belaufe sich zwar auf über 25 Billionen Dollar, doch habe es seit 1987 erst rund 500 Fälle gegeben. Schiedssprüche gewährten lediglich eine finanzielle Entschädigung. Die Schiedsrichter hätten nicht die Möglichkeit, die Rechtsvorschriften oder Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu ändern (11).

4.7.

Die Unternehmen machen zudem geltend, dass ein funktionierendes und modernes ISDS-System auch für KMU wichtig sei, die ja 22 % aller Fälle weltweit eingereicht hätten (12).

4.8.

Die Vertreter der Unternehmen fordern zwar die Aushandlung eines liberalen Investitionsabkommens (13), räumen allerdings auch ein, dass Maßnahmen ergriffen werden sollten, um ISDS zu einem wirksameren, modernen, berechenbaren und transparenten Instrument zu machen. Sie sprechen sich für klarere Definitionen wichtiger Begriffe wie „Investor/Investition“, „gerechte und billige Behandlung“ und „indirekte Enteignung“ aus (14).

4.9.

Es wird argumentiert, dass — angesichts des enormen Interesses an den Verhandlungen zur TTIP, zum CETA und zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan und aufgrund des Einflusses jedes dieser Abkommen auf andere, sich noch in der Ausarbeitungsphase befindlichen Abkommen — das Ausbleiben einer Einigung die Aussichten auf eine ISDS-Bestimmung in anderen bilateralen Investitionsabkommen deutlich verringern würde.

5.   Bedenken und Gegenstimmen

5.1.

Die Unterstützung für ISDS findet keinen Widerhall in anderen zentralen Bereichen der Zivilgesellschaft. Allerdings besteht ein breiter Konsens darüber, dass ausländische Investoren Schutz vor direkter Enteignung benötigen, dass sie gegenüber inländischen Investoren nicht diskriminiert werden dürfen und dass ihnen dieselben Alternativen wie jenen offenstehen müssen.

5.2.

Heftiger Widerspruch wurde auf beiden Seiten des Atlantiks von Gewerkschaften, Nichtregierungs-, Verbraucher- und Umweltorganisationen sowie von Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens geäußert.

5.3.

Die Hauptsorge besteht darin, dass das ISDS-System nicht zweckdienlich ist und dass es internationalem Kapital quasi den gleichen Rechtsstatus verleiht, wie ihn ein souveräner Staat hat. Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass zwei Länder, die ihre Wirtschaftsbeziehungen durch ein IIA fördern wollen, einander gewisse Garantien bezüglich der Behandlung der Investoren und Investitionen aus dem anderen Land geben werden.

5.4.

ISDS ist seit ihren bescheidenen Anfängen, als sie bei ausländischen Direktinvestitionen in Entwicklungsländern mit einem schlecht funktionierenden Rechtssystem Unterstützung dabei leisten sollte, Entschädigungen für direkte Enteignungen privaten Eigentums durch nationale Regierungen zu erwirken, zu einem Mechanismus geworden, der

das Machtverhältnis zwischen Investoren, Staaten und anderen beteiligten Parteien grundsätzlich verschiebt;

die Rechte von Unternehmen über das Recht der Staaten auf Rechtsetzung und über das souveräne Recht von Nationen auf Selbstbestimmung stellt.

5.5.

Der Begriff Enteignung wurde immer weiter ausgedehnt und umfasst mittlerweile einer Enteignung gleichkommende Maßnahmen, indirekte und regulative Enteignung. Als Folge davon werden Klagen gegen jegliche staatliche Maßnahme, die möglicherweise Auswirkungen auf Gewinne, zukünftige Gewinne oder berechtigte Gewinnerwartungen haben könnte, zugelassen, selbst wenn die jeweilige Politik oder Maßnahme allgemeiner Natur ist und die infrage stehende Investition gar nicht betrifft.

5.6.

Niederlagen vor nationalen Gerichten wurden als „Enteignungen“ angefochten, z .B. in der 500-Mio.-US-Dollar schweren Klage des US-amerikanischen Pharmagroßunternehmens Eli Lilly gegen den kanadischen Staat, in der sich das Unternehmen darauf beruft, dass die Entscheidungen des kanadischen Bundesgerichts bezüglich zweier patentierter Medikamente die Investorenrechte des Unternehmens verletzten. Dies ist der erste Versuch eines Patente innehabenden Pharmakonzerns, die außerordentlichen Privilegien der US-Handelsabkommen als Instrument zur Ausweitung von Monopolstellungen durch Patentschutz zu nutzen (15).

5.7.

Mittlerweile bieten Fachkanzleien Beratung und gewinnbringende Nutzung in Fällen, die nicht viel mit der Enteignung privaten Eigentums zu tun haben. Eine Hand voll Fachkanzleien für Investitionsrecht ist auf der Welle des boomenden Geschäfts mit den Investitionsstreitigkeiten geritten und beherrscht nun den Markt.

5.8.    Ist eine ISDS-Bestimmung in der TTIP notwendig?

5.8.1.

Im Rahmen der TTIP kann kaum dahingehend argumentiert werden, dass Investoren Grund zum Zweifel an den bestehenden nationalen Rechtssystemen haben. Sowohl die EU als auch die USA haben ausgereifte und solide Rechtssysteme. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum die Rechte ausländischer Investoren über die Aufnahme einer einfachen Bestimmung über den diskriminierungsfreien und gleichberechtigten Zugang zu den nationalen Gerichten nicht angemessen geschützt sein sollten. Diese Argumente können auch für Kanada und Japan vorgebracht werden. Erweist es sich in diesen hoch entwickelten Demokratien als schwierig, internationale Rechte durch Verhandlungen, Mediation oder innerstaatliche Gerichtsbarkeit durchzusetzen, dann sollte das Problem in erster Linie durch eine Beilegung auf zwischenstaatlicher Ebene gelöst werden.

5.8.2.

In einem Bericht der London School of Economics, in dem das US-amerikanische Musterabkommen für bilaterale Investitionsabkommen von 2012 untersucht wird, wird festgestellt, dass es bestimmte Bereiche gebe, in denen das bilaterale Investitionsabkommen mit den USA erheblich über das Recht im Vereinigten Königreich hinausgehe. Aus diesem Grund und unter Berücksichtigung der Menge der US-Investitionen im Vereinigten Königreich wird die Auffassung vertreten, dass ein erhebliches Risiko — ein politischer Preis — bestehe, dass künftig bevorzugte Politikansätze auf Betreiben von US-Investoren im Vereinigten Königreich aufgegeben oder angepasst werden könnten.

5.8.3.

Die Behauptung, dass ein fehlender ISDS-Mechanismus ein Hindernis für ausländische Investitionen darstelle, ist nicht nachvollziehbar: Das Volumen der in die EU fließenden Auslandsinvestitionen ist innerhalb der Union sehr unterschiedlich. Einige der Mitgliedstaaten, die in ihren BIT mit den USA einen ISDS-Mechanismus vorgesehen haben, gehören zu jenen Ländern, in die die wenigsten US-Auslandsinvestitionen fließen:

Die ausländischen Direktinvestitionen der USA und der EU belaufen sich zurzeit auf beiden Seiten auf mehr als 2,5 Billionen USD (1,5 Billionen EUR). Aus den USA fließen allein nach Belgien viermal so viele ausländische Direktinvestitionen wie nach China.

Brasilien, das lateinamerikanische Land, in das die meisten ausländischen Direktinvestitionen fließen, hat keine Investitionsabkommen mit ISDS-Klausel.

Australien hat gezeigt, dass ein Land durchaus in der Lage ist, in dem einen bilateralen Handelsabkommen (mit den USA) keine Bestimmungen zum Investitionsschutz vorzusehen, in dem anderen (mit Korea) aber sehr wohl. Es gibt keinen Grund, warum die EU nicht einen ähnlichen Weg einschlagen sollte.

5.8.4.

Es ist äußerst fraglich, dass das Fehlen eines ISDS-Mechanismus in der TTIP die EU in ihren Möglichkeiten, ISDS in zukünftige bilaterale Investitionsabkommen und in Investitionsabkommen mit Nicht-OECD-Ländern wie China aufzunehmen, beeinträchtigen könnte. China hat bereits ein dichtes Netz von mehr als 130 bilateralen Investitionsabkommen aufgebaut (davon mit 26 Mitgliedstaaten der EU). In China ist der Wunsch nach einem Abkommen genauso stark wie in der EU. Fraglich ist dagegen, ob es im Interesse der EU läge, staatlichen chinesischen Unternehmen, die im Wesentlichen der verlängerte Arm der chinesischen Regierung sind, die Möglichkeit einzuräumen, öffentliche Maßnahmen durch Einsatz von ISDS anzufechten. So könnte ein ausländischer Staat ein ursprünglich für Wirtschaftsaspekte gedachtes Verfahren bei Fragen einsetzen, die eigentlich durch Verhandlung und Diplomatie gelöst werden sollten.

5.8.5.

In einer im März 2015 vom Zentrum für europäische politische Studien (CEPS) und dem Zentrum für transatlantische Beziehungen (CTR) der Johns-Hopkins-Universität veröffentlichten ausführlichen Analyse heißt es zusammenfassend: Die Aufnahme eines Investitionsschutzkapitels in die TTIP, das mit einem ISDS-Mechanismus einhergeht, wird wahrscheinlich keine großen wirtschaftlichen oder politischen Vorteile für die EU bringen. Aus unserer Analyse geht auch hervor, dass die Aufnahme derartiger Bestimmungen zu erheblichen wirtschaftlichen und politischen Kosten für die EU führen würde. Die möglichen Kosten dürfen zwar nicht überbewertet werden, doch in unserer Gesamtbewertung übersteigen die Kosten höchstwahrscheinlich etwaige Vorteile für die EU. Daher wäre es aus unserer Sicht für die EU ratsam, Alternativen zu erwägen, es sei denn, ISDS geht mit erheblichen Zugeständnissen der Vereinigten Staaten einher, die die ISDS-bedingten Kosten aufwiegen (16).

5.9.    Die gegenwärtige politische Lage

5.9.1.

Südafrika, Bolivien, Ecuador, Venezuela und Indonesien haben begonnen, bestehende bilaterale Investitionsabkommen zu kündigen oder auslaufen zu lassen. Indien prüft angeblich auch seine Abkommen, und im Zuge des Philipp-Morris-Verfahrens hat Australien angekündigt, in zukünftigen Abkommen keinen ISDS-Klauseln mehr zuzustimmen.

5.9.2.

Die Nationale Konferenz der bundesstaatlichen Parlamente, in der alle Parlamente der 50 US-amerikanischen Bundesstaaten vertreten sind, hat angekündigt (17), dass sie kein Handelsabkommen unterstützen werde, das eine Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat vorsieht, da dies ihre Fähigkeit einschränke, als staatlicher Gesetzgeber gerechte und diskriminierungsfreie Vorschriften zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und des Gemeinwohls, zur Sicherung der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer und zum Schutz der Umwelt zu beschließen und durchzusetzen.

5.9.3.

Auch in Europa wächst der Widerstand gegen ISDS. Deutschland, Österreich, Griechenland und Frankreich hinterfragen die Rechte der Investoren in der TTIP.

5.9.4.

Aus dem Europäischen Parlament hört man ebenfalls Warnungen von Mitgliedern des einflussreichen Ausschusses für Internationalen Handel (INTA), die fordern, ISDS aus der TTIP auszuklammern.

5.9.5.

Der Ausschuss der Regionen warnt davor, dass an der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbeigehende Streitbeilegungsmechanismen im Verhältnis Investor und Staat zwischen der EU und den USA mit hohen Risiken verbunden seien und demzufolge auf sie verzichtet werden sollte (18).

5.9.6.

Diese Haltung findet ihren Widerhall auch in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen Europas, die ISDS in der TTIP ablehnen. Eines der Hauptargumente lautet, dass ein Investor nach Beschreiten des nationalen Rechtsweges und einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung seine Forderung dann immer noch vor einem Investitionsgericht geltend machen kann. Dieses Gericht hätte das letzte Wort, und das läuft der Demokratie zuwider.

6.   Die öffentliche Konsultation der Europäischen Kommission zum Thema Investitionsschutz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat im Rahmen der TTIP

6.1.

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, eine öffentliche Konsultation zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat im Rahmen der TTIP durchzuführen. Wenn die doppelt eingereichten Antworten außer Acht gelassen werden, gingen 1 43  053 Antworten ein, was das Ausmaß des öffentlichen Interesses belegt. Das im Januar 2015 veröffentlichte Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen enthält eine gründliche inhaltliche Analyse der öffentlichen Reaktion (19).

6.2.

Grundlage der Konsultation war ein Dokument, das sich an das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA anlehnte. Leider gab es zu dem Entwurf dieses Abkommens ebenso wie bei dem Abkommen mit Singapur keine öffentliche Konsultation. Die Tatsache jedoch, dass das CETA-Abkommen nach Abschluss der Verhandlungen — sozusagen nachdem die Tinte schon trocken war — als Grundlage für eine öffentliche Konsultation diente, hat dahingehend Bedenken laut werden lassen, dass die öffentliche Konsultation eine vollendete Tatsache betreffe und zu wenig mehr als dazu diene, die neue Generation von Investitionsabkommen im Sinne der EU abzusegnen. Diese Sorge wurde durch die Tatsache verschärft, dass der Schwerpunkt des Konsultationsdokuments auf den Modalitäten lag und dass die Konsultation keinerlei konkrete Frage darüber enthielt, ob ISDS grundsätzlich in die TTIP aufgenommen werden sollte. Die Konsultation hatte jedoch zum Ziel, die Interessenträger zu Verbesserungsmöglichkeiten von ISDS in der TTIP zu konsultieren.

6.3.

Angesichts der Unmenge der bereits vorhandenen Informationen aus der aktiven öffentlichen Debatte im Internet über die ISDS war die Konsultation nur eine geringe Bereicherung. Zur Zusammenführung der verschiedenen Argumentationslinien und als Gelegenheit zur direkten Einflussnahme für die Zivilgesellschaft war sie allerdings äußerst nützlich.

6.4.

Es ist bedauerlich, dass die 97 % der Antworten, die kollektiv über verschiedene Online-Plattformen eingereicht wurden, von einigen Befürwortern der ISDS einfach abgetan wurden, obgleich kollektive Beiträge ein legitimer Bestandteil öffentlicher Konsultationen sind. Der EWSA begrüßt die Versicherung der Kommission, dass alle Antworten gleichermaßen berücksichtigt worden seien.

6.5.

Der EWSA stellt fest, dass weniger als 1 % der Befragten angaben, Investoren in den USA zu sein, ist aber der Ansicht, dass dies kein Grund zur Besorgnis ist. Bei Fragen, die Demokratie sowie Hoheitsrechte und Selbstbestimmung der Staaten betreffen, ist eine breite Beteiligung der Zivilgesellschaft wesentlich und unabdingbar.

6.6.

Es wurden von der Europäischen Kommission vier Bereiche benannt, in denen nach weiteren Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden sollte:

Schutz des Rechts, Vorschriften zu erlassen;

Einrichtung und Arbeitsweise von Schiedsgerichten;

Zusammenhang zwischen nationalen Justizsystemen und ISDS;

Überprüfung von ISDS-Entscheidungen über einen Berufungsmechanismus.

Diese Bereiche werden in dem Konzeptpapier „Investment in TTIP and beyond — the path for reform“, das das Kommissionsmitglied Malmström im Mai 2015 dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt hat, weiter vertieft.

6.7.

Der EWSA nimmt mit Verwunderung zur Kenntnis, dass in der Sitzung im Rahmen des zivilgesellschaftlichen Dialogs am 18. Mai bestätigt wurde, dass das im CETA vereinbarte Investitionsschutzmodell derzeit in den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Japan als Grundlage dient. Angesichts der Tatsache, dass die EU-Kommissarin in ihrem dem Europäischen Parlament am 6. Mai vorgelegten Konzeptpapier „Investment in TTIP and beyond — the Path for Reform“ zahlreiche Bereiche für weitere Verbesserungen des Textes des CETA-Abkommens benannt hat, zeigt sich der Ausschuss darüber besorgt, dass dieses Abkommen weiterhin die Grundlage für Verhandlungen mit einem so wichtigen globalen Partner wie Japan bilden soll.

7.   Schutz des Rechts auf Rechtsetzung

7.1.

Der EWSA zeigt sich besorgt, dass das European Service Forum in seinem Beitrag zur öffentlichen Konsultation darauf drängt, Ausnahmen und Beschränkungen auf ein Minimum zu reduzieren, und von der Kommission fordert, „das ihr durch den Vertrag von Lissabon erteilte Verhandlungsmandat zur Verbesserung und Stärkung und nicht zur Verwässerung der ISDS“ zu nutzen. Die Forderungen umfassen: uneingeschränkte Meistbegünstigungsklausel, uneingeschränkte Inländerbehandlungsklausel, uneingeschränkte Klausel zur fairen und ausgewogenen Behandlung, eine breite Schirmklausel, keine Ausnahmen für bestimmte Branchen, keine Filtermechanismen, volle Entschädigung bei direkter und indirekter Beschlagnahmung  (20).

7.2.

ISDS wird immer stärker dazu genutzt, um nationale Rechtssysteme auszuhebeln und dabei Staaten vor Gerichten des internationalen Privatrechts zu verklagen, um für politische Maßnahmen im öffentlichen Interesse, die angeblich Unternehmensgewinne schmälern, mit Steuergeldern entschädigt zu werden. Dies trifft insbesondere auf die Bereiche Gesundheit und Umweltschutz zu.

7.3.

Der Widerstand gegen ISDS ist durch aufsehenerregende Fälle der jüngsten Vergangenheit deutlich stärker geworden:

Philip Morris hat Australien wegen der Verpackung von Zigaretten mit dem Argument verklagt, dass der Wert ihrer Investitionen in Marken und weiterem geistigen Eigentum geschmälert werde.

Nach dem Beschluss Deutschlands über den Atomausstieg fordert das Unternehmen Vattenfall vom deutschen Staat unter Berufung auf den Energiecharta-Vertrag mehr als 3,7 Mrd. US-Dollar.

Lone Pine verklagte Kanada auf 250 Mio. kanadische Dollar, nachdem die Provinz Quebec aufgrund von Umweltbedenken ein Moratorium für Fracking verhängt hatte.

Das Unternehmen Veolia hat Ägypten aufgrund seines Beschlusses zur Anhebung des Mindestlohnes verklagt, da dies zu einer Schmälerung der Gewinne des Unternehmens führen werde.

Libyen wurde aufgrund der Annullierung eines Tourismusprojekts dazu verurteilt, einem Unternehmen aus Kuwait für entgangene Gewinne aus tatsächlichen und sicheren Möglichkeiten 935 Mio. US-Dollar Entschädigung zu zahlen (21). Der Investor hatte gerade einmal 5 Mio. US-Dollar in das Projekt investiert und der Bau hatte noch gar nicht begonnen.

Das Unternehmen Micula verklagte den rumänischen Staat wegen einer Investition, die das Unternehmen vor dem EU-Beitritt des Landes im Rahmen einer staatlichen Fördermaßnahme für Unternehmen getätigt hatte. Im Rahmen seines Beitritts zur EU hat Rumänien aufgrund der Vorschriften über staatliche Beihilfen seine Förderprogramme eingestellt. Für die Nichteinhaltung der Verpflichtungen im Rahmen des bilateralen Investitionsabkommens sprach das Gericht dem Unternehmen eine Entschädigung in Höhe von 1 16  000 USD zuzüglich Zinsen zu (geschätzte Gesamtsumme 2 50  000 USD). Die Zahlung wurde Rumänien 2014 jedoch mit einer einstweiligen Verfügung der GD Wettbewerb vorläufig untersagt, da die Zahlung als rechtswidrige staatliche Beihilfe anzusehen wäre. Ungeachtet dessen hat das Schiedsgericht dem Unternehmen auf Grundlage einer Klausel mit Bezug auf das New Yorker Übereinkommen die Möglichkeit eingeräumt, die Schadensersatzforderung vor US-Gerichten einzuklagen.

7.4.

Investitionsabkommen verbieten jegliche Beschränkung der Kapital- oder Gewinnrückführung. Die Staaten dürfen zur Abwehr von Angriffen auf ihre Währung keine Kapitalverkehrskontrollen einführen oder in einer Krise abfließende Kapitalströme beschränken, auch wenn der IWF solche Kontrollen als eine entscheidende politische Maßnahme ansieht. Am härtesten hat es bei den ISDS-Fällen Argentinien getroffen, das nach seiner 2002 beschlossenen Abkopplung des Pesos vom US-Dollar mehr als 500 Mio. US-Dollar zahlen musste.

7.5.

Zwar sind für öffentliche Dienste in Kapitel 11 des CETA (Grenzüberschreitender Dienstleistungsverkehr) Ausnahmen vorgesehen, aber es gibt keine solchen Ausnahmen oder Ausschlüsse im Rahmen von Kapitel 10 (Investitionsschutz). Grundsätzlich ist es zwar richtig, dass Investoren vor Willkürakten staatlicher Behörden geschützt werden, aber die Definition des Begriffs „Enteignung“ und insbesondere des Begriffs „indirekte Enteignung“ gibt Anlass zu Bedenken in Hinsicht auf die Fähigkeit von Staaten, bestimmte Tätigkeiten, die derzeit von privatwirtschaftlichen Unternehmen erbracht werden, aus berechtigten Gründen des Gemeinwohls wieder in staatliche Hand zu legen. Enteignung nach Kapitel 10 umfasst jegliche Rechtsvorschriften, die dazu führen, dass der Wert eines privaten Unternehmens gemindert wird. Die Entschädigung muss dem tatsächlichen Verlust entsprechen. Das könnte es für Staaten wirtschaftlich untragbar machen, Dienstleistungen wieder in staatliche Hand zu legen.

7.6.

Im Rahmen des CETA wird allgemein anerkannt, dass die Definition des Begriffs „indirekte Enteignung“ zu weit gefasst ist. Anhang X.11 Absatz 3 versucht, Klarheit zu schaffen, indem die Gemeinwohlziele festgelegt werden, die keine indirekte Enteignung darstellen wie Gesundheit, Sicherheit oder Umwelt. Es besteht aber die Gefahr, dass dies als zu einschränkend ausgelegt werden könnte, da für andere, weiterreichende Gemeinwohlziele, wie etwa die Wirtschafts- oder Finanzpolitik oder die Renationalisierung zentraler Dienstleistungen, weiterhin die Möglichkeit besteht, im Rahmen der ISDS Ansprüche wegen indirekter Enteignung geltend zu machen. Es ist wichtig, diesen Punkt zu klären.

7.7.

Im Rahmen ihrer Pläne, einen Missbrauch der ISDS seitens der Investoren zu verhindern, erklärt die Europäische Kommission, dass sie beabsichtige, Bestimmungen zur Verhinderung unseriöser Klagen in die TTIP aufzunehmen (22). Der Entwurf des CETA sieht auch ein beschleunigtes Verfahren für die Zurückweisung unbegründeter und unseriöser Klagen vor. Allerdings wird es sich als äußerst schwierig erweisen, den Begriff unseriös streng juristisch zu definieren, was dazu führen könnte, dass sich das Geschäftsfeld für auf Investitionsrecht spezialisierte Anwälte noch weiter ausdehnt.

7.8.

Der Entwurf des CETA enthält ebenfalls eine abschließende Definition des Begriffs faire und ausgewogene Behandlung, die von den Gegnern der ISDS als zu weit gefasst und von der Wirtschaft als zu unflexibel angesehen wird. Sie lässt dem Gericht immer noch Interpretationsspielraum und beinhaltet keinen flexiblen Überprüfungsmechanismus.

7.9.

Schon allein die Aussicht auf ein ISDS-Verfahren kann auf die Rechtsetzung lähmend wirken und Staaten aus Angst vor dem Verfahren und den drohenden finanziellen Sanktionen davon abhalten, im öffentlichen Interesse gesetzgeberisch tätig zu werden. So hat zum Beispiel die Regierung Neuseelands ihr eigenes Gesetz über Einheitsverpackungen für Tabakerzeugnisse so lange aufgeschoben, wie eine Entscheidung im Verfahren Philipp Morris gegen Australien aussteht.

7.10.

In einer Mitteilung der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer an ihre multinationale Mandantschaft heißt es, Unternehmen sind heutzutage stärker für die mögliche Bedeutung von Investitionsabkommen sensibilisiert, nicht nur als letzte Verteidigungslinie für den Notfall, sondern auch als wichtiges präventives Instrument zur Risikominderung im Vorfeld von Investitionsentscheidungen.

7.11.

Auch wenn sich die Europäische Kommission dazu verpflichtet hat, in künftigen Handels-/Investitionsabkommen der EU sicherzustellen, dass ein Staat nicht gezwungen werden kann, eine Maßnahme rückgängig zu machen, wird außer Acht gelassen, wie sich allein die Androhung einer gigantischen Strafe infolge einer Klage über mehrere Milliarden Dollar auswirken könnte.

7.12.

Der Entwurf des CETA sieht außerdem vor, dass die Kosten des Schiedsverfahrens von der unterlegenen Partei zu tragen sind. Das bedeutet, dass bei geringfügigen Forderungen der Antragsteller alle Kosten zu tragen hat. Allerdings legt die enorme Höhe vieler der in jüngster Vergangenheit erhobenen Forderungen den Schluss nahe, dass angesichts des potenziellen Gewinns dieses Hindernis auf multinationale Unternehmen mit erheblichen Geldreserven und auf entsprechend spezialisierte Kanzleien keinen großen Einfluss haben wird. Auf kleine und mittlere Unternehmen allerdings müssen die Kosten von 4 Mio. US-Dollar, die im Durchschnitt pro Partei anfallen, wenn Forderungen aufgrund der ISDS-Bestimmungen erhoben werden, äußerst abschreckend wirken.

8.   Einrichtung und Arbeitsweise von Schiedsgerichten

8.1.

Das bestehende System wird unter Ziffer 3 erläutert. Bei der Konsultation hat sich gezeigt, dass es in Bezug auf dieses System verbreitet Bedenken gibt.

Es herrscht ein breiter Konsens, dass die ISDS in ihrer jetzigen Form nicht weitergeführt werden kann.

8.2.    Schiedsrichter

8.2.1.

Für jedes Verfahren benennen beide Parteien ihren Schiedsrichter und müssen sich diese beiden dann auf einen dritten Schiedsrichter verständigen, der mangels einer solchen Einigung üblicherweise von einer Ernennungsstelle ernannt wird. Dies steht im Gegensatz zu nationalen Richtern, die ohne Zutun der Parteien eingeteilt werden. Für gewöhnlich stammen die Schiedsrichter aus dem Zentrum ICSID oder der Kommission UNCITRAL und sind Spitzenjuristen wie z .B. erfahrene Rechtsanwälte, Professoren oder ehemalige Richter. Im Gegensatz zur Praxis der WTO scheint es, als ob für Verfahren mit Beteiligung anderer Staaten bisher keine staatlichen ISDS-Verteidiger oder staatliche Verhandlungsführer für Investitionsabkommen als Schiedsrichter benannt wurden.

8.2.2.

Nach Angaben des Corporate Europe Observatory (CEO) (23) waren Schiedsrichter häufig vorher in anderen Verfahren als Berater tätig: in 50 % der Fälle für die Investoren und in 10 % der Fälle für Staaten. Dieser Rollenwechsel innerhalb einer relativ kleinen Gruppe von Personen (15 Rechtsanwälte waren in 55 % aller Fälle als Schiedsrichter tätig) (24) wird bisweilen als Grund dafür gesehen, dass ein Korpsgeist entstehen und „schädliche Kompromisse“ nach sich ziehen könnte (25). Dass vorgeschlagene Schiedsrichter immer häufiger von der Gegenpartei abgelehnt werden, zeigt, dass Bedenken gegen die Unparteilichkeit der zur Auswahl stehenden Personen besteht (26).

8.3.

Es ist offensichtlich, dass die CETA-Bestimmungen zur Wahl und zu den Standesregeln von Schiedsrichtern sowie zur Durchführung der Verfahren, auch wenn viele sie als Verbesserung in verschiedenen Bereichen sehen, keinen breiten Rückhalt in der Zivilgesellschaft haben. Es bestehen ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Einsetzung und Arbeitsweise von Schiedsgerichten:

Vorschläge eines Staates zum Erlass von Rechtsvorschriften im öffentlichen Interesse könnten trotzdem Gegenstand von Schadensersatzklagen sein, über die dann ein mit drei privaten Anwälten besetztes Gremium entscheidet.

Es gibt nur schwache Garantien hinsichtlich Interessenkonflikten, die kaum die Befürchtungen zerstreuen können, dass es in einem ISDS-System nicht zu derartigen Konflikten kommt. Artikel X.25 des CETA sieht vor, dass Schiedsrichter sich im Fall von Interessenkonflikten in internationalen Schiedsverfahren nach den Leitlinien der internationalen Rechtsanwaltskammer zu richten haben. Diese Vorschrift löst aber nicht das grundsätzliche Problem, dass einige Anwälte für ein und dieselbe Partei in verschiedenen Fällen als Berater und Schiedsrichter tätig sind, was in punkto Interessenkonflikte das Hauptproblem darstellt.

Der Entwurf des CETA sieht vor, dass die UNCITRAL-Transparenzregeln auf die Offenlegung von Informationen anwendbar und die Verhandlungen öffentlich sein sollten. Diese zunächst attraktiv scheinende Förderung der Transparenz wird dadurch erheblich eingeschränkt, dass es weitgehend im Ermessen des Schiedsgerichts liegt, Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten und Dokumente nicht zu veröffentlichen.

9.   Zusammenhang zwischen nationalen Justizsystemen und ISDS

9.1.

Ausländische Direktinvestitionen begründen das beinah einzigartige Recht, aufgrund dessen eine Person einen Staat nach internationalem Recht vor einem Schiedsgericht verklagen kann. Aus den Menschenrechten leiten sich ebenfalls konkrete Rechte für den Einzelnen ab, vorwiegend um zu verhindern, dass nationale Gerichtssysteme umgangen werden, doch die Einzelpersonen müssen hier die nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft haben, bevor eine Klage bei einem internationalen Gericht eingereicht werden kann. Im Rahmen des CETA müssen die nationalen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft sein. Die einzige Voraussetzung besteht darin, dass Investoren beraten werden müssen.

9.2.

Von Mitgliedstaaten wurden in zentralen Punkten vertragsbezogene und verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber ISDS geäußert, und zwar unter Bezugnahme auf die Bestimmungen, die im CETA enthalten und für die TTIP geplant sind (27). Diese Bedenken konnten auch durch die bis jetzt angeregten Verbesserungen der ISDS in bilateralen Investitionsabkommen nicht zerstreut werden (28). Im Bereich der Handelspolitik (Artikel 205 und 207 AEUV) unterliegt die EU den in Artikel 3 EUV dargelegten Grundsätzen sowie der Grundrechtecharta und anderen EU-Rechtsnormen.

Wenn im Rahmen von Handelsabkommen Investitionsstreitigkeiten durch internationale Schiedsgerichte entschieden werden, die durch derartige Bestimmungen nicht gebunden sind, könnte es daher zu Entscheidungen kommen, die nicht mit dem EU-Recht in Einklang stehen (vgl. Ziffer 7.3 Micula/Rumänien).

9.3.

Diese Übertragung der Zuständigkeit auf private Schiedsgerichte, die nicht durch die Grundsätze der EU gebunden sind, könnte durch den Vertrag von Lissabon nicht gedeckt sein und eine erhebliche Überschreitung der Befugnisse darstellen. Der EuGH hat die Schaffung einer solchen internationalen Gerichtsbarkeit davon abhängig gemacht, dass der Grundsatz der Wahrung der Autonomie der EU-Rechtsordnung und die in den Verträgen festgelegte Zuständigkeitsordnung der EU dadurch nicht beeinträchtigt werden (29).

9.4.

Da die ISDS in der TTIP im Rahmen eines gemischten Abkommens beschlossen werden muss, ist die Zustimmung der Parlamente aller 28 Mitgliedstaaten erforderlich, bevor sie (vorläufig) in Kraft treten kann. In Hinsicht auf den Ausschluss nationaler Gerichte ist das Subsidiaritätsprinzip zu beachten.

9.5.

Es ist zu berücksichtigen, dass hier ein Spannungsverhältnis zwischen dem europäischen und dem internationalen Recht vorliegt, insbesondere hinsichtlich des Rechtsprechungsmonopols des EuGH (Artikel 19 EUV und Artikel 263 und folgende AEUV). Die Stellungnahme des EuGH zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (30) und der Ansatz der Kommission, mit dem sie in der Rechtssache Micula/Rumänien den Vorrang des Gemeinschaftsrechts fordert, sprechen ebenfalls dafür. Artikel 14.16 des CETA verneint die unmittelbare Wirkung des CETA und sieht vor, dass die Bestimmungen des Abkommens in das Recht der EU oder der Mitgliedstaaten umzusetzen sind, damit sich Investoren darauf berufen können. Dadurch wird das Verhältnis zwischen der Rechtsordnung der EU und ISDS-Urteilen von Schiedsgerichten noch komplizierter.

9.6.

Da die Aufnahme von ISDS in Freihandelsabkommen der EU ein Novum mit weltweiten Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und viele Bürgerinnen und Bürger der EU darstellt, ist es nach Auffassungen des EWSA unbedingt erforderlich, die EU-Rechtskonformität im Voraus durch den EuGH überprüfen zu lassen. Dies ist von besonderer Bedeutung für die grundlegenden Werte der EU und die Grundrechtecharta, aber auch mit Blick auf das Rechtsauslegungsmonopol des EuGH und die Subsidiarität. Es ist daher vor Inkrafttreten des Abkommens — auch vor seinem provisorischen Inkrafttreten (Artikel 218 AEUV) — erforderlich, ein entsprechendes Rechtsgutachten einzuholen und zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, falls das CETA in Kraft tritt, es eine Bestandssicherungsklausel enthält, die im Falle einer Beendigung des Abkommens die Gültigkeit der CETA-Bestimmungen für vor der Beendigung des Abkommens getätigte Investitionen um 20 Jahre verlängert.

9.7.

Es ist dringend erforderlich, dass die Kommission Überlegungen anstellt, wie mit bestehenden bilateralen Investitionsabkommen umgegangen werden soll, sowohl mit Abkommen zwischen verschiedenen EU-Mitgliedstaaten als auch mit Abkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittländern, insbesondere Industrieländern wie den USA und Kanada, die veraltete ISDS-Mechanismen enthalten und aktuell dazu genutzt werden können, das staatliche Recht auf Rechtsetzung und Erreichung legitimer staatlicher Ziele anzufechten. Die meisten dieser Abkommen enthalten ebenfalls Bestandssicherungsklauseln, die ihre Beendigung weiter erschweren.

10.   Rechtsbehelf

10.1.

Im Rahmen der öffentlichen Konsultation sprachen sich große Teile der Zivilgesellschaft für einen Rechtsbehelf aus. Dies zeigte sich auch in der öffentlichen Anhörung des EWSA.

10.2.

Der Entwurf des CETA enthält keinen Rechtsbehelf. Er bietet jedoch die Möglichkeit, ein derartiges System einzurichten. Im CETA sind künftige Konsultationen über Rechtsbehelfssysteme und -methoden vorgesehen. Dadurch, dass eine spätere Beschäftigung mit dem Thema in Aussicht gestellt wird, wird die Bedeutung dieser Frage auf ein Minimum reduziert. Es muss dringend eine Lösung gefunden werden.

10.3.

Grundsätzlich ist die Entscheidung eines Schiedsgerichtes endgültig und kann nur in äußersten Extremfällen angefochten oder aufgehoben werden (31). Das entspricht in keiner Weise nationalen Gerichtssystemen und läuft grundsätzlichen, in der Konsultation angesprochenen Bedenken zuwider.

11.   Wie kann das ISDS-System reformiert werden?

11.1.

Die UNCTAD hat für die Reform des ISDS-Systems fünf Optionen genannt:

Optimierung bestehender Systeme durch internationale Investitionsabkommen;

Beschränkung des Zugangs zur ISDS für Investoren;

Förderung einer alternativen Streitbeilegung durch den Staat;

Einführung eines Rechtsmittels;

Schaffung eines ständigen internationalen Investitionsgerichts.

11.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Optionen genauer erwogen werden sollten. Im Rahmen der Ausarbeitung der Entwürfe für das CETA und das Abkommen zwischen der EU und Singapur hat sich die Europäische Kommission zur Findung eines neuen Ansatzes für den Investitionsschutz und die ISDS mit den ersten vier Optionen auseinandergesetzt. Die Konsultation hat gezeigt, dass immer noch tief verwurzelte Bedenken bestehen. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der Ansatz der Schaffung eines internationalen Investitionsgerichts der beste Weg sei, da auf diese Weise Legitimität und Transparenz des Systems weitgehend sichergestellt würden und dieser Ansatz zu einer einheitlicheren Auslegung und mehr Präzision der Entscheidungen führen würde. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Aussage der für Handel zuständigen EU-Kommissarin an die Adresse des INTA-Ausschusses des EP vom 18. März 2015, wonach ein multilateraler Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt der Ressourceneffizienz und der größeren Legitimität besser wäre.

11.3.

Der EWSA hält es jedoch nicht für realistisch, Verhandlungen über ISDS in der TTIP zu führen und gleichzeitig mittelfristig die Option der Schaffung eines internationalen Investitionsgerichts zu verfolgen. Käme es zu einer Einigung im Rahmen der TTIP, würde diese aller Wahrscheinlichkeit nach als Goldstandard angesehen werden und jegliche Aussicht auf Befürwortung eines internationalen Gerichtes unterminieren. Die Lage wird noch komplizierter dadurch, dass die TTIP keine automatische Kopplung zum CETA besitzt. Es muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Verhandlungen über das CETA abgeschlossen sind und es keine Gewähr dafür gibt, dass Kanada der Übernahme möglicher Änderungen zustimmt, die im Rahmen der TTIP vereinbart werden.

11.4.

Aus der gegenwärtigen Strategie könnte sich für die Kommission das Problem ergeben, dass ihre ersten Verhandlungen über Investitionsschutz in drei unterschiedliche Systeme für die USA, Kanada und Singapur münden. Ein einheitliches System durchzusetzen, dürfte der Kommission jedoch nur in äußerst zähen Verhandlungen gelingen. Nach Auffassung des EWSA wäre es dann aber praktisch unmöglich, die notwendige Unterstützung für eine Neuausrichtung der Bemühungen auf die Schaffung eines internationalen Gerichts zu gewinnen.

11.5.

Der Ausschuss kommt daher zu dem Schluss, dass sich im Zuge der gleichzeitig laufenden Verhandlungen über Handels- und Investitionsabkommen mit wichtigen globalen Akteuren wie den USA, Kanada und Japan eine einmalige Chance bietet, auf ein internationales Investitionsgericht hinzuarbeiten. Der Ausschuss ist ferner der Ansicht, dass dies auch die beste Option ist, um Entwicklungsländer, in denen die Notwendigkeit eines Investitionsschutzes wohl viel größer ist, für ein neues weltweites System zu gewinnen.

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Stellungnahme des EWSA: Transatlantische Handelsbeziehungen/Zusammenarbeit und Freihandelszone EU-USA, ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 9.

(2)  OECD (2012): ISDS — A scoping paper for the investment policy community [ISDS — Ein Rahmenpapier für die Investitionspolitik].

(3)  UNCTAD: Recent Trends in IIAs and ISDS [Jüngste Entwicklungen bei internationalen Investitionsabkommen und der ISDS] — Nr. 1, Februar 2015 http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/webdiaepcb2015d1_en.pdf

(4)  Begleitvermerk zu der öffentlichen Anhörung zum Thema ISDS in der TTIP.

(5)  UNCTAD: ISDS — an Information Note on the US and the EU [ISDS — ein Informationsvermerk zu den USA und der EU].

(6)  Siehe Fußnote 3.

(7)  E (SN/EP/6777), 10.12.2013.

(8)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments: ISDS and prospects for reform [ISDS und die Aussichten auf eine Reform] http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2015/545736/EPRS_BRI(2015)545736_REV1_EN.pdf

(9)  Europäische Kommission: Informationsblatt zur ISDS, Punkt 2, 3.10.2013.

(10)  EWSA-Wirtschaftsdiskussionsforum: Gemeinsame Erklärung über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), 16.12.2014.

(11)  Businesseurope: ISDS — Overview of Businesseurope position [ISDS — Darlegung des Standpunkts von Businesseurope], Februar 2015.

(12)  Ebd. und Positionspapier von Eurochambres: Views and priorities for the negotiations with the US for the TTIP [Sichtweisen und Prioritäten für die TTIP-Verhandlungen mit den USA], 6.12.2013.

(13)  Trans-Atlantic Business Council: Comments of the TBC regarding the proposed TTIP [Anmerkungen des TBC zum TTIP-Vorschlag], 10.5.2013.

(14)  Businesseurope: ISDS — An Indispensable Tool to protect Investors [ISDS — Ein unverzichtbares Werkzeug zum Schutz der Investoren], 2.5.2014. Businesseurope: ISDS — Overview of Businesseurope position [ISDS — Darlegung des Standpunkts von Businesseurope], Februar 2015.

(15)  https://www.citizen.org/eli-lilly-investor-state-factsheet

(16)  „Transatlantic Investment Treaty Protection“ [Schutz in transatlantischen Investitionsabkommen], gleichzeitig veröffentlicht auf den Webseiten des CEPS (www.ceps.eu) und des CTR (http://transatlantic.sais-jhu.edu).

(17)  http://www.citizen.org/documents/State-Legislators-letter-on-Investor-State-and-TPP.pdf

(18)  AdR — TTIP — ECOS-V-063, Februar 2015.

(19)  http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/january/tradoc_153044.pdf

(20)  Antwort des European Service Forums auf die öffentliche Konsultation zur ISDS, 20.6.2014.

(21)  http://www.iisd.org/itn/2014/01/19/awards-and-decisions-14/

(22)  Europäische Kommission: Informationsblatt zur ISDS, Punkt 8, 3.10.2013.

(23)  Corporate Europe Observatory (CEO) ist eine gemeinnützige Forschungs- und Aktionsgruppe, die zur Lobbyarbeit von Unternehmen auf EU-Ebene wissenschaftliche Untersuchungen durchführt und Berichte veröffentlicht (http://corporateeurope.org/).

(24)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments: ISDS State of Play and Prospects for Reform [ISDS — Sachstand und Perspektiven für eine Reform], 21.1.2014.

(25)  Arbeitspapier der OECD über internationale Investitionen Nr. 2012/3, S. 44-45.

(26)  UNCTAD: Reform of ISDS — In Search of a Roadmap [Reform der ISDS — Auf der Suche nach einem Zeitplan], Nr. 2, Juni 2013, S. 4.

(27)  Rechtsgutachten: „Europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben für das Comprehensive Economic and Trade Agreement der EU und Kanada (CETA)“ von Dr. Andreas Fischer-Lescano, Bremen, Oktober 2014; „Modalities for investment protection and Investor-State Dispute Settlement (ISDS) in TTIP from a trade union perspective“ [Die Modalitäten des Investitionsschutzes und der Streitbeilegung zwischen Investor und Staat (ISDS) in der TTIP aus Gewerkschaftsperspektive] von Dr. Markus Krajewski, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, FES Oktober 2014; „Freihandelsabkommen, einige Anmerkungen zur Problematik der privaten Schiedsgerichtsbarkeit“ von Prof. Siegfried Broß, Bericht zur Mitbestimmungsförderung Nr. 4, H.-Böckler-Stiftung, 2015.

(28)  CETA: „Verkaufte Demokratie“, Corporate Europe Observatory.

(29)  EuGH, Gutachten 1/91 vom 14.12.1991 — EWR 1; Gutachten 1/00 vom 18.4.2002 — Gemeinsamer Europäischer Luftverkehrsraum; Gutachten 1/09 vom 8.3.2011 — Patentgericht.

(30)  EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2013.

(31)  Internationale Konvention zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, Artikel 52.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgende Gegenstellungnahme wurde im Laufe der Erörterung abgelehnt, erhielt jedoch mindestens ein Viertel der Stimmen:

Den gesamten Text der Stellungnahme streichen und wie folgt ersetzen:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Ausländische Direktinvestitionen (ADI) sind ein wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung. Unternehmen, die in einem anderen Land investieren, gehen zwar automatisch ein gewisses Risiko ein, aber ausländische Vertragspartner müssen vor einer unverhältnismäßigen und missbräuchlichen Behandlung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit durch den Staat, in dem sie Investitionen getätigt haben, geschützt werden, das heißt vor direkter Enteignung, Diskriminierung und unfairer und ungleicher Behandlung im Vergleich zu inländischen Investoren. Ein neutrales Streitbeilegungsverfahren ist hier wichtig. Investitionen sind häufig sehr langfristig angelegt und die politischen Umstände im Aufnahmestaat können sich ändern.

1.1.1.

Ein internationales Investitionsabkommen (IIA) zwischen zwei Staaten (oder Regionen) betrifft internationales Recht. Im Hinblick auf die Wirksamkeit des Abkommens ist daher ein effizientes und ausgewogenes internationales Streitbeilegungsverfahren erforderlich.

1.1.2.

In den meisten IIA sieht der Streitbeilegungsmechanismus jedoch so aus, dass das Verhältnis zwischen den einzelnen Unternehmen und dem Aufnahmestaat durch das Verfahren über die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investor und Staat (ISDS) geregelt wird (1). ISDS wirkt vom Wesen her im Nachhinein. Anders als beim WTO-Streitbeilegungsverfahren fällt hierbei nur eine Entschädigung an, wenn ein Staat in einem solchen Verfahren unterliegt. Die betroffenen Rechtsvorschriften muss der Staat jedoch nicht aufheben. Der Bereich Investitionen fällt nicht in die Zuständigkeit der WTO, wurde er doch 2003 aus der Verhandlungsliste der Doha-Runde ausgeklammert.

1.2.

Die EU ist sowohl der größte Investor im Ausland als auch der größte Empfänger von Auslandsinvestitionen. Investitionen sind für die europäische Wirtschaft, u. a. KMU, von zentralem Interesse. Der Ausschuss begrüßt daher den Standpunkt der Kommission (2), dass ISDS

ein wichtiges Instrument zum Schutz von Investitionen und daher zur Förderung und Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums in der EU ist;

eine effektive Möglichkeit zur Durchsetzung der Verpflichtungen bietet, die unsere Handelspartner gegenüber unseren Investoren bei der Unterzeichnung von Investitionsabkommen eingehen.

1.2.1.

Ein von der Gruppe Arbeitgeber im EWSA organisiertes Wirtschaftsdiskussionsforum zum Thema Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) kam in seiner gemeinsamen Erklärung (3) zu dem Schluss, dass ein internationales Abkommen wie die TTIP die richtigen Bedingungen schaffen sollte, um im hohen Maße künftige Investitionen im transatlantischen Markt anzuziehen. Dazu gehörten u. a. die Gewährung eines umfassenden Zugangs und die nichtdiskriminierende Behandlung von Investoren auf beiden Seiten sowie die Verbesserung des gegenwärtigen Rahmens für den Investitionsschutz (einschließlich ISDS), indem dieser für KMU zugänglicher gemacht wird, und die Schaffung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Rechten der Investoren und dem Recht der Mitgliedstaaten und der lokalen Gebietskörperschaften, im öffentlichen Interesse Vorschriften zu erlassen.

1.3.

Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA), dessen Ratifizierung noch aussteht, beinhaltet ein umfassendes Kapitel zum Investitionsschutz und sieht darin ISDS vor. Dieses Abkommen ist zusammen mit dem ebenfalls ein Investitionskapitel beinhaltenden Freihandelsabkommen EU-Singapur (4) das überhaupt erste Investitionsabkommen, das die EU ausgehandelt hat, seit sie durch den Vertrag von Lissabon 2009 die Zuständigkeit für den Bereich Investitionen erlangte. Bis dahin war es ein weiter Weg, denn bestehende Bedenken mussten angegangen werden, allerdings muss ISDS auch noch weiterentwickelt werden.

1.4.

Neben dem Meistbegünstigungsprinzip (MFN-Prinzip) und der Schutzklausel, die die Kommission normalerweise für die Regelung von Entschädigungen in Fällen von Krieg, Revolution usw. vorsieht, fordert der Ausschuss, dass die Investitionsschutzregelungen im Rahmen von IIA, die ja eine Inanspruchnahme von ISDS ermöglichen, auf die vier wesentlichen Schutzbereiche beschränkt bleiben, nämlich

Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Investors;

Mindeststandard für die Behandlung, der gewöhnlich als „gerechte und billige Behandlung“ beschrieben wird;

unverzügliche, angemessene und effektive Entschädigung bei Enteignung (ohne Diskriminierung und im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens);

Möglichkeit des Transfers von Geldern im Zusammenhang mit der Investition.

1.5.

Im Laufe der Zeit wurden jedoch in einer Reihe von Fällen tatsächliche und vermeintliche Missbräuche von ISDS festgestellt, die angegangen werden müssen. ISDS muss aktualisiert werden. Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission im Januar 2015 — nachdem das von den Mitgliedstaaten einstimmig erteilte Verhandlungsmandat entsprechend ausgeweitet worden war — als Reaktion auf die öffentliche Konsultation über Investitionsschutz und ISDS in der TTIP vier Bereiche genannt hat, in denen weitere Untersuchungen zu Investitionsschutz und ISDS angestellt werden sollen.

1.5.1.

Diese Bereiche betreffen:

den Schutz des Rechts der Staaten, Vorschriften zu erlassen;

die Einrichtung und Arbeitsweise von Schiedsgerichten;

die Überprüfung von ISDS-Entscheidungen über einen Berufungsmechanismus;

das Verhältnis zwischen ISDS und den innerstaatlichen Rechtssystemen.

1.5.2.

Nach Ansicht des Ausschusses ist ein angemessener Schutz des Rechts eines Staates, Vorschriften zu erlassen, von wesentlicher Bedeutung, weshalb noch bestehende Unklarheiten ausgeräumt werden sollten. Wie in der Stellungnahme des Ausschusses zur TTIP (5) festgestellt wird, ist es „wesentlich, dass die in der TTIP vorgeschlagenen ISDS-Bestimmungen die EU-Mitgliedstaaten nicht in ihrer Fähigkeit beschneiden, Regeln im öffentlichen Interesse aufzustellen“. Frühere internationale Investitionsabkommen wurden in erster Linie angesichts des Schutzbedarfs für Investitionen geschlossen. Sowohl im CETA als auch im Abkommen mit Singapur werden zentrale Definitionen strikter formuliert, um ungerechtfertigte Interpretationen zu vermeiden, und in der Präambel beider Abkommen wird ausdrücklich auf das Recht des Staates auf den Erlass von Rechtsvorschriften hingewiesen. Nach Auffassung des EWSA sollte dies nun in Form eines eigenen Artikels in den Bestimmungsteil des jeweiligen Abkommens aufgenommen werden.

1.5.3.

Als wesentliche Voraussetzung müssen die Schiedsrichter an ISDS-Schiedsgerichten vollkommen unparteiisch sein. Hier darf kein Raum für Interessenkonflikte bestehen. Der Ausschuss fordert, dass sämtliche Schiedsrichter aus einer Liste ausgewählt werden müssen, die die Vertragsparteien des jeweiligen Abkommens im Voraus festlegen, und dass klare Qualifikationsanforderungen für sie festgelegt werden. Insbesondere müssen sie die Befähigung zum Richteramt besitzen und nachweislich über profunde Fachkenntnisse in den relevanten Bereichen des internationalen Rechts verfügen.

1.5.4.

Ferner ist ein Berufungsmechanismus unentbehrlich: rechtliche Verfahren ohne Rechtsmittel gibt es zu Recht sehr selten, auch wenn dies in bestehenden IIA der Fall ist. Der EWSA weist darauf hin, dass in den ursprünglichen TTIP-Verhandlungsrichtlinien auf einen Berufungsmechanismus Bezug genommen wird. Die Ausgestaltung eines derartigen Mechanismus ist von entscheidender Bedeutung. u. a. in Bezug auf das Verfahren zur Benennung der Mitglieder, ihre Qualifikation und Vergütung sowie etwaige Fristen. Der Mechanismus sollte bei Rechtsfehlern und Sachverhaltsfehlern zur Verfügung stehen. Es sollte frühzeitig erwogen werden, ob ein bilateraler Mechanismus auf die multilaterale Ebene ausgeweitet werden könnte, ggf. nach dem Vorbild des WTO-Berufungsgremiums. Ein derartiger Mechanismus wird zusätzliche Kosten verursachen, aber das sollte berücksichtigt werden.

1.5.5.

Es wird sich als schwieriger erweisen, das Verhältnis zwischen ISDS und den innerstaatlichen Justizsystemen zu klären. Bei IIA handelt es sich um internationale Abkommen, und innerstaatliche Gerichte haben nicht unbedingt die Zuständigkeit für eine Auslegung von Fragen des internationalen Rechts. Selbst das beste System funktioniert nicht immer störungsfrei, aber eine doppelte Geltendmachung von Ansprüchen sollte ausgeschlossen werden. Die potenziell prozessführende Partei sollte sich entweder zu Beginn des Verfahrens verbindlich festlegen oder bei Inanspruchnahme von ISDS das Recht verlieren, den innerstaatlichen Rechtsweg zu beschreiten.

1.6.

Die langfristige Lösung besteht in einem multilateralen internationalen Gerichtshof, der parallel zur Ausformung von ISDS in der TTIP und anderen Abkommen entwickelt werden muss. Bis ein solches internationales Gremium ausgehandelt und eingerichtet sein wird, ist weiter irgendeine Form internationalen Investorenschutzes zwingend erforderlich.

1.6.1.

Für die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes als langfristiges Ziel für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten ist das Erreichen einer kritischen Masse wichtig. Eine breite Akzeptanz eines derartigen internationalen Berufungsmechanismus kann dadurch erreicht werden, dass er einvernehmlich eingerichtet wird, wobei in diesem Rahmen die entsprechenden potenziellen Probleme angegangen werden müssen, mit denen alle neuen internationalen Institutionen, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, konfrontiert sind.

1.6.2.

Der EWSA warnt vor dem Vorschlag, dass die G7-Mitglieder aus dem Grund, dass sie gegenwärtig alle in Verhandlungen über IIA stehen, allein die Entwicklung eines internationalen Gerichtshofs einleiten sollten. Die kritische Masse kann nur dann erreicht werden, wenn von Anfang an mehr Länder beteiligt sind und die Tür allen offensteht, die sich, soweit und sobald das Interesse vorhanden ist, beteiligen können.

1.6.3.

In der Zwischenzeit empfiehlt der EWSA der EU und den USA, sich auf einen bilateralen Investitionsstreitbeilegungsmechanismus in der TTIP zu einigen.

2.   Hintergrund

2.1.

Der Ausschuss weist darauf hin, dass zwei Länder, die ihre Wirtschaftsbeziehungen durch ein internationales Investitionsabkommen fördern wollen, einander gewisse Garantien bezüglich der Behandlung der Investoren und Investitionen aus dem anderen Land geben werden. Diese bewusst eingegangenen Zusagen müssen dann auf nationaler Ebene vollständig ratifiziert werden. Dabei wird jedoch Unternehmensinteressen keinerlei Vorrang gegenüber dem Recht der Staaten auf den Erlass entsprechender Rechtsvorschriften eingeräumt. Im Interesse der Rechtsstaatlichkeit müssen die Regierungen jedoch zu den von ihnen gegebenen Garantien stehen.

2.2.

Der Ausschuss ist sich im Klaren darüber, dass die Verhandlungsstaaten zwar die Aufnahme von Bestimmungen zum Schutz ihrer eigenen Unternehmen vor diskriminierenden Maßnahmen der Handelspartner anstreben, sich benachteiligt fühlende Unternehmen aber nicht wirklich erwarten können, dass jede Streitigkeit automatisch auf die zwischenstaatliche, d. h. eine politische bzw. diplomatische Ebene gehoben wird.

2.2.1.

Wenn sich die Unternehmen darauf verlassen würden, dass die EU die Streitigkeiten auf eine zwischenstaatliche Ebene bringt, würden nur sehr wenige Streitigkeiten davon profitieren, und kleinere Unternehmen würden wahrscheinlich weniger Gehör finden. Grundsätzlich ist unwahrscheinlich, dass es zwischen zwei etablierten demokratischen Rechtsordnungen zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten käme, würde ein zwischenstaatliches Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten jedoch zur Norm, wäre mit einer steigenden Zahl möglicher Verfahren zu rechnen, was erhebliche finanzielle Auswirkungen für die Mitgliedstaaten mit sich brächte.

2.2.2.

Wie Kommissarin Malmström im Zusammenhang mit den Verhandlungen zur TTIP selbst ausgeführt hat (6), kann internationales Recht vor US-amerikanischen Gerichten nicht geltend gemacht werden und verbietet kein Gesetz der USA die Diskriminierung ausländischer Investoren. In anderen Ländern könnten die nationalen Gerichte möglicherweise noch unberechenbarer sein.

2.2.3.

Investitionen sind nicht dasselbe wie Handel. Bei einer Handelsstreitigkeit fällt es eindeutig dem Staat zu, tätig zu werden. Derartige Streitigkeiten betreffen für gewöhnlich ein bestimmtes Produkt oder Erzeugnis wie Bananen, Solarpaneele oder Textilien: Dumping ist ein zentraler Bereich des WTO-Mechanismus zur Streitbeilegung.

3.   Die Entwicklung von ISDS

3.1.

Obwohl die Zahl der ISDS-Verfahren (7) insgesamt gering bleibt, hat ihre Inanspruchnahme seit 2002 erheblich zugenommen. Dies entspricht dem Anstieg des Gesamtumfangs der ausländischen Direktinvestitionen, die sich 2013 weltweit auf über 25 Billionen USD beliefen. Rund 50 % aller seit 2002 geltend gemachten Ansprüche gehen von europäischen Investoren aus. Eine beträchtliche Anzahl dieser Ansprüche wurde von kleineren oder spezialisierten Unternehmen geltend gemacht (8). Es ist wichtig, dass ein — wie auch immer geändertes — ISDS-Verfahren im stärkeren Maße für KMU offen steht.

3.1.1.

Von den 356 bekannten Verfahren, die zu einem Abschluss geführt wurden, wurden 25 % zugunsten des Investors und 37 % zugunsten des Staates entschieden. Die restlichen Verfahren wurden gütlich beigelegt (9).

3.2.

Aufgrund von — als solche empfundenen oder tatsächlichen — Problemen, die sich aus den Entscheidungen einer Reihe von ISDS-Verfahren und auch einigen noch nicht abgeschlossenen Verfahren weltweit ergeben, hegt unter dem Einfluss von Gewerkschaften, NRO und anderen Organisationen ein wachsender Teil der Öffentlichkeit in der EU zunehmend Bedenken gegenüber der Anwendung von ISDS, wobei der Widerstand gegen die Aufnahme eines Kapitels über Investitionen und ISDS in die TTIP wächst.

3.3.

Der Ausschuss stellt fest, dass ohne eine Reform von ISDS und die Aufnahme eines Kapitels über Investitionen in die TTIP die bisherigen Regelungen, wie sie von einzelnen Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Irland) in den 1  400 bilateralen Investitionsabkommen (BIT) — und insbesondere von neun Mitgliedstaaten mit den USA — ausgehandelt worden sind, selbstverständlich bestehen bleiben und ihre Gültigkeit behalten.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

94

Nein-Stimmen:

191

Enthaltungen:

25


(1)  Bestimmungen über ISDS finden sich in etwa 93 % der mehr als 3  250 bestehenden IIA, wobei das Verfahren jedoch nur bei weniger als hundert Abkommen (d. h. weniger als 3 %) zur Anwendung kam.

(2)  Europäische Kommission: Informationsblatt zur ISDS, Punkt 2, 3.10.2013.

(3)  EWSA-Wirtschaftsdiskussionsforum: Gemeinsame Erklärung über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), 16.12.2014.

(4)  Auch dieses Abkommen muss noch ratifiziert werden und ist beim EuGH rechtshängig in Bezug auf die Frage, ob es sich um ein „gemischtes“ Abkommen handelt, das von den Parlamenten aller Mitgliedstaaten gebilligt werden muss.

(5)  Stellungnahme des EWSA: Transatlantische Handelsbeziehungen/Zusammenarbeit und Freihandelszone EU-USA vom 4. Juni 2014, ABl. C 424 vom 26.11.2014, S. 9.

(6)  EP, 6. Mai.

(7)  610 Verfahren bis Ende 2014.

(8)  Laut Stockholmer Handelskammer sind von den 2006-2011 etwa 100 abgeschlossenen Verfahren etwa 22 % KMU zuzuordnen; weiterhin sind nach Angaben des BDI 30 % der von deutschen Unternehmen ausgehenden Verfahren von KMU eingeleitet worden.

(9)  Europäische Kommission: Informationsblatt zur ISDS, 3. Oktober 2013.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

508. Plenartagung des EWSA vom 27./28. Mai 2015

8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU im Hinblick auf den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung

[COM(2015) 135 final — 2015/0068 CNS]

und dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates

[COM(2015) 129 final — 2015/0065 (CNS)]

(2015/C 332/07)

Hauptberichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 31. März 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 115 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU im Hinblick auf den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung

[COM(2015) 135 final — 2015/0068 CNS]

und

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG

[COM(2015) 129 final — 2015/0065 (CNS)].

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 17. März 2015 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai 2015) Petru Sorin DANDEA zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 148 gegen 11 Stimmen bei 15 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den von der Europäischen Kommission vorgelegten Richtlinienvorschlag, mit dem sie die Umsetzung der Maßnahmen des Aktionsplans zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung fortsetzt (1).

1.2.

Der EWSA plädiert für die Einbeziehung der Informationen bezüglich der Steuervorbescheide mit grenzüberschreitender Dimension und der Vorabverständigungsvereinbarungen im Rahmen des verpflichtenden automatischen Informationsaustausch entsprechend Richtlinie 2011/16/EU des Rates, insofern als diese Bescheide und Vereinbarungen in bestimmten Situationen von grenzübergreifend tätigen Unternehmen für die Schaffung von Strukturen genutzt werden, die die Bemessungsgrundlagen in den Mitgliedstaaten aushöhlen und das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen.

1.3.

Der EWSA lehnt Steuervermeidung ab, die zwar nicht unrechtmäßig ist, aber eine moralisch bedenkliche Praxis darstellt, da die Unternehmen, die Steuervermeidung betreiben, in absoluten Zahlen viel weniger Steuern zahlen als Privatpersonen oder KMU.

1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die im Richtlinienvorschlag vorgesehenen Maßnahmen zu einer spürbaren Verringerung des Verlustes von Einnahmen der Mitgliedstaaten führen können, und empfiehlt daher deren schnellstmögliche Annahme.

1.5.

Die Informationen bezüglich der Steuervorbescheide und der Vorabverständigungsvereinbarungen sind von großer Bedeutung und können den Mitgliedstaaten beim Aufspüren von Scheingeschäften behilflich sein. Der EWSA macht jedoch darauf aufmerksam, dass es sich in vielen Fällen als schwierig erweisen kann, eine Transaktion rechtlich gesehen als Scheingeschäft zu bezeichnen. Daher empfiehlt er den Mitgliedstaaten, sich um eine möglichst genaue Umsetzung der Bestimmungen des Richtlinienentwurfs zu bemühen.

1.6.

Der Europäischen Kommission empfiehlt der EWSA, bei den Verhandlungen auf OECD-Ebene verstärkt darauf hinzuwirken, dass die BEPS-Norm (Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und Gewinnverlagerung) angenommen und die im Richtlinienvorschlag enthaltenen Bestimmungen umfassen wird. Die BEPS-Norm und die OECD-Norm im Bereich des verpflichtenden automatischen Informationsaustausches werden die nützlichsten Instrumente zur weltweiten Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung bilden.

1.7.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen („Zinsbesteuerungsrichtlinie“). Die Richtlinie 2014/107/EU des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates erstreckt sich auf alle Finanzprodukte einschließlich solcher, die unter die Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen fallen. Dieser Aufhebungsvorschlag dient der Verhinderung einer parallelen Anwendung zweier Normen und der Vereinfachung der Rechtsvorschriften.

2.   Vorschläge der Kommission

2.1.

Die Europäische Kommission hat am 18. März 2015 drei Dokumente (2) vorgelegt, die auf die Umsetzung der im Rahmen des Aktionsplans zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung (3) vorgesehenen Maßnahmen abzielen. Bei dem ersten Dokument, COM(2015) 135 final, handelt es sich um einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung. Das zweite Dokument ist die Mitteilung COM(2015) 136 final, in der die Fortschritte im Bereich der steuerlichen Transparenz sowie die Maßnahmen präsentiert werden, mit denen die Kommission diese Transparenz erhöhen will. Das dritte Dokument, COM(2015) 129 final, ist ein Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG (Richtlinie im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen).

2.2.

Mit dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU will die Kommission sicherstellen, dass durch die Einführung eines verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über Steuervorbescheide mit grenzüberschreitender Dimension und über von den Unternehmen angewandte Vorabverständigungsvereinbarungen eine umfassende und effiziente Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden gewährleistet wird. Diese Verfahren können in bestimmten Fällen mit der Festlegung eines niedrigen Steuersatzes in dem Mitgliedstaat einhergehen, von dem der Steuervorbescheid ausgestellt wurde, und können somit eine erhebliche Verringerung der Höhe derjenigen Einkommen zur Folge haben, die in den anderen betroffenen Mitgliedstaaten noch zu besteuern sind.

2.3.

Der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates (Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen) ist insofern erforderlich, als sich die Richtlinie infolge der am 9. Dezember 2014 erfolgten Annahme der Richtlinie 2014/107/EU des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, durch die die globale Norm für den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten in der europäischen Gesetzgebung umgesetzt wird, auch auf Zinserträge — neben den übrigen Arten von Einkünften — erstreckt. Daher sollte die Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen aufgehoben werden, um die parallele Anwendung zweier Normen zu vermeiden, was gleichzeitig auch zu einem zusätzlichen und unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand für die Unternehmen führen würde.

2.4.

In der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Steuertransparenz bei der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung werden wiederum die Fortschritte bei der Umsetzung der im Aktionsplan enthaltenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung präsentiert. Die Kommission stellt darin auch die Maßnahmen vor, die künftig ergriffen werden könnten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Mit der Vorlage des Entwurfs einer Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung setzt die Kommission die Umsetzung der im Aktionsplan enthaltenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung fort, die sie Ende 2012 auf Ersuchen des Europäischen Rates vorgelegt hatte. In seiner diesbezüglichen Stellungnahme (4) hatte der EWSA seinerzeit den Aktionsplan begrüßt und seine Unterstützung für die Kommission bei der Bekämpfung dieser dem Binnenmarkt schadenden Praktiken bekundet.

3.2.

Mit dem Richtlinienvorschlag sollen die Informationen bezüglich der Steuervorbescheide mit grenzüberschreitender Dimension und der Vorabverständigungsvereinbarungen in die Kategorien von Informationen aufgenommen werden, die dem verpflichtenden automatischen Informationsaustausch unterliegen. Diese Bescheide werden von den Unternehmen häufig bei den Steuerbehörden beantragt, um die Bestätigung zu erhalten, dass ihre Geschäftstätigkeit rechtmäßig ist. Für sich betrachtet stellen die Steuervorbescheide kein Problem dar und werden von vielen Mitgliedstaaten praktiziert. Sie werden allerdings mitunter von Unternehmen für die Schaffung von Strukturen genutzt, durch die sie weniger Steuern zahlen müssen, was zu einer Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen in den Mitgliedstaaten führt und das Funktionieren des Binnenmarktes beeinträchtigt. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass diese Informationen in die Kategorie der Informationen eingeordnet werden, die der Verpflichtung zum automatischen Austausch unterliegen, soweit die Mitgliedstaaten sie im Rahmen ihrer Maßnahmen zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung benötigen.

3.3.

Die von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen ermöglichen es den Mitgliedstaaten außerdem, die etwaigen von Unternehmen geschaffenen Strukturen zu ermitteln, die zu einer Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen führen, beispielsweise indem Unternehmen Verrechnungspreise ansetzen, durch die sie in den Genuss einer niedrigen Besteuerung der Einnahmen in anderen Ländern als demjenigen profitieren, in dem diese Einkünfte erzielt wurden. Der EWSA hat sich wiederholt gegen diese Praktiken ausgesprochen, die zwar nicht unrechtmäßig, so doch unmoralisch sind, da sie die Mitgliedstaaten zur Erhöhung des Besteuerungsniveaus kleiner Steuerpflichtiger treiben, seien es Unternehmen oder natürliche Personen, die unterm Strich schlussendlich mehr Steuern zahlen als die großen Unternehmen.

3.4.

Die Kommission erkennt an, dass die legale Steuerflucht sowie Steuerbetrug und Steuerhinterziehung ein bedeutendes grenzübergreifendes Problem bilden, wobei diese Phänomene durch die Globalisierung und die zunehmende Mobilität der Steuerzahler begünstigt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die im Richtlinienvorschlag vorgesehenen Maßnahmen zu einer spürbaren Verringerung des Verlustes von Einnahmen der Mitgliedstaaten führen können, und empfiehlt daher deren schnellstmögliche Annahme.

3.5.

Die Einbeziehung der Spareinlagen in die Kategorien, die dem verpflichtenden automatischen Informationsaustausch gemäß der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung unterliegen, dürfte den Regelungsrahmen vereinfachen und gleichzeitig die Transparenz des Besteuerungsverfahrens erhöhen. Der EWSA unterstützt den Entwurf einer Richtlinie zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates (Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen), deren Anwendungsbereich in der Richtlinie 2014/107/EU des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung aufgegriffen und ausgedehnt wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die von einer Reihe grenzübergreifend tätiger Unternehmen geförderte aggressive Steuerplanung führt im Haushalt der Mitgliedstaaten zu Einbußen in der Größenordnung von mehreren hundert Milliarden Euro pro Jahr. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass sowohl die Steuervorbescheide als auch die von den nationalen Verwaltungen getroffenen Vorabverständigungsvereinbarungen in die Kategorie der Informationen aufzunehmen, die der Verpflichtung zum automatischen Austausch gemäß Artikel 8 Absatz 5 Buchstabe a der Richtlinie 2011/16/EU unterliegen; außerdem ist er der Auffassung, dass diese Änderung ein notwendiger Schritt ist, um die steuerliche Transparenz zu erhöhen und dieses negative Phänomen zu bekämpfen.

4.2.

Durch die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten gemäß den Bestimmungen des Richtlinienvorschlags Zugang zu Informationen über zwei Arten von Bescheiden erhalten, wird hingegen nicht gewährleistet, dass die Strukturen beseitigt werden, die die Unternehmen zur Steuervermeidung nutzen. In den meisten Fällen werden mit diesen Strukturen die Lücken oder die Uneinheitlichkeit der nationalen Gesetzgebungen ausgenutzt. Der EWSA befürwortet, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die Vereinfachung und Harmonisierung des bestehenden Rechtsrahmens sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene weiterverfolgen.

4.3.

Die Informationen bezüglich der Steuervorbescheide und der Vorabverständigungsvereinbarungen sind von großer Bedeutung und können den Mitgliedstaaten beim Aufspüren von Scheingeschäften behilflich sein. Dank der Einführung der allgemeinen Regel zur Verhinderung von Missbrauch durch Richtlinie 2011/96/EU (Richtlinie über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten) können die Mitgliedstaaten die ihnen infolge von Scheingeschäften entgangenen Steuern einfordern. Der EWSA macht jedoch darauf aufmerksam, dass es sich in vielen Fällen als schwierig erweisen kann, eine Transaktion rechtlich gesehen als Scheingeschäft zu bezeichnen.

4.4.

Der EWSA erneuert seinen in einer früheren Stellungnahme vorgetragenen Vorschlag, dass die Mitgliedstaaten ein Verfahren einführen sollten, mit dem denjenigen Unternehmen der Zugang zu öffentlichen Mitteln und EU-Mitteln verwehrt wird, die legale Steuerumgehung fördern oder ihre Tätigkeiten über Gebiete abwickeln, die als Steueroasen gelten.

4.5.

Angesichts des großen Umfangs der Informationen, die dem verpflichtenden automatischen Austausch unterliegen werden, und der Tatsache, dass die bereits in Artikel 8 der Richtlinie genannten Arten von Informationen um weitere Arten ergänzt werden, empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten, die Humanressourcen und Informationstechnologie bereitzustellen, die für die ordnungsgemäße Umsetzung der in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Bestimmungen erforderlich sind. Der EWSA hält es im Übrigen für notwendig, dass die Mitarbeiter der nationalen Steuerbehörden, die für den verpflichtenden automatischen Informationsaustausch zuständig sein werden, im Hinblick auf sowohl die ordnungsgemäße Verwendung der Vordrucke, die gemeinsam mit der Kommission erstellt und die diesen Informationsaustausch erleichtern werden, als auch die Erfassung dieser Informationen in der künftigen, von der Kommission verwalteten zentralen Datenbank geschult werden.

4.6.

Nach den im Jahr 2013 vorgenommenen sowie den im aktuellen Richtlinienvorschlag empfohlenen Änderungen wird durch Richtlinie 2011/16/EU der Informationsaustausch für alle wesentlichen Arten von Zinserträgen natürlicher Personen — und im Falle der juristischen Personen sogar für noch mehr Arten — eingeführt. Dies bedeutet, dass den Mitgliedstaaten die Informationen über das auf dem Gebiet der Europäischen Union erzielte Einkommen zur Verfügung stehen. Die von eine aggressive Steuerplanung fördernden Unternehmen geschaffenen Strukturen beziehen in vielen Fällen auch Staaten oder Gebiete außerhalb der EU mit ein. Damit dieser von der Kommission vorgelegte Richtlinienvorschlag ehrgeiziger ausfällt als die geplante BEPS-Norm (Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und Gewinnverlagerung), die auf der Ebene der OECD ausgehandelt wird, empfiehlt der EWSA der Kommission und den Mitgliedstaaten, ihre Anstrengungen zur Zusammenarbeit zu intensivieren, damit die BEPS-Norm und die Norm im Bereich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs wirklich zu weltweiten Normen werden.

4.7.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen („Zinsbesteuerungsrichtlinie“). Wie oben stehend ausgeführt erstreckt sich die Richtlinie 2014/107/EU des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU des Rates konkret auf alle Finanzprodukte einschließlich solcher, die unter die Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen fallen. Mit dem erörterten Richtlinienvorschlag soll vermieden werden, dass beim Informationsaustausch bezüglich der Finanzkonten zwei Normen parallel angewandt werden. Damit werden die Steuervorschriften vereinfacht und transparenter gestaltet.

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2012) 722 final — Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung.

(2)  COM(2015) 135 final — Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung.

COM(2015) 136 final — Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung.

COM(2015) 129 final — Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates.

(3)  COM(2012) 722 final — Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung.

(4)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung — (ABl. C 198 vom 10.7.2013, S. 34).


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten

(COM(2015) 098 final — 2015/0051 (NLE))

(2015/C 332/08)

Berichterstatter:

Carlos Manuel TRINDADE

Mitberichterstatterin:

Vladimíra DRBALOVÁ

Der Rat beschloss am 10. März 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 148 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“

(COM(2015) 098 final — 2015/0051 (NLE)).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 7. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai 2015) mit 109 gegen 9 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Allen bisherigen Anstrengungen und Maßnahmen zum Trotz hat sich die lange und anhaltende Wirtschaftskrise sehr negativ auf das Beschäftigungsniveau — insbesondere hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit — und das Armutsniveau in den meisten Mitgliedstaaten ausgewirkt und dazu geführt, dass sich der Übergang der jungen Menschen von der Ausbildung ins Erwerbsleben langsam und schwierig gestaltet. Entgegen dem Ziel der Konvergenz der Volkswirtschaften haben sich die Unterschiede zwischen den Ländern und den Regionen der Mitgliedstaaten weiter verschärft. Der EWSA hält dies für inakzeptabel und empfiehlt, dass die Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten detaillierte und kurzfristige Ziele und Maßnahmen festlegt, um diese Entwicklung umzukehren.

1.2

Der EWSA nimmt erfreut zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission die beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2015 geändert hat, um der gegenwärtigen Situation Rechnung zu tragen und viele der im wirtschaftlichen und sozialen Bereich bestehenden Mängel zu beheben.

1.3

Angesichts der großen Wechselwirkung zwischen den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der EU einerseits und den beschäftigungspolitischen Leitlinien andererseits fordert der EWSA die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, unverzüglich die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Veränderungen vorzunehmen, die erforderlich sind, um die Ziele der Strategie Europa 2020 auf der Grundlage erfolgreicher Strukturreformen vollständig zu verwirklichen.

1.4

Der EWSA hat sich bereits positiv zum Sozialinvestitionspaket (1) geäußert und die Einführung der Jugendgarantie begrüßt, wobei er gleichzeitig Verbesserungsvorschläge unterbreitete (2). Diese Beiträge des EWSA sind weiterhin zutreffend und sollten von der Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters gebührend berücksichtigt werden. Die Mitgliedstaaten spielen bei der Stärkung der öffentlichen Investitionen zur Schaffung von Beschäftigung eine grundlegende Rolle, und der Beschäftigungsaspekt muss bei öffentlichen Ausschreibungen als wichtiges Kriterium zur Auswahl der Angebote herangezogen werden.

1.5

Der EWSA ist der Auffassung, dass mit den neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien die Mängel behoben und alle zentralen wirtschaftlichen und sozialen Akteure umfassend mobilisiert werden müssen für angemessene und realistische Maßnahmen, die zu mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung führen, um die Strategie Europa 2020 (und das darin vorgesehene intelligente, nachhaltige und integrative Wachstum) zu verwirklichen sowie die Lebensbedingungen der europäischen Bürger zu verbessern und sie auf dem Wege des Fortschritts anzugleichen.

1.6

Der EWSA hat die große Sorge, dass die Fortführung der Sparpolitik in der EU das Erreichen der Beschäftigungs- und Armutsbekämpfungsziele verhindern wird. Insofern ist er darüber verwundert, dass die Kommission im gemeinsamen Beschäftigungsbericht wie auch in den beschäftigungspolitischen Leitlinien gänzlich das Risiko ausblendet, dass sich die niedrige Inflation zur Deflation entwickeln könnte. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders von der Krise betroffen, z. B. Jugendliche, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Frauen, Menschen mit Behinderung, Migranten, Kinder, Roma und Alleinerziehende. Der EWSA findet, dass die beschäftigungspolitischen Leitlinien nicht hinreichend widerspiegeln, dass die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut zu einem Hauptziel der Politik der EU und der Mitgliedstaaten werden muss.

1.6.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass es der EU nicht gelungen ist, Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und bereitzustellen. Es gibt eine ganze Reihe von Herausforderungen, denen die EU und die Mitgliedstaaten mit dringenden und angemessenen Maßnahmen begegnen müssen:

a)

die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in vielen Mitgliedstaaten;

b)

die unannehmbar hohe Jugendarbeitslosigkeit;

c)

die alarmierend hohe Langzeitarbeitslosigkeit;

d)

die zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarkts und die stetig wachsende Zahl atypischer Verträge;

e)

die geringe Qualität neuer Arbeitsplätze;

f)

das hohe Risiko der sozialen Ausgrenzung und Segregation, insbesondere für Kinder, Roma, Einwanderer und Obdachlose, die dadurch den Anschluss an den Arbeitsmarkt verlieren und in noch größere Armut geraten;

g)

die Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung und der Erwerbsarmut;

h)

die zunehmenden Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten;

i)

die geringe Mobilität der Arbeitnehmer in der EU;

j)

die fortbestehende geschlechtsspezifische Ungleichheit und das erhöhte Armutsrisiko für Frauen;

k)

die geringe Übereinstimmung zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage aufgrund von Qualifikationslücken und die niedrige Zahl derjenigen, die vom Schul- ins Erwerbsleben wechseln;

l)

die unzureichende Beteiligung der Sozialpartner und auch der Zivilgesellschaft an der Arbeitsmarktpolitik.

1.6.2

In den Leitlinien sollten quantitative Zielvorgaben für die Beschäftigung und die Armutsbekämpfung festgelegt und diese dann durch messbare Ziele für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen ergänzt werden. Die Ziele der Mitgliedstaaten sollten ehrgeizig genug sein, damit die EU die für den gesamten europäischen Raum definierten Vorgaben erreichen kann, wobei es allerdings besondere nachteilige Gegebenheiten zu berücksichtigen gilt.

1.6.3

Nach Auffassung des EWSA ist die Tatsache, dass in den Leitlinien eine mittel- und kurzfristige Quantifizierung fehlt, Ausdruck einer Schwächung der europäischen Beschäftigungs- und Armutsbekämpfungsstrategie. Die Definition von Zielen und Vorgaben wird ausschließlich den Mitgliedstaaten übertragen, was zu deren geringeren Beteiligung an Maßnahmen für Beschäftigung und gegen Armut und soziale Ausgrenzung führen wird.

1.6.4

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Sozialwirtschaft als eines der Instrumente zu fördern, mit denen mehr Arbeitsmarktchancen für Arbeitslose und schutzbedürftige Gruppen geschaffen werden können, und empfiehlt den Mitgliedstaaten, dazu einen angemessenen und nachhaltigen finanziellen Beitrag zu leisten.

1.6.5

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass der Zugang der KMU zu Finanzmitteln weiterhin eingeschränkt ist, was die Schaffung von Arbeitsplätzen erheblich behindert. Seiner Auffassung nach hat die geänderte Politik der EZB nicht zu besseren Finanzierungsbedingungen in der Realwirtschaft geführt. Diese Tatsache, die aus Sicht des EWSA besorgniserregend ist, verdient die besondere Aufmerksamkeit der EU und der Mitgliedstaaten. Das Potenzial der KMU für die Schaffung von Arbeitsplätzen muss durch Verbesserungen bei dem Finanzierungszugang, den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und den Marktchancen unter Berücksichtigung der Rolle der mittleren und großen Unternehmen in diesem Prozess besser ausgeschöpft werden.

1.6.6

Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Rückkehr zum Wachstum im Hinblick auf die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation vornehmlich durch eine stärkere Binnennachfrage erfolgen muss — insbesondere durch erhebliche öffentliche Investitionen als Katalysatoren für private Investitionen. Auf diese Weise kann Europa dem aus der Sicht des EWSA weiterhin zentralen Ziel der Vollbeschäftigung näher kommen.

1.6.7

Der EWSA ist der Ansicht, dass die sozialen Aspekte des öffentlichen Auftragswesens eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Qualität der Arbeitsmärkte spielen können. Jeder öffentliche Auftrag sollte Bestimmungen vorsehen, mit denen dem Auftragnehmer oder Unterauftragnehmer prekäre Arbeitsverträge, Scheinselbstständigkeit oder überlange Fälligkeitsfristen für Rechnungen untersagt werden.

1.6.8

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, die Sozialpartner wirksamer in die Maßnahmen zur Regulierung des Arbeitsmarkts einzubinden, insbesondere in die Förderung von Tarifverträgen, die Stärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die Verringerung der Segmentierung des Arbeitsmarkts und die Stärkung der Investitionen in Humankapital, um sozialen Risiken zu begegnen und eine größere soziale Integration zu erreichen.

1.6.9

Der EWSA schlägt vor, den Text des Vorschlags für die beschäftigungspolitischen Leitlinien wie folgt abzuändern:

Leitlinie 5: im ersten Satz Folgendes einfügen „(…) Anstellungshindernisse für Unternehmer verringern, ebenso die Stabilität der Beschäftigung und die Qualität der Arbeitsplätze fördern, (…)“ und am Ende dieses Satzes Folgendes anfügen „und den ehrgeizigen Einsatz von Sozialinvestitionen zur Förderung der Beschäftigung fordern“;

Leitlinie 6: ein spezifisches und messbares Ziel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und eine regelmäßige Bewertung der Wirksamkeit der Ausgaben hinzufügen;

Leitlinie 7:

Eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in die Planung und Umsetzung relevanter Reformen ist begrüßenswert, wobei es die nationalen Besonderheiten und die Autonomie der nationalen Sozialpartner zu berücksichtigen gilt.

Am Ende des ersten Absatzes wie folgt ergänzen: „Die öffentlichen Einrichtungen müssen Vorbild sein, was die Qualität der Arbeitsplätze betrifft; dabei gilt es, insbesondere die sozialen Aspekte des öffentlichen Auftragswesens sowie die Beschäftigung von Menschen zu berücksichtigen, die langzeitarbeitslos oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.“

Folgende Definition der „Arbeitsplätze von hoher Qualität“ hinzufügen: „Es sollten Arbeitsplätze von hoher Qualität in puncto gerechter Entlohnung und angemessener Vergütungen, stabiler Arbeitsverhältnisse und Vertretung der Arbeitnehmer, sozioökonomischer Sicherheit, (…)“ und den Titel der Leitlinie wie folgt ändern: „Verbesserung der Funktionsweise der Arbeitsmärkte zur Schaffung von Arbeitsplätzen von hoher Qualität“;

Leitlinie 8: den Vorschlag zur automatischen Kopplung des gesetzlichen Rentenalters in den Mitgliedstaaten an die Lebenserwartung streichen und — im Gegensatz dazu — die Tatsache erwähnen, dass Maßnahmen zur Annäherung des tatsächlichen Renteneintrittsalters an das gesetzliche Rentenalter ergriffen werden sollten.

2.   Einleitung

2.1

Im Jahreswachstumsbericht (3), mit dem das fünfte Europäische Semester eingeleitet wird, empfiehlt die Kommission drei Schwerpunkte für die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU im Jahr 2015: koordinierte Investitionsimpulse, die Wiederaufnahme der Strukturreformen und die Fortsetzung einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik.

2.2

Der gemeinsame Beschäftigungsbericht (4) ist fester Bestandteil des Pakets von Dokumenten, die gemeinsam mit dem Jahreswachstumsbericht veröffentlicht werden, und enthält eine Analyse der Entwicklung der Beschäftigung und sozialen Situation in Europa auf der Grundlage der Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien, der nationalen Reformprogramme und der länderspezifischen Empfehlungen auf nationaler Ebene.

2.3

2014 betrug das Wachstum des BIP 1,3 % in der EU und 0,8 % im Euroraum. 2015 wird das Wachstum leicht höher ausfallen (1,5 % bzw. 1,1 %); für 2016 wird eine Besserung erwartet (2,0 % bzw. 1,7 %). Es gibt interne Faktoren, die ein schnelleres Wachstum in der EU verhindern. Das fortbestehende Risiko eines geringen Wachstums, das sich einer „Null-Inflation“ annähert, und einer hohen Arbeitslosenquote ist zu einer der Hauptsorgen geworden.

2.4

Der EWSA stimmt voll und ganz der Ansicht zu, dass schwache Investitionen die Erholung der europäischen Wirtschaft erschweren. Er begrüßt die Absicht der Kommission, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Investitionen anzuregen, die auf die Schaffung von Arbeitsplätzen abzielen, und weist darauf hin, dass die Investitionsoffensive für Europa (5) ein Schritt in die richtige Richtung darstellt, der zwar wichtig ist, aber nicht ausreicht, weil er die Notwendigkeit umfangreicher öffentlicher Investitionen unberücksichtigt lässt, lediglich Infrastrukturinvestitionen vorsieht und Sozialinvestitionen ausblendet (6). Der EWSA empfiehlt, dass künftige öffentliche Investitionen im Rahmen der Defizitberechnung gemäß den Haushaltsvorschriften der EU nicht als Ausgaben betrachtet werden sollten. Gleichzeitig unterstreicht er, dass neue Ansätze zur Mittelbeschaffung und zur ausgewogenen Verwaltung von Überschüssen in einigen Mitgliedstaaten im Hinblick auf Defizite in anderen erforderlich sind.

2.5

In dieser Stellungnahme greift der EWSA Empfehlungen auf, die er in früheren Stellungnahmen (7) unterbreitet hat und die von Kommission nicht gebührend gewürdigt wurden.

3.   Anhaltend hohes Niveau der Arbeitslosigkeit (einschließlich der Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit), der Armut und der sozialen Ungleichheit in der EU

3.1

In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Aspekte des gemeinsamen Beschäftigungsberichts (8) erörtert, die für die gegenwärtige Situation in der EU kennzeichnend sind.

3.2

Europa befindet sich weiterhin in einer äußerst kritischen Lage bezüglich der Arbeitslosigkeit (9) — mit großen Unterschieden zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. In der EU gibt es derzeit 24,1 Mio. Arbeitslose, wobei die Arbeitslosenquoten zwischen 4,8 % in Deutschland bzw. 4,9 % in Österreich und 23,7 % in Spanien bzw. 25,8 % in Griechenland schwanken.

3.2.1

Zwischen dem ersten Quartal 2008 und dem ersten Quartal 2014 (10) nahm die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um 8,1 Mio. ab, während gleichzeitig eine stetige Zunahme der Zahl der Teilzeitbeschäftigten (um über 4 Mio.) festzustellen war. Es ist jedoch anzumerken, dass die Hauptlast der Anpassungsmaßnahmen auf befristete Stellen (Nichtverlängerung von Verträgen) entfiel.

3.2.2

Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt weiter zu und ist im letzten Jahr (als prozentualer Anteil an der Gesamtarbeitslosigkeit) von 45 auf 49 % angestiegen. Angesichts der Tatsache, dass „einer von fünf Langzeitarbeitslosen in der EU nie erwerbstätig (war) und drei von vier (…) unter 35 Jahre (sind)“ (11), hat sich die Gefahr einer Marginalisierung in Europa verschärft.

3.2.3

Jugendliche (12) und gering qualifizierte Arbeitnehmer sind von der Zunahme der Arbeitslosigkeit am stärksten betroffen; die diesbezüglichen Quoten sind fast doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote. Die Jugendarbeitslosigkeit bewegt sich zwischen 7,6 % in Deutschland bzw. 9,1 % in Österreich und 50,7 % in Griechenland bzw. 53,7 % in Spanien.

3.3

Diese Entwicklung der Arbeitslosigkeit wirkt sich ebenfalls auf die Beschäftigungsquote in der EU aus, die weiterhin durch einen Negativtrend (13) geprägt ist, was es praktisch unmöglich macht, das für 2020 gesteckte Ziel von 75 % zu erreichen. Darüber hinaus gibt es bei der Beschäftigungsentwicklung starke Unterschiede zwischen den einzelnen Segmenten des Arbeitsmarkts, zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und zwischen den Regionen der Staaten.

3.3.1

2013 gab es die niedrigsten Beschäftigungsquoten in den südeuropäischen Mitgliedstaaten. Zwischen 2008 und 2013 verzeichneten viele Mitgliedstaaten in Südeuropa einen erheblichen Rückgang ihrer Beschäftigungsquoten, während einige nordeuropäische Mitgliedstaaten ihre Quoten verbessern bzw. halten konnten.

3.3.2

Die Jugendbeschäftigungsquote (für die 15- bis 24-Jährigen) sank zwischen 2008 und 2013 von 37 % auf knapp 32 %, was einer Abnahme um fünf Prozentpunkte entspricht (14). In acht Mitgliedstaaten sank die Jugendbeschäftigungsquote sogar um 12 oder mehr Prozentpunkte. Deutschland ist der einzige Fall, in dem es keine Abnahme der Jugendbeschäftigungsquote gab (47 %).

3.4

In der Mitteilung wird festgestellt, dass der Anteil der durch Armut und soziale Ausgrenzung gefährdeten Menschen erheblich zugenommen hat, wobei die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten größer geworden sind. Zwischen 2008 und 2012 stieg die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Europäer um 9 Mio. und erreichte damit einen Bevölkerungsanteil von 25,1 %. Der EWSA hält die anhaltend sehr hohen Quoten der Gefährdung durch Armut und soziale Ausgrenzung, die sich in den letzten Jahren noch verschlechtert haben, für nicht hinnehmbar (15).

3.4.1

Die Zahl der Haushalte ohne Erwerbseinkommen, mit geringer Erwerbsintensität oder in Erwerbsarmut nimmt zu. 2013 litten ca. 32 Mio. Menschen unter erheblicher materieller Deprivation.

3.4.2

Die Gefährdung von Kindern durch Armut und soziale Ausgrenzung ist gestiegen, wobei die Familien von Alleinerziehenden einem doppelt so hohem Armutsrisiko ausgesetzt sind wie Familien mit zwei Erwachsenen (16). Auch für Drittstaatsangehörige ist das Armutsrisiko doppelt so groß wie für Bürger der Mitgliedstaaten (49 % gegenüber 24 % im Jahr 2012). Etwa 31 % der Familien mit drei oder mehr Kindern sind durch Armut oder soziale Ausgrenzung gefährdet.

3.4.3

Seit 2011 sind die Sozialaufwendungen gesunken, wodurch sich die wirtschaftliche und soziale Situation verschlechtert hat (17). In einigen Mitgliedstaaten bleibt der Zugang zur Gesundheitsversorgung für schutzbedürftige Menschen mit niedrigem Einkommen schwierig, insbesondere in Finnland, Portugal und Griechenland.

3.5

Es besteht in mehreren Mitgliedstaaten weiterhin eine Segmentierung des Arbeitsmarkts. Besonders bemerkenswert sind die hohen Anteile der befristeten Beschäftigung (40 %) und der Teilzeitbeschäftigung (30 %) von Jugendlichen, die fortbestehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Entlohnung und der geringe Prozentsatz der Übergänge von einem nur geringen Schutz bietenden hin zu einem sichereren Arbeitsvertrag.

4.   Allgemeine Anmerkungen zu den vorgeschlagenen Leitlinien

4.1

Die Ergebnisse der kürzlich durchgeführten öffentlichen Konsultation zur Strategie Europa 2020 (18) zeigen, dass die EU in Bezug auf Beschäftigung, FuE und Armut weit davon entfernt ist, die gesteckten Ziele zu erreichen. Die Daten für 2013 ergeben eine Beschäftigungsquote von 68,4 % (deutlich unter dem Ziel von 75 %), ein FuE-Investitionsniveau von 2,0 % des BIP (weit entfernt vom 3 %-Ziel) und die Zahl von 122 Mio. von Armut und sozialer Ausgrenzung gefährdeten Menschen (erheblich über dem Ziel von 97 Mio.).

4.2

Der EWSA nimmt die Fortschritte, die die Kommission bei diesen Leitlinien im Vergleich zu den Leitlinien von 2010 erzielt hat, zur Kenntnis und begrüßt die positivere Herangehensweise in der Leitlinie 5.

4.3

Im Rahmen der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise und einer noch sehr schwachen wirtschaftlichen Erholung muss die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Armut ein zentrales Ziel der Politik der EU und der Mitgliedstaaten sein. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Initiativen der Überwachung des Arbeitsmarkts, des Übergangs von der Schule in den Beruf und der Bekämpfung der Armut verbessert werden sowie spezifische Ziele und Maßnahmen für die am stärksten gefährdeten Gruppen umfassen müssen.

4.4

Der EWSA stellt fest, dass die beschäftigungspolitischen Leitlinien keine quantitativen Ziele enthalten, wodurch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der gemeinsamen Beschäftigungsziele in der EU geschmälert wird. In vielen seiner Stellungnahmen hat der EWSA Vorschläge unterbreitet, um messbare Ziele zu definieren, insbesondere in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Jugendbeschäftigung, die Bekämpfung von Arbeitsbedingungen mit unzureichendem Sozialschutz, die Bekämpfung der Armut (auch unter Erwerbstätigen) und die Beschäftigung von Migranten und Menschen mit Behinderungen (19).

4.5

Die sozialen Aspekte des öffentlichen Auftragswesens müssen berücksichtigt werden, weil sie zu den wichtigsten Instrumenten zählen, um die Qualität des Arbeitsmarkts zu verbessern und die Nachfrage nach Arbeitskräften anzuregen.

4.6

Die europäische Beschäftigungsstrategie muss klare Ziele enthalten für die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit, Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit, kurzfristige Bereitstellung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für junge Menschen, Schaffung angemessenerer Kinderbetreuungsmöglichkeiten im Interesse der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, den Abbau von Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen und die Bekämpfung der Armut, wobei es gleichzeitig die Wirksamkeit der bereits ergriffenen Maßnahmen zu bewerten gilt. Die Leitlinien von 2010 haben nur wenig dazu beigetragen, die Beschäftigung zu verbessern und die Armut zu verringern. Aufgrund der mangelnden Fortschritte müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten dringend nach ehrgeizigeren Lösungen suchen.

5.   Konkrete Anmerkungen und Ergänzungsvorschläge zu den vier Beschäftigungsleitlinien

5.1    Leitlinie 5: Ankurbelung der Nachfrage nach Arbeitskräften

5.1.1

Der EWSA unterstützt ausdrücklich das Ziel der EU, die Beschäftigungsquote bis 2020 auf 75 % zu steigern. Mit Sorge betrachtet er jedoch die negative Entwicklung in den letzten Jahren, die eine Änderung der Politik unerlässlich macht, wenn dieses Ziel noch erreicht werden soll.

5.1.2

Der EWSA stellt fest, dass die Rolle des Staates und der öffentlichen Investitionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen grundlegend ist. Er fordert daher beträchtliche Anstrengungen in Bezug auf die öffentliche Investitionstätigkeit und intelligente und ehrgeizige beschäftigungspolitische Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Beschäftigungsdimension muss ein wichtiges Kriterium bei der Auftragsvergabe im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen sein. Arbeitsplätze in den Bereichen Technologie, Umwelt und Gesundheit und Pflege sowie die Zielgruppen „junge Menschen“ und „Langzeitarbeitslose“ müssen Schwerpunkte in den beschäftigungspolitischen Leitlinien bilden.

5.1.3

Der EWSA begrüßt die Maßnahmen zur Erleichterung der Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere die Unterstützung der KMU und des Unternehmertums sowie die Förderung der Sozialwirtschaft und der Sozialinnovation, und ersucht die EU und die Mitgliedstaaten deshalb, sich auf ebendiese Maßnahmen zu konzentrieren. Gleichzeitig fordert er die Schaffung von Arbeitsplätzen auf nachhaltiger Basis. In dieser Hinsicht schlägt er vor, an den ersten Satz der Leitlinie 5 folgenden Wortlaut anzufügen: „(…) Anstellungshindernisse für Unternehmer verringern , ebenso die Stabilität der Beschäftigung und die Qualität der Arbeitsplätze fördern, (…)“.

5.1.4

Seit Langem vertritt der EWSA die Ansicht, dass FuE, Bildung, Infrastruktur sowie Gesundheits- und Sozialdienste Vorrang haben sollten, um Arbeitsplätze zu schaffen und mehr Wirtschaftswachstum zu erreichen. Vor diesem Hintergrund unterstreicht der EWSA die vielfältigen positiven Effekte sozialer Investitionen im Bereich der Beschäftigung und empfiehlt, die Förderung von Investitionen als Kernelement bei der Überarbeitung der integrierten Leitlinien zu berücksichtigen (20).

5.1.5

In Bezug auf die Besteuerung empfiehlt der EWSA Änderungen, die die steuerliche Belastung der Arbeit verringern, sofern sie nicht das Niveau des Sozialschutzes und anderer Sozialausgaben gefährden, das es vielmehr zu verbessern gilt. Sämtliche Einnahmen müssen in gebührendem Umfang zur Finanzierung der sozialen Sicherheit beitragen. Es wird deshalb notwendig sein, andere Einnahmequellen zu erwägen, um diese Verringerung der Einnahmen auszugleichen (beispielsweise die Eigenmittel der EU (21), die Besteuerung von Finanztransaktionen und Steuern auf Eigentum und Unternehmen).

5.1.6

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass der soziale Dialog und Tarifverträge im Einklang mit den nationalen Besonderheiten und unter Wahrung der Autonomie der Sozialpartner gefördert werden sollten. Die Festsetzung nationaler Mindestlöhne und die Anhebung der niedrigsten Löhne tragen positiv zur Stärkung der Inlandsnachfrage und zur Verminderung der Armut bei.

5.2    Leitlinie 6: Verbesserung des Arbeitskräfteangebots und der Qualifikationen

5.2.1

Wie der EWSA festgestellt hat, trägt eine Politik, die die Schaffung hochwertiger Beschäftigung bezweckt und ehrgeizige Ziele in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen vorsieht, in erheblichem Maße zum Wachstum und zur Produktivitätssteigerung bei. Er begrüßt deshalb, dass die Kommission die Bekämpfung des Schulabbruchs und der Diskrepanzen zwischen den vorhandenen Kompetenzen und den Arbeitsmarkterfordernissen als prioritär erachtet.

5.2.2

Trotz geringfügiger „positiver Entwicklungen bei der Jugendarbeitslosigkeit“ (22) hält der EWSA die Lage in einigen Mitgliedstaaten, insbesondere den südeuropäischen, für weiterhin sehr gravierend, und kann nicht akzeptieren, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern derart ausgeprägt und hartnäckig sind. Der EWSA hat mehrfach ehrgeizige Ziele zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gefordert, sei es im Rahmen der Strategie Europa 2020 oder im Rahmen der beschäftigungspolitischen Leitlinien, und unterstreicht nachdrücklich seine Forderung, unabhängig von der Überarbeitung der Strategie Europa 2020 in dieser Leitlinie ein quantitatives Ziel für die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit festzulegen.

5.2.3

Der EWSA hält es für sehr besorgniserregend, dass der Prozentsatz der jungen Menschen, die weder arbeiten noch studieren oder in einer allgemeinen oder beruflichen Bildung sind, in der Hälfte der Mitgliedstaaten signifikant gestiegen ist. Die Mitgliedstaaten müssen Systeme des lebenslangen Lernens und der Fortbildung für alle Altersgruppen schaffen. Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, die Umsetzung der nationalen Pläne im Zusammenhang mit der Jugendgarantie als höchste Priorität voranzutreiben und die zuständigen Einrichtungen mit den notwendigen Mitteln auszustatten, wobei es gleichzeitig die Qualität der nationalen Pläne und die Wirksamkeit der bereits eingesetzten finanziellen Mittel zu bewerten gilt.

5.2.4

Angesichts des zunehmenden Gewichts der Langzeitarbeitslosigkeit hält der EWSA es für dringend erforderlich, dass die EU und die Mitgliedstaaten nach dem Vorbild der aktuellen Jugendgarantie-Pläne nationale Pläne zu Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit entwickeln und darin Ziele zum Abbau dieser Arbeitslosigkeit festlegen.

5.2.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Entwicklung der Kompetenzen unqualifizierter Arbeitnehmer und die Förderung der Erwachsenenbildung entscheidende Bedeutung haben, wobei die Kompetenzen verbessert werden müssen, um besser den Arbeitsmarkterfordernissen zu entsprechen. Die Mitgliedstaaten müssen allen Arbeitslosen und Arbeitnehmern Bildungschancen eröffnen. Zu diesem Zweck sind in dieser Leitlinie Maßnahmen wie die Festsetzung von Referenzindikatoren für öffentliche und private Investitionen in der Berufsbildung sowie das Recht der Arbeitnehmer auf bezahlten Bildungsurlaub notwendig und sollten berücksichtigt werden. Auch die Förderung der Lehrausbildung und die Modernisierung von Ausbildungsprogrammen sind wesentlich für einen einfacheren Übergang von der Schule in den Beruf, weshalb Unternehmen für den Stellenwert der Ausbildung sensibilisiert werden müssen.

5.3    Leitlinie 7: Verbesserung der Funktionsweise der Arbeitsmärkte

5.3.1

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass in dieser Leitlinie darauf hingewiesen wird, dass Arbeitsplätze von hoher Qualität in puncto sozioökonomischer Sicherheit, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Arbeitsbedingungen (auch hinsichtlich Gesundheit und Sicherheit) und Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben gewährleistet werden sollten. Dennoch fordert der EWSA, in die Definition der Qualität von Arbeitsplätzen ausdrücklich folgende Punkte aufzunehmen: gerechte Entlohnung und angemessene Vergütung, stabile Arbeitsverhältnisse, Gleichstellung von Männern und Frauen und Vertretung der Arbeitnehmer. Der EWSA betont, dass der Arbeitsmarkt überwacht werden muss, was insbesondere für die Reduzierung der Arbeitsmarktsegmentierung und die qualitativen Aspekte der neu geschaffenen Arbeitsplätze gilt.

5.3.2

Wie der EWSA festgestellt hat, ist die qualitative Dimension der Beschäftigung von größter Bedeutung, da die Schaffung von Arbeitsplätzen um jeden Preis — ohne angemessene/menschenwürdige wirtschaftliche und soziale Bedingungen (prekäre Arbeitsverhältnisse mit sehr niedrigen Löhnen und ohne Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz) — keine Lösung darstellt. Daher ist es notwendig, diese in vielen Mitgliedstaaten festgestellte Tendenz umzukehren. Um dieser Priorität Nachdruck zu verleihen, schlägt der EWSA vor, den Titel der Leitlinie 7 wie folgt zu ändern: „Verbesserung der Funktionsweise der Arbeitsmärkte zur Schaffung von Arbeitsplätzen von hoher Qualität “.

5.3.3

Der EWSA erachtet systematische Kontrollmaßnahmen für neu geschaffene Arbeitsplätze anhand qualitativer Kriterien als notwendig. Durch das Arbeitsrecht müssen stabile Arbeitsverträge gefördert werden. Unabhängig von der Art des Vertrags dürfen keinem Arbeitnehmer angemessene Arbeitsschutzrechte vorenthalten werden. Atypische Verträge sollten nicht zur Regel werden, sondern die Ausnahme bleiben. Der EWSA hält es für notwendig, dass die Mitgliedstaaten weiterhin Anstrengungen unternehmen, um die „informelle“ Wirtschaft in die „formelle“ Wirtschaft zu integrieren und Schwarzarbeit zu beseitigen.

5.3.4

Nach Ansicht des EWSA müssen die öffentlichen Einrichtungen Vorbild sein, was die Qualität der Arbeitsplätze betrifft; diese Verpflichtung darf nicht durch Auslagerung von Dienstleistungen und öffentliche Auftragsvergabe umgangen werden. Öffentliche Einrichtungen müssen deshalb die in der Richtlinie 2014/24/EU vorgesehenen Möglichkeiten der sozialen Aspekte des öffentlichen Auftragsvergabe zur Gewährleistung der Qualität der Arbeitsplätze weitgehend nutzen und prekäre Arbeitsverhältnisse oder die Scheinselbstständigkeit vermeiden und Unterauftragnehmern gerechte Verträge vorschreiben.

5.3.5

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen verstärkt und ihre Verzahnung mit passiven Maßnahmen verbessert werden sollten. Die Erleichterung des Übergangs von der Arbeitslosigkeit in eine Beschäftigung zu angemessenen finanziellen Bedingungen im Übergangszeitraum sollte von den Arbeitsverwaltungen besonders berücksichtigt werden, die die Arbeitslosen individuell und rechtzeitig unterstützen müssen. Die aktiven Maßnahmen sollten nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt werden. Dies bedeutet, eine im Hinblick auf die Krise und die angespannte Arbeitsmarktlage angemessene finanzielle Grundlage sicherzustellen.

5.3.6

Der EWSA befürwortet die angestrebte Steigerung der Mobilität der Arbeitnehmer im europäischen Raum. Als Voraussetzungen erachtet er dabei die Gewährleistung der Übertragbarkeit der Rentenansprüche, die Anerkennung der Qualifikationen und die Behandlung der Arbeitnehmer im Einklang mit den im Aufnahmeland geltenden Arbeitsbedingungen. Auch Arbeitnehmer aus Drittstaaten müssen würdig behandelt werden, wobei die entsprechenden Rechtsvorschriften einzuhalten sind und Missbrauch bekämpft werden muss.

5.4    Leitlinie 8: Fairness, Armutsbekämpfung und Chancengleichheit

5.4.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die wachsende soziale Ungleichheit in Europa eine intensivere Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung erfordert, was wiederum gezielte Maßnahmen für die schutzbedürftigen Gruppen notwendig macht, namentlich Jugendliche und Kinder, Alleinerziehende, Migranten, Angehörigen von Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Roma und Obdachlose. Wie der EWSA festgestellt hat, müssen in dieser Leitlinie der Schwerpunkt auf die Reduzierung der Armutsrisiken gelegt und konkrete Ziele definiert werden (23).

5.4.2

Der EWSA erinnert daran, dass die Verringerung des Armutsrisikos gemeinsame stabile und zuverlässige Indikatoren zur Überwachung der erreichten Fortschritte erfordert. Obwohl es eine positive Entwicklung gegeben hat, hält es der EWSA für notwendig, neue Indikatoren zu schaffen, die insbesondere eine Bewertung des Verhältnisses zwischen Einkommen und Kaufkraft in jedem Mitgliedstaat ermöglichen.

5.4.3

Der EWSA unterstreicht, dass ein garantiertes Mindesteinkommen (24) gewährleistet und gegen die Zunahme von Niedriglohnjobs durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Erwerbsarmut und der sozialen Ausgrenzung vorgegangen werden muss. Auch wenn entsprechende Vertragsbestimmungen rechtens sind, gilt es, prekäre Arbeitsverhältnisse weitestgehend einzuschränken und dauerhafte Verhältnisse mit einer sozialen Absicherung zu begünstigen, in die Ausbildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu investieren, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Integration der ausgegrenzten Personen zu fördern sowie den Sozialschutz während des Übergangs von der Ausbildung in das Erwerbsleben zu garantieren.

5.4.4

Der EWSA fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung zu verstärken, indem sie bei den am stärksten gefährdeten Gruppen ansetzen und spezifische Ziele für die Integration der Betroffenen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt festlegen.

5.4.5

Der EWSA unterstreicht, dass das beste Mittel zur Bekämpfung der Armut darin besteht, den Menschen gute Arbeitsplätze zu bieten, ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft zu fördern sowie ihre Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit zu verbessern.

5.4.6

In früheren Stellungnahmen (25) hat der EWSA seine große Skepsis gegenüber der Sichtweise festgehalten, dass die Erhöhung des gesetzlichen Ruhestandsalters ein positiver Beitrag zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen sei. Seiner Ansicht nach kommt es vielmehr auf die Annäherung des tatsächlichen an das gesetzliche Renteneintrittsalter an (was in erster Linie durch eine Anpassung der Arbeitsbedingungen an das Alter der Arbeitnehmer erreicht werden kann (26)). Der Wortlaut der Leitlinie 8 über die Rentenreform sollte in diesem Sinne geändert werden.

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(2)  SOC/522 18.3.2015 — Stellungnahme des EWSA zum Thema „Beschäftigungsinitiative für junge Menschen — Vorschuss“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)  COM(2014) 902 final.

(4)  COM(2014) 906 final.

(5)  COM(2014) 903 final.

(6)  ECO/374, 19.3.2015 — Eine Investitionsoffensive für Europa (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(7)  ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 77. ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 65. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94 und ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 66.

(8)  (COM(2014) 906 final).

(9)  Die Arbeitslosenquote in der EU-28 lag im Dezember 2014 bei 9,9 % (11,4 % im ER-18) und damit allerdings deutlich — 0,3 Prozentpunkte — unter dem Wert vom Dezember 2013.

(10)  COM(2014) 906 final.

(11)  Ebd.

(12)  Die Jugendarbeitslosenquote in der EU-28 lag im Dezember 2014 bei 21,4 % (23 % im ER-18) und damit allerdings 1,7 Prozentpunkte unter dem Wert vom Dezember 2013.

(13)  2013 lag die Beschäftigungsquote in der EU bei 68,4 %, während sie 2008 bei 70,3 % lag (Rückgang um 1,9 Prozentpunkte).

(14)  Zwischen 2008 und 2013 nahm die allgemeine Beschäftigungsquote (der 20- bis 64-Jährigen) im ER-18 um 2,5 Prozentpunkte ab und sank von 70,2 % im Jahr 2008 auf 67,7 % im Jahr 2013.

(15)  COM(2014) 906 final.

(16)  2012 betrugen diese Werte in der EU-28 47,8 % und 24,4 %.

(17)  COM(2014) 906 final.

(18)  COM(2015) 100 final.

(19)  ABl. C 242 vom 23.7.2015, S. 9. ABl. C 12 vom 15.1.2015, S. 16. ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 8. ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 52. ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 15 und ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 113.

(20)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, Ziffern 1.5 und 5.3.3.

(21)  Siehe Stellungnahme ECO/377 — Eine EU-Steuer als Eigenmittel der Europäischen Union (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(22)  COM(2014) 906 final.

(23)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 66.

(24)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.

(25)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 1. Ziffer 2.2.

(26)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 1. Abschnitt 2 und 6.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.6

Hinzufügen:

Der EWSA hat die große Sorge, dass die Fortführung der Sparpolitik in der EU einigen Mitgliedstaaten das Erreichen der Beschäftigungs- und Armutsbekämpfungsziele verhindern wird. Insofern ist er darüber verwundert, dass die Kommission im gemeinsamen Beschäftigungsbericht wie auch in den beschäftigungspolitischen Leitlinien gänzlich das Risiko ausblendet, dass sich die niedrige Inflation zur Deflation entwickeln könnte. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen, z. B. Jugendliche, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Frauen, Menschen mit Behinderung, Migranten, Kinder, Roma und Alleinerziehende. Der EWSA findet, dass die beschäftigungspolitischen Leitlinien nicht hinreichend die Tatsache widerspiegeln, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Armut sowie die bessere Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ein Hauptanliegen der Politik der EU und der Mitgliedstaaten sein sollte n .

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

32

Nein-Stimmen:

66

Enthaltungen:

9

Ziffer 1.6.9

Hinzufügen:

Leitlinie 8: den Vorschlag zur automatischen Kopplung des gesetzlichen Rentenalters in den Mitgliedstaaten an die Lebenserwartung streichenStatt auf den Anstieg des tatsächlichen Renteneintrittsalters hinzuweisen, sollte expliziter ausgeführt werden, dass Maßnahmen zur Annäherung des tatsächlichen Renteneintrittsalters an das gesetzliche Rentenalter ergriffen werden sollten.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

36

Nein-Stimmen:

73

Enthaltungen:

11

Neue Ziffer nach Ziffer 5.3 einfügen:

Die Mitgliedstaaten sollten die Arbeitsmarktsegmentierung verringern und verhindern und gleichzeitig die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Die Vorschriften und Einrichtungen, die sich mit dem Beschäftigungsschutz befassen, sollten ein geeignetes Umfeld für die Rekrutierung neuer Arbeitskräfte schaffen, u. a. indem eine Vielfalt von Formen der Vertragsgestaltung auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht wird.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen:

36

Nein-Stimmen:

63

Enthaltungen:

10


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 über den Handel mit Robbenerzeugnissen

(COM(2015) 45 final — 2015/0028 (COD))

(2015/C 332/09)

Berichterstatter:

Thomas MCDONOGH

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 12. Februar 2015 bzw. am 20. Februar 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 über den Handel mit Robbenerzeugnissen“

COM(2015) 45 final — 2015/0028 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 5. Mai 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai 2015) mit 161 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die EU-Rechtsvorschriften müssen entsprechend den Empfehlungen und Entscheidungen im Hinblick auf die Grundverordnung vom 18. Juni 2014 angepasst werden, als das Streitbeilegungsgremium der WTO die Berichte des Panels und des Berufungsgremiums angenommen hat.

1.2

Vorschriften und Regelungen für eine humane Tötung sollten von den verschiedenen Behörden, einschließlich der EU, mit aller Härte durchgesetzt werden. Alle erdenklichen Maßnahmen sollten ergriffen werden, um unnötiges Leiden der Seehundpopulation zu vermeiden. Das in Kanada praktizierte Erschlagen junger Robben im Frühjahr ist nur als barbarisch zu bezeichnen und wird von Tierschutzorganisationen in der ganzen Welt kontinuierlich bekämpft. Der EWSA bringt seinen Abscheu gegenüber dieser Tötungsmethode zum Ausdruck.

1.3

Für die zur Existenzsicherung von Inuit betriebene traditionelle Jagd muss es realistische überprüfbare Quoten geben, die auch die zulässigen Tötungsmethoden erfassen. Zugleich ist auch auf das Wohlergehen der Tiere zu achten.

1.4

Die Einhaltung der Quoten, Jagdbeschränkungen und anderer Bestimmungen sollten ordnungsgemäß überwacht und kontrolliert werden.

1.5

Die Mindestanforderungen an ein Rückverfolgungssystem könnten als Bedingungen formuliert werden, die Wirtschaftsteilnehmer erfüllen müssen, wenn sie in die EU importieren wollen. Diese sollten drei wesentliche Aspekte umfassen (1):

1.

Kennzeichnungspflichten,

2.

Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten,

3.

Die Fähigkeit zur Vorlage von Rückverfolgbarkeitsberichten (Prüfung).

2.   Einführung

2.1

Die Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über den Handel mit Robbenerzeugnissen (im Folgenden die „Grundverordnung“) enthält ein allgemeines Verbot des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse auf dem Markt der Union.

2.2

Die Grundverordnung sieht eine Ausnahme vom allgemeinen Verbot für Robbenerzeugnisse vor, die aus einer Jagd stammen, die von Inuit und anderen indigenen Gemeinschaften traditionsgemäß betrieben wird und zu deren Lebensunterhalt beiträgt (im Folgenden die „IG-Ausnahme“).

2.3

Sie sieht auch Ausnahmen für die Einfuhr von Robbenerzeugnissen vor, die von Robben stammen, welche zu dem alleinigen Zweck der nachhaltigen Bewirtschaftung der Meeresressourcen auf nicht gewinnorientierter Basis und nicht für kommerzielle Zwecke gejagt werden (im Folgenden die „BMR-Ausnahme“), sowie für Einfuhren, die gelegentlich erfolgen und ausschließlich aus Waren bestehen, die zum persönlichen Gebrauch von Reisenden oder ihrer Familien bestimmt sind.

2.4

Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 737/2010 der Kommission vom 10. August 2010 enthält die Durchführungsbestimmungen zu der Grundverordnung.

2.5

Beide Rechtsakte (im Folgenden die „EU-Robbenregelung“) wurden von Kanada und Norwegen bei der Welthandelsorganisation (WTO) in der Streitsache EG — Maßnahmen zum Verbot der Einfuhr und Vermarktung von Robbenerzeugnissen (DS 400 und DS 401) angefochten.

2.6

Während in den WTO-Berichten der Schluss gezogen wurde, dass das Verbot von Robbenprodukten grundsätzlich durch moralische Bedenken hinsichtlich des Wohlergehens der Robben gerechtfertigt werden kann, nahmen sie Anstoß an den beiden Ausnahmeregelungen, der IG-Ausnahme und der BMR-Ausnahme.

2.7

Die BMR-Ausnahme sei nicht gerechtfertigt, da ein möglicher Unterschied zwischen der kommerziellen Jagd und der BMR-Jagd (in kleinem Maßstab, nicht gewinnorientiert) nicht ausreiche, um die Abgrenzung zu begründen.

2.8

In Bezug auf die IG-Ausnahme, die zwar grundsätzlich eine legitime Unterscheidung darstelle, urteilte das Berufungsgremium, dass einige Aspekte ihrer Ausgestaltung und Anwendung auf „willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung“ hinausliefen.

2.9

Am 10. Juli 2014 teilte die Europäische Union dem Streitbeilegungsgremium mit, dass sie beabsichtigt, dessen Empfehlungen und Entscheidungen in diesem Streitfall in Übereinstimmung mit ihren WTO-Verpflichtungen umzusetzen.

2.10

Am 5. September 2014 kamen die Europäische Union, Kanada und Norwegen überein, dass der angemessene Zeitraum für die Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen des Streitbeilegungsgremiums 16 Monate betragen würde. Dementsprechend endet der angemessene Zeitraum am 18. Oktober 2015.

2.11

Zweck dieses Legislativvorschlags ist die Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen des DSB im Hinblick auf die Grundverordnung. Er schafft außerdem die Rechtsgrundlage für die Anpassung der Verordnung (EU) Nr. 737/2010 an die genannten Entscheidungen.

2.12

Die Bedenken hinsichtlich der BMR-Ausnahme werden durch Streichung dieser Ausnahme aus der Grundverordnung ausgeräumt. Auf die Bedenken bezüglich der Gestaltung und Anwendung der IG-Ausnahme wird durch die Änderung der Ausnahme eingegangen, insbesondere durch ihre Verknüpfung mit dem Tierschutz und die Einführung einer Obergrenze für das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen, wenn der Umfang der Bejagung oder andere Umstände darauf hindeuten, dass die Jagd in erster Linie für gewerbliche Zwecke durchgeführt wird.

2.13

Außerdem arbeiten Sachverständige der Kommission mit Experten aus Kanada zusammen, um das notwendige Bescheinigungsverfahren einzurichten, das es den kanadischen Inuit ermöglicht, von der Ausnahmeregelung für Inuit-Gemeinschaften im Rahmen der EU-Robbenregelung Gebrauch zu machen.

2.14

Die verschiedenen beteiligten Regierungen sollten eine Vermarktungsstruktur für Inuit-Erzeugnisse einrichten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Robbenjagd ist fester Bestandteil der Kultur und der Identität der Inuit und anderer indigener Gemeinschaften und trägt wesentlich zu deren Lebensunterhalt bei. Das vollständige Verbot der Robbenjagd, wie es vor einigen Jahren auf Druck der Öffentlichkeit verhängt wurde, verursachte erhebliche Probleme für die Inuit, die in Armut gerieten und ihren Lebensunterhalt nicht mehr sicherstellen konnten. Derzeit sind 90 % der Inuit arbeitslos, und viele von ihnen sind vollständig von sozialer Fürsorge abhängig. Aus diesen Gründen wurde kürzlich die traditionelle Robbenjagd der Inuit und anderer indigener Gemeinschaften wieder erlaubt, wenn sie dem eigenen Lebensunterhalt dient.

3.2

Der EWSA schlägt vor, die Inuit in das Verfahren zwischen der Europäischen Kommission und der kanadischen Regierung einzubeziehen und gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen, wie das Recht der Inuit auf dauerhaften Lebensunterhalt und zugleich der Schutz der Robben vor internationalem Handel und Ausrottung gewährleistet werden kann.

3.3

Eine wirklich humane Tötungsmethode kann bei der von Inuit und anderen indigenen Gemeinschaften betriebenen Jagd wie auch bei anderen Robbenjagden nicht wirksam und konsequent angewandt werden. Dennoch ist es in Anbetracht des mit der Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 verfolgten Ziels angebracht, das Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt von Erzeugnissen aus einer von Inuit und anderen indigenen Gemeinschaften betriebenen Jagd davon abhängig zu machen, dass diese in einer Weise durchgeführt wird, die Schmerzen, Qualen, Angst und andere Formen des Leidens der erlegten Tiere so weit wie möglich reduziert werden.

3.4

Die Verordnung (EG) Nr. 1007/2009 sieht ferner ausnahmsweise das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen vor, wenn die Bejagung mit dem alleinigen Zweck der nachhaltigen Bewirtschaftung der Meeresressourcen betrieben wird.

3.5

In Anerkennung der Bedeutung, die der Jagd zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Meeresressourcen zukommt, kann es in der Praxis jedoch schwierig sein, diese Form der Jagd von der großumfänglichen Robbenjagd für hauptsächlich kommerzielle Zwecke zu unterscheiden. Dies kann zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der betreffenden Robbenerzeugnisse führen. Daher sollte diese Ausnahmeregelung nicht länger vorgesehen werden.

3.6

Das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen ist nur in Fällen gestattet, in denen die Robbenerzeugnisse aus einer Jagd stammen, die von Inuit und anderen indigenen Gemeinschaften betrieben wird, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind:

(a)

die Jagd wird traditionell von der Gemeinschaft betrieben;

(b)

die Jagd trägt zum Lebensunterhalt der Gemeinschaft bei und wird nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen betrieben;

(c)

die Jagd wird in einer Weise betrieben, die Schmerzen, Qualen, Angst und andere Formen des Leidens der erlegten Tiere so weit wie möglich reduziert, wobei der traditionellen Lebensweise und der Existenzsicherung der Gemeinschaft Rechnung getragen wird.

3.7

Der EWSA begrüßt die Bedingungen für das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen, empfiehlt der Europäischen Kommission jedoch, auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Robbenschutz und der für Inuit lebensnotwendigen Robbenjagd zu achten. Eine unpragmatische Auslegung der genannten Bedingungen könnte die Robbenjagd durch Inuit in der Praxis verhindern.

3.8

Der EWSA erachtet folgende Maßnahmen für sinnvoll:

(a)

Schaffung eines besonderen Status für Robbenerzeugnisse, die von Inuit nach Anwendung ihrer traditionellen Jagdmethode hergestellt wurden, etwa „von Inuit nach ihrer Tradition gefangen“. Um erneute internationale Streitigkeiten zu vermeiden, wäre es hierbei sinnvoll, diese Methode eindeutig als „herkömmliche Fangmethode“ zu definieren;

(b)

Einrichtung eines Systems für die Verfolgung und Kennzeichnung einschließlich eines entsprechenden Logos zur Überwachung der Tätigkeit der Inuit sowie zum Schutz und zur Information der Verbraucher;

(c)

im Falle eines Verstoßes gegen die Vereinbarungen sollte die Festlegung von Einfuhrkontingenten in Betracht gezogen werden.

3.9

Die Einfuhr von Robbenerzeugnissen ist auch in Fällen gestattet, in denen sie gelegentlich erfolgt und sich ausschließlich aus Waren zusammensetzt, die zum persönlichen Gebrauch von Reisenden oder ihren Familien bestimmt sind. Die Art und Menge dieser Waren dürfen nicht solcherart sein, dass sie auf eine Einfuhr zu kommerziellen Zwecken hindeuten.

3.10

Die weitere Rückverfolgbarkeit hängt von der Art des eingerichteten Systems und den Zuständigkeiten der verschiedenen beteiligten Parteien ab. Im Rahmen der Vorschriften für den Handel mit Robbenerzeugnissen sollten diese Mindestanforderungen wie folgt ausgelegt werden:

Kennzeichnungspflichten

Die Kennzeichnungsvorschriften umfassen im Prinzip drei Elemente:

den Jäger (entweder Inuit/indigener Jäger oder Jäger mit Genehmigung für die Jagd zu Zwecken des Ressourcenmanagements) mit individueller Kennnummer;

die Sammelstelle (Angabe des Gebiets/der geografischen Lage);

die Ware (in erster Linie Angaben zur Transaktion zwischen Jäger und Sammelstelle).

Für den Fall, dass keine unmittelbare Verbindung zwischen Jagd und Jäger besteht, es keine Sammelstelle gibt oder nicht die nationale Ebene, sondern nur bestimmte Regionen erfasst sind, kann es notwendig sein, zusätzlich oder ersatzweise „die Jagd“ zu kennzeichnen.

3.11

In ihrer endgültigen und rechtsverbindlichen Entscheidung muss die WTO widersprüchliche Bestimmungen aus beinah 70 Jahre alten internationalen Übereinkommen in Einklang bringen. Zu diesen Bestimmungen gehört das Verbot einer „willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung“ zwischen Ländern. Laut einer anderen Bestimmung können Nationen so handeln, wie es der „Schutz der öffentlichen Sittlichkeit erfordert“ (2).

3.12

„Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt.“  (3)

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Von der Kommission finanzierte Studie über die Durchführungsmaßnahmen für den Handel mit Robbenerzeugnissen, durchgeführt vom Beratungsunternehmen COWI in Zusammenarbeit mit Ecorys.

(2)  A. Butterworth und M. Richardson, Marine Policy 38, S. 457–469; 2013.

(3)  Mahatma Gandhi zugeschriebenes Zitat.


8.10.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 332/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1236/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zu einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung, die auf dem Gebiet des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im Nordostatlantik anwendbar ist

(COM(2015) 121 final — 2015/0063 COD)

(2015/C 332/10)

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 25. März 2015 bzw. am 23. März 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1236/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zu einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung, die auf dem Gebiet des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im Nordostatlantik anwendbar ist“

(COM(2015) 121 final — 2015/0063 COD).

Da der Ausschuss sich bereits in der am 13. Februar 2013 (1) verabschiedeten Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit besonderen Auflagen für die Befischung von Tiefseebeständen im Nordostatlantik und Vorschriften für den Fischfang in internationalen Gewässern des Nordostatlantiks und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2347/2002“ sowie in der am 18. September 2013 (2) verabschiedeten Stellungnahme zu dem „Aktionsplan für eine Meeresstrategie für den Atlantik — Schaffung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums“ zu dem Inhalt dieses Vorschlags geäußert hat, beschloss er auf seiner 508. Plenartagung am 27./28. Mai 2015 (Sitzung vom 27. Mai) mit 173 Stimmen bei 10 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den oben genannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 27. Mai 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 133 vom 9.5.2013, S. 41.

(2)  ABl. C 341 vom 21.11 2013, S. 77.