ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 451

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

57. Jahrgang
16. Dezember 2014


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

500. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Juli 2014

2014/C 451/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Europäische Einwanderungspolitik und Beziehungen zu Drittstaaten — (Sondierungsstellungnahme)

1

2014/C 451/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vollendung der WWU — Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses für die nächste europäische Legislaturperiode — (Initiativstellungnahme)

10

2014/C 451/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Unternehmensfinanzierung — Untersuchung alternativer Mechanismen — (Initiativstellungnahme)

20

2014/C 451/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Digitale Gesellschaft: Zugang, allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung, Instrumente für die Förderung der Gleichbehandlung — (Initiativstellungnahme)

25

2014/C 451/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Cyberangriffe in der EU — (Initiativstellungnahme)

31

2014/C 451/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mehr Transparenz und Teilhabe im EU-Beitrittsprozess — (Initiativstellungnahme)

39

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

500. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Juli 2014

2014/C 451/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Kreditinstituten in der Union — COM(2014) 43 final — 2014/0020 (COD)

45

2014/C 451/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission Fahrplan für die Vollendung des Binnenmarkts für die Paketzustellung — Stärkung des Vertrauens in die Zustelldienste und Förderung des Online-Handels — COM(2013) 886 final

51

2014/C 451/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung und Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften — COM(2014) 40 final — 2014/0017 (COD)

59

2014/C 451/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung im Küsten- und Meerestourismus — COM(2014) 86 final

64

2014/C 451/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Freisetzung des Potenzials von Crowdfunding in der Europäischen Union — COM(2014) 172 final

69

2014/C 451/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über persönliche Schutzausrüstungen — COM(2014) 186 final — 2014/0108 (COD)

76

2014/C 451/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Seilbahnen — COM(2014) 187 final — 2014/0107 (COD)

81

2014/C 451/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Einbeziehung der Aktionäre sowie der Richtlinie 2013/34/EU in Bezug auf bestimmte Elemente der Erklärung zur Unternehmensführung — COM(2014) 213 final — 2014/0121 (COD)

87

2014/C 451/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft — COM(2014) 168 final

91

2014/C 451/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein offenes und sicheres Europa: Praktische Umsetzung — COM(2014) 154 final

96

2014/C 451/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die EU-Justizagenda für 2020 — Stärkung von Vertrauen, Mobilität und Wachstum in der Union — COM(2014) 144 final

104

2014/C 451/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung — COM(2014) 167 final — 2014/0091 (COD)

109

2014/C 451/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Qualitätsrahmen der EU für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierungen — COM(2013) 882 final

116

2014/C 451/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften — C(2014) 963 final

123

2014/C 451/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Neue EU-Forststrategie: für Wälder und den forstbasierten Sektor — COM(2013) 659 final

127

2014/C 451/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über ein Programm Saubere Luft für Europa — COM(2013) 918 final, zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verringerung der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe und zur Änderung der Richtlinie 2003/35/EG — COM(2013) 920 final — 2013/0443 (COD), zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Begrenzung der Emissionen bestimmter Schadstoffe aus mittelgroßen Feuerungsanlagen in die Luft — COM(2013) 919 final — 2013/0442 (COD) und zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Annahme der Änderung des Protokolls von 1999 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon — COM(2013) 917 final

134

2014/C 451/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 hinsichtlich der Beihilferegelung für die Abgabe von Obst und Gemüse, Bananen und Milch in Bildungseinrichtungen — COM(2014) 32 final — 2014/0014 (COD)

142

2014/C 451/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Internet-Politik und Internet-Governance — Europas Rolle bei der Mitgestaltung der Zukunft der Internet-Governance — COM(2014) 72 final

145

2014/C 451/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Auf dem Weg zu einem Hyogo-Rahmenaktionsplan für die Zeit nach 2015: Risikomanagement zur Stärkung der Resilienz — COM(2014) 216 final

152

2014/C 451/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 93/5/EWG des Rates vom 25. Februar 1993 über die Unterstützung der Kommission und die Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der wissenschaftlichen Prüfung von Lebensmittelfragen — COM(2014) 246 final — 2014/0132 (COD)

157

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

500. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Juli 2014

16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Europäische Einwanderungspolitik und Beziehungen zu Drittstaaten“

(Sondierungsstellungnahme)

(2014/C 451/01)

Berichterstatter:

Panagiotis GKOFAS

Mitberichterstatter:

Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Der griechische EU-Ratsvorsitz beschloss am 6. Dezember 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Europäische Einwanderungspolitik und Beziehungen zu Drittstaaten.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 64 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Diese Stellungnahme soll zu den Arbeiten des griechischen Ratsvorsitzes beitragen und für Kontinuität unter dem italienischen Ratsvorsitz sorgen, um sicherzustellen, dass die auswärtigen Aspekte der Einwanderungs- und Asylpolitik der EU gestärkt werden. Die Einwanderung ist ein äußerst kompliziertes Thema, das die Zusammenarbeit vieler Beteiligter, aber auch ein gemeinsames, umfassendes Herangehen der EU sowohl auf internationaler als auch auf europäischer Ebene erfordert (1).

1.2

Die EU darf die Einwanderungspolitik nicht länger als fast ausschließlich innenpolitische Frage betrachten. Ihre Misserfolge beruhen zum Teil auf dieser falschen Annahme. Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU die Einwanderung mit einem Gesamtansatz angehen muss, der sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet ist: Die interne Steuerung der Migrationsströme und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten sind Aspekte derselben Politik, gilt das Bestreben doch ihrer Wirksamkeit.

1.3

Wir müssen uns der Herausforderung der Mobilität von Menschen im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft in umfassender Weise stellen. Migration und Mobilität hängen stark voneinander ab. Der internationale Dialog über die Mobilität von Menschen und die Migration muss mit anderen Aspekten der EU-Politik wie Handel, Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechten und Sicherheit verknüpft werden.

1.4

Kein EU-Mitgliedstaat kann alleine die Fragen der Einwanderung und des Asyls angemessen lösen. Deshalb schafft der Vertrag die Grundlage für eine gemeinsame Politik, die mit harmonisierten Rechtsvorschriften auf den Weg gebracht werden muss. Der Grundsatz der Solidarität und der fairen Verantwortungsteilung muss gestärkt werden.

1.5

Die EU muss die Verantwortung für die Kontrolle der Außengrenzen der Mitgliedstaaten übernehmen, d. h. der Grenzen der gesamten EU und des Schengen-Raums. Frontex muss in einen europäischen Dienst für die Grenzüberwachung umgestaltet werden. Die EU muss die Solidarität unter den Mitgliedstaaten stärken und für eine bessere Aufgabenverteilung sorgen.

1.6

Aufgrund ihrer geografischen Lage — nämlich als Durchgangsstationen für irreguläre Einwanderer — haben einige europäische Gebiete besondere Schwierigkeiten und müssen einen Zustrom bewältigen, der ihre Aufnahmekapazität übersteigt. Es ist notwendig, dass die EU operative Verfahren für eine bessere Verantwortungsteilung sowie für die finanzielle Unterstützung und die Aufnahme der Migranten auf den Weg bringt.

1.7

In einer globalisierten Welt muss die EU mit den Drittstaaten und den internationalen Institutionen bei der Einführung eines internationalen Rechtsrahmens für Migration und Mobilität zusammenarbeiten.

1.8

Vor diesem Hintergrund hält es der EWSA für erforderlich, das Thema Einwanderung unter Berücksichtigung folgender drei miteinander verknüpfter Faktoren anzugehen: des Herkunftslands, des Transitlands und des Ziellands (in diesem Fall der EU), denn nur so kann die Frage der Migrationsströme zufriedenstellend gelöst werden.

1.9

Die Einwanderungs- und Asylpolitik muss besser mit der Außenpolitik der EU abgestimmt werden. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) muss die ihm zukommende Rolle wahrnehmen und die Maßnahmen in den Bereichen Einwanderung, Asyl und Grenzkontrolle mitberücksichtigen, damit alles besser miteinander verzahnt ist. Der EWSA, der zu den Arbeiten des griechischen Ratsvorsitzes beigetragen hat, begrüßt die Aufnahme der auswärtigen Aspekte von Einwanderung, Asyl und Grenzkontrolle in die strategischen Leitlinien, die vom Europäischen Rat am 26./27. Juni 2014 angenommen wurden. Darüber hinaus ist die Rolle des Parlaments in diesen Bereichen zu stärken.

1.10

Im Rahmen des Gesamtansatzes für Migration und Mobilität (GAMM) sollte die EU Abkommen mit Drittstaaten schließen, insbesondere mit Nachbar-, Herkunfts- und Transitländern.

1.11

Der EWSA schlägt vor, den Dialog mit Drittstaaten auszubauen und neue Abkommen für Mobilität und Migration zu schließen, die inhaltlich umfassender sein sollten, wie dies auch in Ziffer 1.3 und 5.1.6 ausgeführt wird.

1.12

Die Mobilitätspartnerschaften haben gewisse — in den nächsten Jahren zu überwindende — Einschränkungen, da sie für die Vertragspartner nicht bindend sind. Aufgrund ihrer Flexibilität sind sie geeignet, politische Vereinbarungen zu erzielen, bringen aber keine rechtlichen Verpflichtungen mit sich. Sie sollten nach Ansicht des EWSA aber in internationale Abkommen mit verbindlichem Charakter umgestaltet werden.

1.13

Zu den Prioritäten von Mobilitätspartnerschaften müssen — neben Sicherheit, Rückführung und Grenzüberwachung — Aspekte im Zusammenhang mit Wirtschaftsmigration und Mobilität gehören, wobei der Schwerpunkt auf der Regelung der legalen Einwanderung, der Visapolitik, der Anerkennung formaler Qualifikationen, den Sozialleistungsansprüchen sowie dem Beitrag von Migration und Mobilität zur Entwicklung liegen sollte.

1.14

Der EWSA schlägt die Einrichtung von EU-Migrationsbüros in den Herkunftsländern vor, die von der Europäischen Kommission verwaltet werden und an denen Beamte des EAD, der GD Inneres und der GD Beschäftigung beteiligt sind. Das EU-Internetportal für Migration ist zwar ein probates Hilfsmittel, reicht jedoch nicht aus: Es muss in mehr Sprachen zugänglich und interaktiver gestaltet sein.

1.15

Es ist erforderlich, die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern zu verbessern, der irregulären Einwanderung vorzubeugen bzw. sie zu verhindern. Auch ist es notwendig, Informationskampagnen durchzuführen sowie die kriminellen Netze der Menschenhändler oder Schleuser wirksam zu bekämpfen. Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit ist im Kampf gegen die kriminellen Netze ganz entscheidend. Aus verbrecherischem Gewinnstreben gefährden die Händler und Schleuser das Leben und die Sicherheit von Menschen. Im Rahmen der Mobilitätspartnerschaften müssen neue Systeme zur Zusammenarbeit bei der Kontrolle der Grenzen und der Unterstützung der Rückkehr entwickelt werden.

1.16

Von ebenso großer Bedeutung sind wirtschaftliche Hilfe und Entwicklungsprogramme, die auf dem Prinzip der positiven Konditionalität („mehr für mehr“) beruhen und den verschiedenen Aspekten der Einwanderung — einschließlich der Rückführungs- und Rückübernahmepolitik — Rechnung tragen. Ebenso wichtig ist die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort und ihre Mitwirkung an den Mobilitätspartnerschaften.

1.17

Der EWSA plädiert überdies für eine Kooperation zwischen Frontex und Europol, um die organisierte Kriminalität — und zwar vor allem den Menschenhandel und die Einschleusung von Migranten — zu bekämpfen, sowie für eine enge Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und dem Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (ICMPD). Im Übrigen unterstützt der EWSA die Verordnungen der Europäischen Kommission für eine flexiblere Verwaltung des Asyl- und Migrationsfonds und des Fonds für innere Sicherheit ab 2014.

1.18

Auf EU-Ebene muss u. a. eine zufriedenstellende und kohärente gemeinsame Einwanderungspolitik verfolgt werden, die auf dem Geist der Solidarität und dem Einvernehmen aller Mitgliedstaaten beruht. Die EU muss eine wirksame Rückkehrpolitik für die Rückführung und Rückübernahme betreiben, die auf internationalen Verträgen basiert. Die Grenzen der EU, einschließlich der Seegrenzen der EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeerraum, sind die Grenzen aller EU-Mitgliedstaaten, weshalb die Verantwortung für ihre ordnungsgemäße Verwaltung im Einklang mit den Verträgen von allen Mitgliedstaaten gemeinsam zu tragen ist.

1.19

Die Menschenrechte irregulärer Einwanderer müssen jederzeit voll und ganz gewahrt sein: bei ihrer Rettung oder Festnahme, wenn sie den Schutzstatus erhalten, sich in einer irregulären Situation „ohne Papiere“ befinden oder in ihr Herkunftsland rückgeführt werden. Mit Unterstützung der gesamten EU müssen auch mehr und bessere Zentren für die Unterbringung und Verwahrung von Einwanderern in allen Mitgliedstaaten geschaffen werden, wobei die Aufmerksamkeit vor allem auf den gesundheitlichen Bedingungen und der Bereitstellung ärztlicher Hilfe sowie einer schnelleren Bearbeitung der Anträge auf Asyl oder die Gewährung von Sozialhilfe liegen sollte. Der EWSA bekräftigt seine Ablehnung der Unterbringung von Asylbewerbern und irregulären Einwanderern unter Haftbedingungen, insbesondere von Kindern, unbegleiteten Minderjährigen, Schwangeren und Menschen mit schweren Krankheiten.

1.20

Der EWSA beobachtet mit Besorgnis, dass in Europa Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Einwanderern zunehmen, und ist beunruhigt über die Verschlechterung des Schutzes der Grundrechte in einigen Mitgliedstaaten.

1.21

Alle EU-Organe haben darauf hingewiesen, wie wichtig die Einwanderung für die EU sowohl in wirtschaftlicher als auch demografischer Hinsicht ist. Siehe hierzu auch die Strategie Europa 2020. Wie der EWSA bereits betonte, muss die europäische Einwanderungspolitik folglich vorausschauend sein, die Menschenrechte schützen, gegen Diskriminierung in Beruf und Gesellschaft kämpfen und die Integrationsagenda voranbringen.

1.22

Die EU braucht ein gemeinsames Asylsystem mit harmonisierten Rechtsvorschriften. Das Dubliner Übereinkommen muss durch ein System von größerer Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten ersetzt werden, das den Wünschen der Asylbewerber Rechnung trägt und eine stärker verhältnismäßige Verteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellt.

1.23

In der neuen Verordnung über den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds wird Krisen- und Notfällen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, mit ausreichenden Finanzmitteln für Krisenfälle flexible Handlungskapazitäten auf europäischer Ebene sicherzustellen. Die Einreise zahlreicher Personen aus Syrien und Kriegsgebieten in Afrika erfordert eine Mobilisierung der EU, da es sich um humanitäre Notsituationen handelt.

2.   Einleitung

Das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Einwanderungspolitik, tragische Vorfälle mit Toten in den Meeresgebieten Libyens, Maltas, Griechenlands und Italiens, wie sie kürzlich zu beklagen waren und immer wieder vorkommen, die kontinuierliche Zunahme der Zahl von Flüchtlingen an den Grenzen Syriens, die Vielschichtigkeit des Problems sowie der schiere Umfang der Migrationsströme haben die Aufnahmekapazität vor allem der Mittelmeerländer stark unter Druck gesetzt. Aus diesem Grund begrüßt der Ausschuss, dass Italien die Frage der Einwanderung als ein vorrangiges Thema seines gegenwärtigen Ratsvorsitzes vom scheidenden griechischen Ratsvorsitz übernommen hat.

3.   Europa und die internationale Migrationssteuerung

3.1

Im 21. Jahrhundert nehmen die Mobilität der Menschen und damit die Migrationsströme zu. Derzeit leben nur 3 % der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslands; in Zukunft dürften die Migrationsbewegungen jedoch zunehmen (die jährliche Anstiegsrate liegt bei 3 %). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Migrationsströme unter den Ländern des Südens immer weiter anwachsen, insbesondere in die Länder mit aufstrebenden Volkswirtschaften. Gleichzeitig verdichtet sich der Personenverkehr innerhalb der EU (2) und des Europäischen Wirtschaftsraums.

3.2

Armut, Arbeitslosigkeit, demografische Tendenzen, Chancenlosigkeit, Konflikte, Umweltkatastrophen und Klimawandel sind nur einige der Gründe für internationale Migrationsströme.

3.3

Der EWSA hat betont, dass sich die EU im außenpolitischen Bereich für einen internationalen Rechtsrahmen für die Migration einsetzen sollte, der den Mitgliedstaaten Entlastung verschafft. Dieser internationale Rechtsrahmen muss die wichtigsten ILO-Übereinkommen und das Internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen umfassen, die von den EU-Mitgliedstaaten noch nicht ratifiziert worden ist (3). Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, einen Bericht über die Maßnahmen vorzulegen, die die Mitgliedstaaten ergreifen, damit es zügig ratifiziert wird.

3.4

Das wichtigste Ziel der Stellungnahme ist die Untersuchung und Hervorhebung der wesentlichen Fragen im Zusammenhang mit der Einwanderung in ihrer Gesamtheit, wie bereits erwähnt, damit Lösungen gesucht werden können, die in einer wirksamen, mit dem Schutz der Rechte der Migranten zu vereinbarenden Einwanderungspolitik münden.

4.   Die interne Dimension: die gemeinsame Einwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik der EU

4.1   Die gemeinsame Einwanderungspolitik

4.1.1

In den letzten zehn Jahren hat die EU diesen gemeinsamen Rechtsrahmen schrittweise erlassen, z. B. durch die Verankerung der Rechtsstellung langfristig Aufenthaltsberechtigter oder der Gewährung des Rechts auf Familienzusammenführung. Die Zulassungsbedingungen für Studierende und Forscher wurden harmonisiert, und es wurde die „Blue Card“ für hochqualifizierte Migranten eingeführt. Auch horizontale Rechtsvorschriften (einheitliche Aufenthalts-/Arbeitserlaubnis für Wanderarbeitnehmer aus Drittländern, Saisonarbeiterrichtlinie) und die Richtlinie über die Einreise von Arbeitnehmern im Rahmen einer konzerninternen Entsendung wurden angenommen.

Die EU muss die gemeinsame Politik für Arbeitsmigration fördern und einen Rechtsrahmen schaffen, der kohärent, umfassend und bereichsübergreifend und auf die Achtung der Rechte der Arbeitnehmer, deren Gleichbehandlung und rechtmäßige Beschäftigung sowie auf die Bedürfnisse der Unternehmen ausgerichtet ist. Rechtsetzung und Zusammenarbeit sollten die Einwanderung von Arbeitnehmern — sowohl hochqualifizierten als auch solchen, die einfacheren Beschäftigungen nachgehen — auf legalen und transparenten Wegen ermöglichen.

Es bedarf einer integrierten und kohärenten Politik für Einwanderung, Asyl und Grenzkontrolle und einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften, an denen die Mitgliedstaaten, die Dienststellen der Europäischen Kommission, der EAD und die zuständigen EU-Einrichtungen aktiv mitwirken.

4.1.2

Der EWSA und die Europäische Kommission arbeiten in der Integrationspolitik eng zusammen. Entsprechend einer Reihe gemeinsamer Grundprinzipien entwickelt die EU eine Integrationsagenda, für die auch ein Finanzfonds bereitsteht. Der EWSA und die Kommission werden weiterhin bei den Maßnahmen des Europäischen Integrationsfonds zusammenarbeiten.

4.2   Ein gemeinsames Asylsystem

4.2.1

Die EU verfügt über ein gemeinsames Asylsystem sowie harmonisierte Rechtsvorschriften. Dennoch ist die Situation bei Weitem noch nicht zufriedenstellend, weil die Mitgliedstaaten an unterschiedlichen Maßnahmen und Gesetzen festhalten (4).

4.2.2

Vor dem Hintergrund, dass 90 % der Anträge in nur zehn Mitgliedstaaten bearbeitet wurden, hat der EWSA bereits in der Vergangenheit kritisiert, dass sich die EU in Asylfragen kaum solidarisch zeigt. Der größte Druck lastet auf den kleineren Ländern wie Malta, Zypern oder Griechenland.

4.2.3

Im Dubliner Übereinkommen ist festgelegt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des jeweiligen Asylantrags zuständig ist. Nach Ansicht des EWSA wird auf der Grundlage des Übereinkommens jedoch keine Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten geübt. Der Asylbewerber sollte die Möglichkeit haben, seinen Antrag in einem beliebigen Mitgliedstaat zu stellen. Mittelfristig sollte die EU neue Befugnisse erhalten, sodass die Prüfung der Asylanträge in ihre Zuständigkeit fällt und nicht in die der nationalen Behörden. So ließen sich die Prüfung beschleunigen und die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl verbessern. Das Dubliner Übereinkommen muss also durch ein System ersetzt werden, das mehr Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten mit sich bringt und bei dem den Wünschen der Asylbewerber Rechnung getragen wird und das eine stärker verhältnismäßige Verteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellt.

4.2.4

Um den Mitgliedstaaten bei der Entwicklung des Asylsystems zu helfen, wurde das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) gegründet, das auch technische und operationelle Hilfe leisten kann. Das EASO muss befugt werden, die einzelstaatlichen Asylsysteme und ihre Vereinbarkeit mit den Verpflichtungen aufgrund des europäischen und internationalen Rechts sowie den Grundrechten zu bewerten.

4.2.5

Der EWSA schlägt vor, die Neuansiedlungsprogramme für den Umzug von Flüchtlingen aus Drittstaaten und deren Ansiedlung in der EU in Zusammenarbeit mit den Drittstaaten und dem UNHCR auszubauen.

4.2.6

Der EWSA schlägt auch vor, die Umsiedlungsprogramme innerhalb der EU unter Bereitstellung finanzieller Anreize für die beteiligten Mitgliedstaaten auszubauen. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Neuansiedlung und Umsiedlung von Schutzberechtigten und Asylbewerbern gegenwärtig sehr gering ist.

4.2.7

Die Umsiedlung („Resettlement“) sollte auf der Grundlage eines ständigen und festen Verfahrens erfolgen. Dazu sollte die Kommission einen Legislativvorschlag für ein ständiges und wirksames EU-internes Umsiedlungsverfahren vorlegen, das auf einem EU-Verteilungsschlüssel für die Umsiedlung von Asylbewerbern basiert, wie im Bericht des Europäischen Parlaments über verstärkte EU-interne Solidarität im Asylbereich (2012/2032 INI) beschrieben. Damit dieses Verfahren möglichst effizient funktioniert, sollten in dem Legislativvorschlag auch die praktischen Erfahrungen mit dem EUREMA-Pilotprojekt für Malta berücksichtigt werden (5).

4.3   Prävention der irregulären Einwanderung

Nach Auffassung des EWSA sollte der Geist der Solidarität in der EU gestärkt werden. Aufgrund ihrer geografischen Lage, nämlich als Durchgangsorte für die irreguläre Einwanderung, haben einige europäische Gebiete besondere Schwierigkeiten und müssen häufig einen Zustrom bewältigen, der ihre Aufnahmekapazität übersteigt. Es ist notwendig, dass die EU Verfahren der finanziellen und praktischen Solidarität in Bezug auf die Aufnahme auf den Weg bringt und dabei unter anderem die wirtschaftliche und soziale Lage der betreffenden Mitgliedstaaten berücksichtigt.

4.3.1

Die Verknüpfung von Einwanderung und Kriminalität, so wie sie im politischen Diskurs häufig beschworen wird, entspricht nicht der Realität und fördert die Fremdenfeindlichkeit. Die meisten Einwanderer, die sich in einer regulären Situation befinden, sind legal mit einem Kurzzeitvisum eingereist und verlängern ihren Aufenthalt bzw. besitzen eine zeitlich befristete Einwanderungserlaubnis, kehren aber nicht zurück, wenn diese abgelaufen ist.

4.3.2

Viele von ihnen arbeiten unter sehr unwürdigen Bedingungen, mitunter gar unter Verstoß gegen das Arbeitsrecht, bzw. in der Schattenwirtschaft und sind deshalb sozial ausgegrenzt. Angesichts solcher Fälle haben sich die Organisationen der Zivilgesellschaft und auch der EWSA selbst für Verfahren zur Legalisierung von irregulären Einwanderern ausgesprochen und die EU generell aufgefordert, Vorschläge, Berichte und Maßnahmen anzunehmen, um solchen Dingen entgegenzuwirken.

4.3.3

Die Menschenrechte irregulärer Einwanderer müssen jederzeit gewahrt sein: von ihrer Rettung oder Festnahme bis zu dem Moment, in dem sie den Schutzstatus erhalten oder in ihr Herkunftsland rückgeführt werden. Die irreguläre Einwanderung auf dem Seeweg führt häufig zum Verlust von Menschenleben. In diesem Zusammenhang unterstreicht der EWSA, dass die grundlegenden Menschenrechte jederzeit respektiert werden müssen.

4.4   Außengrenzen und Einreisevisa

4.4.1

Die Europäische Union braucht eine glaubhafte, wirksame, rechtmäßige und einer demokratischen Kontrolle unterworfene Politik im Bereich ihrer Außengrenzen. Die Mitgliedstaaten, die dem Schengen-Raum angehören, führen an ihren Binnengrenzen keine Kontrollen durch. Das bedeutet, dass sie bei der Kontrolle der EU-Außengrenzen zusammenarbeiten und gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen. Der Schengener Grenzkodex regelt den Grenzübergang und die Kontrollen unter Berücksichtigung der Anforderungen, die Drittstaatsangehörige für die Einreise in die EU und den Aufenthalt von bis zu drei Monaten erfüllen müssen. Die EU erstellt Listen der Länder, deren Staatsangehörige ein Einreisevisum benötigen.

4.4.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bedeutung von Frontex gestärkt und dass Frontex mittelfristig zu einem europäischen Grenzschutzdienst ausgebaut werden muss, der sich aus einem europäischen Kontingent von Grenzschutzbeamten zusammensetzt. Seine Hauptaufgabe wäre die Umsetzung der im Grenzkodex vorgesehenen gemeinsamen Bestimmungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Solidarität der EU mit den Mitgliedstaaten gestärkt werden muss, wobei deren geografische Lage zu berücksichtigen ist.

4.4.3

Beim Kampf gegen Menschenhandel und -schmuggel muss immer ein Opferschutz gemäß den internationalen humanitären Bestimmungen und den europäischen Menschenrechtskonventionen gewährleistet sein. Gemäß Artikel 6 Absatz 2 des Schengener Grenzkodexes dürfen die Grenzschutzbeamten bei Kontrollen nicht nach Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung diskriminieren, und gemäß Artikel 13 steht Personen, denen die Einreise verweigert wird, ein Rechtsmittel zu.

4.4.4

Der Ausschuss unterstützt die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Visumregelungen. Die Zusammenarbeit mit Drittstaaten ist von grundlegender Bedeutung in der Visumpolitik, die in vielen Fällen auf Gegenseitigkeit beruht.

4.5   Rückkehr

4.5.1

Die Mobilitätspartnerschaften sollten Rückkehrverfahren umfassen, die hauptsächlich auf der freiwilligen Rückkehr beruhen, wobei entsprechende Unterstützungssysteme vorzusehen sind (6). Werden Verfahren zur erzwungenen Rückkehr angewandt, müssen sie unter umfassender Achtung der Rechte der rückgeführten Menschen gemäß den Empfehlungen des Europarats erfolgen (7).

4.5.2

Der Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten muss auf dem Grundsatz der positiven Konditionalität, der Gewährung wirtschaftlicher Hilfe sowie der Ausarbeitung von Entwicklungsprogrammen zur Verhinderung der irregulären Einwanderung beruhen.

4.5.3

Die Rückführung von Migranten, die irregulär in die EU eingereist sind, muss nach den geltenden Regeln erfolgen. Rückführungsabkommen mit Drittstaaten sind in diesem Zusammenhang besonders wesentlich, um sicherzustellen, dass die Rechte rückgeführter Migranten in vollem Umfang gewahrt werden.

4.5.4

Nach der Charta sind Kollektivausweisungen ausdrücklich untersagt und es ist festgelegt, dass niemand in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für die betreffende Person das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Das ist das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement). Trotzdem haben zahlreiche nichtstaatliche Organisationen bereits Kollektivausweisungen sowie Abschiebungen von irregulären Einwanderern und Asylbewerbern in Länder angeprangert, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Der EWSA erinnert daran, dass die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta Bestimmungen enthalten, die auf eine europäische Politik im Bereich der irregulären Einwanderung (insbesondere hinsichtlich des Schutzes im Falle der Ausweisung, Abschiebung und Auslieferung) anwendbar sind.

4.5.5

Menschen mit einer schweren Krankheit dürfen gemäß der Auslegung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention weder inhaftiert noch abgeschoben werden, denn sie benötigen eine entsprechende medizinische Betreuung. Dasselbe gilt für Schwangere. Zudem bedürfen auch (insbesondere unbegleitete) Minderjährige besonderer Aufmerksamkeit und besonderen Schutzes.

4.5.6

Der EWSA bekräftigt seine Ablehnung der Unterbringung von Asylbewerbern und irregulären Einwanderern unter Haftbedingungen, da ihre Einweisung in entsprechende Einrichtungen eine außerordentliche Maßnahme bleiben muss (8). Der EWSA fordert mehr Transparenz hinsichtlich der Gewahrsamseinrichtungen innerhalb und außerhalb der EU sowie die Unterrichtung des UNHCR über die Situation der internierten Personen.

5.   Die auswärtige Dimension der Einwanderungs- und Asylpolitik

5.1   Der Gesamtansatz für Migration und Mobilität

5.1.1

Den ersten Schritt unternahm der Europäische Rat, als er Ende 2005 den Gesamtansatz für Migration verabschiedete. Zur Entwicklung der Außendimension der europäischen Migrationspolitik wurden verschiedene Initiativen der Europäischen Kommission auf den Weg gebracht.

5.1.2

Die Mobilitätspartnerschaften sind das wichtigste politische Instrument bei der Umsetzung des Gesamtansatzes für Migration und Mobilität. Die Pilotphase ihrer Umsetzung ist bereits beendet, und 2009 nahm die Europäische Kommission eine politische Bewertung dieses Prozesses vor. Es wurden sechs Mobilitätspartnerschaften eingegangen (9).

5.1.3

In ihrer Mitteilung „Ein Dialog mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraums über Migration, Mobilität und Sicherheit“ (COM(2011) 292) empfahl die Kommission, einen Dialog über Migration, Mobilität und Sicherheit in der EU aufzunehmen, um neue Herausforderungen für die Migrations- und Asylpolitik (Kriege und Bevölkerungsbewegungen im Mittelmeerraum) festzulegen. Seither hat die EU Dialoge mit einer Reihe von Ländern eingeleitet.

5.1.4

Es wurden bisher sechs Mobilitätspartnerschaften mit folgenden Ländern abgeschlossen: Kap Verde (Mai 2008) (10), Moldau (Mai 2008) (11), Georgien (November 2009) (12), Armenien (Oktober 2011) (13), Aserbaidschan (Dezember 2013) (14) und Marokko (Juni 2013) (15). Die Verhandlungen über den Abschluss einer Mobilitätspartnerschaft mit Tunesien sind beendet, und die gemeinsame Erklärung wurde am 3. März 2014 unterzeichnet. Die Verhandlungen über den Abschluss einer Mobilitätspartnerschaft mit Jordanien haben begonnen und sollen noch während des griechischen Ratsvorsitzes abgeschlossen werden. Darüber hinaus werden weitere Dialoge über Migration, Mobilität und Sicherheit mit anderen Ländern des südlichen Mittelmeerraums wie Ägypten, Libyen, Algerien und dem Libanon beginnen. Die Erklärung des Gipfels EU-Afrika zu Migration und Mobilität (16) beruht auf dem allgemeinen Konzept, das der EWSA unterstützt.

5.1.5

Die Europäische Kommission nahm 2011 eine Bewertung des Gesamtansatzes für Migration und Mobilität vor (17), in er sie die EU aufforderte, ihre Außenpolitik im Bereich Migration zu stärken, und einen neuen Gesamtansatz für Migration und Mobilität präsentierte, der auf den folgenden vier Säulen ruht: 1) Organisation und Erleichterung der legalen Migration und Mobilität, 2) Verhinderung und Eindämmung der irregulären Migration und des Menschenhandels, 3) Förderung des internationalen Schutzes und der externen Dimension der Asylpolitik und 4) Maximierung der Auswirkungen von Migration und Mobilität auf die Entwicklung.

5.1.6

Die Mobilitätspartnerschaften weisen gewisse Beschränkungen auf, die nach Ansicht des EWSA in den kommenden Jahren überwunden werden sollten. Sie haben den Status unverbindlicher Rechtsvorschriften (soft law) und sind gemeinsame Erklärungen der EU, einer Gruppe betroffener Mitgliedstaaten und eines Drittstaats, die für die Vertragspartner jedoch nicht bindend sind. Aufgrund ihrer Flexibilität sind sie geeignet, politische Vereinbarungen zu erzielen, bringen aber keine rechtlichen Verpflichtungen mit sich. Wie der EWSA bereits zum Ausdruck gebracht hat (18), sollten die Mobilitätspartnerschaften in für die Vertragspartner verbindliche internationale Abkommen umgewandelt werden.

5.1.7

In den Mobilitätspartnerschaften müssen Aspekte der Mobilität und Migration klarer herausgestellt werden und Priorität erhalten. Bisher lag der Schwerpunkt auf Sicherheit, Rückkehr, Rückübernahme irregulärer Einwanderer und Grenzüberwachung. In der Mitteilung der Europäischen Kommission zum Dialog wird festgestellt, dass die Erhöhung der Mobilität davon abhängen wird, dass die Drittstaaten bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Nach Auffassung des EWSA muss die EU diesen Ländern Möglichkeiten für die Einwanderung mittels legaler und transparenter Verfahren eröffnen (19).

5.1.8

Nach Auffassung des EWSA sollte die EU den Partnerländern die Öffnung von Kanälen für die Mobilität von Personen, die Erleichterung bzw. Liberalisierung der Visaerteilung und die Aufnahme neuer Einwanderer anbieten. Der EWSA (20) spricht sich dafür aus, auch folgende Aspekte in den neuen Abkommen zu berücksichtigen:

Verbesserung der Kapazitäten, um Arbeitskräfteangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen,

Anerkennung akademischer und beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen,

Erarbeitung und Anwendung von Rahmenregelungen, mit denen die Übertragung von Rentenansprüchen verbessert werden kann,

besserer Zugang zu Informationen über Stellenangebote in der EU,

Maßnahmen für eine bessere Zusammenarbeit im Bereich Kompetenzen und Ausgleich von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage auf der Grundlage der bisherigen Arbeit der Europäischen Stiftung für Berufsbildung.

5.1.9

Die Einrichtung von Migrationszentren durch die EU in den Herkunftsländern wird die Präsenz der EU in diesen Ländern stärken, zugleich aber auch Falschinformationen von Menschenhändlern vorbeugen und so Anträge auf legale Einwanderung fördern. Besondere Bedeutung ist der Stärkung der Zivilgesellschaft vor Ort bzw. ihrem Aufbau, wenn sie noch nicht existiert, beizumessen.

5.1.10

In humanitären Krisensituationen aufgrund eines Massenzustroms könnte die Schaffung von Migrationszentren und Zentren für die Unterbringung von Migranten unter Berücksichtigung des Grundsatzes der positiven Konditionalität von der EU finanziert werden. In Zusammenarbeit mit dem UNHCR und der IOM sollte den Betroffenen in diesen Zentren Schutz durch das internationale Asylsystem gewährleistet werden.

5.1.11

Die EU muss Vereinbarungen mit diesen Ländern schließen, die Transitländer sind, und Voraussetzungen wie die Menschenrechte und die Rückführung in den Mittelpunkt stellen.

5.1.12

Der Abschluss von Vereinbarungen könnte auch auf die Zusammenarbeit mit Frontex und Europol ausgedehnt werden. Die Bekämpfung des organisierten Verbrechens des Menschenhandels ist Grundlage für die Verhinderung und Eindämmung des Stroms irregulärer Einwanderer. Die von den Menschenhändlern ausgebeuteten Personen sind als unschuldige Opfer anzusehen.

5.1.13

Nach der Katastrophe auf Lampedusa beschloss der Rat (Justiz und Inneres) am 7./8. Oktober 2013 die Einsetzung der Task Force „Mittelmeerraum“ (TFM). Die Mitteilung über die Arbeit dieser Task Force (COM(2013) 869) enthält ein Paket kurz-, mittel- und langfristiger Maßnahmen in fünf wichtigen Hauptbereichen: Maßnahmen in Zusammenarbeit mit Drittländern; regionale Schutzprogramme, Neuansiedlung und verstärkte legale Möglichkeiten der Einreise nach Europa; Bekämpfung von Menschenhandel, Schleuserkriminalität und organisierter Kriminalität; verstärkte Grenzüberwachung; Unterstützung der Mitgliedstaaten, die hohem Migrationsdruck ausgesetzt sind, und Solidarität mit ihnen.

5.1.14

Der EWSA hält es für wesentlich, die kurzfristigen Maßnahmen durch langfristige zu ergänzen, um die der unfreiwilligen Migration zugrunde liegenden Ursachen anzugehen.

5.1.15

Der Europäische Rat unterstützte im Dezember 2013 die vorgeschlagenen Maßnahmen und bekräftigte die Notwendigkeit eines entschlossenen Vorgehens, um den Verlust von Menschenleben auf See zu vermeiden und Tragödien künftig zu verhindern. Er wiederholte, dass die Zusammenarbeit mit Drittstaaten Vorrang haben muss, damit sich solche Fälle nicht wieder ereignen.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe REX/375 und REX/351.

(2)  Siehe SOC/373.

(3)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 134-141.

(4)  In Asylfragen ist die EU durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die Charta der Grundrechte sowie internationale Übereinkommen gebunden.

(5)  EUREMA ist ein Pilotprojekt der EU für die EU-interne Umsiedlung von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz aus Malta, das in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 gebilligt wurde (Dok. 11225/2/09 CONCL 2).

(6)  In Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration.

(7)  Zwanzig Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr (COM(2005) 40).

(8)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 16. Juli 2009 zu Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, Berichterstatterin: An LE NOUAIL-MARLIÈRE; verabschiedet auf der Plenartagung vom 15./16. Juli 2009.

(9)  Europäische Kommission (2009), Mobility partnerships as a tool of the global approach to migration (Mobilitätspartnerschaften als Instrument des Gesamtansatzes zur Migrationsfrage), Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, SEC(2009) 1240, Brüssel, 18. September 2009.

(10)  Gemeinsame Erklärung des Rates der Europäischen Union (2008) über eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Kap Verde, 9460/08 ADD2, Brüssel, 21. Mai 2008.

(11)  Gemeinsame Erklärung des Rates der Europäischen Union (2008) über eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Moldau, 9460/08 ADD1, Brüssel, 21. Mai 2008.

(12)  Gemeinsame Erklärung des Rates der Europäischen Union (2009) über eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Georgien, 16396/09 ADD1, Brüssel, 20. November 2009.

(13)  Gemeinsame Erklärung des Rates der Europäischen Union (2011) über eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Armenien, 14963/11 ADD 1, Brüssel, 11. Oktober 2011.

(14)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-1215_de.htm, 5.12.2013.

(15)  Gemeinsame Erklärung des Rates der Europäischen Union (2011) über eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und Marokko, 6139/13, Brüssel, 3. Juni 2011.

(16)  EU-Afrika-Gipfel, 2./3. April 2014, Brüssel.

(17)  Mitteilung der Kommission: Gesamtansatz für Migration und Mobilität, COM(2011) 743 final, 18.11.2011.

(18)  Siehe REX/351.

(19)  Siehe REX/351.

(20)  Siehe SOC/268 und REX/236.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vollendung der WWU — Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses für die nächste europäische Legislaturperiode“

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 451/02)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL und Carmelo CEDRONE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. September 2013 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Vollendung der WWU — Vorschläge des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses für die nächste europäische Legislaturperiode.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 19. Mai 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 195 Stimmen gegen 8 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Ein Fahrplan für die nächste europäische Legislaturperiode

Angesichts der enormen Herausforderungen für die Wirtschafts- und Währungsunion der EU vertritt der EWSA den folgenden Standpunkt:

Das Ziel der WWU, die einen Eckpfeiler für jegliche Weiterentwicklung der EU bildet, ist die Förderung von Lebensqualität, Wohlstand und Stabilität für die Unionsbürger. Der Aufbau von Vertrauen und möglichst günstige Bedingungen für die Realwirtschaft sind Voraussetzungen für Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen. Dies zeigt die Bedeutung der WWU für den Euroraum wie auch für die nicht dem Euroraum angehörenden Mitgliedstaaten.

Die Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen zwingt die Länder des Euroraums, dringendst geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, da im heutigen globalisierten Kontext kein europäisches Land für sich allein Handlungsfreiheit gewährleisten kann. Dies hat erhebliche Folgen sowohl für die Steuerung als auch für die Politik der WWU.

Die WWU ist kein eigenständiges Gebilde. Sie war ursprünglich als Vollendung eines offenen europäischen Binnenraums und des Binnenmarkts gedacht. Neben der Haushaltsdisziplin müssen die EU und die Mitgliedstaaten gleichzeitig flankierende wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung als den zentralen Faktoren für eine erfolgreiche Konsolidierung ausarbeiten (1).

Um Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten in einer Reihe verschiedener Bereiche zu gewährleisten, werden tiefgreifende Anpassungen in der Wirtschafts- und Strukturpolitik erforderlich sein, die bis vor kurzem weitgehend der ausschließlichen nationalen Zuständigkeit zugeordnet wurde. An die Stelle von Misstrauen und Spannungen müssen gemeinsame vertrauensbildende Maßnahmen treten. Eine engere Union betrifft die ganze Gesellschaft. Der soziale und zivilgesellschaftliche Dialog auf allen Ebenen muss sichergestellt werden.

In Anbetracht der obigen Ausführungen fordert der EWSA für die nächste europäische Legislaturperiode, zügig einen Fahrplan für die Inangriffnahme der dringlichsten Probleme aufzustellen.

Hierfür schlägt der EWSA folgendes vor:

I.

Die Vollendung der WWU, die durch eine solide Steuerungs- und Verwaltungsstruktur für den Euroraum gewährleistet wird und auf folgenden Grundlagen beruht:

i.

einer geldpolitischen und finanziellen Säule, einschließlich der Realisierung einer vollständigen Bankenunion, um einen gesamteuropäischen Kapitalmarkt zu schaffen und zugleich die Steuerzahler vor den Folgen übermäßiger Risikobereitschaft und ungeordneter Zahlungsausfälle zu schützen;

ii.

einer wirtschaftlichen Säule, die die zunehmende Verflechtung der Mitgliedstaaten sowohl auf makro- als auch mikroökonomischer Ebene widerspiegelt, um den Beschlussfassungsprozess in der Wirtschaftspolitik zu stärken und so Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit, Konvergenz und Solidarität in Europa zu fördern;

iii.

einer sozialen Säule, um die sozialen Auswirkungen der wirtschaftlichen Anpassungen angemessen zu berücksichtigen;

iv.

einer politischen Säule, u. a. mit mehr Verantwortlichkeit und demokratischer Legitimation, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu fördern.

II.

Die unverzügliche Annahme eines echten europäischen Wachstums- und Beschäftigungsplans auf der Grundlage eines umfangreichen Investitionsprogramms, das mit öffentlichen und privaten Geldern finanziert wird und fiskalische Impulse setzt. Die Neujustierung und ordnungsgemäße Umsetzung bestehender Instrumente wie insbesondere Sechserpack, Zweierpack, Fiskalpakt und Europäisches Semester sollte sichergestellt werden.

III.

Die Festlegung eines Zeitplans und entsprechende Vorbereitungen für eine umfassende politische Integration Europas, u. a. mithilfe eines Reflexionsprozesses über ihr institutionelles Gefüge im Rahmen eines neuerlichen EU-Konvents.

IV.

Die Konzipierung einer Kommunikations- und Vereinfachungsstrategie für die WWU in Zusammenarbeit zwischen der Kommission, dem EP, den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft.

2.   Eckpfeiler WWU

2.1

Der EWSA betont, dass die Wirkung einer vollständigen und erfolgreichen WWU weit über ein gemeinsames Vorgehen in der Haushalts- und Geldpolitik und dem Bankenwesen hinausreicht. Durch eine zielgerichtete Führung sollte bei Unternehmen, Bürgern und Wirtschaftsakteuren der Glaube an die gemeinsame Sache und das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa gefördert werden.

2.2

Die nächsten fünf Jahre werden entscheidend sein, um die noch fragile Architektur der WWU zur Reife zu entwickeln. Dies erfordert in erster Linie Eigenverantwortung, Offenheit und Transparenz; deshalb brauchen wir eine wirksame Politik sowie klare und unmissverständliche Aussagen — keine Doppelzüngigkeit! — aufseiten der Mitgliedstaaten des Euroraums, des Rates und aller anderen EU-Instanzen.

2.3

Ebenso wie einige herausragende europäische Politiker betrachtet der EWSA die politische Union als unverzichtbaren Orientierungspunkt am Horizont (2). In Übereinstimmung mit ihrer Argumentation sieht der EWSA die politische Union nicht nur als Vollendung der WWU, sondern auch mit Blick auf den weitergefassten internationalen Kontext der heutigen globalisierten Welt, der die politische Ordnung in der Folge des Westfälischen Friedens und die einzelstaatlichen Regelungsmöglichkeiten grundlegend infrage stellt.

2.4

In der heutigen globalisierten Welt kann kein europäischer Staat für sich allein bestehen. Staatliche Souveränität kann deshalb besser in einem gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Rahmen garantiert werden.

2.5

In dem Bericht „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“ von Präsident Herman Van Rompuy sowie der entsprechenden Mitteilung der Europäischen Kommission vom November bzw. Dezember 2012 wurde ein Fahrplan mit konkreten Maßnahmen für eine solche Entwicklung entworfen. Der Ausschuss hat dies begrüßt (3). Das Hauptproblem besteht darin, dass trotz erheblicher Fortschritte die Trennung zwischen einer gemeinsamen Währung und einer zwischenstaatlichen wirtschaftspolitischen Steuerung zu unüberwindlichen Spannungen führt. Der EWSA dringt darauf, dass der Van-Rompuy-Bericht die Grundlage für die Gesetzesinitiativen der kommenden Legislaturperiode bleibt.

2.6

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat insbesondere den Euroraum getroffen und die derzeitigen Grenzen der WWU aufgezeigt. Statt als ein Baustein der europäischen Integration wird der Euro von vielen als ein Keil wahrgenommen, der die Länder und die Zivilgesellschaft trennt und die Zukunft der Union gefährdet. Bei dieser Fehleinschätzung wird allerdings übersehen, dass die Krise — deren Ursprünge weitgehend außerhalb des Euroraums lagen — ohne die einheitliche Währung tiefgreifender gewesen wäre.

2.7

Fortschritte beim Integrationsprozess werden gegenwärtig durch die Ungleichgewichte und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen von Ländern gebremst, die bereits seit 1991 bestehen und nie in Angriff genommen wurden. Sogar gefährliche Abspaltungs- und Renationalisierungstendenzen sind zu beobachten.

2.8

Die Zukunft wird dadurch unvorhersehbar. Anzeichen einer Erholung schüren Optimismus, die Länder verlassen den Krisenmodus. Jedoch ist für einige Zeit mit niedrigen/moderaten Wachstumsraten zu rechnen, was teilweise auf die unvollendete WWU und die Fragmentierung des europäischen Finanzmarktes zurückzuführen ist. In Anbetracht der Volatilität der Wirtschaft und potenzieller Rückschläge in den kommenden Jahren warnt der EWSA vor Sorglosigkeit in diesen Fragen.

2.9

Vor diesem Hintergrund waren die jüngsten, wenn auch begrenzten Entscheidungen — u. a. zu Sechserpaket, Zweierpaket und Bankenunion — dringend notwendig. Hinter diesen neuen Steuerungsmechanismen stehen jedoch zu einem großen Teil eher haushalts- und stabilitätspolitische Anliegen als die Sorge um die Menschen, weshalb Wachstum und soziale Maßnahmen unberücksichtigt blieben. Außerdem rufen der langwierige Entscheidungsprozess und die Komplexität des Systems latenten oder offenen Widerstand in den Mitgliedstaaten und im Rat infolge von politischem Misstrauen und Betonung der nationalen Souveränität hervor. Diese Situation ist die Union in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bereits teuer zu stehen gekommen und schadet ihrem internationalen Ansehen; vertrauensbildende Maßnahmen sind deshalb unverzichtbar, um die Hindernisse zu überwinden.

2.10

Der EWSA dringt daher auf einen überzeugenden Zeitplan für die nächste europäische Legislaturperiode, in dem die weiteren Schritte samt konkreter Fristen festgelegt werden und bei denen der Schwerpunkt auf der Vollendung der WWU in enger Abstimmung mit den Zielen der Strategie Europa 2020 und deren Leitinitiativen liegen muss. In dieser Stellungnahme werden einige wesentliche Punkte für einen solchen Fahrplan vorgeschlagen.

2.11

Die differenzierte Integration innerhalb der EU, die bereits in verschiedenen Politikbereichen mit Erfolg praktiziert wird, sollte auch weiterhin ein Grundprinzip bleiben. Viele der zur Vollendung der WWU notwendigen Beschlüsse können ohne Änderung des geltenden Rechts bzw. über die verstärkte Zusammenarbeit gefasst werden, während andere einen neuen Vertrag bzw. eine Änderung der bestehenden Verträge erfordern. Durch derartige Beschlüsse könnten Verzögerungen bei der Vollendung der WWU aufgeholt und verschiedene Sofortmaßnahmen umgesetzt werden, ohne die langfristigen Perspektiven aus den Augen zu verlieren. Denn auch der Euroraum bedarf echter institutioneller Strukturreformen, parallel zu den in den einzelnen Ländern durchzuführenden Reformen.

3.   Erste Schritte: ein wirklicher Plan für Wachstum und Beschäftigung im Rahmen des geltenden Rechts

3.1

Eine erste und unmittelbare Etappe auf dem Fahrplan für die nächste EU-Legislaturperiode wäre die Annahme und Umsetzung eines wirklichen Wachstums-, Beschäftigungs- und Stabilitätspakts, um die Erholung anzukurbeln und die Rückzahlung der Schulden zu ermöglichen (eine Art europäischer New Deal). Ein solcher Plan müsste mindestens folgende Punkte umfassen:

die Ausgabe von Eurobonds der EIB und des EIF (bereits teilweise mit den „projektbezogenen Anleihen“ umgesetzt), ohne die Schulden der Länder zu erhöhen, zwecks Finanzierung der KMU sowie von Projekten in den Bereichen Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, Umwelt sowie transeuropäische Netze. Mit solchen gezielten Aktionen der EIB und des EIF wird ein aktives europäisches Engagement zur Verbesserung des finanziellen Umfelds für private Investitionen signalisiert (4);

öffentliche Investitionen der Mitgliedstaaten, u. a. auch im Sozialbereich (5), zusätzlich zu den öffentlichen Investitionen der EU über ein System gemeinsamer Parameter, durch das in Verbindung mit den geeigneten Strukturreformen auch die privaten Investitionen gefördert würden (goldene Finanzierungsregel);

während der Krise Lockerung oder zeitweilige Aussetzung der Sparpolitik, die zu den Hauptursachen der Rezession, des Nachfragerückgangs und des Anstiegs der Arbeitslosigkeit zählt und die das Einsetzen der Erholung verzögert hat. Mit anderen Worten muss der Übergang von einer reinen Sparpolitik zu gemeinsam vereinbarten Reformen gewährleistet werden, um nachhaltiges Wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine Steigerung der Produktivität zu ermöglichen (6);

die Umsetzung des Zweierpakets, des Sechserpakets und des Fiskalpakts muss durch abgestimmte Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung sowie im sozialen Bereich flankiert werden;

bessere Durchführung des Europäischen Semesters: auf dem Weg zu einer Wirtschaftsunion kommt dem seit vier Jahren bestehenden Europäischen Semester eine unverzichtbare Rolle in Bezug auf die Konvergenz und Anpassung der Volkswirtschaften zu. Es ist zwar ein Ergebnis der „weichen“ Koordinierungsmethode, kann aber wirkungsvoll sein. Es sollte jedoch korrekt umgesetzt, transparenter gestaltet und angemessen vermittelt werden. Die Beteiligung und das Engagement der Sozialpartner und der zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene sichergestellt werden;

ordnungsgemäße Einhaltung der NRP: Steuerung ist unverzichtbar. Die Arbeitsweise der nationalen Verwaltungen ist dafür entscheidend, und die ggf. erforderlichen Verbesserungen sollten klar hervorgehoben werden. Die Umsetzung der NRP u. a. in Bezug auf die Qualität der nationalen Verwaltungen sollte von allen Interessenträgern überprüft und von der Kommission genau überwacht werden;

volle Miteinbeziehung der Mitgliedstaaten: Das Semester ist nach wie vor ein allzu technokratisches Verfahren, was seine Umsetzung behindert. Die nationalen Parlamente sollten über eine angemessene Erörterung des Semesters zusammen mit den Sozialpartnern und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Prozess eingebunden werden (7).

4.   Vertiefung und Vollendung der WWU in der nächsten Legislaturperiode

4.1   Die geldpolitische und finanzielle Säule

4.1.1

Was die Geldpolitik angeht, sollte im Einklang mit der verstärkten makroökonomischen Steuerung im Euroraum das Mandat der EZB vervollständigt werden, um sie den anderen Zentralbanken (d. h. denen von Drittstaaten wie auch von europäischen Ländern, die nicht der EU bzw. dem Euroraum angehören) gleichzustellen; dies würde es ihr u. a. ermöglichen, als „lender of last resort“ (Kreditgeber letzter Instanz) und als gleichwertiger Partner in internationalen Foren aufzutreten, und zwar unter Wahrung ihrer vollständigen Autonomie. Der EZB sollte es uneingeschränkt möglich sein, Liquiditätskrisen auf eine Weise zu vermeiden, die Investitionen (KMU) förderlich ist.

4.1.2

Der EZB darf jedoch nicht die alleinige Verantwortung aufgebürdet werden. Auf dem Weg zu einer Fiskal- und Wirtschaftsunion ist eine vollständige Bankenunion unverzichtbar (8). Aufgrund der anhaltenden Verflechtungen zwischen den Regierungen und den Banken sträuben sich die Mitgliedstaaten gegen die Schaffung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, wodurch die geeignetsten und wirkungsvollsten Entscheidungen auf die lange Bank geschoben werden (9). Die behindert auch eine wirksame Aufsicht der EZB über alle Banken, durch die die Finanzmarktfragmentierung bekämpft, unerwünschte Verquickungen zwischen der nationalen Politik und den Banken unterbunden und günstige Voraussetzungen für grenzüberschreitende Bankenfusionen geschaffen werden sollten.

4.1.3

Das Europäische Parlament konnte in den Verhandlungen mit dem Rat über eine Bankenunion eine erfolgreiche Einigung über die Fortschritte hin zu einem einheitlichen Abwicklungsmechanismus und einem einheitlichen Bankenabwicklungsfonds erzielen (10). Der EWSA unterstützt den Standpunkt des EP uneingeschränkt. Diese Beschlüsse dürften in naher Zukunft zu einem einheitlichen europäischen Kapitalmarkt beitragen, der dem der Vereinigten Staaten vergleichbar ist.

4.1.4

Eine vollständige Bankenunion erfordert einen gut strukturierten einheitlichen Abwicklungsmechanismus, harmonisierte Einlagensicherungssysteme in den Mitgliedstaaten und einen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der die direkte Bankenrekapitalisierung ermöglicht (11). Das diesbezügliche Beschlussfassungssystem sollte effizient sein und ein rasches Handeln sicherstellen. Die Schaffung und Umsetzung dieser Elemente muss beschleunigt vorangetrieben werden.

4.1.5

Die Bankenunion allein reicht nicht aus, um die Wirtschaft und die Investitionstätigkeit zu stimulieren. Mit Blick auf einen widerstandsfähigeren EU-Finanzsektor müssen auch die vollständige Umsetzung von Basel III, der Finanzstabilitätsrat sowie eine Lösung für „Too-big-to-fail“-Banken im Einklang mit internationalen Übereinkommen (G-20) auf dem Arbeitsprogramm für die kommenden Jahre stehen.

4.1.6

Das von EU-Kommissar Michel Barnier unlängst veröffentlichte umfangreiche Legislativpaket für die Banken und die Finanzmärkte kann einen wichtigen Beitrag zum ordnungsgemäßen Funktionieren der Finanzmärkte in Europa sowie zur Schaffung eines stabilen und zuverlässigen Bankensektors leisten. Für die Realwirtschaft ist dies äußerst wichtig. Die jüngsten diesbezüglichen Beschlüsse des Rates gehen nur teilweise in die gewünschte Richtung.

4.1.7

Eine angemessene Kreditvergabe ist für die Erholung und das Wachstum der Wirtschaft wie auch für die Entwicklung von größter Wichtigkeit. Dies bedeutet, dass bei den EU-Rechtsvorschriften für ein Gleichgewicht zwischen strengen Rahmenbedingungen für das Bankenwesen und ausreichenden Möglichkeiten für operative Bankengeschäfte gesorgt werden muss, insbesondere mit Blick auf die Förderung von Investitionen, die für jegliche Wachstumspolitik unverzichtbar sind. Es liegt auf der Hand, dass zufriedenstellende Maßnahmen für neu gegründete Unternehmen und KMU sehr wichtig sind (12).

4.2   Die makroökonomische und fiskalische Säule

4.2.1

In diesem Bereich sind die mühsamen Diskussionen im Europäischen Rat bezüglich verbindlicher Vereinbarungen über Wirtschaftsreformen bezeichnend und enttäuschend (13). Der EWSA dringt daher darauf, dass die Kommission ihren Vorschlag für derartige vertragliche Vereinbarungen mit der Forderung nach weiteren Diskussionen über deren Form, Finanzierung und demokratische Legitimation weiterentwickelt (14).

4.2.2

Partnerschaften auf der Grundlage eines Systems vertraglicher Vereinbarungen und entsprechender Solidaritätsmechanismen könnten zur Förderung und Unterstützung profunder Anpassungsmaßnahmen beitragen. Diese Maßnahmen würden sowohl zur Miteinbeziehung der Mitgliedstaaten innerhalb eines gemeinsamen Rahmens als auch zu Reformen in allen Bereichen im Zusammenhang mit nachhaltigem Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung beitragen, die alle drei die EU insgesamt stärken (15). Ein solcher Rahmen könnte eine Reaktion der EU auf länderspezifische asymmetrische Schocks ermöglichen, die als eine Form der Solidarität in der EU fungieren würde.

4.2.3

Derartige Partnerschaften könnten den Zusammenhalt und das Vertrauen in der Bevölkerung stärken, was für die Überwindung der Sorgen bezüglich der nationalen Souveränität von zentraler Bedeutung ist. Dies wird wiederum zu einem europäischen Gemeinschaftssinn beitragen, der eine unverzichtbare Grundlage ist für die Entwicklung von EU-Instrumenten — beispielsweise einen Haushalt für den Euroraum, einen EU-Solidaritätsfonds und Eurobonds.

4.2.4

Die Konvergenz der Wirtschafts- und Steuersysteme (16), die mit einem Solidaritätsinstrument einhergeht, ist ein Schlüsselfaktor für die schrittweise Überwindung der makro- und mikroökonomischen Ungleichgewichte zwischen den Ländern. Mittelfristig wird sich dieses Instrument zu einem wirtschaftlichen Ausgleichsmechanismus entwickeln, um die Volkswirtschaften des Euroraums zu stabilisieren und zu integrieren — auch wenn dies Vertragsveränderungen erforderlich machen sollte. Es könnte eines Tages auch Bestandteil eines gemeinsamen Haushalts des Euroraums werden. Die Struktur- und Kohäsionsfonds könnten auch in dieser Perspektive genutzt werden.

4.2.5

Die neue Kommission muss als einer der Hauptakteure in diesem Prozess die Aufgabe übernehmen, Gesetzesvorschläge — im Einklang mit dem Vorgehen von EU-Kommissar Michel Barnier für die Regulierung des Finanzsystems — in Bereichen einzubringen, in denen die Debatte bislang von den Mitgliedstaaten dominiert wurde, um auf der Grundlage konkreter Vorschläge den Weg für ertragreiche Diskussionen im Rat zu bereiten.

4.2.6

Bislang hat die Kommission von dieser Methode unzureichend Gebrauch gemacht. Sie hätte beispielsweise eingesetzt werden können bei der Ex-ante-Koordinierung von Plänen für wichtige wirtschaftspolitische Reformen, bei den Vereinbarungen über Wirtschaftsreformen in Verbindung mit einem Solidaritätsmechanismus sowie bei der Errichtung eines Schuldentilgungsfonds und kurzfristigen Euro-Schuldscheinen (Eurobills). Falls diese Vorschläge Vertragsänderungen erfordern, sollte das die Kommission den Mitgliedern des Euroraums deutlich machen.

4.2.7

Eine derartige Vorgehensweise wird den Rat zwingen, zu diesen Vorschlägen Stellung zu beziehen. Sie wird Transparenz und Klarheit hinsichtlich der unterschiedlichen politischen Standpunkte schaffen und ist der einzige Weg, um den zwischenstaatlichen Stillstand in der derzeitigen Architektur zu überwinden. Dies muss die Kommission den verschiedenen Interessenträgern und auch der Öffentlichkeit entsprechend vermitteln.

4.2.8

Mittelfristig ist für den Euroraum daher eine wirtschaftspolitische Steuerung für die makro- und mikroökonomische Politik erforderlich (und das bereits seit Maastricht), bei der von der bislang wenig ergiebigen Koordinierungsmethode zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung über die „Grundelemente“ der Politik in diesen Bereichen übergegangen wird. Eine gemeinsame Währung bei einer getrennten Wirtschaftspolitik ist für den Euroraum nicht mehr haltbar — eine gemeinsame Wirtschaftspolitik ist daher notwendig, um u. a. die Arbeit der EZB zu erleichtern.

4.2.9

Im Falle asymmetrischer Schocks muss ein Umverteilungsmechanismus zur Anwendung kommen. Der Grundsatz der Verantwortung sowohl der Staaten als auch der Bürger darf nicht von dem der Solidarität abgekoppelt werden. Deshalb müssen für die schutzbedürftigsten Gruppen über einen begrenzten Zeitraum konkrete Maßnahmen ergriffen werden. Diese Verantwortung muss von allen Bürgern und allen Ländern mitgetragen werden.

4.2.10

In diesem Sinne muss der Weg hin zu einem angemessenen eigenen Haushalt des Euroraums beschritten werden, der über gemeinsame Regeln verfügt. Dies ist die einzige Möglichkeit, um zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik gelangen und ggf. künftige Schocks abfedern zu können. Die Finanzierung könnte z. B. erfolgen durch eine zweckbestimmte Steuer, eine Finanztransaktionssteuer (unter der Bedingung, dass sie auf den gesamten Euroraum ausgedehnt wird), eine CO2-Steuer oder eine zeitlich begrenzte Abgabe auf Zahlungsbilanzüberschüsse, die die 6 %-Marke überschreiten, sowie schließlich durch die Begebung gemeinsamer Anleihen.

4.2.11

Staatsschulden: Es sollte ein Mechanismus konzipiert werden, der die Staatsschulden der Spekulation entzieht, ohne die Staaten von der Verantwortung für ihre Schulden zu entbinden. Die Schulden der Mitgliedstaaten, die schrittweise bis zu einem Anteil von höchstens 60 % des BIP (wie vom EWSA vorgeschlagen (17)) oder ab dem Teil, der 60 % übersteigt (gemäß dem Kommissionsvorschlag für die Einrichtung eines „Schuldentilgungsfonds“ (18)) umgewandelt werden, könnten in einem konsolidierten und gemäß den Anteilen der verschiedenen Mitgliedstaaten bedienten Schuldenkonto gehalten werden. Alternativ könnte im Rahmen eines zwischenstaatlichen Vertrags ein zeitlich begrenzter Euro-Anleihefonds eingerichtet werden zur Emission kurzfristiger Schuldtitel für den Euroraum. Dies würde die Gefahr einer staatlichen Liquiditätskrise im Euroraum beseitigen. Im Anschluss an die Schlussfolgerungen ihrer Expertengruppe, die mit dem besonderen Auftrag der Bewertung der Vorteile und Risiken der verschiedenen Optionen für eine gemeinsame Emission von Schuldtiteln eingerichtet wurde, sollte die Kommission nun einen konkreten Vorschlag bezüglich des zu verwendenden Instruments und für den Zeitrahmen vorlegen.

4.3   Die mikroökonomische Säule

4.3.1

Auch mikroökonomische Maßnahmen bedürfen großer Aufmerksamkeit, insbesondere industrie- und sektorspezifische Maßnahmen, die für das europäische Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung sind. Das planlose Vorgehen in diesem Bereich muss überwunden werden. Deshalb müssen einige Maßnahmenbereiche mit indirekten Auswirkungen auf die einzelstaatlichen Haushalte und die entsprechenden Entscheidungsstrukturen zusammengelegt werden, um zu gemeinsamen Vorstellungen und Aktionen der Kommission und der Mitgliedstaaten zu gelangen. Dies betrifft insbesondere:

die Vollendung des Binnenmarktes;

die Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Unternehmen, um in Europa zu bleiben oder nach Europa zu kommen, insbesondere durch die Überwindung der Marktfragmentierung;

eine gemeinsame Industriepolitik (19), mit der die Grundlage der bestehenden innovativen und nachhaltigen Wirtschaftsleistung in ganz Europa gestärkt wird;

eine gemeinsame Energiepolitik, die bitter vermisst wird, die indes für faire und stabile wirtschaftliche Voraussetzungen in der EU von zentraler Bedeutung ist;

gemeinsame Großprojekte im Infrastrukturbereich und eine umfassende Verkehrspolitik zur Verbesserung der Anbindung;

Konvergenz in der Unternehmensbesteuerung;

die Dienstleistungen einschließlich Unternehmensdienstleistungen;

den Arbeitsmarkt und die Arbeitnehmermobilität;

Forschungspolitik.

4.4   Die soziale Säule

4.4.1

Der EWSA fordert nachdrücklich, die soziale Dimension der WWU (20) durch konkrete Maßnahmen zu stärken. Die Beschäftigungsquote junger Menschen ist immer noch auf einem gefährlich niedrigen Niveau. Die neue Kommission sollte zusammen mit den Mitgliedstaaten die Verantwortung dafür übernehmen, die Lebensbedingungen zu verbessern mittels:

Unterstützung für Arbeitsplatzschaffung und Unternehmensgründungen;

Vorschlägen zur Anpassung der Bildungsmaßnahmen auf allen Ebenen in Europa sowie ggf. der Gesundheitspolitik;

Schaffung der richtigen Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitnehmer;

Steuervorschlägen mit dem Ziel, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern;

Vorschlägen zum Schutz der Verbraucherrechte;

Gewährleistung von Geschlechtergleichstellung;

Tätigung sozialer Investitionen (21).

4.4.2

Ein angemessener sozialer Dialog muss auf allen Ebenen geführt werden. Das bedeutet, dass Hindernisse für eine wirksame Konsultation in und zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt werden müssen. Die EU sollte sehr dabei behilflich sein, Interessenvertreter verschiedener Länder zusammenzubringen, um erfolgreiche Praktiken zu erörtern und Pläne zur Verbesserung der Voraussetzungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erstellen.

4.4.3

Wenn die Union und insbesondere der Euroraum vollendet werden soll, können nicht die sozialen Folgen der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ignoriert und diese vollkommen den Mitgliedstaaten aufgebürdet werden. Sowohl bei wirtschaftspolitischen als auch bei sozialpolitischen Maßnahmen sollten nicht nur die Kriterien des Stabilitätspakts angelegt werden, sondern es gilt, ein breiteres Spektrum makroökonomischer Parameter zu berücksichtigen (z. B. Arbeitslosenquote, Wachstumsrate, Zahlungsbilanz, Beschäftigungsquote, Armutsquote, Einkommens- und Vermögensverteilung etc.). Die Stabilität der WWU kann nicht gewährleistet werden ohne jedwede soziale Mechanismen für den Euroraum, die die Folgen dramatischer Rezessionen und/oder Ungleichgewichte abfedern können. Einige machen evtl. Vertragsänderungen erforderlich. Sie könnten mittelfristig Folgendes umfassen:

den Aufbau eines gemeinsamen Arbeitslosenversicherungssystems, zur Ergänzung der nationalen Systeme, eventuell in Verbindung mit der Aufstellung gemeinsamer Vorschriften für den Arbeitsmarkt im Euroraum und der Arbeitskräftemobilität;

Gewährung eines Mindesteinkommens für einige Bevölkerungsgruppen, die unterhalb der Armutsschwelle liegen, und Aufstellen gemeinsamer Vorschriften für Vorsorge- und Fürsorgeleistungen.

4.4.4

Außerdem müssen im Interesse der Bürger weitere Bereiche gemeinsam geregelt werden, um das Zugehörigkeitsgefühl zu steigern und die Mobilität zu erleichtern, wie:

gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen;

Qualität und Erbringung öffentlicher Güter und Dienstleistungen im Euroraum, um ihre Kontinuität vor allem in Krisenzeiten sicherzustellen usw.

4.5   Die politische Säule

4.5.1

Ein derart umfangreiches Programm kann nur mit der nötigen demokratischen Legitimität des Entscheidungsprozesses umgesetzt werden. Der EWSA anerkennt voll und ganz die erheblichen, in den letzten paar Jahren erzielten Fortschritte. Er ist der Auffassung, dass in der nächsten Mandatsperiode ein weiterer Sprung nach vorne nur dann möglich ist, wenn Rechenschaftspflicht, Legitimation, Demokratie, Transparenz und Kommunikation besondere Aufmerksamkeit gezollt wird.

4.5.2

Es findet eine immer schärfer geführte Debatte über den Integrationsprozess in Europa statt. Die Parteien müssen auf EU-Ebene klare Optionen festlegen, die den Standpunkten der verschiedenen Fraktionen im EP zugrunde liegen müssen und zu einer besseren Öffentlichkeitswirkung der europäischen Parteien beitragen. Transnationale europäische Wahlen mit grenzüberschreitenden politischen Gruppierungen würden die europäische Debatte enorm erleichtern und vertiefen.

4.5.3

Gemeinsame Verantwortung und der nötige öffentliche Rückhalt machen erheblich mehr Unterstützung der nationalen Parlamente für die europäische Debatte erforderlich. EU-Legislativvorschläge und die NRP sollten in den Parlamenten gebührend erörtert werden. Es sollten interaktive Konsultationen in strategischen Fragen zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten vorgesehen werden, die auch zu dynamischeren Beziehungen zwischen den nationalen Parlamenten führen könnten.

4.5.4

Die Kommission sollte bei der Präsentation von Legislativvorschlägen und Maßnahmen die Gemeinschaftsmethode so wirksam wie möglich anwenden, auch bei zusammen mit den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten. Wie auch in der Vergangenheit wird sich ein proaktiver und mutiger Ansatz auszahlen.

4.5.5

Die Kommission sollte auf Anfrage des Parlaments und/oder der Zivilgesellschaft zu nationalen Debatten europäischer Fragen eingeladen werden.

4.5.6

Der Europäische Rat und die verschiedenen Ratsformationen, insbesondere der Rat (Wirtschaft und Finanzen), sind zentrale Entscheidungsträger und für Rechenschaftspflicht und Legitimation von zentraler Bedeutung. Deshalb ist mehr Transparenz erforderlich, was auch den demokratischen Erfordernissen entspräche.

4.5.7

Die Mitglieder des Rates, die nationale Interessen vertreten und gleichzeitig Mitentscheider auf europäischer Ebene sind, sind mitunter doppelzüngig und äußern sich zu Hause anders als in Brüssel. Dies stiftet im Allgemeinen erhebliche Verwirrung und behindert eine Einigung. Doppelzüngigkeit ist nicht hinnehmbar. Die Mitgliedstaaten sollten auf allen Entscheidungsebenen gemeinsame politische Botschaften vereinbaren und diese dann auch vertreten.

4.5.8

Die Mitgliedstaaten spielen im System der WWU eine sowohl aktive als auch passive Rolle. Eine Angleichung an europäische Verfahren bei gleichzeitiger Bewahrung nationaler Verwaltungsverfahren und -traditionen ist möglich, wird aber in einer Reihe von Ländern erhebliche Anpassungen erfordern. Es wird sich zeigen, dass zuverlässige politische und administrative Verfahren für die Vertrauensbildung ausschlaggebend sind.

4.5.9

Der EWSA betont, dass die Zivilgesellschaft, deren Rolle häufig unterschätzt wird, in der künftigen Struktur der EU und einem stärker integrierten Euroraum mehr Gewicht bekommen muss. Es gibt viele Bereiche, die zum Teil oder gänzlich von nichtstaatlichen Akteuren abhängen. Die Zivilgesellschaft muss umfassend beteiligt werden. In zu vielen Ländern wird die Zivilgesellschaft immer noch zu wenig einbezogen. Vielmehr muss sie die für den Kontakt mit den institutionellen Entscheidungsträgern notwendigen Instrumente erhalten. Die Zivilgesellschaft muss ihrer Verantwortung nachkommen und am EU-Entscheidungsprozess teilnehmen, um dessen demokratische Grundlage zu stärken. Ohne ihr aktives Engagement kann die WWU niemals vollendet werden.

4.5.10

Insbesondere für die Sozialpartner wäre es ziemlich sinnvoll, die Ergebnisse eines — vom EWSA nachdrücklich befürworteten — Konsensmodells in den Mitgliedstaaten zu untersuchen. Ein Austausch bewährter Verfahren ist zu empfehlen.

4.5.11

Nach Ansicht des EWSA liegt auf der Hand, dass die derzeitigen Regelungen nicht angemessen sind und nicht wie erwartet funktioniert haben. Zwischenstaatliches Handeln war und ist nicht in der Lage, die Probleme der WWU zu lösen. Wir dürfen uns auch nicht in der trügerischen Sicherheit wiegen, dass nach dem Abklingen der Krise die Stabilisierungsmechanismen, die in den schlimmsten Krisenzeiten in großer Eile realisiert wurden, für ein ruhiges Vorankommen und für die Vermeidung weiterer Krisen ausreichen würden.

4.5.12

Die einzige Möglichkeit, zu vermeiden, dass es nicht erneut zu ähnlichen Situationen kommt, besteht in der Änderung der Funktionsregeln und des Entscheidungsprozesses im Euroraum, der transparenter und demokratischer werden muss:

der Euro muss mittels Institutionalisierung der Eurogruppe einen Souverän erhalten, um mit einer Stimme sprechen zu können. Die Eurogruppe sollte im Sinne einer besseren Steuerung des Euroraums in der Lage sein, zeitnah Entscheidungen zu treffen und im Krisenfall einzugreifen. Dabei sollte der Entscheidungsprozess — angefangen mit der Abschaffung des Vetorechts — demokratischer und transparenter werden;

der Euroraum sollte über einen Umverteilungsmechanismus verfügen und/oder — wie oben in Ziffer 4.2.9 und 4.2.10 ausgeführt — schrittweise zu einem echten Haushalt gelangen. Damit könnten öffentliche Güter für die Bürger gewährleistet, für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen zur Unterstützung der Reformen gesorgt und die Ungleichgewichte zwischen den Staaten abgebaut werden. Ebenso wäre ein gemeinsames Vorgehen im Bereich der Steuerpolitik möglich usw.;

in den internationalen Organisationen sollte es eine einzige Vertretung geben;

die Maßnahmen dieses Leitungsgremiums sollten von den Mitgliedern des EP des Euroraums (Euro-Parlament) gestützt und bewilligt werden, wobei dieses Gremium auch für MdEP nicht zum Euroraum gehörender Mitgliedstaaten — jedoch ohne Stimmrecht — offenstände.

5.   Langfristiges Ziel einer umfassenden politischen Integration Europas

5.1

Neben der oben skizzierten Vollendung der WWU wäre es auch sinnvoll, während der nächsten EP-Legislaturperiode ernsthafte Überlegungen über eine Vertiefung der gesamten EU und die Funktionsweise ihrer Organe anzustellen und die Politikbereiche auszuwählen, die vergemeinschaftet werden sollten. Nach Ansicht des EWSA sollten sich die Überlegungen auf die im Folgenden beschriebenen Aspekte beziehen.

5.2

Die Tätigkeit der Kommission sollte von der Zustimmung des EP abhängen, das dafür auch das geteilte Initiativrecht erhalten könnte. Das EP könnte ferner auf der Grundlage europaweiter Listen der europäischen Parteien gewählt werden.

5.3

Zur Verbesserung der Sichtbarkeit, demokratischen Legitimation und Gewaltenteilung: Abschaffung der Dyarchie aus Präsident des Europäischen Rates und Kommissionspräsident, der vom EP oder direkt von den Unionsbürgern gewählt würde, unter der Bedingung, dass sich auch seine Rolle ändert. Der gegenwärtige Rat könnte die Aufgabe eines „Senats der Staaten“ übernehmen und eine neue Geschäftsordnung erhalten.

5.4

Zu den Politikbereichen, in denen die EU die ungeteilte bzw. geteilte Zuständigkeit und die Entscheidungsbefugnis haben sollte, könnten auch gehören: die Außenpolitik und das internationale Handeln der Union — einschließlich einer einzigen Vertretung in den internationalen Organisationen, die Verteidigungspolitik (für diejenigen, die dies möchten), die Energiepolitik, die Forschungspolitik, die Asyl- und Zuwanderungspolitik sowie die Wahrung von Normen und Rechten, wobei die Union die Befugnis haben sollte, gegen regelverstoßende Staaten vorzugehen, wie dies auch in Wirtschafts- und Haushaltsfragen der Fall ist.

5.5

Die neue institutionelle Ordnung, die nicht im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit allein erreicht werden kann, wie auch die Rolle des Parlaments, des Rates, der Kommission, des EWSA und des AdR könnten von einem neuen Konvent festgelegt werden, der seine Arbeiten bis 2019 abgeschlossen haben sollte, dem Zeitpunkt der nächsten Europawahlen nach 2014.

6.   Kommunikation und Vereinfachung

6.1

Für die Wiedergewinnung von Vertrauen ist gute Kommunikation unerlässlich. Der EWSA ist davon überzeugt, dass die beste Kommunikation durch gute politische Maßnahmen und Verfahren sichergestellt wird, die eine langfristige Perspektive für die gesamte europäische Gesellschaft bieten.

6.2

Es gilt, die Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken und zu verbessern. Kommunikation weckt Interesse und letztlich Verständnis. Dies wurde bislang unzureichend berücksichtigt, und daran sind in erster Linie die Kommission und die Mitgliedstaaten schuld. Das gesamte Spektrum der sozialen Medien sollte genutzt werden.

6.3

Die WWU und verwandte Bereiche wurden häufig als eine technische Angelegenheit präsentiert. Das sind sie aber nicht, denn sie sind von grundlegender politischer Natur und wirken sich stark auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger aus. Aus dieser Perspektive wird die Frage aber selten erörtert, geschweige denn der Öffentlichkeit mitgeteilt. Das erklärt auch zu einem großen Teil die immense Kluft zwischen der EU und den Bürgern.

6.4

Unterschiedliche Traditionen und Gegebenheiten führen Tag für Tag schmerzlich vor Augen, dass in Sachen WWU keine gemeinsame Sprache gesprochen wird. Dies führt mitunter zu großer Verwirrung und beeinträchtigt den Rückhalt in der Bevölkerung. Nach Auffassung des EWSA ist die Kommission aufgrund ihres Initiativrechts im EU-Legislativprozess die einzige Institution, die eine Lösung vorschlagen kann. Dies muss unter dem Gesichtspunkt einer in stärkerem Maße politischen Rolle der Kommission und des Parlaments als bislang gesehen werden.

6.5

Als mitverantwortliche Akteure müssen die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner künftig eine eigene Rolle in der Kommunikation spielen, was bislang häufig nicht ausreichend der Fall ist. Die Zivilgesellschaft und die Sozialpartner sollten den Behörden die Sorgen und Anliegen der Bürger und Unternehmen übermitteln und bei der Bewältigung mitwirken. Der Meinungsaustausch sollte in beiden Richtungen erfolgen.

6.6

Europa sollte nicht mehr länger den — in breiten Teilen der Öffentlichkeit entstandenen — Eindruck eines Elfenbeinturms vermitteln. Die Errungenschaften der europäischen Integration, die konkreten Fortschritte und der daraus resultierende Nutzen vor allem in puncto Investitionen, neue Arbeitsplätze und Verbraucherschutz müssen den Bürgern deutlich vor Augen geführt werden. Das sogenannte neue Narrativ für Europa sollte mit einer gemeinsamen Kommunikations- und Vereinfachungsstrategie der Kommission und der Mitgliedstaaten beginnen, die zusammen mit den Parteien und der Zivilgesellschaft die zentralen Akteure sind.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschaft- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/336 „Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“, Berichterstatter: Thomas DELAPINA, Ziffer 1.6 (ABl. C 133 vom 9.5.2013).

(2)  Siehe. Dr. Wolfgang Schäuble, insbesondere seine Reden vom 3. Oktober 2011 in der Paulskirche sowie vom Mai 2012 anlässlich der Verleihung des Karlspreises, sowie Rede von Giorgio Napolitano vom 3. Februar 2014 im Europäischen Parlament.

(3)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/340 „Eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion“, Berichterstatter: Carmelo CEDRONE (ABl. C 271 vom 19.9.2013).

(4)  Siehe EWSA-Stellungnahmen ECO/307 „Wachstum und Staatsverschuldung“ (ABl. C 143 vom 22.5.2012), ECO/334 „Zehn Jahre Euro — und jetzt?“ (ABl. C 271 vom 19.9.2013) und ECO/340 „Eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion“ (ABl. C 271 vom 19.9.2013), Berichterstatter: Carmelo CEDRONE.

(5)  Siehe EWSA-Stellungnahme SOC/496 „Auswirkungen von Sozialinvestitionen“, Berichterstatter: Wolfgang GREIF (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(6)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/336 „Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“, Berichterstatter: Thomas DELAPINA (ABl. C 133 vom 9.5.2013).

(7)  Siehe EWSA-Stellungnahme EUR/006 „Jahreswachstumsbericht 2014“, Berichterstatterin: Evelyne PICHENOT (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(8)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/339 „Bankenunion-Paket“, Berichterstatter: Carlos TRIAS PINTÓ (ABl. C 11 vom 15.1.2013).

(9)  Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 19./20. Dezember 2013.

(10)  Siehe die am 20. April 2014 erzielte Einigung von Rat und EP über den einheitlichen Abwicklungsmechanismus.

(11)  Siehe EWSA-Stellungnahmen ECO/333 „Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten“, Berichterstatterin: Lena ROUSSENOVA (ABl. C 44 vom 15.2.2013) und ECO/350 „Einheitlicher Abwicklungsmechanismus“, Berichterstatter: Daniel MAREELS (ABl. C 67 vom 6.3.2014).

(12)  Siehe EWSA-Stellungnahmen ECO/347 „Langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft“, Berichterstatter: Michael SMYTH (ABl. C 327 vom 12.11.2013) und ECO/365 „Langfristige Finanzierung — Folgemaßnahmen“, Berichterstatter: Michael SMYTH, Mitberichterstatter: Vincent FARRUGIA (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(13)  Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 19./20. Dezember 2013.

(14)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/348 „Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit/größere wirtschaftspolitische Reformvorhaben“, Berichterstatter: David CROUGHAN (ABl. C 271 vom 19.9.2013) und EWSA-Stellungnahme EUR/006 „Jahreswachstumsbericht 2014“, Berichterstatterin: Evelyne PICHENOT (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(15)  Siehe auch die Rede des Vorsitzenden der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, mit dem gleichen Tenor auf dem OECD-Seminar am 17.2.2014 in Brüssel: „The Euro Area at the crossroads“.

(16)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/336 „Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“, Berichterstatter: Thomas DELAPINA (ABl. C 133 vom 9.5.2013). Weitere relevante Steueraspekte sollten schrittweise in Betracht gezogen werden.

(17)  Siehe EWSA-Stellungnahme ECO/307 „Wachstum und Staatsverschuldung“, Berichterstatter: Carmelo CEDRONE (ABl. C 143 vom 22.5.2012).

(18)  Siehe COM(2012) 777 final/2.

(19)  Siehe EWSA-Stellungnahme CCMI/108 „Industriepolitik (Aktualisierung)“, Berichterstatter: Joost VAN IERSEL, Ko-Berichterstatter: Enrico GIBELLIERI, (ABl. C 327 vom 12.11.2013).

(20)  Siehe EWSA-Initiativstellungnahme SOC/494 „Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion“, Hauptberichterstatter: Georgios DASSIS (ABl. C 67 vom 6.3.2014).

(21)  Dies beinhaltet auch die Armutsbekämpfung. Siehe hierzu EWSA-Stellungnahme SOC/496 „Auswirkungen von Sozialinvestitionen“, Berichterstatter: Wolfgang GREIF (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Unternehmensfinanzierung — Untersuchung alternativer Mechanismen

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 451/03)

Berichterstatter:

Michael SMYTH

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Unternehmensfinanzierung — Untersuchung alternativer Mechanismen.

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 17. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 141 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Nach über sechs Jahren finanzieller und wirtschaftlicher Turbulenzen sind die traditionellen Kanäle für die Finanzierung von Unternehmen, insbesondere von KMU, zum Teil immer noch verstopft. Die Banken, die traditionelle Quelle für die Finanzierung der meisten KMU, sind weniger bereit, Darlehen zu gewähren. Dies ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen wie z. B. anhaltender Schuldenabbau, höhere Eigenkapitalanforderungen, Rückstellungen für faule Kredite und geringe Risikobereitschaft. Die Fragmentierung der Finanzmärkte und Finanzierungskanäle ist eines der hartnäckigsten Merkmale der Finanzkrise in Europa.

1.2

Der Rückgang von Darlehen für die Betriebsmittelfinanzierung von KMU ist eine Form chronischen Marktversagens, die eine angemessene Reaktion der politischen Entscheidungsträger in der EU erforderlich macht. Bis heute gibt es keine angemessene Antwort auf dieses Problem.

1.3

Die LRG-Initiative (1) der EZB konnte zwar den Zusammenbruch des Bankensystems erfolgreich abwenden, aber der Hauptteil der Mittel wurde nicht an die Realwirtschaft weitergegeben. Sie ist eine verpasste Gelegenheit, denn das Geld wurde vielmehr zur Konsolidierung der Bankbilanzen verwendet und die Unternehmen leiden immer noch unter knappen Betriebsmitteln.

1.4

Die bei der Finanzierung von KMU in Europa sehr aktive EIB wurde erheblich rekapitalisiert und hat die Kreditvergabe an KMU ausgebaut. Die Unterstützung für KMU ist der wichtigste vorrangige Bereich der EIB-Gruppe, der für 20 % der jährlichen vergebenen Mittel der EIB und 100 % der Aktivitäten des EIF steht. Selbst wenn die EIB in nennenswertem Maß Entwicklungskapital für KMU bereitstellt, ist ihr Anteil an der gesamten Kreditvergabe an Unternehmen im Euroraum nach wie vor gering.

1.5

Der EWSA begrüßte das Grünbuch über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft (2) vom letzten Jahr, auf das unlängst ein Maßnahmenpaket (3) zur Förderung langfristiger Finanzierungen im Allgemeinen und von KMU-spezifischen Krediten im Besonderen folgte. Dieses Paket umfasst Maßnahmen zum verstärkten Einsatz von Verbriefungen von KMU-Krediten. Die Kommission schlägt auch neue Bestimmungen vor, um Pensionsfonds zur Investition in Finanzanlagen zu bewegen und dadurch die Finanzierung längerfristigen Wachstums der Realwirtschaft (4) zu unterstützen. Weitere Vorschläge betreffen die Schaffung liquider und transparenter Sekundärmärkte für Unternehmens- und sonstige Anleihen. Der EWSA begrüßt diese Vorschläge und ist der Auffassung, dass sie mit der Zeit zu einem reformierten und effizienteren Finanzmarkt für die KMU führen können.

1.6

Verschiedene andere laufende Initiativen zielen darauf ab, Hindernisse für eine sorgfältigere Bewertung der Kreditwürdigkeit und des Risikos durch die Geldgeber zu beseitigen. Diese umfassen eine stärkere Nutzung digitaler Register mit Standardangaben für Unternehmensregister, statistische Ämter, Bewertungen von Bankdarlehen und anderer Geldgeber und schließlich die Einrichtung eines zentralen EU-Kreditregisters. Bessere und aktuellere Informationen über die finanzielle Leistungsfähigkeit von KMU sollten eine bessere Risikobewertung durch die Geldgeber und eine angemessenere Risikobepreisung ermöglichen.

1.7

Eine Reihe weiterer Vorschläge zur Verbesserung des Kreditzugangs von KMU sind entweder bereits auf dem Weg oder werden derzeit erwogen. Der EWSA befürwortet diesen proaktiveren Ansatz der politischen Entscheidungsträger, aber die Umsetzung wird Zeit brauchen. Das Problem bleibt, was jetzt und kurzfristig zur Verbesserung des Kreditzugangs von KMU getan werden kann.

1.8

Eine für alle Mitgliedstaaten passende Pauschallösung gibt es wohl nicht. Einige Mitgliedstaaten haben passende Ansätze für ihre nationalen Finanz- und Rechtssysteme entwickelt. Eine der interessantesten Initiativen ist das Kreditprogramm „Funding for Lending“ (5) des Vereinigten Königreichs. Es war ausgesprochen erfolgreich bei der Ankurbelung der Vergabe von Hypothekarkrediten und Darlehen für private Haushalte in den UK in den vergangenen zwei Jahren und bewährt sich jetzt bei der Förderung der Kreditvergabe an KMU. Das Modell bietet Anreize für die teilnehmenden Banken, durch die Senkung der Finanzierungskosten die Nettokreditvergabe an KMU zu steigern. Nach Ansicht der Fürsprecher wäre die Kreditvergabe an KMU ohne dieses Programm viel geringer.

1.9

Der EWSA hält dieses britische Kreditprogramm für ein Paradebeispiel eines bewährten Verfahrens und empfiehlt der EZB, die Einführung eines ähnlichen Programms für den Euroraum ernsthaft zu erwägen. Die EZB kündigte am 5. Juni 2014 eine Reihe von Liquiditätsmaßnahmen an, um die Kreditvergabe der Banken an KMU wieder anzukurbeln (6). Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass der Hauptvorschlag der EZB des gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfts mit dem in dieser Stellungnahme genannten Kreditprogramm „Funding for Lending Scheme“ (FLS) vergleichbar ist. Es soll auch darauf hingewiesen werden, dass der EWSA in dieser Stellungnahme Vorarbeit für die sich herausbildenden Konzeptionen der politischen Entscheidungsträger geleistet hat.

2.   Krise der Kreditvergabe an Unternehmen in Europa

2.1

Die Debatte über Unternehmenskredite und -finanzierung konzentrierte sich stärker auf Angebot und Nachfrage bezüglich Entwicklungs- und Investitionskapital, insbesondere für KMU. Darlehensgeber weisen oft darauf hin, dass es zu wenig neue Projekte und daher eine mangelnde Nachfrage nach Entwicklungsfinanzierungen gebe. Vertreter von KMU und Unternehmen mit mittlerer Kapitalausstattung (Mid-Caps) beschweren sich häufig sowohl über das Angebot an Entwicklungsfinanzierungen als auch über die Kosten solcher Kredite. Sie machen geltend, dass die Risikofinanzierungen der Banken zu teuer sind. An beiden Positionen ist etwas dran. Jedenfalls stagnierte die Gesamtkreditvergabe an große wie an kleine Unternehmen in den Mitgliedstaaten der EU im besten Fall und ist schlimmstenfalls stark eingebrochen.

2.2

In der vorliegenden Stellungnahme liegt der Schwerpunkt nicht auf Entwicklungskapital oder Mittel für neue Unternehmen, Unternehmensgründungen oder Innovation. Vielmehr wird auf die Frage des Zugangs zu Betriebskapital eingegangen — Dispositionskredite und revolvierende Kreditfazilitäten, die für die meisten Unternehmen lebensnotwendig sind. Aufgrund weniger verfügbarer Daten ist es schwierig, die Entwicklung der Darlehen für die Betriebsmittelfinanzierung exakt darzustellen. Grobe Trends können indes den Angaben der EZB über Darlehen für Nichtfinanzunternehmen entnommen werden. Diese Werte für diese Darlehen sind in den vergangenen vier bis fünf Jahren zurückgegangen, erst in den letzten Monaten zeichnet sich eine Erholung ab.

2.3

Einer der hartnäckigsten Aspekte der Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen sechs Jahre ist der starke Rückgang der Unternehmensfinanzierung. Da die europäischen Banken nach Kräften versucht haben, ihre Exposition gegenüber notleidenden Krediten und uneinbringlicher Schulden zu verringern, ging die normale Versorgung der Unternehmen — insbesondere KMU und Kleinstunternehmen — mit Betriebskapital sowohl nominal als auch real zurück. Diese rückläufige Kreditvergabe an Unternehmen könnte als eine Form chronischen Marktversagens bezeichnet werden. Außerdem hat die Fragmentierung der europäischen Finanzmärkte zu einer Zweiteilung bei den Zinssätzen geführt. Kleinunternehmen in Italien und Spanien müssen höhere Zinssätze berappen als analoge Unternehmen in Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Bislang haben die politischen Entscheidungsträger in der EU keine adäquate Antwort auf dieses Problem gefunden. Einiges spricht dafür, dass die Auswirkungen einer verstärkten europäischen und internationalen Bankenregulierung das Problem der Unternehmensfinanzierung verschärft haben, indem sie die Risikobereitschaft der Banken gesenkt haben.

3.   Die Antwort der politischen Entscheidungsträger

3.1

Die politischen Entscheidungsträger in der EU haben sich nach Kräften bemüht, die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft in den Griff zu bekommen. Die Schwäche des europäischen Bankensystems ist zu einem maßgeblichen Hemmschuh für die wirtschaftliche Erholung geworden. Um dem abzuhelfen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) 2012/2013 eine beispiellose Initiative ergriffen und den EU-Banken Zugang zu über 1 Billion EUR relativ preiswertem Geld gegeben. Diese Initiative läuft unter dem Begriff längerfristiges Refinanzierungsgeschäft (LRG). Sie ist eine Antwort auf die Gefahr einer Bankenklemme oder eines Bankzusammenbruchs, da Banken Schwierigkeiten haben, ihre Bilanzen in Ordnung zu bringen und sich an die strengeren aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalquoten anzupassen. Die LRG-Initiative der EZB konnte zwar den Zusammenbruch des Bankensystems abwenden, aber der Hauptteil dieser Mittel wurde nicht an die Realwirtschaft weitergegeben, sondern vielmehr zur Konsolidierung der Bankbilanzen verwendet. Einerseits war dieses Ergebnis vorhersehbar und nachvollziehbar, denn zu überleben war und ist für die meisten europäischen Banken von oberster Priorität. Andererseits ist es eine verpasste Gelegenheit, da die Unternehmen nach wie vor unter knappen Betriebsmitteln leiden.

3.2

Die Europäische Investitionsbank (EIB) wurde im März 2013 kräftig rekapitalisiert. Ihr Grundkapital wurde um eine Bareinlage der Anteilseigner von 10 Mrd. EUR erhöht. Die EIB geht davon aus, ihre bereits erheblichen Finanzierungen für KMU in den nächsten drei bis vier Jahren um bis zu 40 Mrd. EUR aufstocken zu können. Durch die Rekapitalisierung konnte die EIB ihre Kreditvergabe an KMU ausbauen. Die Unterstützung für KMU ist der wichtigste vorrangige Bereich der EIB-Gruppe, der für 20 % der jährlichen vergebenen Mittel der EIB und 100 % der Aktivitäten des EIF steht. EIB-Kredite für KMU werden jedoch vorwiegend für Entwicklungskapital, Innovation und neue Projekte verwendet. Dem Vernehmen nach erwägt die EIB, Darlehen für die Betriebsmittelfinanzierung anzubieten, und der Ausgang dieser Überlegungen wird mit Interesse erwartet. Selbst wenn die EIB in nennenswertem Maß Entwicklungskapital für KMU bereitstellt, ist ihr Anteil an der gesamten Kreditvergabe an Unternehmen im Euroraum nach wie vor gering.

3.3

Im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten haben die Währungsbehörden zu unorthodoxen Maßnahmen wie der quantitativen Lockerung gegriffen, um dem Bankensystem Liquidität zuzuführen. Diese Maßnahmen umfassen den Kauf großer Mengen an Staats- und Unternehmensanleihen durch die Zentralbanken und die Einspeisung frischen Geldes in das Bankensystem. Dadurch konnte in den USA und im Vereinigten Königreich ein Austrocknen der Geldmärkte und ein Versagen des Transmissionsmechanismus der Geldpolitik abgewendet werden. Einiges spricht dafür, dass in den USA mithilfe der quantitativen Lockerung auch die Darlehen und Finanzierungen für die Realwirtschaft ausgebaut werden konnten. Jetzt, da der Wirtschaftsaufschwung robuster wird, erwägen die Währungsbehörden der USA, diese Maßnahme allmählich auslaufen zu lassen. Die „Forward Guidance“ (Hinweise auf die künftige Zinspolitik) der Bank of England legt nahe, dass bei einer stabilen Konjunkturbelebung die quantitative Lockerung ebenfalls beendet wird.

3.4

Die Kommission veröffentlichte ein Grünbuch über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft (7), auf das ein Maßnahmenpaket (8) zur Förderung langfristiger Finanzierungen im Allgemeinen und spezieller KMU-Kredite im Besonderen folgte. Herzstück dieses Pakets sind Maßnahmen zum verstärkten Einsatz von besicherten Wertpapieren (ABS) für KMU-Kredite. Ein breiterer Einsatz von ABS würde es Banken und anderen Finanzinstituten ermöglichen, größere Kreditvolumina zur Unternehmensfinanzierung bereitzustellen. Die Kommission schlägt auch neue Bestimmungen vor, um Pensionsfonds zur Investition in Finanzanlagen zu bewegen und dadurch die Finanzierung längerfristigen Wachstums der Realwirtschaft (9) zu unterstützen. Ebenso wird vorgeschlagen, liquide und transparente Sekundärmärkte für Unternehmens- und sonstige Anleihen zu schaffen. Die Kommission hat eine Mitteilung über Crowdfunding (10) vorgelegt, die darauf abzielt, bewährte Verfahren zu fördern, die Entwicklung der Crowdfunding-Märkte zu überwachen und die Entstehung eines Gütezeichens für Crowdfunding zu unterstützen.

3.5

In diesem Zusammenhang sind verschiedene weitere Initiativen von Bedeutung. Kosten von und Mangel an einschlägigen Finanzinformationen sind die Haupthindernisse für eine sorgfältige Bewertung der Kreditwürdigkeit und des Risikos durch die Geldgeber. Das Institute for International Finance (IIF) schlägt eine Reihe von Maßnahmen zum Abbau dieser Hindernisse vor. Diese umfassen eine stärkere Nutzung digitaler Register mit Standardangaben für Unternehmensregister, statistische Ämter, Bewertungen von Bankdarlehen und anderen Geldgebern. Diese nationalen Register für Daten über Kreditrisiken sollten in Zusammenarbeit mit European Data Warehouse konsolidiert werden, um schließlich ein zentrales europäisches Kreditregister einzurichten. Das IIF fordert einheitliche europaweite Standards für die Informationserhebung und Meldung, um unternehmens- und grenzübergreifende Analysen zu ermöglichen. Bessere und aktuellere Informationen über die finanzielle Leistungsfähigkeit von KMU sollten eine bessere Risikobewertung durch die Geldgeber und eine angemessenere Risikobepreisung ermöglichen.

3.6

Weitere Vorschläge zur Verbesserung der Geldversorgung von KMU umfassen:

Maßnahmen, um Instituten, die auf dem Gegenseitigkeits-, Genossenschafts- oder Sparkassenprinzip basieren, zu ermöglichen, dank unmittelbarer Unterstützung durch die öffentliche Hand Darlehen für KMU zu vergeben;

Überwindung des steuerpolitischen Verzerrungseffekts mittels Einführung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Eigenkapitalfinanzierungen;

den regionalen Entwicklungsagenturen eine offizielle Funktion bei der Risikobewertung geben und entsprechende Vorkehrungen für einen Optimismuseffekt treffen;

die stärkere Inanspruchnahme kosteneffizienter Kreditversicherungen fördern, um Portfolios unbesicherter KMU-Kredite zu versichern, die von den Banken dann an Nichtbanken-Anleger verkauft werden könnten;

Anreize für Eigenkapital- und Risikokapitalanlagen setzen, um Investitionen in KMU auszubauen und Finanzierungslücken zu schließen;

Steueranreize für die Ausweitung der Investitionen in KMU und KMU-Fonds einsetzen;

KMU über alternative Finanzierungsmöglichkeiten und den relativen Nutzen alternativer Mechanismen unterrichten;

zur Verbesserung staatlicher Bürgschaftssysteme Kreditbürgschaftsprogramme ausbauen und den Austausch von Wissen und bewährten Verfahren fördern;

im größeren Maß Handelsfinanzierungen, Business-to-Business-Kredite, Factoring und Leasing nutzen.

Bei der Umsetzung vieler dieser Vorschläge sind Fortschritte zu verzeichnen, aber das Problem bleibt, was jetzt und kurzfristig zur Verbesserung des Kreditzugangs von KMU getan werden kann.

4.   Eine alternative Finanzierungsmöglichkeit

4.1

Es ist keine leichte Aufgabe, ein für die gesamte Union geeignetes Verfahren zur Verbesserung des Zugangs zu Finanzierungen zu konzipieren. Einige Mitgliedstaaten haben für ihre nationalen Finanz- und Rechtssysteme passende Lösungen entwickelt. Eine für alle Mitgliedstaaten passende Pauschallösung gibt es wohl nicht. Eine der interessantesten Initiativen, die näher betrachtet werden sollte, ist das Kreditprogramm „Funding for Lending Scheme“ (FLS) des Vereinigten Königreichs.

4.2

Das britische Finanzministerium und die Bank of England haben das Programm im Juli 2012 in dem Versuch eingeführt, die Kreditvergabe an die Realwirtschaft anzukurbeln (11). Das Finanzministerium sowie die Anteilseigner der Bank of England haben die Aufsicht über die Aktivitäten von FLS. Dieses Programm bietet den teilnehmenden Banken eine preiswerte Finanzierungsmöglichkeit, und die niedrigeren Finanzierungskosten sollten es den Banken ermöglichen, mittels Senkung ihrer Zinssätze die Kreditversorgung zu verbessern. Das Programm bietet Anreize für die Banken, ihre Kreditvergabe zu erhöhen, um zusätzliche Mittel aus dem Programm erhalten zu können. Seit seiner Einführung hat FLS zu einer maßgeblichen Senkung der Bankfinanzierungskosten beigetragen, was sich auch auf die Verbesserung der Kreditkonditionen ausgewirkt hat. Es kann zu Recht gesagt werden, dass der Erfolg von FLS bislang großteils in der Ankurbelung der Vergabe von Krediten an Privathaushalte, insbesondere von Hypothekendarlehen, liegt. Bei der Ankurbelung der Vergabe von Unternehmensdarlehen war das Programm weniger erfolgreich, weshalb die Behörden FLS im November 2013 anpassten und es auf die ausschließliche Förderung von KMU-Finanzierungen ausrichteten.

4.3

FLS zielt darauf ab, die Nettokreditvergabe (d. h. Bruttoausleihungen minus Rückzahlungen) der teilnehmenden Banken durch kommerzielle Anreize zu steigern. Das Programm bietet allen Banken — auch jenen, die ihren Fremdkapitalanteil zurückfahren — diskontierte Finanzierungen. Es sind keine Obergrenzen für die von den Banken zu nutzenden Mittel vorgesehen. Hat beispielsweise eine teilnehmende Bank zu Programmbeginn Unternehmenskredite in Höhe von insgesamt 100 Mrd. EUR im Bestand, kann sie mindestens 5 Mrd. EUR an Mitteln in Anspruch nehmen. Erhöht diese Bank ihre Nettokreditvergabe an KMU noch einmal um 1 Mrd. EUR, ist sie berechtigt, weitere 5 Mrd. EUR aus dem FLS-Programm zu erhalten. Das Verhältnis von fünf zu eins bezüglich Inanspruchnahme von Mitteln im Verhältnis zu neuer Nettokreditvergabe an KMU stellt zusammen mit den günstigeren Finanzierungskosten einen starken Anreiz für die Banken dar, ihre Kreditvergabe auszubauen (12).

4.4

Die Bank of England überwacht das geänderte FLS-Programm. Die meisten Finanzinstitute des Vereinigten Königreichs nehmen an dem Programm teil. Das überarbeitete Programm, das ausschließlich auf die Ankurbelung der Unternehmensfinanzierungen abzielt, ist erst seit November 2013 operativ. Wahrscheinlich ist es für sinnvolle Aussagen über seine Wirkung noch zu früh. Der Rückgang der Unternehmensfinanzierungen ist wahrscheinlich zum Großteil darauf zurückzuführen, dass einige der größten Banken im Vereinigten Königreich und im Euroraum ihren Fremdkapitalanteil auch weiterhin rasch senken. Nach Ansicht der Fürsprecher des FLS wäre die Kreditlage im Vereinigten Königreich ohne die FLS-Mittel viel schlechter.

4.5

Nach Auffassung des EWSA sollte auch für den Euroraum ein FLS-Programm aufgelegt werden. Ein solches Programm für den Euroraum könnte in einem überschaubaren Zeitraum von zwei bis drei Jahren dazu beitragen, die Unternehmensfinanzierungen wieder auf das normale Niveau zu bringen — bei gleichzeitiger Erleichterung des laufenden Prozesses der Senkung des Fremdkapitalanteils.

4.6

Die EZB kündigte am 5. Juni 2014 eine Reihe von Liquiditätsmaßnahmen an, um die Kreditvergabe der Banken an KMU wieder anzukurbeln (13). Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass der Hauptvorschlag der EZB des gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfts mit dem in dieser Stellungnahme genannten Kreditprogramm „Funding for Lending Scheme“ (FLS) vergleichbar ist.

4.7

Die meisten Vorschläge der Kommission zur Verbesserung des Kreditzugangs für KMU wurden vom EWSA begrüßt, aber sie gehen meistens von einem mittel- bis langfristigen Zeithorizont aus und machen mitunter neue Rechtsvorschriften und/oder Einrichtungen erforderlich. Dabei ist die Krise bei der Betriebsmittelfinanzierung der Unternehmen akut und dringlich, und sie wird sich wahrscheinlich noch zuspitzen. Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die politischen Entscheidungsträger in der EU stärker für kurzfristige Lösungen wie die oben beschriebenen, auf Anreizen basierenden Programme (FLS oder LRG) einsetzen sollten. Jedes erhöhte Finanz- oder Reputationsrisiko ist abzuwägen gegen die 26 Mio. Arbeitslosen in der EU (darunter 5,6 Mio. junge Menschen unter 25).

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschaft- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Längerfristiges Refinanzierungsgeschäft (LRG), mit dem die Banken im Euroraum mit zinsverbilligten Darlehen versorgt werden.

(2)  ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11.

(3)  COM(2014) 168 final.

(4)  COM(2014) 167 final.

(5)  http://www.bankofengland.co.uk/markets/Pages/FLS/default.aspx

(6)  http://www.ecb.int/press/pr/date/2014/html/pr110912.en.html

(7)  COM(2013) 150 final.

(8)  COM(2014) 168 final.

(9)  COM(2014) 167 final.

(10)  COM(2014) 172 final.

(11)  http://www.bankofengland.co.uk/markets/Pages/FLS/default.aspx

(12)  Für eine ausführliche Beschreibung der Funktionsweise des FLS-Programms siehe: R. Churm und A. Radia, „The Funding for Lending Scheme“, in: BoE Quarterly Bulletin, 2012, Heft 4 http://www.bankofengland.co.uk/publications/Documents/quarterlybulletin/qb120401.pdf

(13)  http://www.ecb.int/press/pr/date/2014/html/pr140605_2.en.html


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/25


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Digitale Gesellschaft: Zugang, allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung, Instrumente für die Förderung der Gleichbehandlung“

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 451/04)

Berichterstatterin:

Isabel CAÑO AGUILAR

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Digitale Gesellschaft: Zugang, allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung, Instrumente für die Förderung der Gleichbehandlung.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 128 Stimmen ohne Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Europäische Union darf nicht länger nur Nutzer der digitalen Welt sein, sie muss sich zum Entwickler und Hersteller wandeln und hierfür Talente fördern. Mit diesem Ziel vor Augen lauten die Prioritäten Information, Bildung und Erziehung.

1.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Barrierefreiheit in der digitalen Gesellschaft ein vorrangiges Ziel für die gesamte europäische Gesellschaft sein muss. Die politischen Maßnahmen in diesem Bereich sind unzureichend, um die immer größere digitale Kluft zu schließen.

1.3

Der EWSA empfiehlt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur digitalen Gesellschaft und ihre Gleichstellung mit Blick auf die neuen Technologien zu gewährleisten.

1.4

Die digitale Gesellschaft darf kein weiterer Faktor für soziale Ausgrenzung sein. Der EWSA verweist insbesondere darauf, dass angemessene Maßnahmen gesetzt werden müssen, damit die älteren Menschen nicht ausgegrenzt, sondern ganz im Gegenteil umfassend in die Nutzung der Technologien eingebunden werden, die Teil unseres Alltags sind.

1.5

Es bedarf eines gemeinsamen Vorgehens der europäischen und nationalen Behörden, um sicherzustellen, dass IT-Geräte und -Programme zu erschwinglicheren Preisen zur Verfügung stehen und auch der Mehrsprachigkeit Rechnung tragen.

1.6

Die europäische Bildungspolitik muss die Bürger auf das Leben vorbereiten. Der EWSA betont, dass die Berufsverbände der Bildungsträger konsultiert werden müssen.

1.7

Die Unterstützung der öffentlichen Bildung im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten ist von entscheidender Bedeutung, um das Ziel der Gleichbehandlung zu verwirklichen.

1.8

Der EWSA verweist auf die Bedeutung öffentlicher Bibliotheken für digitale Medienbildung und den Aufbau digitaler Medienkompetenz.

1.9

Der EWSA empfiehlt die Förderung von Modellen offener Innovation (Open Innovation) und offener Normen (Open Standards), um zu verhindern, dass unzulässige Maßnahmen zum Schutz der Rechte geistigen Eigentums den Innovationsprozess in der digitalen Wirtschaft beeinträchtigen.

1.10

Der EWSA empfiehlt außerdem, den Empfehlungen der europäischen Stiftung für Qualität im E-Learning (European Foundation for Quality in e-Learning — EFQUEL) im Bildungswesen Rechnung zu tragen.

1.11

Der EWSA bekräftigt die Bedeutung der allgemeinen und beruflichen Bildung für die Bekämpfung der Wirtschaftskrise und den Konjunkturaufschwung und verweist diesbezüglich auf die Rolle des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP). Der EWSA schlägt daher vor:

die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte zu fördern;

den Erwerb von Sprachkenntnissen zu fördern;

offene Bildungsressourcen auf die berufliche Bildung auszurichten.

1.12

Die Initiative „Horizont 2020“ muss zur Stärkung der europäischen Position in der Digitaltechnologie beitragen, in die die europäischen Unternehmen weniger investieren als ihre asiatischen und US-amerikanischen Konkurrenten.

1.13

Nach Ansicht des EWSA ist die Förderung der europäischen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) äußerst wichtig, da sie innovative Projekte anstoßen können, die für eine Industrie im ständigen Wandel von entscheidender Bedeutung sind. Die steuerlichen Maßnahmen und eine Erleichterung des Zugangs zu Finanzierung für KMU würden außerdem erheblich zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise beitragen.

1.14

Die Unterstützung von Start-up-Unternehmen in der digitalen Technologie kann das Wachstum der europäischen Hard- und Softwarebranche ankurbeln. Der EWSA begrüßt die Initiative zur Unterstützung von Programmen zur Risikofinanzierung im Rahmen der Digitalen Agenda, fordert jedoch verstärkte Unterstützung seitens des Finanzsystems.

1.15

Der EWSA schlägt ein Maßnahmenpaket zur Förderung der Teilhabe von Frauen an der digitalen Gesellschaft vor.

2.   Hintergrund

2.1

Eine Reihe von politischen Maßnahmen, Programmen und Initiativen der EU beziehen sich auf die Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der Bildung:

Programm „eLearning“ (2004-2006);

Programm „Lebenslanges Lernen“ (2007-2013), in dem die Förderung von IKT in der Bildung eine Querschnittspriorität als Teil der sektoralen Programme Comenius, Erasmus, Grundtvig und Leonardo ist;

Programm „Erasmus+“ (2014-2020), das sich in die Europa-2020-Strategie, den strategischen Rahmen „Allgemeine und berufliche Bildung 2020“ (ET 2020) und die Initiative „Neue Denkansätze für die Bildung“ einreiht;

Mitteilung zu neuen Technologien und frei zugänglichen Lehr- und Lernmaterialien: „Die Bildung öffnen: Innovatives Lehren und Lernen für alle mithilfe neuer Technologien und frei zugänglicher Lehr- und Lernmaterialien“, COM(2013) 654 final.

2.2

Die Digitale Agenda für Europa (2010), die Schlüsselstrategie der EU zur Verwirklichung der Ziele von „Horizont 2020“, enthält zahlreiche Maßnahmen, u. a. in Bezug auf:

Interoperabilität und Normung;

Hochgeschwindigkeitsinternet;

E-Learning;

Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen;

digitale Kompetenzen, Qualifikationen und Inklusion.

2.3

Der EWSA hat sich in verschiedenen Stellungnahmen mit diesen Aspekten auseinandergesetzt (1).

2.4

In dieser Initiativstellungnahme werden Aspekte in Verbindung mit dem Zugang zur digitalen Gesellschaft, Bildung, Gleichbehandlung und Beschäftigung beleuchtet.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Zugang zur digitalen Gesellschaft

3.1.1

IKT-gestützte Instrumente kommen immer stärker in allen Lebensbereichen zum Einsatz. Der Zugang zur digitalen Gesellschaft ist ein Recht und eröffnet neue Möglichkeiten, die ausgeschöpft werden müssen.

3.1.2

Der EWSA hat wiederholt auf die Bedeutung von Breitband für die europäische Gesellschaft und die europäische Wirtschaft hingewiesen (2) und daher den Ausbau des satellitengestützten Breitband-Internetzugangs in allen 28 Mitgliedstaaten begrüßt. Viele Ursachen für die digitale Kluft bestehen jedoch weiter und werden durch hohe, aufgrund der Wirtschafts- und Sozialkrise weiter steigende Armut verschärft.

3.1.3

Die digitale Kluft wird nicht kleiner, was u. a. auf folgende Aspekte zurückzuführen ist: Bildung (der Anteil der Internetnutzer bei Menschen mit hohem Bildungsniveau ist dreimal so hoch wie bei Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, bei denen dieser Anteil bei 33 % liegt), Alter (junge Menschen nutzen das Internet generell, Studierende quasi ausnahmslos, wohingegen die Nutzungsrate bei älteren Menschen weitaus niedriger ausfällt), Information (die mehrheitlich auf Englisch verfügbar ist), Unterschiede zwischen ländlichen Gebieten, Städten, Inselregionen usw.

3.1.4

Die Behörden stehen oftmals vor erheblichen Schwierigkeiten, um die IKT-Kosten in der Bildung vor dem Hintergrund der öffentlichen Sparpolitik zu stemmen, die offenbar durch den Stabilitätspakt noch weiter verschärft wird. Eine der möglichen Finanzierungsoptionen, namentlich die Besteuerung der Nutzer, kann die Barrierefreiheit und die Gleichstellung im Bildungswesen gefährden.

3.1.5

Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht (3). In Artikel 20, 21 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die integraler Bestandteil des Lissabon-Vertrags ist, werden jegliche Diskriminierung wegen einer Behinderung verboten und der Anspruch von Menschen mit Behinderung auf spezifische Maßnahmen anerkannt; auch gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCPRD) haben die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel zu treffen, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien, einschließlich Internet, zu gewährleisten (4).

3.1.6

Menschen mit Behinderungen laufen zweimal mehr Gefahr, arbeitslos zu werden. Die neuen Technologien (einschl. Internet) sind das Tor zu Freizeitbeschäftigung, Bildung, Kultur und vielen anderen öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Außerdem fördern sie die demokratische Teilhabe. Daher sind barrierefreie IKT unerlässlich, damit Menschen mit Behinderungen unter gleichen Bedingungen auf einem immer größeren digitalen Markt konkurrieren und Teil der so genannten digitalen Gesellschaft sein können.

3.1.7

Die digitale Gesellschaft darf kein zusätzlicher Faktor für soziale Ausgrenzung sein, ganz im Gegenteil: schutzbedürftige Bürger müssen in der digitalen Gesellschaft ein Mittel finden, mit dessen Hilfe sie ihre soziale Ausgrenzung überwinden können.

3.2   Bildung in der digitalen Gesellschaft

3.2.1

Für die digitale Gesellschaft ist die Aufgeschlossenheit gegenüber einem institutionellen Wandel unerlässlich. Die EU muss Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung unterstützen, die allen Bürgern offen stehen und Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen der Bürger in einem breiten Themenbereich, soziale, bürgerliche und kulturelle Kompetenzen, die Lernfähigkeit sowie Kreativität, Innovation und Teamgeist fördern.

3.2.2

Die Verantwortlichen des Bildungssystems müssen für ein positives Lernklima in den Schulen Sorge tragen, das eine aufgeschlossene Einstellung gegenüber Innovation, Qualität und Zusammenarbeit in der pädagogischen Praxis fördert und zur aktiven Einbindung aller Schüler in den Lehrprozess wie auch zur Verbreitung bewährter Verfahren, zu aktiver Bürgerschaft, zum Austausch von Erfahrungen in der Schule sowie zur Schaffung einer Bewertungskultur anregt.

3.2.3

Die Bildungspolitik der EU hat die Bildungsbehörden in den Mitgliedstaaten noch nicht ausreichend mobilisieren können, um eine Grundausbildung der Lehrer im Umgang mit IKT und den Einsatz von IKT im Unterricht in allen Bildungseinrichtungen, insbesondere in der Primär- und Sekundarstufe sowie in der beruflichen Bildung, zu gewährleisten. Sie hat vor allem nicht bewirkt, dass die Mitgliedstaaten die für ein modernes, innovatives und qualitativ hochwertiges IKT-gestütztes Bildungssystem erforderlichen Investitionen tätigen.

3.2.4

Die Bildungsministerien müssen spezifische Schulungsprogramme für Lehrkräfte aufstellen und Impulse geben, die bisherigen Konzepte für das Lernen zu überdenken.

3.2.5

Der EWSA verweist auf die Bedeutung öffentlicher Bibliotheken für digitale Medienbildung und den Aufbau digitaler Medienkompetenz.

3.2.6

Bereits ab ihrer Einschulung könnte das Interesse der Kinder für die Computerwelt und vielleicht sogar das Programmieren auf spielerische Art geweckt werden, damit die europäischen Bürger nicht mehr länger nur IKT-Nutzer sind, sondern so schnell wie möglich zu Kreativkräften und Herstellern werden. Die EU verfügt zwar über Exzellenzzentren für die Forschung (z. B. die Forschung zu elektronischen Nanokomponenten), sie muss aber noch viel mehr tun.

3.2.7

In den europäischen Bildungssystemen gibt es sehr wohl Beispiele für qualitativ hochwertige Bildung von der Grundschule bis zur Universität und zur beruflichen Bildung. Die Lehrpläne müssen allerdings überarbeitet werden, um den Einsatz von IKT im Unterricht und ihre Bewertung darin aufzunehmen.

3.2.8

Der EWSA empfiehlt die Förderung von Modellen offener Innovation (Open Innovation) und offener Normen (Open Standards), damit unzulässige Maßnahmen zum Schutz der Rechte geistigen Eigentums den Innovationsprozess in der digitalen Wirtschaft nicht beeinträchtigen.

3.2.9

Mit der vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) entwickelten SPI (Simple Publishing Interface) soll die Kommunikation zwischen Anwendungen für die Erstellung von Inhalten und Datenbanken erleichtert werden, die kontinuierlich Bildungsressourcen und Metadaten verwalten.

3.2.10

Die Interoperabilität kann auch die Nutzung von unterstützenden Technologien erleichtern, die notwendig sind, damit Menschen mit Behinderungen IKT nutzen können.

3.3   Bildung: Ein Mittel gegen die Wirtschaftskrise

3.3.1

Allgemeine und berufliche Bildung bereichern das Leben der Menschen und statten sie mit den erforderlichen Kompetenzen für eine demokratische Gesellschaft aus. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung hängt stark von der beruflichen Bildung ab, da sie den Zugang zu Kompetenzen und zum Arbeitsmarkt öffnet. Sie kann zur Verbesserung der Lebensqualität insbesondere benachteiligter Bevölkerungsgruppen und gesellschaftlicher Randgruppen beitragen. Sie ist jedoch nicht nur ein Bindeglied zwischen Bildung und Beschäftigung, sondern auch für sich allein genommen von großer Bedeutung. Das statistische Amt der UNESCO hat ermittelt, dass es eine Korrelation zwischen Wirtschaftsentwicklung und beruflicher Bildung gibt.

3.3.2

Erasmus+ ist die Schlüsselstrategie der EU in diesem Bereich und in Augen des EWSA „ein zentrales Instrument zur Intensivierung der Förderung von Bildung und Ausbildung sein sollte, um die Fähigkeiten der Bürger zu fördern, gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in zahlreichen Mitgliedstaaten vorzugehen (...)“. Die Mitgliedstaaten, bei denen die Zuständigkeit für diesen Bereich liegt, müssen jedoch Anstrengungen unternehmen, um die berufliche Bildung mit den notwendigen Ressourcen auszustatten und ihr das Ansehen in der Öffentlichkeit zu verleihen, das sie als Bestandteil des Bildungssystems haben muss.

3.3.3

Der EWSA betont, dass das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) sich in seiner Arbeit zu lebenslangem Lernen und beruflicher Bildung mit Aspekten wie Erwachsenenbildung, Qualifikationen und Kompetenzen, Validierung und Qualitätssicherungsverfahren auseinandersetzt, die von grundlegender Bedeutung für die Menschen sind, die größere Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Der Haushalt des CEDEFOP sollte aufgestockt werden.

3.3.4

Der EWSA schlägt vor:

der beruflichen Bildung mehr Gewicht beizumessen;

die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte zu fördern;

den Erwerb von Sprachkenntnissen zu fördern, der für die Mobilität von Arbeitnehmern unerlässlich ist;

offene Bildungsressourcen auf die berufliche Bildung auszurichten.

3.4   Digitale Wirtschaft und Beschäftigung

3.4.1

Die EU weist eine hohe Arbeitslosenquote auf, steht laut Europäischer Kommission aber gleichzeitig vor einem Arbeitskräftemangel von 9 00  000 qualifizierten Arbeitnehmern im IKT-Bereich.

3.4.2

IKT haben weitreichende Auswirkungen auf die Beschäftigung; der Erfolg der Digitalen Agenda hängt von der Zahl an Hochtechnologie-Unternehmen ab. Im Jahr 2008 generierten IKT einen Mehrwert von 574 Mrd. EUR für die EU und boten einen Arbeitsplatz für 8,3 Mio. Arbeitnehmer. Die europäischen Unternehmen, die mit Schwierigkeiten wie fragmentierten Märkten und unzureichender Finanzierung zu kämpfen haben, müssen ihre Position gegenüber den mehrheitlich nordamerikanischen Großkonzernen, die den Weltmarkt dominieren, stärken.

3.4.3

Wie jede technologische Neuerung haben auch die IKT beträchtliche Auswirkungen auf die Beschäftigung. Diese Auswirkungen müssen untersucht werden, um dann neue Berufsbilder zu entwickeln, die entsprechenden Qualifikationen und Kompetenzen festzulegen und für deren Zertifizierung zu sorgen, und zwar sowohl für Bürger, die aufgrund der IKT vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, als auch für diejenigen, deren Inklusion durch IKT gefördert wird.

3.4.4

Die „Große Koalition für digitale Arbeitsplätze“, die von der Europäischen Kommission im März 2013 ins Leben gerufen wurde, behandelt die wichtigsten Aspekte (Weiterbildung und Anpassung der Lehrpläne an die Anforderungen der digitalen Arbeitsplätze, Mobilität, Zertifizierung, Sensibilisierung, innovative Lern- und Lehrmethoden), verfügt jedoch über keine eigenen Mittel. Im Rahmen der Digitalen Agenda bestehen weitere Initiativen: die e-Skills-Strategie, das Beschäftigungspaket, die Initiativen „Die Bildung öffnen“, „Neue Denkansätze für die Bildung“ und „Chancen für junge Menschen“ sowie das EU-Kompetenzpanorama (EUSP).

3.4.5

Industrie und Bildungswesen müssen in diese Koalition eingebunden werden, damit über Unternehmenspraktika eine bessere Koordinierung mit dem IKT-Sektor erreicht wird.

3.4.6

Allerdings wird den besonderen Bedürfnissen von Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung ausgeschlossen sind, in den oben genannten Initiativen nicht ausreichend Rechnung getragen, insbesondere im Bereich des Erwerbs digitaler Kompetenzen (eSkills) und der Inklusion in den digitalen Arbeitsmarkt.

3.4.7

Die großen Hightech-Unternehmen in der EU investieren zwar in F+E, doch bleiben ihre Investitionen hinter den Investitionen der asiatischen und US-amerikanischen Unternehmen zurück. Der EWSA hofft, dass „Horizont 2020“ mit seinem Haushalt von 78,6 Mrd. EUR dazu beiträgt, die Stellung Europas auf den Weltmärkten zu stärken.

3.4.8

Nach Ansicht des EWSA ist die Förderung der europäischen KMU im IKT-Bereich äußerst wichtig, da sie innovative Projekte anstoßen können, die für eine Industrie im ständigen Wandel von entscheidender Bedeutung sind. Als Beitrag für einen Ausweg aus der Krise müssen Lösungen für die Finanzierungsschwierigkeiten entwickelt werden, mit denen Kleinunternehmen wie auch innovative Projekte (Start-up-Unternehmen) in der technologischen Innovation zu kämpfen haben.

3.5   Die Gesellschaft im digitalen Zeitalter muss inklusiv sein

3.5.1

Derzeit sind nur 30 % der rund 7 Mio. Arbeitnehmer im IKT-Bereich Frauen. Sie sind auf allen Ebenen unterrepräsentiert, vor allem aber in Entscheidungspositionen. Obwohl Frauen einen höheren Anteil an den Hochschulabschlüssen haben als Männer, werden sie in Sachen Beschäftigung, Lohn, Arbeitsbedingungen und Zugang zu Posten mit hoher Verantwortung nach wie vor benachteiligt.

3.5.2

Ein politischer Wandel ist insbesondere notwendig, weil die Zahl der IKT-Absolventinnen gesunken ist: nur 29 von 1  000 Frauen mit Master-Abschlüssen haben ihren Abschluss in IKT gemacht, und nur vier arbeiten dann auch direkt im IKT-Bereich.

3.5.3

Obwohl das BIP der Eurozone durch eine stärkere Integration von Frauen in den IKT-Bereich um 9 Mrd. EUR steigen könnte, lässt sich ihre unzureichende Einbindung in diesen Sektor durch verschiedene Gründe erklären (u. a. Traditionen und kulturelle Stereotypen). Dies ist jedoch nicht nur ein europäisches, sondern ein globales Problem.

3.5.4

Daher schlägt der EWSA vor:

zu erforschen, welche Faktoren für den Mangel an Frauen im IKT-Bereich im Allgemeinen verantwortlich sind und warum Frauen weniger oft wissenschaftliche Fächer, Mathematik oder Technologie belegen;

die Ausarbeitung von Plänen und Maßnahmen (mit eigenem Haushalt) zur Förderung der Gleichstellung in Betracht zu ziehen;

die Situation von Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu berücksichtigen, die beim Zugang zu Bildung und Beschäftigung im Vergleich zu Männern mit Behinderungen häufig diskriminiert werden; sie haben auch größere Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt, weshalb es ihnen schwerer fällt, ein unabhängiges Leben zu führen;

Berufsmodelle und -laufbahnen zu ermitteln, die als Inspirationsquelle für Frauen und Mädchen dienen können;

den Kodex für die vorbildliche Praxis der Frauenförderung in den IKT zu überarbeiten;

Werbekampagnen in den sozialen Medien zu lancieren;

bereits früh (ab der Grundschule) IT- und Programmierkurse in die Lehrpläne aufzunehmen, die das Interesse von Mädchen für IKT fördern können.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die Barrierefreiheit muss ein vorrangiges Ziel nicht nur für die Behörden, sondern für die Gesellschaft insgesamt sein, da alle wirtschaftlichen und sozialen Akteure betroffen sind. Die diesbezügliche Politik der EU und ganz allgemein vieler Mitgliedstaaten ist bislang allerdings unzureichend gewesen.

4.2

Der EWSA schlägt vor, dass die EU und die nationalen Behörden gemeinsame Maßnahmen anregen, um eine substantielle Senkung der Kosten für IT-Material zu erreichen, u. a. die allgemeine Verbreitung der Nutzung von freier und quelloffener Software (Open Source Software — OSS) wie Linux zu fördern und Informationen und Kenntnisstand über europäische Inhalte zu verbessern.

4.3

Eine angemessene EU-Politik im 21. Jahrhundert muss auf einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber dem Wandel fußen. Hauptziel der europäischen Systeme für allgemeine und berufliche Bildung sollte nicht nur die Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen des Arbeitsmarkts sein (ein Aspekt, auf den die Europäische Kommission ihre Bildungspolitik im Wesentlichen ausgerichtet hat), sondern das „Lernen fürs Leben“. In die Gestaltung der EU-Bildungspolitik sollten auch die europäischen Verbände der Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen eingebunden sein, was derzeit nicht der Fall ist.

4.4

Da die Mitgliedstaaten über begrenzte Haushaltsmittel verfügen und — im Rahmen ihrer demokratischen Institutionen — die Entscheidungen treffen, die ihrer Meinung nach am besten für ihre Bürger sind, muss betont werden, dass Investitionen in das öffentliche Bildungswesen zur Verwirklichung der Gleichstellung beim Zugang zu Bildung unabdingbar sind, und zwar unabhängig vom sozialen Hintergrund oder den finanziellen Möglichkeiten der Schüler/Studenten.

4.5

Die Europäische Kommission muss darauf drängen, dass die Metadaten des Bildungswesens frei und von allgemeinem Interesse sind und nicht von Privatunternehmen patentiert werden können. Neben dem europäischen Normungsprogramms SPI ist auch das Programm „eContentplus“ der Europäischen Kommission über Metadaten von Bedeutung.

4.6

Zur Gewährleistung der Qualität und der Angemessenheit der allgemeinen und beruflichen Bildung müssen Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen die Kontrolle über die Bildungsinhalte haben. Nach Ansicht des EWSA sollte den Empfehlungen der europäischen Stiftung für Qualität im E-Learning (European Foundation for Quality in e-Learning — EFQUEL) in Bezug auf Legislativmaßnahmen, Harmonisierung, Rechte des geistigen Eigentums usw. Rechnung getragen werden.

4.7

Der EWSA hat bereits seine Enttäuschung über die erhebliche Kürzung der Mittel für die Digitale Agenda für den Zeitraum 2014-2020 von ursprünglich 9,2 Mrd. EUR auf letztlich 1,14 Mrd. EUR zum Ausdruck gebracht.

4.8

Der EWSA bewertet die finanzielle Unterstützung innovativer KMU-Initiativen mit Risikokapital im Rahmen von Horizont 2020 als positiv. Besonders wichtig sind die Maßnahmen, die bewirken sollen, dass KMU und Start-up-Unternehmen Zugang zu umfangreicheren Finanzmitteln nicht nur seitens der Behörden, sondern auch der Märkte und des Finanzsystems erhalten.

4.9

Der EWSA empfiehlt die Aufnahme der Dimension „Barrierefreiheit“ in sämtliche digitale Initiativen, damit E-Learning-Programme, IKT und Bildungsmaterialien und -instrumente (on- und offline) für Menschen mit Behinderungen und schutzbedürftige Personen zugänglich sind. Außerdem muss der Inklusion von Menschen mit Behinderungen bei der Besetzung der neuen IKT-Arbeitsplätze, um die die EU bemüht ist, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 127; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9; ABl. C 214 vom 8.7.2014, S. 31.

(2)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 137.

(3)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 15.

(4)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 116.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Cyberangriffe in der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 451/05)

Berichterstatter:

Thomas McDONOGH

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 27. Februar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Cyberangriffe in der EU.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 135 Stimmen bei einer Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss würde die Schaffung einer Cybersicherheitsbehörde auf EU-Ebene nach dem Vorbild der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) befürworten, die die notwendige Führungsstärke auf EU-Ebene zur Umsetzung einer vielschichtigen wirksamen europaweiten Cybersicherheitsstrategie bieten kann.

1.2

Sachkundige und mündige Bürger sind eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Cybersicherheit in Europa. Die Aufklärung der Bürger über persönliche Cybersicherheit und Datenschutz sollte grundlegender Bestandteil von Schullehrplänen und Schulungen am Arbeitsplatz sein. Die EU sollte zudem unionsweit Programme und Initiativen zur Information der Öffentlichkeit über diese Thematik fördern.

1.3

Unternehmen sollte in Anlehnung an die Vorschriften über Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz gesetzlich zur Auflage gemacht werden, eine proaktive Strategie für den Schutz vor Cyberangriffen aufzustellen, in sichere und resiliente Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) zu investieren und die Mitarbeiter in Sicherheitsfragen zu schulen.

1.4

In jedem Mitgliedstaat sollte eine Organisation dafür zuständig sein, den Mittelstand über bewährte Cybersicherheitsverfahren zu informieren und bei der Durchführung einschlägiger Maßnahmen zu unterstützen. Große Unternehmen können das erforderliche Wissen leicht beschaffen, KMU hingegen müssen hierbei unterstützt werden.

1.5

Der Auftrag der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) sollte erweitert und sie sollte mit Mitteln ausgestattet werden, um in Eigenregie spezifische, an die Bürger und KMU gerichtete Bildungs- und Aufklärungsprogramme über Cybersicherheit durchzuführen.

1.6

Auf der Vorstandsebene aller Unternehmen und Organisationen muss das Verantwortungsbewusstsein für Cybersicherheit geschärft werden. Die Geschäftsführer und Vorstände aller Organisationen sollten deutlich über die Haftungsrisiken informiert werden, die sich aus unzulänglichen Cybersicherheitskonzepten und -maßnahmen ergeben.

1.7

In Anbetracht ihrer zentralen Rolle bei der Bereitstellung von Online-Diensten sollten alle Internetdiensteanbieter in der EU eine besondere Verantwortung für den Schutz ihrer Kunden vor Cyberangriffen haben. Diese Verantwortung sollte in den EU-Rechtsvorschriften festgelegt und verankert werden.

1.8

Um eine rasche Entfaltung des mit der rasanten Entwicklung von Cloud Computing verbundenen wirtschaftlichen Wachstumspotenzials zu ermöglichen (1), sollten auf EU-Ebene auch den Anbietern von Cloud-Diensten spezifische Sicherheitsanforderungen und -pflichten auferlegt werden.

1.9

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass freiwillige Maßnahmen nicht zum Erfolg führen und strenge rechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten erforderlich sind, um Governance und Durchsetzung einer harmonisierten europäischen Cybersicherheit zu ermöglichen. Außerdem müssen nicht nur die Anbieter kritischer Infrastrukturen, sondern alle Unternehmen und Organisationen rechtlich verpflichtet werden, wesentliche Cyber-Zwischenfälle zu melden. Damit könnten die europäischen Reaktionsmöglichkeiten auf Bedrohungen verbessert sowie das Wissen und die Erkenntnisse über Cyberangriffe im Hinblick auf bessere Sicherheitsvorkehrungen vergrößert werden.

1.10

Der Ausschuss empfiehlt der EU nachdrücklich, im Umgang mit Cyber-Bedrohungen einen konzeptionellen Ansatz zu wählen und sicherzustellen, dass alle in Europa für Internetzugang und Online-Dienstleistungen genutzten Technologien und Dienste so ausgelegt sind, dass sie eine größtmögliche Cybersicherheit gewährleisten. An erster Stelle der konzeptionellen Überlegungen sollte die Schnittstelle Mensch/Maschine stehen.

1.11

Der Ausschuss plädiert dafür, dass die europäischen Normungsorganisationen umfangreiche Standards für Cybersicherheit ausarbeiten, die für alle informationstechnischen Netzwerktechnologien und -dienste gelten. In diesen Standards sollte ein verpflichtender Verhaltenskodex inbegriffen sein, um zu gewährleisten, dass alle den europäischen Bürgern angebotenen IKT-Geräte und Internetdienste den höchsten Ansprüchen genügen.

1.12

Die EU muss unverzüglich dafür sorgen, dass in allen Mitgliedstaaten ein funktionsfähiges IT-Notfallteam (Computer Emergency Response Team, CERT) eingerichtet wird, um die Cybersicherheit auf nationaler und auf europäischer Ebene zu gewährleisten.

1.13

Der Ausschuss fordert, dem Europäischen Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) bei Europol die zusätzlichen Finanzmittel zu gewähren, die es benötigt, um gegen Cyberkriminalität vorzugehen und die polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb der Union und mit Drittländern zu verbessern, damit Europa besser in der Lage ist, Cyberverbrecher zu verhaften und zu verfolgen.

1.14

Zusammenfassend muss eine EU-Cybersicherheitsstrategie nach Meinung des Ausschusses vor allem folgende Voraussetzungen erfüllen: Führungsstärke der EU; Verbesserung der Sicherheit bei gleichzeitiger Wahrung des Persönlichkeitsrechts und anderer Grundrechte; Sensibilisierung der Bürger und Förderung proaktiven Schutzverhaltens; umfassende Governance der Mitgliedstaaten; sachkundige und verantwortungsbewusste Maßnahmen der Unternehmen; enge Partnerschaften zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Bürgern; angemessene Investitionen; gute technische Standards und ausreichende Investitionen in F+E+I; internationale Zusammenarbeit. In diesem Sinne bekräftigt der Ausschuss seine Empfehlungen in Sachen Cybersicherheit, die er bereits in zahlreichen Stellungnahmen (2) vorgetragen hat, und fordert die Kommission auf, entsprechend tätig zu werden.

2.   Umfang der Stellungnahme

2.1

Die Internetwirtschaft trägt mit über einem Fünftel zum EU-BIP-Wachstum bei. Jährlich kaufen 200 Millionen Europäer im Internet ein. Zentral wichtige Energie-, Gesundheits-, Behörden- und Finanzdienste sind digital vernetzt und hängen vom Internet ab. Jedoch sind die für unsere Wirtschaft und Gesellschaft grundlegenden kritischen digitalen Infrastrukturen zunehmend Bedrohungen durch Cyberangriffe ausgesetzt, die unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität in Gefahr bringen.

2.2

Nach Meinung des Ausschusses halten die Verfahren und Maßnahmen zur Gewährleistung einer angemessenen kurz- und langfristigen Cybersicherheit in Europa nicht mit der zunehmenden Abhängigkeit der EU vom Internet und von digitalen Technologien Schritt. In dieser Stellungnahme will der Ausschuss die Lücken in der Cybersicherheitspolitik der EU deutlich machen und Empfehlungen unterbreiten, wie Cyberbedrohungen eingedämmt werden können.

2.3

Cyberangriffen liegen vielfältige Motive zugrunde, sie können persönlicher Art sein und bspw. aus Rache an einer Person oder einem Unternehmen verübt werden, sie können aber auch zum Zweck der Cyberspionage von einem Land oder in Cyberkonflikten zwischen Staaten unternommen werden. In dieser Stellungnahme will sich der Ausschuss ausschließlich mit kriminell motivierten Cyberangriffen auseinandersetzen und Empfehlungen zu den Aspekten aussprechen, die ihm ein besonderes Anliegen sind. Die komplexe politische Debatte über Cyberangriffe von Mitgliedstaaten gegen Bürger und andere Staaten könnte Gegenstand einer künftigen Stellungnahme sein.

2.4

Der Ausschuss geht hier nur auf finanziell motivierte Cyberangriffe ein, die den überwiegenden Teil der Attacken ausmachen. Durch Cybersicherheitskonzepte und -verfahren zur wirksamen Bekämpfung von verbrecherisch motivierten Cyberangriffen wird auch die Bedrohung durch politisch oder persönlich motivierte Cyberangriffe reduziert.

2.5

Die EU ist mit der Umsetzung der in der Digitalen Agenda aufgeführten Maßnahmen für Vertrauen und Sicherheit gut vorangekommen und hat eine umfassende Cybersicherheitsstrategie aufgestellt, die auf die meisten der o.g. Ziele abhebt; indes muss mehr getan werden.

3.   Cyberangriffe und Cybersicherheit

3.1

Ein Cyberangriff ist jedwede offensive Handlung, die sich gegen IT-Systeme, Infrastrukturen und Computernetze und/oder persönliche Digitalgeräte richtet und zum Ziel hat, ein spezifisches Objekt vorsätzlich zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Es kann dabei um Geld, Daten oder Informationstechnologie gehen.

3.2

Cyberkriminelle starten Cyberangriffe, um Geld oder Daten zu stehlen, um Betrug, Spionagedelikte oder Erpressungen zu begehen. Cybercrime-Angriffe können die grundlegenden Netze und Dienste schädigen, auf die wir für Gesundheit, Sicherheit und wirtschaftliches Wohlergehen angewiesen sind, darunter Behörden-, Verkehrs- und Energienetze.

3.3

Die Bedrohung durch Cyberangriffe wächst mit unserer zunehmenden Abhängigkeit von Internet und digitalen Technologien. Symantec zufolge stieg die Gesamtzahl der Datenverluste im Jahr 2013 weltweit um 62 % an, was 552 Millionen abgegriffenen Identitäten entspricht. Erbeutet wurden dabei Personennamen, Geburtsdaten, Ausweisnummern von Regierungsvertretern, medizinische und finanzielle Informationen usw. Ferner sind 38 % der Mobilanwender in den vergangenen zwölf Monaten mit mobiler Cyberkriminalität in Berührung gekommen.

3.4

Cyberangriffe können einzelne Unternehmen und die allgemeine europäische Wirtschaft erheblich schädigen:

Dem Norton Cybercrime Report 2011 zufolge entsteht durch Internetbetrug weltweit ein Schaden von ca. 290 Mrd. EUR und übersteigt damit den weltweiten Schwarzmarkt für Marihuana, Kokain und Heroin zusammengenommen.

Die Bürger sind ständig der Gefahr des Identitätsdiebstahls im Zuge von Cyberangriffen ausgesetzt. Im Mai 2014 wurden im Rahmen eines einzigen Hackerangriffs 145 Millionen Ebay-Kunden-Datensätze gestohlen. Laut einer Cybersicherheits-Analyse der Universität von Kent aus dem Jahr 2013 wurden innerhalb eines Zwölfmonatszeitraums (2012/2013) die Online-Konten von über 9 Millionen erwachsenen Nutzern in Großbritannien gehackt, 8 % der Bevölkerung erlitt aufgrund von Cyberverbrechen finanzielle Verluste und 2,3 % der UK-Bevölkerung verlor dadurch mehr als 10  000 GBP.

In einem 2011 für die britische Regierung erstellten Bericht werden die durch Cybercrime für die britische Wirtschaft verursachten Kosten auf insgesamt 2,7 Mrd. GBP veranschlagt:

Internetbetrug 1,4 Mrd. GBP;

Identitätsdiebstahl 1,7 Mrd. GBP;

Diebstahl geistigen Eigentums 9,2 GBP;

Spionage 7,6 Mrd. GBP;

Verlust von Kundendaten 1 Mrd. GBP;

Online-Diebstahl (direkt) von Unternehmen 1,3 Mrd. GBP;

Erpressung 2,2 Mrd. GBP;

Steuerbetrug im Internet 2,3 Mrd. GBP.

Durch Cyberangriffe entstehen in Europa jedes Jahr enorme wirtschaftliche Schäden. Dabei müssen folgende Kosten berücksichtigt werden:

Der Verlust geistigen Eigentums und sensibler Daten;

Opportunitätskosten einschl. Dienstunterbrechung und Störungen der Arbeitsabläufe;

Markenimage- und Reputationsschäden;

Straf- bzw. Entschädigungszahlungen an Kunden (aufgrund von Unannehmlichkeiten oder mittelbaren Verlusten) oder Vertragsstrafen (wegen Verspätungen usw.);

Gegenmaßnahmen und Versicherung;

Abhilfe- und Bewältigungsstrategien nach Cyberangriffen;

Umsatz- und Wettbewerbsfähigkeitsverluste;

Handelsverzerrungen;

Arbeitsplatzverluste.

Laut einem von der britischen Regierung 2014 veröffentlichten Bericht über Informationssicherheitsverstöße und -lücken kam es 2013 in 81 % der Großunternehmen und 60 % der KMU zu Sicherheitsverletzungen.

In dem entsprechenden Bericht heißt es, dass die schlimmste dieser Sicherheitsverletzungen für ein Großunternehmen einen durchschnittlichen Schaden von bis zu 1,4 Mio. EUR und für ein KMU von bis zu 1 40  000 EUR verursachen könnte.

Auch wenn Angriffe erfolglos verlaufen, steigen die Abwehrkosten rasch an. Der globale Markt für IT-Sicherheit wird 2015 um 8,6 % wachsen und einen Gesamtumsatz von über 73 Mio. USD erzielen.

3.5

Cyberangriffstechniken werden ständig weiterentwickelt:

Bei einem Cyberangriff gewinnt ein Cyberverbrecher im Allgemeinen in böswilliger Absicht über einen Angriffsvektor Zugang zu digitalen Identitäten, Computern oder Netzwerk-Servern. Beliebte Angriffsvektoren sind USB-Geräte, E-Mail-Anhänge, Websites, Pop-Up-Fenster, Sofortnachrichten, Foren sowie Trickbetrugsmethoden wie Phishing.

Meistens wird bei den Angriffen eine Art von „Malware“ verbreitet. Malware sind Schadprogramme, die die Kontrolle über ein digitales Gerät übernehmen können, um bspw. Nutzerdaten auszuspähen, Geld zu entwenden oder auf andere Geräte und Profile überzugreifen. Malware ist ein Sammelbegriff für Computerviren (einschl. Würmer und Trojaner), Ransomware, Spyware, Adware, Scareware sowie weitere Schadprogramme. Ransomware bspw. sind Lösegeld-Trojaner, die auf dem infizierten Computer Dateien, Ordner oder die Festplatte sperren und für die Freigabe Geld fordern.

Durch Malware kann ein Computer über spezielle, Bot genannte Schädlinge Teil eines Bot- oder Zombienetzes werden, das von den kriminellen Betreibern der Netze für Angriffe genutzt wird.

Bei einem Spam-Angriff werden unerwünschte Massen-E-Mails versandt, häufig, um die Opfer dazu zu verleiten, gefälschte Waren zu erwerben. Die meisten Spam-E-Mails werden über Botnets versandt.

Phishing-Angriffe haben unter Vorspiegelung eines vertrauenswürdigen Absenders zum Ziel, Nutzerdaten, Passwörter und Kreditkartendaten zu erbeuten und E-Mail-Konten, Accounts in sozialen Netzwerken und Bankkonten zu übernehmen. Phishing ist besonders wirksam, weil 70 % der Internetnutzer bei nahezu jedem Internetdienst dasselbe Passwort verwenden.

Manchmal versuchen Cyberkriminelle, über Denial-of-Service-Angriffe (DoS) Geld von Unternehmen oder Organisationen zu erpressen. Bei einem DoS-Angriff wird ein Gerät oder ein Netz mit Anfragen von außen überlastet, so dass reguläre Anfragen nicht oder nur sehr langsam beantwortet werden können und das System praktisch lahmgelegt wird. Auch DoS-Angriffe gehen im Allgemeinen von Botnetzen aus.

3.6

Cybersicherheitsorganisationen sind sich allgemein einig darin, welche Maßnahmen Bürger und Unternehmen vor allem ergreifen sollten, um sich vor Cyberangriffen zu schützen. Diese Verhaltensweisen sollten in sämtlichen Cybersicherheits-Sensibilisierungs- und -Aufklärungsprogrammen vermittelt werden:

a.

Bürger sollten:

starke, leicht zu merkende Passwörter verwenden;

auf neuen Geräten Virenschutzprogramme installieren;

ihre Privatsphäre-Einstellungen in sozialen Netzwerken überprüfen;

sicher im Internet einkaufen und Online-Händler genau überprüfen;

auf Aufforderung Software- und Anwendungskorrekturen (Patches) herunterladen.

b.

Unternehmen sollten:

Whitelisting von Anwendungen nutzen;

standardisierte zuverlässige Systemkonfigurationen anwenden;

Patches für Anwendungssoftware innerhalb von 48 Stunden installieren;

Patches für Systemsoftware innerhalb von 48 Stunden installieren;

die Zahl der Nutzer mit Administratorenrechten reduzieren.

3.7

Kleinunternehmen mangelt es häufig an ausreichender IT-Betreuung, um Cyberbedrohungen abzuwehren, deshalb benötigen sie besondere Unterstützung zur Gewährleistung ihrer Cybersicherheit.

3.8

Die Bekanntgabe von Cyberangriffen und Systemschwachstellen ist wesentlich im Umgang mit diesen Angriffen, vor allem im Fall von sog. Zero-Day-Attacken, bei denen Sicherheitslücken ausgenutzt werden, noch bevor sie offiziell bekannt sind. Häufig jedoch verschweigen Unternehmen Cyberangriffe aus Furcht vor Reputationsverlusten und Haftungsansprüchen. Diese mangelnde Offenlegung erfolgter Angriffe untergräbt die Fähigkeit Europas, rasch und wirksam auf Bedrohungen zu reagieren und die allgemeine Cybersicherheit durch gemeinsame Lernerfahrungen zu verbessern.

3.9

Internetdiensteanbieter bieten Bürgern und Unternehmen Internetzugang und Online-Dienste gegen Entgelt. In Anbetracht ihrer zentralen Rolle bei der Bereitstellung von Online-Diensten ist es wesentlich, dass Internetdiensteanbieter ihren Kunden den größtmöglichen Schutz vor Cyberangriffen bieten. Sie sollten nicht nur sicherstellen, dass Konzeption und Wartung ihrer eigenen Dienste und Infrastrukturen den höchsten Cybersicherheitsansprüchen genügen, sondern ihre Kunden optimal in Sachen Cybersicherheit beraten und Sonderprotokolle führen, um Cyberangriffe auf ihre Kunden zeitnah erkennen und abwehren zu können. Diese Verantwortung sollte in den EU-Rechtsvorschriften festgelegt und verankert werden.

3.10

Die Förderung der Nutzung von Cloud Computing durch Bürger und Unternehmen in Europa ist sehr wichtig für die EU-Wirtschaft (3). Mit zunehmender Abhängigkeit privater und geschäftlicher Anwendungen von Cloud Computing kommt es darauf an, dass Europa gezielt für die Cybersicherheit der Anbieter Cloud-basierter Dienste sorgt. Sicherheitsbedenken gegenüber Cloud-basierten Diensten beeinträchtigen die Durchsetzung dieser dynamischen Technologie. Der Ausschuss appelliert an die EU, den Anbietern Cloud-basierter Dienste besondere Sicherheitsanforderungen und -pflichten aufzuerlegen, um das Cloud-Computing-Wachstum in Europa zu fördern.

3.11

Es müssen gezielt Anstrengungen unternommen werden, um Mitarbeiter für die europäische Cybersicherheitsbranche zu gewinnen. Die Nachfrage nach IT-Sicherheitsfachkräften mit Hochschulabschluss soll Prognosen zufolge mehr als doppelt so schnell ansteigen als die Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern in den anderen IT-Bereichen. In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss die Kommission auf den Erfolg von Wettbewerben in den USA und einigen Mitgliedstaaten hin, durch die das Bewusstsein für Cybersicherheitsbelange gefördert und die nächste Generation von IT-Sicherheitsspezialisten herangezogen werden kann.

3.12

Eine der besten Strategien zum Schutz vor Cyberbedrohungen beruht auf einem konzeptionellen Ansatz, d. h., es wird sichergestellt, dass alle in Europa für Internetzugang und Online-Dienstleistungen genutzten Technologien und Dienste so ausgelegt sind, dass sie eine größtmögliche Cybersicherheit gewährleisten. An erster Stelle der konzeptionellen Überlegungen sollte die Schnittstelle Mensch/Maschine stehen. Dazu wäre eine Zusammenarbeit zwischen Technologieherstellern, Internetdiensteanbietern, der Cybersicherheitsbranche, EC3, ENISA, den nationalen Sicherheits- und Verteidigungsbehörden der Mitgliedstaaten und den Bürgern erforderlich. Auf EU-Ebene könnte sich die Europäische Kommission um die organisatorischen Aspekte dieses konzeptionellen Cybersicherheitsansatzes kümmern, während ENISA eventuell die Koordinierung übernehmen könnte.

4.   EU-Cybersicherheitsstrategie

4.1

Die EU ist mit der Ausarbeitung einer umfassenden Cybersicherheitsstrategie (4) befasst, um die Cybersicherheit der europäischen Bürger zu verbessern:

Die Säule „Vertrauen und Sicherheit“ der Digitalen Agenda umfasst 14 Maßnahmen zur Verbesserung von Cybersicherheit und Datenschutz;

in der Richtlinie über Angriffe auf Informationssysteme (5), die bis zum 4. September 2015 in nationales Recht umgesetzt werden muss, werden einschlägige Straftaten definiert und Strafen festgelegt;

um das Wissen über Cybersicherheit zu verbessern und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu erleichtern, hat die EU das Mandat der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) gestärkt;

im Rahmen von Europol wurde das Europäische Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) eingerichtet;

die strategische Initiative für den Schutz kritischer Informationsinfrastrukturen (CIIP) hebt auf den Schutz Europas vor Cyber-Angriffen und Störungen großen Ausmaßes durch Stärkung der Abwehrbereitschaft, Sicherheit und Stabilität ab;

Ziel der europäischen Strategie für ein besseres Internet für Kinder ist die Schaffung eines sicheren Online-Umfelds für Kinder und die Bekämpfung der Online-Verbreitung von Bildern über sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern;

der Vorschlag für eine Richtlinie über Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen gemeinsamen Netz- und- Informationssicherheit (NIS) in der Union sieht für alle Mitgliedstaaten die Verpflichtung vor, ein Mindestniveau nationaler Kapazitäten zu schaffen und bspw. IT-Notfallteams (Computer Emergency Response Teams, CERTs) zu bilden. Ferner werden darin Mindestsicherheitsanforderungen und Meldepflichten für Betreiber kritischer Informationsinfrastrukturen formuliert.

4.2

Der Ausschuss (6) übte deutliche Kritik am Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über Netz- und- Informationssicherheit (NIS), da die vorgeschlagenen Maßnahmen seines Erachtens zu zögerlich sind, um die Mitgliedstaaten zu einem ausreichenden Schutz ihrer Bürger und Unternehmen vor Cyberangriffen zu veranlassen. Indes schwächte das Europäische Parlament die vorgeschlagene Richtlinie noch weiter ab, begrenzte ihre Anwendung auf die Betreiber kritischer Informationsinfrastrukturen und nahm Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Internet-Zahlungs-Gateways und Cloud-Computing-Anbieter von ihrem Geltungsbereich aus.

4.3

Auf der Grundlage der vorgeschlagenen NIS-Richtlinie in ihrer aktuellen Form können nicht die Rechtsvorschriften erlassen werden, die notwendig sind, um das Bedrohungsbewusstsein und die Reaktionsfähigkeit auf Cyberangriffe in der EU zu verbessern. Der Ausschuss plädiert für neue Rechtsvorschriften, um eine allgemeine Meldepflicht für alle relevanten Cybersicherheitsvorfälle einzuführen, die nicht nur für die Betreiber kritischer Infrastrukturen gilt. Aufgrund der fehlenden Meldepflicht können Cyberverbrecher die Unwissenheit gefährdeter Zielgruppen ausnutzen.

4.4

Die EU sollte in Betracht ziehen, das ENISA-Mandat zu erweitern, um EU-weit das Bedrohungsbewusstsein und die Reaktionsfähigkeit auf Cyberangriffe zu verbessern. Vieleicht könnte ENISA beauftragt werden, in Eigenregie spezifische, an die Bürger und KMU gerichtete Bildungs- und Aufklärungsprogramme über Cybersicherheit durchzuführen.

4.5

Im Jahr 2013 wurde das Europäische Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) bei Europol eröffnet, um die Abwehr von Cyberstraftaten in Europa zu verbessern. Es soll als europäische Anlauf- und Sammelstelle für strategische Informationen und Fachwissen über Cyberstraftaten dienen sowie entsprechende mitgliedstaatliche Ermittlungen unterstützen. Doch schon in seinem ersten Jahresbericht warnt EC3, dass die knappe Mittelausstattung den Ermittlungsverlauf behindert und das Zentrum nicht in der Lage sein wird, die anstehenden großangelegten Ermittlungen zu bewältigen.

4.6

Die EU sollte die europäischen Normungsorganisationen — CEN, CENELEC und ETSI — beauftragen, Cybersicherheitsstandards für sämtliche in der EU angebotene Software, IKT-Hardware und Online-Dienste aufzustellen. Diese Standards müssten fortwährend aktualisiert werden, um mit neuen Bedrohungen Schritt zu halten.

4.7

Nicht nur die Anbieter kritischer Infrastrukturen, sondern alle Unternehmen und Organisationen müssen rechtlich verpflichtet werden, wesentliche Cyber-Zwischenfälle zu melden. Damit könnten die europäischen Reaktionsmöglichkeiten auf aktuelle Bedrohungen verbessert, das Wissen und die Erkenntnisse über Cyberangriffe vergrößert und so wiederum die Behörden, die Cybersicherheitsbranche, Unternehmen und Privatpersonen bei der Verbesserung der Cybersicherheit und der Vermeidung von Bedrohungen unterstützt werden. Um die Meldung von Cyberangriffen zu erleichtern, sollte in den einschlägigen Rechtsvorschriften festgelegt werden, dass die Anonymität der betroffenen Unternehmen und Organisationen gewahrt bleibt. Ggf. sollten auch Haftungsregelungen in Erwägung gezogen werden.

4.8

Trotz der bereits von der EU ergriffenen Initiativen gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Kapazitäten und die Abwehrbereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten, was zu EU-weit uneinheitlichen Reaktionen auf Cyberangriffe führt. Aufgrund der Verbindungen zwischen Netzen und Systemen untergraben die Mitgliedstaaten mit schwachen Cybersicherheitskonzepten die Fähigkeit der EU insgesamt, wirksam auf Bedrohungen zu reagieren. Es muss etwas getan werden, um alle Mitgliedstaaten auf ein vertretbares Cybersicherheitsniveau zu bringen. Insbesondere ist unverzüglich dafür sorgen, dass in allen Mitgliedstaaten ein funktionsfähiges IT-Notfallteam (Computer Emergency Response Team, CERT) eingerichtet wird.

4.9

Wie in früheren Stellungnahmen (7) schon betont der Ausschuss erneut, dass freiwillige Maßnahmen seines Erachtens nicht zum Erfolg führen und strenge rechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten erforderlich sind, um Governance und Durchsetzung einer harmonisierten europäischen Cybersicherheit zu ermöglichen.

4.10

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die EU-Cybersicherheitspolitik auf folgende Aspekte abheben sollte, um die Bürger und Unternehmen durch wirksame Maßnahmen, die auf dem neuesten Stand sind, vor Cyberangriffen zu schützen:

Eine starke EU-Führung, die für Konzepte, Rechtsvorschriften und Einrichtungen zur Förderung eines hohen Cybersicherheitsniveaus in der EU sorgt;

Cybersicherheitskonzepte, die die individuelle und kollektive Sicherheit verbessern und gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte sowie andere Grundrechte und Grundfreiheiten gewähren;

Sensibilisierung aller Bürger für die Risiken der Internetnutzung und Förderung proaktiver Verhaltensweisen zur Sicherung ihrer Digitalgeräte, Identitäten, Privatsphäre und Online-Transaktionen;

eine umfassenden Governance-Struktur in allen Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der Sicherheit und Resilienz der kritischen Informationsinfrastrukturen;

sachkundige und verantwortungsvolle Maßnahmen aller Unternehmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Resilienz ihrer IKT-Systeme und zum Schutz ihrer Tätigkeit und ihrer Kunden;

einen proaktiven Ansatz der Internetdiensteanbieter zum Schutz ihrer Kunden vor Cyberangriffen;

eine tragfähige EU-weite Partnerschaft zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Bürgern auf strategischer und operationeller Ebene als Grundlage für Cybersicherheit;

einen konzeptionellen Ansatz hinsichtlich der Integration von Cybersicherheitsbelangen bei der Entwicklung von Internettechnologien und -diensten;

angemessene Investitionen in die Entwicklung von Cybersicherheitswissen und -kompetenzen, um sicherzustellen, dass es genügend IT-Sicherheitsfachkräfte gibt;

gute technische Cybersicherheitsstandards und ausreichende Investitionen in F+E+I zur Förderung der Entwicklung einer starken Cybersicherheitsbranche und erstklassiger Cybersicherheitslösungen;

eine aktive internationale Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Entwicklung einer koordinierten weltweiten Strategie im Umgang mit Bedrohungen der Cybersicherheit.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40; ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59.

(2)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 21;

ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 92;

ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 98;

ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58;

ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 58;

ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90;

ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 130;

ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40;

ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 1;

ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 73;

ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59;

ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 127;

ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 133.

(3)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40; ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59.

(4)  JOIN(2013) 1 final.

(5)  ABl. L 218 vom 14.8.2013, S. 8.

(6)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 133.

(7)  ABl C 255 vom 22.9.2010, S. 98; ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 130; ABl C 271 vom 19.9.2013, S. 133.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Mehr Transparenz und Teilhabe im EU-Beitrittsprozess“

(Initiativstellungnahme)

(2014/C 451/06)

Berichterstatterin:

Marina ŠKRABALO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 22. Januar 2014 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Mehr Transparenz und Teilhabe im EU-Beitrittsprozess.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 132 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Erweiterung ist vielleicht nicht der populärste Politikbereich der EU, wohl aber eines ihrer erfolgreichsten politischen Projekte. In den vergangenen Jahren hat es hinsichtlich der Transparenz und Teilhabe im Beitrittsprozess zahlreiche Verbesserungen gegeben, wie sich in den laufenden Verfahren in Serbien und Montenegro zeigt. Der Strategiewechsel der EU-Institutionen hin zu den Grundprinzipien — Rechtstaatlichkeit und wirtschaftspolitische Steuerung — bietet Gelegenheit zur Förderung der partizipativen Demokratie innerhalb der Beitrittspolitik als ganzer (und nicht so sehr parallel dazu).

1.2

Allerdings gibt es noch eine Reihe von Herausforderungen. Es muss konsequenter dafür gesorgt werden, dass sowohl die EU-Institutionen als auch die betreffenden Regierungen während des gesamten Beitrittsprozesses in allen Politikbereichen und in allen potenziellen Kandidatenländern einen transparenten und inklusiven Ansatz verfolgen. Die Politikbereiche müssen enger miteinander verknüpft werden, und zwar im Hinblick auf (1) die eigentlichen Verhandlungen, (2) die Förderung der Entwicklung der Zivilgesellschaft und des sozialen Dialogs und (3) den institutionellen Kapazitätenaufbau. All diese Aspekte sollten bei der Finanzierung der Heranführungshilfe gebührend berücksichtigt werden.

1.3

Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament:

ihre finanzielle Unterstützung zum Aufbau institutioneller Kapazitäten und zur Einbindung der Bürger in den Beitrittsprozess sowie zur Stärkung der Professionalität und Unabhängigkeit der Medien deutlich zu erhöhen;

Anreize für die Verstärkung sowohl des zivilen als auch des sozialen Dialogs in den Beitrittsländern zu bieten und diese enger mit dem Beitrittsprozess zu verknüpfen;

ihre Kommunikationsmaßnahmen zur Aufklärung der EU-Bürger über die Vorteile und Herausforderungen der Erweiterungspolitik in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft zu verstärken;

sämtliche Schlüsseldokumente der Beitrittsverhandlungen (d. h. Screeningberichte, Übersetzungen des EU-Besitzstands sowie Eröffnungs- und Abschlussbenchmarks) zugänglich zu machen und auf den Internetseiten der EU-Delegationen zu veröffentlichen;

die Beitrittsländer zu verpflichten, Rechtsvorschriften für den öffentlichen Zugang zu Informationen und öffentliche Konsultationen zu verabschieden und umzusetzen sowie sicherzustellen, dass dies ein fester Bestandteil der Überwachung der Fortschritte ist;

die Leitlinien der GD Erweiterung zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Beitrittsländern 2014-2020 (1) in allen Beitrittsländern gleichermaßen anzuwenden und sie zu überarbeiten, um genauer auf die besonderen Herausforderungen, denen die Sozialpartner im Zusammenhang mit dem sozialen Dialog gegenüberstehen, einzugehen;

auf die lückenlose Umsetzung der Leitlinien der GD Erweiterung für die Förderung der Medienfreiheit und -integrität in den Beitrittsländern 2014-2020 durch die EU  (2) hinzuwirken.

1.4

Der EWSA empfiehlt, dass die nationalen Regierungen der verhandelnden Länder:

schriftliche politische Leitlinien für den Zugang zu und die Offenlegung von Informationen über die Verhandlungen verabschieden und veröffentlichen und dabei für Folgendes sorgen:

transparente und öffentlich zugängliche Verhandlungsstrukturen, -verfahren und -zeitpläne;

die nationalen Verhandlungspositionen werden den Parlamentsmitgliedern zugänglich gemacht und zumindest ihre Zusammenfassungen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt;

Vertreter der Zivilgesellschaft, einschließlich der Sozialpartner, auffordern, an sämtlichen Expertengruppen, Arbeitsgruppen zu den einzelnen Kapiteln und Sitzungen des Kernverhandlungsteams mitzuwirken, wenn sie von den Beitrittsfragen betroffen sind;

ihre nationalen Prioritäten vor Verhandlungsbeginn festlegen, um das Kernverhandlungsteam dabei zu unterstützen, vorrangige Bereiche wirksamer zu verteidigen und somit bessere Verhandlungsergebnisse zu erzielen;

bei der Vorbereitung der nationalen Verhandlungspositionen und der rechtlichen Harmonisierung Gesetzesfolgenabschätzungen (GFA) vornehmen, um Anpassungsrisiken zu ermitteln; bei der Durchführung von Gesetzesfolgenabschätzungen nichtstaatliche Akteure einbinden, einschließlich Unternehmen, Gewerkschaften und Vertretern betroffener sozialer Gruppen;

die Sozialpartner und Unternehmensverbände enger in die wirtschaftspolitische Steuerung und die Arbeitsmarktreformen sowie in die Berechnung der sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Harmonisierung einbeziehen und dabei dafür sorgen, dass Bedenken hinsichtlich des sozialen Zusammenhalts und der Wettbewerbsfähigkeit Rechnung getragen wird;

bei der Programmierung der Heranführungshilfe, mit der den Bedürfnissen der Sozialpartner entsprochen werden soll, die Wirtschafts- und Sozialräte einbeziehen;

die Sozialpartner und andere relevante Interessenträger wie Unternehmensverbände in die technische Unterstützung und die Finanzierungsprogramme, die der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt werden, einbeziehen;

sicherstellen, dass die nationalen Parlamente auf zeitlich und strategisch angemessene Weise eine proaktive Beratungs- und Aufsichtsfunktion im Beitrittsprozess ausüben;

davon absehen, die Mitglieder der Gemeinsamen Beratenden Ausschüsse wie früher wieder direkt zu benennen, sondern stattdessen bei der Bewerberauswahl auf integrative und transparente Verfahren unter Einbeziehung der Wirtschafts- und Sozialräte und der nationalen Beratungsgremien für die Zivilgesellschaft zurückgreifen.

1.5

Empfehlungen für den EWSA:

Die Gemischten Beratenden Ausschüsse (GBA) sollten „Nischen“, die noch nicht von anderen Gremien im Verhandlungsprozess besetzt sind, einnehmen und sich auf einige ausgewählte Bereiche konzentrieren, insbesondere die vier übergeordneten Themen der aktuellen Erweiterungsstrategie — Rechtstaatlichkeit, wirtschaftliche Steuerung, Stärkung der demokratischen Institutionen und Grundrechte sowie Vertiefung des zivilen und des sozialen Dialogs;

die GBA sollten ihre Kontakte zu den Interessenträgern der nationalen und anderen Ebenen weitestgehend ausbauen, und zwar durch öffentliche Anhörungen, Online-Konsultationen und die Zusammenarbeit mit nationalen TACSO (3)-Beratern und zentralen Politiküberwachungsprojekten;

der Informationsaustausch zwischen den GBA und der Kommission, dem Rat und den entsprechenden Gremien des Europäischen Parlaments sollte verbessert werden, um die Kommunikation zwischen den EU-Institutionen und den Akteuren der Zivilgesellschaft in den Beitrittsländern zu erleichtern;

es sollten dringend Maßnahmen ergriffen werden, um ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen EWSA-Mitgliedern in den GBA zu fördern und zu unterstützen.

2.   Wichtigste Merkmale und Veränderungen der EU-Erweiterungspolitik in den letzten fünf Jahren

2.1

Während man über einige ihrer langfristigen gesellschaftlichen und politischen Folgen geteilter Meinung sein kann, hat die Erweiterungspolitik der EU eindeutig dazu beigetragen, die Veränderung der staatlichen Ordnung hin zu einer Marktwirtschaft und einer freiheitlichen Demokratie zu beschleunigen und die regionale Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit auf dem Westbalkan zu stärken. Hinsichtlich des Bandbreite der Verhandlungen sind die Übergangsfristen für die Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften eine entscheidende Frage, ebenso wie die der EU und den Beitrittsländern hierdurch entstehenden Kosten. Da die Eröffnung und Schließung jedes Verhandlungskapitels ein einstimmiges Votum im Rat voraussetzt, können das Tempo und der Zeitplan der Verhandlungen im Hinblick auf mögliche Auswirkungen der nationalen Politik in einem oder mehreren Mitgliedstaaten äußerst schwer vorhersehbar sein.

2.2

Die EU hat sich als offen für Verbesserungen und Anpassungen im Verhandlungsprozess in Reaktion auf neue politische Gegebenheiten erwiesen. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die aktuellen Verhandlungsmethoden im Lauf der Jahre auf der Grundlage des Ansatzes „Lernen durch Praxis“ erheblich weiterentwickelt haben.

2.3

In der Kommissionsmitteilung Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2013-2014  (4) wird erklärt, dass „eine zentrale Erkenntnis aus der Vergangenheit (...) darin (besteht), dass Grundprinzipien Vorrang haben“, angefangen bei der „Rechtstaatlichkeit, die im Mittelpunkt des Erweiterungsprozesses“ steht. Dies ist ein bedeutender Strategiewechsel von spezifischen Politikanpassungen hin zum umfassenderen Aspekt des demokratischen Regierens, das letztlich als Voraussetzung für eine bedeutsame und nachhaltige Angleichung der Politikbereiche an den EU-Besitzstand aufgefasst wird. Dementsprechend will die Kommission bei den laufenden Beitrittsverhandlungen (Montenegro, Serbien, Türkei) die Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) während der gesamten Beitrittsverhandlungen, deren Fortgang durchaus von den bei diesen kritischen Kapiteln erzielten Fortschritten abhängen könnte, offen lassen.

2.4

Einerseits sind die geänderten Verhandlungsmethoden des Beitrittsverfahrens ein Zeichen für die Flexibilität der EU und für ihr ernsthaftes Bemühen um effektive Verhandlungen. Die verstärkte Aufmerksamkeit für eine „faktengestützte“ Erweiterung hat die Position der nichtstaatlichen Akteure gestärkt, die wertvolle unabhängige Informationen für die regelmäßigen Bewertungen der Kommission in ihren Zwischenberichten liefern können. Andererseits können die eingeführten Änderungen vornehmlich als Zeichen dafür verstanden werden, dass die EU zwar Fakten benötigt, dabei aber den Verwaltungsaufwand übersieht, den sie den verhandelnden Ländern auferlegt, es sei denn, es gibt eindeutige Verfahren für die Erhebung von Daten und für das Engagement der Interessenträger.

2.5

Der Verhandlungsrahmen für Serbien  (5) enthält erstmals einen expliziten Hinweis auf das Prinzip der Teilhabe und der Transparenz: „Um das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Beitrittsprozess zu stärken, werden die Beschlüsse im Hinblick auf ein größeres Maß an Transparenz auf möglichst offene Art und Weise gefasst. Die internen Konsultationen und Beratungen werden so weit wie nötig geschützt, um die Beschlussfassung im Einklang mit den Rechtsvorschriften der EU über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten in allen Tätigkeitsbereichen der Union abzusichern.“ Dies sind wichtige Erkenntnisse aus dem Fall Kroatien — wo die Wahlbeteiligung an dem Referendum über den EU-Beitritt einen historischen Tiefstand erreichte (43 %) — und stellt im Falle von Montenegro einen Schritt hin zur Formalisierung einer Reihe verbesserter Verfahrensweisen dar.

2.6

Zur stärkeren Ausrichtung der EU auf die wirtschaftspolitische Steuerung zählt die Einführung nationaler Wirtschaftsreformstrategien und -aktionspläne für die öffentliche Finanzverwaltung in der Hoffnung, dass durch frühzeitigere Information und die makroökonomische Überwachung eine langandauernde Rezession und ein übermäßiges Defizit vermieden werden können, die in Kroatien unmittelbar nach dessen EU-Beitritt zu beobachten waren. Dementsprechend sollen die Erweiterungsländer einer Prüfung unterzogen werden, die mit der Prüfung der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen des „Europäischen Semesters“ vergleichbar ist. Es ist wesentlich, die rechtzeitige Vorbereitung der Geschäftswelt zu gewährleisten, um Unternehmen dabei zu helfen, wettbewerbsfähiger zu werden und sich im EU-Binnenmarkt zu behaupten, wobei die Einbeziehung der Sozialpartner für die Bewertung und Vereinbarung der sozialen Dimension der Wirtschaftsreformen von entscheidender Bedeutung ist.

2.7

Entsprechend den Leitlinien der GD Erweiterung für die Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Beitrittsländern, 2014-2020  (6), ist eine lebendige Zivilgesellschaft entscheidend für die Anregung des Pluralismus und der partizipativen Demokratie. Die Unterstützung der Zivilgesellschaft durch die EU sollte daher darauf ausgerichtet sein, (1) ein für die Tätigkeiten der Zivilgesellschaft förderliches Umfeld zu schaffen und (2) die Fähigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen zu stärken, damit sie als effiziente und verantwortungsvolle unabhängige Akteure wirken können. Diese Leitlinien können durchaus ein nützliches Instrument für die Einbindung der Zivilgesellschaft sein, vorausgesetzt, dass sie ihren ambitionierten Zielen entsprechend umgesetzt werden.

2.8

Bislang ist es im Rahmen der Erweiterungspolitik nicht gelungen, die Aufgabe der Information der EU-Bürger über deren grundlegende Bedeutung für Sicherheit und Wohlstand des gesamten Kontinents in vollem Umfang zu erfüllen; dies könnte auch die Ängste vor einer weiteren Erweiterung zerstreuen, die zusammen mit anderen Formen der Fremdenfeindlichkeit gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise auftreten können. Angesichts der verblassenden Erinnerungen an die Balkankriege kann die aktuelle Ukraine-Krise als Mahnung dienen, dass sich ein Mangel an Frieden und Demokratie auf uns alle auswirken kann.

3.   Öffentlicher Zugang zu Verhandlungsdokumenten

3.1

Auch wenn der Beitrittsprozess keine Konditionalität in den Bereichen Transparenz und Teilhabe vorsieht, nehmen die entsprechenden Erwartungen der Öffentlichkeit in denjenigen Ländern zu, die über ihren EU-Beitritt verhandeln. Im Falle Kroatiens fehlte es an Informationen über die technischen Verhandlungsschritte: Ein Protokoll über die interne politische Koordinierung bezüglich der EU-Verhandlungspositionen wurde zwar angenommen, doch nie im Amtsblatt veröffentlicht. Außer Legislativentwürfen wurden sämtliche Dokumente der kroatischen Regierung über die EU-Beitrittsverhandlungen in Regierungssitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit erörtert und angenommen. Dies bedeutet, dass die Öffentlichkeit die nicht als Verschlusssachen eingestuften Dokumente nicht einmal beantragen konnte, weil es keine offizielle Information über deren Existenz gab. Mehrere Jahre lang musste die Zivilgesellschaft Druck ausüben, bis die Regierung damit begann, grundlegende Informationen über die in den Sitzungen erörterten Dokumente zu veröffentlichen.

3.2

In puncto parlamentarischer Kontrolle waren die vorbildlichen Verfahrensweisen Sloweniens beispiellos — das nationale Parlament hatte das Recht, sein Veto gegen bestimmte Verhandlungspositionen einzulegen (7), die außerdem der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Das kroatische Parlament fungierte während der sechs Jahre andauernden, zähen EU-Beitrittsverhandlungen kompetent als Hüter des politischen Konsenses, es gelang ihm jedoch nicht, Impulse für ein umfassenderes Engagement der Parlamentarier, der Sachverständigen und der breiten Öffentlichkeit in den politischen Beratungen zu geben. Die Verhandlungspositionen und die Berichte waren nur Regierungsvertretern sowie ausgewählten Gruppen von Mitgliedern des nationalen Parlamentsausschusses für die Überwachung der Beitrittsverhandlungen zugänglich, was praktisch zum Ausschluss der großen Mehrheit der Parlamentarier und natürlich der breiten Öffentlichkeit führte. Dieses Szenario darf sich den anstehenden Verhandlungsrunden nicht wiederholen.

3.3

Die rechtzeitige Einbindung der nichtstaatlichen Akteure und der Medien in den Verhandlungsprozess sowie dessen Überwachung durch unabhängige Akteure wurden auch dadurch behindert, dass die von der Europäischen Kommission und dem Rat erstellten Dokumente (z. B. gemeinsame Standpunkte) nicht Eigentum der Republik Kroatien waren. Daher teilte die kroatische Regierung mit, sie sei zur Freigabe dieser Dokumente nicht befugt. Damit einher ging ein Mangel an proaktiver Freigabe durch die EU-Institutionen (8).

3.4

Im Falle Montenegros hat sich die Freigabe verhandlungsbezogener Dokumente deutlich verbessert. Die Kommission hat sämtliche Prüfberichte auf ihrer Website veröffentlicht, die allen Interessenträgern als wertvolle „Diagnoseinstrumente“ bei Verstößen der nationalen Rechtsvorschriften gegen den gemeinsamen Besitzstand der EU dienen können. Darüber hinaus hat der Rat angesichts der Bedeutung und des Interesses der Allgemeinheit an den betreffenden Reformen die gemeinsamen Standpunkte der EU zu Kapitel 23 und 24 von sich aus veröffentlicht. Es bleibt abzuwarten, ob diese vorbildliche Verfahrensweise sich in einer Politik niederschlagen wird, die im Falle Serbiens und der Türkei oder bezüglich der bereits eröffneten Kapitel verfolgt werden soll. Darüber hinaus gibt es keinen formellen Grund dafür, warum der Rat die Benchmarks für die Verhandlungseröffnung nicht veröffentlichen können sollte, sobald sie einstimmig gebilligt werden. Ein rechtzeitiger Zugang zu diesen wesentlichen Verhandlungsdokumenten ist für eine Mitwirkung und einen Beitrag der Zivilgesellschaft, eine informierte Berichterstattung in den Medien und für eine unabhängige Überwachung der Maßnahmen, welche die Regierungen zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen ergreifen, von entscheidender Bedeutung.

3.5

Die Kommission hat aus den letzten Erweiterungsrunden Lehren gezogen und ist sich der entscheidenden Rolle der unabhängigen und professionellen Medien stärker bewusst geworden, wie sich an der Veranstaltung zweiter Konferenzen unter dem Titel „Speak-Up“ (2011, 2013) und der Annahme der Richtlinien für die EU-Unterstützung der Medienfreiheit und Medienintegrität in Erweiterungsländern 2014-2020 als Grundlage für Mittelzuweisungen zeigt. Eine Herausforderung besteht jedoch weiterhin in der Frage, wie durch die Medien die Zielgruppen in der EU erreicht werden können, die auch über die Bedeutung und Entwicklung der Erweiterungspolitik angemessen informiert werden müssen.

4.   Die Rolle der Zivilgesellschaft im Beitrittsprozess

4.1

Die Teilhabe der Zivilgesellschaft am Beitrittsprozess besteht in (1) der unmittelbaren Beteiligung an den eigentlichen Verhandlungen (d. h. Screening, Vorbereitung der nationalen Standpunkte, Übersicht über die Fortschritte), (2) dem sozialen und zivilen Dialog im Zusammenhang mit der Politikgestaltung und Angleichung der Rechtsvorschriften an den gemeinsamen Besitzstand, (3) der Programmierung der Heranführungshilfe, (4) der unabhängigen Überwachung der Fortschritte und sozialen Auswirkungen der Reformprozesse. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben erfordert eine angemessene finanzielle Unterstützung durch die nationalen Regierungen und die EU-Heranführungshilfe.

4.2

In den Arbeitsgruppen Kroatiens und Montenegros für die Vorbereitung der Verhandlungspositionen waren Experten der Zivilgesellschaft stark vertreten (rund ein Drittel der Mitglieder). In beiden Fällen stand die Bewerbung um die Teilnahme jedem offen, und die Namen der Mitglieder der Arbeitsgruppen wurden veröffentlicht. Im Fall Kroatiens hing das Maß der Beteiligung allerdings weitgehend vom Führungsstil in den einzelnen Gruppen ab: In einigen Fällen hatten die zivilgesellschaftlichen Mitglieder keine Gelegenheit, den erforderlichen Entwurf der Verhandlungspositionen einzusehen. Dementsprechend leistete die Zivilgesellschaft vor allem einen Beitrag zur ersten Screening-Phase, hatte aber wenig Einfluss auf die Gestaltung der Verhandlungsstrategie und eine frühzeitige Kosten-Nutzen-Abschätzung unter sozialen und wirtschaftlichen Kriterien.

4.3

Um Daten über die Fortschritte bei beitrittsbezogenen Reformen zu sammeln, stellten die EU-Institutionen mehrere Kanäle für die Konsultation der Zivilgesellschaft bereit, einschließlich Online-Korrespondenz, jährlicher Anhörungen der Zivilgesellschaft in Brüssel, Sitzungen in den Ländern, Unterrichtungen und öffentliche Veranstaltungen im Rahmen der Besuche von EU-Vertretern. Die Kommission war darüber hinaus offen für unabhängige Überwachungsberichte zivilgesellschaftlicher Organisationen. Allerdings ist sie zugegebenermaßen viel mehr auf NGO zugegangen als auf Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände. Deutlich wird dies sowohl aus der Ebene der Kontakte als auch aus dem Umfang und der Zielsetzung von Heranführungshilfen für den Aufbau von Kapazitäten und die Überwachung der Maßnahmen.

4.4

Der Beitrittsprozess Kroatiens ist rückblickend betrachtet eine verpasste Gelegenheit, den sozialen Dialog im Land im Zusammenhang mit seinem EU-Beitritt zu stärken, was dazu beitragen hätte können, effektive und nachhaltige Bedingungen für die EU-Mitgliedschaft Kroatiens zu gewährleisten, wie im Falle Bulgariens geschehen. Nationale Wirtschafts- und Sozialräte wurden nicht in ausreichendem Maße genutzt, um die Kosten für soziale und wirtschaftliche Anpassungen und Fördermaßnahmen oder die Programmierung der Heranführungshilfe zu diskutieren. Für die Stärkung der Gremien des sozialen Dialogs und der organisatorischen Kapazitäten der Sozialpartner wurden nur sehr wenige Mittel aus der Heranführungshilfe eingesetzt. Die Kapillarstruktur der Unternehmensverbände und Gewerkschaften sollte stärker als zentrale Möglichkeit für die Erörterung der Kosten und Vorteile des Beitritts und die rechtzeitige Vorbereitung der Wirtschaft genutzt werden.

4.5

Bei der Politikgestaltung wurden im Falle Kroatiens — in Übereinstimmung mit den negativen Tendenzen in früheren Verhandlungsrunden — über 80 % der EU-spezifischen Rechtvorschriften „durchgepeitscht“, oft ohne öffentliche Konsultation und nur mit einem Minimum an Gesetzesfolgenabschätzungen, was die Qualität und Transparenz der Rechtsetzung beeinträchtigt hat (9). In Kroatien erfolgte die Programmierung der Heranführungshilfe für die Entwicklung der Zivilgesellschaft über einen institutionellen partizipativen Prozess, der vom Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft mit technischer Unterstützung durch die Regierungsstelle für die Zivilgesellschaft gelenkt wurde. Das hat zur Entwicklung äußerst relevanter Förderprogramme für eine unabhängige Politiküberwachung in einer Reihe maßgeblicher Reformbereiche geführt und eine wichtige Mitsprache der Sozialpartner bei der Zuweisung von Mitteln zur Stärkung der Zuständigkeiten für den sozialen Dialog ermöglicht. Es gilt, den Widerspruch zwischen den beiden zuvor beschriebenen Prozessen zu vermeiden und dem inklusiven Ansatz bei der Politikgestaltung in künftigen Erweiterungsprozessen stets Vorrang einzuräumen.

5.   Die Rolle des EWSA bei der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements im Beitrittsprozess

5.1

Als starker Verfechter der Erweiterungspolitik hat der EWSA Gemischte Beratende Ausschüsse (GBA) eingesetzt, bei denen zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengebracht werden, um Empfehlungen für die politischen Entscheidungsträger beider Seiten zu erarbeiten und die öffentliche Debatte über die EU-Integration in den Erweiterungsländern zu fördern. In diesen Gremien konnten fundierte Diskussionen über die Verhandlungen aus mehreren Perspektiven geführt sowie die Folgen der Übernahme von EU-Rechtsvorschriften für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche ermittelt und gleichzeitig die Teilhabe der Zivilgesellschaft am Prozess gefördert werden. Über die GBA hinaus dient das Forum der Zivilgesellschaft der Westbalkanländer als regionale Plattform für Botschaften an die politischen Organe und zur Pflege von Kontakten unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Westbalkanländer sowie für Analysen der wichtigen Probleme der Zivilgesellschaft in der Region.

5.2

Nachfolgend werden einige Herausforderungen im Rahmen der Arbeit der GBA aufgeführt:

Regierungen neigen dazu, das Verfahren zur Ernennung von GBA-Mitglieder zu stark zu beeinflussen;

es hat Störungen in der Arbeit und den Beziehungen wegen erheblicher Änderungen bei der Teilnahme von EWSA-Mitgliedern an einzelnen GBA gegeben; gleichzeitig hat der sehr geringe Personalwechsel seitens der Partnerländer möglicherweise die Einbeziehung neuer Organisationen verhindert;

die GBA haben geringe organisatorische Möglichkeiten, einen größeren Kreis lokaler Organisationen der Zivilgesellschaft zu erreichen, insbesondere außerhalb von Haupt- und Großstädten;

tendenziell gibt es mehr männliche EWSA-Mitglieder in den GBA als weibliche (der Anteil liegt derzeit bei ca. 78 %). Es besteht also ein erhebliches Ungleichgewicht der Geschlechter; der EWSA wird dringend ersucht, Maßnahmen zur Behebung dieser unbefriedigenden Situation zu ermitteln und umzusetzen.

5.3

Eine stärkere Sensibilisierung für die Rolle der Zivilgesellschaft und die Einbeziehung der Sozialpartner in den Beitrittsprozess ist sowohl eine Aufgabe als auch eine Herausforderung für den EWSA. In einigen Ländern hegen die Regierungen noch immer Vorbehalte gegenüber der Zivilgesellschaft, so dass die Empfehlungen der GBA nur geringe Resonanz gefunden haben. Allerdings haben die GBA Möglichkeiten für den unmittelbaren Austausch zwischen Zivilgesellschaft sowie Politikern und Vertreter der EU- und nationalen Ebene geschaffen, wenngleich mit nur geringem Einfluss auf die Regierungspolitik. Angesichts dessen würden die GBA in hohem Maße von einer stärkeren Unterstützung durch und einer engeren Zusammenarbeit mit Kommission, Rat und EP profitieren und es ermöglichen, dass die wichtigsten Bedenken hinsichtlich der nationalen Aspekte des Beitritts im Rahmen des zivilen und sozialen Dialogs in den Ländern auf sämtlichen relevanten politischen Schauplätzen Berücksichtigung finden.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/civil_society/doc_guidelines_cs_support.pdf

(2)  http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/press_corner/elarg-guidelines-for-media-freedom-and-integrity_210214.pdf

(3)  TACSO ist ein durch die EU finanziertes Projekt für die technische Unterstützung zur Entwicklung der Zivilgesellschaft in den Beitrittsländern, http://www.tacso.org/

(4)  COM(2013) 700 final.

(5)  http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=DE&t=PDF&gc=true&sc=false&f=AD%201%202014%20INIT

(6)  Siehe Fußnote 2.

(7)  http://www.ijf.hr/eng/EU4/marsic.pdf

(8)  In der Praxis hat der Rat beitrittsbezogene Dokumente auf Antrag und nach Herausnahme sensibler Informationen — hauptsächlich zu Positionen und Dokumenten der Mitgliedstaaten — mit der Begründung freigegeben, dass sie zwischenstaatliche Konsultationen erfordern und internationale Beziehungen entsprechend Artikel 4 der Verordnung (EC) Nr. 1049/2001 vom 30. Mai 2001 betreffen. Auch durch die Klassifizierungsmethode des Rates wird der Zugang zu beitrittsbezogenen Informationen im Europäischen Parlament beschränkt; dort gibt es spezielle separate Räume für die Aufbewahrung von Verschlusssachen und Einsichtnahme in solche Dokumente.

(9)  SIGMA-Bewertungsbericht Kroatien, Mai 2011.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

500. Plenartagung des EWSA vom 9./10. Juli 2014

16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Kreditinstituten in der Union

COM(2014) 43 final — 2014/0020 (COD)

(2014/C 451/07)

Berichterstatter:

Edgardo Maria IOZIA

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 25. Februar 2014 bzw. am 27. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Kreditinstituten in der Union.

COM(2014) 43 final — 2014/0020 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 97 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt nachdrücklich die Strukturreform des Bankensystems, die er für die entscheidende Reform unter den vielen im Gefolge der Finanzkrise ergriffenen legislativen Maßnahmen erachtet. Der EWSA unterstreicht, dass mit dieser Reform erstmals eine tiefgreifende Regulierung des Herzstücks des Bankensystems und die Vollendung der Bankenunion in Angriff genommen werden. Außerdem kann sie ein wichtiger Beitrag zur Wiederherstellung des Vertrauens der Unternehmen und der Öffentlichkeit sein und im Interesse einer angemessenen Finanzierung der Wirtschaft zur Stärkung des europäischen Bankensystems und zur Senkung der Ansteckungsgefahr beitragen.

1.2

Eine solche Regulierung, mit der die Steuerung eines komplexen Systems von Bank- und Finanzdienstleistungen neu ausgerichtet wird, ist nach Auffassung des EWSA absolut notwendig. Dem Ausschuss ist es klar, dass der Verordnungsvorschlag für die Verhinderung einer weiteren Krise nicht ausreicht. Dafür wären ein maßgeblicher Wandel in der Finanzkultur und das Aufstellen ethischer Grundsätze für die Alltagsaktivitäten des Finanzsektors erforderlich. Alle Akteure sollten an dem Aufbau eines neuen Finanz- und Wirtschaftssystem beteiligt werden, um einen nachhaltigen und widerstandsfähigen Finanzsektor zu schaffen und eine optimale Balance zwischen den Interessen aller Beteiligten zu finden. Der EWSA unterstützt und befürwortet zu diesem Zweck eine umfassende Vereinbarung zur Wiederankurbelung der Wirtschaftstätigkeit und zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Finanzinstitute und fordert die Kommission auf, einen europäischen Sozialpakt für ein nachhaltiges Finanzwesen zu fördern. Beschäftigte, Management, Anteilseigner, Investoren, Haushalte, KMU, Industriebetriebe und Geschäftskunden sollten ein stabiles und faires Übereinkommen zur Schaffung einer Finanzdienstleistungsbranche treffen, die auf Schaffung von Wohlstand, Unterstützung der Realwirtschaft, Wachstum und hochwertige Arbeitsplätze sowie auf Schonung der Umwelt und Vermeidung unerwünschter negativer sozialer Auswirkungen ausgerichtet ist.

1.3

Der EWSA betont, dass die Einheitlichkeit der Bewertungskriterien der nationalen Behörden gewährleistet sein muss, und empfiehlt die einheitliche Anwendung der Regulierung auf europäischer Ebene sowie ihre eventuelle Abstimmung mit den nationalen Behörden der Drittländer.

1.4

Der EWSA ist befremdet angesichts der Entscheidung, ein Nebeneinander unterschiedlicher nationaler Regelungen parallel zur EU-Regelung zuzulassen. Seiner Meinung nach kann bei einer derartigen Architektur die einheitliche Anwendung der neuen Vorschriften möglicherweise nicht gewährleistet werden. Er begrüßt, dass diese Ausnahmeregelung nur für die zum Zeitpunkt des Verordnungsvorschlags bereits bestehenden Rechtsvorschriften vorgesehen wird, sofern die absolute Gleichwertigkeit mit der hier erörterten Verordnung gewährleistet ist.

1.5

Der EWSA hält den Kommissionsvorschlag für eine wirkungsvolle und effiziente Maßnahme, um Geschäftsbankenaktivitäten vom Investmentbanking zu trennen. Die vorgeschlagene Lösung basiert im Vergleich zu den von den verschiedenen Ländern vorgesehenen Alternativen auf einem dialektischen Bewertungsprozess. Damit kann das Universalbankenmodell gewahrt und beibehalten werden, indem lediglich bei den übermäßigen Risiken dieses Modells angesetzt wird.

1.6

Der EWSA betont, dass die Beschäftigungswirkung der vorgeschlagenen Rechtsvorschrift nicht angemessen berücksichtigt wurde. Hunderttausende von Arbeitsplätzen könnten aufgrund der gesamten Regulierung der Finanzdienstleistungen verloren gehen, und es ist nicht hinnehmbar, dass keine Maßnahmen vorgesehen wurden, um die erheblichen direkten und indirekten sozialen Folgen abzufedern. Die hier erörterte Verordnung hat zwar möglicherweise nur begrenzte unmittelbare Folgen, aber ihre potenziellen Auswirkungen auf die Vermögenswerte der Unternehmen könnten auf das gesamte Finanzsystem durchschlagen. Andererseits wird zu Recht anerkannt, dass das geringere Risiko der Banken der gesamten Realwirtschaft und zweifelsohne der Beschäftigung im Allgemeinen zugute kommen wird.

1.7

Zudem wird ernsthaft befürchtet, dass die Arbeitnehmer den Preis für den Kostenanstieg zu zahlen haben. Obschon die Kommission diesen Aspekt in ihrer Folgenabschätzung berücksichtigt hat, scheint sie das Problem bei der Reform kaum berücksichtigt zu haben. Es stimmt zwar, dass die Reform die weniger arbeitsintensiven Tätigkeitsbereiche betrifft, aber ihre indirekten Auswirkungen werden zu Kostensenkungsmaßnahmen führen, die sich — wie von wichtigen Bankinstituten angekündigt — in einem neuerlichen Abbau von Arbeitsplätzen niederschlagen könnten.

1.8

Es sind zahlreiche Kräfte (Finanzlobbys, große Mitgliedstaaten, Verbraucher und Investoren, Privathaushalte, kleine und große Unternehmen, Verbände usw.) mit sehr unterschiedlichen Interessen im Spiel. Die Lehre einer Vergangenheit, in der die vom Finanzsystem diktierte Logik im Vordergrund stand, sollte mittlerweile klar sein: Das öffentliche Interesse muss im Vordergrund stehen. Der EWSA empfiehlt daher einen Kurswechsel. Das gemeinsame Interesse muss unter Ausgleich der Interessen aller Beteiligter in den Mittelpunkt gestellt werden. Er ist fest davon überzeugt, dass die Reform nur so wirksam greifen kann.

1.9

Nach Auffassung des EWSA setzt ein nachhaltiges Finanzsystem einen entschleunigten Finanzsektor voraus, der die Logik des kurzfristigen Profits um jeden Preis zugunsten einer Logik der langfristigen Effizienz und Stabilität aufgibt. Diese Verordnung schlägt einen Wandel des Geschäftsmodells vor.

1.10

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Kommission den Investoren und den Arbeitnehmern, die bei der Reform bislang kaum berücksichtigt wurden, mehr Aufmerksamkeit schenken muss. Auf lange Sicht wird die Nachhaltigkeit des Systems durch die Herstellung von neuem Vertrauen gewährleistet, indem ein sichereres Umfeld sowohl für die Investoren als auch die Arbeitnehmer als den vom Risikomanagement Betroffenen geschaffen wird.

1.11

Der EWSA betrachtet die flexible Anwendung der Regelung als einen gerechtfertigten und wünschenswerten Grundsatz. Durch die Artenvielfalt (1) im Bankenwesen wird die Stabilität und Wirksamkeit des Systems gewährleistet. Der EWSA möchte jedoch klarstellen, dass dies nicht mit Regelungswillkür verwechselt werden darf.

1.12

Der EWSA empfiehlt der Kommission, in ihre Folgenabschätzung eine detaillierte Bewertung der Wechselwirkung zwischen den zentralen Vorschlägen der Verordnung mit anderen neueren Initiativen wie die Eigenkapitalrichtlinie für Banken (CDR IV), die Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Banken (BRRD), die Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten (SRM) usw. aufzunehmen und die Gefahren einer Verlagerung in das Schattenbankenwesen zu untersuchen.

1.13

Der EWSA empfiehlt eine intensive Zusammenarbeit und Koordinierung bei den Aufsichtstätigkeiten zwischen der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA) und den nationalen Behörden, die die Märkte gut kennen und bei der Verwaltung des europäischen Finanzwesens nach der Reform eine wichtige Rolle spielen werden.

2.   Die vorgeschlagene Verordnung

2.1

Laut Kommission ist dieser Vorschlag ein zentraler Bestandteil der Maßnahmen, mit denen die Union auf das „too big to fail“-Dilemma reagiert, und soll nicht beherrschte und nicht geregelte Risiken im Bankenwesen der Union verhindern. Die Ausweitung rein spekulativer Tätigkeiten wird dadurch eingedämmt.

2.2

Mit der vorgeschlagenen Verordnung sollen Systemrisiken, finanzielle Schieflagen oder Ausfälle von großen, komplexen und miteinander verknüpften Unternehmen im Finanzsystem, insbesondere von Kreditinstituten, verhindert und folgende Ziele erreicht werden:

(a)

die übermäßige Risikobereitschaft innerhalb eines Kreditinstituts einzudämmen;

(b)

wesentliche Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Teilen eines Kreditinstituts zu beseitigen;

(c)

die Fehlallokation von Ressourcen zu verhindern und die Kreditvergabe an die Realwirtschaft zu fördern;

(d)

zu verzerrungsfreien Wettbewerbsbedingungen für alle Kreditinstitute im Binnenmarkt beizutragen;

(e)

Verknüpfungen innerhalb des Finanzsektors, die Systemrisiken beinhalten können, zu mindern;

(f)

die effiziente Unternehmensführung, Beobachtung und Beaufsichtigung eines Kreditinstituts sicherzustellen;

(g)

die geordnete Abwicklung und Sanierung einer Gruppe zu erleichtern.

Die vorgeschlagene Verordnung regelt:

(h)

das Verbot des Eigenhandels;

(i)

die Abtrennung bestimmter Handelstätigkeiten.

2.3

Andere Arten zusätzlicher Finanzdienstleistungen und -produkte (Verbriefung, Unternehmensanleihen, Derivate usw.) sollten daher weiterhin erlaubt sein.

3.   Vorbemerkungen

3.1

Schätzungen der Kommission zufolge hat die Finanzkrise die EU-Mitgliedstaaten ca. 1,6 Billionen EUR (13 % des BIP der EU) an staatlichen Beihilfen für Rettungsaktionen im Finanzsektor gekostet.

3.2

Im Bankensektor ist die Konzentration besonders hoch: 14 europäische Bankengruppen stehen auf der Liste der weltweit systemrelevanten Finanzinstitute (SIFI); 15 europäische Bankengruppen halten einen Anteil von 43 % des gesamten Marktvolumens (was 150 % des BIP der EU-27 entspricht), die 30 größten Gruppen halten einen Anteil von 65 %!

3.3

Die Finanzkrise, die in den USA entstanden und dann wie ein Tsunami über das europäische System hereingebrochen ist, ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, hauptsächlich auf übermäßige Risikobereitschaft, übermäßige Hebelung, unzureichende Kapital- und Liquiditätsanforderungen und eine übermäßige Komplexität des gesamten Bankensystems.

3.3.1

Die Liikanen-Gruppe stellte im Oktober 2012 fest: „dass für Bankengruppen eine rechtliche Trennung bestimmter besonders risikoreicher Finanzgeschäfte vom Einlagengeschäft vorgeschrieben werden sollte. Abzutrennen wären der Eigenhandel mit Wertpapieren und Derivaten sowie bestimmte andere, eng mit den Wertpapier- und Derivatemärkten verbundene Tätigkeiten“ (2).

3.4

Mit dieser Verordnung will die Kommission die Risikomargen des Bankensystems verringern und sämtliche potenziell spekulativen Transaktionen unter Kontrolle bringen. Dies muss im Zusammenhang mit der Verordnung über Wertpapierfinanzierungsgeschäfte (3) gesehen werden, mit der die Transparenz im Bereich der so genannten „Schattenbanken“ verbessert werden soll. Es sei daran erinnert, dass diese Ende 2012 weltweit 53 Billionen EUR — die Hälfte des Gesamtvolumens des Bankensystems — verwalteten, hauptsächlich in Europa (ca. 23 Billionen EUR) und den USA (19,3 Billionen EUR). Im Vergleich zum BIP der EU-28, das 2013 nicht mehr als 13,071 Billionen EUR ausmachte (Eurostat), sind dies beeindruckende Zahlen.

3.5

In der von Arlene McCarthy ausgearbeiteten Entschließung des Europäischen Parlaments (4) werden einige Grundsätze bekräftigt und u. a. folgende Punkte festgehalten: „[...] die zentralen Grundsätze der Bankenreform [müssen] ein sicheres, stabiles und effizientes Bankensystem zum Ziel haben [...], das den Bedürfnissen der Realwirtschaft, Kunden und Verbraucher gerecht wird; [...] im Rahmen einer Strukturreform [müssen] das Wirtschaftswachstum durch die Förderung von Krediten für die Wirtschaft, insbesondere für KMU und neu gegründete Unternehmen, stimuliert [...], für eine größere Belastbarkeit bei möglichen Finanzkrisen gesorgt [...], das Vertrauen in Banken wiederhergestellt [...] und die Risiken für die öffentlichen Finanzen beseitigt werden [...]; [...] ein effektives Bankensystem [muss] zu einem Wandel der Bankenkultur führen [...], damit die Komplexität verringert, der Wettbewerb gestärkt, die wechselseitige Verbindung zwischen risikoreichen und kommerziellen Aktivitäten begrenzt, die Corporate Governance verbessert, ein verantwortungsvolles Vergütungssystem geschaffen wird, eine wirksame Sanierung und Abwicklung ermöglicht werden, das Kapital der Banken gestärkt wird und der Realwirtschaft Kredite gewährt werden.“

Die neue Aufsicht über die internationalen Märkte ist nicht nur gestärkt und verschärft daraus hervorgegangen, sondern vor allem auch mit mehr Befugnissen als zuvor, mit weniger Ermessensspielraum und besseren Garantien für den Markt und die Endverbraucher.

4.   Wesentliche Punkte der Anhörung

4.1

Der EWSA ist zwar der Ansicht, dass die Maßnahmen der Kommission in die richtige Richtung gehen, hält es jedoch für zweckdienlich, ihr einige in der Debatte mit den verschiedenen betroffenen Parteien deutlich gewordenen Punkte zu unterbreiten, die möglicherweise nicht ausreichend bedacht wurden. Der EWSA macht die Kommission daher auch auf einige zentrale Anliegen der verschiedenen Interessenträger aufmerksam. Diese entsprechen zwar nicht dem Standpunkt des EWSA als Ganzes, verdienen es aber dennoch, genau wiedergegeben zu werden.

4.2

Die zur Debatte stehende Reform wurde grundsätzlich positiv aufgenommen. Das Verbot des Eigenhandels und die Trennung zwischen traditionellem Bankengeschäft und Wertpapiergeschäft wurden von den meisten als geeignete Instrumente betrachtet, um die Spekulation mit Finanzprodukten einzudämmen und die Kreditvergabe der Banken wieder anzukurbeln, die die wichtigste Finanzierungsquelle für die KMU darstellt und wegen der Spekulationen beim Wertpapiergeschäft während der letzten Jahre stark eingeschränkt war.

4.3

Bei der Durchführung der Reform muss die Vielfalt der Geschäftsmodelle berücksichtigt werden, die es den lokalen Banken ermöglicht, die lokalen Wirtschaftssysteme auch weiterhin zu versorgen.

4.4

Besondere Beachtung verdient das Geschäftsmodell der Volks- und Genossenschaftsbanken. Es wird die Auffassung vertreten, dass die Reform für ihr spezielles Netz wenig geeignet und kaum anzupassen ist. Insbesondere wird befürchtet, dass durch die Reform ihre Arbeitsweise konterkariert und gefährdet werden könnte, dass sie tagtäglich die Realwirtschaft vor Ort unterstützen. Daher wird empfohlen, die besonderen Merkmale und die Vielfalt der Geschäftsmodelle dieser Banken zu erhalten.

4.5

Die Reform wird in Verbindung mit den weiteren, von der Kommission in den letzten Jahren ergriffenen Maßnahmen eine Verbesserung der Transparenz sowohl der einzelnen Transaktionen als auch des Bankensystems generell ermöglichen, jedoch die Kosten auf verschiedenen Ebenen insgesamt erhöhen. In diesem Zusammenhang wurde im Verlauf der Debatte deutlich, dass eine umfassende Folgenabschätzung für die Reform der Finanzregulierung erforderlich ist, wenngleich eine solche Bewertung natürlich sehr komplex ist.

4.6

Es wird befürchtet, dass diese Kosten wie so oft auf die Endverbraucher der Finanzdienstleistungen abgewälzt werden. Dabei stellt sich die Frage, ob die negativen Auswirkungen nicht die erhofften positiven Auswirkungen der neuen Maßnahmen — beispielsweise für die Sicherheit des Bankensystems — überwiegen.

4.7

Besonders was den Schutz von Whistle-Blowern angeht begrüßen der Ausschuss und die zu dieser Frage angehörten Sozialpartner die von der Kommission vorgesehenen Bestimmungen. Es wird eine bessere Definition des Begriffs „angemessener Schutz“ (Artikel 30) und eine klare Aussage bezüglich der Ausweitung der vorgesehenen Bestimmungen auf sämtliche Arbeitnehmer gefordert, um diese zur Meldung eventueller Verstöße zu ermutigen.

4.8

Bezüglich der vorgesehenen Sanktionen (Art. 28 und 29) wird empfohlen, die Verantwortung für eventuelle Verstöße vor allem der betreffenden Führungsebene der Institute und nicht einzelnen Personen zuzuweisen.

4.9

Im Hinblick auf die Vergütungsvorschriften hingegen wird gefordert, in der Verordnung ausdrücklich auf die Bestimmungen von Artikel 69 der Eigenkapitalrichtlinie (Capital Requirements Directive — CRD IV) zu verweisen.

5.   Bemerkungen des EWSA

5.1

Der EWSA befürwortet die im Kommissionsvorschlag vorgesehenen Maßnahmen und ist mit dem gewählten Rechtsinstrument der Verordnung einverstanden, da es dem angestrebten Ziel der Harmonisierung des Binnenmarkts gerecht wird und Aufsichtsarbitrage verhindert. So ist es möglich, zu einem Bankensystem zu gelangen, das wieder im Dienst der Bürger und der Gemeinschaft steht, das die Realwirtschaft, die Haushalte sowie eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft unterstützt und langfristig auf Innovation in Verbindung mit Sicherheit ausgerichtet ist.

5.2

Der EWSA hat die vorgeschlagenen Reformen entschlossen unterstützt, die daraufhin durchgeführt wurden und nun erste Früchte tragen. Mit der hier behandelten Verordnung wird einer der komplexesten und heikelsten Aspekte des gesamten Systems in Angriff genommen: die Widerstandsfähigkeit und die rechtliche Struktur der Finanzinstitute, deren Geschäftsvolumen in einigen Fällen größer ist als das BIP vieler Mitgliedstaaten. Das Gesamtgeschäftsvolumen der zehn größten europäischen Banken liegt über dem BIP der EU-28 (5) (über 15 Billionen EUR).

5.3

Mit dem Verordnungsvorschlag soll das vertrackte Problem bezüglich Größe, Verknüpfung und Komplexität einiger Kreditinstitute mit systemischer Bedeutung, d. h. die eine Systemkrise auslösen können, an der Wurzel gepackt werden. „Too big to fail“ — Banken, die zu groß sind, um scheitern zu dürfen, ist derweil zu einem Mantra geworden, das als Deckmäntelchen für Verhaltensweisen dient, die nicht nur gegen elementare ethische Grundsätze, sondern auch gegen das Recht verstoßen — wie die jüngeren und jüngsten Finanzskandale leider immer wieder belegen. Diese Verhaltensweisen werden euphemistisch als „moral hazard“, als moralisches Risiko bezeichnet.

5.4

Kommissionsmitglied Barnier hat bei der Veröffentlichung des Textes angekündigt, es solle verhindert werden, dass Banken „zu groß, um Pleite zu gehen, zu teuer, um sie retten zu können und zu komplex, um sie abzuwickeln“ sind.

5.5

Der EWSA ist der Auffassung, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen in die richtige Richtung gehen, d. h. das Risiko mindern, dass die Steuerzahler erneut ausfallende Banken retten müssen. Der EWSA hat unmittelbar nach den wiederholten Rettungsaktionen vor den negativen Folgen für die Staatsschulden und folglich vor den verheerenden Auswirkungen einer unvermeidlichen Rezession gewarnt. Leider sind die Vorhersagen mit voller Wucht eingetreten und schlimmer noch als befürchtet Realität geworden, aufgrund unglaublicher Fehler bezüglich des Multiplikatoreffekts der Haushaltssanierungen infolge nationaler Anforderungen, und auch wegen einer kurzsichtigen und falschen Politik der Union, die nicht begriffen hat, dass es einer flexiblen Politik bedarf und Maßnahmen zur Abfederung der Rezession unerlässlich sind.

5.5.1

Erst jetzt werden die durch diese Politik verursachten Schäden deutlich. Wir müssen anerkennen, dass nur die überlegte Steuerung des Euroraums durch die Europäische Zentralbank das Schlimmste verhindert und den Euro und letztlich die Union gerettet hat. Hätte man nur auf den EWSA gehört, dann hätten sich vielleicht viele Schäden vermeiden lassen!

5.6

Die Europäische Kommission weist der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) im Rahmen dieser Verordnung zu Recht eine entscheidende Funktion zu. Die EBA wird konsultiert, wenn einige in der vorgeschlagenen Verordnung vorgesehene Entscheidungen getroffen werden müssen. Außerdem soll sie damit beauftragt werden, Vorschläge für technische Regulierungs- und Durchführungsstandards zu erarbeiten. Sie wird die Kommission laufend mittels Vorlage von Berichten über die Durchführung dieser Verordnung informieren. Der EWSA hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Kommission trotz des unbestrittenen Sachverstands der EBA dieser wichtigen Behörde nicht die entsprechenden Aufgaben und Mittel zuweist.

5.7

In den USA wurde 1999 ein Gesetz verabschiedet, mit dem der Glass-Steagall Act und insbesondere die Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investmentbanken aufgehoben wurde. Leider traf die Union die gleichen fatalen Entscheidungen wie die US-Behörden. Der EWSA weist darauf hin, dass mit den neuen Bestimmungen die Trennung der beiden Geschäftsfelder de facto wieder hergestellt bzw. noch strikter gezogen wird. Denn von einigen Ausnahmen abgesehen wird den Instituten, die Einlagen entgegennehmen, verboten, Investmentgeschäfte auf eigene Rechnung zu tätigen und Handelsaktiva zu halten.

5.7.1

Es ist von zentraler Bedeutung, dass die EU eng mit Drittländern (insbesondere den USA) zusammenarbeitet, um zu einem im Wesentlichen gemeinsamen Ansatz für die Verordnung zu gelangen. Der EWSA drängt die Kommission zum Ausbau der internationalen Zusammenarbeit.

5.8

Der Verordnungsvorschlag lässt den zuständigen Behörden großen Ermessensspielraum. Diese müssen ihr Handeln und ihre Bewertungen unabdingbar auf klare, einheitliche und verlässliche Kriterien stützen, die eindeutig festlegen, wann eine Bank die hohen Risiken ihrer Handelsaktivitäten nicht mehr beherrschen kann. Ohne einen gemeinsamen Bezugsrahmen könnte die Gefahr subjektiver Auslegungen die erwünschte Wirkung im Einklang mit Artikel 114 AEUV konterkarieren.

5.9

Der EWSA begrüßt die letztliche Entscheidung der Kommission für eine ex-post-Abtrennung anstatt einer vorherigen Abtrennung von Markt- und sonstigen Eigenhandelsgeschäften. Deshalb sind die technischen Standards von entscheidender Bedeutung, für die sinnvollerweise die EBA zuständig ist. Angesichts der Anwendung der Abwicklungsvorschriften und insbesondere der Einrichtung der Abwicklungsbehörde, die vom Rat (Wirtschaft und Finanzen) im Dezember 2013 angenommen wurden, legt der EWSA nahe, bereits jetzt Verfahren zur Koordinierung und Zuordnung der Verantwortlichkeiten zwischen allen nationalen und europäischen Akteuren vorzusehen. Damit soll das Risiko sich überschneidender Entscheidungen — oder schlimmer noch widersprüchlicher Auslegungen und Bewertungen durch die zuständigen Behörden — vermieden werden. Die einheitliche Abwicklungsbehörde sollte sofort nach ihrer Einrichtung an der Konzeption des Verfahrens beteiligt werden und zusammen mit der EBA an der Festlegung technischer Standards mitwirken.

5.10

Der EWSA teilt keineswegs die Kritik, die der Kommission bezüglich der relativen Bedeutung der Aktivitäten, die Gegenstand einer Abtrennung werden könnten, gemacht wurde. In einigen Kreditinstituten hatten diese ein übergroßes Gewicht, und in Abwesenheit einer spezifischen Regelung waren diese einem enormen Risiko ausgesetzt, was zu einer vorhersehbaren und für das Zahlungssystem und die Wirtschaft im Allgemeinen verheerenden Systemkrise geführt hätte, die die letzte Finanzkrise bei Weitem übertroffen hätte. Nur gigantische Geldspritzen — auf Kosten der Bürger — und die Reaktionsfähigkeit der EZB konnten die Katastrophe verhindern.

5.11

Der EWSA begrüßt und ist der Kommission dafür dankbar, dass in die Rechtsvorschriften eine konkrete Schutzvorschrift für die Beschäftigten in diesem Sektor aufgenommen wurde, die im Falle einer Meldung von Verstößen negative Folgen zu befürchten haben. Sie kommen einer staatsbürgerlichen Pflicht nach, sind aber moralischen Repressalien ausgesetzt und verlieren mitunter den Arbeitsplatz. Diese internen Überwachungsaktivitäten, auch als Whistleblowing bekannt, müssen gefördert und unterstützt werden. Die Einhaltung der Rechtsvorschriften wird häufig vernachlässigt, sie werden umgangen oder es wird sogar gegen sie verstoßen. Dadurch sind Banken und Beschäftigte unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt. Jüngste Fälle der Aufdeckung regel- oder gesetzeswidriger Verhaltensweisen in einigen bekannten und renommierten Unternehmen konnten nur dank der aktiven Beteiligung von Mitarbeitern aufgedeckt werden!

5.11.1

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, angemessene Schutzvorschriften zu erlassen und binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung einen diesbezüglichen Bericht vorzulegen, spezifisch zu überwachen.

5.12

Der EWSA misst dem Thema der Beziehungen zu Drittländern große Bedeutung zu, insbesondere in Bezug auf Gegenseitigkeit und Einhaltung der Vorschriften durch alle auf dem Gebiet der EU aktiven Unternehmen. Der EWSA hält das Vorgehen der Kommission für ausgewogen und stimmt den diesbezüglichen Vorschlägen zu. Der EWSA empfiehlt, die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten — insbesondere im Bereich der Finanzmarktregulierung — fortzusetzen und zu verstärken, um zu möglichst homogenen Systemen zu gelangen und dieselben Probleme einheitlich anzugehen.

5.13

Der EWSA begrüßt ebenfalls, dass ein von ihm in der Vergangenheit mit Nachdruck vertretenes Anliegen in den Verordnungen der Kommission allmählich gebührend berücksichtigt wird — in diesem Falle in Bezug auf Verwaltungssanktionen, da strafrechtliche Sanktionen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegen. Die Vorschläge der Kommission erscheinen verhältnismäßig, angemessen und von abschreckender Wirkung.

5.14

Der EWSA hat bereits mehrfach seine Vorbehalte gegen die Verwendung delegierter Rechtsakte geäußert. Er räumt zwar ihre Bedeutung für die allmähliche Anpassung der Rechtsvorschriften ein, gibt allerdings zu bedenken, dass es durch das System der delegierten Rechtsakte zu Unsicherheiten kommt, die in diesem Bereich nicht wünschenswert sind.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 84.

(2)  http://ec.europa.eu/internal_market/bank/docs/high-level_expert_group/report_en.pdf

(3)  COM(2014) 40 final.

(4)  http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+COMPARL+PE-506.244+01+DOC+PDF+V0//DE&language=DE (2013/2021(INI).

(5)  http://www.relbanks.com/top-european-banks/assets


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission „Fahrplan für die Vollendung des Binnenmarkts für die Paketzustellung — Stärkung des Vertrauens in die Zustelldienste und Förderung des Online-Handels“

COM(2013) 886 final

(2014/C 451/08)

Berichterstatterin:

Daniela RONDINELLI

Die Europäische Kommission beschloss am 16. Dezember 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission „Fahrplan für die Vollendung des Binnenmarkts für die Paketzustellung — Stärkung des Vertrauens in die Zustelldienste und Förderung des Online-Handels“.

COM(2013) 886 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 107 gegen 2 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Fahrplan zur Vollendung des Binnenmarkts für die Paketzustellung online bestellter Waren als Element, dem ein hohes Entwicklungs- und Beschäftigungspotenzial innewohnt. Effiziente und zuverlässige Zustelldienste sind eine Grundvoraussetzung für die Förderung des elektronischen Geschäftsverkehrs und die Stärkung des Vertrauens zwischen Verkäufern und Käufern.

1.2

Nach Ansicht des EWSA erfordern die Vollendung des Binnenmarktes für Zustelldienste und die Beseitigung der erheblichen Kluft zwischen Erwartungen, Schutz und Verfügbarkeit Folgendes: eine gesamtschuldnerische Haftung, die Verfolgbarkeit und Ermittelbarkeit der Sendungen sowie Interoperabilität; EU-weit (auch auf den Inseln) einen flächendeckenden Zugang zu einer breiteren Palette von Zustelloptionen; Gewissheit hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Beteiligten (insbesondere der KMU und der Verbraucher) vor allem bei Beschwerden und Rücksendungen; die Erhebung einfacher und vergleichbarer Daten; eine nachhaltige soziale Dimension und ein entsprechendes Bildungsangebot.

1.3

Der EWSA bekräftigt seine Ansicht (1), dass dieses Ziel nicht nur auf wünschenswerten freiwilligen Vereinbarungen und Kodizes basieren sollte, sondern auch auf einem europäischen Rechtsrahmen mit Mindestbestimmungen, der im Hinblick auf die ungelösten Fälle von Marktversagen, die Verbraucher und KMU vom Online-Kauf von Waren abhalten, auf wirksame und flexible Weise Lösungen anbietet und die Probleme im Zusammenhang mit folgenden Aspekten lösen kann:

die gemeinsame Haftung aller Unternehmen der Wertschöpfungskette des Online-Kaufgeschäfts;

Verfolgbarkeit und Ermittelbarkeit der Sendungen;

ausdrückliche Einhaltung der EU-Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten;

transparentes Angebot mehrerer verschiedener Zustelloptionen zur Wahl;

gemeinsame Begriffsbestimmungen und volle Interoperabilität;

Zugänglichkeit und Universalcharakter der Dienstleistung zu erschwinglichen Preisen;

Erhebung vergleichbarer und detaillierter statistischer Daten, für kleinere Zusteller in vereinfachter Form;

Verpflichtung zur einheitlichen mehrwertsteuerlichen Behandlung;

gegenseitige grenzüberschreitende Anerkennung der Netze nationaler Zentren zur Lösung von Problemen und der Verfahren für die Online-Streitbeilegung (ODR) und die alternative Streitbeilegung (ADR) (2);

Verpflichtung zur Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen;

transparente Vertragsbedingungen und Preise;

berufliche Weiterbildung der Arbeitnehmer;

Ahndung der Nichteinhaltung der genannten Verpflichtungen durch Strafen, auch mittels eines Schnellwarnsystems RAPEX/IMI (3),

Schaffung eines europäischen Gütezeichens mit Qualitätsindikatoren auf der Grundlage von technischen Normen, die das CEN (4) erarbeitet;

Maßnahmen zu Gunsten der kleinen und mittleren Unternehmen in Form einer Vereinfachung des Verwaltungsaufwands und im Hinblick auf ihren Zugang zum Markt und zu Internetplattformen zu gleichen Bedingungen.

1.4

Der Ausschuss fordert, dass im Rahmen des Fahrplans klare Fristen und ein Zeitplan für die Umsetzung sowohl der Vorschriften als auch der Selbstregulierung festgelegt werden, um bei allen beteiligten Akteuren und insbesondere bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern mehr Vertrauen zu schaffen und dabei die volle Einhaltung und den Schutz der gegenseitigen Rechte zu gewährleisten.

1.5

Der EWSA fordert, im Fahrplan zwei weitere Maßnahmen vorzusehen, von denen die eine auf die Zugänglichkeit der Dienstleistung zu erschwinglichen Preisen und die andere auf die soziale Dimension des Marktes abstellt.

1.6

Der EWSA empfiehlt der Kommission, dem EP und dem Rat:

durch einen europäischen Rechtsrahmen allen Marktteilnehmern des Sektors den Zugang zum Binnenmarkt für die Paketzustellung zu gewährleisten, wobei der Problematik des Universalcharakters der Dienstleistung zu erschwinglichen Preisen, insbesondere in abgelegenen, Berg-, Insel- und armen Gebieten, besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist;

für das Fehlen eines detaillierten und vergleichbaren statistischen Rahmens für die gesamte Kette von der Online-Bestellung bis zur grenzüberschreitenden Zustellung der Ware durch vereinfachte Verfahren gemäß dem Grundsatz „one size fits all“ Abhilfe zu schaffen;

unter Mitwirkung sämtlicher beteiligter Akteure (insbesondere der KMU) und auf der Grundlage gemeinsamer Definitionen eine gemeinsame offene Architektur für die Interoperabilität gewährleistende Betreibung von interaktiven und benutzerfreundlichen sowie von der Europäischen Kommission kontrollierten Internetplattformen zu entwickeln;

klare Verweise auf die europäischen Finanzinstrumente in den Bereichen Forschung und technologische Innovation, Umwelt und Klimaschutz, Energie und Verkehr, neue Berufsbilder und Berufsbildung, Zusammenhalt, Gebietsebene und KMU aufzunehmen;

die KMU bei der Umsetzung des Fahrplans durch konkrete Maßnahmen und angemessene Mittel für die Förderung ihrer gleichberechtigten Teilnahme am elektronischen Geschäftsverkehr in geeigneter Weise zu unterstützen;

im Sinne der KMU-Initiative „Small Business Act“ und unter Mitwirkung der repräsentativen Mittelstandsverbände Rechtsvorschriften einzuführen, die den Problemen der KMU der gesamten Verkehrs- und Logistikbranche gerecht werden;

umgehend dem Europäischen Komitee für Normung den Auftrag zur Erarbeitung einheitlicher Qualitätsindikatoren für ein europäisches Sicherheits- und Gütezeichen für die Warenzustellung zu erteilen, durch die die Qualität und Zuverlässigkeit sowie die Nachhaltigkeit und die entsprechenden Sozial- und Sicherheitsgarantien gewährleistet werden können;

eine nachhaltige und kohärente soziale Dimension in diesem Bereich vorzusehen, mit der ein breiter branchenspezifischer sozialer Dialog auf europäischer Ebene, der Zugang zu angemessenen Möglichkeiten der beruflichen Bildung und Umschulung sowie faire und menschenwürdige Arbeits- und Lohnbedingungen sichergestellt und zugleich prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie Schwarzarbeit (die insbesondere bei den ausgelagerten Tätigkeiten der letzten Zustellmeile auftreten) bekämpft werden.

1.7

Der EWSA ersucht die Kommission, mit Unterstützung der Eurofound-Stiftung alle zwei Jahre einen Bericht über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Branche, die Bedingungen für die Verbraucher und Akteure der gesamten Zustellkette und ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu erarbeiten und dem EWSA, dem EP, dem Rat und den Sozialpartnern zuzuleiten.

2.   Vom Grünbuch zum Fahrplan

2.1

In Europa ist der elektronische Geschäftsverkehr eine Triebkraft für das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum, dessen Potenzial für den Zeitraum 2013-2016 auf über 10 % pro Jahr geschätzt wird (5). 45 % der EU-Bürger haben in den letzten 12 Monaten Online-Käufe getätigt und diesbezüglich erklärt, dass die meisten Probleme in diesem Zusammenhang bei der Zustellung bzw. durch verspätete Zustellung auftreten (6).

2.2

Die Kommission hat die „Haupthindernisse für den digitalen Binnenmarkt ermittelt und […] ein Aktionsplan zu deren Beseitigung aufgestellt“ (7) und festgestellt, dass „10 % der Verbraucher […] jedoch auf Online-Käufe [verzichten] (8), weil sie insbesondere bei Lieferungen aus anderen Ländern die Zustellungskosten und eine schlechte Dienstleistungsqualität fürchten“.

2.3

In seiner Stellungnahme zum Grünbuch (9) hat der EWSA eine Richtlinie gefordert, die Folgendes vorsieht: eine gemeinsame Haftung der Unternehmen, die Verfolgbarkeit und Ermittelbarkeit der Sendungen, die Verpflichtung, mehrere Zustelloptionen anzubieten, ein europäisches Netz nationaler Zentren zur Lösung von Problemen, die Verpflichtung zur Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen und zur Transparenz hinsichtlich Konditionen und Preise.

2.4

Im Anschluss an die Debatte über das Grünbuch wurde im Dezember 2013 die Mitteilung über den Fahrplan für die Vollendung des Binnenmarkts für die Paketzustellung im Online-Handel (10) vorgelegt.

2.5

Jüngste, weltweit durchgeführte Untersuchungen (11) haben die wichtigsten Probleme für die Entwicklung des elektronischen Handels zwischen Unternehmen und Verbrauchern (business to consumer, B2C) aufgezeigt:

die vorhandenen Zustellungsoptionen werden nicht unmittelbar bekannt gemacht und über die Gesamtkosten des Online-Kaufs besteht keine Klarheit;

der aktuelle Stand der Sendung kann nicht abgerufen und diese nicht verfolgt werden;

die langen Versandzeiten und/oder fehlende Angabe oder mangelnde Flexibilität des Zeitpunkts der Zustellung;

komplizierte und teure Verfahren für die Rücksendung und den Umtausch;

mangelhafter Kundendienst in Echtzeit.

2.6

Nach Angaben der Kommission fehlen noch „die relevanten Marktdaten zu den inländischen und grenzüberschreitenden Paketströmen aller Anbieter von Postdiensten [...], die auf den Paketmärkten für Endverbraucher (‚B2C‘) und Geschäftskunden (‚B2B‘) tätig sind, einschließlich Vermittler, Paketzustellvorbereiter und alternativer Betreiber“ (12).

2.7

In verschiedenen Untersuchungen wurde festgestellt, dass es in diesen Segmenten der Postdienstleistungen ein größeres Potenzial für wettbewerbswidrige Verhaltensweisen gibt als in anderen Bereichen, die einer angemesseneren Regulierung und Aufsicht unterstehen, so zum Beispiel im B2C-Markt im Vergleich zu den B2B-Dienstleistungen und bei den grenzüberschreitenden Dienstleistungen im Vergleich zu den Inlandspostdiensten (13).

2.8

Der EWSA stellt mit Befriedigung fest, dass ein erheblicher Teil der Schlussfolgerungen seiner Stellungnahme zum Grünbuch aufgegriffen wurde. Rat (14) und EP (15) haben die Kommission nämlich aufgefordert, die bestehenden Hindernisse für grenzüberschreitende Lieferdienste zu ermitteln und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, und das EP fordert (16) zudem zugängliche, erschwingliche, effiziente und hochwertige Versanddienste sowie Plattformen für Zusammenarbeit und Informationsaustausch zwischen Zustelldiensten und auch eine rasche Bearbeitung von Reklamationen und Streitigkeiten zu möglichst niedrigen Kosten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss hält es für wichtig, dass das Vertrauen der KMU und des online bestellenden Verbrauchers durch interoperative Netze und Systeme für eine schnelle Bearbeitung zu niedrigen Kosten innerhalb eines angemessenen, von allen Akteuren der Lieferkette akzeptierten Rahmens der Regulierung und Selbstregulierung im Sinne eines freien und offenen Binnenmarkts wiederhergestellt wird, wobei unnötige Überregulierung zu vermeiden ist. Daher fordert er, dass der Fahrplan mit klaren Fristen in dem festen Zeitplan von 18 Monaten umgesetzt wird.

3.2

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die EU den Binnenmarkt für die Paketzustellung vollenden und die Schnelligkeit, Qualität, Zuverlässigkeit und Erschwinglichkeit der Dienste zum Schutz der Verbraucher, Arbeitnehmer und aller Akteure einschließlich der KMU der Branchen Online-Handel, Verkehr und Logistik gewährleisten sollte, wobei für die derzeitigen Fälle von Marktversagen und Funktionsstörungen auf dem Binnenmarkt Abhilfe zu schaffen ist.

3.3

Der EWSA hatte jedoch erwartet, dass in der Mitteilung konkret auf die Situation der Regionen mit geografischen Nachteilen wie Inseln, Gebiete in äußerster Randlage und Berggebiete eingegangen wird, da diese Regionen nach Auffassung des Ausschusses mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind, die insbesondere aufgrund wirtschaftlicher Zwänge nur schwer zu bewältigen sind. Ein echter Binnenmarkt für die Paketzustellung kann nur dann erreicht werden, wenn diese Regionen gebührend berücksichtigt und entsprechende Maßnahmen vorgesehen werden.

3.4

Nach Ansicht des EWSA basiert das vorgeschlagene Maßnahmenbündel im Wesentlichen auf freiwilliger Selbstregulierung, auf Regeln für die nationalen Postdienste und auf der Tätigkeit der Gruppe europäischer Regulierungsbehörden für Postdienste und auf den Grundsätzen der genauen und vollständigen Anwendung bereits bestehender EU-Vorschriften, ohne dass ein einheitlicher Rahmen für alle Akteure oder konkrete Fristen innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von 18 Monaten vorgegeben werden.

3.5

Der EWSA weist darauf hin, dass der Fahrplan noch keine Flankierung der Selbstregulierung vorsieht — eine Richtlinie, die der EWSA bereits gefordert hat (17), wäre hier notwendig, um den Anforderungen für die Vollendung des Binnenmarktes für grenzüberschreitende Zustelldienste für alle Marktteilnehmer in umfassender, schlüssiger und konsolidierter Weise gerecht zu werden.

3.6

Nach Ansicht des Ausschusses sollte auf EU-Ebene eine europäische Lösung durch Förderung von Selbstregulierung und Regulierung gefunden werden, um bislang noch ungelöste Probleme auf dem Markt und zum Schutz der Verbraucher und KMU (B2B) in Bezug auf folgende Aspekte anzugehen:

gemeinsame Haftung aller Akteure der Wertschöpfungskette des Online-Kaufgeschäfts gegenüber dem Käufer;

Pflicht zur uneingeschränkten Verfolgbarkeit und Ermittelbarkeit der Sendungen;

ausdrückliche Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen und der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten gemäß Richtlinie 95/46/EG;

Verpflichtung, eine transparente Wahl zwischen mehreren Zustelloptionen anzubieten;

Verpflichtung auf gemeinsame Begriffsbestimmungen und volle Interoperabilität;

Verpflichtung zur Erbringung als Universaldienst zu erschwinglichen Preisen für alle Wirtschaftsteilnehmer des freien Marktes unter Berücksichtigung der rechtlichen Bestimmungen, einschließlich der Postrichtlinien und anderen einschlägigen EU-Vorschriften;

Erhebung vergleichbarer und detaillierter statistischer Daten;

Verpflichtung zur einheitlichen mehrwertsteuerlichen Behandlung;

gegenseitige grenzüberschreitende Anerkennung der Netze nationaler Zentren zur Lösung von Problemen und der Verfahren für Online-Streitbeilegung und alternative Streitbeilegung;

Verpflichtung zur Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen;

Verpflichtung zur Transparenz bei den Vertragsbedingungen und Preisen für die Dienstleistung;

Verpflichtung zur ständigen Weiterbildung des Personals, um dessen fachliche Qualifikation vor dem Hintergrund der Einführung neuer Technologien in dieser Branche zu gewährleisten;

Ahndung der Nichteinhaltung der genannten Verpflichtungen, auch mittels eines Schnellwarnsystems RAPEX/IMI, und Strafen auf der Grundlage von Qualitätsindikatoren;

Maßnahmen zu Gunsten von KMU in Form einer Vereinfachung des Verwaltungsaufwands und im Hinblick auf ihren Marktzugang und ihre Beteiligung an der gemeinsamen Festlegung von gemeinsamen Anwendungen der neuen Technologien, Portale und Internetplattformen.

3.7

Auch wenn in den Vorschlägen auf die Vereinbarkeit mit dem Finanzrahmen der EU für 2014-2020 eingegangen wird, muss nach Ansicht des EWSA in dem Fahrplan unbedingt ausdrücklich auf die einschlägigen Finanzinstrumente der EU in folgenden Bereichen hingewiesen werden:

Forschung und technologische Innovation (Horizont 2020, Programme Galileo und ISA sowie Digitale Agenda) im Hinblick auf die Interoperabilität, Verfolgbarkeit und Sicherheit;

Umwelt und Klimaschutz, Energie und Verkehr (7. Umweltaktionsprogramm, Rahmen 2030 für die Energiepolitik und den Klimaschutz und Maßnahme bezüglich verkehrsbedingter Treibhausgasemissionen in der EU (EU Transport GHG: Routes to 2050 II)) in Bezug auf die Auswirkungen der „letzten Zustellungsmeile“;

KMU: in Bezug auf die EIB-Förderung für innovative Unternehmen, das COSME-Programm und alle verfügbaren EU-Mittel für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, wobei KMU anderen Unternehmen gleichzustellen sind;

territorialer Zusammenhalt (neuer Planungszeitraum für die Strukturfonds 2014-2030 und Förderung für Inselgebiete, ländliche Regionen und Gebiete in äußerster Randlage);

Beschäftigung und Ausbildung (Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten, „Europäische Verbraucheragenda für mehr Vertrauen und mehr Wachstum“ und Programm Erasmus Plus 2014-2020 im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung).

3.8

Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, dem Europäischen Komitee für Normung (CEN) ein Mandat zur zügigen Entwicklung europäischer technischer Normen zu erteilen, wobei sämtliche Interessenträger und insbesondere die KMU und die Verbraucher umfassend daran zu beteiligen sind. Er hält es für erforderlich, dass Indikatoren für ein europäisches Sicherheits- und Gütezeichen für Zustellungsdienste erarbeitet werden, durch die die Qualität und Zuverlässigkeit sowie die Nachhaltigkeit und die entsprechenden Sozial- und Sicherheitsgarantien gewährleistet werden können.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Nach Ansicht des EWSA sind zwei weitere Schwerpunktmaßnahmen notwendig, eine bezüglich der Garantie des Marktzugangs (Zugänglichkeit) und eine weitere bezüglich der sozialen Dimension dieses Markts.

4.1.1   Maßnahme bezüglich des Marktzugangs und der Nutzbarkeit zu erschwinglichen Kosten

4.1.1.1

Der EWSA fordert, im Rahmen der Vergabe des Qualitätszeichens die Verpflichtung zur Gewährleistung des Marktzugangs und der Nutzbarkeit der Dienstleistung zu erschwinglichen Kosten im gesamten Gebiet der EU vorzusehen. Der EWSA ist enttäuscht, dass die Gebiete in Randlage und Inseln nicht besonders berücksichtigt wurden, und erwartet daher, dass die neue Rechtsvorschrift das Ziel des Schutzes geografisch benachteiligter Gebiete auf dem Markt für den elektronischen Handel vorsieht, auch weil ein beträchtlicher Anteil der Menschen in Europa in solchen Gebieten lebt.

4.1.1.2

Nach Einschätzung des Ausschusses muss allen Betreibern voller Zugang zu den bei der Erbringung der Zustelldienstleistungen verwendeten Dateninfrastrukturen und Informationsquellen gewährt werden, um die Interessen aller Benutzer zu schützen und/oder einen wirksamen Wettbewerb zu fördern.

4.1.1.3

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Mitteilung von 1998 über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf diese Branche, die sich ja auf die grenzüberschreitenden Dienstleistungen und die Standardkosten auswirken, vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Rechtsetzung und auf dem Markt im Hinblick auf liberalere und kostenorientierte Maßnahmen und nach Maßgabe des Protokolls Nr. 26 zum Vertrag von Lissabon — insbesondere in Bezug auf den universellen Zugang und die Bezahlbarkeit der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse — zu überarbeiten (18).

4.1.2   Maßnahme zur sozialen Dimension des Marktes

4.1.2.1

Der EWSA fordert eine nachhaltige und kohärente soziale Dimension, die — zusammen mit den Innovationsbemühungen der Unternehmen in den betreffenden Branchen — eine neue Qualität und Professionalität der Beschäftigung in diesem Sektor garantiert, unter anderem durch Zugang zu angemessenen Möglichkeiten der beruflichen Bildung und Umschulung.

4.1.2.2

Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach fairen und menschenwürdigen Arbeits- und Lohnbedingungen, um prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie Schwarzarbeit insbesondere bei den ausgelagerten Tätigkeiten der letzten Zustellmeile zu bekämpfen, und verweist dabei nachdrücklich auf die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1071/2009 über die Zulassung zum Beruf, des Beschlusses 2009/992/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1213/2010, in denen der Begriff „Beschäftigungsverhältnis“ definiert wird, um Maßnahmen gegen Scheinselbstständigkeit zu ermöglichen, wie der EWSA unlängst in einer Stellungnahme festgestellt hat (19).

4.1.2.3

Der EWSA empfiehlt die Einleitung eines breit angelegten sozialen Dialogs auf europäischer Ebene mit den repräsentativen Sozialpartnern der beteiligten Sektoren der gesamten Kette des Online-Geschäfts und der Paketzustellung (Handel, Postdienste, Speditionen und Logistik), in dessen Rahmen die Fragen der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, der Entwicklungsaussichten, der Innovation und der Aufwertung der Humanressourcen angegangen werden.

4.1.2.4

Die Kommission sollte mit Unterstützung der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen alle zwei Jahre einen Bericht über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Branche und die Entwicklungsmöglichkeiten erarbeiten und dem EWSA, dem EP, dem Rat und den Sozialpartnern zuleiten.

4.2   Maßnahme 1: Informationen für Verbraucher über die Merkmale und Kosten verschiedener Zustell- und Rücksendungsmöglichkeiten

4.2.1

Freiwillige Verhaltenskodizes und der Austausch bewährter Praktiken sind nach Ansicht des EWSA nur dann für die EU praktikable und ergänzende Mittel und Wege, wenn sie von allen beteiligten Akteuren des Online-Einzelhandels gemeinsam ausgearbeitet und akzeptiert werden und dies innerhalb eines europäischen Rechtsrahmens erfolgt, der sämtliche Aspekte der grenzüberschreitenden Zustellung von online bestellten Waren regelt, und zwar im Interesse des Schutzes der Verbraucher, kleinen Zusteller und der KMU zu gleichen Bedingungen und ohne ihnen zu große Anforderungen aufzuerlegen.

4.3   Maßnahme 2: Informationen für Online-Einzelhändler über Zustelldienste

4.3.1

Bei einer gemeinsamen Definition der Grundbegriffe für diese Dienstleistung durch Zusteller und Online-Einzelhändler ohne Einbeziehung von Verbrauchervertretern und KMU blieben wichtige Aspekte unberücksichtigt, die für die Entscheidung der Verbraucher relevant sind, und das würde die Palette der möglichen Optionen einschränken.

4.3.2

Der EWSA fordert, dass zusammen mit allen beteiligten Akteuren eine gemeinsame offene und interaktive Architektur nach dem Vorbild der e-freight-Initiative entwickelt wird (20).

4.3.3

Der EWSA fordert, dass die Kommission die ordnungsgemäße Betreibung der Internetplattformen nach vorher festgelegten objektiven Kriterien der Benutzerfreundlichkeit innerhalb des vom EWSA geforderten Rechtsrahmens sicherstellt.

4.4   Maßnahme 3: Transparenz auf den Zustellmärkten, bei den integrierten Diensten und Qualitätsstandards

4.4.1

Für das Fehlen eines detaillierten und vergleichbaren statistischen Rahmens für die ganze Kette von beteiligten Tätigkeiten und Akteuren von der Online-Bestellung bis zur grenzüberschreitenden Zustellung der Ware muss dadurch Abhilfe geschaffen werden, dass die Zoll-, Post-, Finanz- und Steuerbehörden und -stellen sowie der Handel von sämtlichen auf dem Markt tätigen Anbietern von Zustelldiensten relevante, einheitliche und vergleichbare Daten über grenzüberschreitende Paketströme, die flächendeckende Erbringung des Universaldienstes sowie über Rücksendungen und die Lösung von Beschwerden erheben.

4.4.2

Die Erhebung dieser Daten sollte nach dem Prinzip „one size fits all“ ohne bürokratische Belastungen und Mehrfachaufwand erfolgen. Die Kommission sollte die Zweckmäßigkeit und die Kosten einer eventuellen kostengünstigen Pauschalversicherung für grenzüberschreitende Zustellungen und die Frage prüfen, ob diese an den Erwerb eines europäischen Gütezeichens geknüpft werden sollte.

4.5   Maßnahme 4: Interoperabilität bei der Paketzustellung

4.5.1

Es ist zweckmäßig, dass die Zusteller und die Online-Einzelhändler auf freiwilliger Basis Lösungen für die Verknüpfung der IT-Systeme und der offenen Schnittstellen mit einem effizienten und erschwinglichen Zustell- und Rücksendesystem für die „letzte Meile“ entwickeln.

4.5.2

Nach Ansicht des EWSA sollten diese Entwicklungen jedoch auf der Grundlage von zuvor innerhalb eines gemeinsamen Rechtsrahmens festgelegten Kriterien für die Interoperabilität erfolgen.

4.6   Maßnahme 5: Stärkung des Verbraucherschutzes

4.6.1

Der EWSA befürwortet die Initiative, dem CEN ein Normungsmandat zu erteilen und den Mitgliedstaaten Vorgaben für die vollständige und einheitliche Umsetzung der Richtlinie 2011/83/EU zu machen sowie den stärkeren Einsatz alternativer Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der Richtlinie 2013/11/EU zu fördern.

4.6.2

Der Ausschuss hält es für unzureichend, die Lösung des Problems der Beschwerden allein darauf zu reduzieren, dass „Zusteller, Online-Einzelhändler und Verbraucherverbände [...] (gemeinsam) eine bessere Zusammenarbeit im Hinblick auf die Behandlung von Beschwerden und den Aufbau von Verbraucherschutzsystemen gewährleisten“. Der EWSA hält eine solche Zusammenarbeit dann für positiv, wenn sie innerhalb eines gemeinsamen Rechtsrahmens erfolgt.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 60.

(2)  ODR: Online-Streitbeilegung, ADR: Richtlinie über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten.

(3)  IMI: Binnenmarkt-Informationssystem.

(4)  Europäisches Komitee für Normung.

(5)  MEMO-13-1151, Europäische Kommission.

(6)  Eurobarometer-Sonderumfrage Nr. 398 zum Binnenmarkt (Special Eurobarometer 398 Internal Market), Oktober 2013.

(7)  COM(2011) 942 final, 11.1.2012.

(8)  Eurostat, Haushaltserhebung 2009.

(9)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 60.

(10)  COM(2013) 886 final.

(11)  Globale Studie von UPS, Pulse of the Online Shopper, 2013.

(12)  COM(2013) 886 final.

(13)  WIK Consult Final Report 8/2013.

(14)  Rat (Wettbewerbsfähigkeit), Schlussfolgerungen zur Binnenmarktsteuerung und zum digitalen Binnenmarkt vom 30. Mai 2012.

(15)  Entschließungen des EP vom 4.2.2014 2013/2043(INI), 11.12.2012 und 4.7.2013.

(16)  Entschließung des EP vom 4.2.2014.

(17)  Siehe Fußnote 1.

(18)  Common position EU & US in the Doha Round — WTO, 2006 (Gemeinsamer Standpunkt der EU und der USA in der Doha-Runde der WTO-Verhandlungen 2006).

(19)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 14.

(20)  Die E-freight-Initiative 2010-2014 im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms mit 31 Partnern aus 14 Ländern hat die Vernetzung aller im Logistikbereich tätigen Akteure über interaktive benutzerfreundliche Internetplattformen zum Ziel. Darin wird u. a. folgende Empfehlung ausgesprochen: „The EU Commission should issue a Directive or similar as soon as possible which secures that the interface to National Single Windows that are put to use from now on are using the Common Reporting Scheme (CRS), developed in e-freight, as the input format“.


ANHANG

zu der Stellungnahme

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 39 Absatz 2 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.6

Ändern:

Der EWSA empfiehlt der Kommission, dem EP und dem Rat:

durch einen den europäischen Rechtsrahmen einschließlich der Postrichtlinien wird der zu schaffen, der den Zugang zum Markt für Zustelldienste gewährleistet und sichergestellt, dass , wobei der Problematik des Universalcharakters der Dienstleistung zu erschwinglichen Preisen, insbesondere in abgelegenen, Berg-, Insel- und armen Gebieten, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird; zu schenken ist;

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

35

Nein-Stimmen

:

67

Enthaltungen

:

10


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung und Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften

COM(2014) 40 final — 2014/0017 (COD)

(2014/C 451/09)

Berichterstatter:

Edgardo Maria IOZIA

Das Europäische Parlament beschloss am 25. Februar 2014 und der Rat am 27. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung und Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften.

COM(2014) 40 final — 2014/0017 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 183 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den von der Kommission vorgelegten Verordnungsvorschlag, der im engen Zusammenhang mit dem Vorschlag über Strukturreformen im EU-Bankensektor steht und zusammen mit diesem eine Reihe von Maßnahmen vorsieht, um die Transparenz und Widerstandsfähigkeit des europäischen Finanzsystems im Bereich Wertpapierfinanzierungsgeschäfte zu verbessern.

1.2

Es gehört zu den vordringlichen Interessen des Marktes und der Wirtschaft im Allgemeinen, dass die Informationssymmetrie des Marktes verbessert, das Risiko bei offenen Transaktionen überwacht und der Bereich nicht transparenter und nicht regulierter Bankgeschäfte eingeschränkt wird.

1.3

Diesbezüglich stellt der EWSA fest, dass der Begriff „Schattenbanken“ irreführend ist und bei der breiten Öffentlichkeit nur unnötige Verwirrung stiftet. Im Schatten befinden sich nämlich einige Bankgeschäfte, die sowohl von Banken als auch von Nichtbanken durchgeführt werden, und nicht die Banken bzw. Finanzinstitute als solche, da die Akteure in diesem spezifischen Segment — wie die Hedge-Fonds, die Staatsfonds sowie die auf Geldmarktfonds oder strukturierte und komplexe Derivate spezialisierten Finanzunternehmen — häufig nicht aus dem Bankenwesen stammen. Die Akteure sind alle bekannt. Was sich derzeit der Kenntnis entzieht sind einige ihrer nicht regulierten Aktivitäten.

1.4

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung dieser Verordnung, mittels der die Marktbewegungen und die übermäßig risikobehafteten Bereiche ermittelt werden können. Dadurch können die Marktüberwachungsbehörden die Lage laufend überwachen und vorbeugend eingreifen, um die insgesamt als zu riskant eingestuften Aktivitäten zu begrenzen. Deshalb sollen mit der hier behandelten Verordnung zum einen dem Markt bislang nicht verfügbare Informationen gegeben, zum anderen den Aufsichtsbehörden ein weiteres Analyse- und Informationsinstrument an die Hand gegeben werden.

1.5

Gleichermaßen wichtig ist die Regulierung der Weiterverpfändungsaktivitäten, d. h. die zeitweise Verwendung der anvertrauten Wertpapiere. Dadurch, dass der Anleger/Eigentümer der Wertpapiere ausdrücklich seine Zustimmung geben muss, kann das Eingehen unvorhergesehener und im Vertrag nicht bzw. allenfalls im Allgemeinen vorgesehener Risiken vermieden werden. Das Gegenparteirisiko wird zum natürlichen Bewertungskriterium und kann die Marktpräsenz nicht sonderlich vertrauenswürdiger Akteure verhindern bzw. stark einschränken. Dies kommt der allgemeinen Widerstandsfähigkeit des Systems insgesamt und der meisten auf dem Markt tätigen Unternehmen zugute.

1.6

Angesichts der Initiativen der Kommission zur Wiederherstellung der ursprünglichen Funktion des Finanzwesens als Unterstützer der Wirtschaft und des Wohlstands der Haushalte und Unternehmen ist der EWSA der Auffassung, dass nunmehr in Europa der Zeitpunkt für einen großen „Sozialpakt für ein nachhaltiges Finanzwesen“ gekommen ist, bei dem sich alle betroffenen Akteure an der Neudefinition der Ziele und Instrumente beteiligen. Der massive Ansehensverlust der Banken, der aus zahllosen Umfragen und Untersuchungen der letzten Jahre hervorgeht, sollte alle Akteure dazu bewegen, ein neues Kapitel aufzuschlagen und sich für einen Dialog mit der Gesellschaft zu öffnen. Privathaushalte, Unternehmen, Bürger, Arbeitnehmer und die Gesellschaft im Ganzen fordern ein effizientes und verlässliches Finanzsystem, das zu Entwicklung und Beschäftigung beiträgt und den sozialen und ökologischen Auswirkungen der Investitionen große Aufmerksamkeit schenkt.

1.7

Der EWSA anerkennt das erhebliche Engagement der Kommission bei der Erfüllung ihres Versprechens, im Rahmen des Arbeitsprogramms der neuen Regulierung 48 Legislativmaßnahmen vorzuschlagen, insbesondere die von der GD Binnenmarkt geleistete Arbeit, die sich durch Qualität und Quantität in einer sehr schwierigen Situation auszeichnet. Diese Arbeiten sind gekennzeichnet durch Ausgewogenheit und Effizienz. Der EWSA bezeugt gerne, dass die Kommission in diesem Bereich sehr erfolgreiche Arbeit geleistet hat, und würdigt vor allem das Eingeständnis der Kommission bezüglich „großer Lücken in der Regulierung, unwirksamer Aufsicht, undurchsichtiger Märkte und überkomplexer Finanzprodukte“.

1.8

Nach Ansicht des EWSA wird mit der Annahme der Verordnung die Gefahr von Aufsichtsarbitrage erheblich verringert. Er ruft die Kommission auf, das Ziel der Beschränkung nicht regulierter Aktivitäten des europäischen Finanzsystems auf ein Minimum und auf tatsächliche Randbereiche weiter zu verfolgen.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1

Der Vorschlag zielt darauf ab, die Transparenz bei Wertpapierfinanzierungsgeschäften (1) in erster Linie auf folgende drei Arten zu erhöhen:

Überwachung der systemischen Risiken im Zusammenhang mit Wertpapierfinanzierungsgeschäften: In der Verordnung wird verlangt, alle Wertpapierfinanzierungsgeschäfte an eine zentrale Datenbank (Transaktionsregister) zu melden. Dadurch könnten die Aufsichtsbehörden die Verbindungen zwischen Banken und Schattenbankwesen besser erkennen und Licht in einige Beschaffungsvorgänge des Schattenbankwesens bringen;

Offenlegung gegenüber den Anlegern, deren Titel für Wertpapierfinanzierungsgeschäfte eingesetzt werden: Laut Vorschlag müssen zu Wertpapierfinanzierungsgeschäften von Investmentfonds oder analogen Einrichtungen ausführliche Berichte verfasst werden. Dadurch kann die Transparenz gegenüber den Anlegern verbessert werden, die dann in der Lage sind, bewusstere Anlageentscheidungen zu treffen;

Weiterverpfändungen: mit der Verordnung soll die Transparenz der Weiterverpfändung von Finanzinstrumenten (jedwede Verwendung der Sicherheit vor einer Inanspruchnahme durch den Begünstigten für seine eigenen Zwecke) verbessert werden, indem Mindestvoraussetzungen festgelegt werden, die von den Beteiligten eingehalten werden müssen, einschließlich schriftlicher Vereinbarungen und der vorherigen Zustimmung zur Weiterverpfändung. Dadurch müssen die Kunden oder die Gegenparteien vor einer Weiterverpfändung ihre Zustimmung erteilen. Außerdem würden sie diese Entscheidung auf der Grundlage klarer Informationen über die möglichen Risiken einer solchen Operation treffen.

3.   Einleitung

3.1

Neben einem Vorschlag über Strukturreformen im EU-Bankensektor hat die Kommission auch ergänzende Maßnahmen vorgeschlagen, um die Transparenz bei Wertpapierfinanzierungsgeschäften zu erhöhen und zu vermeiden, dass die Banken bestimmte Vorschriften umgehen, indem sie diese Tätigkeiten in den Schattenbankbereich verlagern. Das ist eine der größten Sorgen der Kommission.

3.2

Wertpapierfinanzierungsgeschäfte umfassen verschiedene Arten von Transaktionen mit vergleichbaren wirtschaftlichen Auswirkungen. Die wichtigsten Wertpapierfinanzierungsgeschäfte sind der Wertpapierverleih und Rückkaufsvereinbarungen (Repo-Geschäfte).

3.3

Der Wertpapierverleih wird insbesondere durch die Nachfrage des Marktes nach spezifischen Wertpapieren gesteuert und z. B. für Leerverkäufe oder kurzfristige Zahlungen verwendet. Repo- und Reverse Repo-Geschäfte gehen im Allgemeinen auf die Notwendigkeit zurück, Kapital auf sichere Art und Weise aufzunehmen oder zu verleihen. Bei solchen Geschäften werden Finanzinstrumente gegen Barzahlung erworben bzw. verkauft, wobei im Voraus vereinbart wird, die Finanzinstrumente zu einem vereinbarten Preis zu einem bestimmten künftigen Zeitpunkt wiederzuerwerben bzw. wieder zu verkaufen.

3.4

Wertpapierfinanzierungsgeschäfte werden von Fondsmanagern getätigt, um Zusatzrenditen zu erwirtschaften oder zusätzliche Finanzmittel zu erhalten. Repo-Geschäfte werden z. B. häufig zur Geldaufnahme zum Zwecke neuer Investitionen getätigt. Gleichzeitig gehen diese Operationen mit neuen Risiken — Gegenpartei- und Liquiditätsrisiken — einher. Im Allgemeinen fließt nur ein Teil der Zusatzrendite in den Fonds, hingegen wird das gesamte Gegenparteirisiko von den Anlegern des Fonds getragen. Deshalb können solche Operationen das Risiko/Ertrags-Profil der Geldanlage erheblich verändern.

3.5

Die Verbindung zwischen dem Vorschlag über Strukturreformen im EU-Bankensektor und diesem Maßnahmenpaket liegt auf der Hand. Mit dem Kommissionsvorschlag über die Strukturreform im EU-Bankensektor sollen bestimmte Aktivitäten der Banken untersagt bzw. Auflagen unterworfen werden. Die erhoffte Wirkung könnte indes geschmälert werden, wenn diese Aktivitäten von den regulierten Bankengruppen in den Schattenbankbereich verlagert würden, wo die Aufsichtsbehörden weniger Kontrollmöglichkeiten haben.

3.6

Der Rat für Finanzmarktstabilität (FSB) hat unterstrichen, dass die ungeordnete Insolvenz einer Schattenbank sowohl direkt als auch indirekt über ihre Verknüpfung mit dem regulären Bankensystem mit Systemrisiken verbunden sein kann.

3.7

Der FSB hat auch deutlich gemacht, dass eine übermäßige Regulierung der Banken zur Verlagerung einiger Aktivitäten in den Schattenbankbereich führen könnte (2).

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung über die Meldung und Transparenz von Wertpapierfinanzierungsgeschäften. Dieser zielt zusammen mit der Verordnung über Strukturreformen des Bankensystems darauf ab, die Widerstandsfähigkeit des Bankensystems und die Transparenz der Vorgänge zu erhöhen und die Lösung etwaiger Krisen zu erleichtern, ohne die Bürger weiter zu belasten.

4.2

Die vorliegende Stellungnahme ist daher eng verbunden mit der vom EWSA erarbeiteten Stellungnahme zur Verordnung über die Strukturreform.

4.3

Der EWSA begrüßt das Eingeständnis der Kommission bezüglich „großer Lücken in der Regulierung, unwirksamer Aufsicht, undurchsichtiger Märkte und überkomplexer Finanzprodukte“, die vor dem Ausbruch der Finanzkrise bestanden. Diese Argumente hat der EWSA seit Beginn der Finanzkrise geltend gemacht und dabei rasche Interventionsmaßnahmen gefordert. Leider hat die Kommission die Ermahnungen und Empfehlungen — mit denen sich weitere Probleme hätten verhindern lassen — nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.

4.4

Der EWSA ist sich bewusst, dass die wirtschaftlichen Kräfte und die aggressiven Lobbys aufgrund der enormen auf dem Spiel stehenden Interessen versucht haben, nach dem Ausbruch der Krise notwendige und dringende Vorschriften zu verhindern oder auszubremsen. Die Kommission hat trotzdem — von einigen nicht begrüßenswerten Entscheidungen abgesehen — ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, das direkt nach der Veröffentlichung der Berichte der De-Larosière-Gruppe und der hochrangigen Liikainen-Gruppe angekündigt worden waren.

4.5

Der EWSA bestätigt gerne, dass Kommissionsmitglied Barnier den Verpflichtungen nachgekommen ist, und würdigt die hervorragende Arbeit der für die Vorschläge zur Finanzmarktregulierung verantwortlichen Generaldirektion Binnenmarkt und die Tatsache, dass sie eine Reihe kohärenter und eng miteinander verknüpfter Maßnahmen vorgesehen hat, um einen Rechtskorpus von unbestreitbarer Effizienz zu schaffen. Insgesamt werden die Rechtsetzungsinitiativen dazu führen, dass die Ursachen für die Finanzkrise der letzten Jahre schrittweise beseitigt werden.

4.6

Der EWSA hat immer schon betont, dass wir ein gut funktionierendes Finanzsystem brauchen, das auf die Unterstützung der Realwirtschaft ausgerichtet ist und den KMU, der Stärkung der Sozialwirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Kreditwirtschaft hat eine entscheidende Aufgabe im Dienste der Gesellschaft zu erfüllen. Sie muss wieder Motor und Schwungrad der Realwirtschaft werden und sich ihrer Pflicht zur sozialen Verantwortung voll und ganz bewusst sein.

4.7

Nach Ansicht des Ausschusses lässt sich eine klare Änderung des Verhältnisses zwischen Finanzinstituten und Bürgern nicht mehr länger aufschieben. Der dramatische Vertrauensverlust der Banken und anderen Finanzinstitute muss aufgehalten werden, weil die wirtschaftliche und soziale Entwicklung dadurch irreparable Schäden erleiden könnte.

4.8

Der EWSA hofft unter Verweis auf seine zahlreichen Standpunkte zur Mitwirkung der Zivilgesellschaft, dass sich in Europa ein „Sozialpakt für ein nachhaltiges Finanzwesen“ entwickelt, bei dem sich alle beteiligten Akteure an der Definition eines effizienten, widerstandsfähigen, transparenten und sich der ökologischen und sozialen Folgen seines Tuns bewussten Finanzsystems beteiligen.

4.9

Der EWSA unterstützt mit Nachdruck die Initiativen der Kommission zur Vermeidung von Aufsichtsarbitrage einerseits und der Verlagerung von Aktivitäten in schwach regulierte „Schattenbereiche“ andererseits, mit denen um die immer stringentere Regulierung, die auf den Weg gebracht wurde, umgangen werden sollen.

4.10

Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen zu diesem Bereich (3) deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht regulierte Bereiche des Finanzsektors auf ein Minimum beschränkt werden müssen.

4.11

Die Kommission hat bei der Erarbeitung des Verordnungsvorschlags berücksichtigt, dass die Zusatzkosten für das Finanzsystem möglichst niedrig bleiben müssen. Als mögliche Lösung gelten Infrastrukturen wie Datenregister und bestehende Verfahren zur Gewährleistung von Transparenz beim Derivatehandel, wie sie in Verordnung 648/2012 vorgesehen sind. Der EWSA begrüßt diese Ausrichtung, die von der Aufmerksamkeit der Kommission für Akteure und Endkunden zeugt, auf die die durch diese Verordnung verursachten Zusatzkosten abgewälzt werden könnten.

4.12

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Finanzstabilität durch mehr Transparenz bei den in der Verordnung berücksichtigen Aktivitäten wie Wertpapierfinanzierungsgeschäfte, andere gleichwertige Finanzierungsstrukturen und Weiterverpfändung wirksam erhöht und die Widerstandsfähigkeit des Systems und der einzelnen Akteure insgesamt gesteigert wird. Die Berücksichtigung aller auf den Finanzmärkten aktiver Gegenparteien gewährleistet Vollständigkeit der Informationen über den tatsächlichen Gehalt der Transaktionen und die Risikoprofile der einzelnen Marktteilnehmer.

4.13

Aus diesen Gründen ist diese Verordnung grundlegend für die Wirksamkeit der Verordnung über die Strukturreform des EU-Bankensektors. Diese befasst sich mit Banken, die aufgrund ihrer Größe ein systemisches Risiko darstellen können. Ferner werden dadurch die Möglichkeiten einer Verlagerung auf nicht reglementierte Bereiche des Finanzsystems eingeschränkt.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der Vorschlag zielt darauf ab, die Transparenz bei Wertpapierfinanzierungsgeschäften in erster Linie auf folgende drei Arten zu erhöhen:

5.1.1

Durch Überwachung der systemischen Risiken im Zusammenhang mit Wertpapierfinanzierungsgeschäften: Laut Verordnungsvorschlag müssen alle Wertpapierfinanzierungsgeschäfte an eine zentrale Datenbank (Transaktionsregister) gemeldet werden. Dadurch können die Aufsichtsbehörden die Verbindungen zwischen Banken und Schattenbankwesen besser erkennen und Licht in einige Beschaffungsvorgänge des Schattenbankwesens bringen.

5.1.1.1

Nach Ansicht des EWSA hilft dieser Ansatz den Aufsichtsbehörden bei der wirksameren Überwachung des finanziellen Engagements und der Risiken im Zusammenhang mit Wertpapierfinanzierungsgeschäften und gewährleistet erforderlichenfalls ein zielgerichtetes und rasches Eingreifen.

5.1.1.2

Der EWSA fragt sich, ob der Vorschlag, die Daten der Transaktionsregister für mindestens zehn Jahre vorzuhalten, wirklich angemessen ist. Nach der EMIR-Verordnung müssen die Daten beispielsweise fünf Jahre lang gespeichert werden.

5.1.2

Durch Offenlegung gegenüber den Anlegern, deren Titel für Wertpapierfinanzierungsgeschäfte eingesetzt werden: laut Vorschlag kann die Transparenz gegenüber den Anlegern bezüglich der Praktiken der Investmentfonds, die mit Wertpapierfinanzierungsgeschäften und gleichwertigen anderen Finanzierungsstrukturen arbeiten, verbessert werden, indem detaillierte Berichte über solche Geschäfte verlangt werden. Dies würde zu bewussteren Anlageentscheidungen der Investoren führen.

5.1.3

Bei Weiterverpfändungen: mit der Verordnung soll die Transparenz von Weiterverpfändung von Finanzinstrumenten (jedwede Verwendung der Sicherheit vor einer Inanspruchnahme (pre-default) durch den Begünstigten für seine eigenen Zwecke) von Finanzinstrumenten verbessert werden, indem Mindestvoraussetzungen festgelegt werden, die von den Beteiligten eingehalten werden müssen, einschließlich schriftlicher Vereinbarungen und der vorherigen Zustimmung zur Weiterverpfändung. Dadurch müssten die Kunden oder Gegenparteien vor einer Weiterverpfändung ihre Zustimmung erteilen. Außerdem würden sie diese Entscheidung auf der Grundlage klarer Informationen über die möglichen Risiken einer solchen Operation treffen.

5.1.3.1

Seit dem Zusammenbruch der Lehman-Bank 2008 stehen Transparenz und Förderung einer neuen „Datenkultur“ auf der Tagesordnung der Finanzmärkte. Der EWSA begrüßt diese Entwicklung nachdrücklich und teilt rückhaltlos die mit dem vorgeschlagenen Verfahren bezweckte Transparenz und die Beteiligung der Anleger, indem für jede Transaktion ihre ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist.

5.2

Die Finanzmärkte sind global vernetzt, weshalb die von einigen Schattenbanken ausgehenden systemischen Gefahren mittels eines auf internationaler Ebene koordinierten Vorgehens bewältigt werden müssen. Der EWSA hält eine Stärkung der Zusammenarbeit mit den wichtigsten Drittstaaten für unerlässlich, um mit ihnen eine gemeinsame Strategie sowie kohärente und möglichst gleichwertige Maßnahmen zu vereinbaren.

5.3

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag mit den FSB-Empfehlungen im Einklang steht. Der FSB hat im August 2013 elf Empfehlungen angenommen, um den Wertpapierverleih- und Repo-Geschäften innewohnenden Risiken entgegenzuwirken. Die vorgeschlagene Verordnung steht im Einklang mit vier dieser Empfehlungen (Nr. 1, 2, 5 und 7) bezüglich der Aspekte Transparenz der Finanzmärkte für Wertpapierfinanzierungsgeschäfte, Offenlegung gegenüber den Investoren und Weiterverpfändung.

5.4

Nach Ansicht des EWSA sind die dem Finanzsystem durch die Verordnung auferlegten Verwaltungslasten nicht übermäßig, aber sie kommen zu weiterem Verwaltungsaufwand aufgrund anderer Regelungen hinzu. Der EWSA verweist auf die Gefahr, dass diese zumindest teilweise den privaten Haushalten und Unternehmen aufgebürdet werden könnten. Dadurch wird entweder das Finanzsystem für die Nutzer teurer — oder die Gewinne der Banken werden geschmälert, was angesichts der bereits schwierigen Lage, in der sich die europäische Kreditwirtschaft befindet, auch nicht wünschenswert ist.

5.5

Nach Dafürhalten des Ausschusses müssen die Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und die Verwalter alternativer Investmentfonds (AIFM) in die Mitteilungspflichten bezüglich ihrer Berichte — wie in der Richtlinie 2009/65/EG zur Neufassung der bestehenden Rechtsvorschriften und in der Richtlinie 2011/61/EG vorgesehen — aufgenommen werden.

5.6

Ein weiterer sehr wichtiger Punkt betrifft die Sanktionsregelung, die nicht nur wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, sondern auch eine Reihe von Mindestsanktionen vorsehen muss. Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, die vorgesehenen Verwaltungssanktionen zu verschärfen und für besonders schwere Vergehen strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. In diesem Falle sind sie gehalten, den Informationsaustausch zwischen den nationalen Behörden, der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) und der Kommission zu gewährleisten.

5.7

Wie bereits bezüglich der EMIR-Verordnung geschehen weist der EWSA darauf hin, dass Artikel 24 zu Bekanntmachung von Entscheidungen über die Verhängung von Verwaltungssanktionen den zuständigen Behörden einen zu großen Ermessensspielraum überlässt. Diese könnten bei gleichen Tatbeständen zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen, zumal wenn es sich um Behörden verschiedener Staaten handelt. Wie könnte die Beeinträchtigung der Stabilität der Finanzmärkte konkret bewertet werden?

5.8

Für den EWSA ist es wichtig und er fordert die Kommission dazu auf, in den Vorschlag — wie in Artikel 13 der EMIR-Verordnung — den Grundsatz der Gleichwertigkeit aufzunehmen.

5.9

Der EWSA begrüßt zwar den begrenzten Geltungsbereich der in der Verordnung vorgesehenen delegierten Rechtsakte sowie ihre Angemessenheit, ist jedoch darüber besorgt, dass die Ausübung dieser Befugnis zeitlich nicht begrenzt ist. Der EWSA weist darauf hin, dass er bereits bei zahlreichen Anlässen seine diesbezüglichen Vorbehalte vorgebracht hat.

5.10

Der EWSA begrüßt den Ansatz von Artikel 15, macht aber geltend, dass einige Beispiele für gleichwertige alternative Mechanismen aufgeführt werden müssen. Es besteht sonst die Gefahr einer Streitigkeit zwischen den Gegenparteien über die Wirksamkeit und Gleichwertigkeit eines alternativen Systems zur schriftlichen Vereinbarung, z. B. die telefonische Registrierung oder die computergestützte Bestätigung.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Auf EN „Securities financing transactions (SFT)“.

(2)  ABl. C 170 vom 05.06.2014, S. 55.

(3)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 42; ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 55, und laufende Stellungnahme zum Thema „Reform der Struktur von EU-Banken“.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung im Küsten- und Meerestourismus

COM(2014) 86 final

(2014/C 451/10)

Berichterstatter:

Paulo BARROS VALE

Die Europäische Kommission beschloss am 7. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung im Küsten- und Meerestourismus.

COM(2014) 86 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 189 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt diese Mitteilung — wie schon die früheren Mitteilungen von 2010 und 2012, da er Initiativen, die zur Entwicklung des Küsten- und Meerestourismus beitragen können, große Bedeutung beimisst.

1.2

Der EWSA ist sich der durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eingeführten Beschränkungen bewusst und unterstützt die von der Kommission in ihrer Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen. Nichtsdestotrotz möchte er diesbezüglich einige Empfehlungen und Warnungen formulieren und damit einen Beitrag zu der in der Europa-2020-Strategie geforderten intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Entwicklung des Küsten- und Meerestourismus leisten.

1.3

Wir müssen in Europa unsere natürlichen Ressourcen nutzen und unsere Qualitätsstandorte fördern, an denen Natur und Raumplanung von Küsten- und Meeresgebieten im Einklang stehen. Da den Küstengebieten im Hinblick auf die Umwelt, Wirtschaft und soziale Aspekte eine besondere strategische Bedeutung zukommt, müssen auch die Probleme dieser Gebiete im Rahmen einer integrierten Politik der nachhaltigen Entwicklung gelöst werden, bei der der Raumplanung, der Ausgewogenheit zwischen der Nutzung erneuerbarer Energieträger und den anderen Küstenaktivitäten sowie der Einhaltung der städtebaulichen Vorschriften besonderes Augenmerk gelten sollte. Die Auswirkungen des Klimawandels sind spürbar geworden und beeinträchtigen und zerstören sogar Küstengebiete, wobei die Küstenlinie zurückweicht. Sie gehen mit umfangreichen und kostspieligen Anpassungen einher und dürfen daher nicht unterschätzt werden.

1.4

Der EWSA bekräftigt die von ihm bereits in der Vergangenheit vertretene Idee, eine europäische Tourismusagentur zu schaffen, an der alle Interessenträger — Fremdenverkehrsverbände, Tourismusregionen, in diesem Bereich tätige Behörden und die sektorspezifischen Gewerkschaften beteiligt sind. Die Schaffung eines solchen Gremiums könnte die touristische Werbung für Europa in der Welt voranbringen.

1.5

Möglicherweise ist der Zeitpunkt für die Konzipierung einer gemeinsamen Tourismuspolitik gekommen, die unter Wahrung der nationalen Spielräume die Tourismusbranche in ihrer Gesamtheit betrachtet und dabei Synergie-Effekte ermittelt und die politischen Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten koordiniert. Jedes Jahr gibt es verschiedene neue Ideen, die dann aber nicht über das Anfangsstadium hinauskommen, da nicht vernetzt gearbeitet wird und eine gemeinsame Strategie für den Tourismus fehlt, die in der Lage ist, traditionelle und weniger herkömmliche Ferienziele, das historische Erbe und die Gastronomie unter einer europäischen Marke zu fördern und auch einer eventuellen, gelegentlich aufkommenden Negativwerbung entgegenzuwirken.

1.6

Die Entwicklung des Massentourismus, die durch das Aufkommen der Billigfluglinien einen großen Aufschwung genommen hat, muss genutzt werden, wobei es gilt, Verkehrsnetze zwischen den durch Flughäfen angebundenen Gebieten und anderen, abgelegeneren Regionen zu schaffen oder zu fördern, den territorialen Zusammenhalt zu stärken, indem weit abgelegene Gebiete in Reiserouten aufgenommen und dadurch touristisch attraktiver gemacht werden, und den Besuch städtischer und an der Küste gelegener Ferienziele im Rahmen ein und derselben Reise zu ermöglichen. Im Hinblick auf die Förderung der Mobilität ist es wichtig, dass die Informationen über bestehende Verkehrsverbindungen zentral an einem Platz abrufbar sind. Der EWSA betont die Dringlichkeit einer Überprüfung der Rechtsvorschriften über die Visumerteilung, damit Touristen aus Ländern außerhalb Europas, insbesondere aus China und anderen Schwellenländern, leichter reisen können.

1.7

Den entlegenen Gebieten, insbesondere im Norden Europas, die über ausgezeichnete Umweltbedingungen verfügen, muss besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, wobei es gilt, den Reiseverkehr zu erleichtern und Infrastruktur, Kommunikationsdienste und WLAN-Netze bereitzustellen, um Touristen anzuziehen und dazu beizutragen, dass die Bevölkerung in diesen Regionen verbleibt.

1.8

Auch ein geeignetes Management der Touristenhäfen ist ein dringliches Anliegen, da der Zugang von Jachten und Sportbooten durch fehlende Informationen über die Existenz von Jachthäfen und die Verbindung zwischen verschiedenen Häfen erschwert wird. Ein mangelhaftes Hafenmanagement beeinträchtigt die Entwicklung des Tourismus und die Beförderung von Personen und Gütern, wobei die Kommission dieses Problem unter dem Gesichtspunkt der Maßnahmen zur Schaffung eines Binnenmarktes und der Freizügigkeit beziehungsweise des freien Warenverkehrs betrachten und zur Behebung dieser Defizite tätig werden kann.

1.9

Das exponentielle Wachstum des Kreuzfahrttourismus hat neue Realitäten geschaffen, deren Auswirkungen noch nicht gebührend untersucht wurden. Die Zunahme der Touristenströme in bestimmten Häfen ist zwar ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Küstengebiete, gleichzeitig gilt es jedoch, die negativen Auswirkungen dieser Verkehrsspitzen an denen jeweiligen Zielorten zu minimieren. Auch müssen Vorbereitungen getroffen werden, um den Gefahren der Wasser- und Luftverschmutzung durch die von den großen Kreuzfahrtschiffen verwendeten Kraftstoffe und den Umweltrisiken durch den Besuch tausender Menschen in den Reisedestinationen zu begegnen. Notwendig sind auch Anstrengungen, um die Informationen über die Zwischenstopps dieser Schiffe mit dem lokalen Tourismus zu koordinieren und damit das Zusammentreffen von Kreuzfahrtpassagieren mit anderen Touristen zu vermeiden, die ja ihren Besuch auf eine andere Tageszeit verlegen könnten.

1.10

Die Maßnahme zur Erfassung des Ausbildungsbedarfs und die Einrichtung einer Rubrik „Blue Jobs“ (Arbeitsplätze Küste/Meer) im EURES-Portal sind wichtige Aktionen, wobei die Kommission allerdings unbedingt tätig werden muss, um die Ergebnisse dieser Untersuchung möglichst umfassend zu verbreiten und die Mitgliedstaaten dafür zu sensibilisieren, diese Ergebnisse in ihren bildungspolitischen Maßnahmen zu berücksichtigen. Nicht nur Bildungsmaßnahmen für die Beschäftigten und Angestellten der im Tourismus tätigen Unternehmen und Behörden müssen gefördert werden, sondern auch entsprechende Maßnahmen für die Unternehmer dieser Branche. Dabei ist neben den Aspekten, die zu einer besseren Qualität der touristischen Dienstleistungen beitragen, auch die Werbung für Europa als Reiseziel zu behandeln. Es muss betont werden, dass die Sensibilisierung für die Bedeutung des Tourismus, des europäischen Kulturerbes und der Umwelt bereits während der Pflichtschulbildung im jungen Alter beginnen muss.

1.11

In Bezug auf die Problematik des Kreuzfahrttourismus muss Europa zudem die Beschäftigungspolitik der Kreuzfahrtunternehmen aufmerksam verfolgen. Die Jugendbeschäftigung in Europa kann und muss in dieser Wachstumsbranche mit großem Beschäftigungspotenzial geschützt werden.

1.12

Der EWSA bekräftigt die Bedeutung bestimmter Regelungen, mit denen die Herausforderungen des Tourismussektors und insbesondere des Küsten- und Meerestourismus bewältigt werden können:

Einrichtung einer europäischen Plattform, auf der Informationen über Verkehrsverbindungen auf Straße, Schiene, See- und Luftweg gebündelt zur Verfügung gestellt werden. Die Mobilitätsprobleme im Zusammenhang mit Touristenströmen sind ein Grund dafür, dass abgelegene Regionen mit hohem touristischen Potenzial insbesondere im Norden Europas nicht für den Fremdenverkehr erschlossen werden, da Informationen über die verfügbaren Verkehrsverbindungen fehlen und die verschiedenen Verkehrsträger nicht aufeinander abgestimmt sind bzw. Verkehrsmittel sogar gänzlich fehlen;

Förderung von naturbezogenem und nachhaltigem Tourismus, Sozialtourismus, Meerestourismus, Kultur- und Sporttourismus, Geschäftsreisen, Wellness- oder Kurreisen, Tourismus mit den Schwerpunkten Geschichte, Kultur, Religion oder Gastronomie;

Anreize für den Tourismus für Senioren und Menschen mit Behinderungen, mit eingeschränkter Mobilität oder besonderen Bedürfnissen;

Anerkennung des einzigartigen Kulturerbes, das Europa von den anderen Regionen der Welt unterscheidet, Schutz dieses Erbes und seine Förderung im Sinne eines herausragenden Reiseziels;

Werben mit der Sicherheit, die Europa seinen Besuchern bei der Reise und dem Aufenthalt bietet: Wasserqualität und Lebensmittelsicherheit, ärztliche Betreuung und Versorgung mit Arzneimitteln sowie in Krankenhäusern, persönliche Sicherheit und Achtung der Bürger und ihrer Grundrechte.

1.13

Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Vorlieben der jetzigen und potenziellen Besucher Europas in einer Studie untersucht werden, um zu ermitteln, was ihnen gefällt und missfällt, aus welchem Grund sie wiederkommen oder nicht wiederkommen würden und warum sie gegebenenfalls Reiseziele außerhalb Europas bevorzugen. Eine solche Studie wäre aussagekräftig in Bezug auf die Verhaltensmuster und Merkmale der Touristen und könnte die Entscheidungsfindung und die Ausarbeitung gemeinsamer Strategien für die Entwicklung dieser Branche unterstützen. Sie sollte den Reiseveranstaltern, Passagier- und Jachthäfen, Fremdenverkehrsverbänden und Tourismusbehörden sowie den europäischen Regierungen und Behörden übermittelt werden.

1.14

Der EWSA fordert darüber hinaus, dass im Rahmen der Debatte über den Tourismus und die zu ergreifenden Maßnahmen eine Verbindung hergestellt wird zwischen dem Meeres- und Küstentourismus einerseits und dem Tourismus an und auf Binnengewässern andererseits, wobei die natürlichen Gegebenheiten der Flüsse, Mündungen und Deltas als Ergänzung des Angebots in Küstenregionen genutzt werden sollten. Flüsse bieten Möglichkeiten für die Förderung neuer Produkte wie Kreuzfahrten mit den Schwerpunkten Gastronomie, ländlicher Tourismus oder Ökotourismus, während Deltamündungen Gebiete von großem landschaftlichen Wert sind, der Wissensvermittlung und Erziehung dienen können und sich für die Beobachtung von Vögeln und der für diese Standorte typischen Artenvielfalt anbieten.

2.   Einleitung

2.1

Die hier behandelte Mitteilung folgt auf eine frühere Mitteilung aus dem Jahr 2010 (1), in der eine Strategie für einen nachhaltigen Küsten- und Meerestourismus angekündigt wurde, und auf die Mitteilung „Blaues Wachstum, Chancen für nachhaltiges marines und maritimes Wachstum“ von 2012 (2). In ihr ist der Küsten- und Meerestourismus als einer von fünf Schwerpunktbereichen der Blauen Wirtschaft aufgeführt.

2.2

Der Küsten- und Meerestourismus gilt bereits als wichtige Wertschöpfungsquelle mit erheblichem Wachstums- und Beschäftigungspotenzial. Er macht einen großen Teil der maritimen Wirtschaft in Europa aus und bietet beinahe 3,2 Millionen Menschen Beschäftigung, von denen fast die Hälfte junge Arbeitnehmer sind. Die Branche verzeichnet eine Bruttowertschöpfung von 183 Mrd. EUR und setzt sich zum Großteil aus Kleinst-, kleinen und mittleren Unternehmen zusammen, wobei mehr als ein Drittel aller im Tourismus im weiteren Sinne tätigen europäischen Unternehmen auf diese Branche entfallen.

2.3

In der Mitteilung sollen die Herausforderungen für die Branche ermittelt werden: Förderung von Leistung und Wettbewerbsfähigkeit durch Verbesserung der Datenlage, Bewältigung der schwankende Nachfrage und Überwindung der Fragmentierung des Sektors; Förderung von Qualifikation und Innovation; Stärkung der Nachhaltigkeit durch Verringerung der Umweltbelastung, Förderung eines innovativen, nachhaltigen und hochwertigen Angebots und Nutzung geografischer Einschränkungen wie einer Insel- und Randlage als Chance.

2.4

In der Mitteilung werden auch Fragen der Nutzung der verfügbaren EU-Mittel und der Einbindung von EU-Politikbereichen mit Auswirkungen auf den Küsten- und Meerestourismus behandelt.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Das Blaue Wachstum, das traditionelle ebenso wie in Entwicklung befindliche und aufstrebende Branchen betrifft, ist eine komplexe und ehrgeizige Herausforderung, die ganzheitlich angegangen werden muss. Bei der Nutzung der Küstengebiete sind die Interessen der verschiedenen einschlägigen Branchen zu berücksichtigen, ohne Umweltfragen auszuklammern. Dabei ist der Raumordnung der terrestrischen und marinen Gebiete besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die die Bedingungen für touristische Angebote prägt. Wichtig ist eine branchenübergreifende Herangehensweise an diese Problematik, denn ohne Landschaftspflege und Umweltschutz können der Küstentourismus oder jede andere Form des Tourismus nicht entwickelt werden. Die Bedeutung der Nutzung erneuerbarer Energieträger steht außer Frage und diese muss nachdrücklich gefördert werden. Es muss aber besonders darauf geachtet werden, dass die Standorte der Anlagen so gewählt werden, dass sie die Entwicklung der Tätigkeiten des Meerestourismus nicht unmöglich machen. Die Ansiedlung von Kernkraftwerken in Touristengebieten sollte vermieden werden.

bilden die Grundlage für die Wirtschaftssysteme und müssen gemeinsam mit der Innovation als tragende Säulen des intelligenten und sozial integrativen Wachstums betrachtet werden.

3.2

Die Hauptprobleme des Tourismus bestehen seit Jahren: Noch immer gilt es, die Herausforderungen in Bezug auf die Saisonabhängigkeit, die prekäre und gering qualifizierte Beschäftigung (insbesondere Jugendbeschäftigung), den Mangel an neuen innovativen Produkten sowie die Schwierigkeiten beim Zugang zur Finanzierung insbesondere für Kleinstunternehmen und KMU zu bewältigen. Außerdem muss unbedingt ein europäischer Politikrahmen für die Entwicklung des Tourismus geschaffen werden: eine echte europäische Tourismuspolitik, die Leitlinien für gemeinsame Entwicklungsstrategien vorsieht und die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Politik auf nationaler Ebene achtet.

3.3

Der Kampf gegen die Saisonabhängigkeit im Küsten- und Meerestourismus muss das Angebot neuer Produkte einschließen, welche neue Verbraucher anziehen (und dies hauptsächlich in der Nebensaison). Die Entwicklung neuer Tourismusprodukte für ältere Menschen und Personen aus benachteiligten Gruppen, die Ausschöpfung des Potenzials des Boots- und Schiffstourismus — Freizeitschifffahrt (Segel- und Motorjachten), Wassersport (leichte Segelboote, Windsurfen, Kitesurfen, Wellenreiten, Bodyboard, Ruderboot, Kanu, Wasserski, Motorboot, Angeln, Speerfischen oder Tauchen einschließlich Wracktauchen) oder Schiffs- und Kreuzfahrten —, die Entwicklung des Tourismus mit den Schwerpunkten Thalassotherapie, Golf oder Naturtourismus — all dies kann eine Lösung sein, um die Auslastungsrate in der Nebensaison zu verbessern, was zum Verbleib der Bevölkerung in den vom Tourismus abhängigen Regionen beiträgt. Des Weiteren können die Förderung der Entwicklung der neuen auf den Tourismus gerichteten Branchen, die aus Küstengebieten stammende Produkte verwenden, und der Zugang zu Breitbandnetzen insbesondere in entlegenen Gebieten dazu beitragen, die Saisonabhängigkeit zu bekämpfen und die Attraktivität dieser Gebiete für junge Menschen zu steigern.

3.4

Einige dieser weniger traditionellen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Boots- und Schiffstourismus werden bereits von örtlichen Sportvereinen umfassend betrieben, deren Fachkenntnisse genutzt werden könnten. Die Förderung des Boots- und Schiffstourismus muss Realität werden, indem Vorschriften erlassen, neue Infrastrukturen geschaffen oder die bereits bestehenden modernisiert bzw. neue Chancen eröffnet werden, die dieses für nicht traditionelle Zielgruppen höchst attraktive Angebot ermöglichen.

Der Meers- und Küstentourismus ist vielerorts mit dem Flusstourismus verknüpft. Diese Verknüpfung darf nicht außer Acht gelassen werden, wobei es empfehlenswert erscheint, gemeinsame Entwicklungsstrategien festzulegen. Vor diesem Hintergrund muss die Freizeitschifffahrt Impulse erhalten, indem neue Produkte entwickelt werden, die die Möglichkeiten der Meeres- und Flussaktivitäten kombinieren.

3.5

Der Tourismus ist nicht gesondert zu betrachten, sondern als eine Branche, die durch verschiedene in der EU ergriffene Maßnahmen geprägt wird — vor allem in den Politikbereichen Verkehr, Beschäftigung, Bildung, Umwelt, Innovation, Sicherheit, Verbraucher usw. Zur Bewältigung der Probleme ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, da die Maßnahmen der verschiedenen Politikbereiche einen unmittelbaren Einfluss auf die Arbeitslosigkeit in der Branche ausüben.

3.6

Die Kommission kann zwar im Bereich Tourismus nicht unmittelbar tätig werden, doch sie kann einige der ermittelten Probleme durch Maßnahmen lösen, die sie im Rahmen ihrer Befugnisse zur Förderung des Binnenmarkts durchführt, insbesondere hinsichtlich der Freizügigkeit und des freien Warenverkehrs sowie im Rahmen der Errichtung des Binnenmarkts. Dabei kann sie Probleme angehen, die über den Tourismus hinausgehen und andere Bereiche berühren, in denen ein Eingreifen nicht nur möglich, sondern wünschenswert ist.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Es gibt nur vereinzelte Informationen über die Tourismusbranche, was Untersuchungen und Bewertungen erschwert, entweder wegen fehlender Daten oder wegen fehlender spezifischer Indikatoren, die Vergleiche ermöglichen. Der EWSA begrüßt die Absicht, diesen Mangel zu beheben, weist aber auf die Tatsache hin, dass seit der Mitteilung von 2010, in der das Problem aufgezeigt wurde, nur geringe Fortschritte in dieser Hinsicht erzielt wurden.

4.2

Die Anstrengungen der Kommission zur Förderung des Qualitätstourismus, den Europa bietet, können zur Verringerung des Problems der Saisonabhängigkeit sowie der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten beitragen. Europa ist mit der Konkurrenz durch neue Reiseziele in Schwellenländern konfrontiert, die mit niedrigen Preisen locken, jedoch nicht die gleichen Bedingungen in puncto Sicherheit und kultureller Reichtum bieten. Die Förderung Europas als Tourismusdestination muss auf dem Unterscheidungsmerkmal „Qualität“ basieren — und dem Besten, was Europa zu bieten hat: einen einzigartigen kulturellen Reichtum, Sicherheit, Vielfalt der Dienstleistungen, Achtung der Bürgerrechte, für Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen zugängliche Gebäude, Verfügbarkeit von Telekommunikationsdiensten und WLAN-Netzen. Die Anerkennung des Stellenwerts des europäischen Kulturerbes und seines Schutzes ist für die Entwicklung eines nachhaltigen und inklusiven Tourismus von strategischer Bedeutung.

4.3

Besondere Aufmerksamkeit verdient auch der Seniorentourismus. Angesichts des weltweiten Phänomens der demografischen Alterung ist bei der Definition der branchenspezifischen Strategien das Augenmerk insbesondere auf den Gesundheits-, Kultur- und Naturtourismus zu legen. Schließlich sind es die Touristen jenseits der 50, die am meisten ausgeben; und Seniorentouristen haben auch mehr Zeit zu reisen und bevorzugen die Nebensaison.

4.4

Der Kreuzfahrtmarkt hat ein erhebliches Wachstum erfahren. Allerdings sind die realen Auswirkungen von Zwischenstopps auf den Küstentourismus sind gering, da die Liegezeiten kurz und die Information über lokale Angebote nicht effizient ist. Die Förderung des in der Mitteilung vorgeschlagenen Dialogs zwischen Kreuzfahrtveranstaltern, Häfen und Interessenträgern des Küstentourismus ist wichtig und muss im Rahmen der Entwicklung von internationalen und interregionalen Partnerschaften, Netzen, Clustern und Strategien der intelligenten Spezialisierung zur Bekämpfung der Fragmentierung der Branche erfolgen. Die Wirksamkeit des vernetzten Arbeitens ist ein Faktum, dem sich der Tourismus nicht verschließen darf. Diese Förderung könnte im Tätigkeitsbereich der hier bereits vorgeschlagenen europäischen Tourismusagentur erfolgen, die als Plattform für eine umfassende Debatte über die Probleme der Branche und als Basis für vernetztes Arbeiten und Zusammenarbeit dienen würde.

4.5

Die Ausbildung von Fachpersonal ist für ein nachhaltiges und integratives Wachstum wesentlich. Die Tourismusbranche steht vor besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Qualifizierung ihrer Arbeitnehmer, da sie einer Vielzahl junger Menschen saisonabhängige und prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit geringeren Karrieremöglichkeiten bietet. Der EWSA begrüßt die Schaffung der Rubrik „blaue Arbeitsplätze“ auf dem EURES-Portal und die Erfassung des Bildungsbedarfs in der Tourismusbranche. Er fordert, die Mitgliedstaaten darum zu ersuchen, diese Ergebnisse bei der Förderung der Bildungsangebote zu berücksichtigen, die aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert werden oder auf privaten Initiativen beruhen, sowie das vernetzte Arbeiten zwischen bereits existierenden Schulen sowie die Präsentation von Projekten der Tourismusbranche im Rahmen des Erasmus+-Programms anzuregen. Dies sollte die Ausbildung für die Unternehmer der Branche einschließen, damit sie bewährte Managementmethoden kennenlernen und übernehmen, hinsichtlich geltender Rechtsvorschriften und der Nutzung von Informationstechnologien auf den neuesten Stand gebracht und für Umweltfragen und spezifische Probleme der Tourismusbranche sensibilisiert werden.

4.6

Bezüglich des Problems, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Anforderungen für Bootsführer vorsehen, ist der EWSA der Ansicht, dass die Vorschläge der Kommission nicht weit genug gehen. Zwar hat die Kommission in der Tourismusbranche nur eingeschränkte Befugnisse, doch gilt das nicht für Fragen der Freizügigkeit und der Errichtung des Binnenmarkts, zu denen dieses Thema gehört.

4.7

Die Förderung der Nutzung innovativer Bewirtschaftungskonzepte über die IKT und das Tourismusportal muss Realität werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass dieses von der Kommission geförderte Portal und andere Tourismus-Websites (z. B. die virtuelle Beobachtungsstelle für den Tourismus, Tourism Link Platform und eCalypso Platform) nicht in alle Sprachen übersetzt wurden, was ihre Nutzung für Interessenten in einigen Ländern möglicherweise mühsamer oder weniger reizvoll macht.

4.8

Die Nachhaltigkeit des Küsten- und Meerestourismus muss auf der umfassenden Achtung der Umwelt beruhen, wobei Land- und Meeresgebiete als miteinander verknüpft zu betrachten sind. Die Stärkung der Nachhaltigkeit durch die vorgeschlagenen Maßnahmen erweist sich als sehr wichtig für die Entwicklung neuer Produkte, die dem Reichtum des europäischen Kulturerbes und dem Umweltschutz Rechnung tragen. Einmal mehr zeigt sich, dass die in anderen Bereichen wie Umwelt, maritime Angelegenheiten und Verkehr zu ergreifenden Maßnahmen mit dem Tourismus in Verbindung stehen, weshalb die Kommission bei diesen Initiativen auf die Folgen für die Tourismusbranche besonders achten sollte.

4.9

Der EWSA begrüßt die Aufnahme des Tourismus in die spezifischen Ziele des Programms COSME 2014-2020, das er als eine wichtige Chance für die Entwicklung der Branche betrachtet. Hierbei geht es um die Förderung internationaler Kooperationsprojekte und die Einführung nachhaltiger Modelle für die Entwicklung des Tourismus im Rahmen der „herausragenden europäischen Reiseziele“. Der EWSA begrüßt auch die Erarbeitung eines Online-Leitfadens für die wichtigsten Finanzierungsmöglichkeiten angesichts des möglichen Querschnittscharakters der Initiativen in der Tourismusbranche. Allerdings ist erneut darauf hinzuweisen, dass Konsultation und Interpretation dieses Online-Leitfadens durch Sprachbarrieren erschwert werden könnten.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2010) 352 final — Stellungnahme des EWSA: ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 44.

(2)  COM(2012) 494 final — Stellungnahme des EWSA: ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 87.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Freisetzung des Potenzials von Crowdfunding in der Europäischen Union

COM(2014) 172 final

(2014/C 451/11)

Berichterstatter:

Juan MENDOZA CASTRO

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Freisetzung des Potenzials von Crowdfunding in der Europäischen Union.

COM(2014) 172 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 195 gegen 1 Stimme bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung der Kommission und hebt das Wachstumspotenzial des Crowdfundings in der EU als alternative Finanzierungsquelle hervor.

1.2

Der EWSA betont, dass Crowdfunding der Wirtschaft in Bezug auf Investitionen, Innovation und Beschäftigung Vorteile bringt und gleichzeitig die Wahlmöglichkeiten der Kreditnehmer vergrößert.

1.3

Der allgemeine Zugang zu Crowdfunding wird sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen von dieser Finanzierungsquelle nicht ausgeschlossen sind.

1.4

Da die Unternehmen in der EU im Vergleich zu denen in den USA stärker auf Bankdarlehen angewiesen sind, werden sie im Falle einer Finanzkrise auch härter von den Folgen der Rezession getroffen. Außerdem sind viele Länder der EU bei der Kreditvergabe an KMU oft zurückhaltender.

1.5

Der EWSA unterstreicht die Abhängigkeit der KMU von Bankdarlehen; dies wird sich auch trotz der zwar vorhandenen, jedoch nicht immer leicht zugänglichen alternativen Quellen nicht ändern.

1.6

Crowdfunding leistet einen Beitrag zur Finanzwelt, mit dem allein sich die Finanzierungsprobleme der Unternehmen nicht beheben lassen.

1.7

In der Agenda 2020 und der Digitalen Agenda wird Start-up-Unternehmen, jungen Innovatoren und den Unternehmen der Sozialwirtschaft eine wichtige Rolle zugeschrieben.

1.8

Crowdfunding ohne Erwerbszweck ist in der EU weit verbreitet. Die Wirkung der steuerlichen Anreize, die je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ausfallen, sollte untersucht werden.

1.9

Europäische Rechtsvorschriften sollten nur bestimmte Arten des gewinnorientierten Crowdfundings abdecken, nicht jedoch Spenden und sonstige Formen der Förderung ohne Erwerbszweck.

1.10

Diese Vorschriften sollten auf einem Gleichgewicht beruhen, das im Schutz der Investoren bei gleichzeitiger Vermeidung übermäßiger Regulierung besteht. Die Regulierung ist jedoch ein wesentliches Mittel, um das Vertrauen der Investoren zu stärken.

1.11

Mit diesen Rechtsvorschriften sollen einfache Verwaltungsverfahren, ein zügiges Entscheidungsverfahren und möglichst geringe Kosten erreicht werden, ebenso wie Neutralität, Transparenz und die Vermeidung unlauterer Praktiken mit zugänglichen Beschwerdeverfahren. Dies alles kommt sowohl den Kreditgebern als auch den Verbrauchern zugute.

1.12

Potenzielle Investoren müssen zugängliche Informationen erhalten, die klar, zweckdienlich, wahrheitsgemäß und nicht irreführend sind.

1.13

Der EWSA schlägt vor, dass die EU das Handeln der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Unterstützung gemeinnütziger Initiativen ergänzt, die Werte wie Beschäftigung, Solidarität, Vielfalt, Demokratie und Freiheit fördern.

1.14

Crowdfunding sollte in den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich als neue Form des Mäzenatentums anerkannt werden.

2.   Einleitung

2.1

In den letzten Jahren wurde es zunehmend üblich, dass sich bestimmte Produktionsmittel von den Unternehmen hin zu Einzelpersonen verlagern, für die der Begriff „Prosument“ geprägt wurde (1).

2.2

Diese Tendenz wurde durch das Internet noch verstärkt und es entwickelte sich die sogenannte „partizipative Wirtschaft“, bei der eine Person beschließt, ein in ihrem Besitz befindliches Gut mit anderen ggf. gegen eine Geldzahlung zu teilen. Siehe hierzu die Stellungnahme des EWSA „Gemeinschaftlicher oder partizipativer Konsum: ein Nachhaltigkeitsmodell für das 21. Jahrhundert“ (2) und die Entschließung des Europäischen Parlaments (3).

2.3

In diesem Zusammenhang florieren eine Handvoll „Startup“-Unternehmen im Internet, da das Netz in vielen Fällen als Plattform dient, über die elektronische, aber auch physische Güter getauscht werden können. Damit das Vertrauen nicht verloren geht, muss leider auch darauf geachtet werden, dass „Abenteurer“ diese Funktion des Internets nicht missbrauchen können.

2.4

Ebenso sind im Finanzbereich anderer Finanzierungsformen aufgetaucht, etwa die Ausgabe hochverzinslicher Schuldverschreibungen auf dem europäischen Primärmarkt oder über lokale Wertpapiermärkte wie den kürzlich gegründeten MARF (Mercado Alternativo de Renta Fija) in Spanien.

2.5

Die Direktdarlehen, durch die sich die Unternehmen über bilaterale Verhandlungen mit den auf diesen Markt spezialisierten Vertretern finanzieren können; oder aber das „Crowdfunding“, bei dem sich Kleinanleger meistens über das Internet zusammenschließen, um den Kreditnehmern Geld zur Verfügung zu stellen.

3.   Zusammenfassung der Mitteilung

3.1

Mit dem Grünbuch zur langfristigen Finanzierung der europäischen Wirtschaft (4) wurde eine breite Debatte über die verschiedenen Faktoren angestoßen, durch die der europäischen Wirtschaft Mittel für Investitionen zufließen können, die für die Sicherstellung des Wirtschaftswachstums unerlässlich sind (5).

3.2

Die Kommission bezeichnet mit Crowdfunding einen öffentlichen Aufruf — üblicherweise über ein Internetportal — zur Beschaffung von Mitteln für bestimmte Projekte oder Unternehmensinvestitionen. Auf diese Weise kommen über die Finanzierungsplattformen und -kampagnen eine Vielzahl von Kleinanlegern mit den Trägern der Projekte in Kontakt. Jedoch muss ein Missbrauch solcher Aufrufe vermieden werden.

3.3

Zu den üblichen Formen des Crowdfunding gehören:

Spenden,

Sponsoring (Werbung im Tausch gegen Finanzierung),

Belohnungen (Erhalt von Gütern oder Dienstleistungen eines geringeren Wertes als der Beitrag),

Vorverkauf (Bereitstellung von Mitteln für die Markteinführung eines Produkts),

verzinste oder unverzinste Darlehen sowie,

die Beteiligung an Unternehmen (Anleihe- oder Aktienkauf).

3.4

Vorteile: Es handelt sich um ein alternatives Finanzierungsmodell, das sich durch Flexibilität, die Beteiligung der Gesellschaft und eine große Vielfalt an Formen auszeichnet. Crowdfunding kommt des Weiteren direkt beim Verbraucher an, erleichtert Marktstudien und verschafft denjenigen einen leichteren Zugang zu Krediten, die bisher in dieser Hinsicht vor größeren Schwierigkeiten standen.

3.5

Allerdings birgt Crowdfunding auch Gefahren und Probleme: Möglichkeit des Betrugs oder der Geldwäsche, Abwesenheit eines Sekundärmarkts usw.

3.6

Zu den einschlägigen europäischen Rechtsnormen zählen die Richtlinie betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren zu veröffentlichen ist (6), die MiFID-Richtlinie (7) sowie die Richtlinien über Zahlungsdienste im Binnenmarkt (8), Verbraucherkreditverträge (9) und Wohnimmobilienkreditverträge (10).

3.7

Im Grünbuch festgelegte Prioritäten: Einrichtung einer Expertengruppe, die sie bezüglich verschiedener Aspekte berät; Mehrung des Fachwissens und Bereitstellung entsprechender Information; Bestandsaufnahme der in den Mitgliedstaaten geltenden nationalen Rechtsvorschriften, um zu prüfen, ob Regulierungsmaßnahmen auf der EU-Ebene erforderlich sind.

3.8

Die Kommission räumt ein, dass die Finanzierungen über Crowdfunding verglichen mit den Bankkrediten noch eine Randerscheinung, im Vergleich zu anderen Quellen wie „Business Angels“ oder Risikokapital jedoch „viel versprechend“ sind.

3.9

Bei der Entwicklung des Crowdfundings sind verschiedene Aufgaben zu bewältigen, etwa hinsichtlich des Mangels an Transparenz bezüglich der geltenden Vorschriften, der Rolle im Binnenmarkt und der Integration in die Finanzwelt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA nimmt die Mitteilung zur Kenntnis und ist ebenfalls der Ansicht, dass das Fachwissen über diesen Finanzierungskanal, der in Europa über Wachstumspotenzial verfügt, erweitert werden muss. Auch stimmt er der Meinung zu, dass alternative Finanzierungsmodelle den Aufstieg der Jungunternehmen auf der „Finanzierungsleiter“ begünstigen können.

4.2

Aus den Daten geht die im Grünbuch anklingende geringe Bedeutung des Umfangs an Crowdfunding hervor, wobei der für 2012 geschätzte Wert von 735 Mio. EUR (11) Bankkrediten an Nichtfinanzinstitute in Höhe von 6  000 Mrd. EUR (12) gegenübersteht.

4.3

Allerdings nimmt Crowdfunding zu: Weltweit wuchs die Finanzierung über Crowdfunding stetig, von 530 Mio. USD 2009 auf einen geschätzten Gesamtbetrag von 5,1 Mrd. USD im Jahr 2013, was einer Zunahme im Jahresvergleich um 76 % entspricht. Geografisch gesehen bildet Nordamerika (davon entfällt die Mehrheit auf die USA) mit 60 % den größten Markt, gefolgt von Europa mit einem Anteil von 36 % (13).

4.4

Crowdfunding hat positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, da es eine Alternative zu traditionellen Finanzierungsquellen bildet, durch die Investitionen begünstigt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Desgleichen kann eine solche Finanzierung die Entwicklung von Aktivitäten in der Sozialwirtschaft, dem Handwerk und in Kleinstunternehmen anstoßen (14).

4.5

Der allgemeine Finanzierungszugang muss gefördert und unterstützt werden, um die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an den Crowdfunding-Plattformen zu gewährleisten, wodurch verhindert wird, dass sie von dieser neuen Finanzierungsart ausgeschlossen werden, die eine zusätzliche Möglichkeit für den dritten Sektor bietet.

4.6

Der EWSA begrüßt die Entscheidung, Vertreter der KMU an der Sachverständigengruppe zu beteiligen. In dieser Gruppe sollte sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite vertreten sein.

5.   Finanzstruktur und Wirtschaftswachstum

5.1

Die Finanzstruktur steht in unmittelbarer Beziehung zum Wirtschaftswachstum und den Folgen der Krise. In den USA finanzieren sich die Unternehmen — im Vergleich zur EU — weiterhin zu einem größeren Anteil auf den Kapitalmärkten; in der EU sind die Unternehmen größtenteils auf Bankkredite angewiesen. Die entsprechende Bedeutung der Banken liegt in den USA unter 20 %, während sie in einigen Mitgliedstaaten der EU 60 % übersteigt.

5.2

Die Banken tendieren während einer „normalen“ Rezession eher zur Kreditvergabe und mildern so deren Auswirkungen auf die Wirtschaft. Dies ändert sich jedoch, wenn die Wirtschaftskrise mit einer Finanzkrise zusammenfällt. In diesem Fall sind die Rezessionen in den Ländern, in denen die Kreditvergabe überwiegend durch Banken erfolgt, dreimal tiefer als in den Ländern, deren Finanzstruktur marktorientiert ist (15).

5.3

Der Mangel an ausreichender Finanzierung ist in der EU das zweitgrößte Problem der Unternehmen (neben dem größten Problem, der Kundenakquise) (16).

5.4

Eine Liquiditätsspritze der EZB für das Finanzsystem zur Förderung der Kreditvergabe an Unternehmen wird zweifelsohne eine sehr gute Maßnahme für die europäische Wirtschaft sein.

6.   Crowdfunding mit Erwerbszweck

6.1   Finanzierung der KMU

6.1.1

Der EWSA hat die Finanzierungsprobleme in mehreren Stellungnahmen behandelt und die Bedeutung der KMU für die europäische Wirtschaft unterstrichen (17).

6.1.2

Die Zurückhaltung bei der Kreditvergabe (die „Kreditklemme“) schadet der Wirtschaft und bedroht insbesondere die Existenz der KMU, für die Bankkredite (die oft schwer erhältlich sind) eine grundlegende Finanzierungsquelle darstellen. Sie ist einer der Gründe für den Anstieg der Arbeitslosigkeit, von dem einige Mitgliedstaaten der EU besonders hart getroffen sind.

6.1.3

Da es sich im Allgemeinen um geringe Beträge handelt, ist Crowdfunding im Grunde auf KMU (und unter diesen auf die Kleinstunternehmen) ausgerichtet, die im europäischen Unternehmensgefüge die überwältigende Mehrzahl bilden (99,8 % aller Unternehmen ausgenommen Finanzinstitute in der EU-28) und die mit 67,2 % der Arbeitskräfte entscheidend zur Beschäftigung beitragen (18).

6.1.4

Der EWSA stellt fest, dass bezüglich der Wirksamkeit der alternativen Finanzierungsquellen hier und da Skepsis geäußert wird. Die Mitteilung der Kommission zur langfristigen Finanzierung der europäischen Wirtschaft (19) wurde von der Europäischen Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe als Fortschritt gesehen, der jedoch nicht ausreicht; Crowdfunding beträfe nur eine „kleine“ Zahl von Unternehmen, während Startups nur 1 % der KMU ausmachen (20).

6.2   Finanzierung von Startups

6.2.1

Der EWSA verweist auf die Notwendigkeit, dass die Union und die Mitgliedstaaten Crowdfunding fördern und unterstützen, insbesondere im Falle der innovativen Unternehmensgründungen. Die der Forschung und Entwicklung von Hochtechnologie gewidmeten Start-up-Unternehmen — die zu den Zielen der Digitalen Agenda gehören — sind aufgrund ihres Potenzials im Hinblick auf die Förderung von Wachstum und Beschäftigung von besonderem Interesse. Dennoch dürfen traditionelle Branchen und das Handwerk nicht ausgeschlossen werden, die ebenfalls sehr innovativ sein können.

6.2.2

Der EWSA ruft die EU und die Mitgliedstaaten außerdem auf, Crowdfunding für die Entwicklung und Förderung sozialer Innovation, junger Innovatoren und der Sozialwirtschaft zu fördern und zu unterstützen. Unternehmen der Sozialwirtschaft kommt im Rahmen der Europa-2020-Strategie eine Schlüsselrolle zu, wenn es um soziale Inklusion und die Integration schutzbedürftiger Gruppen durch die Schaffung von Arbeitsplätzen geht und so soziale und wirtschaftliche Werte in Einklang gebracht werden.

6.2.3

Für solche Arten von Initiativen erweist sich das für die Finanzierung des normalen Betriebs eines Unternehmens nicht angemessene Crowdfunding als hervorragend geeignet — in vielen Fällen handelt es sich um junge Unternehmer, die ein konkretes Projekt entwickeln wollen.

7.   Crowdfunding in der Finanzwelt der EU

7.1

Der EWSA weist darauf hin, dass Crowdfunding eine relativ bedeutende Rolle als Finanzierungsquelle neben weiteren neuartigen Formen wie „Business Angels“ oder Risikokapital, „Win-win-Darlehen“ (21) usw. einnehmen kann. Aber das Hauptproblem, vor dem die wirtschafts- und geldpolitischen Entscheidungsträger derzeit stehen, sind abgesehen von der Kreditklemme die verlangten hohen Sicherheiten.

7.2

Die Förderung der Finanzierungskanäle abseits der Banken kann in der EU zur Akzentuierung der sich bereits seit zwei Jahrzehnten abzeichnenden Tendenz beitragen, dass die Unternehmen eher geneigt sind, sich den Kapitalmärkten zuzuwenden. Dabei müssen die Anforderungen an die Solvabilität bedacht werden, um die Rückgabe der investierten Beträge sicherzustellen und mehr Rechtssicherheit für diese Finanzierungsquelle zu schaffen.

8.   Crowdfunding ohne Erwerbszweck

8.1

Die Spenden, zinslosen Darlehen oder kostenfreien Übertragungen von Rechten können auch für Projekte kommerzieller Art gegeben werden, bestehen jedoch normalerweise aus solidarischen Beiträgen für soziale Initiativen, die von Organisationen ohne Erwerbszweck ergriffen werden. Mittels Mäzenatentum kann die Veranstaltung bzw. die Beibehaltung kultureller oder sportlicher Aktivitäten gefördert werden.

8.2

Crowdfunding ist ein übliches Finanzierungsmodell der Sozialunternehmen. Das Potenzial dieses Konzepts insbesondere hinsichtlich inklusiven Unternehmertums muss vor dem Hintergrund der Initiative für soziales Unternehmertum bewertet werden.

8.3

Da es zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede bei der steuerlichen Behandlung von Spenden und bestimmten Formen von Investitionen gibt, unterstützt der EWSA den Vorschlag der Kommission, die Folgen der steuerlichen Anreize zu untersuchen.

9.   Besondere Bemerkungen

9.1   Die Notwendigkeit europäischer Rechtsvorschriften

9.1.1

Damit Crowdfunding zu einer funktionierenden Finanzierungsalternative werden kann, muss das Vertrauen der Investoren gestärkt werden. Vor diesem Hintergrund kommt der Regulierungsstelle eine wesentliche Rolle zu.

9.1.2

Die Kommission erwähnt mögliche „künftige Maßnahmen“, die sie nach Kenntnisnahme des Standpunkts der Expertengruppe ergreifen könnte. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass es für die Förderung des grenzübergreifenden Crowdfunding sicherlich Rechtsvorschriften bedarf, mit denen die bisher von den Mitgliedstaaten eingeführten (bzw. zur Einführung vorgesehenen) Kriterien harmonisiert werden. Auf diesen „neuen Märkten“ muss die Aufmerksamkeit insbesondere den Interessen und dem Schutz der Verbraucher gelten.

9.1.3

Die Harmonisierung könnte in der Annahme einer Verordnung zu Crowdfunding-Plattformen mit Erwerbszweck bestehen, die mindestens folgende Aspekte umfasst:

Modalitäten,

die zu leistenden Dienste,

Begrenzung der Beträge,

Informationspflichten (einschließlich möglicher Interessenkonflikte),

Ausnahmen vom Geltungsbereich,

Verbotsregelungen (insbesondere in Bezug auf das Verbot des Erwerbs und der Veröffentlichung verbundener Projekte),

Erfordernis gleicher Wettbewerbsbedingungen,

Finanzvorschriften, und eine

Pflicht zur Führung eines öffentlichen Registers (Öffentlichkeit und Transparenz).

9.1.4

Sponsoring und sonstige Aktivitäten ohne Erwerbszweck sollten nicht unter eine eventuelle europäische Regelung fallen, da bei ihnen nicht die Risiken bestehen, die mit kommerziellen Aktivitäten verbunden sind. Wenn es zu Unregelmäßigkeiten kommt, so fallen diese bereits unter die verwaltungs- und strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten.

9.1.5

Der EWSA schlägt vor, in einer Regelung des Crowdfundings grundsätzlich folgende Aspekte zu behandeln:

Ausgabe oder Zeichnung von Wertpapieren von Gesellschaften in Form von Aktien (Anleihe- oder Aktienkauf);

Ausgabe oder Zeichnung von Wertpapieren von Gesellschaften mit beschränkter Haftung;

verzinste Darlehen (für Privatpersonen oder Unternehmen).

9.1.6

Eventuelle europäische Rechtsnormen sollten flexibel und ausgewogen sein; zu vermeiden sind sowohl eine ausufernde Regulierung (die die Verbreitung des Crowdfundings behindern könnte) als auch ein Mangel an Investorenschutz. Sie sollten somit objektiv, transparent und den angestrebten Zielen angemessen sein sowie den Investoren ein hohes Schutzniveau bieten.

9.1.7

In jedem Fall müssen sich die Investoren dessen bewusst sein, dass ein gewisses Risiko nie ausgeschlossen werden kann.

9.1.8

Die wesentlichen Grundsätze sind einfache Verwaltungsverfahren und so wenig Bürokratie wie möglich. Außerdem bedarf es:

gleicher Wettbewerbsbedingungen,

einer Verringerung der Verwaltungskosten, und

kurzer Bearbeitungsfristen.

9.1.9

Die Vorschriften sollten sicherstellen, dass die Crowdfundingplattformen folgenden Grundsätzen entsprechen:

Neutralität,

Sorgfalt,

Bestreben, ihren Kunden — die gut informiert werden müssen — größtmögliche Vorteile zu bieten,

keine unfaire Verkaufspraktiken im Rahmen ihrer Vermarktung sowie

zugängliche Beschwerdeverfahren.

9.1.10

Die Informationen für potenzielle Investoren sollten:

klar und relevant,

zweckmäßig und erschöpfend,

objektiv und wahrheitsgemäß sowie,

weder durch Handlungen noch durch Unterlassungen irreführend sein.

9.1.11

Die Rechte am geistigen Eigentum derjenigen, die Projekte im Internet veröffentlichen, werden mit Inkrafttreten der Verordnung zur Einführung des Einheitlichen Europäischen Patents geschützt.

9.2   Förderung der alternativen Finanzierungsquellen

9.2.1

Der EWSA hält es für angezeigt, dass die Behörden Kampagnen zur Bekanntmachung des Crowdfundings starten, damit sich die Unternehmen zunehmend auf die Kapitalmärkte ausrichten. Insbesondere sollten sie den KMU in Zusammenarbeit mit ihren Verbänden relevante Informationen verschaffen.

9.2.2

Zur Einbindung des Crowdfundings in die europäische Wirtschaft bedarf es außerdem einer Weiterbildung für Unternehmer und Investoren (und insbesondere für benachteiligte Unternehmer). Hierfür müssen die notwendigen Finanzmittel für die Vermittlung entsprechender Kenntnisse sowohl hinsichtlich der Verwaltung der Plattformen als auch der angemessenen Bewertung der mit den Transaktionen verbundenen Risiken bereitgestellt werden.

9.2.3

Crowdfunding ohne Erwerbszweck

Der EWSA hebt Folgendes hervor:

Crowdfunding ohne Erwerbszweck kann zur Vertiefung der gemeinsamen europäischen Werte wie Solidarität, Vielfalt, Demokratie und Freiheit beitragen. Auch in diesem Bereich sollte die Union Maßnahmen ergreifen, die die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen ergänzen, indem sie die Schaffung von Plattformen von europäischem Interesse für Projekte unterstützt, die auf die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ausgerichtet sind und an denen sich die Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und sonstige Organisationen der Zivilgesellschaft aktiv beteiligen können.

Crowdfunding sollte in den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich als neue Form des Mäzenatentums anerkannt werden, und zwar nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, da es hierbei um Produkt- und Prozessinnovation geht. Crowdfunding muss von den Mitgliedstaaten anerkannt und gefördert werden.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Alvin Toffler, „Die dritte Welle“, S. 86 ff.

(2)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 1.

(3)  Entschließung des EP zur europäischen Agenda der Verbraucherschutzpolitik — 2012/2133(INI).

(4)  COM(2013) 150 final.

(5)  Siehe Stellungnahme des EWSA im ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11.

(6)  Richtlinie 2003/71/EG (ABl. L 345, S. 64), geändert durch Richtlinie 2010/73/EG (ABl. L 327, S. 1).

(7)  Richtlinie 2004/39/EG (ABl. L 145, S. 1).

(8)  Richtlinie 2007/64/EG (ABl. L 319, S. 1).

(9)  Richtlinie 2008/48/EG (ABl. L 133, S. 66).

(10)  Vorschlag für eine Richtlinie COM(2011) 142 final.

(11)  Massolution (2013), Crowdfunding Industry Report 2012, http://www.crowdsourcing.org/research

(12)  European Banking Federation Facts and Figures (2012): http://www.ebf-fbe.eu/uploads/FF2012.pdf

(13)  http://www.bruegel.org/nc/blog/detail/article/1330-the-crowdfunding-phenomenon

(14)  Siehe EWSA-Stellungnahmen zu den Themen „Unternehmensfinanzierung — Untersuchung alternativer Mechanismen“ und „Langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(15)  Financial structure and growth. BIS Quarterly Review, März 2014.

(16)  EZB: Survey on the access to finance of SMEs in the euro area, 2013.

(17)  (ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 23); (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 7); ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 45); (ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 33).

(18)  Eurostat: Überblick über die strukturelle Unternehmensstatistik, Dezember 2013.

(19)  COM(2014) 168 final.

(20)  UEAPME, Mitteilung vom 27.3.2014.

(21)  http://www.bofidi.be/en/nieuws-3/recent-posts/148-winwinloananinterestingalternativemethodoffinancing


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/76


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über persönliche Schutzausrüstungen

COM(2014) 186 final — 2014/0108 (COD)

(2014/C 451/12)

Alleinberichterstatterin:

Emmanuelle BUTAUD-STUBBS

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 2. April 2014 bzw. am 24. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über persönliche Schutzausrüstungen.

COM(2014) 186 final — 2014/0108 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 191 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA erachtet die Initiative der Europäischen Kommission für begrüßenswert, die Richtlinie von 1989 über persönliche Schutzausrüstungen (PSA), d. h. „jede Vorrichtung oder jedes Mittel, das dazu bestimmt ist, von einer Person getragen oder gehalten zu werden, und das diese gegen ein oder mehrere Risiken schützen soll, die ihre Gesundheit sowie ihre Sicherheit gefährden können“, durch eine Verordnung zu ersetzen, um damit eine verbindliche und einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

1.2

Der EWSA hält die meisten der vorgeschlagenen Änderungen für sinnvoll:

Angleichung der Rechtsvorschriften für Produkte an ein einheitliches Muster,

klare Festlegung der Befugnisse aller privaten und öffentlichen Akteure, die daran beteiligt sind, zu überprüfen, ob die PSA den Anforderungen des Verordnungsvorschlags und der Anhänge entsprechen,

Einführung zweier neuer Kategorien von PSA: maßgefertigte und individuell angepasste PSA,

die neue, fünfjährige Dauer der Gültigkeit der Konformitätsbescheinigungen.

1.3

Der Ausschuss zieht jedoch die Zweckmäßigkeit einiger der vorgeschlagenen Änderungen in Zweifel:

die Einbeziehung der für private Verwendung hergestellten PSA gegen Hitze, Feuchtigkeit und Wasser,

die unterschiedlichen Regelungen in Bezug auf die Sprachen, in denen die verschiedenen erforderlichen Informationen vorzulegen sind.

1.4

Der EWSA ist im Übrigen der Auffassung, dass die Benutzung von PSA in den Rahmen einer allgemeinen Politik der Verhütung von Gefahren am Arbeitsplatz einzuordnen ist, die insbesondere folgende Aspekte umfasst:

die exakte Bestimmung der Risikofaktoren,

die Anpassung der Arbeitsplätze im Hinblick auf eine Gefahrenreduzierung,

die Änderung der Arbeitsorganisation,

die Schulung der Beschäftigten in Bezug auf Risikoprävention, Ergonomie, Tragen und Verwenden von PSA.

1.5

All diese Ziele stehen auch im Zentrum des neuen europäischen Strategierahmens für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz 2014-2020, der am 6. Juni 2014 verabschiedet wurde und auf den im Verordnungsvorschlag COM(2014) 186 final Bezug genommen werden sollte. Es sei darauf hingewiesen, dass im Jahr 2013 drei Millionen Arbeitnehmer Opfer eines schweren Arbeitsunfalls geworden sind.

1.6

Bedauerlich ist auch, dass keinerlei wirtschaftliche Erwägungen im Hinblick auf den europäischen Markt für PSA eingeflossen sind; dieser wurde für 2010 auf etwa zehn Milliarden Euro geschätzt, wächst weiterhin, erhält durch technische Innovationen (neue Fasern, intelligente Textilien, Nanomaterialien usw.) neuen Auftrieb und trägt dem Bedürfnis nach Schutz ebenso Rechnung wie dem Wunsch der Gesellschaft nach Komfort, Wohlergehen, Leichtigkeit und Ästhetik.

1.7

Zudem bedauert der EWSA, dass die Verfahren für die Wartung, Kontrolle und Überholung der PSA, der Fall der von mehreren Personen benutzten PSA sowie der Fall von gebrauchten PSA nicht hinreichend berücksichtigt werden.

2.   Inhalt des Verordnungsvorschlags

2.1   Stärken und Schwächen der Richtlinie von 1989

2.1.1

Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates stützt sich auf Artikel 114 des Vertrags und soll die Mängel beheben, die beim Funktionieren des Binnenmarkts für persönliche Schutzausrüstungen festgestellt wurden.

2.1.2

Die Richtlinie 89/686/EWG über persönliche Schutzausrüstungen wurde am 21. Dezember 1989 verabschiedet. Sie ist seit dem 1. Juli 1995 in vollem Umfang anwendbar.

2.1.3

In der Richtlinie werden PSA definiert als „jede Vorrichtung oder jedes Mittel, das dazu bestimmt ist, von einer Person getragen oder gehalten zu werden, und das diese gegen ein oder mehrere Risiken schützen soll, die ihre Gesundheit sowie ihre Sicherheit gefährden können“.

2.1.4

In ihr werden die wesentlichen Sicherheitsanforderungen definiert, denen PSA genügen müssen, damit sie in Verkehr gebracht und frei auf dem Binnenmarkt gehandelt werden können. Die PSA müssen entsprechend den Anforderungen der Richtlinie konzipiert und hergestellt werden. Die Hersteller müssen die CE-Kennzeichnung anbringen und den Nutzern Anweisungen für die Lagerung, Verwendung, Reinigung, Wartung und Desinfektion der PSA liefern.

2.1.5

Seit 1995 sind verschiedene Schwierigkeiten in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie aufgetreten:

Unterschiede bei der Auslegung hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten, die zur Zersplitterung des Binnenmarkts geführt haben,

ein falsches Verständnis einiger Bestimmungen durch die Hersteller und notifizierten Behörden,

der Ausschluss einiger Kategorien von PSA, der nicht immer gerechtfertigt erschien (ein und dieselbe Schutzausrüstung wurde als PSA betrachtet, wenn sie zu beruflichen Zwecken verwendet wurde, beispielsweise Spülhandschuhe in einem Restaurant, bei privater Verwendung hingegen nicht).

2.1.6

Im Übrigen strebt die Europäische Kommission ja eine Vereinfachung an und muss die Richtlinie von 1989 in Einklang mit dem neuen Rechtsrahmen bringen, der einen gemeinsamen Rahmen für produktbezogene Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union festlegt.

2.2   Inhalt des Verordnungsvorschlags

2.2.1   Geänderter Geltungsbereich

2.2.1.1

Künftig sind auch für private Verwendung konzipierte und hergestellte PSA gegen Hitze, Feuchtigkeit und Wasser, die nicht von extremer Art sind (Spülhandschuhe, Topfhandschuhe, Gummistiefel usw.), erfasst, während Schutzhelme für Benutzer zweirädriger und dreirädriger Kraftfahrzeuge in Zukunft vom Geltungsbereich ausgeschlossen sind, da sie einer Regelung der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa unterliegen.

2.2.2   Angleichung an die typischen Bestimmungen für produktbezogene Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union

2.2.2.1

Die Verpflichtungen aller betroffenen Wirtschaftsakteure, d. h. Hersteller, Bevollmächtigte, Importeure und Händler, werden gemäß den Bestimmungen für produktbezogene Harmonisierungsrechtsvorschriften festgelegt. Der neue, seit 2008 existierende Rechtsrahmen ist ein horizontales Binnenmarktinstrument, mit dem die Effizienz der EU-Rechtsvorschriften für die Produktsicherheit erhöht werden soll (Verordnung (EG) Nr. 765/2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung und Beschluss Nr. 768/2008/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen zur Vermarktung von Produkten).

2.2.3   Eine neue Aufteilung nach Risikokategorien für die Konformitätsbewertungsverfahren

2.2.3.1

Für PSA wird eine neue Einteilung in drei Risikokategorien vorgenommen, für die jeweils ein eigenes Zertifizierungsverfahren gilt.

Risikokategorien

Zertifizierungsverfahren

Beispiele

Kategorie I

Geringfügige Risiken: oberflächliche mechanische Verletzungen, Berührung mit Wasser oder heißen Oberflächen (weniger als 50 oC), Schutz vor Sonneneinstrahlung und Witterungsbedingungen, die nicht von extremer Art sind

Selbstzertifizierung

Interne Fertigungskontrolle (Modul A, Anhang IV)

Spülhandschuhe, Topfhandschuhe, Sonnenbrillen usw.

Kategorie II

PSA zum Schutz vor Risiken, die weder geringfügig (I) noch sehr schwerwiegend (III) sind,

maßgefertigte PSA, die nicht zum Schutz vor Risiken gemäß Kategorie I bestimmt sind

EU-Baumusterprüfung (Modul B, Anhang V)

Konformität mit der Bauart auf der Grundlage einer internen Fertigungskontrolle (Modul C, Anhang VI)

Schutzhelme, Warnbekleidung usw.

Kategorie III

Sehr schwerwiegende Risiken: schädliche Stoffe, aggressive Chemikalien, ionisierende Strahlung, warme Umgebung (mehr als 100 oC), kalte Umgebung (weniger als - 50 oC), Stürze aus der Höhe, Stromschlag und Arbeit an unter Spannung stehenden Teilen, Ertrinken, Schnittverletzungen durch Kettensägen und Hochdruckschneidegeräte, Verletzungen durch Projektile oder Messerstiche, schädlicher Lärm usw.

EU-Baumusterprüfung (Modul B, Anhang V) + zusätzliches Verfahren unter Beteiligung einer notifizierten Stelle:

entweder Konformität mit der Bauart/Produktprüfung (Modul F, Anhang VII),

oder Konformität mit der Bauart auf der Grundlage einer Qualitätssicherung bezogen auf den Produktionsprozess (Modul D, Anhang VIII),

Nummer der zertifizierten Stelle.

Atemschutzgeräte, PSA zum Schutz gegen Stürze aus der Höhe usw.

2.2.3.2

Festzustellen ist, dass Kategorie III um einige neue Risiken ergänzt wurde, beispielsweise Verletzungen durch Messerstiche und schädlicher Lärm.

2.2.3.3

Die Bestimmungen in Bezug auf die in Artikel 3 definierten individuell angepassten PSA sind nicht ganz eindeutig: Welcher Risikokategorie sind sie zuzuordnen und welchem Zertifizierungsverfahren unterliegen sie entsprechend?

2.2.4   Begrenzung der Gültigkeitsdauer von Konformitätsbescheinigungen auf fünf Jahre

2.2.4.1

Diese wesentliche Änderung wurde auf Ersuchen einiger Kontrollbehörden der Mitgliedstaaten eingeführt, die festgestellt hatten, dass auf ihrem Markt PSA in Verkehr gebracht wurden, die über noch gültige Zertifizierungen verfügten, obwohl sich die entsprechenden Normen grundlegend geändert hatten (dies betraf insbesondere Schwimmwesten).

2.2.5   Klärung der wesentlichen Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen

2.2.5.1

In der Verordnung nicht mehr enthalten sind Abschnitte zu Anforderungen in Bezug auf drei Risikogruppen, die sich als unerfüllbar erwiesen haben bzw. missverständlich sind:

Schutz vor mechanischen Schwingungen (Abschnitt 3.1.3),

Schutz vor schädlichen Auswirkungen von Lärm (Abschnitt 3.5),

Schutz vor nichtionisierender Strahlung (Abschnitt 3.9.1).

2.2.6   Stärkere Kontrolle der notifizierten Stellen

2.2.6.1

Die Mitgliedstaaten verfügen über verstärkte Befugnisse zur Kontrolle der notifizierten Stellen. Sie können die Notifizierung einer Stelle verweigern, wenn diese jahrelang nicht tätig gewesen ist, wahrscheinlich nicht mehr über die personellen und technischen Ressourcen für die Ausstellung von Zertifikaten verfügt oder in der Vergangenheit Konformitätsbescheinigungen für nichtkonforme PSA ausgestellt hat.

2.2.7   Ein Übergangszeitraum nach dem Inkrafttreten

2.2.7.1

Um den Herstellern, den notifizierten Stellen und den Mitgliedstaaten Zeit zur Umstellung auf die neuen Anforderungen einzuräumen, ist ein Übergangszeitraum von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten der Verordnung vorgesehen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Ist die Einbeziehung von für die private Verwendung bestimmten PSA gegen geringfügige Risiken wie Wasser und Feuchtigkeit praktikabel? Wie sollen die Verbraucher sensibilisiert werden? Sollten möglicherweise die Bedingungen für die CE-Kennzeichnung (Lesbarkeit, Format usw.) für alle PSA zur privaten Verwendung, die käuflich erworben, gemietet oder ausgeliehen werden können, präzisiert werden, etwa nach dem Vorbild der bereits existierenden Bestimmungen für die Kennzeichnung, die Zusammensetzung und die Anleitungen zur Pflege von Textilien? Werden sich diese neuen Anforderungen nicht in einem höheren Verkaufspreis niederschlagen?

3.2

Bedauerlich ist der mangelnde Verweis auf den technischen Fortschritt, der doch in diesem Bereich ganz besonders spürbar ist, etwa in Bezug auf Fasern und Textilien (Teflon, Latex, Neopren, Nitril usw.), Beschichtungs- und Filterverfahren, Integration von Sensoren sowie mikroelektronische Sensoren zur Übermittlung von Informationen oder Energie (intelligente Textilien), die einen erhöhten Schutz vor Risiken bieten.

3.3

Es wird auch nicht auf das Potenzial des Marktes für die PSA herstellende europäische Industrie (Textil, Bekleidung, Schuhe, Zubehör) verwiesen, den die Europäische Kommission 2007 als einen der führenden Industriemärkte ausgemacht hat.

3.4

Unzureichend ist der Verordnungsvorschlag ferner in Bezug auf die menschlichen Aspekte: Eine optimale Verwendung von PSA setzt voraus, dass die Beschäftigten zunächst Informations- und Schulungsveranstaltungen besuchen, auf denen ihnen die Risiken, Bedingungen für die Verwendung von PSA, Anweisungen und wichtige Ratschläge nahegebracht werden. Auch müssen Probe- und Testphasen für PSA eingeplant werden, um ihre Anpassung an die Gestalt des Nutzers sowie an den Arbeitsplatz zu gewährleisten (Anhang II Ziffer 1.3 ist insbesondere im Hinblick auf die Erfassung von Erfahrungen auf nationaler Ebene zu ergänzen).

3.5

All diese Aspekte sind im Zusammenhang mit dem Vorschlag für eine Richtlinie über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz vom 12. Juni 1989 (89/391/EWG) zu sehen, mit der Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verbessert werden sollen und in der die Pflichten der Arbeitgeber sowie die Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer festgelegt sind.

3.6

Die Maßnahmen im Bereich der PSA sind Teil einer umfassenderen Politik auf Ebene der Unternehmen bzw. im Bereich der Verringerung der Risikoexposition. Grundlage einer solchen Politik sind die genaue Bestimmung der Risikofaktoren und ein Instrumentarium an Maßnahmen zu ihrer Reduzierung oder gänzlichen Beseitigung, beispielsweise die Prüfung der Möglichkeit, eine angepasste Vorrichtung zum Auffangen von Luft einzusetzen, bevor auf Atemschutzgeräte zurückgegriffen wird. Anstelle des Schutzes von Einzelpersonen ist stets eine Lösung zu bevorzugen, bei der den Gefahren kollektiv vorgebeugt wird.

3.7

Die Bewertung der Risiken wird mit Partnern innerhalb der Unternehmen, d. h. mit Personalvertretungsorganen, Delegierten der Beschäftigten bzw. Ausschüssen für Arbeitshygiene und Arbeitssicherheit, oder außerhalb der Unternehmen vorgenommen, d. h. mit Arbeitsmedizinern, Planungsbüros oder öffentlichen Stellen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

3.8

Um einen maximalen Schutz gegen die Risiken zu gewährleisten, vor denen diese PSA schützen sollen, ist den Verfahren für die Wartung, Kontrolle und Überholung der PSA besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Wartung umfasst insbesondere die angemessene Inspektion, Pflege, Reinigung, Reparatur und Aufbewahrung.

3.9

In dem Verordnungsvorschlag wird der Schutz vor Mehrfachrisiken nur teilweise behandelt.

3.10

In dem Verordnungsvorschlag werden keine PSA behandelt, die von mehreren Personen benutzt werden (beispielsweise Schutzhelme auf einer Baustelle). Hier müssen Hygieneregeln festgelegt werden, die einzuhalten sind.

3.11

In dem Verordnungsvorschlag wird auch nicht der Fall behandelt, dass Beschränkungen bei der Benutzung von PSA auftreten. Es kann sein, dass Beschäftigte aus medizinischen Gründen nicht in der Lage sind, eine PSA zu tragen. Solche Fälle sind zwar selten, treten jedoch auf, und es stellt sich die Frage, wie der Arbeitgeber, der allgemeinen Sicherheitsanforderungen unterliegt, damit umgeht: Versetzung des Arbeitnehmers an einen anderen Arbeitsplatz, Anpassung des Arbeitsplatzes usw.?

3.12

Auch die Frage gebrauchter PSA wird im Verordnungsvorschlag nicht behandelt, obwohl einigen nationalen Quellen zufolge der Markt insbesondere für PSA zum Schutz vor Risiken der Kategorie I infolge der Wirtschaftskrise, die viele Branchen betrifft, in denen PSA besonders häufig eingesetzt werden, rasant wächst.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Text des Verordnungsvorschlags, Erwägungsgrund 24: Eine fünfjährige Gültigkeit für die Konformitätsbescheinigung für PSA gewährleistet eine Prüfung der PSA nach dem jeweiligen Stand der Technik, was mit den Zielen der Prävention und der Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer gemäß der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG vom 12. Juni 1989 im Einklang steht. Für den Fall, dass sich die Normen nicht wesentlich weiterentwickelt haben, ist ein vereinfachtes Verfahren vorgesehen.

4.2

Artikel 3: Einige Definitionen sollten hinzugefügt werden, etwa Definitionen der Begriffe „gebrauchte PSA“, „Marktüberwachungsbehörden“ (die in den Artikeln 11 und 13 erwähnt werden) sowie „notifizierende Behörde“, die auf nationaler Ebene für die Notifizierung der Stellen zuständig sind, die ihrerseits zur Überprüfung der Konformität der PSA befugt sind.

4.3

Artikel 8 Absatz 3: Eine zehnjährige Aufbewahrungspflicht für technische Unterlagen ist möglicherweise übertrieben, zumal die Konformitätsbescheinigung nur fünf Jahre gültig ist. Hier könnte in beiden Fällen eine Frist von fünf Jahren festgelegt werden.

4.4

Artikel 8 Absätze 3, 7 und 10, Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a), Artikel 10 Absätze 3, 4 und 7, Artikel 11 Absatz 2, Artikel 13, Artikel 15 Absätze 1, 2 und 3, Anhang II Ziffer 2.12: Diese Artikel enthalten für die verschiedenen Dokumente zu den PSA und den Verfahren, denen sie unterliegen, unterschiedliche Sprachenregelungen:

Die Rede ist von „einer Sprache, die von den Endnutzern leicht verstanden werden kann“, eine Formulierung, die der Rechtsprechung des EuGH entnommen ist, jedoch recht subjektiv erscheint.

Erwähnt wird die Sprachenfrage auch in Anhang II Ziffer 2.12: „Diese Kennzeichnungen müssen […] in der oder den Amtssprachen des Mitgliedstaats abgefasst sein, in dem die Ausrüstung verwendet werden soll.“

Schließlich taucht in Artikel 15 (Absatz 2 und 3) die Formulierung „in der bzw. den Amtssprachen der Bestimmungsmitgliedstaaten“ auf, die wohl juristisch präziser ist.

Der EWSA versteht die Gründe, die zur Einführung von drei Sprachenregelungen geführt haben, schlägt jedoch aus Gründen der Vereinfachung vor, ausschließlich die letzte Formulierung zu verwenden.

4.5

Artikel 15 Absatz 3: Die Formulierung „wird stets auf dem neuesten Stand gehalten“ könnte auf nationaler Ebene uneinheitlich ausgelegt werden. Hier sollten zeitliche Abstände festgelegt werden, beispielsweise eine jährliche Aktualisierung.

4.6

Artikel 42: Der vorgeschlagene Zeitraum von zwei Jahren ab dem Inkrafttreten, nach dessen Ablauf die Verordnung gelten soll, ist eine angesichts der Zahl der notwendigen Änderungen, insbesondere in den Mitgliedstaaten mit schwächer ausgeprägten Verwaltungsstrukturen (erneute Notifizierung aller notifizierten Stellen in allen 28 Mitgliedstaaten, Änderung der Gültigkeitsdauer der Konformitätsbescheinigungen) sicherlich strenge, aber angesichts der Ziele der Prävention und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen insbesondere im Hinblick auf die Verringerung der Arbeitsunfälle auch notwendige Anforderung.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Seilbahnen

COM(2014) 187 final — 2014/0107 (COD)

(2014/C 451/13)

Berichterstatter:

Jan SIMONS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 24. bzw. am 2. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Seilbahnen.

COM(2014) 187 final — 2014/0107 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9 Juli 2014) mit 184 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt aufgrund der unterschiedlichen Auslegung der geltenden Richtlinie in einigen Punkten die Wahl einer Verordnung mit Artikel 114 AEUV als Rechtsgrundlage.

1.2

Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag für eine Verordnung mit der Richtlinie 2000/9/EG auf einer Linie liegt, die an das 2008 angenommene „Binnenmarktpaket für Waren“ und insbesondere an den NLF-Beschluss (EG) Nr. 768/2008 angeglichen werden soll, zu dem er bereits eine positive Stellungnahme abgegeben hat.

1.3

Der EWSA drängt darauf, die Terminologie insbesondere der deutschen Fassung sowie die Begriffsbestimmungen und die Übernahme unbestreitbar guter Elemente aus der geltenden Richtlinie — bzw. sich aus dieser Richtlinie ergebender Elemente — genauestens zu prüfen.

1.4

Dem EWSA sind zu viele Unvollkommenheiten aufgefallen, als dass sie an dieser Stelle unter den Schlussfolgerungen wiedergegeben werden könnten; er verweist diesbezüglich nachdrücklich auf Ziffer 4.2 ff. sowie auf Abschnitt 5, wo auch die Lösungen aufgeführt werden.

2.   Einleitung

2.1

Der EWSA legte bereits 1994 eine Stellungnahme (1) zu einem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Seilbahnen für den Personenverkehr vor. Darin unterstützte der EWSA die Kommission insbesondere in Bezug auf das von ihr „gesteckte Ziel, ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten und den Aufbau einer grundlegenden Überwachung innerhalb der Europäischen Union zu gewährleisten, um ein hohes Sicherheitsniveau zu erreichen und aufrechtzuerhalten und so das Risiko künftiger Unfälle zu verringern“.

2.2

Auch sollte das Ergebnis „ein auf breiterer Basis tätiger, wettbewerbsfähigerer Industriezweig sein, der sich auf den Weltmärkten besser behaupten kann. Da die Mehrzahl der auf dem Weltmarkt operierenden Hersteller aus Europa kommt, muss jede Maßnahme, die auf die Verbesserung der Verkaufsaussichten abzielt, von einem vernünftigen, praktikablen Ansatzpunkt ausgehen.“

2.3

Der Betrieb von Seilbahnen ist insbesondere mit dem Tourismus, vor allem in Bergregionen, verbunden, der für die Wirtschaft der betroffenen Regionen eine wichtige Rolle spielt und für die Handelsbilanz der Mitgliedstaaten immer mehr an Bedeutung gewinnt (2).

2.4

Die Mitgliedstaaten sind für die Sicherheitsaufsicht über Seilbahnen während des Baus, der Inbetriebnahme und des Betriebs zuständig. Sie haben außerdem zusammen mit den zuständigen Stellen die Verantwortung im Hinblick auf die Bodenrechte, die Raumordnung und den Umweltschutz. Die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zeigen erhebliche Unterschiede wegen spezifischer Verfahren der nationalen Industrie sowie aufgrund regionaler Gepflogenheiten und Kenntnisse. Sie schreiben besondere Abmessungen und Vorrichtungen sowie spezielle Eigenschaften vor. Diese Situation zwingt die Hersteller, ihre Produkte für jeden Auftrag neu zu definieren, steht dem Angebot von Standardlösungen entgegen.

2.5

Die grundlegenden Anforderungen zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit müssen eingehalten werden, damit gewährleistet ist, dass Seilbahnen sicher sind. Diese Anforderungen müssen verantwortungsbewusst angewandt werden, um dem Stand der Technik zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens und der Inbetriebnahme und während des Betriebs sowie technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen.

2.6

Seilbahnen können ferner grenzüberschreitend sein, und in diesen Fällen können widersprüchliche einzelstaatliche Regelungen ihre bauliche Ausführung erschweren.

2.7

Gesetzgeberisch tätig wurde man jedoch erst im Jahr 2000. Die Richtlinie 2000/9/EG über Seilbahnen für den Personenverkehr (3) wurde am 20. März 2000 erlassen und trat am 3. Mai 2002 in Kraft. Folgende Haupttypen von Seilbahnen werden durch die Richtlinie 2000/9/EG abgedeckt: Standseilbahnen, Gondelbahnen, kuppelbare Sesselbahnen, fixgeklemmte Sesselbahnen, Pendelbahnen, Funitels, kombinierte Anlagen (bestehend aus mehreren Seilbahntypen, z. B. Gondelbahnen und Sesselbahnen) sowie Schlepplifte.

2.8

Heute — gute zehn Jahre später — ist aus verschiedenen Gründen eine Überprüfung der Rechtsvorschriften in Bezug auf Seilbahnen erforderlich.

3.   Zusammenfassung des vorliegenden Vorschlags

3.1

Mit dem Vorschlag soll die Richtlinie 2000/9/EG durch eine Verordnung ersetzt und diese Richtlinie an das 2008 angenommene „Binnenmarktpaket für Waren“, insbesondere an den NLF-Beschluss (EG) Nr. 768/2008, angeglichen werden.

3.1.1

Der NLF-Beschluss gibt ein einheitliches Muster für EU-Harmonisierungsrechtsvorschriften für Produkte vor. Dieses Muster bilden Bestimmungen, die in EU-Produktvorschriften einheitlich verwendet werden (z. B. Begriffsbestimmungen, Verpflichtungen der Wirtschaftsakteure, notifizierte Stellen, Schutzklauselmechanismen). Diese einheitlichen Bestimmungen wurden gestärkt, damit die Richtlinien in der Praxis wirksamer angewandt und durchgeführt werden können. Es wurden auch neue Elemente eingeführt, beispielsweise Verpflichtungen für die Einführer, die entscheidende Bedeutung für eine größere Sicherheit der auf dem Markt befindlichen Produkte haben.

3.1.2

Mit dem Vorschlag sollen außerdem einige der Schwierigkeiten behoben werden, die bei der Umsetzung der Richtlinie 2000/9/EG auftraten. Dabei handelte es sich insbesondere um divergierende Auffassungen seitens der Behörden, notifizierten Stellen und Hersteller in der Frage, ob bestimmte Anlagen dem Geltungsbereich der Richtlinie 2000/9/EG zuzuordnen und daher in Übereinstimmung mit den in der Richtlinie festgelegten Anforderungen und Verfahren herzustellen und zu zertifizieren sind.

3.1.3

Auch in Bezug auf bestimmte Ausrüstungsteile gingen die Ansichten darüber auseinander, ob diese als Teilsysteme, Infrastruktur oder Sicherheitsbauteile einzuordnen sind.

3.1.4

Des Weiteren ist in der Richtlinie nicht geregelt, welche Art von Konformitätsbewertungsverfahren auf Teilsysteme anzuwenden ist.

3.2

Diese divergierenden Ansätze führten zu Marktverzerrungen und die Gleichbehandlung der Wirtschaftsakteure war nicht mehr gewährleistet. Die Hersteller und Betreiber der betroffenen Anlagen mussten Ausrüstungen ändern oder weitere Zulassungen einholen, was zu zusätzlichen Kosten und zu Verzögerungen bei der Genehmigung und dem Betrieb dieser Anlagen führte.

3.3

Mit der vorgeschlagenen Verordnung soll daher größere rechtliche Klarheit in Bezug auf den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/9/EG hergestellt und auf diese Weise eine bessere Umsetzung der einschlägigen Rechtsvorschriften erreicht werden.

3.4

Darüber hinaus enthält die Richtlinie 2000/9/EG Bestimmungen zur Konformitätsbewertung von Teilsystemen. Jedoch ist kein konkretes, vom Hersteller und der notifizierten Stelle einzuhaltendes Verfahren festgelegt, auch wird Herstellern nicht die Bandbreite an Konformitätsbewertungsverfahren angeboten, die für Sicherheitsbauteile zur Verfügung stehen. Mit diesem Vorschlag für eine Verordnung werden daher die für Teilsysteme verfügbaren Konformitätsbewertungsverfahren an die schon für Sicherheitsbauteile bestehenden angeglichen; als Grundlage dienen hierfür die Konformitätsbewertungsmodule, die in dem Beschluss Nr. 768/2008/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten (NFL-Beschluss) festgelegt sind. Gleichzeitig ist dabei entsprechend dem geltenden System für Sicherheitsbauteile die Anbringung der CE-Kennzeichnung zum Nachweis dafür vorgesehen, dass die Bestimmungen der Verordnung erfüllt sind.

3.5

In dem Vorschlag wird die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates zur europäischen Normung vom 25. Oktober 2012 berücksichtigt (4). Der Vorschlag umfasst:

die Klärung des Geltungsbereichs in Bezug auf Seilbahnen, die sowohl für Beförderungszwecke als auch für Zwecke der Freizeitgestaltung konstruiert wurden;

die Einführung einer Reihe von Konformitätsbewertungsverfahren für Teilsysteme auf der Grundlage der bestehenden und an den NLF-Beschluss angeglichenen Konformitätsbewertungsmodule für Sicherheitsbauteile;

die Angleichung an den NLF-Beschluss.

Ausgenommen sind:

Seilbahnen, die für Zwecke der Freizeitgestaltung auf Jahrmärkten oder in Vergnügungsparks verwendet werden;

für landwirtschaftliche und industrielle Zwecke bestimmte Seilbahnen;

alle seilbetriebenen Anlagen, bei denen Nutzer oder Träger sich auf dem Wasser befinden, ausgeweitet;

3.6

Die Konformitätsbewertungsverfahren bei Sicherheitsbauteilen werden in dem Vorschlag beibehalten. Die entsprechenden Module werden jedoch entsprechend dem NLF-Beschluss aktualisiert.

3.7

Die obligatorische Einbeziehung einer notifizierten Stelle in der Konstruktions- und Produktionsphase aller Teilsysteme und Sicherheitsbauteile wird beibehalten.

3.8

Mit dem Vorschlag wird eine Reihe von Konformitätsbewertungsverfahren für Teilsysteme auf der Grundlage der Konformitätsbewertungsmodule des NLF-Beschlusses eingeführt. Ferner wird die Anbringung der CE-Kennzeichnung für Teilsysteme eingeführt, da es keinen Grund gibt, diese anders zu behandeln als Sicherheitsbauteile.

3.9

Durch den Vorschlag werden die Notifizierungskriterien für notifizierte Stellen verschärft und besondere Anforderungen an die notifizierenden Behörden eingeführt. Die Anpassung an neue Technologien ist erforderlich, um eine Online-Notifizierung zu ermöglichen. Es ist wichtig, dass eine Frist vorgesehen wird, innerhalb deren etwaige Zweifel an der Kompetenz von Konformitätsbewertungsstellen oder diesbezügliche Bedenken geklärt werden können, bevor diese ihre Arbeit als notifizierte Stellen aufnehmen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Da sich nun jedoch herausgestellt hat, dass eine einheitliche Auslegung der Bestimmungen von Richtlinien nicht immer gewährleistet ist, weist der EWSA darauf hin, dass bei dieser Art von Harmonisierungsbestrebungen (5), mit denen der freie Warenverkehr im Binnenmarkt gefördert werden soll, Verordnungen ein Garant für eine einheitliche Auslegung sind. Der EWSA unterstützt daher auch die Wahl einer Verordnung sowie von Artikel 114 AEUV als Rechtsgrundlage.

4.1.1

Insofern den Mitgliedstaaten die Kontrolle der Durchführung der Verordnung übertragen wird, sollte die Kommission die Einheitlichkeit der Durchführung überwachen.

4.2

Dann müssen jedoch auch die unbestreitbar guten Elemente der geltenden Richtlinie und die sich daraus ergebenden Vorschriften und bewährten Vorgehensweisen genauestens übernommen (6) und andere, neue Elemente in der Verordnung sprachlich genau formuliert werden.

4.2.1

Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Zusatz „für den Personenverkehr“ im Titel der Verordnung gestrichen wurde, wenn in Erwägungsgrund 8 ausdrücklich ausgesagt wird, dass der Geltungsbereich derselbe ist wie für die Richtlinie.

4.2.2

Die Fachbegriffe unterscheiden sich teilweise sehr von denjenigen der harmonisierten Normenreihe für Seilbahnen und sollten aufeinander abgestimmt werden.

4.2.3

Der derzeitige Wortlaut des Vorschlags für eine Verordnung (Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a) erlaubt keine deutliche Unterscheidung zwischen Aufzügen (insbesondere Schrägaufzüge) im Sinne der Richtlinie 95/16/EG und Standseilbahnen. Die diesbezüglichen Informationen, die in Erwägungsgrund (11) gegeben werden, sind nicht ausreichend und für eine eindeutige Klassifizierung in der Praxis nicht geeignet. Es ist wichtig, dass es weiterhin möglich ist, Schrägaufzüge im Sinne der Aufzugsrichtlinie für verschiedene Anwendungen im Freien zu bauen (Verbindungen zwischen einem Parkplatz im Tal und einer Burg oder einem alten Stadtzentrum oben, Verbindungen zwischen Skipisten usw.).

4.2.4

Im Artikel 2 (2) (f) werden auf dem Wasser befindliche Anlagen von dieser Verordnung ausgeschlossen. Um Missverständnisse und unterschiedliche Interpretationen zu vermeiden, wurde zusätzlich der Erwägungsgrund 12 eingeführt, welcher aber nicht zum besseren Verständnis beiträgt. Artikel 2 (2) (f) sollte insofern präzisiert werden, dass der Punkt unterteilt wird in „seilgezogene Fähren“ — wie in der Richtlinie 2000/9/EG definiert — und in „Wasserskilifte“.

4.2.5

Seilbahnen für den Personenverkehr unterliegen — im Gegensatz zu andern Richtlinien (z. B. der Maschinenrichtlinie) — geregelten Genehmigungsverfahren, welche von den Mitgliedstaaten definiert werden. Dementsprechend gibt es keine Notwendigkeit, den Handelsnamen und die Postadresse auf den Sicherheitsbauteilen und Teilsystemen anzugeben, zumal die EU-Konformitätserklärungen (7), welche diese Angaben beinhalten, sowohl bei der Anlage, wie auch bei der zuständigen Behörde aufliegen müssen. Um sich die wirtschaftliche Tragweite dieses Artikels vorstellen zu können, wird hier beispielhaft festgehalten, dass es sich bei einer fix geklemmten Sesselbahn um die 500 Plaketten handeln würde. Somit soll der Artikel 11 (Kapitel II) geändert werden durch Streichung im ersten Satz von „dem Teilsystem oder Sicherheitsbauteil, selbst oder, wenn dies nicht möglich ist, auf der Verpackung und in“.

4.2.6

In Artikel 2 (2) (d) werden Seilbahnen in Vergnügungsparks von dieser Verordnung ausgeschlossen, wenn diese nur als reine Freizeitgestaltung dienen. Es stellt sich die Frage, welchen Unterschied bezüglich der Sicherheitsbestimmungen bzw. der grundlegenden Anforderungen es macht, ob sich die Person, welche sich in der Seilbahn befindet, diese lediglich zur Freizeitgestaltung oder zur Beförderungszwecken benutzt? Somit wird empfohlen, lediglich den Text „feststehende und verfahrbare Jahrmarktgeräte“ beizubehalten.

4.2.7

In den Erwägungsgründen 57 und 58 wie auch in Artikel 41 werden Übergangsbestimmungen definiert. Es fehlt jedoch eine allgemeine Aussage, dass sich der Verordnungsentwurf auf bereits in Verkehr gebrachte Anlagen nicht bezieht. Die Formulierung „Eine Angleichung aller bereits bestehenden Seilbahnen an Vorschriften für neue Seilbahnen ist nicht notwendig.“ — wie sie in der Seilbahnrichtlinie (Erwägungsgrund 28) zu finden ist — ist in Artikel 9 als neuer Absatz 3 einzufügen. Zusätzlich sind Bestimmungen unter Artikel 9 nach aktuellem Absatz 3 für ein mögliches Wiederaufstellen von Seilbahnen aufzunehmen. "Ein Wiederaufstellen von Seilbahnen ist unter folgenden Bedingungen zulässig:

Die Sicherheitsbauteile und Teilsysteme, welche nach der Richtlinie 2000/9/EG oder nach der aktuellen Verordnung konformitätsbewertet und in Verkehr gebracht wurden, müssen beim Wiederaufstellen verwendet werden.

Die zu versetzende Anlage muss einen entsprechenden technischen Zustand aufweisen, so dass nach der Wiederaufstellung ein gleichwertiges Sicherheitsniveau wie bei einer neuen Anlage gewährleistet ist."

4.2.8

Artikel 36 (2) fordert, dass benannte Stellen auf Verlangen andern benannten Stellen auch Auskünfte über positive Ergebnisse von Konformitätsbewertungen geben müssen. Benannte Stellen sind unabhängige Institutionen, welche wirtschaftlich agieren müssen. Um zu verhindern, dass hier ein Wissenstransfer stattfindet, ist der Zusatz „und auf Verlangen auch über die positiven“ zu streichen.

4.3

Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag für eine Verordnung im Sinne der Richtlinie 2000/9/EG ist und dem 2008 angenommenen „Binnenmarktpaket für Waren“ sowie insbesondere dem NLF-Beschluss (EG) Nr. 768/2008 entspricht, zu dem er bereits eine positive Stellungnahme abgegeben hat (8).

5.   Besondere Bemerkungen

Bemerkungen zu weiteren Erwägungsgründen und Artikeln des Vorschlags für einen Verordnung.

5.1

In der deutschen Version des Verordnungsentwurfs wird oft das Wort „konstruiert“ oder „Konstruktion“ anstelle „geplant“ oder „Planung“ (analog zur RL 2000/9/EG) verwendet. Dies zieht sich durch den gesamten deutschen Text hindurch. Beispiele dazu findet man in Erwägungsgrund (1), Artikel 1, Artikel 2 (1), Artikel 3 (1), Artikel 3 (3), Artikel 8 (1).

5.2

Die Definition der „Sicherheitsbauteile“ in Artikel 3 (4) ist insofern anzupassen, dass die Worte „oder in eine Seilbahn“ gestrichen werden. Grund dafür ist, dass sich in der Infrastruktur, für welche die Mitgliedstaaten Verfahren festlegen, keine „Sicherheitsbauteile“ im Sinne der Verordnung befinden können, sondern diese als „sicherheitskritische Bauteile“ bezeichnet werden.

5.3

In Artikel 11 (9) wird festgehalten, dass Hersteller auf begründetes Verlangen der Mitgliedstaaten alle Informationen und Unterlagen bezüglich des Konformitätsbewertungsverfahrens diesen aushändigen sollen. Um sicherzustellen, dass Bauteile, welche nach der harmonisierten Normenreihe gebaut worden sind (und für die dementsprechend die Konformitätsvermutung gilt), nicht von diesem Artikel betroffen sein können, wird zur Präzisierung empfohlen, Punkt (9) mit den Worten zu beginnen: „Bei Bauteilen, welche nicht nach den Bestimmungen der harmonisierten Normenreihe in Verkehr gebracht wurden, händigen die Hersteller usw.“.

5.4

Das Wort „Drahtseilbahn“ in Erwägungsgrund 8 der deutschen Fassung ist nicht bekannt und stimmt nicht mit der niederländischen und der englischen Fassung überein.

5.5

Im Verordnungsentwurf — beispielsweise im Erwägungsgrund 17 — wird von „Wartung“ gesprochen. Wartung ist lediglich ein Teil der Instandhaltung, welche die Tätigkeiten Inspektion, Wartung und Instandsetzung umfasst. Dementsprechend ist das Wort Wartung im gesamten Text durch Instandhaltung zu ersetzen. Der Begriff „maintained“ in der englischen Version ist korrekt.

5.6

Der in der EU-Seilbahnrichtlinie verwendete Begriff „grundlegende Anforderungen“ ist im Verordnungsentwurf durch „wesentliche Anforderungen“ (z. B. in Artikel 6) ersetzt. In der englischen Version wird nach wie vor die Begrifflichkeit „Essential requirements“ analog zur Richtlinie 2000/9/EG verwendet. Der gesamte Verordnungsentwurf sollte auf „Grundlegende Anforderungen“ korrigiert werden.

5.7

Der Erwägungsgrund 19 korreliert mit keinem Text in der Verfügung und ist somit zu streichen.

5.8

Der Erwägungsgrund 23 ist insofern verwirrend, da hier der freie Warenverkehr mit der Sicherheitsanalyse in Zusammenhang gesetzt wird und ist somit zu streichen.

5.9

Der Artikel 1 definiert den Gegenstand dieser Verordnung. Gegenüber der Richtlinie 2000/9/EG wurden jedoch die Bereiche „planen“, „montieren“ und „in Betrieb nehmen“ nicht übergenommen. Dies ist aufzunehmen oder der Text der Richtlinie zu übernehmen.

5.10

Die Definition der „Seilbahn“ in Artikel 3 (1) ist schwer verständlich. Es sollte die der Richtlinie 2000/9/EG übernommen werden.

5.11

Der Begriff „Schleppaufzug“ in Artikel 3 (8) ist zu korrigieren in „Schlepplift“. Diese Korrektur wurde ebenfalls bei der Überarbeitung der zugehörigen harmonisierten Normenreihe durchgeführt.

5.12

Da sich die „Inbetriebnahme“ in Artikel 3 (12) gerade bei Umbauten nicht immer auf die gesamte Anlage beziehen muss, soll der Text mit den Worten „oder deren Komponenten“ ergänzt werden.

5.13

Im Artikel 8 (1) wurden die Anforderungen an die Sicherheitsanalyse insofern geändert, dass die Zuständigkeiten nicht mehr geregelt sind. Da die Sicherheitsanalyse allerdings das maßgebende Dokument für den Bauherren darstellt, sollte der Artikel mit den Worten „im Auftrag des Bauherren oder seines Bevollmächtigten“ ergänzt werden.

5.14

In Artikel 8 (2) wird festgehalten, dass die Sicherheitsanalyse dem Sicherheitsbericht hinzugefügt wird. In der Richtlinie 2000/9/EG wird jedoch festgehalten, dass aufgrund der Sicherheitsanalyse ein Sicherheitsbericht erstellt wird, was ein wesentlicher Unterschied darstellt. Es wird empfohlen, den Text Artikel 4 (2) der Richtlinie zu übernehmen.

5.15

Artikel 9 (4) ist schwer verständlich und sollte durch den Wortlaut von Artikel 12 der Richtlinie 2000/9/EG ersetzt werden.

5.16

Im Artikel 10 (1) wird darauf verwiesen, dass eine Seilbahn nur dann weiterbetrieben werden darf, wenn die im Sicherheitsbericht aufgelisteten Voraussetzungen eingehalten werden. Ein gerade für den sicheren Betrieb der Anlage wichtiges Dokument stellt die Bedienungs- und Instandhaltungsanleitung dar. Es wird deshalb empfohlen, den Text abzuändern durch Streichung des Teils „weiter“ im Wort „weiterbetrieben“ und durch Ersatz des Teil „im Sicherheitsbericht“ durch „die in den Unterlagen des Artikel 9 (2)“.

5.17

Aufgrund der im Anhang definierten Module kann ein Hersteller das Konformitätsbewertungsverfahren nur zusammen mit einer benannten Stelle durchführen. Dementsprechend ist der Text des Artikels 11 (2) wie folgt anzupassen: „und führen“ ersetzen durch „und lassen“ und streichen „durch oder lassen“.

5.18

Der Begriff „Sicherheitsinformation“ im Artikel 11 (7) ist unklar und sollte präzisiert werden.

5.19

In Artikel 16 wird Bezug genommen auf „nach Absatz 1“, obwohl dieser nicht vorhanden ist.

5.20

Die Bestimmungen des Beschlusses 768 über formale Einwände bezüglich der harmonisierten Normen (Artikel R9 bzw. R19) sollten auch in Artikel 17 übernommen werden.

5.21

Artikel 18 (4) birgt die Gefahr, dass dieser ebenso für Testbahnen gelten könnte. Um dies zu vermeiden, sollte „mit Ausnahme von Testbahnen“ zugefügt werden.

5.22

Artikel 19 (2) könnte so verstanden werden, dass auch die Konformitätserklärungen von bereits in Verkehr gebrachten Sicherheitsbauteilen oder Teilsystemen auf aktuellem Stand sein müssten. Dementsprechend ist der letzte Teil des ersten Satzes „wird stets auf dem neuesten Stand gehalten“ durch „ist zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Teilsystems oder Sicherheitsbauteils auf dem neuesten Stand zu bringen“ zu ersetzen.

5.23

In Artikel 21 (2) wird gefordert, dass Teilsysteme ebenfalls mit einer CE-Kennzeichnung versehen werden sollen. Da es am Markt keine Teilsysteme gibt, welche nicht zumindest ein Sicherheitsbauteil besitzen und dementsprechend mit dem CE-Kennzeichen dieses versehen sind, ist Abstand von dieser Forderung zu nehmen. Dementsprechend wird empfohlen, die Worte „des Teilsystems“ zu streichen.

5.24

Auch Anhang II ist zu überarbeiten. Dies müsste aber umfassend geschehen und zwingend unter Einbindung aller involvierten Parteien.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 388 vom 31.12.1994, S. 26.

(2)  Dieser und die drei folgenden Absätze sind Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/9/EG.

(3)  ABl. L 106 vom 3.5.2000, S. 21.

(4)  ABl. L 316 vom 14.11.2012.

(5)  Artikel 114 AEUV.

(6)  Auffällig ist, dass in den Anhängen oder in den Artikeln, die aus Beschluss Nr. 768/2008/EG (Art. R2 ff.) übernommen wurden, bei diversen Stichproben Unvollkommenheiten festgestellt wurden.

(7)  Es wird davon ausgegangen, dass die EG-Konformitätsbescheinigungen ihre Gültigkeit nicht verlieren.

(8)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Einbeziehung der Aktionäre sowie der Richtlinie 2013/34/EU in Bezug auf bestimmte Elemente der Erklärung zur Unternehmensführung

COM(2014) 213 final — 2014/0121 (COD)

(2014/C 451/14)

Berichterstatter:

Michael SMYTH

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 16. April bzw. am 6. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 50 und 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Einbeziehung der Aktionäre sowie der Richtlinie 2013/34/EU in Bezug auf bestimmte Elemente der Erklärung zur Unternehmensführung.

COM(2014) 213 final — 2014/0121 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli 2014) mit 188 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Richtlinie über Aktionärsrechte sind als Element der länger währenden Bemühungen um stabile und nachhaltige Rahmenbedingungen für Unternehmensführung und Investitionen in Europa zu sehen. Den Vorschlägen liegt der Gedanke zugrunde, dass die Förderung einer längerfristigen Perspektive für die Aktionäre ein besseres Geschäftsumfeld für börsennotierte Gesellschaften bietet.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Bestimmungen zur Änderung der Richtlinie über Aktionärsrechte, insbesondere jene zur stärkeren Verknüpfung der Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung und der langfristigen Wertentwicklung von Unternehmen.

1.3

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission in ihrer Folgenabschätzung feststellt, dass der Verwaltungsaufwand der börsennotierten Gesellschaften durch ihre Vorschläge wahrscheinlich nur unwesentlich zunehmen wird. Bei der Ex-post-Bewertung der Richtlinie wird auf dieses Verhältnis einzugehen sein.

1.4

Der EWSA akzeptiert das Argument, dass die Investoren durch mehr Transparenz in Bezug auf die Auswirkungen der Anlagepolitik besser informierte Entscheidungen treffen können und deshalb wahrscheinlich stärker an den Unternehmen mitwirken, in die sie investieren. Dies dürfte die langfristige Leistungsentwicklung börsennotierter Gesellschaften verbessern.

1.5

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise haben die politischen Entscheidungsträger die Herausforderung angenommen, die Kultur im europäischen Unternehmens- und Finanzsektor weg von einer Orientierung auf die kurzfristige Leistungsentwicklung hin zu einer stärker nachhaltig ausgerichteten Anlageperspektive zu ändern. Insofern ein solcher Kulturwandel durch gesetzgeberische Tätigkeit erreicht werden kann, ist die Kommission auf dem richtigen Wege.

2.   Hintergrund der Richtlinie

2.1

Der Richtlinienvorschlag der Kommission ist im Zusammenhang mit anderen Initiativen zu sehen, mit denen die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft verbessert werden soll. Von zentraler Bedeutung ist hier die Überzeugung, dass die Förderung einer längerfristigen Perspektive für die Aktionäre ein besseres Geschäftsumfeld für börsennotierte Gesellschaften bietet. Diese Vorschläge sind Teil der Ergebnisse einer umfassenden Konsultation der Interessenträger über Fragen der Unternehmensführung. 2010 legte die Kommission das Grünbuch „Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungspolitik“ vor (1). Darauf folgte 2011 das Grünbuch „Europäischer Corporate Governance-Rahmen“ (2). Die Konsultationen führten 2012 zur Veröffentlichung des Aktionsplans „Europäisches Gesellschaftsrecht und Corporate Governance — ein moderner Rechtsrahmen für engagiertere Aktionäre und besser überlebensfähige Unternehmen“ (3).

2.2

Die Richtlinie beruht auf einer Folgenabschätzung, in der die Schwachpunkte im Verhältnis zwischen den wichtigsten Protagonisten im Bereich der Unternehmensführung aufgezeigt/angesprochen werden, also bei der sogenannten Prinzipal-Agent-Beziehung. Dies ist die Beziehung zwischen den Agenten (Direktoren) und den Prinzipalen (Aktionären wie institutionelle Anleger, Vermögensverwalter und Berater für die Stimmrechtsvertretung). Fünf dieser festgestellten Mängel sind: (i) unzureichendes Engagement der institutionellen Anleger und der Vermögensverwalter, (ii) unzureichende Verknüpfung von Vergütung und Leistung der Mitglieder der Unternehmensleitung, (iii) fehlende Überwachung von Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen durch die Aktionäre, (iv) mangelnde Transparenz bei Beratern für die Stimmrechtsvertretung und (v) schwierige und teure Ausübung der mit Wertpapieren verbundenen Rechte durch Anleger.

2.3

Für jeden dieser Punkte prüft die Kommission die politischen Handlungsoptionen und wählt folgende fünf Maßnahmenbündel aus:

1)

zwingende Transparenz bei institutionellen Anlegern und bei Vermögensverwaltern in Bezug auf ihr Abstimmungsverhalten und Engagement sowie in Bezug auf bestimmte Aspekte der Vereinbarungen mit den Vermögensverwaltern,

2)

Offenlegung der Vergütungspolitik und der individuellen Vergütungen in Verbindung mit einer Abstimmung durch die Aktionäre,

3)

mehr Transparenz und ein unabhängiges Gutachten bei wichtigeren Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen sowie Vorlage der wichtigsten Transaktionen zur Genehmigung durch die Aktionäre,

4)

bindende Vorschriften zur Offenlegung der Methoden der Berater für die Stimmrechtsvertretung und von Interessenkonflikten der Berater,

5)

Schaffung eines Rahmens, der börsennotierten Gesellschaften die Identifizierung ihrer Aktionäre ermöglicht und Finanzintermediäre verpflichtet, aktionärsbezogene Informationen rasch weiterzuleiten und die Ausübung von Aktionärsrechten zu erleichtern.

3.   Maßnahmen der Richtlinie

3.1

Zur Förderung der Transparenz gegenüber den Aktionären verlangt die Kommission, dass institutionelle Anleger offenlegen, wie ihre Aktienanlagestrategie an ihre Verbindlichkeiten angepasst ist und wie sie zur langfristigen Wertentwicklung ihrer Vermögenswerte beiträgt. Nehmen institutionelle Anleger die Dienste eines Vermögensverwalters in Anspruch, müssen sie zudem die Hauptelemente der Vereinbarung veröffentlichen, so die Abstimmung zwischen Vermögensverwalter und institutionellem Anleger, Anlagestrategien, Zeithorizont der Strategie, Bewertung der Leistung des Vermögensverwalters, angestrebter Portfolioumsatz usw. Die Vermögensverwalter müssen die institutionellen Anleger ferner halbjährlich darüber informieren, wie ihre Anlagestrategie im Einklang mit dem vereinbarten Konzept umgesetzt wird.

3.2

In Bezug auf die Verknüpfung von Vergütung und Leistung der Mitglieder der Unternehmensleitung ist die Kommission besorgt, dass das Fehlen einer wirksamen Überwachung der Vergütung der Unternehmensleitung die längerfristige Leistung des Unternehmens beeinträchtigen kann. Die Unternehmensleitungen und Aufsichtsräte legen die Vergütungspolitik fest. Börsennotierte Unternehmen werden detaillierte Informationen über die Vergütungspolitik und die Vergütung der einzelnen Mitglieder der Unternehmensleitung offenlegen müssen. Die Aktionäre sollen das Recht haben, die Vergütungspolitik und deren Anwendung im abgelaufenen Jahr zu genehmigen. Nach dem Richtlinienvorschlag sind die Höhe der Vergütung und die Bedingungen für die Zahlung Sache der Gesellschaft und der Aktionäre.

3.3

Bei der Frage der Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen geht es vorrangig darum, dass die Aktionäre gewöhnlich weder Zugang zu ausreichenden Informationen über solche vorgeschlagenen Transaktionen noch geeignete Instrumente haben, um gegen (missbräuchliche) Transaktionen vorzugehen. Deshalb müssen börsennotierte Gesellschaften künftig Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen, die mehr als 5 % des Vermögens der Unternehmen betreffen, von den Aktionären genehmigen lassen. Transaktionen, die mehr als 1 % ihres Vermögens betreffen, müssen öffentlich bekanntgemacht und von einem unabhängigen Dritten bewertet werden. Ausnahmeregelungen soll es für Transaktionen zwischen einem Unternehmen und Mitgliedern seiner Gruppe geben, die sich vollständig im Besitz der Gesellschaft befinden.

3.4

Berater für die Stimmrechtsvertretung sind Personen, die Aktionären Empfehlungen in Bezug auf die Ausübung ihrer Stimmrechte in der Hauptversammlung erteilen. Die Hinzuziehung solcher Berater erfolgt vor allem, weil bei Kapitalbeteiligungen von Investoren, insbesondere in grenzübergreifenden Fällen, sehr komplexe Fragen auftreten. Berater für die Stimmrechtsvertretung erteilen Investoren mit stark globalisierten und diversifizierten Portfolios Empfehlungen und beeinflussen deren Abstimmungsverhalten und damit auch die Unternehmensführung damit ganz wesentlich. In ihrer Untersuchung zur Folgenabschätzung stößt die Kommission auf Hinweise, die an der Qualität und Zuverlässigkeit der Beratungsdienste der Berater für die Stimmrechtsvertretung sowie ihrem Vorgehen bei Fragen im Zusammenhang mit Interessenkonflikten zweifeln lassen. Zwar verfügen einige Mitgliedstaaten über nicht verbindliche Verhaltenskodizes für die Tätigkeit von Beratern für die Stimmrechtsvertretung, doch gibt es keine EU-weite Regelung. Berater für die Stimmrechtsvertretung sollen künftig Maßnahmen ergreifen, mit denen gewährleistet wird, dass ihre Stimmempfehlungen richtig und zuverlässig sind, auf einer sorgfältigen Prüfung aller relevanten Informationen beruhen und nicht durch bestehende oder potenzielle Interessenkonflikte beeinflusst werden. Offenbar bemühen sich die Berater für die Stimmrechtsvertretung derzeit darum, einen freiwilligen Verhaltenskodex von der EMSA genehmigen zu lassen, was zu begrüßen ist.

3.5

Für Anleger ist es mitunter schwierig, die mit den Wertpapieren verbundenen Rechte auszuüben, besonders wenn sie Wertpapiere in verschiedenen Ländern halten. Dies ist vor allem auf die fehlende Identifizierung der Anleger durch die Gesellschaften, den Mangel an rechtzeitiger Übermittlung von Informationen von den Gesellschaften an die Aktionäre sowie Preisdiskriminierungen bei grenzüberschreitenden Aktienbeständen zurückzuführen. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Finanzintermediäre börsennotierten Unternehmen die Möglichkeit der Identifizierung ihrer Aktionäre anbieten. Beschließt eine börsennotierte Gesellschaft, nicht direkt mit ihren Aktionären zu kommunizieren, müssen den Aktionären die Informationen im Zusammenhang mit der Ausübung der mit den Aktien verbundenen Rechte durch den Finanzintermediär rechtzeitig und in standardisierter Form übermittelt werden. Finanzintermediäre ihrerseits müssen die Ausübung der Rechte der Aktionäre erleichtern, darunter auch das Recht auf Abstimmung durch die Aktionäre oder in ihrem Namen, und die Aktionäre entsprechend informieren.

4.   Bemerkungen zur Richtlinie

4.1

Nach Auffassung der Kommission wird der Verwaltungsaufwand der börsennotierten Gesellschaften durch die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen wahrscheinlich nur unwesentlich zunehmen. Die Maßnahmen stellen, insoweit als sie die Unternehmen verpflichten, die Aktionäre rechtzeitig und sachgerecht zu unterrichten, nichts weniger als vorbildliche Praxis dar und sollten auch als solche betrachtet werden. Der EWSA ist besorgt wegen eines möglichen zusätzlichen Verwaltungsaufwands für kleinere börsennotierte Gesellschaften. Die Kommission hat sich zwar verpflichtet, die Richtlinie fünf Jahre nach ihrem Inkrafttreten zu überprüfen, doch ist der EWSA der Auffassung, dass eine solche Bewertung früher vorgenommen werden sollte, da die Vorschläge wahrscheinlich frühestens in 18 Monaten in Kraft treten werden.

4.2

Bezüglich der Vergütungspolitik und der Verknüpfung von Vergütung und Leistung der Mitglieder der Unternehmensleitung unterstützt der EWSA die Vorschläge der Kommission für eine bessere Überwachung der Vergütung der Unternehmensleitung durch die Aktionäre (4). Während die Höhe der Vergütung nach wie vor von der Unternehmensleitung festgelegt wird, dürfte die Tatsache, dass die Aktionäre darüber abstimmen sollen, die Bindung zwischen Unternehmensleitung und Aktionären stärken.

4.3

Durch mehr Transparenz in Bezug auf die Auswirkungen der Anlagepolitik werden die Investoren besser informierte Entscheidungen treffen können und deshalb wahrscheinlich stärker an den Unternehmen mitwirken, in die sie investieren — das liegt auf der Hand. Wenn es gelingt, Aktionäre längerfristig einzubeziehen, dürften sich auch Effizienz und Wertentwicklung von Unternehmen verbessern.

4.4

Diese Vorschläge stehen im Einklang mit den Elementen der Eigenkapitalrichtlinie (5) sowie der Verordnung zu Fragen der Vergütung (CRD IV) (6). Zudem ergänzen sie die bestehenden Regeln für institutionelle Anleger und Vermögensverwalter im Rahmen der OGAW-Richtlinie, der MiFID-Richtlinie und der AIFM-Richtlinie. Die Richtlinie sollte im Zusammenhang mit diesem breiteren neugefassten ordnungspolitischen Rahmen bewertet werden.

4.5

Zudem fügen sich diese Vorschläge gut in den allgemeinen EU-Rahmen für die Corporate Governance ein, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, Regelungen anzuwenden, die besser auf ihre speziellen Gegebenheiten und Praktiken abgestimmt sind. Der ausdrücklich auf grenzübergreifende Aspekte gelegte Schwerpunkt einiger Vorschläge der Richtlinie macht deutlich, dass EU-weite Vorschriften in Bezug auf Transparenz und Einbeziehung erforderlich sind.

4.6

Der EWSA stellt zwar fest, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Richtlinie über die Rechte der Aktionäre überwiegend darauf abzielen, eine bessere langfristige Einbeziehung der Aktionäre zu gewährleisten, er ist jedoch der Auffassung, dass dies alle Interessenträger, auch die Beschäftigten, umfassen sollte, und schlägt vor, dass sich die Kommission damit befasst, wie die Beschäftigten besser in die Schaffung langfristiger Werte eingebunden werden können (7).

4.7

In ihren Vorschlägen weist die Kommission darauf hin, dass das „übergeordnete Ziel des vorliegenden Vorschlags zur Überarbeitung der Richtlinie über Aktionärsrechte [...] somit darin [besteht], zur Tragfähigkeit von EU-Unternehmen beizutragen, ein attraktives Umfeld für Aktionäre zu schaffen und die Stimmrechtsausübung über die Grenzen hinweg zu verbessern, was durch eine effizientere Aktieninvestitionskette erreicht werden soll, und dadurch das Wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu fördern“. In diesem Zusammenhang ist auch die derzeitige Reform des Finanzsektors zu sehen. Gegenwärtig finden einschneidende Veränderungen statt, ganz besonders in Bezug auf einen Wandel der Kultur im europäischen Unternehmens- und Finanzsektor weg von einer Orientierung auf die kurzfristige Leistungsentwicklung hin zu einer stärker nachhaltig ausgerichteten Anlageperspektive. Dies ist keine einfache Aufgabe. Insofern ein solcher Kulturwandel durch gesetzgeberische Tätigkeit erreicht werden kann, ist die Kommission auf dem richtigen Wege.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2010) 284 final.

(2)  COM(2011) 164 final.

(3)  COM(2012) 740 final.

(4)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 70.

(5)  ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 338.

(6)  ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 1.

(7)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/91


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft

COM(2014) 168 final

(2014/C 451/15)

Berichterstatter:

Michael SMYTH

Mitberichterstatter:

Vincent FARRUGIA

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft.

COM(2014) 168 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 17. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 139 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt voll und ganz die Mitteilung der Kommission, die auf das Grünbuch über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft (1) folgt. Sie ist Ausdruck einer positiven Entwicklung der politischen Debatte über den besten Weg zur Deckung des Bedarfs an langfristigen Investitionen in Europa.

1.2

Der EWSA erkennt an, dass sich die Kommission in ihrem Zuständigkeitsbereich bewegen und gleichzeitig angemessene institutionelle und politische Veränderungen auf globaler und auf einzelstaatlicher Ebene anregen muss. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit nationalen und internationalen Rechtssystemen, die den längerfristigen Zeithorizont von Anlageentscheidungen beeinflussen. In vielen Mitgliedstaaten ist beispielsweise eine steuerpolitische Verzerrung zugunsten der Kapitalmarktfinanzierung von Unternehmen festzustellen. Diese bietet den Unternehmen den Anreiz, zur Finanzierung eher Schulden aufzunehmen als Eigenkapital zu nutzen. Die Mitgliedstaaten müssen im Sinne einer stärker diversifizierten und stabilen langfristigen Unternehmensfinanzierung angehalten werden, die vermehrte Nutzung von Eigenkapital für die Finanzierung zu fördern. Darauf sollte die Kommission stärker drängen.

1.3

Die meisten in der Mitteilung enthaltenen Vorschläge der Kommission sind fundiert und zur Förderung eines längerfristigen Anlagehorizonts geeignet, aber ihre Umsetzung braucht Zeit. Neue Instrumente für langfristige Investitionen (wie die Europa-2020-Projektanleihen) werden jetzt benötigt, und der EWSA drängt die Kommission zu zügiger Umsetzung.

1.4

Die Vollendung der Bankenunion ist für die Förderung der längerfristigen Finanzierung der Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Geldpolitik sollte langfristigen Investitionen in Form angemessener Zinssätze sowohl für die Anleger als auch für die Sparer Rechnung tragen. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die unübersichtlichen grenzüberschreitenden Übertragungen von Ersparnissen sowie die Machbarkeit EU-weiter Sparprodukte untersuchen möchte.

1.5

Nach Ansicht des EWSA bietet sich jetzt die einzigartige Gelegenheit, einen EU-Rahmen für langfristige Investitionen zu formulieren, entwickeln und umzusetzen — auf der Grundlage der soliden Untersuchungen u. a. der Kommission, des Internationalen Finanzinstituts und der G30-Gruppe. Die Hindernisse für tragfähige langfristige Finanzierungen sind wohlbekannt und müssen überwunden werden. Dabei stellen sich folgende fünf zentrale Herausforderungen:

Anreize dafür setzen, dass die Investoren ihre Anlageentscheidungen in längerfristiger Perspektive treffen;

neue Intermediäre und neue Instrumente schaffen, die auf langfristige Investitionen abzielen;

Schulden- und Eigenkapitalmärkte schaffen, um das Spektrum der Finanzierungsinstrumente zu erweitern;

einen ordnungsgemäßen und langfristigen Investitionen zuträglichen grenzüberschreitenden Kapitalfluss gewährleisten; und

bei der Gestaltung künftiger regulatorischer Maßnahmen eine bessere systematische Analyse entwickeln.

Der EWSA anerkennt die in der Mitteilung bezüglich dieser Ziele gemachten Fortschritte und fordert die Kommission auf, diese in den kommenden Vorschlägen zur langfristigen Finanzierung zu wahren bzw. auszubauen.

2.   Folgemaßnahmen zu dem Grünbuch über langfristige Finanzierung

2.1

Die Mitteilung ist eine überlegte Antwort der Kommission auf das erfolgreiche Konsultationsverfahren, das durch die Veröffentlichung des Grünbuchs über die langfristige Finanzierung der Europäischen Wirtschaft vom März 2013 angestoßen wurde (2). Es werden einige Vorschläge und Maßnahmen dargelegt, um die Hindernisse zu überwinden, die einer größeren Mobilisierung privater und öffentlicher Quellen für langfristige Finanzierungen im Wege stehen. Nach Auffassung der Kommission werden die Banken bei der Bereitstellung langfristiger Finanzierungen zwar weiterhin eine wichtige Rolle spielen, aber neben den Banken müssen alternative Quellen wie öffentliche Finanzierungen, institutionelle Anleger (Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds), traditionelle oder alternative Investmentfonds und Staatsfonds etc. zur Bereitstellung solcher Mittel ermuntert werden.

2.2

Bei den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen steht Folgendes im Mittelpunkt:

i)

die Mobilisierung privater Quellen für langfristige Finanzierungen;

ii)

die bessere Nutzung öffentlicher Finanzen;

iii)

die Entwicklung der Kapitalmärkte;

iv)

die Verbesserung des Kreditzugangs für KMU;

v)

die Mobilisierung privater Finanzmittel für die Infrastruktur; und

vi)

die Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen für nachhaltige Finanzierung.

Die Kommission veröffentlichte außerdem einen Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie zu Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EBAV) (3), um die Weiterentwicklung betrieblicher Altersversorgungseinrichtungen, einem wichtigen Typ langfristig agierender institutioneller Anleger in der EU, zu unterstützen, sowie eine Mitteilung über Crowdfunding (4), einer wachsenden Finanzierungsquelle für KMU.

3.   Vorgeschlagene Maßnahmen

3.1   Mobilisierung privater Quellen für langfristige Finanzierungen

3.1.1

Zwischen der Notwendigkeit verschärfter Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen für die Banken zur Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit einerseits und dem Wunsch, sie nicht durch übermäßige Beschränkungen zu belasten, die sie von der Versorgung der Realwirtschaft mit langfristigem Kapital abhalten könnten, besteht ein Zielkonflikt. Es ist nicht einfach, das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden wichtigen ordnungspolitischen Zielen zu finden. Die Kommission wird untersuchen, inwiefern die Eigenkapitalverordnung in Bezug auf die langfristige Finanzierung angemessen ist und überprüft, in welchem Maße die Vorschläge bezüglich der Mindestliquiditätsquote und der strukturellen Liquiditätsquote (NSFR) die Vergabe langfristiger Bankenkredite beeinträchtigen könnte.

3.1.2

Nach Auffassung der Kommission wird nach der Umsetzung der Bankenreform und der Bankenunion das Vertrauen in den Finanzsektor wiederhergestellt und die Fragmentierung des Finanzmarkts weitgehend überwunden sein. Dank insbesondere der jüngsten Vorschläge zur Strukturreform der Banken, die auf eine Trennung der Kernaufgabe der Finanzierung der Realwirtschaft von riskanten Handelstätigkeiten abzielen, sollten die Banken wieder in der Lage sein, ihren traditionellen Aufgaben nachzukommen (5). Der EWSA unterstützt in seiner Stellungnahme zum Reformpaket die Vorschläge der Kommission.

3.1.3

Die Vorschriften für Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds als Anbieter langfristiger Finanzierungen bilden vielleicht den interessantesten Teil der Mitteilung. Nach Maßgabe der überarbeiteten Solvabilität-II-Richtlinie, die zu Jahresbeginn 2016 in Kraft tritt, wird es Versicherungsunternehmen gestattet sein, in jede Art von Vermögenswerte zu investieren, sofern sie den Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht berücksichtigen. Dies kann zur Entwicklung nachhaltiger Verbriefungsmärkte beitragen. Bezüglich der Pensionsfonds gibt es Vorschläge, gemeinsam mit der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) einen Rahmen für die Schaffung eines Binnenmarkts für die persönliche Altersvorsorge in Europa zu konzipieren, um so möglicherweise mehr langfristige Ersparnisse zu mobilisieren.

3.1.4

Der EWSA empfiehlt der Kommission zwecks stärkerer Mobilisierung privater Mittel für langfristige Investitionen, auch eine Machbarkeitsstudie über die Verwendung von Staatsfonds — neben der üblicheren langfristigen Anlagequelle wie Pensionsfonds und größere Versicherungsträger — zu erstellen.

3.1.5

In seiner Stellungnahme zum Grünbuch (6) legte der EWSA der Kommission nahe, die mögliche Einführung eines EU-Sparkontos zu untersuchen, um langfristige Ersparnisse zu nutzen. Die Kommission wird nun eine Studie über die Hindernisse bei der Schaffung eines solchen grenzübergreifenden Sparprodukts erstellen.

3.2   Bessere Nutzung öffentlicher Mittel

3.2.1

In der Frage der wirksameren Nutzung öffentlicher Finanzen für langfristige Finanzierungen verspricht die Kommission Maßnahmen für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen nationalen und regionalen Förderbanken, EIB/EIF und anderen multilateralen Entwicklungsbanken wie der EBWE. Die unlängst gegründete „Strategic Banking Corporation of Ireland“, einem Joint Venture der irischen Regierung, der EIB und der KfW-Bank (7), der ca. 800 Mio. EUR für KMU-Kredite zur Verfügung stehen werden, ist ein gutes Beispiel für diesen Ansatz. Ein ähnlicher Vorschlag betrifft die bessere Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen nationalen Exportkreditagenturen. Diese Vorschläge sind zu begrüßen.

3.3   Entwicklung der Kapitalmärkte

3.3.1

Viele der Kommissionsvorschläge betreffen die Frage der gering entwickelten Kapitalmärkte in Europa. In der Mitteilung wird festgestellt, dass der Markt für Unternehmensanleihen in den vergangenen Jahren zwar kontinuierlich gewachsen ist, aber (ebenso wie die europäischen Aktienmärkte) fragmentiert und für KMU und Unternehmen mit mittlerer Kapitalisierung („Mid Caps“) uninteressant geblieben ist. In Antwort auf diese Fragmentierung soll mit einer Studie geklärt werden, welche weiteren Maßnahmen neben MiFID II (8) für die Schaffung eines robusten und liquiden Sekundärmarkts für Unternehmensanleihen nötig sind. Außerdem soll untersucht werden, ob OGAW (9) auf Wertpapiere erweitert werden könnten, die auf KMU-Wachstumsmärkten notiert sind.

3.3.2

Seit Beginn der Finanzkrise wird der Begriff der Verbriefung automatisch mit Schrotthypotheken aus den USA und den damit verbundenen besicherten Schuldtiteln und Kreditausfall-Swaps verbunden. Das dramatische Versagen der Derivatemärkte wurde nicht durch die Verbriefung der Forderungen an sich ausgelöst, sondern geht vielmehr auf unzureichende Regulierung, mangelnde Kenntnisse und Gier sowohl auf Seiten der Käufer als auch der Verkäufer zurück. Die Verbriefungsgeschäfte haben mittlerweile wieder einen festen Platz auf der Politikgestaltungsagenda. Anforderungen an Risikorückbehalte bestehen in der EU seit 2011. Die Offenlegungspflichten, die Anlegern bessere Kenntnisse über die Instrumente, in die sie investieren gestatten, wurden verschärft. Nach Auffassung der Kommission sollen nun nachhaltige Verbriefungsmärkte entwickelt werden, die über eine angemessene aufsichtstechnische Differenzierung zwischen den verschiedenen handelbaren besicherten Wertpapieren verfügen. Der EWSA unterstützt zwar im Prinzip die schrittweise Einführung von Verbriefungen, gemahnt aber daran, dass die Umsetzung gut reguliert sein muss.

3.3.3

Die Kommission sagt zu, mit dem Basler Ausschuss und der Internationalen Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden (IOSCO) bei der Entwicklung und Umsetzung globaler Normen im Bereich Risikorückbehalt, Transparenz und Kohärenz auf Verbriefungsmärkten zusammenzuarbeiten. Die Kommission möchte auch binnen Jahresende prüfen, wie gedeckte Schuldverschreibungen in der Eigenkapitalverordnung behandelt werden, um ggf. einen integrierten Markt für gedeckte Schuldverschreibungen zu schaffen. Diese Prüfung sollte wiederum eine Untersuchung über einen EU-Rahmen für gedeckte Schuldverschreibungen auf den Weg bringen.

3.3.4

In der Mitteilung wird auch die Frage der Privatplatzierungen untersucht. Da sie als realistische Alternative zu Bankkrediten und öffentlichen Emissionen von Unternehmensanleihen gelten, sollen bewährte Verfahren auf den Märkten für Privatplatzierungen in Europa und weltweit untersucht und Vorschläge für eine breitere Verwendung solcher Platzierungen in der EU konzipiert werden.

3.4   Verbesserung des Kreditzugangs für KMU

3.4.1

In der Mitteilung wird ebenfalls auf die heikle Frage der Verbesserung des Zugangs von KMU zu langfristigen Krediten eingegangen. Die Frage ist Teil des 2011 erlassenen Aktionsplans zur Finanzierung von KMU, und seither wurden eher begrenzte Fortschritte erzielt. Das Fehlen angemessener, vergleichbarer, verlässlicher und klarer verfügbarer Kreditinformationen über KMU wurde als Haupthindernis für einen besseren Zugang zu den Kapitalmärkten ausgemacht. Diese Unzulänglichkeiten sind auch auf die je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Informationsgrundlagen zurückzuführen.

3.4.2

In einer jüngst veröffentlichten, einschlägigen Untersuchung des Internationalen Finanzinstituts (IFI) (10) werden diese Informationsasymmetrien als großes Hindernis sowohl für die kurz- wie langfristige Kreditvergabe an KMU genannt. Das IFI schlägt eine Reihe von Maßnahmen zur Überwindung dieser Hindernisse vor. Dazu gehören die breitere Verwendung von digitalen Datenregistern mit Standardangaben für Unternehmensregister, statistische Ämter, Bewertungen von Krediten von Banken und anderer Geldgeber. Diese nationalen Voraussetzungen für Kreditrisiko-Daten sollten in Zusammenarbeit mit European DataWarehouse konsolidiert werden und schließlich zu einem europäischen zentralen Kreditregister führen. Das IFI fordert die Einführung EU-weit geltender Normen für die Erfassung und Bereitstellung von Informationen, um unternehmens- und grenzübergreifende Analysen zu ermöglichen. Bessere und aktuellere Informationen über die finanzielle Leistungsfähigkeit von KMU sollten eine bessere Risikobewertung durch die Geldgeber und damit eine angemessenere Risikobepreisung ermöglichen. Die Vorschläge der IFI sind weitaus umfassender als die der Kommission, und der EWSA fordert die Kommission auf, die Fragen nationaler Unterschiede der Informationen und der Vertraulichkeit rasch anzugehen.

3.4.3

Der EWSA begrüßt die den Regionalen Entwicklungsagenturen (REA) bei der Risikobewertung von KMU zugedachte Rolle. Die meisten Regionen der EU verfügen über eine solche REA, wobei einige davon bereits für ihre Kunden im KMU-Bereich Eigenkapital und Fremdmittel zur Verfügung stellen. Oft kennen diese REA die KMU, ihre Eigentümer/Betreiber und ihr Führungspersonal besser als die Banken. Der EWSA empfiehlt deshalb der Kommission, ihre eventuelle Rolle als lokale Risikobewerter zu untersuchen.

3.4.4

Die Kommission hat auch zugesagt, den Dialog zwischen Banken und KMU neu zu beleben, um die Bewandertheit von KMU in Finanzierungsfragen insbesondere in Bezug auf die Rückmeldungen von Banken zu Darlehensanträgen zu verbessern. Die IFI-Studie geht auch hier weiter, es wird die Unterrichtung von KMU über alternative Finanzierungsmöglichkeiten und über den Nutzen der Teilnahme an Programmen zur alternativen Finanzierung empfohlen. Der EWSA unterstützt diesen Standpunkt.

3.5   Mobilisierung privater Finanzmittel für die Infrastruktur

3.5.1

Die Kommission sieht in dem Mangel an kohärenten europaweiten Daten über die Wertentwicklung von Infrastrukturdarlehen ein Hindernis für eine größere Beteiligung des Privatsektors an Infrastrukturinvestitionen. Die Vertraulichkeit von Geschäftsdaten und die Geschäftsgeheimnisse von Banken und Eigenkapitalgebern standen häufig der Verbreitung einschlägiger Informationen entgegen. Die Kommission möchte prüfen, ob ein einziges Portal genutzt werden kann, über das freiwillig bestehende Informationen über Pläne und Projekte nationaler, regionaler und kommunaler Behörden für Infrastrukturinvestitionen bereitgestellt werden. Ein analoger Ansatz einer einzigen Anlaufstelle wird für die Bereitstellung umfassender und standardisierter Kreditstatistiken zu Infrastrukturschulden vorgeschlagen. Der EWSA unterstützt diese Vorschläge ebenfalls.

3.6   Verbesserung des allgemeinen Rahmens für nachhaltige Finanzierung

3.6.1

Abgesehen von den oben erörterten themenspezifischen Maßnahmen untersucht die Kommission auch übergreifende Faktoren der nachhaltigen Finanzierung wie Grundsätze der Unternehmensführung (Corporate Governance), Rechnungslegungsstandards, Steuern und rechtliche Rahmenbedingungen. Die Kommission erwägt einen Vorschlag zur Überarbeitung der Aktionärsrichtlinie, um die langfristigen Interessen von institutionellen Anlegern, Vermögensverwaltern und Unternehmen besser miteinander in Einklang zu bringen. Der EWSA unterstützt diese Überarbeitung der Aktionärsrichtlinie im Sinne der Förderung einer längerfristigen Einbeziehung der Aktionäre.

3.6.2

Ebenso sollen die Programme für Mitarbeiterbeteiligung durch Belegschaftsaktien und zur finanziellen Beteiligung der Arbeitnehmer in der EU bewertet werden, um Probleme bei der grenzübergreifenden Umsetzung solcher Programme zu ermitteln und Maßnahmen zur Überwindung der Probleme zu konzipieren. Die Kommission möchte auch abwägen, ob die Verwendung des beizulegenden Zeitwerts in dem überarbeiteten Rechnungslegungsstandard IFRS 9 im Hinblick auf Geschäftsmodelle für langfristige Anlagen angemessen ist. Ferner wird die Kommission dieses Jahr ein Konsultationsverfahren zur Prüfung der Argumente für einen vereinfachten Rechnungslegungsstandard für die Jahresabschlüsse börsennotierter KMU und des Nutzens eines eigenständigen Rechnungslegungsstandards für nicht börsennotierte KMU einleiten.

3.6.3

In der Mitteilung wird festgestellt, dass in den meisten Steuersystemen der EU-Mitgliedstaaten die Unternehmensfinanzierung mittels Kreditaufnahme begünstigt wird. Dies veranlasst die Unternehmen dazu, mehr Schulden aufzunehmen, anstatt Eigenkapital zu nutzen. Die Kommission hat in diesem Bereich keine Zuständigkeit und bekräftigt lediglich, in den länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters mehr Eigenkapitalinvestitionen anzuregen. Schließlich wird die Kommission die jüngste Empfehlung über frühe Umstrukturierung überlebensfähiger Unternehmen und den Grundsatz einer zweiten Chance für insolvente Unternehmen sowie über das bei Forderungsabtretungen im Hinblick auf Dritte anzuwendende Recht überprüfen. An diesen Vorschlägen ist kaum etwas auszusetzen.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2013) 150 final/1 und COM(2013) 150 final/2.

(2)  COM(2013) 150 final/1 und COM(2013) 150 final/2.

(3)  COM(2014) 167 final.

(4)  COM(2014) 172 final.

(5)  Diese Vorschläge werden gegenwärtig in der EWSA Stellungnahme „Strukturelle Reformen der Banken in der EU“ beraten (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(6)  ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11.

(7)  Die KfW ist eine Entwicklungsbank in deutschem Staatsbesitz.

(8)  Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente.

(9)  Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren, Richtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG.

(10)  Restoring Financing and Growth to Europe's SMEs (2013).


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein offenes und sicheres Europa: Praktische Umsetzung

COM(2014) 154 final

(2014/C 451/16)

Berichterstatter:

José Isaías RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein offenes und sicheres Europa: Praktische Umsetzung.

COM(2014) 154 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 85 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

Im Einklang mit dem Standpunkt, den er seit Langem vertreten und in seinen Stellungnahmen zu den Kommissionsmitteilungen zum Haager Programm (1) und später zum Stockholmer Programm (2) zum Ausdruck gebracht hat, ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) der Auffassung, dass Grundlage und Ausgangspunkt für eine Politik der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Wahrung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebenen Grundrechte und Grundfreiheiten sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sein muss. Nach Ansicht des EWSA sollten die EU-Organe in ihrer Politik das Gleichgewicht zwischen Grundrechten und Sicherheit wahren. Mit seinem Urteil zu der Richtlinie 2006/24/EG über die mindestens sechsmonatige Vorratsspeicherung von Daten über die elektronische Kommunikation und Telekommunikation der Bürger hat der Gerichtshofs der EU diese Richtlinie aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips für ungültig erklärt. Der EuGH erachtet die Vorhaltung von Daten jedoch als legitime Zielsetzung, die dem Gemeinwohl dient.

1.2

Der EWSA beobachtet mit Besorgnis, dass Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Einwanderern in Europa zunehmen. Auch stellt er fest, dass in einigen Mitgliedstaaten mitunter eine allmähliche Verschlechterung des Grundrechteschutzes zu befürchten ist. Die Gleichbehandlung und Maßnahmen zur Diskriminierungsbekämpfung bilden die Grundpfeiler der Integrationspolitik. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission einen eigenen Kommissar einsetzt, um dem Schutz der Grundrechte ein deutlicheres Profil zu geben, ihn zu stärken und entsprechende Maßnahmen zu erlassen.

1.3

Desgleichen ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Europäische Union auf die Festigung eines internationalen Systems hinwirken sollte, mit dem Einwanderung und Mobilität auf der Grundlage der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern und der Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation erleichtert und geregelt werden.

1.4

Der EWSA als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft ist ein Gesprächspartner, der in allen Phasen der Debatte über ein offenes und sicheres Europa in der Kommission, im Europäischen Parlament und im Rat berücksichtigt werden und präsent sein muss.

1.5

Nach Auffassung des EWSA hätte die Mitteilung der Kommission konkreter sein müssen. Sie enthält eine Reihe von Ideen, die unserer Ansicht nach weiter ausgeführt und strukturiert werden müssten. Auch hätte in der Mitteilung besonders darauf eingegangen werden sollen, welche Hauptprobleme derzeit einem offeneren und sichereren Europa im Wege stehen.

1.6

Die Einwanderer leisten einen positiven Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa, das aufgrund der Bevölkerungsüberalterung vor einer großen demografischen Herausforderung steht. Die EU leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise und hohen Arbeitslosenquoten, aber selbst in dieser Situation besteht auf den Arbeitsmärkten verschiedener Mitgliedstaaten eine Nachfrage nach neuen Einwanderern. Ohne eine ernsthafte Migrationspolitik und die Annahme entsprechender Maßnahmen können sich die strukturellen Probleme infolge der demografischen Lage noch verschärfen, wenn die Krise erst überwunden ist und die Konjunktur wieder anzieht.

1.7

Die Europäische Union muss ein gemeinsames Asylsystem mit einheitlichen Rechtsvorschriften entwickeln und sich dabei auf die Grundlagen stützen, die in den Verträgen für eine gemeinsame Politik in diesem Bereich vorgesehen sind. Das Dubliner Übereinkommen muss durch ein System mit größerer Solidarität innerhalb der EU ersetzt werden, das auch dem Willen der Asylbewerber Rechnung trägt.

1.8

Nach Auffassung des EWSA erfordert ein glaubwürdiger Ansatz zur irregulären Migration und zur Rückführung ein entschlossenes Handeln unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente, um gegen organisierte kriminelle Schleuser- und Menschenhändlernetze vorzugehen. Wir sind davon überzeugt, dass eine bessere Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten notwendig und zweckdienlich wäre, um die bestehenden Mittel und Instrumente zur Bekämpfung von Kriminellen zu nutzen, die irreguläre Einwanderung begünstigen und erleichtern.

1.9

Die EU muss bei der Kontrolle der Außengrenzen Verantwortung übernehmen, d. h. der Grenzen der gesamten Europäischen Union im Schengen-Raum. Frontex muss zu einem europäischen Grenzschutzdienst werden und dabei dem Schutz des Lebens von Menschen in Gefahr und der Achtung des geltenden Rechts Vorrang einräumen.

1.10

Der EWSA schlägt vor, Europol zu einer europäischen Agentur unter Aufsicht eines europäischen politischen Organs oder Justizorgans zu machen, die ihre derzeitige Koordinationsrolle hinter sich lässt und in möglichst kurzer Zeit eigene operative Kapazitäten erlangt, um in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten im gesamten Unionsgebiet Ermittlungen führen zu können.

2.   Einleitung

2.1

Auch wenn erst wenige Jahre seit der Lancierung des Stockholmer Programms für „ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ vergangen sind, konnte die Europäische Union durch die Umsetzung einiger darin enthaltener Handlungsvorschläge bestimmte Maßnahmen auf dem Weg zu einer offeneren und sichereren Gesellschaft für alle entwickeln, die wir in diesem weiten Raum der Freiheit und der Eintracht leben, den die Europäische Union bildet — eine Europäischen Union, in der auch die geringste Spur von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Platz hat und unter keinen Umständen gebilligt oder toleriert werden darf.

2.2

Die Stärkung des Schengen-Raums, die Einigung über ein gemeinsames europäisches Asylsystem, die Verbesserung der gemeinsamen Visumpolitik, die verstärkte europäische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität in ihren für die Menschen bedrohlichsten Formen (Terrorismus, Menschenhandel, Cyberkriminalität usw.) sowie die zunehmende Zusammenarbeit mit Drittländern im Bereich Migration sind insgesamt wichtige Fortschritte, die jedoch nicht ausreichen.

2.3

In einer zunehmend vernetzten und miteinander verflochtenen Welt, in der ein ständiger Informationsfluss herrscht und die zu bewältigenden Herausforderungen zuweilen völlig unerwartet auftreten, müssen die Bemühungen um mehr Freiheit und Sicherheit verstärkt und vertieft werden — sowohl zugunsten aller Unionsbürger als auch für diejenigen, die aus Drittländern einwandern und sich in unsere Gesellschaft integrieren wollen, um ihr Wissen und Können einzubringen und so unsere Werte zu bereichern und die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern.

2.4

Kurz vor dem Auslaufen des Stockholmer Programms (3), zu dem der EWSA befasst worden war und Stellung genommen hatte (4), muss eine Antwort auf die in der Kommissionsmitteilung aufgeworfene Frage „Wie kann ein offenes und sicheres Europa praktisch umgesetzt werden?“ gefunden werden.

2.5

In einem Urteil vom 8. April 2014 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) (5) die Richtlinie 2006/24/EG (6) für ungültig erklärt, in der den Mitgliedstaaten auferlegt wurde, die Betreiber eines Kommunikationsnetzes bzw. Anbieter von Kommunikationsdiensten dazu zu verpflichten, Daten bezüglich elektronischer und telefonischer Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mindestens sechs Monate lang zu speichern. Der Gerichtshof sah in der Verpflichtung zur Vorratsspeicherung dieser Daten und der Gestattung des Zugangs der zuständigen nationalen Behörden zu ihnen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten. Außerdem sei der Umstand, dass die Vorratsspeicherung der Daten und ihre spätere Nutzung vorgenommen werden, ohne dass der Teilnehmer oder der registrierte Benutzer darüber informiert wird, geeignet, bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass die Vorratsspeicherung der Daten (und damit auch die Richtlinie) einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstellt. Das Urteil des Gerichtshofs vom 8. April 2014 bestätigt die Bedeutung der Wahrung der Rechte und Freiheiten der Bürger für das europäische Einigungswerk. Der EuGH hatte die Richtlinie aufgrund des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für ungültig erklärt, befindet jedoch, dass die Vorhaltung von Daten eine legitime Zielsetzung ist, die dem Gemeinwohl dient.

3.   Die Mitteilung der Kommission

3.1

Die Mitteilung ist das Ergebnis von Überlegungen, an denen alle von diesem Politikbereich der Europäischen Union betroffenen Institutionen und Gremien beteiligt waren, zum einen durch ihre Beiträge zu der Konferenz „Ein offenes und sicheres Europa — Wie geht es weiter?“ im Januar 2014 in Brüssel, an der auch der EWSA teilnahm, und zum anderen im Wege einer öffentlichen Konsultation mit hoher Beteiligung.

3.2

Die Mitteilung besteht aus einer Einleitung, in der sehr komprimiert die Entwicklungen und Erfolge bei der Umsetzung der ehrgeizigen Ziele aus dem Stockholmer Programm zusammengefasst werden und die als gedankliche Überleitung zum zweiten Teil dient, in dem eine Reihe politischer Prioritäten umrissen wird.

3.3

Die Prioritäten sind wie folgt aufgegliedert:

Eine wirksame Migrations- und Mobilitätspolitik;

Schengen, Visa und Außengrenzen;

Ein gemeinsames europäisches Asylsystem in der Praxis;

Weitere Stärkung des Gesamtansatzes für Migration und Mobilität (GAMM);

Ein Europa, das schützt.

4.   Bemerkungen

4.1   Eine wirksame Migrations- und Mobilitätspolitik

4.1.1

Der EWSA hat im Laufe der Jahre mehrfach zur Migrations-, Mobilitäts- und Integrationspolitik Stellung genommen. Daher bekräftigen wir erneut die Gültigkeit all dieser Äußerungen und insbesondere jener Vorschläge, die bislang noch nicht berücksichtigt wurden. Vor diesem Hintergrund kann der EWSA nur nachdrücklich eine bestmögliche Nutzung der Vorteile von Migration und Integration befürworten, denn beide können zweifelsohne einen Beitrag zu einem intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstum leisten, wie in der Mitteilung ausgeführt wird. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass in einem Europa, in dem rassistische und fremdenfeindliche Ideologien auf dem Vormarsch sind, keinerlei Toleranz gegenüber solchen Tendenzen gezeigt werden darf. Bei allen Maßnahmen, die für ein offeneres und sichereres Europa entworfen werden, muss die Bekämpfung von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein vorrangiges Handlungsgebot sein.

4.1.2

Talente und hochqualifizierte Arbeitskräfte anziehen, Anreize für Studenten aus Drittländern bieten und sie dazu bewegen, in der EU zu bleiben, um später dort zu arbeiten, die Anerkennung von Qualifikationen in diesen Ländern fördern, mögliche Auswanderer in ihren Herkunftsländern unterstützen, um ihre Einreise in die EU zu erleichtern — all dies sind wichtige, wertvolle Maßnahmen zur intellektuellen und wirtschaftlichen Bereicherung der Mitgliedstaaten und die daher vom EWSA unterstützt werden müssen. Im Vorfeld muss jedoch beachtet werden: Es ist nicht dasselbe, Talente und qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittländern mit großem eigenem Potenzial zur Schaffung intellektueller Werte und von Wohlstand zu rekrutieren, wie diese Ressourcen Ländern zu nehmen, die hart um ihr Aufstreben und die Erreichung von mehr Reichtum und Wohlstand kämpfen. In letztem Fall mag dies für die EU-Mitgliedstaaten eine ausgezeichnete Strategie sein, kann jedoch für die Drittländer den Verlust von wichtigem Humankapital bedeuten. Eine Zusammenarbeit zwischen der EU und Drittstaaten im Rahmen der Mobilitätspartnerschaften ist vonnöten.

4.1.3

Der EWSA sorgt sich wegen der Auswirkungen, die eine solche Strategie in Entwicklungsländern haben kann, die auf ausgebildetes und qualifiziertes Humankapital dauerhaft angewiesen sind, um ihrer gegenwärtigen Misere zu entkommen. Wenn solches Humankapital abgezogen wird, müssen im selben Atemzug Ausgleichsmaßnahmen für die Herkunftsländer vorgesehen werden, damit ihr Wachstum dadurch nicht beeinträchtigt wird. Dies muss bei der Konzipierung von Maßnahmen zur Anziehung von Talenten aus Drittstaaten ein vorrangiges Anliegen sein. Man muss immer bedenken, dass die langfristige Lösung für eine bessere Zukunft der Menschen aus unterentwickelten Ländern nicht darin besteht, sie in die EU zu holen und dort zu integrieren, damit sie einen Arbeitsplatz und bessere Lebensbedingungen finden, sondern vielmehr darin, darauf hinzuwirken, dass ihre Herkunftsländer einen Entwicklungsstand erreichen, der es ihren Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, nicht mehr nur das Auswandern als einzige Überlebensmöglichkeit zu sehen.

4.1.4

Dass Einwanderung und Integration komplementär sind und untrennbar zusammenhängen, wurde bereits im Juni 2007 vom Rat Justiz und Inneres anerkannt. Im Laufe der Jahre hat der EWSA verschiedentlich zu diesem Thema Stellung genommen und wiederholt seine Einschätzung geäußert. Besonders in diesen Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten muss umso mehr bekräftigt und in Erinnerung gerufen werden, dass „die Gleichbehandlung und Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen [...] die Grundpfeiler der Integrationspolitik [bilden]“. Diese Empfehlung stammt aus einer Sondierungsstellungnahme des EWSA von 2010 zum Thema „Integration von Arbeitsmigranten“ (7). Diese Stellungnahme hat nichts an Aktualität eingebüßt und fließt daher inhaltlich in die jetzige ein.

4.1.5

Das Europäische Integrationsforum ist eine ausgezeichnete Plattform für Organisationen der Zivilgesellschaft und Einwanderer. Der Ausschuss bekräftigt sein Engagement für eine fortgesetzte Zusammenarbeit mit der Kommission im Rahmen der Aktivitäten des Forums und bei der Gestaltung der europäischen Integrationsagenda.

4.1.6

Nach Auffassung des EWSA erfordert ein glaubwürdiger Ansatz zur irregulären Migration und zur Rückführung ein entschlossenes Handeln unter Einsatz aller verfügbaren Instrumente, um gegen organisierte kriminelle Netze vorzugehen, die Menschen durch irreguläres Einschleusen in die EU als einträgliche Ware missbrauchen. Ebenso muss vorgegangen werden gegen Menschenhändler, die Frauen und Minderjährige sexuell ausbeuten, sowie gegen Ausbeuter, die irreguläre, fast sklavisch gehaltene Arbeitskräfte nutzen. Auf diese Weise sollte im Sinne der Opfer gewährleistet werden, dass die internationalen Menschenrechtsnormen und die europäischen Menschenrechtskonventionen gewahrt werden, denn es geht um gefährdete Personengruppen, die besonderen Schutz benötigen. Wir sind davon überzeugt, dass eine bessere Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten notwendig und zweckdienlich wäre, um die bestehenden Mittel und Instrumente zur Bekämpfung von Kriminellen zu nutzen, die die irreguläre Einwanderung begünstigen und erleichtern.

4.1.7

Der Ausschuss spricht sich für eine Zusammenarbeit mit Drittländern aus und sieht darin einen entscheidenden Faktor, um eine geregelte humanitäre Lösung für die Rückkehr von irregulär ins Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten eingereisten Personen in ihre Herkunftsländer zu ermöglichen. Der Ausschuss befürwortet die Empfehlungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zur Förderung einer unterstützten freiwilligen Rückkehr.

4.1.8

In diesem Sinne wäre eine Politik der Zusammenarbeit mit den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens erforderlich, die mindestens derjenigen gleichwertig sein sollte, die mit nicht der EU angehörenden europäischen Staaten oder asiatischen Ländern betrieben wird. Spanien, Griechenland, Italien, Zypern und Malta sind starken irregulären Migrationsströmen aus dieser Weltregion ausgesetzt. Da dabei das Mittelmeer bzw. der Balkan überquert werden muss, kann es zu dramatischen Situationen kommen (wie z. B. an den Küsten von Lampedusa), die mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Der Ausschuss fordert die Kommission und den Rat mit Nachdruck auf, dafür zu sorgen, dass sich die Europäische Union intensiver um ein Problem kümmert, das sie selbst und somit all ihre Mitgliedstaaten — d. h. nicht nur diejenigen an den Außengrenzen — angeht, indem mehr Lösungen aufgezeigt und den Mitgliedstaaten weniger Vorwürfe gemacht werden.

4.1.9

Nach der Tragödie von Lampedusa im Oktober 2013 wurde die Mittelmeer-Taskforce ins Leben gerufen. Die Gespräche der Taskforce führten zur Veröffentlichung der Mitteilung über die Arbeit der Mittelmeer-Taskforce  (8), in der ein Bündel kurz-, mittel- und langfristiger Maßnahmen in fünf Haupthandlungsbereichen vorgeschlagen wird, die auf der gleichen Linie liegen wie die Prioritäten der in dieser Stellungnahme erörterten Kommissionsmitteilung. Der EWSA hält es für wesentlich, die kurzfristigen Maßnahmen durch langfristige zu ergänzen, um die tieferen Gründe der unfreiwilligen Migration (Armut, Menschenrechtsverletzungen, Konflikte, wirtschaftliche Chancenlosigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit usw.) anzugehen.

4.1.10

Es besteht kein Zweifel darüber, dass die irreguläre Migration für die Auswanderungswilligen aus den Ländern südlich der Sahara lebensgefährlich ist und am besten an der Wurzel bekämpft werden kann anstatt während des Transits und/oder im Zielland. Der EWSA unterstützt alle Maßnahmen, die ein Handeln in den Herkunftsländern ermöglichen, um bei humanitären Krisen entschlossener vorzugehen, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern und schließlich all das zu tun, was angesichts der verzweifelten Migration von Hunderttausenden oder Millionen Menschen schon so oft angekündigt, aber nie in die Tat umgesetzt wurde.

4.2   Schengen, Visa und Außengrenzen

4.2.1

Wenn der Begriff „Schengen“ den Bürgern überhaupt etwas sagt, wird er mit dem freien Personenverkehr in den Unterzeichnerstaaten assoziiert. Das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt für Unionsbürger ist ein in den Verträgen geschütztes und geregeltes Recht. Ergänzung und flexiblere Gestaltung der gemeinsamen Visumpolitik, individuelle Behandlung aller Anträge ohne Voreingenommenheit aufgrund bestimmter Staatsangehörigkeiten, Einrichtung von Konsularstellen für Schengen-Visa, Überprüfung der Liste von Ländern, für die ein Visum erforderlich ist — all diese Aspekte sind wichtig und sollten mit Blick auf ihre bessere Annahme und Umsetzung gemeinsam in Angriff genommen werden.

4.2.2

Der Ausschuss befürchtet jedoch angesichts bestimmter Praktiken in gewissen Mitgliedstaaten, dass es nicht zu erwarten steht, dass die Mitgliedstaaten Menschen aus Drittländern den Zugang zur EU erleichtern werden, wenn es gleichzeitig schon Mitgliedstaaten gibt, die selbst Unionsbürgern mit der Ausweisung in ihr Herkunftsland drohen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, oder ihnen schlichtweg die Einreise verweigern. Der EWSA bedauert, dass angesichts einer fehlenden vollständigen Freizügigkeit für Unionsbürger kaum glaubhaft davon ausgegangen werden kann, dass es eine solche für Drittstaatsangehörige geben wird.

4.2.3

Mit Blick auf die Außengrenzen der Europäischen Union fragt sich der EWSA, ob der Beitrag der EU zum Schutz ihrer südlichen und östlichen Grenzen der aktuellen dortigen Lage entspricht. Trotz der gestärkten Rolle von Frontex durch die Änderung der Richtlinie EG 2007/2004 des Rates stellt sich die Frage, ob ein integriertes Management der Außengrenzen heute in der Union möglich ist. Der EWSA verweist auf die Empfehlungen aus seiner Stellungnahme (9) zu dem Vorschlag zur Änderung dieser Richtlinie und bekräftigt seine Standpunkte. Frontex sollte in einen europäischen Grenzschutzdienst umgestaltet werden, der sich aus einem europäischen Kontingent von Grenzschutzbeamten zusammensetzt.

4.2.4

Die Anwendung des Pakets „Intelligente Grenzen“, zu dem der EWSA Stellung genommen hat (10), wird auf der Grundlage eines Programms für registrierte Reisende (RTP) sowohl die Grenzkontrollverfahren als auch die Grenzüberschreitung für in die EU einreisende Bürger aus Drittländern beschleunigen, erleichtern und stärken. Das RTP-Programm wird es häufigen Reisenden aus Drittländern ermöglichen, nach vorheriger Prüfung und Auswahl mit vereinfachten Grenzkontrollen in die EU einzureisen. Eine weitere Komponente ist ein Einreise-/Ausreisesystem (EES), mit dessen Hilfe der Zeitpunkt und Ort der Ein- und Ausreise von Drittstaatsangehörigen, die in die EU reisen, erfasst wird. Der EWSA unterstützt die Anwendung dieses Pakets und ist davon überzeugt, dass die Einführung neuer Technologien einen moderneren Grenzschutz in der Union erleichtern wird. Daher fordert er die EU-Institutionen auf, Rechtsinstrumente voranzutreiben, die eine möglichst rasche Umsetzung dieser Technologien fördern.

4.3   Ein gemeinsames europäisches Asylsystem

4.3.1

Nach Ansicht des Ausschusses sind wichtige Fortschritte in Richtung eines EU-Rechtsrahmens erzielt worden, der schutzbedürftigen Personen einen besseren Zugang zum Asyl ermöglicht, da die Entscheidungen zur Gewährung von Asyl schneller und zuverlässiger getroffen werden. In Bezug auf die Umsetzung des EU-Rechts in einzelstaatliche Rechtsvorschriften und deren Anwendung wiederholt und bekräftigt der EWSA dennoch seine Bemerkung aus der Stellungnahme (11) zu der Kommissionsmitteilung „Künftige Asylstrategie — ein integriertes Konzept für EU-weiten Schutz“ (12), in der er zur Anwendung des Asylrechts in den Mitgliedstaaten empfahl: „Die EU muss gemeinsame Rechtsvorschriften erarbeiten, die keinerlei Schwächung der Schutzstandards zur Folge haben; deshalb sollten jene Mitgliedstaaten, deren Schutzniveaus unzureichend sind, ihre Gesetze entsprechend ändern. Die Mitgliedstaaten werden immer gewisse Möglichkeiten bei der Umsetzung der EU-Asylvorschriften haben; der EWSA wird aber nur jene Gemeinschaftsvorschriften unterstützen, die ein hohes Schutzniveau garantieren und die derzeitigen Ermessensspielräume verringern, die eine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Vorschriften verhindern.“

4.3.2

Das gemeinsame europäische Asylsystem muss gefestigt werden, um sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten dieselben Kriterien anwenden, und um den Asylbewerbern Rechtssicherheit zu geben. Der EWSA begreift, dass die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten einer der Aspekte sein kann, bei dem sie sich den größten Ruck geben müssen. Denn aufgrund verschiedener Umstände kann es Situationen geben, in denen ein Mitgliedstaat stärker unter Druck steht. Dann ist ebenso wie beim Schutz der Außengrenzen mehr Europa nötig.

4.3.3

Angesichts der Erfahrungen und der offenkundigen Sachlage im Bereich der irregulären Migration müssen wir uns fragen, ob es unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist, zu mehr Solidarität und gemeinsamer Verantwortungsübernahme auf diesem Gebiet zu gelangen. Als Antwort auf die Frage, wie die Solidarität und Verantwortungsübernahme zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden kann, teilt der Ausschuss daher die Ansicht der Kommission insofern, als dass die Umsiedlung („Resettlement“) in andere, weniger unter Druck stehende Mitgliedstaaten sowie die Einrichtung gemeinsamer Aufnahmezentren gefördert werden sollten. So erklärte der EWSA in seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Irreguläre Einwanderung auf dem Seeweg im Euromed-Raum“ (13): „Dies ist nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern es geht auch darum, dass die Mitgliedstaaten mithilfe von Verfahren zur Aufteilung der durch die irreguläre Einwanderung entstandenen Lasten ihrer Verantwortung gerecht werden.“

4.3.4

In Bezug auf den Umgang mit einem Massenzustrom von Menschen in Krisensituationen wie im Fall von Syrien und im Zusammenhang mit Asylanträgen durch die Anwendung flexiblerer Instrumente, wie die Kommission in ihrer Mitteilung ausführt, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der EWSA bereits vormals die Einführung eines einheitlichen gemeinsamen Asylverfahrens unterstützt hat, das keinen Raum für ein Auseinanderdriften der Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten lässt (14). Die von der Kommission angestrebte Flexibilität soll sich auf einen vorübergehenden Schutz beschränken und erfordert verstärkte Bemühungen der Behörden zur Prüfung der Anträge von wirklich asylbedürftigen Personen und zu ihrer Unterscheidung von betrügerischen Anträgen.

4.4   Stärkung des Gesamtansatzes für Migration und Mobilität

4.4.1

Fakt ist, dass die Mobilität und Migration von Menschen nicht nur von dem Wunsch nach einer besseren Zukunft ausgeht. Instabilität, politische Umwälzungen, Klimaveränderungen und viele andere Faktoren haben im Laufe der Jahrhunderte bis heute zu bedeutenden Wanderbewegungen geführt. Was vergangene Migrationsbewegungen von heutigen unterscheidet, ist die Gewährleistung und Wahrung der Grundrechte eines jeden Menschen. Daher muss die Europäische Union als weltweit größter Raum der Freiheit und Sicherheit mit den Herkunftsländern zusammenarbeiten, um eine geregelte Mobilität zu fördern, bei der die Rechte der Bürger aus diesen Ländern gewährleistet werden und sie von organisierten kriminellen Netzen, die Menschenhandel betreiben, ferngehalten werden.

4.4.2

Der EWSA hat in seiner Stellungnahme (15) zum Gesamtansatz für Migration und Mobilität (16) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er „den Gesamtansatz für Migration und Mobilität (GAMM), durch den die Einwanderungs- und Asylpolitik eng mit der Außenpolitik der EU verknüpft wird, [befürwortet]“. Dementsprechend hat der EWSA seinen Standpunkt durch zahlreiche Stellungnahmen im Laufe der Zeit immer wieder bekräftigt und unterstützt daher auch weiterhin die Entwicklung einer immer engeren Verknüpfung zwischen der internen und externen Dimension der Migrations- und Mobilitätspolitik sowie eine bessere Kohärenz zwischen der Einwanderungs- und Asylpolitik der Union und ihren entwicklungspolitischen Maßnahmen.

4.5   Ein Europa, das schützt

4.5.1

Die 2010 angenommene Strategie der inneren Sicherheit sieht ein gemeinsames Vorgehen der EU zu den wichtigsten Sicherheitsbedrohungen vor. Sie basiert auf fünf strategischen Zielen, die auch weiterhin gelten, aber überarbeitet werden sollten, um ein aktualisiertes Konzept für die Herausforderungen des nächsten Fünfjahreszeitraums zu bieten und Synergien mit anderen wichtigen Bereichen zu fördern, in denen die Sicherheit für die Festigung der Erfolge und weitere Fortschritte unerlässlich ist.

4.5.2

Der Ausschuss stimmt mit der Kommission überein, dass die Zerschlagung internationaler krimineller Netze, die im Unionsgebiet operieren, eine Priorität aller Mitgliedstaaten insgesamt und die Koordinierung der darauf gerichteten Bemühungen ein Ziel der Union sein muss. Die organisierte Kriminalität ist den gegen sie gerichteten rechtlichen oder polizeilichen Maßnahmen immer einen Schritt voraus. Die Internationalisierung der organisierten Kriminalität erfordert massive zwischenstaatliche Kooperationsbemühungen, die seitens der Europäischen Union intensiv koordiniert werden müssen.

4.5.3

Es darf nicht toleriert werden, dass kriminelle Netze aufgrund divergierender Rechtsvorschriften und polizeilicher Zuständigkeiten, wiederholter Klagen vor Gericht und einer ganzen Reihe von Rechtsmitteln ihre Zerschlagung verhindern oder hinauszögern können. Wenn es eine Kriminalität ohne Grenzen gibt, müssen wir rascher auf eine Justiz ohne Grenzen innerhalb der Union hinarbeiten. Der EWSA ist der Auffassung, dass wir es uns nicht leisten können, globale Lösungen gegen organisierte Kriminalität immer wieder aufzuschieben.

4.5.4

Aus Sicht des Ausschusses reichen Schulung und Information allein nicht aus, um die Zerschlagung krimineller Netze zu erreichen. Daher plädieren wir dafür, ohne die Weiterentwicklung des europäischen Schulungsprogramms für Strafverfolgungsbeamte einzustellen, die Möglichkeit zu prüfen, Europol zu einer operativen polizeilichen Ermittlungsbehörde mit unionsweiten Zuständigkeiten zu machen, um grenzüberschreitende organisierte Kriminalität zu verfolgen, insbesondere auf dem Gebiet des Menschenhandels. Damit würde Europol nicht mehr nur Koordinierungsaufgaben erfüllen, sondern ganz und gar operative Aufgaben wahrnehmen. In diesem Zusammenhang sei auf folgende Empfehlung aus der Sondierungsstellungnahme zur „Mitwirkung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus“ (17) verwiesen: „Der EWSA schlägt vor, Europol zu einer durch eine europäische politische oder justizielle Behörde kontrollierten Einrichtung zu machen, die ihre derzeitige Koordinationsrolle hinter sich lässt und in möglichst kurzer Zeit eine eigene operative Kapazität erlangt, um in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten auf dem gesamten EU-Gebiet Ermittlungen führen zu können.“

4.5.5

Die ständige Festlegung stets langfristiger Perspektiven, Ziele und Fristen kann dazu führen, dass die Bürger letztendlich das Interesse verlieren — denn was sie erwarten, sind Lösungen. Auch in diesen für das tägliche Leben der Menschen so wichtigen Aspekten muss Flexibilität gezeigt und Bürokratie abgebaut werden, wenn wir nicht einen neuen Quell für Euroskeptiker schaffen wollen.

4.5.6

In dem jüngsten Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur Korruptionsbekämpfung in der Europäischen Union wird herausgestellt, dass Korruption nach wie vor ein Problem europäischen Ausmaßes ist. Machtmissbrauch zum persönlichen Vorteil muss verfolgt und bestraft werden — vor allem dann, wenn vielleicht die organisierte Kriminalität mit im Spiel ist. Der EWSA unterstützt die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen und mit den Mitgliedstaaten in vollem Maße, um diesen Schandfleck, der die Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems untergräbt, zu bekämpfen.

4.5.7

Der EWSA unterstützt und befürwortet alle rechtmäßigen und demokratischen Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, Terrorismus zu verhindern sowie Radikalisierung und Anwerbung zu bekämpfen. Es steht außer Frage, dass alle Arten rechtmäßiger und demokratischer Maßnahmen, mit denen verhindert werden soll, dass sich junge Menschen extremistischen Bewegungen oder Parteien anschließen und so unmittelbar in die Fänge des Terrorismus getrieben und zu terroristischen Handlungen verleitet werden, in der gesamten Union und über ihre Grenzen hinaus gefördert werden müssen. Die Ermittlung von Gefahrenbereichen und Brennpunkten, an denen neue Anhänger für extremistische Vorstellungen gewonnen werden, ist ein vorrangiges Anliegen für die Gewährleistung unserer persönlichen und kollektiven Sicherheit. Hier bedarf es eines guten Informationsflusses, damit beim ersten Anzeichen von Radikalisierungs- oder Anwerbungsaktivitäten strenge Maßnahmen getroffen werden, die sie im Keim ersticken. An dieser Stelle erinnert der Ausschuss an seine Empfehlungen aus der Stellungnahme zu der Kommissionsmitteilung „Politik der EU zur Terrorismusbekämpfung: wichtigste Errungenschaften und künftige Herausforderungen“ und bekräftigt die darin geäußerten Standpunkte.

4.5.8

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Terrorismus von außerhalb der Unionsgrenzen kommen, aber auch innerhalb der EU entstehen kann, wie uns die jüngere Geschichte Europas lehrt. Daher muss verhindert werden, dass die Radikalisierung und die Anwendung extremer Gewalt bei Straßenunruhen in europäischen Städten als Gelegenheit für die Anwerbung von Anhängern für künftige Aktivitäten erklärt terroristischer Gruppen genutzt werden. Straßengewalt kennt keine Grenzen, und gewalttätige Unruhestifter können häufig von einem Staat in einen anderen reisen, um dort gerade stattfindende Veranstaltungen und Ereignisse verschiedener Art für ihre Zwecke zu nutzen. Deshalb hält der Ausschuss eine bessere Abstimmung zwischen den Polizeibehörden der einzelnen Mitgliedstaaten für erforderlich, um solche gewaltbereiten Gruppen, die sich u.U. später in terroristische Gruppierungen eingliedern, aufzuspüren und ihre Tätigkeit zu verhindern und zu ahnden.

4.5.9

Der EWSA befürwortet die Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden, um das Sicherheitsniveau für die Bürger und Unternehmen im Cyberspace zu erhöhen. Angesicht der zu erwartenden Zunahme der Internetkriminalität verdienen die derzeitigen Maßnahmen der Europäischen Union gegen die Cyberkriminalität größtmögliche Unterstützung. Desgleichen muss die Zusammenarbeit mit Drittländern ein globales Vorgehen gegen ein Kriminalitätsproblem ermöglichen, das ein weltweites Ausmaß annimmt und alle Grenzen überschreitet. Auch hier spielt die Prävention eine grundlegende Rolle, um zu verhindern, dass Cyberkriminelle bei der Anwendung neuer Technologien die Nase vorn haben. Das Europäische Zentrum gegen Cyberkriminalität muss mit mehr Ressourcen und Finanzmitteln ausgestattet werden, auch wenn es noch jung ist und keine lange Wegstrecke zurückgelegt hat.

4.5.10

Dem EWSA als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft in der EU ist es unbegreiflich, warum es immer noch Mitgliedstaaten gibt, die das Übereinkommen des Europarats über Cyberkriminalität noch nicht ratifiziert haben.

4.5.11

In einem Europa, das neben anderen Freiheiten auf dem freien Personen- und Warenverkehr beruht, muss die Stärkung der Sicherheit im Wege des Grenzschutzes zu einer gemeinsamen politischen Maßnahme werden, mit der Sicherheit für alle Unionsbürger gewährleistet wird. Die Einfuhr von Waren über eine Zollstelle und der freie Warenverkehr innerhalb der Union erfordern kraftvolle gemeinsame Instrumente, die einen wirksamen Außengrenzschutz ermöglichen. Streng überwachte Grenzen hier und lasch kontrollierte dort darf es nicht geben.

4.5.12

Die gemeinsame Reaktion auf Notsituationen erfolgt — ganz ohne jeglichen Regulierungsbedarf — durch das spontane Handeln der Bürgerinnen und Bürger, die Hilfe leisten, ohne dass sie erst behördlich dazu aufgefordert werden müssen. Nichtsdestoweniger haben koordiniertes Handeln und gemeinsames Vorgehen in Krisensituationen und bei Katastrophen einen Mehrwert, um wirksamer und effizienter auf solche Situationen reagieren zu können.

4.5.13

Der EWSA teilt die Einschätzung der Kommission, dass die Schaffung innerer Sicherheit auch ein Handeln über die EU-Grenzen hinaus, d. h. in einem globalen Kontext, erfordert. In allen Bereichen im Zusammenhang mit Freiheit und Sicherheit ist die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und mit Drittländern unerlässlich, um auf dem Weg zu einer besseren und gerechteren Welt voranzukommen, in der die Freiheiten und Rechte, die wir uns so hart erkämpft haben, nicht durch organisierte Kriminalität und Terrorismus gefährdet werden.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 120-130.

(2)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 80-88.

(3)  ABl. C 115 vom 4.5.2010.

(4)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 80-88.

(5)  http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2014-04/cp140054de.pdf

(6)  Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105 vom 13.4.2006, S. 54).

(7)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 16-22.

(8)  COM(2013) 869 final.

(9)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 162-166.

(10)  ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 97.

(11)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78.

(12)  COM(2008) 360 final.

(13)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 32.

(14)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78.

(15)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 134.

(16)  COM(2011) 743 final.

(17)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 147.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die EU-Justizagenda für 2020 — Stärkung von Vertrauen, Mobilität und Wachstum in der Union

COM(2014) 144 final

(2014/C 451/17)

Berichterstatter:

Xavier VERBOVEN

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die EU-Justizagenda für 2020 — Stärkung von Vertrauen, Mobilität und Wachstum in der Union.

COM(2014) 144 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung vom 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 72 Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat die Mitteilung der Kommission zur Kenntnis genommen und hält es für angebracht, einige Bemerkungen zu den von der Kommission aufgestellten politischen Zielen sowie einige besondere Bemerkungen vorzubringen.

1.2

Das Ziel „Stärkung des gegenseitigen Vertrauens“ wird vom Ausschuss als angemessene politische Priorität erachtet, das den Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) für den Bereich Justiz entspricht. In Bezug auf die Initiativen, die in den nächsten fünf Jahren zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens ergriffen werden können, bleibt die Kommission jedoch eher vage und oberflächlich. Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Zusammenarbeit, die in der Vergangenheit durch den Abschluss von Abkommen über die Zusammenarbeit erreicht wurde, durch die Konzeption von Nachfolgeinstrumenten weiter angeregt werden.

1.3

Zu dem Ziel „Beitrag zum Wirtschaftswachstum“ merkt der Ausschuss an, dass das Anstreben von Wirtschaftswachstum als wichtige Priorität anerkannt wird, zumindest unter der Voraussetzung, dass ein nachhaltiges Wachstum angestrebt wird. Wirtschaftswachstum kann jedoch für sich allein nicht als ein politisches Ziel der Justizpolitik betrachtet werden, die gemäß dem AEUV auf die Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit und einen raschen Zugang zum Recht ausgerichtet sein muss, was nicht dem Wirtschaftswachstum untergeordnet werden kann. Trotzdem kann eine gut funktionierende Justiz in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen positiven Effekt auf das nachhaltige Wirtschaftswachstum in der Union haben, nämlich indem Streitfälle auf zivilrechtlicher Ebene schneller und effektiver abgewickelt werden können und die Rechtssicherheit gestärkt wird, und indem auf strafrechtlicher Ebene Phänomene wie Geldwäschepraktiken und organisierte Kriminalität, die der regulären Wirtschaft schaden, wirksam angegangen werden können.

1.4

Hinsichtlich des Ziels „Unterstützung der Mobilität“ merkt der Ausschuss an, dass die Unterstützung der Mobilität innerhalb der Europäischen Union, vor allem die Sorge dafür, dass die EU-Bürger ihre Rechte überall ausüben können, mit dem im AEUV festgehaltenen Ziel in Zusammenhang gebracht werden kann, den Zugang zum Recht zu erleichtern. Es ist jedoch zu betonen, dass in Titel V nicht nur die „Freiheit“ als anzustrebendes Ziel aufgeführt wird, sondern auch Sicherheit und Recht, was eine Einschränkung der Freiheit beinhalten kann. Eher als in der Unterstützung von Mobilität muss das Ziel im Schutz des Zugangs zu einer effizienten Justiz für den Bürger bestehen, der sein Recht auf Freizügigkeit ausübt.

1.5

Ferner hat der Ausschuss anzumerken, dass in der Mitteilung der Kommission einige Aspekte unerwähnt bleiben, die aber durchaus zur Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen können.

Erstens könnte erwogen werden, in den Mitgliedstaaten hohe Verwaltungsbeamte als Spezialisten für Europarecht einzusetzen, um den Bürgern bei Streitfragen rund um europäische Rechtsvorschriften mehr Rechtssicherheit zu bieten.

Zweitens könnte an die Einsetzung europäischer Polizei- und Kontrolleinsatzkräfte gedacht werden, um wirksam gegen Straftaten und Betrug mit grenzüberschreitenden Aspekten vorgehen zu können.

Drittens muss geprüft werden, inwieweit im strafrechtlichen Bereich Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität zu schaffen sind, die eine grenzüberschreitende Dimension haben, wie etwa Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Geldfälschung, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.

Viertens wäre die verpflichtende Einführung von Sammelklagen denkbar, die den Zugang zum Recht für EU-Bürger verbessern sollte.

Fünftens wäre es wünschenswert, die erzielten Fortschritte im Justizbereich, insbesondere die Umsetzung der politischen Agenda, in einem Anzeiger festzuhalten.

Sechstens wäre es äußerst sinnvoll, in der künftigen Kommission ein Kommissionsmitglied mit der Zuständigkeit für die Menschenrechte zu betrauen.

2.   Zusammenfassung der Kommissionsmitteilung  (1)

2.1   Verortung der Kommissionsmitteilung

2.1.1

Die Europäische Kommission hat bereits verschiedene Gesetzesinitiativen unternommen — sowohl im straf- als auch im zivilrechtlichen Bereich —, mit denen bereits ein gutes Stück Weg hin zur Verwirklichung eines Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zurückgelegt worden ist.

2.1.2

Die Leitlinien wurden in Fünfjahresprogrammen festgelegt, so etwa im Programm von Tampere, im Haager Programm und zuletzt im Stockholmer Programm. Das Stockholmer Programm wird Ende 2014 auslaufen. Aus diesem Grund und aufgrund der Ausweitung der Befugnisse der Europäischen Union im Bereich Justiz durch den Vertrag von Lissabon, sollen mit dieser Mitteilung der Kommission die politischen Prioritäten festgelegt werden, die verfolgt werden müssen, um weitere Fortschritte auf dem Weg zu einem gut funktionierenden europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erzielen, ausgerichtet auf die Stärkung von Vertrauen, Mobilität und Wachstum bis 2020.

2.1.3

Diese Mitteilung liefert einen Beitrag zu den strategischen Leitlinien für die gesetzgeberische und operative Programmplanung, die der Europäische Rat gemäß den Bestimmungen von Artikel 68 AEUV mit Blick auf die Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts festlegt, sowie auch zu den strategischen Entscheidungen, die vom Europäischen Parlament diesbezüglich zu treffen sind (2).

2.2   Inhalt der Kommissionsmitteilung

2.2.1

Herausforderungen für die Zukunft/politische Zielsetzungen

Die Kommission stellt in ihrer Mitteilung drei Ziele für die Zukunft auf, nämlich:

a)

Gegenseitiges Vertrauen

Die weitere Stärkung des Vertrauens der Bürger, Angehörigen der Rechtsberufe und Richter in gerichtliche Urteile und Entscheidungen, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat der Europäischen Union diese ergangen sind.

b)

Mobilität

Die Hindernisse, die den Bürgern der Europäischen Union bei der Ausübung der Freizügigkeit noch immer im Wege stehen, müssen noch weiter ausgeräumt werden.

c)

Wirtschaftswachstum

Die Justizpolitik soll das Wirtschaftswachstum weiter unterstützen, u. a. durch eine bessere Durchsetzbarkeit von Verträgen bei grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen sowie durch die Unterstützung der digitalen Wirtschaft.

2.2.2

Die von der Kommission festgelegten Instrumente zur Verwirklichung dieser Ziele sind Konsolidierung, Kodifizierung und Ergänzung. Diesbezüglich weist die Kommission darauf hin, dass eine Ergänzung der bestehenden Politik und Rechtsinstrumente immer mit dem Ziel geschehen sollte, das gegenseitige Vertrauen und das Wachstum zu stärken und das Leben der Bürger zu erleichtern.

3.   Bemerkungen

Bemerkungen zu den von der Kommission festgelegten politischen Zielen

3.1   Befugnisse der Europäischen Union im Bereich Justiz

3.1.1

Die Befugnisse der Europäischen Union im Bereich Justiz werden in Titel V des dritten Teils des AEUV ausdrücklich festgelegt. Dieser Titel lautet: „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.

3.1.2

In Artikel 67 AEUV ist festgeschrieben, dass die Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.

3.1.3

In diesem Rahmen haben die Institutionen der Europäischen Union den Auftrag (3):

sicherzustellen, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen zu entwickeln;

darauf hinzuwirken, ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten;

den Zugang zum Recht zu erleichtern.

3.1.4

Zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt die Union über Befugnisse im Bereich Justiz, Polizei, Asyl und Migration.

3.1.5

Im Justizbereich verfügt die Union über Befugnisse sowohl im zivilrechtlichen als auch im strafrechtlichen Bereich.

3.1.6

Die Befugnisse im strafrechtlichen Bereich umfassen in erster Linie die Befugnis, mit Blick auf die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen Maßnahmen zu erlassen und Mindestvorschriften für Strafverfahren festzulegen. Diese Befugnis beinhaltet z. B. die Befugnis, Mindestvorschriften in Bezug auf die Rechte des Einzelnen in Strafverfahren oder von Opfern von Straftaten aufzustellen oder die Befugnis zum Erlass von Maßnahmen, um Kompetenzkonflikte zu verhindern und beizulegen. Zweitens umfassen die Befugnisse im strafrechtlichen Bereich die Befugnis, Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität zu schaffen, die eine grenzüberschreitende Dimension haben, wie etwa Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Geldfälschung, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Drittens können Maßnahmen zur Anregung der Verhütung von Straftaten erlassen werden. Viertens umfasst die Befugnis im strafrechtlichen Bereich die Unterstützung und Stärkung der Koordinierung und Zusammenarbeit der nationalen Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden. Fünftens umfasst die Befugnis im strafrechtlichen Bereich die Befugnis, zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eine Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen.

3.1.7

Die Befugnisse betreffend die Justiz im zivilrechtlichen Bereich umfassen die Befugnis, Maßnahmen zu erlassen, um (1) die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern, (2) die grenzüberschreitende Zustellung zu vereinfachen, (3) die Vorschriften für die Gerichtsstandsvereinbarung und das anzuwendende Recht (internationales Privatrecht) festzulegen, (4) Zusammenarbeit bei der Erhebung von Beweismitteln, (5) den effektiven Zugang zum Recht und (6) Hindernisse zu beseitigen, die der reibungslosen Abwicklung von Zivilverfahren im Wege stehen, (7) die Vereinbarkeit der geltenden Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten, (8) die Entwicklung von alternativen Methoden für die Beilegung von Streitigkeiten.

3.2   Betreffend die Konformität der von der Kommission festgelegten Ziele mit den im AEUV festgelegten Befugnissen der Union im Justizbereich:

3.2.1   Hinsichtlich der Zielsetzung „Stärkung des gegenseitigen Vertrauens“:

3.2.1.1

Dass die Kommission die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens der in den Mitgliedsstaaten zuständigen Behörden in die Entscheidungen des jeweils anderen als Ziel im Bereich Justiz ins Visier nimmt, ist angemessen und sollte unterstützt werden, auch wenn es hier eher um ein Instrument geht, um die justizielle Zusammenarbeit in die Tat umzusetzen, als um ein Ziel an sich.

3.2.1.2

Dem AEUV zufolge soll die Union sowohl in Strafsachen als auch in Zivilsachen eine Politik verfolgen, die auf justizielle Zusammenarbeit ausgerichtet ist, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht, was gegenseitiges Vertrauen in die Beschlüsse des jeweils anderen voraussetzt (4).

3.2.1.3

In Bezug auf die Initiativen, die in den nächsten fünf Jahren zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens ergriffen werden können, bleibt die Kommission jedoch eher vage und oberflächlich. Nach Auffassung des Ausschusses könnte die Zusammenarbeit, die in der Vergangenheit durch den Abschluss von Abkommen über die Zusammenarbeit erreicht wurde, u. a. durch die Konzeption justizieller Nachfolgeinstrumente weiter angeregt und unterstützt werden.

3.2.2   Hinsichtlich des Ziels „Beitrag zum Wirtschaftswachstum“:

3.2.2.1

Es ist nicht selbstverständlich, dass die Kommission einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum im Bereich Justiz als Ziel angibt. Der AEUV überträgt der Union justizielle Befugnisse im strafrechtlichen Bereich, um ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten und um im zivilrechtlichen Bereich den Zugang zum Recht zu erleichtern. Diese Ziele sind nicht per se einem Ziel wie dem Wirtschaftswachstum untergeordnet.

3.2.2.2

Im Laufe der vergangenen Jahre ist die EU-Justizpolitik vor allem unter dem Einfluss der Finanz- und Staatsschuldenkrise und im Sinne der Europa-2020-Strategie auch zu einem Instrument zur Unterstützung des wirtschaftlichen Aufschwungs, des Wachstums und der Strukturreformen geworden. Der Ausschuss betont, dass Wirtschaftswachstum für sich allein jedoch nicht als Ziel der Politik im Justizbereich betrachtet werden darf. Es muss vermieden werden, dass in der künftigen EU-Justizpolitik durchgehend nur solche Initiativen prioritär behandelt werden, die allein auf die Erleichterung des Handels ausgerichtet sind bzw. unter diesem Blickwinkel ausgelegt werden können. So besteht die Gefahr, dass andere Aspekte, die in gleichem oder größerem Maße in Zusammenhang stehen mit der Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, nicht (bzw. nicht mehr) zum Zuge kommen, wie etwa der Schutz der Grundrechte.

3.2.2.3

Das Anstreben von Wirtschaftswachstum wird als wichtige Priorität anerkannt, zumindest unter der Voraussetzung, dass hierbei ein nachhaltiges Wachstum angestrebt wird. Wirtschaftswachstum kann jedoch für sich allein nicht als ein politisches Ziel der Justizpolitik betrachtet werden, die gemäß dem AEUV auf die Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit und einen raschen Zugang zum Recht ausgerichtet sein muss, was nicht dem Wirtschaftswachstum untergeordnet werden kann. Unter diesen Bedingungen kann eine gut funktionierende Justiz in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen positiven Effekt auf das nachhaltige Wirtschaftswachstum in der Union haben, nämlich indem Streitfälle auf zivilrechtlicher Ebene schneller und effektiver abgewickelt werden können und die Rechtssicherheit gestärkt wird, und indem auf strafrechtlicher Ebene Phänomene wie Geldwäschepraktiken und organisierte Kriminalität, die der regulären Wirtschaft schaden, wirksam angegangen werden können.

3.2.3   Hinsichtlich des Ziels „Förderung der Mobilität“:

3.2.3.1

Dass die Kommission die Förderung der Mobilität in der Europäischen Union im Bereich Justiz als politisches Ziel ins Visier nimmt, insbesondere die Sorge dafür, dass die EU-Bürger ihre Rechte überall ausüben können, kann mit dem im AEUV festgehaltenen Ziel in Zusammenhang gebracht werden, den Zugang zum Recht zu erleichtern.

3.2.3.2

Es ist jedoch zu betonen, dass in Titel V nicht nur die „Freiheit“ als anzustrebendes Ziel aufgeführt wird, sondern auch Sicherheit und Recht, was eine Einschränkung der Freiheit beinhalten kann. Eher als die Unterstützung von Mobilität nützt das Ziel Schutz des Zugangs zu einer effizienten Justiz dem Bürger, der sein Recht auf Freizügigkeit ausübt. Ansonsten landet man wieder in einem viel breiteren Spektrum als nur der Justiz und es kann ein besonders großes Potpourri an Fragen aufs Tapet kommen, wie etwa der Abbau von Bürokratie bei der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit, wie die Regelung von Scheidungen und der Erbfolge von Bürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, wie die Regelung der Übertragung von Rentenansprüchen für Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, die Regelung bezüglich der europäischen technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen usw.

3.3   Besondere Bemerkungen

3.3.1

In der Agenda der Kommission bleiben einige Aspekte unerwähnt, die gleichwohl zur Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen.

3.3.2

Erstens könnte erwogen werden, in den Mitgliedstaaten hohe Verwaltungsbeamte als Spezialisten für Europarecht einzusetzen, um den Bürgern bei Streitfragen rund um europäische Rechtsvorschriften mehr Rechtssicherheit zu bieten.

3.3.3

Die Kommission hebt zu Recht die Notwendigkeit der Fortbildung aller Richter und Staatsanwälte auf dem Gebiet des EU-Rechts hervor. Ferner ruft sie zu einer Neuausrichtung auf, indem sie alle Angehörigen der Rechtsberufe zur Teilnahme an den europäischen Fortbildungsprogrammen im Rahmen des Programms „Justiz“ 2014-2020 auffordert. Der EWSA sieht hierin einen entscheidenden Aspekt: Im Sinne des im Stockholmer Programm aufgestellten Ziels der Stärkung der Verteidigungsrechte hält er es für besonders wichtig, dass gerade Rechtsanwälte als erste Ansprechpartner in Rechtsfragen an solchen Programmen teilnehmen können.

3.3.4

Zweitens könnte an die Einsetzung europäischer Polizei- und Kontrolleinsatzkräfte gedacht werden, um wirksam gegen Straftaten und Betrug mit grenzüberschreitenden Aspekten vorgehen zu können.

3.3.5

Drittens muss geprüft werden, inwieweit im strafrechtlichen Bereich Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität zu schaffen sind, die eine grenzüberschreitende Dimension haben, wie etwa Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Geldfälschung, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. In Bezug auf Verhaltensweisen, aufgrund derer die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im strafrechtlichen Bereich so groß sind, dass hierdurch die Menschenrechte und die Rechtssicherheit untergraben werden, sollte untersucht werden, inwieweit eine Harmonisierung des Strafrechts angezeigt wäre (5).

3.3.6

Viertens wäre die verpflichtende Einführung von Sammelklagen denkbar, die den Zugang zum Recht für EU-Bürger verbessern sollte.

3.3.7

Fünftens wäre es wünschenswert, die erzielten Fortschritte im Justizbereich, insbesondere die Umsetzung der politischen Agenda, in einem Anzeiger festzuhalten.

3.3.8

Sechstens wäre es ratsam, in der künftigen Kommission ein Kommissionsmitglied mit der Zuständigkeit für die Menschenrechte zu betrauen.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2014) 144 final.

(2)  COM(2014) 144 final, Ziffer 1., „Einleitung“.

(3)  Artikel 67 AEUV.

(4)  Artikel 81 und 82 AEUV.

(5)  Vgl. diesbezüglich die Stellungnahme CESE 1302/2012 zur „Europäischen Drogenpolitik“.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung

COM(2014) 167 final — 2014/0091 (COD)

(2014/C 451/18)

Berichterstatter:

Krzysztof PATER

Mitberichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 14. April 2014 bzw. am 12. Juni 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (Neufassung).

COM(2014) 167 final — 2014/0091 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt den Großteil der Vorschläge in den Kommissionsdokumenten betreffend die Richtlinie über Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV), da diese im Rahmen der Altersversorgungssysteme der Mitgliedstaaten stärker und rascher weiterentwickelt werden sollte.

1.2

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die meisten Forderungen aus seiner Stellungnahme zu dem Weißbuch „Eine Agenda für angemessene, sichere und nachhaltige Pensionen und Renten“ (1) in ihrem Vorschlag (2) aufgegriffen hat.

1.3

Der EWSA räumt ein, dass ergänzende sowohl kollektive als auch individuelle Formen der Altersvorsorge ausgebaut werden müssen, insbesondere mit Blick auf die prognostizierte Verringerung der Leistungen der staatlichen Rentensysteme, und betont, dass die betriebliche Altersversorgung, die auf einer Entscheidung der Sozialpartner beruht, eine sehr wichtige Rolle spielen kann, um den Arbeitnehmern zusätzliche Rentenleistungen zu sichern.

1.4

Zugleich äußert der Ausschuss Bedenken in Bezug auf einige Bestimmungen der vorgeschlagenen Richtlinie.

1.4.1

Der EWSA ist nicht damit einverstanden, dass EbAV nur als Finanzmarktinstitutionen behandelt werden, ohne dass ihre Besonderheiten wirksam berücksichtigt und gewürdigt werden. Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung erfüllen einen wichtigen gesellschaftlichen Zweck. Sie erbringen in erheblichem Maße eine betriebliche Altersvorsorge und sind zu einer unerlässlichen Ergänzung staatlicher Rentensysteme geworden. Die vorgeschlagene Richtlinie muss der Schlüsselrolle der Sozialpartner bei der Erarbeitung und Verwaltung der entsprechenden Programme sowie der wesentlichen Bedeutung des einzelstaatlichen Sozialversicherungsrechts und Arbeitsrechts bei der Festlegung der Regeln für ihre Tätigkeit Rechnung tragen.

1.4.2

Die Umsetzung der von der Kommission vorgegebenen Ziele darf nicht nach einem Einheitskonzept erfolgen angesichts der zahlreichen, gänzlich verschieden funktionierenden Altersversorgungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten ebenso wie der einzelnen Formen der betrieblichen Altersversorgung, was einen wesentlichen Einfluss auf die Differenzierung bezüglich des Status, der Leistungen sowie der Erwartungen der Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger solcher Programme hat. Kritisch bewertet der EWSA beispielsweise die Idee der Einführung eines einheitlichen Modells für die Informationen, die an alle Versorgungsanwärter betrieblicher Altersversorgungssysteme in der gesamten Europäischen Union versandt werden sollen, da er der Auffassung ist, dass es angesichts der erheblichen Unterschiede nicht möglich ist, ein Formular zu entwerfen, das die wichtigsten und zweckdienlichsten Informationen für sämtliche Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger enthält.

1.4.2.1

Der Ausschuss betont, dass sich eine weitgehende Vereinheitlichung der betrieblichen Altersversorgungssysteme als kostspielig erweisen und letztlich nicht zu ihrer Weiterentwicklung führen kann (was der EWSA erwartet), sondern zu ihrem allmählichen Verschwinden.

1.4.3

Der Ausschuss betont, dass ein primäres Ziel der Altersversorgungssysteme, darunter auch der betrieblichen, darin besteht, den Leistungsempfängern ein angemessenes und gleichbleibendes Leistungsniveau zu gewährleisten. Die Stützung der Kapitalmärkte, darunter auch die Förderung langfristiger Investitionen, kann nur ein sekundäres Ziel sein, das nicht zu Lasten der Interessen der Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger gehen darf. Der EWSA unterstützt die Möglichkeit, dass EbAV stärker in „Instrumente mit langfristigem wirtschaftlichen Profil“ investieren, lehnt jedoch zugleich den Vorschlag der Europäischen Kommission entschieden ab, der besagt: „Die Mitgliedstaaten hindern Einrichtungen jedoch nicht daran, ... in Instrumente ..., die nicht an geregelten Märkten oder über multilaterale Handelssysteme oder organisierte Handelssysteme gehandelt werden, zu investieren.“ Die Möglichkeit einer ständigen, objektiven Bewertung der Vermögenswerte des Systems sowie der Zugang zu zuverlässigen und aktuellen Informationen über die finanzielle Situation des Emittenten der Wertpapiere, in die die Vermögenswerte des Altersversorgungssystems investiert wurden, sind grundlegende Voraussetzungen für die finanzielle Absicherung der Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger eines solchen Systems. Allerdings ist der EWSA der Ansicht, dass es den Mitgliedstaaten freigestellt sein sollte, nach Anhörung der Sozialpartner Einschränkungen auf diesem Gebiet vorzugeben.

1.4.4

Im Folgenden werden die genannten Vorbehalte des EWSA im Detail erläutert und weitere Erwägungen zum Richtlinienvorschlag formuliert.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1

Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist eine Neufassung der seit 2005 geltenden Richtlinie 2003/41/EG über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV) (3). Damit werden die unveränderten Bestimmungen kodifiziert und die bisherige Richtlinie geändert.

2.2

Die Kommission sieht das allgemeine Ziel dieses Vorschlags darin, die Bildung von Sparkapital für den Ruhestand in Form einer betrieblichen Altersversorgung einfacher zu machen. Die Kommission legt ferner vier Einzelziele fest:

Beseitigung noch verbleibender aufsichtsrechtlicher Hindernisse für grenzüberschreitend tätige EbAV,

Gewährleistung einer guten Governance und eines guten Risikomanagements,

Bereitstellung klarer und relevanter Informationen für Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger,

Ausstattung der Aufsichtsbehörden mit den notwendigen Instrumenten zur wirksamen Beaufsichtigung der EbAV.

2.3

Der Kommissionsvorschlag wurde der europäischen Öffentlichkeit am 27. März 2014 als Teil eines Maßnahmenpakets vorgestellt, bei dem es um die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft geht. In der Begründung des Vorschlags wird auch mehrfach betont, dass EbAV verstärkt die Möglichkeit haben müssen, in Vermögenswerte mit einem langfristigen wirtschaftlichen Profil zu investieren.

2.4

In der Begründung ihres Vorschlags betont die Kommission unter anderem ihre Überzeugung, dass, wenn nicht umgehend ein aktueller Rechtsrahmen auf EU-Ebene geschaffen wird, die Gefahr besteht, dass die regulatorische Fragmentierung in den einzelnen Mitgliedstaaten immer weiter zunimmt, was zu Hindernissen für die grenzüberschreitende Tätigkeit von EbAV führen wird, kein EU-weit höheres Mindestniveau an Verbraucherschutz gewährleistet wird und keine größenbedingten Einsparungen erzielt werden. Die Kommission ist zudem der Auffassung, dass ein robuster Rechtsrahmen für EbAV die Entwicklung derartiger Einrichtungen in den Ländern fördern kann, in denen sie bisher praktisch nicht existieren.

2.5

Die Kommission schätzt, dass die Umsetzung der Richtlinie die Deckung zusätzlicher Kosten in Höhe von durchschnittlich 22 Euro pro Anwärter sowie jährlicher Kosten in Höhe von 0,27- 0,80 Euro pro Anwärter erfordern wird.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Senkung der Höhe der Leistungen in den einzelnen Altersversorgungsystemen vieler Mitgliedstaaten führt dazu, dass zusätzliche Lösungen, die oft von den Mitgliedstaaten durch Steuererleichterungen gefördert werden, immer wichtiger für die Gewährleistung eines würdigen Ruhestands werden. Betriebliche Systeme sind dabei von besonderer Bedeutung, da sie Vorteile bieten, die die individuelle Altersvorsorge vermissen lässt. Sie werden gänzlich oder zum großen Teil von den Arbeitgebern finanziert, sie sind für Arbeitnehmer, auch solche mit niedrigen Einkommen, leicht zugänglich, und auf Grund der Größenvorteile sind die individuellen Kosten gering. Mitunter wird die Zusatzrente gemäß den von den Sozialpartnern vereinbarten internen Regelungen des Systems auch für Zeiträume gezahlt, in denen der Arbeitnehmer keiner Erwerbsarbeit nachgehen konnte (wie Krankheit, Mutterschaftsurlaub). In einigen Systemen bestimmen die Sozialpartner im Rahmen der Festlegung der Investitionspolitik nicht nur wirtschaftliche, sondern auch beispielsweise ethische Kriterien und machen sich auf diese Weise bei den Unternehmen für die Werte stark, die sie vertreten. In Anbetracht der Tatsache, dass die betriebliche Altersversorgung nur einem kleinen Teil der Unionsbürger eine zusätzliche Rente sichert (sie spielt gegenwärtig nur in einigen Mitgliedstaaten eine nennenswerte Rolle und ist in vielen anderen unbekannt), unterstützt der Ausschuss Initiativen zur Förderung von EbAV.

3.2

Die betriebliche Altersversorgung bringt Vorteile sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber, die diese Programme finanzieren. Von Arbeitnehmern erworbene Rentenansprüche sind im Grunde eine zusätzliche Form des Arbeitsentgelts. Für die Arbeitgeber sind solche Systeme ein Mittel zur langfristigen Bindung der Arbeitnehmer. Dies führt gewöhnlich dazu, dass sich die Arbeitnehmer stärker für das jeweilige Unternehmen engagieren und die Personalfluktuation sinkt. Der Ausschuss betont deshalb, dass bei der Einführung neuer Rechtsvorschriften sehr vorsichtig vorgegangen werden muss, damit die Attraktivität der EbAV nicht unter zusätzlichen finanziellen und administrativen Belastungen leidet.

3.3

Dem EWSA ist bewusst, dass die Europäische Kommission gegenwärtig nicht über Instrumente verfügt, die es ihr gestatten, vollständige und objektive Informationen über die Kosten der geplanten Regelungen einzuholen, und sich auf die Angaben stützen muss, die ihr interessierte EbAV zuleiten. Dennoch bedauert es der EWSA, dass die Kosten der vorgeschlagenen Regelungen gemittelt wurden und deshalb keine Informationen über die individuellen Bestandteile der Gesamtkosten vorliegen. Deshalb ist nicht bekannt, welche Kosten jeder der Vorschläge für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer mit sich bringen kann und welche Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten auftreten können.

3.4

In Anbetracht dessen, dass der Vorschlag für eine Richtlinie den EbAV neue Verpflichtungen auferlegt, die zusätzliche Kosten nach sich ziehen, schlägt der Ausschuss vor, die Möglichkeit zuzulassen, dass EbAV zu Beginn ihrer Tätigkeit (für einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten) von der Anwendung der Richtlinie ausgenommen werden. Dies würde es jenen, die das System finanzieren, gestatten, EbAV zu schaffen, ohne die relativ hohen Verwaltungskosten vom ersten Tag der Tätigkeit einer EbAV an tragen zu müssen, und in der Folge zu entscheiden, ob sie weiterhin eine eigene EbAV finanzieren wollen oder sich lieber einer bereits existierenden anschließen. Der EWSA hält dies für einen möglichen Faktor, der eine Entscheidung über die Schaffung einer EbAV durch einen Arbeitgeber begünstigt.

3.5

Der Ausschuss möchte die wichtige Rolle der Sozialpartner sowohl bei der Schaffung als auch bei der Steuerung von EbAV hervorheben. Nach Auffassung des Ausschusses muss die Autonomie der Sozialpartner bei der Gestaltung der Regelungen für die Altersversorgung gewahrt bleiben. Der Rechtsrahmen sollte nur Mindeststandards vorgeben, die die für das Versorgungssystem verantwortlichen Partner einhalten müssen. Der EWSA betont auch, dass betriebliche Altersversorgungsysteme in vielen Mitgliedstaaten eng mit dem Arbeitsrecht, dem Sozialversicherungsrecht sowie den Vorschriften über die Rolle der Sozialpartner verknüpft sind. Der EWSA sieht in dem vorgelegten Vorschlag einen Versuch der Marginalisierung der Sozialpartner, die oft über jahrelange Erfahrung im Aufbau betrieblicher Altersversorgungsysteme verfügen, auch wenn es in Artikel 21 Absatz 2 des Vorschlags heißt: „Diese Richtlinie berührt nicht die Rolle, die die Sozialpartner im Management der Einrichtung innehaben.“ EbAV dürfen nicht, wie in dem Vorschlag de facto geschehen, allein als Finanzinstitute behandelt werden. Sie sind auch Teil des Systems der sozialen Sicherheit und werden von den Sozialpartnern aktiv aufgebaut und verwaltet. Der Ausschuss bekräftigt daher den Standpunkt, den er in seiner früheren Stellungnahme zu dem Weißbuch vertrat (4).

3.6

Der EWSA betont, dass das Verhältnis zwischen den EbAV und Versorgungsanwärtern sowie Leistungsempfängern nicht dem zwischen einem Finanzinstitut und seinen Kunden (Verbrauchern) gleichgestellt werden kann.

3.7

Der Ausschuss begrüßt den Beschluss der Europäischen Kommission, für betriebliche Altersversorgungsysteme keine Regelungen einzuführen, die auf die Herstellung einheitlicher Rahmenbedingungen mit der Solvabilität-II-Richtlinie abzielen (5), wie er in seiner Stellungnahme zu dem Weißbuch empfohlen hatte (6). Der EWSA betont, dass eine Vereinheitlichung der Regelungen des Richtlinienvorschlags mit den Bestimmungen der Solvabilität-II-Richtlinie in Bezug auf quantitative Aspekte (Bewertung der Aktiva, engere Verknüpfung der Höhe des Kapitals mit dem Ausmaß des eingegangenen Risikos) negative Folgen für die betriebliche Altersversorgung haben würde, da die Eigenkapitalanforderungen und die Geschäftskosten steigen würden und die Mischung der Vermögenswerte behindert werden könnte.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Grenzüberschreitende Tätigkeit

4.1.1

Der EWSA betont, dass sich alle Aspekte der grenzüberschreitenden Tätigkeit von EbAV, wie sie in den Artikeln 12 und 13 des Richtlinienvorschlags definiert werden, aus den Bedürfnissen der Arbeitgeber, die das System gründen, sowie ihrer Arbeitnehmer hervorgehen und ihren Interessen dienen müssen. Der Beschluss über die Aufnahme einer solchen Tätigkeit muss deshalb von den Sozialpartnern gefasst werden, die das System schaffen.

4.1.2

Der Ausschuss begrüßt die Einführung der Möglichkeit einer Übertragung der Altersversorgungssysteme auf eine Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat nach vorheriger Genehmigung durch die für die übernehmende Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde sowie mit der Zustimmung der betroffenen Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger.

4.1.3

Der Ausschuss unterstützt die Stärkung der grenzüberschreitenden Tätigkeit von EbAV und betont deshalb, dass es für die dynamische Entwicklung der betrieblichen Altersversorgungsysteme sehr wichtig ist, EbAV in jenen Mitgliedstaaten zu fördern, in denen diese Form der Altersabsicherung noch nicht existiert oder erst im Entstehen begriffen ist.

4.1.4

Der EWSA begrüßt als positive Änderung, dass EbAV Investitionen in anderen Mitgliedstaaten tätigen können, wobei nur die rechtlichen Anforderungen des Staates zu erfüllen sind, in dem die EbAV ihren Sitz hat. Dies wird die Tätigkeit von EbAV auf dem europäischen Binnenmarkt erleichtern.

4.2   Governance und Risikomanagement

4.2.1

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur transparenteren Gestaltung der Vergütung von Personen in zentralen Funktionen in EbAV, sofern den unterschiedlichen Arten der Governance (Geschäftsorganisation) der betrieblichen Altersversorgung Rechnung getragen wird.

4.2.2

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Regeln für die Vergütung bzw. der Anteil, den die vermögensverwaltende Stelle erhält, bei Auslagerung der Verwaltung der Vermögenswerte offengelegt werden müssen, nicht jedoch die Vergütung ausgewählter Beschäftigter dieser Stelle. Er kritisiert die Ankündigung, dass auch bei den Beschäftigten der Stellen, die ausgelagerte Systeme betreiben, eine offene Vergütungspolitik anzuwenden ist. Dies kann ein ernsthaftes Hindernis dafür bilden, Stellen zu finden, die solche Systeme betreiben, vor allem mit Vermögenswerten kleiner Altersversorgungssysteme.

4.2.3

Der Ausschuss begrüßt weitere Vorschläge, die darauf abzielen, die Auslagerung der Verwaltung von Altersversorgungsystemen sowie die entsprechende Beaufsichtigung zu regulieren, empfiehlt jedoch, bei der Festlegung der Verpflichtungen, denen diese Stellen unterliegen, mit Umsicht vorzugehen.

4.2.4

In Bezug auf den Vorschlag zur Festlegung von Anforderungen an die fachliche Qualifikation und die persönliche Zuverlässigkeit von Personen, die die Einrichtung tatsächlich leiten oder andere zentrale Funktionen innehaben, ist der EWSA der Auffassung, dass die Vorschriften den Besonderheiten von EbAV und der Rolle Rechnung tragen müssen, die die Sozialpartner seit vielen Jahren bei der Verwaltung von EbAV spielen (z. B. in Form des Rechts, ihre Vertreter als Mitglieder der Management- oder Aufsichtsorgane der EbAV zu benennen). EbAV sind nämlich keine typischen Finanzinstitute, die zur Erzielung von Profit geschaffen wurden, sondern Einrichtungen, die von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern kontrolliert werden. Sie sind natürlich daran interessiert, die organisatorischen Kosten möglichst gering zu halten. Dies ist bei der Festlegung der fachlichen Qualifikationen der für die Verwaltung der EbAV zuständigen Personen zu berücksichtigen, denn die Rolle der Sozialpartner beim Management der Systeme darf im Vergleich zum gegenwärtigen Stand durch keine Rechtsvorschriften eingeschränkt werden.

4.2.5

Der Ausschuss schlägt vor, dass die Bewertung der fachlichen Qualifikation der Verwalter im Hinblick auf das gesamte Management- bzw. Aufsichtsorgan erfolgt und nicht nur in Bezug auf einzelne Personen. Dazu könnten in Artikel 23 getrennte Anforderungen für Personen festgelegt werden, die die Einrichtung leiten oder andere zentrale Funktionen innehaben. Eine solche Lösung würde es ermöglichen, dass die Sozialpartner weiter in den Leitungsorganen von EbAV vertreten sind und zugleich höhere Anforderungen an diejenigen festgelegt werden, die direkt an der satzungsgemäßen Tätigkeit der EbAV beteiligt sind.

4.2.6

Der Ausschuss betont, dass der strukturellen Besonderheit der betrieblichen Altersversorgung in den Anforderungen an die Governance von EbAV Rechnung getragen werden muss. Hierbei stehen drei Akteure in Wechselbeziehung miteinander: Arbeitgeber/Geldgeber, Arbeitnehmer/Versorgungsanwärter und EbAV. Dies gewährleistet einerseits mehr Sicherheit für das System dank der gegenseitigen Kontrolle der einzelnen Beteiligten, andererseits jedoch macht es das System komplexer, was das Zusammenspiel der Rechtsvorschriften über Finanzinstitutionen mit dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht sowie den Regeln für die Zusammenarbeit der Sozialpartner in den einzelnen Mitgliedstaaten betrifft.

4.2.7

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission mögliche Probleme wahrnimmt, die die Einführung strengerer Anforderungen an die Governance von EbAV verursachen kann, und spricht sich auch für Vorschriften aus, nach denen die Kontrollsysteme der Art, dem Umfang und der Komplexität der Tätigkeiten der EbAV angemessen sein müssen (Artikel 22, 24, 25, 26 und 29).

4.2.8

Nach Auffassung des EWSA muss es nach wie vor vorrangiges Anliegen der EbAV sein, die Sicherheit der im Rahmen des Altersversorgungssystems angesparten Mittel sowie die Angemessenheit der Rentenleistungen zu gewährleisten, der eine ausgewogene Investitionspolitik förderlich ist. Die Förderung langfristiger Investitionen darf nicht das Hauptziel der EbAV überlagern, nämlich den Anwärtern eine finanzielle Absicherung für das Alter zu gewährleisten. Eine sichere Investition der Vermögenswerte ist nur dann möglich, wenn diese häufig und objektiv bewertet werden können und wenn aktuelle, detaillierte Informationen zur finanziellen Situation des Emittenten der Wertpapiere verfügbar sind, in die die EbAV investiert haben.

4.2.8.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, dass Vermögenswerte von Altersversorgungsystemen in Instrumente mit einem langfristigen wirtschaftlichen Profil investiert werden können, ohne dass die Mitgliedstaaten die EbAV daran hindern können.

4.2.8.2

Der EWSA lehnt entschieden den Vorschlag der Europäischen Kommission ab, der besagt: „Die Mitgliedstaaten hindern Einrichtungen jedoch nicht daran, ... in Instrumente ..., die nicht an geregelten Märkten oder über multilaterale Handelssysteme oder organisierte Handelssysteme gehandelt werden, zu investieren.“ Der EWSA stellt fest, dass im Fall beitragsorientierter Systeme, wenn eine fortlaufende Beurteilung der Vermögensrechte nicht möglich ist, solche Investitionen ein erhebliches Risiko für die Versorgungsanwärter bergen würden. Ein auf eine derartige Investitionspolitik gestütztes Projekt wäre intransparent, weil es nicht möglich ist, den Versorgungsanwärtern detaillierte Informationen über den Wert der angesparten Mittel sowie den erwarteten Ertrag bei Erreichung des Renteneintrittsalters vorzulegen — und dies ist besonders wichtig für die Berechtigten, die das volle Investitionsrisiko tragen. Allerdings ist der EWSA der Ansicht, dass es den Mitgliedstaaten freigestellt sein sollte, nach Anhörung der Sozialpartner Einschränkungen auf diesem Gebiet vorzugeben.

4.2.8.3

Der EWSA ist dafür, dass es EbAV möglich sein sollte, in langfristige Infrastrukturprojekte zu investieren. Er ist jedoch der Auffassung, dass Investitionen in solche Projekte ohne quantitative Begrenzung nur möglich sein sollten, wenn die Finanzinstrumente, die Gegenstand von Investitionen sind (z. B. Aktien, Obligationen), öffentlich gehandelt werden oder über Vermittlung allgemein auf dem Markt zugänglicher Finanzinstrumente (z. B. verschiedene Arten von Investitionsfonds, Aktien von Unternehmen, die direkt in langfristige Projekte investieren und öffentlich gehandelt werden) erhältlich sind.

4.2.9

Der EWSA schlägt der Kommission vor, eine Änderung von Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe d des Richtlinienvorschlags zu erwägen, in dem es um die Regeln für Investitionen in Derivate geht. Nach Auffassung des Ausschusses rechtfertigen die bisherigen Erfahrungen aus der Krise eine wesentliche Einschränkung der aktuellen, sehr allgemeinen Regel, nach der EbAV in Derivate investieren dürfen, sofern sie „zur Erleichterung einer effizienten Portfolioverwaltung beitragen“.

4.2.10

Der Ausschuss unterstützt uneingeschränkt die Einführung von Verwahrstellen in den Systemen, in denen das Anlagerisiko bei den Versorgungsanwärtern und Leistungsempfängern liegt, und hält solche Verwahrstellen für grundlegende Instrumente zur Sicherung der Vermögenswerte der Institute für gemeinsame Anlagen unter den heutigen weltweiten Bedingungen.

4.2.11

Der EWSA bewertet die Anforderung als positiv, dass in den Systemen, in denen die Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger nicht sämtliche Risiken tragen, eine effiziente versicherungsmathematische Funktion vorgesehen ist.

4.3   Information von Versorgungsanwärtern und Leistungsempfängern

4.3.1

Der EWSA begrüßt im Einklang mit seinen früheren Empfehlungen die Erweiterung des Umfangs der Informationen, die für Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger zugänglich sind. Positiv ist auch zu bewerten, dass die EbAV nunmehr verpflichtet sind, mindestens alle zwölf Monate wesentliche Informationen vorzulegen, u. a. betreffend die Garantien im Rahmen des Altersversorgungssystems, den Gesamtbetrag der Beiträge, die Kosten der Anwartschaft, das Anlageprofil, die frühere Performance des Altersversorgungssystems sowie die voraussichtliche Höhe der Rentenanwartschaft.

4.3.2

Der Ausschuss hat erhebliche Zweifel, ob das in dem Vorschlag vorgestellte Konzept der einheitlichen Informationen, die zwei A4-Seiten umfassen und in für den Empfänger gut lesbarer Form abgefasst sein sollen, realistisch ist. In den diversen betrieblichen Altersversorgungsystemen tragen die Versorgungsanwärter unterschiedliche Arten von Risiken und haben auch unterschiedliche Erwartungen an die künftigen Leistungen, und oft werden die Regeln für die Auszahlung der im Rahmen des Altersversorgungssystems angesparten Mittel von den Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten bestimmt. Diese Faktoren müssen in den Informationen, die die Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger solcher Systeme erhalten, berücksichtigt werden. Der EWSA fordert deshalb, dass die vorgeschlagenen Vorschriften geändert werden, so dass sich die Vereinheitlichung des Modells der Informationen für die Versorgungsanwärter auf mehrere Phasen erstreckt und die endgültige Konzeption im weiteren Verlauf flexibel festgelegt werden kann. In der ersten Phase sollten Modelle für einige Arten von Informationen erarbeitet werden (mindestens zwei Modelle auf der Grundlage festgelegter Beiträge und festgelegter Leistungen), die dann in ausgewählten Mitgliedstaaten und in ausgewählten EbAV versuchsweise eingesetzt werden. Erst nach Auswertung der diesbezüglichen Erfahrungen könnte die Arbeit an dem delegierten Rechtsakt gemäß Artikel 54 aufgenommen werden.

4.3.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es letztlich mindestens zwei Modelle für die Bereitstellung von Informationen geben muss, und zwar getrennt auf der Grundlage festgelegter Beiträge und festgelegter Leistungen. Darüber hinaus muss jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit haben, dieses Modell um Informationen zu ergänzen, die für die Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger wesentlich sind und sich aus den Besonderheiten des einzelstaatlichen Rechts ergeben.

4.3.4

Der EWSA hält die geplanten Vorschriften in vielen Punkten für recht unpräzise und meint, dass sie den Versorgungsanwärtern und Leistungsempfängern möglicherweise ein falsches Bild vermitteln, anstatt sie mit soliden Informationen auszustatten.

4.3.4.1

Bereits die Bezeichnung dieses Papiers (Rentenanwartschaftsbescheid) ist irreführend — die Informationen sind bestenfalls eine Zusammenstellung der projizierten Rentenanwartschaft. Die Bezeichnung sollte deshalb geändert werden, beispielsweise in „Gegenwärtiger Stand der projizierten Rentenanwartschaft“.

4.3.4.2

Gemäß Artikel 48 Absatz 1 Buchstabe a können die Versorgungsanwärter Informationen zu den „vollen Garantien“ erhalten. Der Antragsteller denkt bei dem Begriff „volle Garantie“ möglicherweise nicht an das ungünstige Szenario, nämlich eine Insolvenz des Arbeitgebers, der das Programm finanziert. Eine Insolvenz kann dazu führen, dass das Rentenversorgungsystem gegenüber seinen Leistungsempfängern zahlungsunfähig ist. Andererseits verweist die Kommission in Artikel 48 Absatz 2 Buchstabe d auf „die Versorgungsansprüche mindernde Mechanismen“, was dem Bestehen einer vollen Garantie widerspricht.

4.3.5

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Kommission bei der Formulierung des delegierten Rechtsakts gemäß Artikel 54 mit besonderer Umsicht vorgehen und auch mögliche Kosten eines solchen Schrittes berücksichtigen sollte. Der Aufwand für die Zusammenstellung der Informationen für die Versorgungsanwärter sowie die zusätzlichen Kosten für Dienstleistungen, die sich aus der Notwendigkeit der Bereitstellung zusätzlicher Erläuterungen ergeben, wenn das vereinheitlichte gesamteuropäische Muster nicht den Gegebenheiten eines konkreten Altersversorgungssystems entspricht, dürfen die Kosten der EbAV nicht erheblich nach oben treiben. Auch deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, die Art dieser Systeme bei der Erstellung der Liste der Informationen, die den Versorgungsanwärtern übermittelt werden, zu berücksichtigen.

4.4   Beaufsichtigung der Tätigkeit von EbAV

4.4.1

Mit Blick auf die gegenwärtigen Auslegungsschwierigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen Aufsichtsverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben, begrüßt der Ausschuss, dass versucht wird, den Umfang der finanziellen Tätigkeit zu präzisieren, die einer solchen Aufsicht unterliegt, und diese von sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Fragen abzugrenzen.

4.4.2

Der EWSA begrüßt ebenfalls die Ankündigung, die Vorschriften über den Austausch von Informationen zwischen den zuständigen Stellen, die betriebliche Altersversorgungssysteme beaufsichtigen, zu stärken.

4.4.3

Der EWSA hält die Vorschläge für eine Vergrößerung der Aufsichtsbefugnisse gegenüber EbAV für sinnvoll, die auch mit einer gewissen Zunahme der Informationspflichten einhergehen können. Die Vorschriften der vorgeschlagenen Richtlinie bieten diesbezüglich entsprechende Spielräume und gestatten die Anpassung der konkreten Aufsichtsmaßnahmen an die jeweilige Situation.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2012) 55 final.

(2)  Zu der Stellungnahme siehe ABl. Nr. C 299/21 vom 4.10.2012, S. 115-122. Der EWSA wies u. a. darauf hin, dass „dabei nicht nur Aspekte im Zusammenhang mit den grenzüberschreitenden Aktivitäten von Pensionsfonds und der Arbeitnehmermobilität eine Rolle spielen sollten, sondern auch Fragen bezüglich der Aufsicht und der Überwachung von Rentenkassen, der Verwaltungskosten, der Verbraucherinformation und des Verbraucherschutzes berücksichtigt werden sollten“.

(3)  Siehe ABl. Nr. L 235 vom 23.9.2003.

(4)  Darin befürwortete der EWSA „betriebliche Altersversorgungssysteme, die von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern eingerichtet und verwaltet werden“, und forderte die Kommission auf, „die Sozialpartner beim Ausbau ihrer Verwaltungskapazitäten in diesem Bereich zu unterstützen“.

(5)  Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335 vom 17.12.2009.

(6)  In seiner Stellungnahme zum Weißbuch äußerte der Ausschuss „deshalb ernste Bedenken gegen einige Vorschläge für die betriebliche Altersversorgung. Da sich die Renten- und Pensionssysteme von Lebensversicherungssystemen stark unterscheiden, unterstützt der Ausschuss nicht das Ziel, die IORP-Richtlinie zu überarbeiten, um ‚einheitliche Rahmenbedingungen mit Solvabilität II‘ herzustellen, sondern empfiehlt, nach vorheriger Anhörung der Sozialpartner und anderer Interessenträger speziell konzipierte Maßnahmen zur Sicherung der Pensions- und Rentenfonds einzuführen.“


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Qualitätsrahmen der EU für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierungen

COM(2013) 882 final

(2014/C 451/19)

Berichterstatter:

Joost VAN IERSEL

Ko-Berichterstatter:

Thomas STUDENT

Die Europäische Kommission beschloss am 2. Januar 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Qualitätsrahmen der EU für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierungen.

COM(2013) 882 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 11. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 77 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Umstrukturierung ist ein fortlaufender Prozess, dessen vielfältige treibende Kräfte tagtäglich auf die Unternehmen einwirken. Die globale Wirtschaft ist wieder einmal einer immer rascher aufeinander folgenden Reihe tiefgreifender technologischer Veränderungen und Schocks ausgesetzt.

1.2

Nach Ansicht des EWSA stehen bei Prozessen der Umstrukturierung, Anpassung oder Antizipation die Unternehmen im Zentrum des Geschehens. Daher müssen die Beschäftigten und ihre Vertreter über Betriebsräte bzw. Gewerkschaften einbezogen werden. Diese Einbeziehung ist ein Aspekt der sozialen Verantwortung der Unternehmen, die der EWSA entschieden befürwortet. Oft werden bei der Umstrukturierung, vor allem bei größeren Projekten, breitere Kreise von Beteiligten eingebunden, darunter öffentliche Stellen und Bildungseinrichtungen.

1.3

Die Konsultation mit Arbeitnehmervertretern auf nationaler und europäischer Unternehmensebene muss vereinbarungsgemäß durchgeführt werden und angesichts der rasch wechselnden Gegebenheiten auf greifbare Ergebnisse ausgerichtet sein. Umstrukturierung und Antizipation könnten — wenn sich die branchenspezifischen Ausschüsse für den sozialen Dialog damit befassen — dazu beitragen, auf der Grundlage globaler Fakten, Zahlen und Entwicklungen pragmatische Lösungsansätze zu fördern.

1.4

Voraussetzung für ein Handeln auf EU-Ebene sind fundierte Kenntnisse der vielgestaltigen Gegebenheiten und Ansätze. Ein EU-Qualitätsrahmen für die Antizipation von Veränderungen und Umstrukturierung, wie ihn die Kommission vorschlägt, kann durchaus hilfreich sein (1).

1.5

Umstrukturierung und Antizipation erfordern maßgeschneiderte Lösungen für die einzelnen Unternehmen und Regionen. Da es jedoch viele Querschnittsaspekte gibt, sind Anreize der EU für breiter angelegte Partnerschaften mit Hochschulen, Forschungseinrichtungen, lokalen, regionalen und nationalen Behörden sowie Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung auf regionaler Basis begrüßenswert, ebenso wie die Verbreitung bewährter Verfahren. In dieser Hinsicht können auch Branchenbeiräte für Beschäftigung und Qualifikationen sehr sinnvoll sein.

1.6

Angesichts globaler Technologie- und Wertschöpfungsketten ist die Antizipation von Veränderungen ein sehr komplizierter Prozess. Die derzeit stattfindende intelligente und maßgeschneiderte Spezialisierung verdeutlicht, dass Lösungsansätze jeweils auf das einzelne Unternehmen zugeschnitten werden müssen.

1.7

Ganz allgemein sollten zukünftige Themen und Trends wie die ökologische Ausrichtung und (EU-)Schlüsseltechnologien im Vordergrund stehen. Diese Themen und Entwicklungen sollten auch unter den Sozialpartnern erörtert und in nationalen und regionalen Aus- und Weiterbildungsprogrammen berücksichtigt werden.

1.8

Der Staat, die Sozialpartner und die Unternehmen müssen mit Hilfe sozialer Maßnahmen, wie sie in mehreren Mitgliedstaaten bereits eingeführt wurden, gemeinsam Verantwortung für schutzbedürftige Gruppen — nicht zuletzt für die ältere Generation und gering qualifizierte Personen — übernehmen.

Aus allgemeinen Analysen und gemeinsamen Schlussfolgerungen ergeben sich die spezifischen Zuständigkeiten jedes Beteiligten. Während dieses Verfahren in mehreren Ländern bereits allgemein angewandt wird, ist es in anderen Mitgliedstaaten bisher weniger weit entwickelt.

1.9

Die Europäische Kommission kann die Entstehung einer gemeinsamen Gesinnung in der gesamten Union unterstützen, indem sie Partnerschaften zwischen den verschiedenen Interessenträgern fördert. Durch zweckmäßigen Einsatz von EU-Fondsmitteln kann sie in besonderen Fällen zur Schaffung der notwendigen Voraussetzungen beitragen. Die Kommission sollte im Rahmen der EU-Agenda für Umstrukturierung und Antizipation großen Wert auf Vereinbarungen für den sozialen Dialog auf nationaler und branchenspezifischer Ebene legen.

1.10

Der EWSA befürwortet die von der Kommission vorgeschlagene Einführung eines EU-Qualitätsrahmens auf freiwilliger Basis. Er merkt jedoch an, dass in Zukunft eine Rechtsgrundlage für spezifische Rahmenbedingungen für die Mitwirkung der Arbeitnehmer ohne Einmischung in nationale Zuständigkeiten wünschenswert sein könnte.

1.11

Die betroffenen Kreise und die Kommission sollten weiterhin in der Lage sein, umfassenden Nutzen aus den jeweiligen Agenturen der EU wie Eurofound und CEDEFOP zu ziehen, indem sie auf deren verlässliche und aktuelle Analysen und Daten zurückgreifen. In bestimmten Fällen kann, wenn es zweckmäßig ist, auch der EWSA an diesen Prozessen beteiligt werden.

2.   Umstrukturierung und Antizipation: Kontext und Maßnahmen

2.1

Der EWSA verabschiedete im Juli 2012 eine Stellungnahme als Beitrag zu der öffentlichen Konsultation der Kommission zu Umstrukturierung und Antizipation von Veränderungen (2). Viele der darin enthaltenen Beobachtungen und Empfehlungen beziehen sich gleichermaßen auf die kürzlich ergangene Mitteilung der Kommission „Qualitätsrahmen der EU für die Umstrukturierung und Antizipation von Veränderungen“ (3).

2.2

Umstrukturierung ist ein fortlaufender Prozess und hängt von einer Vielzahl treibender Kräfte ab, die tagtäglich auf die Unternehmen einwirken. Die Dynamik der „schöpferischen Zerstörung“ bringt unerwartete Chancen hervor. Gleichzeitig steht aber fest, dass die Krise und die geringen Wachstumsraten sowie die zunehmende Abhängigkeit nationaler Wirtschaftsleistungen von den globalen Märkten und die immer komplizierteren Beziehungen zwischen den Unternehmen und ihren Zulieferern viele Unternehmen — und deren Beschäftigte — unter massiven Druck gesetzt haben. In jedem Fall muss eine kritische Masse an Industrie erhalten werden.

2.3

Die europäische Wirtschaft passt sich entsprechend den globalen Entwicklungen an neue Technologie- und Innovationsschübe an. Diese wirken sich tiefgreifend auf die Art und Weise aus, wie wirtschaftliche und soziale Akteure sich organisieren, um ihre Widerstandskraft zu stärken und Kontinuität zu gewährleisten.

2.4

Die Internationalisierung, die Fragmentierung der Produktionskette, die Verwischung der Grenzen zwischen Wirtschaftszweigen, die zunehmende Bedeutung von (Querschnitts-) Technologien, die Automatisierung, Robotisierung und Digitalisierung, die Erzeugung maßgeschneiderter Ansätze und Lösungen und insbesondere die allgemeine Einsicht, dass ein großer Teil der heute bekannten Waren und Dienstleistungen in absehbarer Zukunft durch neue Waren und Dienstleistungen abgelöst werden wird — all dies illustriert die gegenwärtige Situation eines fortgesetzten industriellen Wandels (4).

2.5

Erneuerung und Anpassung stellen bestehende Ansichten und Verfahren Tag für Tag auf die Probe. Nicht nur Aufgeschlossenheit für Technologie, sondern vor allem menschliche Kreativität werden ständig von allen Beteiligten gefordert, gleich an welcher Stelle sie tätig sind.

2.6

Der EWSA hat die gegenwärtigen Tendenzen in einer Reihe von Stellungnahmen zu bestimmten Wirtschaftszweigen und Prozessen analysiert. Im vergangenen Jahr erarbeitete er als Antwort auf die Mitteilung der Kommission zur Industriepolitik (5) einen Überblick über wünschenswerte politische Maßnahmen und Schwerpunkte. Diesem Überblick zufolge erfordert eine Reihe eng miteinander verzahnter Bereiche — allen voran das Ziel einer Wiederbelebung der Industrie — einen erheblichen Ausbau von Technologie und Innovation sowie von Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Art und gleichzeitig die Sensibilisierung der Industrie für das Potenzial neuer Dienstleistungen.

2.7

In seiner Stellungnahme aus dem Jahr 2012 macht der EWSA deutlich, dass widerstandsfähige Wirtschaftszweige sowohl auf eine geeignete Führung als auch auf die breite Unterstützung der Beschäftigten auf allen Ebenen der Unternehmensstruktur sowie in der Gesellschaft als Ganzes angewiesen sind. In vielen Unternehmen sind die Beschäftigten erfolgreich in die Veränderungsprozesse eingebunden. Konsensbasierte Ansätze machen sich in der Regel bezahlt.

2.8

Umstrukturierungsprozesse sind vielfältig und kompliziert. Wie in der Stellungnahme dargelegt, bestehen — abgesehen von der Unterscheidung zwischen Umstrukturierung und Antizipation — wesentliche Unterschiede zwischen kleinen, mittleren und großen Unternehmen, zwischen Wirtschaftszweigen (die auf unterschiedliche Weise von neuen Wellen des technologischen Wandels betroffen sind), zwischen dichter und dünner besiedelten Regionen, zwischen dem Reifegrad der Wirtschaftssysteme in den einzelnen Ländern sowie kulturelle Unterschiede.

2.9

Die Situation wird noch komplexer aufgrund tiefgreifender Veränderungen auf den Arbeitsmärkten, die zum Teil auf die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise und zum Teil auf den neuen industriellen Zyklus zurückzuführen sind. Vorhandene Systeme kollektiver und sozialer Partnerschaft müssen erhalten und wenn möglich gestärkt werden.

2.10

Angesichts dieser Umwälzungen und dem breit gefächerten Spektrum in Europa verweist der EWSA auf seine grundlegende Überzeugung, dass „das Unternehmen definitionsgemäß Hauptgestalter der Strategien zur Anpassung seiner auf den Märkten tätigen Geschäftsbereiche ist und somit auch bei den entsprechenden Umstrukturierungsprozessen eine zentrale Rolle spielt“ (6).

2.11

Selbstverständlich sind die Unternehmen bei der Umstrukturierung, Anpassung oder Antizipation der Zukunft auf ein bestimmtes Umfeld angewiesen. Dies bedeutet, dass zusätzlich zu den internen Prozeduren und Verfahren weitere Beteiligte ins Spiel kommen. Die Art der Maßnahmen hängt von der Art der anstehenden Veränderungen ab; möglich sind eine Anpassung der internen Organisation, eine Reaktion auf sich wandelnde Gegebenheiten des Marktes oder beides.

2.12

Die primäre Gruppe der Betroffenen ist die Belegschaft des Unternehmens selbst. Bei gut organisierten Prozessen ist die Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer Vertreter durch Betriebsräte bzw. Gewerkschaften gewährleistet. Es stimmt optimistisch, dass die Antworten auf die Fragebogenaktion im Rahmen der Konsultation der Kommission (7) hierzu überwältigend einheitlich ausfallen. Der EWSA spricht sich für einen vertrauensvollen Dialog — der in mehreren Ländern gesetzlich geregelt ist — zwischen der Unternehmensleitung und der Personalvertretung aus, der den Umgang mit der Veränderung und deren gelungene Antizipation begleitet (8).

2.13

Da Unternehmen auf eine große Bandbreite von Qualifikationen ihrer Belegschaft angewiesen sind, müssen die spezifischen Qualifikationen, die innerhalb der immer ausgefeilteren Wertschöpfungsketten gefordert sind, durch Programme lebenslangen Lernens für alle gewährleistet werden. Dies liegt sowohl im Interesse der Unternehmen als auch ihrer Beschäftigten.

2.14

Der EWSA konstatiert einen breiten Konsens bezüglich seiner Auffassung, dass Aus- und Weiterbildung in Unternehmen zur alltäglichen Praxis gehören sollten, wenngleich kleine bis sehr kleine Unternehmen mit geringer Spezialisierung einerseits und größere Unternehmen andererseits unterschiedliche Ansätze verfolgen.

2.15

Außerdem wurde auch die sich rasch wandelnde Situation auf den Arbeitsmärkten berücksichtigt. Immer mehr überwiegend junge Menschen bereiten sich auf eine breit angelegte berufliche Entwicklung in technischen oder anderen Berufen vor, so dass sie flexibel genug werden, um sich aus eigenem Antrieb beruflich zu verändern, sei es innerhalb eines (großen) Unternehmens oder in verschiedenen Unternehmen und Wirtschaftszweigen. Die beiden grundlegenden Faktoren hierfür sind Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt einerseits und die Qualifikationen der Arbeitnehmer andererseits. Während gut ausgebildete und qualifizierte Beschäftigte Umstrukturierungen als Chance nutzen können, sind geringer qualifizierte und ältere Arbeitnehmer auf besondere Unterstützung von Seiten des Staates und der Unternehmen angewiesen.

2.16

Während der Krise und bei Umstrukturierungen in großem Maßstab, wie z. B. bei nicht mehr adäquaten Produktionskapazitäten in bestimmten Regionen, müssen alle Betroffenen ihre jeweilige Verantwortung auf sich nehmen und sich zunächst auf eine praktikable Wirtschaftsplanung für die Zukunft konzentrieren, gleichzeitig aber die Bedingungen für die Arbeitskräfte in einem neuen Umfeld so weit wie möglich verbessern.

2.17

Abgesehen von Unternehmen und Gewerkschaften sind die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften an vorderster Stelle gefragt, soziale Folgen aufzufangen. Bei großen Umstrukturierungsmaßnahmen sollten auch die nationalen Regierungen in die Pflicht genommen werden. Wie die praktische Erfahrung zeigt, stehen jedoch in den meisten Fällen der regionale Kontext und die Gemeinschaft im Vordergrund; auch dies hat der EWSA in seiner Antwort auf das Grünbuch dargelegt. Zahlreiche Regionen können als gelungene Beispiele für tiefgreifende Umgestaltungen gelten, während andere, die unumgängliche Umstrukturierungsmaßnahmen auf die lange Bank schieben, schweren Schaden erleiden, so wie es bei Unternehmen der Fall ist. Erfolgreiche Beispiele auf nationaler und europäischer Ebene sollten hervorgehoben werden.

2.18

In seiner Stellungnahme aus dem Jahr 2012 nennt der EWSA mehrere Mittel und Wege der Vorbereitung auf Antizipation, wobei er einräumt, dass zukünftige Entwicklungen bisher schwer vorherzusagen sind. Exponentielle Prognosen haben sich in der Regel als falsch erwiesen. Dennoch können gemeinsame Anstrengungen von Wissenschaftlern und Organisationen des betreffenden Wirtschaftszweigs einen sehr wichtigen Beitrag leisten. In der verarbeitenden Industrie setzt sich dieses Verfahren zunehmend durch, doch bei den Dienstleistungen erweist es sich bisher als schwierigeres und (noch) unausgereiftes Unterfangen. Unternehmensverbände und andere öffentliche und private Beteiligte müssen selbst die Initiative ergreifen, KMU über abzusehende Entwicklungen zu informieren.

2.19

Der Widerspruch besteht darin, dass die Dynamik des Marktes nach Antizipation verlangt, diese Antizipation aber durch die weitgehende Unvorhersagbarkeit der Zukunft erschwert wird. Aus Sicht des EWSA ist es deshalb erforderlich, optimale Bedingungen zu schaffen, die die gesellschaftliche Akzeptanz von Anpassungen an wahrscheinliche Veränderungen fördern. Die Hauptverantwortung für die Gestaltung der Zukunft fällt den unmittelbar Betroffenen zu, nämlich der Geschäftsführung und der Belegschaft (vertreten durch Betriebsräte bzw. Gewerkschaften). In weiterem Sinn sind auch Sozialpartner verschiedener Ebenen, Regierungen und unterstützende Einrichtungen wie Hochschulen, Beratungsfirmen, staatliche und EU-Agenturen, NGO sowie der EWSA — unter anderem über seine Beratende Kommission für den Industriellen Wandel — gefragt.

2.20

Bezüglich des Einstiegs oder Wiedereinstiegs in den Arbeitsmarkt brauchen vor allem zwei Gruppen besondere Aufmerksamkeit: zum einen junge Menschen und zum anderen Ältere, die sich mit der Anpassung sehr schwer tun. Für die tief verwurzelten Probleme der Anpassung von Angebot und Nachfrage sind keine schnellen Lösungen verfügbar. Die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaftssysteme steht in engem Zusammenhang mit deren Struktur, Leistung und Vielschichtigkeit sowie den kulturellen Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern und Regionen. Nach übereinstimmender, auch vom EWSA wiederholt vertretener Auffassung bildet ein zeitgemäßes Bildungssystem die Grundlage für jede zukunftstaugliche Lösung. Dieses sollte das Fundament für Qualifikationen bilden, die so flexibel angelegt sind, dass sie die jungen Menschen auf mehr als einen Beruf vorbereiten. In den letzten Jahren tritt die Entwicklung von Unternehmergeist in den Lehrplänen stärker in den Vordergrund. Auch die Wirtschaft muss bei der Anpassung von Bildung eine Rolle spielen und in das lebenslange Lernen investieren. In einigen Ländern nehmen Geschäftsleute aktiv an Bildungsprogrammen teil.

2.21

Wie der EWSA bereits ausführlich dargelegt hat, kann die EU einschließlich des EWSA zweifellos zu diesen Prozessen beitragen. Er verweist auf:

die Unterstützung europäischer Agenturen wie u. a. CEDEFOP oder Eurofound bei der Verbreitung von Daten und Analysen,

die Unterstützung der Kommission, insbesondere der GD Beschäftigung, bei der Debatte über bewährte Verfahren in ganz Europa durch Veröffentlichungen und Konferenzen zum Thema, insbesondere im Rahmen des sozialen Dialogs, und bei der Verbreitung eigener Analysen und Vorschläge für Verfahren nach Plänen europäischer Wissenschaftler und Sachverständiger,

zielgerichtete Projekte aus europäischen Fonds wie dem Kohäsionsfonds, dem Regionalentwicklungsfonds und dem ESF.

2.22

Bei der Umstrukturierung und Antizipation bildet der europäische Kontext darüber hinaus eine ausgesprochen wünschenswerte Grundlage für die Entwicklung einer gemeinsamen Idee und einer gemeinsamen Verantwortung in ganz Europa zur Förderung der Konvergenz erfolgreicher Ansätze, die sich bisher von Land zu Land stark unterscheiden und auch unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Gemeinsame bzw. geteilte Erfahrungen können sich positiv auf Unternehmen, Beschäftigte und Regionen auswirken.

2.23

Ein besonderes Beispiel ist auch die Mobilität von Arbeitnehmern in Europa, die einerseits Besorgnis erregt, andererseits oft dazu beiträgt, freie Stellen in der Industrie zu besetzen und einen Mangel an unqualifizierten und qualifizierten Arbeitskräften auszugleichen (9). Langfristige negative Auswirkungen der Migration für Staaten, Regionen und Arbeitnehmer müssen berücksichtigt werden. Die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte kann die künftige Entwicklung beeinträchtigen. Die zunehmende Mobilität von Arbeitnehmern erfordert eine kohärente europäische Regional- und Sozialpolitik, um unerwünschte Risiken zu verringern.

2.24

Die Branchenbeiräte der EU für Beschäftigung und Qualifikationen, das europäische Forum „Umstrukturierung“ und die Beobachtungsstellen sowie die Studien von Eurofound können für die Förderung des Austauschs bewährter Verfahren sehr hilfreich sein.

3.   Vorschlag für einen EU-Qualitätsrahmen

3.1

Nach Ansicht des EWSA müssen die Vorschläge in der Mitteilung der Kommission (10) von einer Bestandsaufnahme der großen Bandbreite bestehender Umstände und Ansätze sowie der oben erläuterten Voraussetzungen ausgehen. Die Mitteilung ist ein nützlicher Leitfaden für die Beteiligten aller Verantwortungsebenen und sollte von Fall zu Fall zur Hand genommen werden. Es erscheint sehr sinnvoll, dieses Schema auf EU-Ebene zu diskutieren, um zu einem Austausch von Standpunkten in der gesamten Union zu gelangen.

3.2

Der EWSA befürwortet Vorschläge, bei denen die ständige Beobachtung der (oft kaum auffälligen) Veränderungen und Verschiebungen bei Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und die gewünschten Ergebnisse im Vordergrund stehen. Dies ist bereits gängige Praxis in vielen Unternehmen und steht ständig im Blickpunkt von Geschäftsleitungen und Belegschaften. In international tätigen Unternehmen oder Gesellschaften muss sie von der Geschäftsleitung und europäischen Betriebsräten gemeinsam erörtert werden (11). Die derzeitige Praxis ist indes noch nicht zufriedenstellend. Es muss gewährleistet werden, dass Arbeitnehmervertreter im Rahmen internationaler Umstrukturierungen frühzeitig konsultiert werden. Es muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass KMU informiert und konsultiert werden.

3.3

Angesichts der strategischen Bedeutung der derzeitigen Dynamik und der anstehenden Veränderungen in den Fertigungssystemen wie Robotik, Digitalisierung, Nanotechnologie und 3D-Druck müssen die derzeit gängigen Verfahren weiter verfeinert und vertieft werden; dies liegt im Interesse sowohl der Unternehmen als auch der Beschäftigten. Entsprechendes gilt für konkrete Vorschläge in Bezug auf Maßnahmen, die sich an einzelne Beschäftigte richten.

3.4

Die meisten Unternehmen verfügen über maßgeschneiderte Konzepte, doch gibt es zahlreiche branchenübergreifende Aspekte, die für die derzeitige industrielle Revolution bezeichnend sind. Sehr begrüßenswert sind daher breiter angelegte Partnerschaften im oben genannten Sinn mit Wissenschaftlern, Forschungseinrichtungen, politischen Organen und regional verankerten Bildungs- und Fortbildungsinstitutionen. Trotz bewährter Verfahren der Unternehmensverbände und KMU-Netze bei der Umstrukturierung sind KMU im Allgemeinen nicht in der Lage, komplexe Konzepte oder Weiterbildungsmöglichkeiten zu organisieren. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, Nutzen aus auf sie zugeschnittenen nationalen und regionalen Einrichtungen und externen Unterstützungsleistungen zu ziehen.

3.5

Der EWSA legt großen Wert auf die Verbreitung bewährter Verfahren. Einige Regionen in Europa erzielen bereits beachtliche Erfolge bei der Vorbereitung auf die Zukunft, die sowohl ihrer Bevölkerung als auch der Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft zugute kommen. Die EU einschließlich des EWSA könnte diesen Bereich stärker unterstützen.

3.6

Branchenbeiräte für Beschäftigung und Qualifikationen auf Unionsebene können ebenfalls sehr hilfreich sein. Sie könnten darüber hinaus als Plattform für Begegnungen aller direkt betroffenen Gruppen dienen. Der EWSA sieht mindestens drei Aufgaben für solche Beiräte vor: Informationen über den Ausbildungsbedarf, Austausch von Vorhersagen über künftige Entwicklungen und Herausforderungen und Informationen über die Gründe für notwendig gewordene Umstrukturierungen. All dies würde den ständigen Meinungsaustausch fördern und die Orientierung an Spitzenleistungen voranbringen. Die operativen und praktischen Schlussfolgerungen solcher Beiräte sollten auch den europäischen Agenturen zugute kommen.

3.7

Wie in Kapitel 2 ausführlich dargelegt, ergeben sich die spezifischen Zuständigkeiten eines jeden Akteurs aus den allgemeinen Analysen und gemeinsamen Schlussfolgerungen. Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess, der in mehreren Ländern bereits allgemein angewandt wird, in anderen Mitgliedstaaten dagegen bisher weniger weit entwickelt ist. Wirtschaftssysteme, in denen solche Verfahren gängige Praxis sind, sind allgemein leistungsfähiger als diejenigen, die in diesem Bereich hinterherhinken. Wie bereits bemerkt, zahlen sich einvernehmliche Lösungen aus.

3.8

Bei Umstrukturierung kann die EU für zufriedenstellende Koordination zwischen den beteiligten Akteuren sorgen, indem sie effiziente Verfahren und Prozesse innerhalb der Unternehmen und Regionen gegebenenfalls durch finanzielle Unterstützung aus EU-Mitteln fördert.

3.9

In der Anlage wird zu Recht die Rolle der einzelnen Beschäftigten hervorgehoben. Sind die richtigen Bedingungen und Voraussetzungen gegeben, bleibt es den Einzelnen überlassen, den für sie am besten geeigneten Ansatz zu wählen. Auch hier steht eine große Bandbreite zur Wahl, vom Ausbau der persönlichen Fertigkeiten vor Ort über die Erweiterung des beruflichen Profils bis hin zur beruflichen Neuausrichtung. Die Praxis, denselben Beruf über das gesamte Berufsleben auszuüben, wird allmählich durch flexible Laufbahnen ersetzt, entweder innerhalb desselben (großen) Unternehmens oder in einem breiteren Kontext.

3.10

Alle Beteiligten sollten solche tiefgreifenden Veränderungen berücksichtigen und dabei besonderes Augenmerk auf schutzbedürftige Gruppen legen. In mehreren Mitgliedstaaten haben die Sozialpartner und der Staat im Lauf der Jahre zielgerichtete Programme entwickelt. Der EWSA hebt unter anderem folgende Beispiele hervor:

das als Flexicurity bekannte dänische Arbeitsmarktmodell. Nach anfänglichen Problemen und entsprechender Kritik wurde ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den Kosten und dem Nutzen dieses Modells erreicht, das einen flexiblen Arbeitsmarkt mit dem Sozialstaatsmodell verknüpft (12). Es beinhaltet unter anderem eine intensivere Beobachtung des Arbeitsmarktes, Vereinbarungen über Teilzeitarbeit, Jobrotation, Innovations-Inkubatoren und ein System der beruflichen Bildung;

das deutsche System der dualen Berufsausbildung unter Einbeziehung von Unternehmen und einer proaktiven Verknüpfung zwischen Ausbildung und praktischer Lehre;

ein Programm wie das schwedische „Knowledge Lift“, mit dem ursprünglich das Ausbildungsniveau gering qualifizierter erwachsener Arbeitnehmer (Zielgruppe mit einem Alter zwischen 25 und 55 Jahren) auf ein mittleres Niveau angehoben werden sollte.

3.11

Dies sind nicht die einzigen Beispiele. Manche dieser Systeme sind veraltet, andere funktionieren noch zufriedenstellend und machen deutlich, wie das Engagement des Staates und der Sozialpartner gemeinsame Instrumente zum Umgang mit der derzeitigen Dynamik bereitstellen. Wieder andere Systeme wurden vor einiger Zeit aufgegeben. Die Kommission sollte durch die systematische Verbreitung bewährter Verfahren die nationalen Sozialpartner und Behörden in allen Mitgliedstaaten auffordern, praktisch nutzbare und sinnvolle Instrumente aufzuzeigen.

3.12

Der EWSA befürwortet im Einklang mit seinen in vielen Stellungnahmen und auch in seiner Reaktion auf das Grünbuch (13) vertretenen Standpunkten nachdrücklich die aktive Rolle, die die Kommission für die nationalen und regionalen Behörden bei der Antizipation und Umstrukturierung vorsieht — auf Augenhöhe mit den Unternehmen, Beschäftigten und Sozialpartnern. Deren Zusammenarbeit und Mitverantwortung ist dringend gefragt, wird aber oft unterschätzt. Die Kommission hebt in der Aufzählung ihrer Schwerpunkte hervor, wie wichtig deren Mitwirkung ist (14).

3.13

Die verschiedenen Verwaltungs- und Regierungsebenen haben unterschiedliche Zuständigkeiten. Während in den meisten Ländern die nationale Ebene für die (rechtlichen) Rahmenbedingungen zuständig ist, kann die regionale Ebene viel dazu beitragen, entsprechende Voraussetzungen und eine gemeinsame Auffassung zu schaffen, was durch zahlreiche konkrete Beispiele belegt wird. Folglich ist die Qualität der nationalen bzw. regionalen Verwaltung oft für den Erfolg oder Misserfolg solcher Vorhaben ausschlaggebend. Sie sollte in Fallstudien um Antizipation und Umstrukturierung sowie um erfolgreiche Verfahren einbezogen werden.

3.14

Die Europäische Kommission spielt eine führende Rolle bei der Veranstaltung von Debatten auf EU-Ebene und bei der Verbreitung von Verfahren. Sie kann zur Entstehung gemeinsamer Überzeugungen in der gesamten Union beitragen. Sie kann dazu beitragen, dass die Voraussetzungen für eine zweckmäßige Verwendung von EU-Fondsmitteln geschaffen werden. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, den sozialen Dialog über Umstrukturierung und Antizipation insbesondere auf branchenspezifischer Ebene zu fördern.

3.15

Die Erhebung von Daten zu Umstrukturierungen — einschließlich ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen — sollte erleichtert werden und zu entsprechenden Analysen führen. Die wirksame Koordinierung zwischen Agenturen wie Eurofound und CEDEFOP, der Kommission und den betroffenen Parteien muss stets gewährleistet sein.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Mitteilung der Europäischen Kommission zum Qualitätsrahmen der EU, S. 15 f.

(2)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 54, Kommentare zu dem Grünbuch der Kommission zu Umstrukturierung und Antizipierung, 2012.

(3)  Schreiben der Kommission vom 13. Dezember 2013.

(4)  Die derzeitigen zukunftsweisenden Entwicklungen werden veranschaulicht in dem Bericht „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0“, herausgegeben von der Forschungsunion und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im April 2013 (4.0 bezieht sich auf die vierte industrielle Revolution).

(5)  ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 82, Kommentare zu der Mitteilung der Kommission zur Industriepolitik, 2013.

(6)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 54.

(7)  Zusammenfassung der Ergebnisse der Konsultation zum Grünbuch (Fußnote 1).

(8)  Siehe ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35, sowie den englischen Titel der Stellungnahme (Employee involvement).

(9)  Siehe ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 43.

(10)  Mitteilung der Europäischen Kommission zum Qualitätsrahmen der EU, S. 15 f.

(11)  (Richtlinie 2001/23/EG).

(12)  Siehe „Anticipating and Managing Restructuring — Denmark, International Training Centre ILO“, Dezember 2009.

(13)  Siehe Fußnote 1.

(14)  Siehe Seite 19.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/123


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission: Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften

C(2014) 963 final

(2014/C 451/20)

Berichterstatter:

Jacek KRAWCZYK

Ko-Berichterstatter:

Nico WENNMACHER

Die Europäische Kommission beschloss am 8. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission: Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 11. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 183 gegen 3 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die neuen Bestimmungen der Europäischen Kommission für Leitlinien für staatliche Beihilfen für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften. Mit diesen von Flughäfen und Luftfahrtunternehmen seit langen erwarteten Bestimmungen wird ein Rahmen festgelegt, der u. a. insbesondere auch einen Übergangszeitraum enthält, um einige der schwerwiegenden Probleme des EU-Verkehrssektors zu lösen, der derzeit einen grundlegenden Wandel durchläuft.

1.2.

Der EWSA bedauert, dass in den endgültigen von der Europäischen Kommission angenommenen Leitlinien aufgrund unzulässigen Drucks seitens regionaler Lobbys und lokaler Politiker keine ausreichenden Instrumente für eine erhebliche Verbesserung der Transparenz im europäischen Luftverkehrsmarkt bzw. in der europäischen Luftverkehrsbranche bereitgestellt werden. Der Auf- und Ausbau der Bodeninfrastruktur muss auf allen Ebenen (EU, Mitgliedstaaten, Regionen) besser koordiniert werden. Die Verwendung von Steuergeldern, u. a. in Form von EU-Haushaltsmitteln, muss ausgehend von einer Machbarkeitsstudie gut vorbereitet werden, die nicht von rein lokalen politischen Interessen gelenkt, sondern durch eine relevante wirtschaftliche und soziale Nachfrage validiert ist. In dieser Machbarkeitsstudie sollte auch die Nachhaltigkeit des Vorhabens bewertet werden, indem Landnutzung, die Auswirkungen auf die Beschäftigung, die Arbeitsbedingungen und die Umweltwirkung als Kriterien herangezogen werden. Die Kohärenz mit strategischen EU-Projekten wie dem einheitlichen europäischen Luftraum und SESAR muss ebenfalls berücksichtigt werden.

1.3.

Der EWSA zeigt sich angesichts der zunehmenden Zahl an „Wettbewerbsfällen“ bei der Europäischen Kommission und der unzulänglichen Haltung der Mitgliedstaaten in Bezug auf das Fehlen gleicher Wettbewerbsbedingungen in der EU-Luftfahrt besorgt. Durch die Gewährung eines äußerst langen Übergangszeitraums für die Flughäfen, um in die Gewinnzone zu kommen, werden nicht genügend Anreize für eine echte Veränderung geschaffen.

1.4.

Der EWSA ist schwer enttäuscht, dass die Studie, in der der aktuelle Stand in Bezug auf staatliche Beihilfen und vergleichbare Praktiken für die Umsetzung von Luftverkehrsleitlinien dargelegt werden sollte — und die er in seiner früheren Stellungnahme gefordert hat — niemals durchgeführt wurde. Hier wurde viel zu viel Raum für politische „Vernebelung“ gelassen; außerdem wurden keine ausreichend aussagekräftigen Daten vorgelegt, um zuverlässige Lösungen zu bieten. Der EWSA bekräftigt seine Forderung nach einer Studie, die seiner Meinung nach immer noch relevant und gerechtfertigt ist. In dieser Studie sollten Informationen zu Art und Umfang der gewährten Beihilfen, ihren Auswirkungen auf die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung/Effizienz sowie ihren quantitativen und qualitativen Folgen für die Beschäftigung enthalten sein.

1.5.

Der EWSA erachtet es als wichtig, den sozialen Dialog zu stärken und Sozialdumping in diesem Sektor zu unterbinden. Außerdem muss eine Vereinbarung getroffen werden, damit stets aktuelle Daten über die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt im Luftverkehrssektor zur Verfügung stehen.

1.6.

Eines der schwerwiegendsten Probleme in Verbindung mit der Umsetzung der alten Leitlinien war ihre unzureichende Durchsetzung. Der EWSA zeigt sich besorgt, dass neben dem äußerst langen Übergangszeitraum die hohe Zahl an „Ausnahmen“ in diesen Leitlinien auch in Zukunft zu einer schwachen Durchsetzung führen werden und so das Hauptziel, namentlich die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen, untergraben wird.

1.7.

Die rückwirkende Anwendung der Luftverkehrsleitlinien auf Betriebsbeihilfen sollte auch jene Flughäfen und Luftfahrtunternehmen, die die in den Leitlinien aus dem Jahr 2005 gesetzten Fristen seit Jahren überschritten haben, in die Lage versetzen, die neuen Bestimmungen einzuhalten. In gleicher Weise sollte auch eine rückwirkende Anwendung der neuen Luftverkehrsleitlinien dazu führen, dass Marktakteure, die den damals geltenden Leitlinien aus dem Jahr 2005 bereits entsprachen, nicht bestraft werden.

1.8.

Gleiche Wettbewerbsbedingungen sind unerlässlich, um die europäische Luftfahrt wieder nachhaltig werden zu lassen. In der vom EWSA 2014 organisierten öffentlichen Anhörung hat sich klar gezeigt, dass das „Rennen um Beihilfen“ die Lage der europäischen Luftfahrt erschwert und ihre Nachhaltigkeit stark beeinträchtigt.

1.9.

Der EWSA weiß den in den Luftverkehrsleitlinien verfolgten Ansatz für die Gewährung staatlicher Anlaufbeihilfen für Luftfahrtunternehmen zu schätzen, doch werden letztlich erst die Umsetzung und die Durchsetzung dieser neuen Bestimmungen zeigen, ob Klarheit und Einfachheit auch wirklich erreicht werden konnten.

1.10.

In Bezug auf die Pläne für neue Luftverkehrsunternehmen und umfassende öffentliche Finanzierung ist der EWSA der Ansicht, dass Sensibilisierungsprogramme und Hilfsmaßnahmen für Betreiber und Manager von Regionalflughafen organisiert werden müssen, die für die Behandlung derartiger Fragen schlecht ausgestattet sind.

1.11.

Die Umsetzung der Regeln für staatliche Beihilfen im Binnenmarkt muss auch in Drittländern verfolgt werden. Die EU-Behörden müssen kohärent vorgehen und ihre Politik für den Zugang zum EU-Markt anpassen, insbesondere für Betreiber, die in ihren Herkunftsländern von günstigen Bedingungen profitieren, die den Wettbewerb verzerren könnten. Es gilt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle sicherzustellen.

1.12.

Damit die Luftfahrtindustrie in der EU die steigende Nachfrage nachhaltig bedienen kann, muss sie qualitativ hochwertige Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen bieten, um sowohl den Interessen der Reisenden als auch den Sicherheitsanforderungen zu genügen. Wie bereits betont ist es wichtig, den sozialen Dialog zu fördern und Sozialdumping in diesem Sektor zu unterbinden. Im europäischen Luftverkehrssektor gibt es bereits mehrere Gruppen, um Diskussionen mit den einschlägigen Sozialpartnern zu führen. Aus Effizienzgründen müssen diese Gruppen gestärkt und um Flughafenvertreter erweitert werden. Außerdem müssen die Betreiber stärker sensibilisiert werden. Im Fall der Nichteinhaltung der Vorschriften müssen staatliche Beihilfen zurückgehalten werden, insbesondere bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht.

1.13.

Daher muss auch die Umsetzung der neuen Luftverkehrsleitlinien unbedingt genauestens überwacht werden. Die Europäische Kommission sollte innerhalb der nächsten 12 Monate überprüfen, inwieweit die Ziele erfüllt worden sind, und darüber Bericht erstatten.

2.   Einleitung

2.1.

Die europäische Luftfahrtindustrie war als Markt angelegt, auf dem die Nachfrage die Flugpreise bestimmt und die Nutzer die Luftfahrtkosten über Gebühren und Abgaben bezahlen mit dem Ziel: „Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ (Titel des Verkehrs-Weißbuchs aus dem Jahr 2011). Allerdings haben staatlichen Beihilfen für Flughäfen und Luftfahrtunternehmen erhebliche Strukturmängel auf dem europäischen Luftverkehrsmarkt nach sich gezogen, die behoben werden müssen.

2.2.

Die Europäische Kommission hat lange Zeit eine Überprüfung der EU-Leitlinien von 1994 zur Anwendung der Artikel 92 und 93 des EG-Vertrags auf staatliche Beihilfen im Luftverkehr und der EU-Leitlinien aus dem Jahr 2005 für die Finanzierung von Flughäfen und die Gewährung staatlicher Anlaufbeihilfen für Luftfahrtunternehmen auf Regionalflughäfen (in der Folge „die Luftverkehrsleitlinien“) geplant. Es bedarf seit langem klarerer Bestimmungen, damit Flughäfen Unterstützung erhalten können, wenn dies wirklich notwendig ist — zumal allgemein anerkannt wurde, dass die früheren Luftverkehrsleitlinien nicht wirksam umgesetzt wurden.

2.3.

Auf seiner 482. Plenartagung am 11. Juli 2012 verabschiedete der EWSA eine ergänzende Stellungnahme zum Thema „Überprüfung der Luftverkehrs- und Flughafenleitlinien der EU aus den Jahren 1994 und 2005“ (CCMI/095), in der er die Entwicklung des europäischen Luftverkehrsmarkts nachverfolgt sowie die beträchtlichen Hemmnisse für die Umsetzung der geltenden Luftverkehrsleitlinien aufgezeigt hat. Er legte außerdem eine Reihe von Schlussfolgerungen und Empfehlungen vor.

2.4.

Der EWSA sprach sich in dieser Stellungnahme für einen einheitlichen EU-Rechtsrahmen für den gesamten Luftverkehrsbereich aus, der der unkontrollierten Vergabe staatlicher Beihilfen einen Riegel vorschieben und eine gleiche Ausgangslage für alle Marktteilnehmer auch auf lokaler Ebene sicherstellen würde.

2.5.

Der EWSA unterstrich, dass neue Leitlinien in Form klarer und einfacher Regeln festgelegt werden müssen, um Rechtssicherheit für den europäischen Luftverkehr zu bieten. Er betonte, dass die Leitlinien korrekt umgesetzt werden müssen. Auf die Durchsetzung kommt es an.

2.6.

Laut dieser früheren Ausschussstellungnahme (CCMI/095) sollten die von der Europäischen Kommission auszuarbeitenden neuen Leitlinien auf den Schutz aller Luftverkehrsunternehmen gegen diskriminierende, unklare oder wettbewerbsverzerrende finanzielle Hilfen durch regionale Regierungen oder Regionalflughäfen ausgerichtet sein. Öffentliche Beihilfen dürfen den Wettbewerb weder zwischen Flughäfen noch Luftfahrtunternehmen verzerren.

2.7.

Der EWSA empfahl, dass staatliche Beihilfen für Investitionen in Flughafeninfrastrukturen und Anlaufbeihilfen für neu gegründete Luftverkehrsunternehmen nur in genau festgelegten Fällen möglich und in Dauer und Höhe begrenzt sein sollten. Außerdem sollten sie nur unter außergewöhnlichen Umständen und unter Wahrung der Grundsätze von Transparenz, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung gewährt werden.

2.8.

In Bezug auf die Transparenz kam der EWSA zu dem Schluss, dass die Bedingungen für die Vergabe öffentlicher Beihilfen veröffentlicht werden sollten. Die für Flughäfen und Luftverkehrsunternehmen verfügbaren Beihilfen und die Bedingungen für ihre Gewährung sollten offengelegt werden.

2.9.

Nach Ansicht des EWSA können Privatinvestitionen grundsätzlich nicht als staatliche Beihilfen angesehen werden. Gleichzeitig kann ein öffentlicher Betreiber als Privatinvestor auftreten, wenn die Investition kommerziell gerechtfertigt ist.

2.10.

Nach Meinung des EWSA sollte eine Studie erstellt werden, in der der aktuelle Stand in Bezug auf staatliche Beihilfen und vergleichbare Praktiken für die Umsetzung von Luftverkehrsleitlinien dargelegt wird. Insbesondere für die Beurteilung, ob und in welchem Maße die geltende Praxis den Wettbewerb zwischen Flughäfen und zwischen Luftverkehrsunternehmen verzerrt, sollten in der Studie Informationen zu Art und Umfang der gewährten Beihilfen, ihren Auswirkungen auf die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung/Effizienz sowie ihren quantitativen und qualitativen Folgen für die Beschäftigung enthalten sein.

2.11.

Der EWSA betonte, dass in denen neuen Leitlinien den Interessen der Arbeitnehmer und der Reisenden Rechnung getragen werden muss. Da die Ressource Mensch ein grundlegender Faktor für die Qualität des Luftverkehrssystems ist, muss eine nachhaltige Zivilluftfahrt qualitativ hochwertige Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen bieten. In diesem Sinne ist es wichtig, den sozialen Dialog zu stärken und Sozialdumping in diesem Sektor zu unterbinden.

2.12.

Der EWSA forderte eine langfristige Politik für die Entwicklung von Regionalflughäfen. Luftverkehrsleitlinien können nur dann erfolgreich durchgesetzt werden, wenn klare politische Prioritäten für die Entwicklung von Regionalflughäfen vereinbart werden. Es hätte Aufgabe der Europäischen Kommission sein sollen, umgehend eine diesbezügliche politische Agenda auszuarbeiten.

2.13.

Der EWSA forderte die Mitgliedstaaten auf, die Vorbereitung und Umsetzung neuer Leitlinien zu fördern und zu unterstützen. Dies war aufgrund der Gewährung von EU-Mitteln im Rahmen des neuen mehrjährigen Finanzrahmens von ganz besonderer Bedeutung. Um mit weniger Ressourcen mehr Ergebnisse zu erzielen, sind klare Prioritäten erforderlich. Die regionale Entwicklung ist sehr wichtig, doch sollte sie keinesfalls als Rechtfertigung für den Bau von Flughäfen herangezogen werden, wenn es keine Möglichkeiten zur Schaffung einer ausreichenden Nachfrage gibt.

3.   Luftverkehrsleitlinien — aktueller Stand

3.1.

Am 20. Februar 2014 nahm die Europäische Kommission Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften an, die die seit beinahe zehn Jahren geltenden Leitlinien (aus den Jahren 1994 und 2005) ersetzen.

3.2.

Gemäß diesen neuen Leitlinien sind Betriebsbeihilfen für unrentable kleine Flughäfen für einen Übergangszeitraum von 10 Jahren zugelassen. Nach diesem Übergangszeitraum muss der Flughafen kostendeckend arbeiten. Der zulässige Beihilfehöchstbetrag beläuft sich auf:

50 % der anfänglichen operativen Finanzierungslücke für Flughäfen mit weniger als 3 Millionen Passagieren jährlich;

80 % für Flughäfen mit bis zu 7 00  000 Passagieren jährlich.

3.2.1.

Allerdings wird es weiterhin möglich sein, Ausgleichsleistungen für ungedeckte Betriebskosten für Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu erhalten. Dies gilt für Flughäfen, die eine wichtige Rolle bei der regionalen Anbindung von abgeschnittenen oder abgelegenen Gebieten bzw. von Gebieten in Randlage spielen.

3.3.

Stärker zielgerichtete Investitionsbeihilfen sind nur dann zulässig, wenn ein echter Verkehrsbedarf und positive Externalitäten festgestellt werden können. Zusätzliche Transportkapazitäten dürfen nur bei echter Nachfrage geschaffen werden. Investitionsbeihilfen sind unzulässig, wenn bestehende Flughäfen im gleichen Einzugsbereich geschädigt werden sowie in Gebieten, die bereits mittels anderer Verkehrsträger über eine gute Anbindung verfügen.

3.3.1.

Der zulässige Höchstbetrag für Investitionsbeihilfen beläuft sich auf:

bis zu 25 % für Flughäfen mit 3-5 Millionen Passagieren im Jahr;

bis zu 50 % für Flughäfen mit 1-3 Millionen Passagieren im Jahr;

bis zu 75 % für Flughäfen mit 31 Millionen Passagieren im Jahr;

Für Flughäfen mit mehr als 5 Millionen Passagieren im Jahr sind Beihilfen nicht zulässig (mit geringfügigen Ausnahmen, z. B. Verlagerung).

Die für Investitionsbeihilfen zulässigen Höchstbeträge können bei Flughäfen in abgelegenen Gebieten um bis zu 20 % erhöht werden.

3.4.

Luftverkehrsunternehmen können Beihilfen in Höhe von bis zu 50 % der Flughafenentgelte für neue Ziele während eines Zeitraums von drei Jahren erhalten. Bei Flughäfen in abgelegenen Gebieten könnten flexiblere Vereinbarungen gerechtfertigt sein.

3.5.

Vereinbarungen zwischen Luftverkehrsunternehmen und Flughäfen gelten als beihilfelos, wenn ein Privatinvestor, der unter normalen Marktbedingungen operiert, die gleichen Bedingungen akzeptiert hätte. Ist die Vereinbarung zwischen einem Luftverkehrsunternehmen und einem Flughafen nicht gewinnbringend, wird sie als öffentliche Unterstützung für das Luftverkehrsunternehmen angesehen.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/127


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Neue EU-Forststrategie: für Wälder und den forstbasierten Sektor

COM(2013) 659 final

(2014/C 451/21)

Berichterstatter:

Seppo KALLIO

Mitberichterstatter:

Brendan BURNS

Die Europäische Kommission beschloss am 20. September 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Neue EU-Forststrategie: für Wälder und den forstbasierten Sektor.

COM(2013) 659 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 111 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die neue EU-Forststrategie (EUFS) und die zwei dazugehörigen Arbeitspapiere der Kommissionsdienststellen. Durch die stetig steigenden Anforderungen und die zunehmende Bedrohung der Wälder, aber auch durch die zahlreichen europäischen Branchenpolitiken und deren einschlägige Vorschriften mit Auswirkungen auf die Forstwirtschaft und die Wälder ist ein dringender Bedarf für eine neue Forststrategie entstanden. Der EWSA ruft daher die Kommission und die Mitgliedstaaten zu einer effektiven und wirksamen Umsetzung der Strategie auf.

1.2

In diesem Zusammenhang erinnert der Ausschuss die Kommission daran, dass im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine gemeinsame Forstpolitik vorgesehen ist und entsprechende Politikansätze auch weiterhin in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleiben sollten.

1.3

Der Ausschuss begrüßt den ganzheitlichen Ansatz und die Ausgewogenheit, die in Bezug auf die Pfeiler der Nachhaltigkeit (wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit) hergestellt wurde und sich in den 3 übergeordneten Ebenen der EU-Strategie mit ihren insgesamt 8 Prioritäten ausdrückt. Nach Auffassung des EWSA sollten die für jede Priorität gegebenen strategischen Orientierungen im Sinne der raschen Umsetzung der Strategie genutzt werden.

1.4

Angesichts der großen Bedeutung der Wälder für die Entwicklung des ländlichen Raumes und mit Blick auf die Verwirklichung der in der Strategie aufgestellten Ziele fordert der EWSA, dass forstrelevante Maßnahmen in die Programme für die Entwicklung des ländlichen Raums aufgenommen werden und ihre Umsetzung gefördert wird, um eine stärkere Inanspruchnahme der verfügbaren Fördermittel sicherzustellen.

1.5

Um der zunehmenden Mechanisierung der gesamten forstwirtschaftlichen Wertschöpfungskette sowie den klimatischen und ökologischen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen nach Auffassung des EWSA Bildung und Ausbildung sowie der Wissenstransfer auf allen Ebenen im Fostsektor gefördert werden. In diesem Zusammenhang fordert der Ausschuss die Kommission und die Mitgliedstaaten außerdem auf, die Möglichkeiten zur Verbesserung des Beschäftigungspotenzials des Forstsektors und der dort herrschenden Arbeitsbedingungen zu untersuchen.

1.6

Der EWS vertritt die Auffassung, dass die Diskussion über Kriterien für die nachhaltige Forstbewirtschaftung unabhängig von der Endverwendung des Holzes von den allgemein anerkannten und akzeptierten Kriterien und Indikatoren ausgehen muss, die im Rahmen des FOREST-EUROPE-Prozesses (1) formuliert wurden; überdies sollte den Besonderheiten und den bestehenden, forstlich relevanten Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden.

1.7

Was die Grundsätze für die Vorrangigkeit bei der Holznutzung anbelangt, ist der Ausschuss gegen gesetzlich bindende Regelungen und unterstützt einen offen, marktorientierten Ansatz und die Freiheit der Marktteilnehmer.

1.8

Um die Herausforderungen des Klimawandels anzugehen, ermutigt der EWSA die Mitgliedstaaten zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit; er unterstützt die Forderungen, die Anpassungsfähigkeit und die Widerstandsfähigkeit der europäischen Wälder zu verbessern, wozu auch der Schutz vor Waldbränden und sonstige Anpassungsmaßnahmen gehören, die vor Naturgefahren schützen. Die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme sowie die Multifunktionalität der Wälder sollten im Mittelpunkt angemessener Maßnahmen stehen.

1.9

Der EWSA befürwortet Forstbewirtschaftungspläne, unterstreicht aber zugleich, dass diese weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen und klar von den Bewirtschaftungsplänen für Natura 2000 getrennt sein sollten, um überflüssige Kosten und Bürokratie zu vermeiden.

1.10

Fundierteres Wissen ist der Schlüssel zum Verständnis der unzähligen Herausforderungen in der Forstwirtschaft. Der EWSA hält es daher für erforderlich, auf eine Harmonisierung der Daten und auf einen besseren Informationsaustausch mit mehr Transparenz hinzuarbeiten; dabei sind zugleich die Eigentumsrechte zu respektieren.

1.11

Der EWSA unterstützt die Gewinnung von Holz und anderen Materialien, die der Wald liefert, wie etwa Kork, weil sie einheimische, nachhaltige, erneuerbare sowie klima- und umweltfreundliche Rohstoffe sind, und ist davon überzeugt, dass der Forstsektor eine Schlüsselrolle für den Erfolg der künftigen grünen Wirtschaft haben muss.

1.12

Mit Blick auf eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Forstsektors unterstreicht der EWSA die Bedeutung der optimalen Nutzung vorhandener und künftiger Finanzierungsmöglichkeiten zur Förderung von Forschung und Innovationen und macht diesbezüglich auf Initiativen wie etwa die Europäische Innovationspartnerschaft (EIP) (2) oder öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) in den Bioindustrien aufmerksam (3).

1.13

Angesichts des großen Potenzials und der vielfältigen Vorzüge der Verwendung aus Holz gewonnener Biomasse für eine nach ökologischen Prinzipien ausgerichtete Wirtschaft appelliert der EWSA an die Kommission und die Mitgliedstaaten, aktiv nach Mitteln und Wegen für die Förderung der Forstbewirtschaftung und Holzmobilisierung im Einklang mit den 2020-Zielen (4) zu suchen, dabei aber zugleich die Grenzen der Nachhaltigkeit anzuerkennen.

1.14

Der Ausschuss ruft die Kommission und Mitgliedstaaten zu größeren Anstrengungen auf, um die Ökosystemleistungen zu bewerten und einen Markt für sie zu schaffen. Die Mitgliedstaaten sollten koordinierte Kompensationsmechanismen als Ausgleich zum derzeitigen Marktversagen schaffen.

1.15

Um die EU-Forststrategie erfolgreich zu entwickeln und weiterzuführen, bedarf es einer reibungslosen Koordinierung und einer gute Kommunikation aller betroffenen Kreise. Mithin unterstreicht der EWSA, wie wichtig es ist, eine stärkere Beteiligung der Interessenträger sicherzustellen, weshalb verstärkt auf zivilgesellschaftliche Beratungsgremien, wie den Beirat für Forstwirtschaft und Kork gesetzt werden sollte. Außerdem sollte die Schaffung von Ad-hoc-Gruppen unter Beteiligung von Vertretern des EWSA und des AdR in Betracht gezogen werden.

1.16

Der EWSA ersucht die Kommission, die Mitgliedstaaten sowie die übrigen betroffenen Akteure, die Verhandlungen zur paneuropäischen Forstkonvention wieder aufzunehmen und abschließend eine Einigung über dieses rechtlich bindende Abkommen über die Wälder in Europa zu erzielen. Zusammen mit der EU-Forststrategie wäre die paneuropäische Forstkonvention eines der Schlüsselelemente zur Stärkung des gesamten Forstsektors. Wenn europaweit klare Definitionen und Ziele für die nachhaltige Waldbewirtschaftung aufgestellt würden, würde sich dies auch auf globaler Ebene bemerkbar machen.

1.17

Schließlich wird der EWSA alle laufenden und künftigen Initiativen im Rahmen der EU-Forststrategie und sonstiger einschlägiger Dokumente, darunter die Arbeitsdokumente der Kommissionsdienststellen, mitverfolgen.

2.   Einleitung

2.1

Mit mehr als 40 % der Landesfläche ist die herausragende Bedeutung der europäischen Wälder und anderer Holzflächen unumstritten. Zwischen den Regionen lassen sich große Unterschiede und eine große Vielfalt der Waldbestände, ihrer Zusammensetzung sowie ihrer Bewirtschaftung und Nutzung feststellen. Insgesamt ist in Bezug auf die europäischen Waldflächen ein positiver Trend zu beobachten, die sich in den letzten Jahrzehnten um etwa 0,4 % per annum ausdehnen; auch bezüglich des Holzbestandes stellt sich eine positive Situation dar, nachdem EU-weit nur etwa 60-70 % des Jahreszuwachses eingeschlagen werden. Etwa 60 % der bewaldeten Flächen sind Privateigentum, während sich der verbleibende Anteil in öffentlichem Eigentum befindet.

2.2

EU-weit und gerade in waldreichen Regionen wird der Multifunktionalität große Bedeutung beigemessen, da Wälder nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch sozialen und ökologischen Zwecken dienen. Sie bieten Tieren und Pflanzen einen Lebensraum und spielen eine große Rolle bei der Reduzierung der Auswirkungen des Klimawandels, und außerdem gehen von ihnen auch noch andere Ökosystemdienstleistungen aus — genannt seien etwa Jagd, Waldfrüchte, menschliche Gesundheit, Erholung, Tourismus. Ferner haben die Wälder auch große sozioökonomische Bedeutung, was jedoch häufig unterschätzt wird. Die Wälder und die mit ihnen verbundenen Industriebranchen beschäftigen mehr als drei Millionen Menschen, und ihre Nutzung spielt für den Bestand der ländlichen Gebiete und die dortige Beschäftigung eine entscheidende Rolle.

2.3

Die Nachhaltigkeit der Forstwirtschaft ist keineswegs ein neuer Gedanke. Der Begriff des nachhaltigen Wirtschaftens wurde bereits vor 300 Jahren in der Forstwirtschaft geprägt; im weiteren Verlauf wurde der Grundgedanke einer verantwortungsvollen Wirtschaftsweise stetig weiterentwickelt und Schritt für Schritt auf sämtliche Wirtschaftssektoren übertragen. Die grundlegende Definition der Nachhaltigkeit im Zuge der Helsinki-Resolution der Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa (MCPFE) von 1993 gilt als wichtiger Meilenstein und setzt das Prinzip der Nachhaltigkeit in einen globalen Kontext.

2.4

Seit nunmehr 15 Jahren besteht eine Strategie der Europäischen Union für den Forstsektor. Ausgehend von einer Entschließung des Europäischen Parlaments (5) hat die Europäische Kommission zur Umsetzung der politischen Vorgaben 1998 eine Mitteilung (6) vorgelegt.

2.5

Auf Ersuchen des Rates (7) hat die Kommission im Frühjahr 2005 einen Bericht zur Umsetzung (8) der Forststrategie veröffentlicht, ergänzt durch die Ausarbeitung eines auf 5 Jahre angelegten EU-Forstaktionsplans (2007-2011) (9).

2.6

2011, im internationalen Jahr der Wälder, wurde eine Folgebewertung des Aktionsplans durchgeführt, der als Umsetzungsinstrument der Forststrategie von 1998 diente.

2.7

Obwohl im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine gemeinsame Forstpolitik vorgesehen ist, führen eine Vielzahl sektorialer Strategien, die sich z. B. mit Energieversorgung, umwelt- oder klimapolitischen Fragen beschäftigen, sowie die einschlägigen Rechtsbestimmungen de-facto zur Herausbildung einer gemeinsamen EU-Forstpolitik. Um auf die stetig zunehmenden und teilweise miteinander kollidierenden Herausforderungen, mit denen Wälder und Forstwirtschaft konfrontiert werden, sowie den Bedarf nach einer kohärenteren und schlüssigeren Herangehensweise zu reagieren, hat die Europäische Kommission am 20. September 2013 eine Mitteilung zu einer neue EU-Forststrategie vorgelegt.

3.   Grundzüge der neuen Forststrategie

3.1

Dem veröffentlichten Basisdokument der Kommission wurden zwei ergänzende und vertiefende Arbeitsdokumente der Kommissionsdienststellen beigefügt; im ersten Dokument geht es um den Prozess, die Analyse und die im Rahmen der Strategie vorgeschlagenen Vorgehensweise, während im zweiten Dokument ein ausführlicher Überblick über die forstbasierten Industriebranchen gegeben wird, darunter Holzindustrie, Möbelindustrie, Papier- und Pappehersteller und -weiterverarbeiter und Druck (10). Aufgrund ihres ergänzenden Charakters und ihrer Bedeutung sollte den Begleitdokumenten gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der EWSA sollte sämtliche laufenden und künftigen Initiativen bzw. Dokumente im Zusammenhang mit der EU-Forststrategie verfolgen und begleiten.

3.2

Die Kommission hat den Ansatz gewählt, die künftigen Handlungsbereiche der Strategie in 3 übergeordneten Ebenen zu unterteilen, die insgesamt 8 Prioritäten bilden.

3.3

Mit den für jede der 8 Prioritäten formulierten strategischen Orientierungen wird die Strategie auch grundsätzlich der Forderung gerecht, konkrete Maßnahmen vorzuschlagen und es nicht mit einer allgemeinen Willensbekundung bewenden zu lassen.

3.4

Um eine rasche Umsetzung der Forststrategie zu ermöglichen, hat die Kommission auf die Ausarbeitung eines gesonderten neuen Aktionsplanes verzichtet. Stattdessen enthält die Strategie einen Katalog konkreter Maßnahmen, durch die die Ziele der Strategie erreicht werden sollen.

3.5

Die neue Forststrategie wurde im Anschluss an die abschließende Bewertung der bisherigen Strategie und in zeitlicher Nähe zum Beginn der nächsten EU-Programmplanungsperiode und dem Mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 veröffentlicht.

3.6

Das wirtschaftliche und politische Handlungsumfeld der EU hat sich seit der 1998 vorgelegten Vorgängerstrategie stark gewandelt, so dass die neue Strategie — auch in Bezug auf die internationalen Verpflichtungen — in einen völlig neuen Regulierungsrahmen eingebettet ist.

3.7

Die Vorlage der neuen Forststrategie durch die Kommission erfolgt zeitgleich mit den Verhandlungen des zwischenstaatlichen Verhandlungsausschusses im Rahmen von FOREST EUROPE zur paneuropäischen Forstkonvention (11). Im Falle seines Zustandekommens würde dieses Abkommen die vorhandenen Empfehlungen ersetzen und klare Definitionen und Ziele für die nachhaltige Waldbewirtschaftung enthalten, welche von den Vertragsstaaten umzusetzen wären.

3.8

Der EWSA hat mittels seiner Stellungnahmen eine Reihe forstrelevanter Prozesse durch die Unterbreitung von Vorschlägen begleitet (Anhang 1), darunter auch den Prozess der neuen Forststrategie seit seiner Anfangsphase (12). Anlässlich des Umsetzungsberichts der Kommission 2005 nutzte der Ausschuss die Gelegenheit zu einer umfassenden Stellungnahme zur Rolle der Wälder und der Forstwirtschaft in einem geänderten Umfeld. Die vorliegende Stellungnahme versteht sich unter anderem als Aktualisierung der bisherigen Linie im Lichte der künftigen Herausforderungen.

4.   Grundsätzliche Anmerkungen zur neuen Forststrategie

4.1

Das Fehlen einer Bezugnahme auf eine gemeinsame Forstpolitik im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, sodass anders ausgedrückt die Entscheidungsbefugnisse in der Forstpolitik weiterhin Sache der Mitgliedstaaten sind, bildet weiterhin den Ausgangspunkt der Strategie. Zusätzlich ist die Strategie ganzheitlich angelegt und berücksichtigt nachhaltig die wirtschaftliche, soziale und ökologische Dimension und bezieht neben dem Forst- und forstwirtschaftlichen Aspekt auch die verarbeitende Industrie mit ein.

4.2

In der Strategie werden die nachhaltige Waldbewirtschaftung und die multifunktionale Rolle der Wälder, die ausgewogene Erbringung zahlreicher Güter und Dienstleistungen sowie die Gewährleistung des Schutzes der Wälder unterstrichen. In der derzeitigen Situation, in der auf dem Gebiet der EU lediglich ca. 60 % des jährlichen Zuwachses geschlagen werden, wird mithilfe dieser Strategie angestrebt, die forstbezogene Beschäftigung und Wohlstandsgenerierung in Europa zu fördern, indem die Wettbewerbsfähigkeit des Forstsektors und die vielfältige Nutzung der Holzproduktion im Rahmen des Aufbaus einer auf erneuerbaren Rohstoffen beruhenden grünen Wirtschaft verbessert werden.

4.3

In der neuen Strategie schlägt sich eine ganzheitliche Herangehensweise und das Streben der EU nach einer besseren Koordinierung forstlicher Angelegenheiten nieder, indem die effektive und wirksame Umsetzung gefördert, überflüssigen bürokratischen Hemmnissen vorgebeugt und die Leistungsfähigkeit der Wälder und der Forstwirtschaft in der EU verbessert werden.

4.4

Die Forstwirtschaft und die ihr nachgelagerten verarbeitenden Industriebranchen können einen maßgeblichen Beitrag zum Erfolg der Europa-2020-Strategie leisten. Um dies zu erreichen, muss die Forststrategie allerdings eng an die Verfolgung der Ziele der Europa-2020-Strategie gekoppelt werden, indem eine effektive und effiziente Umsetzung der Forststrategie in sämtlichen relevanten Politikbereichen gefördert wird.

4.5

Die Bewertung der jüngsten Daten über die Umsetzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Bereich ländliche Entwicklung hat ergeben, dass die Instrumente für den ländlichen Raum im Forstbereich nur teilweise ausgeschöpft wurden. Um die in der Forststrategie formulierten Ziele besser zu erreichen, werden die Mitgliedstaaten im Rahmen der Strategie aufgerufen, bei der Programmplanung und Umsetzung forstrelevanten Maßnahmen einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen. Dies ist besonders im Hinblick auf die stärkere Einbindung und Aktivierung der Vielzahl kleiner Familienbetriebe bzw. Privatwälder notwendig und kann durch die Vereinfachung der Verfahren und den Abbau der Bürokratie erreicht werden.

4.6

Hinter den Zielen der Strategie steht die Absicht, künftig die Maßnahmen und Instrumente der Verordnung zur Entwicklung des ländlichen Raumes zu unterstützen (13).

4.7

Durch die Strategie sind die Mitgliedstaaten aufgerufen, unter Einbindung der Sozialpartner Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Beschäftigungspotentiale besser genutzt, die Qualifikation der in der Forstwirtschaft Tätigen erhöht und die Arbeitsbedingungen weiter verbessert werden können. Es sollten neue, zielorientierte Forschungen eingeleitet werden, um Erkenntnisse über die Beschäftigten in den europäischen Wäldern zu gewinnen, also Arbeitskräfte, die z. B. in den Bereichen Waldwegebau, Aufforstung, Forstbewirtschaftung, Holzeinschlag, Transport sowie Informations- und Umweltdienste arbeiten. Insgesamt sollen die politischen Ansätze und Programme der Mitgliedstaaten dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit der forstbasierten Wirtschaft und des gesamten Forstsektors zu verbessern, um dauerhaft Wachstum und Arbeitsplätze zu generieren.

4.8

Die Strategie würdigt die vielfältige Bedeutung der Wälder für das Erreichen der klima- und energiepolitischen Ziele. Die Erreichung dieser Ziele kann dadurch unterstützt werden, dass die Wälder aktiv bewirtschaftet und genutzt werden, sodass sie besser gedeihen und stärker Kohlendioxid binden können; ermöglicht würde dadurch auch, dass fossile Energieträger und Materialien durch den erneuerbaren Energieträger Holz ersetzt werden können.

4.9

Mit der Strategie wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Wälder und ihre Ökosysteme aufgrund des Klimawandels und sonstiger äußerer Bedrohungen besonders schutzbedürftig sind.

4.10

In der Strategie wird die Bedeutung einer besseren Öffentlichkeitsarbeit bezüglich des Themenkomplexes Wald, Forstwirtschaft und Holz als erneuerbarer Rohstoff gewürdigt. Hier sollten zielgerichtete Kampagnen der Kommission und der Mitgliedstaaten unterstützend ansetzen und das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich der Rolle der Wälder für unsere Gesellschaft und umgekehrt schärfen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

In der Strategie wird betont, dass Holz als nachhaltiger, erneuerbarer, klima- und umweltfreundlicher Rohstoff viele Nutzungsmöglichkeiten bietet. Ressourcen- und energieeffiziente sowie umweltverträgliche Verfahren und Erzeugnisse tragen zur Wettbewerbsfähigkeit des Forstsektors bei und werden gerade in der grünen Wirtschaft der EU eine verstärkte Rolle spielen. Dies wird zu einer gesteigerten Nachfrage und damit zu dem Bedarf einer Erhöhung der nachhaltigen Holzmobilisierung führen. Es wird als notwendig erachtet, eine Neubewertung der potentiellen Holzversorgung vorzunehmen, zum Beispiel über die Kartierung der forstlichen Besitzstrukturen und die Frage der Erleichterung der nachhaltigen Holzmobilisierung. Geeignete Lösungen für eine nachhaltige Holzmobilisierung sollten im Dialog mit der gesamten Wertschöpfungskette des Forstsektors entwickelt werden.

5.2

Laut Strategie soll die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und den Interessenträgern Grundsätze für die kaskadische Nutzung des Holzes festlegen. Gesetzlich bindende Regelungen zur kaskadischen Nutzung der forstlichen Biomasse, bei der eine bestimmte Bevorzugung der stofflichen Nutzung vorgeschrieben würde, stünden jedoch im klaren Widerspruch zur offenen Marktwirtschaft und zur Freiheit der Marktteilnehmer.

5.3

Wie in der Strategie ausgeführt, wird die Kommission 2014 gemeinsam mit den Mitgliedstaaten eine kumulative Schätzung der anfallenden Kosten in den forstbasierten Industriebranchen infolge der EU-Rechtsvorschriften vornehmen. Da es sich um ein Vorhaben handelt, dass für den gesamten Forstsektor von entscheidender Bedeutung ist, sollten alle Interessenträger der forstlichen Wertschöpfungskette bei dieser Abschätzung eingebunden werden, um auf diese Weise ein umfassendes und vollständiges Bild der Lage im Sektor zu erhalten und einen kohärenten Ansatz wählen zu können.

5.4

Wälder beheimaten eine große biologische Vielfalt und erbringen neben dem Rohstoff Holz und diversen anderen Forstprodukten (z. B. Kork) eine Vielzahl von Ökosystemdienstleistungen, von denen ländliche und städtische Gebiete abhängen. Durch veränderte Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel durch Klimawandel, Einschleppung invasiver gebietsfremder Arten, Wasserknappheit, Brände Stürme oder Schädlinge, werden die Wälder immer stärker belastet und das Risiko von Naturgefahren erhöht. Die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme sowie die Multifunktionalität der Wälder sollten im Mittelpunkt entsprechender Schutzanstrengungen stehen.

5.5

In der Strategie wird das Ziel aufgestellt, die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder in der EU sowie die Sicherung des Ausgleichs der unterschiedlichen Forstbewirtschaftungsformen und die Überprüfung bis zum Jahre 2020 durchzuführen. In diesem Zusammenhang sollte die EU weitere Anstrengungen unternehmen, um Ökosystemdienstleistungen zu bewerten und einen Markt für sie zu entwickeln. Damit ein solcher Markt besser funktionieren kann, sind koordinierte Kompensationsmechanismen der Mitgliedstaaten als Ausgleich zum derzeitigen Marktversagen erforderlich, wozu gehört, dass die Landbesitzer angemessen für die zum Schutze der Ökosystemleistungen erforderlichen Einschränkungen entschädigt werden.

5.6

Neben Holz, das als Nutzholz oder als Energieträger eingesetzt wird, liefern die Wälder auch noch Rohstoffe, die wenig beachtet werden: So ist beispielsweise Kork ein sehr wichtiges Produkt im Mittelmeerraum, das gleich mehrere Vorteile bietet: Kork ist ein Naturprodukt, das auf umweltfreundliche Weise aus erneuerbaren Ressourcen gewonnen wird, ohne Bäume zu fällen. Die Bedeutung der Korkindustrie erklärt sich daraus, dass sie ein wichtiger Arbeitgeber ist und zur Gewährleistung der ökologischen Stabilität des sensiblen und gefährdeten Ökosystems im Mittelmeerraum ist beiträgt.

5.7

Entwicklung und Umsetzung der Forstbewirtschaftungspläne fußen auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit und der guten fachlichen Praxis. Die Strategie enthält eine Forderung nach Einbeziehung von Biodiversitätsaspekten, wie die Erhaltungsziele von Natura 2000, in betriebliche Forstbewirtschaftungspläne. Die Verflechtung von Forstbewirtschaftstungsplänen, die betriebliche Planungsinstrumente für Waldbesitzer sind, mit den Natura-2000-Managementplänen, die der Planungsarbeit der lokalen Gebietskörperschaften dienen, würde Unklarheiten bezüglich der Planungsebenen und Zuständigkeiten entstehen lassen. Überdies müsste mit einem erheblichen Mehraufwand und entsprechenden Kosten bei der Erstellung eines Forstbewirtschaftungsplanes kalkuliert werden.

5.8

Die Häufung von extremen Wettererscheinungen als Boten des Klimawandels erfordert auch für Europas Wälder eine aktive Herangehensweise. Die Kommission unterstützt daher den Ansatz der Kommission, dass die Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Wälder erhalten und gesteigert werden sollen. Forstliches Vermehrungsgut von Baumarten und künstliche Hybriden mit forstlicher Bedeutung sollten dabei nicht nur den verschiedenartigen Bedingungen genetisch angepasst und von hoher Qualität sein, sondern einen nachhaltigen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten.

5.9

In der Strategie fordert die Kommission die Schaffung eines Rahmens für Maßnahmen zur Prävention, Minimierung und Abschwächung der nachteiligen Auswirkungen invasiver gebietsfremder Arten auf Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen. Entsprechende Maßnahmen sollen auch sozialen und wirtschaftlichen Schäden begegnen. Ein ganzheitlicher und wissenschaftlich fundierter Ansatz sollte jedoch auch bei der Priorisierung zur Bekämpfung invasiver gebietsfremder Arten anhand strikter Auflistungskriterien gelten. Von einer Aufnahme von forstlichem Vermehrungsgut mit gebietsfremden Ursprung, das sich nicht invasiv verbreitet und keine negativen Auswirkungen auf den neuen Standort hat, soll hierbei abgesehen werden, da es, gerade in Bezug auf den Klimawandel, einen positiven Beitrag zur derzeitigen und zukünftigen Rohstoffversorgung leisten sowie weitere Ökosystemdienstleistungen erbringen kann.

5.10

Laut Strategie soll die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und den Interessenträgern Kriterien für die nachhaltige Forstwirtschaft festlegen, die unabhängig von der Endverwendung des Holzes sind. Bei der Erarbeitung von Kriterien für eine nachhaltige Forstwirtschaft muss eine ganzheitliche Perspektive gewählt werden, die jedwede Endverwendung des Holzes abdeckt. Etwaige Kriterien sollten dabei an bereits etablierte Kriterien, Indikatoren und Grundsätze der nachhaltigen Forstwirtschaft anknüpfen, so auch an jene, die im Zusammenhang mit dem FOREST-EUROPE-Prozess ausgearbeitet wurden und die Nachhaltigkeit auf Länder- und Regionenebene erfassen. Zusätzlich sollten diese Kriterien den spezifischen Gegebenheiten der Mitgliedstaaten und ihren jeweiligen Forstgesetzgebungen Rechnung tragen.

5.11

In der Strategie ist vorgesehen, dass die Einbindung der betroffenen Interessengruppen auch bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Forststrategie weitergeführt wird. Bewährte Einrichtungen wie der Beirat für Forstwirtschaft und Kork und der Beratende Ausschuss für die Holzwirtschaftspolitik sollten auch künftig die Plattform der Zusammenarbeit mit den Kommissionsdienststellen bilden. Bei der Umsetzung der Strategie sollten Fragen, die die Forstwirtschaft und den Verlauf der Umsetzung der Forststrategie betreffen, regelmäßig in diesen Gremien erörtert werden. Gegebenenfalls könnte auch die Bildung von Ad-hoc-Gruppen, in die auch Vertreter des EWSA und des AdR einzubeziehen sind, ins Auge gefasst werden.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  FOREST EUROPE — Zwischenstaatlicher Verhandlungskomitee für den Abschluss eines rechtlich bindenden Abkommens über die Wälder in Europa, siehe auch: http://www.forestnegotiations.org/

(2)  Für Forstwirtschaft und Wälder sind die folgenden Europäischen Innovationspartnerschaft maßgeblich:

EIP „Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit“: http://ec.europa.eu/agriculture/eip/index_en.htm

EIP „Rohstoffe“: https://ec.europa.eu/eip/raw-materials/en

EIP „Wasser“: http://ec.europa.eu/environment/water/innovationpartnership/

(3)  Link zu http://bridge2020.eu

(4)  http://ec.europa.eu/europe2020/targets/eu-targets/

(5)  ABl. C 55 vom 24.2.1997, S. 22.

(6)  COM(1998) 649 final vom 18. November 1998.

(7)  Entschließung des Rates, ABl. C 56 vom 26.2.1999, S. 1 sowie Schlussfolgerungen des Rates zu einem EU-Forstaktionsplan, 2662. Tagung des Rates Landwirtschaft und Fischerei, 30./31. Mai 2005.

(8)  COM(2005) 84 final vom 10. März 2005.

(9)  COM(2006) 302 final vom 15. Juni 2006.

(10)  SWD(2013) 342 und 343 „A blueprint for the EU forest-based industries“ vom 20. September 2013.

(11)  Der aktuelle Verhandlungstext ist unter folgender Internetadresse verfügbar: http://www.forestnegotiations.org/INC/ResINC4/documents

(12)  Stellungnahme zur Forststrategie 1998, CESE 1138/99, NAT/034, ABl. C 51 vom 23.2.2000, S. 97-104; Stellungnahme zum Bericht über die Durchführung der EU-Forststrategie, CESE 1252/2005. CESE 1252/2005, NAT/278, ABl. C 28 vom 3.2.2006, S. 57-65.

(13)  Siehe Erwägungsgrund 25 der ELER-Verordnung, R 1305/2013.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/134


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über ein Programm „Saubere Luft für Europa“

COM(2013) 918 final,

zu dem

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verringerung der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe und zur Änderung der Richtlinie 2003/35/EG

COM(2013) 920 final — 2013/0443 (COD),

zu dem

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Begrenzung der Emissionen bestimmter Schadstoffe aus mittelgroßen Feuerungsanlagen in die Luft

COM(2013) 919 final — 2013/0442 (COD)

und zu dem

Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Annahme der Änderung des Protokolls von 1999 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon

COM(2013) 917 final

(2014/C 451/22)

Berichterstatter:

Antonello PEZZINI

Das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission beschlossen am 13. Januar 2014 bzw. am 15. Januar 2014 und am 18. Dezember 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Programm für saubere Luft für Europa.

COM(2013) 918 final,

zu dem

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verringerung der nationalen Emissionen bestimmter Luftschadstoffe und zur Änderung der Richtlinie 2003/35/EG.

COM(2013) 920 final — 2013/0443 (COD),

zu dem

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Begrenzung der Emissionen bestimmter Schadstoffe aus mittelgroßen Feuerungsanlagen in die Luft.

COM(2013) 919 final — 2013/0442 (COD),

zu dem

Vorschlag zur Annahme der Änderung des Protokolls von 1999 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon.

COM(2013) 917 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am Donnerstag, 19. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 82 Stimmen gegen 1 Stimme ohne Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht nachdrücklich, dass eine gesunde Umwelt mit einer optimalen Qualität sauberer Luft gewährleistet werden muss — dies sind grundlegende Voraussetzungen für angenehme Lebens- und Arbeitsbedingungen aller europäischer Bürger; er bedauert, dass dieses wesentliche Element für Europa nicht mehr mit dem notwendigen Gewicht zu den Prioritäten der europäischen und nationalen politischen Agenda zählt.

1.2

Der EWSA fordert das neue Parlament, die neue Kommission und den Rat auf, künftigen Maßnahmen der europäischen Institutionen für die Wahrung einer gesunden und sauberen atmosphärischen Umwelt die größtmögliche politische Priorität zu gewähren und die sozialen Akteure und die organisierte Zivilgesellschaft uneingeschränkt daran zu beteiligen.

1.3

Nach Ansicht des EWSA gehört die Luftverschmutzung zu den schlimmsten Gefahren für die Gesundheit des Menschen und die Umwelt mit starken negativen Auswirkungen in puncto Atemwegserkrankungen, vorzeitige Todesfälle, Eutrophierung und Schädigung der Ökosysteme und begrüßt die Kommissionsinitiative zur Auflage eines neuen Programms „Saubere Luft“ und zur Verringerung des Verlustes der Lebenserwartung in der EU von 8,5 Monaten im Jahr 2005 auf 4,1 Monate im Jahr 2030; dies bedeutet einen Gewinn von 180 Millionen Lebensjahren und 2 00  000 km2 für die biologische Vielfalt.

1.3.1

Der EWSA ist überzeugt, dass Impulse für den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft in Europa eine Zielvorgabe für 2030 mit einer verlässlicheren mittel- bzw. langfristigen Perspektive erfordern, die für Unternehmen und Investoren unerlässlich ist.

1.4

Nach Ansicht des EWSA sollte die Anwendung der Euro-6-Grenzwerte für NOx-Emissionen leichter Dieselmotoren — auf der Grundlage im realen Fahrbetrieb gemessener Emissionswerte — beschleunigt werden; dasselbe gilt für die Modalitäten zur Ersetzung der Zweitaktmotoren, denn der Ausschuss ist skeptisch, ob diese Maßnahmen bereits 2020 die gewünschten Ergebnisse erzielen können.

1.5

Der EWSA unterstützt das — sowohl in dem Programm „Saubere Luft“ als auch im Klima- und Energierahmen 2020-2030 verankerte — endgültige Ziel der Kommission, den Emissionsgrenzwert für das Jahr 2030 auf eine 70 %-ige Schließung der Lücke zwischen dem derzeitigen Referenzwert und der maximal technisch möglichen Emissionsverringerung (MTFR) festzusetzen.

1.6

Nach Ansicht des Ausschusses erfordert die Verfolgung dieses Ziels — das sämtliche Beteiligte anwenden und umsetzen müssen — ein entschlossenes Vorgehen, das unter anderem folgende Punkte umfasst:

Aufnahme der Verpflichtungen zur Verringerung der Methanemissionen im Jahr 2020 und der Quecksilberemissionen in den Jahren 2020, 2025 und 2030;

striktere Emissionsgrenzwerte für mittelgroße Feuerungsanlagen;

Ablehnung von Ausnahmeregelungen zu der Richtlinie über Industrieemissionen im Falle konkreter Gesundheitsgefahren;

spezifische Maßnahmen zur Verringerung von Ammoniak und Methan im Agrarsektor;

entschlosseneres Vorgehen bei Verkehrsemissionen, einschließlich der Systeme zur Messung unter realistischen Bedingungen und Durchführung entsprechender Prüfungen im Jahr 2014 bei der Einführung der Euro-6-Standards;

wie 2008 vereinbart, entschlossene Umsetzung der NOx-und SO2-Standards der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) für Schiffe in allen Europa umgebenden Meeresgebieten als Emissionskontrollgebiete bis 2016;

Maßnahmen für strenge Normen im Bereich Feinstaub für neue Haushaltsgeräte;

Entwurf und Konzeption umweltfreundlicher Maschinen und Anlagen;

vollständige Berücksichtigung des Produktlebenszyklus — Lebenszyklusanalyse (LCA);

mittel- bis langfristige Planbarkeit und keine Überschneidung der Interventionsmaßnahmen;

Förderung der Sensibilisierung und Aufklärung der Verbraucher, Arbeitnehmer und jungen Menschen hinsichtlich der Wahrung und Entwicklung gesunder Voraussetzungen in den Bereichen Produktion, Freizeit und Unterkunft;

Förderung von Forschung und Investitionen in puncto innovativer Marktanwendungen (BAT), nachhaltigem Wachstum sowie gesunder und dauerhafter Beschäftigung;

internationale Dimension der Maßnahmen ökologischer Nachhaltigkeit;

Gewährleistung von Kohärenz zwischen dieser neuen Strategie und den anderen Maßnahmen und Zielen der EU.

1.7

Der Ausschuss teilt uneingeschränkt die Auffassung, dass die in dem Protokoll des Übereinkommens von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung vereinbarten Änderungen in die Rechtsvorschriften der EU aufgenommen werden müssen.

1.8

Zwar sind die langfristigen Qualitätsziele der vorgeschlagenen Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen (NERC) unbestreitbar, doch ist der EWSA enttäuscht, dass die Ziele für 2025 nicht verbindlich sind, sodass ihre uneingeschränkte Durchsetzung nicht gewährleistet ist.

1.9

Der Ausschuss betont, dass die Wahrung einer gesunden und sauberen atmosphärischen Umwelt in regionalpolitische Maßnahmen aufgenommen werden muss, denn er ist überzeugt, dass das Luftqualitätsmanagement aufgrund des hohen akkumulierten Verschmutzungsgrads und spezifischer regionaler meteorologischer Voraussetzungen nur dann funktionieren kann, wenn es durch EU-Maßnahmen zur Emissionsverringerung unterstützt wird.

1.10

Die nationalen Regierungen und die lokalen Gebietskörperschaften müssen sich beständig um die Planung konkreter Maßnahmen zur Verringerung der Schadstoffemissionen bemühen, indem sie ausführliche Luftqualitätspläne (PRIA, regionale Aktionspläne für Luftqualität) ausarbeiten, deren Schwerpunkt auf folgenden Bereichen liegt: Erzeugung, Landwirtschaft, Dienstleistungssektor, Privatsektor und Energieerzeugung und -vertrieb. Die Kommission sollte eine klare Botschaft bezüglich ihrer effektiven Umsetzung vermitteln und rasche und entschlossene Maßnahmen gegen zuwiderhandelnde Mitgliedstaaten vorsehen. Der EWSA erkennt indes an, dass mehrere Mitgliedstaaten bereits Schritte in die richtige Richtung unternommen haben.

1.11

Notwendig sind Maßnahmen zur Einbeziehung der Berufsverbände, der organisierten Zivilgesellschaft, der NGO, des Dienstleistungssektors, der Ausbildungszentren sämtlicher Ebenen und der Forschungszentren, um das Ziel einer ständigen Verbesserung der Luftqualität zu erreichen. Dies ist für das Wohlergehen der Bürger und das Ökosystem unerlässlich.

1.12

Der Ausschuss betont, dass neue Impulse für eine nachhaltige Entwicklung der europäischen Wirtschaft erforderlich sind, die der Lebensqualität, der Qualität der Beschäftigung, der Gesundheit der Unionsbürger und dem Umweltschutz — in enger Übereinstimmung mit allen anderen politischen Prioritäten der Europa-2020-Strategie — Vorrang gewährt. Dies muss sich vollständig in eine umfassende Strategie für den Übergang zu einem weltweiten Gleichgewicht auf der Grundlage eines qualitativen Wirtschaftswachstums einfügen, die zur Beseitigung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit beiträgt. Dabei wird zugleich für die Erhaltung der natürlichen Ressourcen für die künftigen Generationen gesorgt.

2.   Einleitung

2.1

Die Luftverschmutzung stellt eine ernste Gefahr für die Gesundheit des Menschen und für die Umwelt dar: Atemprobleme, vorzeitige Todesfälle, Eutrophierung und Schädigung der Ökosysteme aufgrund der Ablagerung von Stickstoff und saurer Stoffe sind nur einige Auswirkungen dieses zugleich örtlichen und grenzüberschreitenden Problems.

2.2

Die Maßnahmen der EU und der internationalen Gemeinschaft der letzten Jahrzehnte waren bereits erfolgreich und haben einige Probleme in Zusammenhang mit der Luftverschmutzung verringert; so wurden die Schwefeldioxidemissionen — die sauren Regen verursachen — um über 80 % reduziert.

2.3

Trotz dieser Fortschritte ist die EU noch weit von ihrem langfristigen Ziel entfernt: Verbesserung der Luftqualität, um die Gefahr erheblicher Schädigungen der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu bannen; außerdem verursachen Feinstaubpartikel und Ozon in der Troposphäre weiterhin gravierende Probleme, die Schätzungen der Kommission zufolge (1) jährlich zu 4 06  000 Todesfällen führen.

2.4

Insbesondere Feinstaub und Ozon stellen nach wie vor ernste Gesundheitsrisiken dar: Die sicheren Grenzwerte für diese Substanzen werden regelmäßig überschritten.

2.5

Nach Schätzungen der Kommission belaufen sich die durch Luftverschmutzung ausgelösten externen Gesundheitseffekte für die Gesellschaft auf jährlich insgesamt 330-940 Milliarden Euro, während die vorgeschlagenen Ziele für 2030 Einsparungen ihn Höhe von 44 bis 140 Milliarden Euro bedeuten würden.

2.6

Der Kommission zufolge sind aufgrund der Luftverunreinigung 2010 in der EU Hunderttausende vorzeitiger Todesfälle zu verzeichnen, außerdem waren nahezu zwei Drittel aller Flächen schädlichen Kontaminationen ausgesetzt. Dies ist auf die Emissionen zurückzuführen.

2.7

Was die Gesundheit der europäischen Bürger anbelangt, so werden die Kosten für Krankenhausaufenthalte auf vier Milliarden Euro und die verlorenen Arbeitstage auf 100 Millionen pro Jahr beziffert.

2.8

Auf internationaler Ebene haben die USA im Dezember 2012 beschlossen, die jährlichen Luftqualitätsnormen zu überprüfen und den Feinstaubgrenzwert auf 12 Mikrogramm pro Kubikmeter festzulegen, d. h. weit unter dem Grenzwert der geltenden EU-Norm von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Die chinesische Regierung hingegen hat lediglich für den Großraum Peking Investitionen in die Luftqualitätskontrolle beschlossen, die sich in den nächsten fünf Jahren auf 160 Milliarden Euro belaufen sollen. Die EU würde somit nicht mit den internationalen Maßnahmen Schritt halten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die allgemeinen Ziele einer deutlichen Verbesserung der Luftqualität mit dem Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft mit Blick auf den Gesundheits- und den Umweltschutz, wie sie in der überarbeiteten Strategie der Kommission zur Luftreinhaltung (2005) bzw. in ihrem Programm „Saubere Luft für Europa“ beschrieben werden.

3.2

Von Anfang an wurden aufgrund der unterschiedlichen Umweltbedingungen die Ziele zur Emissionsbegrenzung für jeden Mitgliedstaat nach Kosteneffizienzüberlegungen festgelegt. Die geforderten Emissionsverringerungen schwanken von Land zu Land nach dem Grundsatz: „differenzierter Ansatz statt einheitlicher Werte“.

3.2.1

Angesichts der schädlichen Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit, auf die Lebensqualität sowie auf die Ökosysteme ist der Ausschuss darüber besorgt, dass der Luftqualität auf der europäischen und der nationalen politischen Agenda nicht mehr das notwendige Gewicht beigemessen wird. Seiner Ansicht nach muss ein Ziel für die Emissionsverringerung in der Europäischen Union bis 2030 mit einer sowohl für die Unternehmen wie die Anleger wichtigen mittel- bis langfristigen Perspektive aufgestellt werden, um Anreize für den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft in Europa zu setzen.

3.3

Die Überprüfung der Strategie zur Luftverschmutzung zielt darauf ab, die aktuellen Verstöße gegen bestehende Qualitätsstandards zu beenden, damit die Vorschriften spätestens ab 2020 voll und ganz eingehalten und die NOx-Emissionen leichter Dieselmotoren nach Maßgabe von Euro 6 auf der Grundlage im realen Fahrbetrieb gemessener Emissionswerte verringert werden. Der EWSA bezweifelt, dass diese Maßnahmen die gewünschten Wirkungen bereits 2020 zeigen können, da die Vorschriften erst 2017 in Kraft treten und die Erneuerung des bestehenden Fuhrparks mehr Zeit als bis 2020 erfordern könnte.

3.4

Diese Strategie basiert unter anderem auf dem Beitrag lokaler und regionaler Maßnahmen — mit all ihren inhärenten Beschränkungen: Bislang war die Wirksamkeit der regionalen Maßnahmen begrenzt, insbesondere in Bezug auf den hohen akkumulierten Verschmutzungsgrad und spezifische regionale meteorologische Voraussetzungen. Der EWSA ist überzeugt, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität auf diesen Ebenen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie durch Maßnahmen der EU zur Verringerung der Emissionen am Entstehungsort unterstützt werden.

3.5

Nach Ansicht des EWSA muss die Kommission jedoch eine Vielzahl von Faktoren gleicher Bedeutung und Relevanz berücksichtigen:

Kosten-Nutzen-Bewertung der vorgeschlagenen Maßnahmen;

Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Innovationen;

internationale Dimension der Maßnahmen ökologischer Nachhaltigkeit;

Entbürokratisierung und Straffung der Prozesse;

Kohärenz und Koordinierung zwischen den verschiedenen betroffenen Bereichen der EU-Politik;

Unterstützung der diesbezüglichen Schulung und Weiterbildung durch die EU und die Mitgliedstaaten;

Schwerpunkt auf europäischen und nationalen Bemühungen im Bereich der Forschung und Innovation (F&I) zur Anwendung der besten Markttechnologien;

entschlossene Anwendung neuer Qualitätsstandards in allen betroffenen Bereichen.

3.5.1

Nach Ansicht des Ausschusses muss die politische Priorität auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten auf folgenden Themen liegen: Forschung und Innovation sowie Themen der Aus- und Weiterbildung. Diese muss auf die Wiederankurbelung von Wachstum, auf nachhaltige Beschäftigung sowie eine hochwertige Reindustrialisierung der europäischen Wirtschaft ausgerichtet sein. Dies gilt insbesondere für KMU und Unternehmensgründungen, wobei die gegenwärtigen Haushaltszwänge der EU überwunden werden müssen.

3.6

Außerdem sollte nach Ansicht des EWSA die Kohärenz dieser neuen überarbeiteten Strategie mit den anderen politischen Maßnahmen der Union sichergestellt sein. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass trotz der Freisetzung von PM 2,5-Feinstaubpartikeln bei der häuslichen Holzfeuerung der Einsatz von Holz als alternativer Energiequelle gefördert wird, obwohl hierzu die Einteilung der Geräte in Emissionsklassen und eine Bewertung ihres Wirkungsgrads erforderlich wäre.

3.7

In jedem Fall muss nach Ansicht des EWSA in dem internationalen Klimaabkommen bis 2015 eine Reihe von Faktoren gleicher Bedeutung und Relevanz berücksichtigt werden.

3.8

Der EWSA unterstreicht, wie wichtig es ist, öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) auf europäischer Ebene zu fördern, wie etwa das gemeinsame Unternehmen für die Initiative Clean Sky 2 2014-2020, das zur Verringerung der Emissionen des Luftverkehrs und zu den Forschungstätigkeiten gemäß der Verordnung (EG) Nr. 71/2008 und dem Rahmenprogramm Horizont 2020 beitragen soll.

4.   Besondere Bemerkungen (I)

4.1   Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverschmutzung (1979)

4.1.1

Das unter der Schirmherrschaft der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) geschlossene Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverschmutzung ist mit seinen acht Protokollen, einschließlich des Protokolls von 1999, der wichtigste internationale Rechtsrahmen für die Zusammenarbeit und für Maßnahmen zur Begrenzung und schrittweisen Verringerung der Luftverschmutzung.

4.1.2

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Änderungen des Protokolls in EU-Recht umgesetzt werden müssen.

4.2   Der Vorschlag für eine überarbeitete Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen (NERC)

4.2.1

In dem Richtlinienvorschlag werden für jeden Mitgliedstaat nationale Verpflichtungen zur Emissionsverringerung („NERC“) für 2020, 2025 und 2030 festgelegt — in prozentualen Angaben zu der jährlichen Emissionsverringerung von Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffoxid (NOx), Ammoniak (NH3), flüchtigen organischen Nichtmethanverbindungen, Feinstaub (PM 2,5) und Methan (CH4) bezüglich der Gesamtemissionen jedes dieser Schadstoffe, die 2005 in den einzelnen Mitgliedstaaten freigesetzt wurden.

4.2.2

In den vergangenen 20 Jahren wurden in der EU erhebliche Fortschritte bei der Luftqualität und den anthropogenen Emissionen in die Luft erzielt — mit einschlägigen Maßnahmen und Strategien der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die langfristig eine Luftqualität erreichen sollten, die gemäß dem Siebten Umweltaktionsprogramm keine erheblichen negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit bzw. die Umwelt hat und keine diesbezüglichen Gefahren birgt (2).

4.2.3

Dies erscheint evident, auch wenn sich das Tempo der Fortschritte in puncto Luftqualität eindeutig verlangsamt hat. Die momentan vorgeschlagenen Ziele sind de facto weniger ehrgeizig als diejenigen Niveaus, die in den Mitgliedstaaten bei voller Anwendung der bestehenden EU-Vorschriften erzielt würden.

4.2.4

Die langfristig vorgeschlagenen Qualitätsziele sind praktisch unstrittig, doch ist der Ausschuss enttäuscht, dass die Ziele für 2025 angesichts der festgestellten Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der geltenden Standards nicht verbindlich sind.

4.2.5

Nach Ansicht des EWSA bedarf es verstärkter Plattformen für einschlägige und interaktive Dialoge zur Bewertung der Bestimmungen des Richtlinienvorschlags.

4.3   Vorschlag für eine Richtlinie über Emissionen aus mittelgroßen Feuerungsanlagen

4.3.1

Nach Auffassung des EWSA muss die Ausdehnung der Begrenzung der Emissionen von Luftschadstoffen aus Feuerungsanlagen mit einer Feuerungswärmeleistung von 1 bis 50 MW, die für ein breites Spektrum an Anwendungen benutzt werden, mit vereinfachten und wenig kostspieligen Verfahren einhergehen, um die Entwicklung von kleinen und mittleren und neu gegründeten Unternehmen sowie weit verbreiteter kleinerer Infrastrukturen zu unterstützen und fördern.

5.   Besondere Bemerkungen (II)

5.1

Luftschadstoffe können aus verschiedenen Quellen freigesetzt und auch über weite Strecken befördert werden.

5.2

Für eine vollständige Verwirklichung des Programms „Saubere Luft für Europa“ sollten die Regionen die sozialen Akteure und die organisierte Zivilgesellschaft konsultieren und anschließend die Pläne für Luftqualität (PRIA) ausarbeiten und annehmen, in denen vor allem folgende Aspekte berücksichtigt werden sollten:

Straßen-, See- und Luftverkehr und Mobilität;

Energieerzeugung und -verbrauch;

das Produktionssystem;

der Dienstleistungssektor;

die Agrarwirtschaft, Tierhaltung und Forstwirtschaft;

der private Sektor.

5.3

Mit dem von der Kommission vorgelegten Maßnahmenpaket für saubere Luft werden die bisherigen Maßnahmen wieder aufgenommen und verstärkt, um entgegen der politischen Agenda die Bekämpfung der Luftverschmutzung fortzusetzen.

5.3.1

Nach Ansicht des EWSA ist es wesentlich, die regionale und die territoriale Ebene sowie die nationale Ebene zusammen mit den sozialen Akteuren und der organisierten Zivilgesellschaft in diesen Prozess einzubeziehen.

5.4   Vorschläge für Pläne zur lokalen Umsetzung des Maßnahmenpakets für saubere Luft

5.4.1

Bei der lokalen Umsetzung des Maßnahmenpakets für saubere Luft müssen die notwendigen Synergien mit den verschiedenen Plänen für folgende Bereiche ermittelt werden:

Abfälle, energetische Verwertung, Verringerung des pro-Kopf-Aufkommens, Rückgewinnung von Materialien;

Verkehr und Mobilität, Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel, Fahrradwege, Förderung der Mobilität und niedrige CO2-Emissionen, Integration der Verkehrsträger, See- und Luftverkehr;

Raum- und Stadtplanung, Flächenverbrauch, Entwicklung neuer Siedlungsmodelle, Energetische Sanierung des Gebäudebestands;

Landwirtschaft und Tierzucht, Kette Wald-Holz-Energie (Null-km), Biomasse und Biogas, Verringerung der Ammoniakemissionen, Kohlenstoffsenken;

Industrie, technologische Entwicklung mit geringen Umweltauswirkungen, Innovation und Qualitätszertifizierung (ISO 14 und EMAS), Schwerpunkt auf der umweltgerechten Gestaltung, Ökolabel für bestimmte Produkte, Systeme zur Energieeinsparung und die Übereinstimmung mit den Bestimmungen über den Verbrauch von Elektromotoren.

5.4.2

Bei der Umsetzung auf lokaler Ebene müsste schließlich auch dringenderen Maßnahmen Rechnung getragen werden, die sich aus den wirtschaftlichen und produktiven Gegebenheiten vor Ort ergeben und neben Verpflichtungen und Anreizen zur Erneuerung des Fuhrparks Regeln für die Biomasseverbrennung vorsehen.

5.5

Maßnahmen zur weiteren Begrenzung der SO2-(Schwefeldioxid)-Emissionen sind insbesondere in denjenigen Regionen notwendig, in denen erhebliche Industrieemissionen erfolgen, Energie erzeugt bzw. Kraftstoffe raffiniert werden.

5.6   Maßnahmen in der Landwirtschaft

5.6.1

Überall in der EU, besonders in weitgehend landwirtschaftlich geprägten Gebieten, müssen Maßnahmen zur Verringerung von NH3 (Ammoniak), N2O (Distickstoffoxid), CH4 (Methan) und VOC (Flüchtige Organische Verbindungen) ergriffen werden, wie sie bereits in mehreren Mitgliedstaaten eingeführt worden sind. Der Einsatz von Stickstoff- und Jauchedüngern ist die Hauptquelle (98 %) der NH3-Emissionen, die in Reaktion mit SO2 und NO2 Ammoniumsalze — die Hauptkomponente der Partikel — bilden.

5.6.2

Es erscheint äußerst wichtig, für eine vollständige Einhaltung der Nitrat-Richtlinie (Richtlinie 91/676/EEG) zu sorgen, die Abdeckung der Lagerbehälter für Dung vorzuschreiben, Recyclingsysteme zu schaffen, bei denen durch anaerobe Fermentation Gärreste mit denselben Merkmalen wie synthetischer Dünger erzeugt werden, sowie Dung und die Ausbreitung seiner gesundheitsschädlichen Jauche ordnungsgemäß zu handhaben. Allerdings muss bei diesen Maßnahmen ein Gleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Interessen angestrebt werden. Die Emissionsverringerung im Agrarsektor ist ein äußerst komplexes Unterfangen, für das mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung nötig sind.

5.6.3

Notwendig ist der Einsatz landwirtschaftlicher Fahrzeuge mit geringen Feinstaubemissionen.

5.6.4

Der EWSA betont, dass es bereits eine Reihe von Vorschriften für den Sektor gibt, die aber erst noch vollständig umgesetzt werden müssen und unterstreicht, dass die Kommission die Gelegenheit verpasst hat, einen konsolidierten Rechtsrahmen zur Beschränkung der Emissionen festzulegen. Rinder bleiben in dieser Mitteilung außerhalb des Anwendungsbereichs. Gleichwohl gibt es andere Vorschriften in Bezug auf Rinder, die am stärksten zu den Ammoniak-Emissionen beitragen.

5.7   Maßnahmen in den Stadtzentren

5.7.1

In Ballungszentren und Gebieten mit hohem Verkehrsaufkommen muss den Emissionen an PM 2,5, PM 10 (Feinstaub mit einem Durchmesser von weniger als 10 Mikrometern), CO und CO2 (Kohlenmonoxid und Kohlendioxid) sowie der Reduzierung der NOx-Emissionen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. In Dieselmotoren — und mit experimentellen Filtern auch in Benzinmotoren — können Partikelfilter (geschlossene Filter) bei der Emissionsreduzierung einen Wirkungsgrad von über 90 % erreichen.

5.7.2

In Schul- und Bürogebäuden, die an Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen liegen, ist es äußerst wichtig, Isolierungsmaßnahmen der opaken und transparenten vertikalen Wände vorzusehen, um die Verschmutzung durch VOC und Feinstaub (PM 10 und PM 2,5) zu beschränken (3).

5.8   Verkehrsmaßnahmen auf den verschiedenen Ebenen (Kommunen, Regionen, Einzelstaaten und EU)

5.8.1

Bei Nutzfahrzeugen und Pkw sollte vorgesehen werden, mit Hilfe von Verkehrsbeschränkungen und Anreizmaßnahmen die Euro-3-Fahrzeuge durch Euro-5- und Euro-6-Fahrzeuge zu ersetzen. Nach denselben Modalitäten sollten der Euro-1-Norm entsprechende Zweitaktmotoren (Motorräder, Mopeds, Kettensägen und Rasenmäher) ersetzt werden. Folgende Maßnahmen sollten daher auf den verschiedenen Ebenen (Kommunen, Regionen und Einzelstaaten) getroffen werden:

5.8.1.1

Sobald möglich auf Ebene der EU und der Einzelstaaten — ohne die Frist von 2017 abzuwarten — Verabschiedung angemessener Methoden zur Messung der NOx-Emissionen leichter Diesel-Fahrzeuge, da sie äußerst negative Auswirkungen auf die Luftqualität in den Städten haben.

5.8.1.2

Die Verbreitung von Methan und LPG (Flüssiggas), Wasserstoff, Flüssigerdgas, Ethanol und anderen fortschrittlichen Biokraftstoffen sollte auf nationaler und regionaler Ebene gefördert werden. Die Entwicklung der Elektromobilität und der Ladeinfrastrukturen sollte beschleunigt werden. Die Emissionsklasse der am Straßenverkehr teilnehmenden Fahrzeuge sollte sich mit Hilfe eines elektronischen On-Board-Geräts ermitteln lassen.

5.8.1.3

Die Nutzung von Methangas sollte gefördert werden, indem Unternehmen und Gemeinden für den Bau von Netzen bzw. den Ausbau der bestehenden Netze finanzielle Unterstützung auf Ebene der EU, der Einzelstaaten und der Kommunen gewährt wird.

5.8.1.4

Es gilt, mittels mehrjähriger, auf nationaler und lokaler Ebene kofinanzierter EU-Projekte die Investitionen in den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu finanzieren. Die Busse müssen:

ökologisch sein und mit alternativen Kraftstoffen betrieben werden;

einen bimodalen Hybridantrieb besitzen;

über einen elektrischen Antrieb (vollelektrisch mit Bordbatterien) verfügen und an der Steckdose oder über Induktionssysteme (Faraday) aufladbar sein.

5.8.1.5

Die Potenziale der Interaktivität zwischen den festen Strukturen, den Informationstechnologien und den Verkehrsträgern sind zu nutzen. Insbesondere sollte der Einsatz von Materialien, die Nanopigmente von Titandioxid (TiO2), als fotokatalytisch aktive Substanz enthalten, welche Schadstoffmoleküle spalten und so in gesundheitlich unbedenkliche Stoffe umwandeln (Straßen, Lärmschutzwände, Putz und andere Bauwerke), gefördert werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang die durch das i.active COAT-Italcementi-Patent eingerichteten Autobahnkreuzungen, welche die Luft reinigen und als sehr helle Rückstrahler fungieren.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2013) 918 final.

(2)  COM(2012) 710 final.

(3)  Vgl. Norm EN 15242:2008 Lüftung von Gebäuden — Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Luftvolumenströme in Gebäuden einschließlich Infiltration.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/142


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 hinsichtlich der Beihilferegelung für die Abgabe von Obst und Gemüse, Bananen und Milch in Bildungseinrichtungen

COM(2014) 32 final — 2014/0014 (COD)

(2014/C 451/23)

Berichterstatter:

Adalbert KIENLE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 6. Februar 2014 bzw. am 19. Februar 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 und 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 hinsichtlich der Beihilferegelung für die Abgabe von Obst und Gemüse, Bananen und Milch in Bildungseinrichtungen.

COM(2014) 32 final — 2014/0014 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt-schutz nahm ihre Stellungnahme am 19. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) einstimmig mit 185 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA befürwortet die Schaffung eines gemeinsamen rechtlichen und finanziellen Rahmens für die bisher getrennt geführten und geförderten EU-Schulobst- und Schulmilchprogramme.

1.2

Der EWSA begrüßt ganz besonders eine deutliche Verstärkung der pädagogischen Unterstützung des künftigen Programms, das bei voller Ausschöpfung des Potentials ein entscheidend wichtiger Beitrag im Kampf gegen die zunehmende Adipositas bei Kindern und gegen die Lebensmittelverschwendung sein kann.

1.3

Der EWSA erwartet eine deutliche Verringerung des Verwaltungs- und Organisationsaufwandes; den Mitgliedstaaten soll ausreichend Spielraum für ihre Prioritäten und Besonderheiten eingeräumt werden.

1.4

Der EWSA empfiehlt eine klare Präferenz für nachhaltige — möglichst frische saisonale und regionale/lokale — Produkte aus Europa.

2.   Einleitung

2.1

Zu unterschiedlichen Zeiten wurden jeweils eigenständige europäische Schulprogramme ins Leben gerufen. War die Zielsetzung ursprünglich vor allem die Absatzförderung, so ist zwischenzeitlich die gesunde Ernährung von Kindern in den Vordergrund gerückt. Das Schulmilchprogramm, im Rahmen der Marktorganisation für Milch, wurde bereits 1977 eingeführt; zuletzt haben pro Jahr rund 20 Mio. Kinder daran teilgenommen. Das Schulobstprogramm hingegen ging 2007 als politische Verpflichtung aus der Reform der gemeinsamen Marktorganisation für Obst und Gemüse hervor; hiervon profitierten zuletzt 8,6 Mio. Kinder. Für die Programme gab es — trotz ähnlicher Zielsetzung und ähnlicher Zielgruppen — unterschiedliche rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen, ebenso Unterschiede in Konzeption und Umsetzung. Beide Programme wurden — bei sehr unterschiedlicher Inanspruchnahme in den Mitgliedstaaten — nicht voll ausgeschöpft.

2.2

Als Konsequenz einer deutlichen Kritik des Europäischen Rechnungshofes und nachfolgend einer gründlichen Evaluierung beider Schulprogramme sowie einer öffentlichen Konsultation schlägt die Europäische Kommission nunmehr einen gemeinsamen rechtlichen und finanziellen Rahmen für die Verteilung von Obst und Gemüse sowie Milch an Schulkinder vor. Weitere Schwachstellen und Mängel sollen beseitigt werden. Vor allem sollen die Programme verstärkt pädagogisch gestützt werden.

2.3

Das neue Programm soll mit den im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik 2020 für die Schulprogramme vorgesehenen erhöhten Haushaltsmitteln ausgestattet sein, d. h. jährlich bis zu 230 Mio. EUR (150 Mio. EUR Schulobstprogramm und 80 Mio. EUR Schulmilchprogramm).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA unterstützt die von der EU unterstützten Programme zur Verteilung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendlich nachdrücklich. Es sei daran erinnert, dass sich der EWSA klar gegen eine frühere Absicht — im Jahre 1999 — der Europäischen Kommission positioniert hatte, die EU-Unterstützung für das Schulmilchprogramm einzustellen.

3.2

Der EWSA betont die herausragende Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung im Kindes- und Schulalter. Andererseits erweist sich Armut, wie sie durch die Finanz- und Wirtschaftskrise verschärft wurde, gerade bei Kindern und Jugendlichen als besonders hohes Ernährungsrisiko. Erschreckend viele Kinder gehen tagtäglich ohne jegliches Frühstück in die Schule. Sowohl die Zunahme von Adipositas als auch der Umfang von Nahrungsmittelverschwendung sind gesellschaftliche Herausforderungen ersten Ranges.

3.3

Der EWSA hofft, auch wenn die Teilnahme der Mitgliedstaaten weiterhin freiwillig ist, dass die neuen Schulprogramme überall in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen und voll ausgeschöpft werden. Der EWSA ist zuversichtlich, dass damit der Anteil von Obst und Gemüse sowie Milcherzeugnissen an der Ernährung von Kindern nachhaltig erhöht werden kann.

3.4

Der EWSA begrüßt ganz besonders die stärkere Gewichtung unterstützender pädagogischer Maßnahmen seitens der EU. Der EWSA sieht sich damit in seinen früheren Forderungen bestätigt. Die Ausprägung gesünderer Ernährungsgewohnheiten gerade im Kindes- und Schulalter zu fördern und die Wahrnehmung der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelketten zu verbessern, sollte von den staatlichen Ebenen wie von Schulen, Eltern, Land- und Ernährungswirtschaft, Zivilgesellschaft und Medien als Verpflichtung und „Gemeinschaftsaufgabe“ angesehen werden, zu der jeder seinen Teil beitragen kann.

3.5

Der Dreh- und Angelpunkt für den Erfolg dieser Schulprogramme sind die Lehrerinnen und Lehrer, die sich erfreulicherweise zunehmend dafür interessieren und engagieren. Eine besondere Motivation für sie kann die zusätzliche Unterstützung der Programme durch nationale Top-up oder durch Sponsoren und zivilgesellschaftliche Fördervereine sein. Letzteres ist besonders in sozialen Brennpunkten wünschenswert. Der EWSA befürwortet deshalb die seitens der Europäischen Kommission initiierten Pilotprojekte für sozial schwache und schutzbedürftige Gruppen.

3.6

Deshalb unterstützt der EWSA auch nachdrücklich die vorgesehenen erweiterten Möglichkeiten, um die Wahrnehmung der lokalen Land- und Ernährungswirtschaft — ihrer Produkte, ihrer Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Leistungen — zu verbessern, etwa durch das Anlegen von Schulgärten, bei Schulausflügen oder Produktverkostungen auf Bauernhöfen und Handwerksbetrieben oder durch das Erlangen eines „Ernährungs-Führerscheins“. Der EWSA hält es für ein Vorbild, dass in einigen Mitgliedstaaten Landwirte die Schulen direkt mit der Schulmilch beliefern und somit ständigen Kontakt mit den Kindern haben.

3.7

Genauso begrüßt es der EWSA, dass auch landwirtschaftliche Erzeugnisse wie z. B. Olivenöl oder Honig bei Gelegenheit erörtert werden können, ebenso wie Fragen des ökologischen Anbaus. Gleiches gilt für Fragen der Umwelt oder der Lebensmittelverschwendung. Der EWSA empfiehlt, dass die flankierenden Maßnahmen sehr frühzeitig evaluiert werden.

3.8

Ein EU-Schulprogramm kann nur erfolgreich sein, wenn es den nationalen und regionalen Besonderheiten, den Gegebenheiten an Kindertagesstätten und Schulen und den Erwartungen der Kinder und Eltern gerecht wird. Gerade auch die Konsultationen haben deutlich bestätigt, dass der zu hohe Verwaltungs- und Organisationsaufwand als häufiges Ärgernis oder gar als Begründung für einen Ausstieg aus der Teilnahme an den bisherigen Schulprogrammen angesehen wird. Umso wichtiger ist es für den EWSA, dass sich bei der Konkretisierung des neuen Schulprogrammes deutliche Synergieeffekte realisieren lassen. Schulen, beteiligte Wirtschaft und Verwaltung müssen einen deutlich niedrigeren Verwaltungs- und Organisationsaufwand haben.

3.9

Die vorgesehene erweiterte Fördermöglichkeit für Logistik und Equipment — etwa für die Kühlung der frischen Nahrungsmittel — sieht der EWSA als richtig und wichtig an.

3.10

Der EWSA hält es für richtig, dass im Rahmen der Schulprogramme die Verteilung von Obst und Gemüse einschließlich Bananen sowie von Milch gefördert werden sollen. Eine Begrenzung auf Trinkmilch hält der EWSA für fragwürdig, sondern empfiehlt die Fortführung einer erweiterten Produktpalette im Milchbereich. unter Berücksichtigung ernährungsphysiologischer und pädagogischer Aspekte. Der EWSA wünscht nachdrücklich, dass frische Lebensmittel aus nachhaltiger europäischer Produktion bevorzugt verwendet werden. Soweit dies im Rahmen der Programme möglich ist, sollten die Produkte und Aktivitäten der Schulprogramme einen saisonalen und regionalen Bezug haben oder zu den von der EU geschützten geografischen Ursprungsbezeichnungen oder Spezialitäten (g.U. und g.g.A.) gehören.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/145


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Internet-Politik und Internet-Governance — Europas Rolle bei der Mitgestaltung der Zukunft der Internet-Governance

COM(2014) 72 final

(2014/C 451/24)

Berichterstatter:

Antonio LONGO

Die Europäische Kommission beschloss am 7. März 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Internetpolitik und Internet-Governance — Europas Rolle bei der Mitgestaltung der Zukunft der Internet-Governance.

COM(2014) 72 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 180 gegen 8 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA bekräftigt insbesondere seine Standpunkte bezüglich der Bedeutung des Internets als wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung, technologische Innovation und soziale Inklusion, die er in den letzten Jahren in mehreren Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht hat.

1.2

Der EWSA teilt vorbehaltlos den Willen der Kommission, nachdrücklich für die Wahrung und Förderung der Grundrechte und demokratischen Werte einzutreten und den Rechtsbegriff des einheitlichen Netzes, für das wie in anderen Wirtschaftsbereichen einheitliche EU-Vorschriften gelten und das nicht durch unterschiedliche, potenziell kollidierende einzelstaatliche Regelungen „fragmentiert“ wird, zu bekräftigen.

1.3

Es ist wichtig, in den Mittelpunkt der künftigen Governance des Netzes den zentralen Wert zu stellen, der darin liegt, dass das Internet offen, dezentral, neutral und unter minimalen Zugangsbeschränkungen für alle zugänglich ist. Nach Auffassung des EWSA werden jedoch in der Mitteilung sowohl der Begriff der kooperativen Governance, zu der die EU beitragen sollte, als auch die Instrumente und Modalitäten, die Entscheidungen über das Internet auf der Grundlage des Multi-Stakeholder-Modells gewährleisten sollen, nur unzureichend definiert. Insbesondere sollte eindeutig geklärt werden, wer für die Kontrollen der Internet-Governance zuständig ist.

1.4

Insbesondere mit Blick auf das Ende der bislang von ICANN wahrgenommenen Funktionen hält es der Ausschuss für zweckmäßig, dass die Kommission unmissverständlich vorgibt, welche Rolle die Europäische Union im Rahmen der künftigen grenzüberschreitenden Organisation spielen soll.

1.5

Zur Stärkung des Vertrauens in das Internet trägt sicherlich ein europäischer, vom Europäischen Parlament beschlossener digitaler Habeas-Corpus-Grundsatz sowie die Umsetzung der im Rahmen des Telecom-Pakets für den europäischen IKT-Binnenmarkt vorgesehenen Maßnahmen bei.

1.6

Die Wahl der technischen Normen kann einschneidende Auswirkungen haben auf die Rechte der Bürger wie z. B. die Meinungsfreiheit, den Datenschutz und die Sicherheit der Nutzer sowie auf den Zugang zu den Inhalten. Bei der Gestaltung des Internet wurden die Bürgerrechte von Anfang an vorbehaltlos unterstützt. Bedrohungen dieser Rechte entstanden durch Maßnahmen von Regierungen und Betreibern von Websites, die von außerhalb des Netzes gesteuert werden. Daher wäre dennoch sinnvoll, Empfehlungen auszusprechen, die die Vereinbarkeit dieser technischen Entscheidungen mit den Menschenrechten sicherstellen.

1.7

Was die rechtlichen Aspekte des Internets anbelangt teilt der EWSA das Bestreben der Kommission, eine Überprüfung der auf internationaler Ebene bestehenden Risiken aufgrund kollidierender Rechtsnormen und gerichtlicher Zuständigkeiten einzuleiten, die häufig durch die unabhängigen Regulierungsbehörden noch verschärft werden.

1.8

Der EWSA gibt zu bedenken, dass in der Mitteilung jeglicher Verweis auf technische und operative Aspekte fehlt, die für den Ausschuss von Belang sind. Die wichtigsten Punkte sind:

Künftige Internetkapazität angesichts des rasant ansteigenden Datenverkehrs und der fehlenden organisierten Kapazitätsplanung;

Netzneutralität, die in der digitalen Agenda als grundlegend anerkannt wird;

Suchmaschinen-Methodik und Ergebnispräsentation, die zu großer Besorgnis Anlass geben.

1.9

Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Inklusion. Der Beitrag der EU zu einer weltweiten Governance des Internet muss auch die Förderung der inklusionspolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der IKT umfassen. Damit sollen die Voraussetzungen für eine wirklich inklusive Gesellschaft geschaffen werden (siehe Charta von Riga (2006) am Rande der Ministerkonferenz „ICT for an inclusive society“, in der eine Reihe von Verpflichtungen vorgesehen sind, um IKT-Lösungen zugunsten einer alternden Bevölkerung und in Bezug auf die eAccessibility in der EU zu entwickeln). Das Internet ist von seiner Gestaltung her inklusiv und das ist in der ICANN-Charta verankert. Der Zugang wird von den Kommunikationsdienstanbietern (CSP) und Internetdiensteanbietern (ISP) kontrolliert, die von den nationalen Behörden reguliert werden. Für die Gewährleistung des inklusiven Charakters sind diese Regulierungsbehörden verantwortlich und in der EU die EU-Kommission.

1.10

Schließlich hofft der EWSA, dass sich das Internet-Governance-Forum (IGF) als Ort der Begegnung für alle am Internet beteiligten Akteure durchsetzt. Die EU muss auf dem nächst IGF im September in Istanbul eine führende Rolle spielen, und die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft müssen an einem Strang ziehen.

2.   Einleitung

2.1

Das Internet hat viele Facetten und unterliegt keiner Gesamtkontrolle. Seine wichtigsten Komponenten sind:

a)

Das Internet ist per definitionem ein Netz der Netze. Die einzelnen Netze sind autonom und viele sind Aktiengesellschaften. Da es kein Gesamtkonzept für die Bewältigung der exponentiellen Zunahme des Internetverkehrs gibt, dürften die physischen Netze der größte Schwachpunkt des Internets mit weitreichenden Folgen für die Entwicklung der globalen Gesellschaft sein.

b)

Die Verwaltung und Registrierung von Domain-Namen (.com) und IP-Adressen, wird dezentral von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) mit Sitz in Kalifornien durchgeführt. Die Beteiligung an der Verwaltung von ICANN ist ein zentraler Punkt der Kommissionsmitteilung.

c)

Die WWW-Normen und -Protokolle werden im Wege der Zusammenarbeit vom World Wide Web Consortium (W3C) entwickelt, wohingegen die Internet Engineering Task Force (IETF) das selbe für das Internet leistet.

d)

Internetdiensteanbieter registrieren die Benutzer und gewähren ihnen Zugang zum Internet.

e)

Browser wie Internet Explorer und Suchmaschinen wie Google ermöglichen den Zugang zum Web. Einige dieser Dienste haben sich als äußert umstritten erwiesen.

f)

Soziale Netzwerkdienste wie Facebook und Twitter haben in vielen Ländern bei sozialen Unruhen und im Kampf um mehr bürgerliche Freiheiten eine zweifelhafte Rolle gespielt.

g)

Cloud Computing-Dienste und Streaming-Media-Dienste treiben das Wachstum des Internetverkehrs immer weiter an. Netflix (Video on demand), das hohe Download-Geschwindigkeiten benötigt, hat in den USA die Netzneutralitäts-Debatte ausgelöst.

h)

Die erforderlichen Maßnahmen für eine Optimierung der Nutzeffekte und Eindämmung der Nachteile des Internets sind der Ausgangspunkt der Digitalen Agenda der EU. Neben der Förderung der europäischen Internetwirtschaft geht es in der Digitalen Agenda auch um Cybersicherheit, Cyberkriminalität, Datenschutz, die digitale Kluft, Unterstützung für Menschen mit Behinderungen und benachteiligte Gruppen, usw. In vielerlei Hinsicht ist die Digitale Agenda der EU eher eine Übung in EU-Governance als in Internet-Governance, auch wenn sie die wichtigsten Maßnahmen beinhaltet, die erforderlich sind, damit Europa das Beste aus dem Internet herausholen kann.

3.   Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

Die Kommission hat eine Reihe von Leitlinien erarbeitet. Diese sollen den Grundstein einer gemeinsamen europäischen Zielvorstellung für eine Internet-Governance legen und die Rolle der EU bei der Entwicklung des Internets als Grundpfeiler des digitalen Binnenmarkts und als Motor für Innovation, Wirtschaftswachstum, aber auch Demokratie und Menschenrechte stärken. Die Kommission möchte die bereits in der Mitteilung aus dem Jahr 2009 (1) dargelegten Leitlinien unter Ausbau des Multi-Stakeholder-Konzepts bekräftigen.

3.2

Um die Tatsache auszugleichen, dass es keine übergeordnete Kontrolle gibt, wurde ein Internet-Governance-Forum (IGF) unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gegründet. Die Entwicklung dieses Forums ist das zweite Thema der Kommissionsmitteilung. Angesichts ihrer Bedenken in Bezug auf das IGF und ihr starkes Bestreben, in die Kontrolle der ICANN eingebunden zu werden, drängt sich die Vermutung auf, dass es in dieser Mitteilung um die politische Kontrolle des Internet geht. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Lösung technischer und operativer Governance-Aspekte, wie die unter a), e) und g) genannten, ebenfalls Aufmerksamkeit verdient und hier Handlungsbedarf besteht.

3.3

Die europäische Zielvorstellung basiert auf unionsweit gemeinsamen Grundsätzen wie Wahrung der Grundrechte und der demokratischen Werte (nach Maßgabe der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union), Förderung eines einheitlichen, unfragmentierten Netzes, in dem Entscheidungen nach den Grundsätzen wie z. B. Transparenz, Rechenschaftspflicht und Einbeziehung aller einschlägigen Akteure getroffen werden. Als partnerschaftlich eng eingebundene Akteure werden in der Mitteilung ausdrücklich das Internet Governance Forum (IGF) (hervorgegangen aus dem Weltgipfel über die Informationsgesellschaft (World Summit on the information Society WSIS) und in der Resolution der Vereinten Nationen 56/183 (21. Dezember 2001) gefördert), die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) und die Internet Assigned Numbers Authority (IANA) erwähnt.

3.4

Die Herangehensweise der Kommission an das Thema Internet-Governance lässt sich mit dem Akronym COMPACT zusammenfassen: das Internet als Raum staatsbürgerlicher Verantwortung (Civic responsibilities), ein unfragmentiertes (One unfragmented resource), nach dem Multi-Stakeholder-Grundsatz gesteuertes Netz zur Förderung der Demokratie und der Menschenrechte (Promote democracy and Human Rights), das auf einer soliden technischen Architektur beruht (sound technological Architecture), die Vertrauen schafft (Confidence) und eine transparente Governance (Transparent governance) sowohl der grundlegenden Infrastruktur des Internets als auch der darauf aufsetzenden Dienstleistungen begünstigt. Dieser Ansatz geht auf die Tunis-Agenda für die Informationsgesellschaft vom 18. November 2005 zurück. Leider sind deren Grundsätze jedoch meist auf eine nur geringe Anzahl von Akteuren zugeschnitten oder auf ein bestimmtes geografisches Gebiet begrenzt (siehe z. B. OECD, Council Recommendation on Principles for Internet Policy Making (2011); G8-Erklärung von Deauville (2011)).

3.5

Im Einzelnen hat die Kommission Folgendes vorgeschlagen:

Die Festlegung einer Reihe kohärenter Grundsätze für die Internet-Governance zusammen mit allen Beteiligten;

Unterstützung für das IGF und eindeutige Festlegung der Aufgaben der Behörden;

Globalisierung der ICANN mit einem genauen Zeitplan, und der Aufgaben der IANA, um Sicherheit und Stabilität für das System der Domain-Namen zu gewährleisten;

Aufnahme der Aktivitäten des GIPO (Global Internet Policy Observatory) im Jahr 2014 als Instrument der internationalen Gemeinschaft;

Start einer umfassenden öffentlichen Konsultation zur Mitwirkung aller Beteiligten an der Gestaltung der Zukunft der europäischen Internet-Governance;

Schaffung strukturierter Mechanismen, die die Mitwirkung an technischen Entscheidungen ermöglichen. Ziel ist es, die Vereinbarkeit mit den Menschenrechten sicherzustellen;

Stärkung des Vertrauens in Internetaktivitäten unter besonderer Berücksichtigung des Datenschutzes und der Netz- und Informationssicherheit;

Überprüfung der Interessenkonflikte auf internationaler Ebene zwischen einzelstaatlichen Rechtsnormen und gerichtlichen Zuständigkeiten.

4.   Bewertungen und Betrachtungen

4.1

Die Kommission schlägt die Definition einer gemeinsamen europäischen Vision für die Internet-Governance vor, die es der EU ermöglicht, in einem wirtschaftlich, politisch und sozial wichtigen Bereich für die Zukunft eine zentrale Rolle zu spielen. Hierbei handelt es sich um eine bedeutende Weichenstellung, mit der ein starker Impuls für die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Konsolidierung der Grundsätze der Demokratie und der Menschenrechte gewährleistet werden soll.

4.2

Eine nachhaltige Governance muss auf dem Multi-Stakeholder-Modell (Regierungen, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft, zwischenstaatliche und internationale Organisationen, Hochschulen und Fachkreise) gemäß der Agenda von Tunis beruhen.

4.3   Ein auf grundsätzen basierender ansatz

4.3.1

Der EWSA bekräftigt insbesondere seine Standpunkte bezüglich der Bedeutung des Internets als wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung, technologische Innovation und soziale Inklusion, die er in den letzten Jahren in mehreren Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht hat. Der EWSA hat die Informationsgesellschaft, die Europa-2020-Strategie und die digitale Agenda stets aus tiefster Überzeugung und entschieden unterstützt und zahlreiche, mitunter kritische Vorschläge unterbreitet.

4.3.2

Ziel ist es, die EU in folgenden Bereichen zum zentralen Akteur zu machen: bei der Entwicklung der digitalen Infrastrukturen, vor allem der allen Bürgern garantierten schnellen Breitbandverbindung; der Schaffung eines digitalen Binnenmarktes, der über eine Vielfalt an europäischen Inhalten und Inklusionsinstrumenten verfügt; bei der Überwindung der digitalen Kluft und einem breiten Ausbau der digitalen Kompetenzen; bei der Konzipierung eines europäischen Cloud-Computing (2); bei der Festlegung angemessener Schutzbestimmungen gegen die Computerkriminalität, die Verletzungen der Privatsphäre und die illegale Verwendung von Identitäten, die Gefahren für Minderjährige sowie beim „Recht auf Vergessenwerden“.

4.3.3

Der EWSA teilt vorbehaltlos den Willen der Kommission, nachdrücklich für die Wahrung und Förderung der Grundrechte und demokratischen Werte einzutreten und den Rechtsbegriff des einheitlichen Netzes, für das wie in anderen Wirtschaftsbereichen einheitliche EU-Vorschriften gelten und das nicht durch unterschiedliche, potenziell kollidierende einzelstaatliche Regelungen „fragmentiert“ wird, zu bekräftigen. Dies ist eine notwendige Grundsatzentscheidung für die Schaffung eines leicht zugänglichen, schnellen und nachhaltigen einheitlichen europäischen Raums für die lokalen Gebietskörperschaften, die Bürger, die Unternehmen und den Non-Profit-Sektor (3).

4.3.4

In diesem Zusammenhang teilt der Ausschuss die von der Kommission vorgebrachte Sorge über den Verstoß gegen die Meinungsfreiheit aufgrund der Blockierung der sozialen Netzwerke durch die türkische Agentur für Information, Technologie und Kommunikation sowie über die Maßnahmen in Bezug auf die Meinungsfreiheit im jüngst verabschiedeten Antiterrorgesetzpakets des russischen Parlaments.

4.4   Ein rahmen für kooperative Governance

4.4.1

Der EWSA unterstreicht, dass in der Mitteilung sowohl der Begriff Governance, zu der die EU beitragen sollte, als auch die Instrumente, die die internetbezogenen Multi-Stakeholder-Entscheidungsprozesse gewährleisten sollten, nur unzureichend definiert werden. Dies war bereits im Zusammenhang mit den Vorschlägen in der Mitteilung Digitale Agenda für Europa  (4) der Fall. Im Rahmen einer allgemeinen und gemeinsamen Governance können spezifischere Ebenen und Verfahren festgelegt werden.

4.4.2

Unter Bezugnahme auf positive Erfahrungen der Mitgliedstaaten und Drittstaaten schlägt die Kommission als einzige Initiative die Entwicklung der GIPO-Plattform vor (eine wichtige und erfreuliche Initiative) und behält sich nach Abschluss der nächsten öffentlichen Konsultation weitere operative Vorschläge vor. Doch gerade in Bezug auf die Mitteilung wurde bereits eine umfassende Konsultation gestartet, ohne dass dadurch die in der Mitteilung enthaltenen Vorschläge an Handfestigkeit gewonnen hätten. Vielmehr wurde deutlich, dass die Institutionen und Interessenträger dem Thema wenig Aufmerksamkeit widmen.

4.4.2.1

Die Kommission muss klären, welche spezifische Rolle und welchen Mehrwert die Kommission für die EU vorsieht und was von den einzelnen Staaten verlangt wird — auch angesichts der Ziele der digitalen Agenda für Europa. Sie müssen die ausschließlichen und die geteilten Zuständigkeiten festlegen, auch um Überschneidungen und etwaige Konflikte zu vermeiden.

4.4.3

Der EWSA hat die Sorge, dass die Mitgliedstaaten und sämtliche Akteure ein für die wirtschaftliche und soziale Zukunft der Union so maßgebliches Thema ernsthaft unterschätzen und zu wenig dafür sensibilisiert sind. Der EWSA fordert die Kommission auf, direkte Anreizmaßnahmen zu ergreifen für: die Regierungen, die Wirtschaft, die nichtstaatlichen Organisationen zum Schutz der Bürgerrechte und insbesondere für die Verbraucherorganisationen, die in der Mitteilung gar nicht erwähnt werden.

4.4.4

Der EWSA hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Stellungnahmen zum Internet und insbesondere zur digitalen Agenda erarbeitet und muss an diesbezüglichen Maßnahmen beteiligt werden.

4.5   Globalisierung grundlegender entscheidungen über das internet

4.5.1

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die internationalen Maßnahmen, die die EU in Bezug auf die Governance aller elektronischer Kommunikation und der Bürgerrechte insgesamt umsetzen sollte. In der Mitteilung gibt es keine spezifischen Hinweise darauf, wie diese Initiativen auf die internationale Ebene übertragen werden könnten.

4.5.2

Noch eklatanter ist im Zuge des NSA-Skandals die Schwäche der EU deutlich geworden. Die EU war nicht in der Lage, auf dem Gipfel vom Oktober 2013 eine entschlossene gemeinsame Antwort zu finden und auf der internationalen Bühne eine gemeinsame Position zu vertreten.

4.6   Der multi-stakeholder-prozess: globalisierung der icann

4.6.1

Der EWSA weist auf die Notwendigkeit eines strategischen Rahmens hin. Soll die Steuerung des Internets nicht mehr nur in den Händen der US-Regierung liegen, muss das Multi-Stakeholder-Modell genau definiert werden, damit es wirklich repräsentativ ist. Es muss ein ausgewogenes Gleichgewicht gefunden werden zwischen den staatlichen Organen, den Konzernen, die sich an den Interessen ihrer Aktionäre orientieren, und den NGO, die unmittelbar die Bürger vertreten.

4.6.1.1

Die Schaffung innovativer Informationsinstrumente wie GIPO wird vom EWSA als wichtiges Instrument der internationalen Gemeinschaft begrüßt, um Regulierungsmaßnahmen bezüglich des Internets und neue Technologien zu überwachen und den Austausch zwischen den verschiedenen Foren zu fördern. Dies kommt insbesondere den Gruppierungen der Zivilgesellschaft zugute, die über begrenzte Ressourcen verfügen.

4.6.2

Bezüglich ICANN und IANA hat das technische Gremium endlich die Einleitung eines globalen Steuerungs- und Multi-Stakeholder-Prozesses der ab September 2015 zugewiesenen Aufgaben angekündigt. Zu jenem Zeitpunkt läuft der Vertrag mit der Regierung der Vereinigten Staaten für die Verwaltung der länderspezifischen Domains oberster Stufe aus. Der EWSA fordert die Kommission auf, die künftige Rolle der EU im künftigen grenzüberschreitenden Gremium eindeutig festzulegen und sowohl einen technischen als auch einen politischen Vertreter im Vorstand der neuen ICANN einzufordern.

4.6.3

Wichtig ist auch die Unterstützung der Kommission für die Stärkung des IGF als Ort des Dialogs zwischen allen Beteiligten. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die EU beim nächsten IGF im September in Istanbul eine führende Rolle übernimmt und dass die Kommission, die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft unter inhaltlicher Bekräftigung der Mitteilung an einem Strang ziehen.

4.7   Vertrauen schaffen

4.7.1

Auf Unionsebene ist es wichtig, dass die Kommission in ihrer Mitteilung ausdrücklich auf die Notwendigkeit hinweist, Vertrauen in das Internet mittels Rechtsinstrumenten zu schaffen, die seine Sicherheit, Stabilität und Widerstandsfähigkeit erhöhen, wie etwa die Reform des Regelungsrahmen für den Schutz personenbezogener Daten und die Richtlinie über die Netz- und Informationssicherheit.

4.7.2

Nach dem Bericht des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres in Folge des NSA-Abhörskandals hat das Europäische Parlament angemessenerweise einen „europäischen digitalen Habeas-Corpus-Grundsatz — Schutz der Grundrechte in einem digitalen Zeitalter“ im Zuge spezifischer Maßnahmen beschlossen, die das zentrale Programm für die nächste Legislaturperiode bilden sollen.

4.7.3

Der EWSA wird den weiteren Verlauf dieser Aktionen und die Umsetzung der im „Telecom-Paket“ vorgesehenen Maßnahmen zur Verwirklichung des IKT-Binnenmarkts mit großer Aufmerksamkeit verfolgen (5).

4.8   Technische normen, die das internet prägen

4.8.1

Technische Normen sind ein zentraler Aspekt. Der offene und grenzüberschreitende Charakter des Internets führt dazu, dass die Festlegung der technischen Normen nicht aufgrund von Überlegungen der öffentlichen Ordnung auf Ebene der einzelnen Staaten oder zwischenregionalen Strukturen erfolgt, sondern im Zuge einer Art Selbstregulierung der Techniker, die nur in wenigen Fällen mit den Institutionen vereinbart wird. Die Auswirkungen, die solche Entscheidungen auf die Rechte der Bürger, wie z. B. auf die Meinungsfreiheit, den Schutz personenbezogener Daten und die Sicherheit der Nutzer sowie auf den Zugang zu den Inhalten haben können, machen klare Entscheidungen und Empfehlungen erforderlich, die die Kompatibilität dieser technischen Entscheidungen mit den Menschenrechten gewährleisten.

4.8.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission, Seminare mit internationalen Experten in den verschiedenen juristischen, sozialen, wirtschaftlichen und technischen Bereichen zu veranstalten, um die Kohärenz zwischen den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen und den neuen Definitionen für das Internet zu gewährleisten.

4.8.3

Im Bereich des Wettbewerbs und des freien Marktes ist auch zu berücksichtigen, dass u.U. wenige private Algorithmen eine einheitliche Kontrolle über personenbezogene Daten, Metadaten, Werbeeinnahmen und Urheberrechtsgebühren ausüben (6).

4.9   Einander widersprechende gerichtliche zuständigkeiten und rechtsvorschriften

4.9.1

Hinsichtlich der rechtlichen Aspekte des Internets hat die Kommission die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts bis 2015 ausdrücklich bekräftigt; dies kann selbstverständlich nicht ohne eine Harmonisierung der für Online-Transaktionen geltenden nationalen und internationalen Rechtsvorschriften geschehen. Der EWSA teilt das Bestreben der Kommission, eine Überprüfung der auf internationaler Ebene bestehenden Risiken aufgrund kollidierender Rechtsnormen und gerichtlicher Zuständigkeiten einzuleiten. Diese Risiken werden häufig durch die unabhängigen Regulierungsbehörden noch verschärft.

4.9.2

Der EWSA gibt zu bedenken, dass in der Mitteilung jeglicher Verweis auf die Netzneutralität fehlt, die gleichwohl in der digitalen Agenda als grundlegend anerkannt wird. Der Ausschuss bekräftigt seine in mehreren Stellungnahmen dargelegten Standpunkte, bringt seine Sorge angesichts der in den Vereinigten Staaten diskutierten Regelungsinitiativen zum Ausdruck und "empfiehlt nachdrücklich, die Grundsätze eines offenen Internet und der Netzneutralität so schnell wie möglich formal in EU-Rechtsvorschriften zu verankern, wobei stets der technische Fortschritt („State of the Art“) in diesem Bereich (7) im Auge behalten werden muss.

4.10   Inklusives internet

4.10.1

Schließlich unterstreicht der EWSA einen grundlegenden Aspekt: die Inklusion. Der Beitrag der EU zur weltweiten Governance des Internet muss auch die Förderung der inklusionspolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der IKT umfassen, um zu einer wirklich inklusiven Gesellschaft zu gelangen (im Jahr 2006 haben die für die Politik der digitalen Inklusion zuständigen Minister der EU-Mitgliedstaaten, der Beitrittsländer, der EFTA-Länder (Europäische Freihandelsassoziation) und weiterer Länder am Rande der Ministerkonferenz „ICT for an inclusive society“ die „Charta von Riga“ unterzeichnet. Diese enthält eine Reihe Verpflichtungen, um IKT-Lösungen zugunsten der älteren Bevölkerung und im Bereich der elektronischen Zugänglichkeit in der EU zu entwickeln). Nach Ansicht des Ausschusses sollte in die Mitteilung der Grundsatz aufgenommen werden, zugängliche und leicht handhabbare IKT für Menschen mit Behinderungen als wesentliche Instrumente für den Zugang und die gleichberechtigte, uneingeschränkte und effiziente Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten anzuerkennen.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2009) 277 final.

(2)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53-57; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9; ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 1; ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 8; ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 59-65.

(3)  ABl. C 67 vom 6.3.2014, S. 137.

(4)  ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58.

(5)  ABl. C 177 vom 11.6.2014, S. 64.

(6)  COM(2012) 573 final.

(7)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139-145.


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/152


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auf dem Weg zu einem Hyogo-Rahmenaktionsplan für die Zeit nach 2015: Risikomanagement zur Stärkung der Resilienz“

COM(2014) 216 final

(2014/C 451/25)

Berichterstatter:

Giuseppe IULIANO

Die Europäische Kommission beschloss am 8. April 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission: Auf dem Weg zu einem Hyogo-Rahmenaktionsplan für die Zeit nach 2015: Risikomanagement zur Stärkung der Resilienz.

COM(2014) 216 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. Juni 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 10. Juli) mit 103 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA erachtet eine Positionsbestimmung der EU im Bereich der Katastrophenvorsorge im Hinblick auf die Überarbeitung des Hyogo-Rahmenaktionsplans im Jahr 2015 für sehr sinnvoll und notwendig. Die Übereinstimmung mit anderen Entwicklungs- oder Klimaschutzinitiativen für den Zeitraum nach 2015 machen eine solche Positionsbestimmung umso wichtiger.

1.2

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, der Kommission so weit wie möglich aufgeschlüsselte nationale Daten über Risiken und Katastrophen zu übermitteln, damit diese zu einer gründlicheren und genaueren Situationsanalyse beitragen können.

1.3

Der EWSA ist der Überzeugung, dass den tiefer liegenden Risikofaktoren und Katastrophenursachen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Zu diesen tiefer liegenden Faktoren gehören die nicht geplante Stadtentwicklung, die Anfälligkeit der Existenzgrundlagen im ländlichen Bereich und die im Niedergang befindlichen Ökosysteme.

1.4

Ein Großteil der katastrophenbedingten menschlichen und wirtschaftlichen Verluste resultiert aus sehr häufig eintretenden, kleineren Katastrophen. Der EWSA ist der Ansicht, dass im Rahmenaktionsplan 2015 diesem „extensiven Risiko“ mehr Bedeutung eingeräumt und außerdem versucht werden sollte, die Resilienz der von solchen Katastrophen betroffenen Gemeinschaften zu stärken.

1.5

Nach Ansicht des EWSA ist es notwendig, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eingehender zu untersuchen und Aspekten wie den produktiven Infrastrukturen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

1.6

Der EWSA ist der Ansicht, dass im Rahmenaktionsplan für den Zeitraum nach 2015 im Bereich des „Mehrfachrisikos“ Fortschritte erreicht werden sollten, wobei die menschengemachten Risiken stärker zu berücksichtigen sind.

1.7

Das Risikomanagement muss auf einem Rechtskonzept basieren, sich auf die Bedürfnisse und Rechte der am stärksten schutzbedürftigen Gruppen und Personen konzentrieren sowie der Geschlechterdimension Nachdruck verleihen und diese einbeziehen.

1.8

Der EWSA befürwortet die Förderung der Konzepte des lokalen Risikomanagements, die die Beteiligung der Zivilgesellschaft vor Ort und der üblicherweise ausgeschlossenen Gruppen ermöglichen. Das lokale Risikomanagement muss konsequenter berücksichtigt werden.

1.9

Der Stellenwert der Organisationen der Zivilgesellschaft im Bereich der Katastrophenvorsorge muss ebenfalls auf lokaler wie internationaler Ebene anerkannt werden.

1.10

Unternehmens- und Privatsektor müssen durch die Berücksichtigung der Katastrophenvorsorge im gesamten Produktionszyklus und im Zuge ihrer Innovationsfähigkeit eine wichtigere Rolle spielen.

1.11

Im neuen Rahmenaktionsplan 2015 sollten die Rechenschafts- und Transparenzsysteme weiterhin auf Freiwilligkeit basieren, aber durch ein Bündel von international akzeptierten Indikatoren verstärkt werden. Diese Indikatoren sollten über rein technische Aspekte hinaus auf soziale Aspekte ausgeweitet werden.

1.12

Der EWSA wertet die von mehreren Mitgliedstaaten eingeführten Peer-Review-Verfahren zwar positiv, ist aber der Ansicht, dass mittelfristig anspruchsvollere Rechenschaftssysteme geschaffen werden sollten.

1.13

Hinsichtlich der Finanzierung ist der EWSA der Ansicht, dass ein Index empfohlener Mindestprozentsätze für die Finanzierung der Katastrophenvorsorgemaßnahmen im Bereich der Entwicklungspolitik und humanitären Hilfe der EU erstellt werden muss.

2.   Begründung

2.1

Die Annahme des „Hyogo-Rahmenaktionsplans 2005-2015: Stärkung der Widerstandskraft von Nationen und Gemeinschaften gegen Katastrophen“ im Jahr 2005 war zweifellos ein Meilenstein auf dem Gebiet der Katastrophenvorsorge. Die Tatsache, dass der Rahmenaktionsplan von 168 Staaten angenommen wurde, offenbart eine veränderte Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber einem Phänomen, das zunehmend Besorgnis erregt.

2.2

Nach der Annahme des Rahmenaktionsplans hat die EU Aspekte der Katastrophenvorsorge und des Risikomanagements in zahlreichen ihrer Politikbereiche einbezogen, und zwar sowohl auf interner Ebene als auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe. Seither wurden erhebliche (wenngleich uneinheitliche) Fortschritte erzielt.

2.3

Die Revision des Rahmenaktionsplans im Jahr 2015 ist deshalb eine Chance für die EU, ihre einschlägigen Maßnahmen zu überarbeiten und sie an die neuen internationalen Gegebenheiten anzupassen sowie gleichzeitig einen Beitrag zur internationalen Debatte über Katastrophenrisiken und ihrer besseren Bewältigung zu leisten.

2.4

Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission „Auf dem Weg zu einem Hyogo-Rahmenaktionsplan für die Zeit nach 2015: Risikomanagement zur Stärkung der Resilienz“ und hält sie unter den gegenwärtigen Umständen für sehr zweckdienlich. Der Ausschuss möchte einen Beitrag zur diesbezüglichen Diskussion leisten, indem er im Namen der zivilgesellschaftlichen Gruppen, die er vertritt, Vorschläge unterbreitet.

2.5

Seit der Annahme des Rahmenaktionsplans im Jahr 2005 bekräftigen die Tendenzen hinsichtlich der Katastrophen in der Welt besorgniserregende Muster einer Risikoverschärfung. Dadurch sind Staaten, internationale Organisationen, zivilgesellschaftliche Organisationen und die allgemeine Bevölkerung gezwungen, ihre Positionen bezüglich der Katastrophenvorsorge zu überdenken.

2.6

Sämtliche derzeit verfügbaren Daten zeigen eine Verschärfung der Katastrophen, insbesondere im Zusammenhang mit hydrometeorologischen Risiken aufgrund des Klimawandels, aber auch mit anderen aufgrund beschleunigter Urbanisierungsprozesse, unangemessener Raumplanung, inadäquater Boden- und Ressourcennutzung sowie einer verstärkten Exposition gegenüber diesen Gefahren.

2.7

Die Folgen der Katastrophen schwanken offenkundig zwischen Regionen und zwischen Ländern, wobei die Verluste an Menschenleben und die wirtschaftlichen Einbußen vom jeweiligen Entwicklungsniveau abhängen. Allerdings ist keine Region bzw. kein Land der Welt gegen diese Risiken gefeit; so haben entsprechend den Daten der letzten Jahrzehnte Katastrophen auch für die Industriestaaten und die EU selbst erhebliche Folgen.

2.8

Die Tatsache, dass im Jahr 2015 auch die Millenniumsentwicklungsziele und die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung neu formuliert werden und dass die Diskussionen über den Klimawandel ein Stück vorangekommen sind, macht Bemühungen um eine stärkere Verzahnung der verschiedenen einschlägigen Positionen erforderlich, wozu der EWSA beitragen möchte.

3.   Neue Ideen bezüglich der Bedingungen und Typen von Katastrophen

3.1

In der Mitteilung der Kommission und vor allem ihren beiden Anhängen (1) werden die Bedrohungen und Risiken auf globaler Ebene — vor allem aber auf Ebene der EU — sehr ausführlich analysiert. Darüber hinaus werden die europäischen Maßnahmen, die Aspekte der Katastrophenvorsorge umfassen äußerst genau beschrieben. Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Anstrengungen der Kommission zur Erhebung verlässlicher und technisch fundierter Daten, die einen Gesamteindruck von den Katastrophen im Unionsgebiet und den entsprechenden Gegenmaßnahmen vermitteln.

3.2

In Bezug auf die Übersicht über die Katastrophen innerhalb der EU bedauert der EWSA jedoch, dass nur für 16 Mitgliedstaaten und Norwegen direkte Daten zur Verfügung stehen. Der EWSA fordert die übrigen Mitgliedstaaten, die noch nicht ihre aufgeschlüsselten Daten bereitgestellt haben, dazu auf, umgehend ihren Beitrag zu dieser Initiative zu leisten, um eine möglichst klare und genaue Analyse der Risiken und Katastrophen im Unionsgebiet zu gewährleisten.

3.3

Die Studien des UN-Büros für Katastrophenvorsorge (UNISDR) zeigen, dass es außer den großen Katastrophen, die mit einer umfangreichen Medienberichterstattung einhergehen, weltweit gesehen häufiger „kleine“ Katastrophen gibt, die zu mehr menschlichen und wirtschaftlichen Verlusten führen und einen stärkeren Einfluss auf das Alltagsleben von Millionen Personen und Gemeinschaften auf der gesamten Erde haben. Der EWSA ist der Auffassung, dass im Rahmenaktionsplan für den Zeitraum nach 2015 dem aus derartigen Ereignissen resultierenden „extensiven Risiko“ (2) mehr Bedeutung beigemessen werden sollte als dem „intensiven Risiko“, das in der Vergangenheit dominierte. Die Berücksichtigung solcher häufiger auftretenden, aber weniger weitreichenden Katastrophen muss zudem die Grundlage für die Stärkung der Resilienz der betroffenen Gemeinschaften bilden. Der EWSA ist der Ansicht, dass den lokalen Auswirkungen solcher Katastrophen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

3.4

Obwohl es zahlreiche Untersuchungen über die wirtschaftlichen Folgen von Katastrophen gibt, werden nur selten die Kosten in Bezug auf Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und menschenwürdige Arbeit, Unternehmer, Produktionsstrukturen usw. analysiert. Nach Ansicht des EWSA sollten diese Aspekte eingehender untersucht werden, wobei Aspekten wie den produktiven Infrastrukturen mehr Aufmerksamkeit zu schenken ist (3).

3.5

Andererseits zeigen die verfügbaren Daten, dass viele Katastrophen aus einer Kombination von Bedrohungen resultieren und nicht auf einen einzigen Faktor zurückzuführen sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Analyse von „Mehrfachrisiken“ und eines möglichen ganzheitlicheren Ansatzes zur Behandlung von Katastrophen und ihrer komplexen Natur. Der Begriff der „komplexen Notsituation“, der im Bereich der humanitären Hilfe verwendet wurde und wird, kann dazu dienen, simplistische Vorstellungen von Katastrophenursachen zu vermeiden, die gelegentlich auch zu simplistischen Reaktionen führen. Auch wenn bei den vorherrschenden Ansätzen nach der Annahme des Rahmenaktionsplans der Schwerpunkt auf „natürlichen“ oder „menschengemachten nicht beabsichtigten“ Bedrohungen liegt, kann nachgewiesen werden, dass Faktoren wie Gewalt in städtischen Randbezirken, mangelnde Steuerung, verschiedene Arten von Konflikten und andere Faktoren menschlichen Ursprungs Katastrophen verschärfen und bedacht werden sollten. Der EWSA ist der Ansicht, dass im Rahmenaktionsplan 2015 diese Aspekte des Konflikts und der Gewalt umfassender berücksichtigt werden sollten. Es sollte auch entschlossener die Problematik der Katastrophen aufgrund einer technologischen Bedrohung oder der „Dreifachkatastrophen“ (Erdbeben, Tsunami, Atomunglück) wie im Falle Fukushimas angegangen werden.

3.6

Der EWSA ist ferner der Überzeugung, dass den tiefer liegenden Risikofaktoren und Katastrophenursachen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Sämtliche Untersuchungen und Überarbeitungen des Rahmenaktionsplans zeigen, dass es im vierten vorrangigen Aktionsbereich „Begrenzung der zugrunde liegenden Risikofaktoren“ die wenigsten Fortschritte gibt (4).

4.   Ein Katastrophenrisikomanagement, das auf die Rechte des Einzelnen und insbesondere der auf lokaler Ebene am stärksten gefährdeten Gruppen ausgerichtet ist

4.1

Trotz der Fortschritte seit der Annahme des Rahmenaktionsplans wurde der auf Rechten basierende Ansatz bei der Katastrophenvorsorge nicht ausreichend berücksichtigt. Mitunter hat die Bezugnahme auf ihre Schutzbedürftigkeit und ihre spezifischen Rechte bestimmte Gruppen sogar weiter „geschwächt“, ohne dass der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass diese Gruppen auch eigene Fähigkeiten besitzen. Das ist z. B. mit simplistischen Vorstellungen bezüglich der Geschlechterdimension geschehen. Der EWSA ist der Ansicht, dass der auf Personen, ihre Rechte, Gerechtigkeit, das Recht auf Schutz, aber auch das Recht auf nachhaltige (Umwelt-) Entwicklung bezogene Ansatz im Rahmenaktionsplan 2015 als Prinzip stärker verankert sein sollte. Die Berücksichtigung der Geschlechteraspekte, die auf Rechten basierenden Konzepte und die schutzbedürftigen Gruppen müssen Teil des Bündels der Indikatoren für Folgemaßnahmen zum Rahmenaktionsplan 2015 und der neu geschaffenen Mechanismen zur Rechenschaftspflicht sein. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für die Förderung und Verteidigung der Rechte (insbesondere von Frauen) und die Geschlechtergleichstellung einsetzen und schutzbedürftige Gruppen vertreten, sollten häufiger zur Teilnahme an den Diskussionsforen über Katastrophenvorsorge eingeladen werden.

4.2

Erfahrungsgemäß lassen sich schutzbedürftige Gruppen mit Initiativen auf lokaler Ebene bzw. mit lokaler Ausrichtung am besten erreichen. Der EWSA befürwortet die Förderung der Konzepte des lokalen Risikomanagements, die die Beteiligung der Zivilgesellschaft vor Ort und der üblicherweise ausgeschlossenen Gruppen ermöglichen. Dies impliziert Schritte hin zu Systemen des lokalen Risikomanagements, mit denen die notwendigen institutionellen Maßnahmen und Verfahren konkretisiert werden können. Die Finanzierung der Maßnahmen des lokalen Risikomanagements sollte bei nationalen und von internationalen Organisationen unterstützten Initiativen Vorrang erhalten.

4.3

Angesichts der Tatsache, dass die Staaten sich für den Rahmenaktionsplan und seine Umsetzung einsetzen (müssen) und dass der Erfolg bzw. Misserfolg des Rahmenaktionsplans 2015 vom politischen Willen der Staaten abhängt, unterstreicht der EWSA, dass sämtliche lokalen Behörden, Gemeinden und Bürgermeisterämter, zivilgesellschaftlichen Organisationen, NRO, Hochschuleinrichtungen, Unternehmens- und Gewerkschaftsorganisationen in die Ausarbeitung von Risikomanagementplänen und ähnlichen Instrumenten einbezogen werden sollten. Die derzeitige Entkoppelung zwischen der lokalen und anderen höheren Verwaltungsebenen beschneidet die sofortigen Handlungsmöglichkeiten der unmittelbar von einer Katastrophe betroffenen Bevölkerung. Dies ist in Entwicklungsländern mit schwachen institutionellen Strukturen besonders auffällig.

4.4

Unternehmen und Privatsektor spielen eine grundlegende Rolle bei der Katastrophenvorsorge nicht nur im Zuge der PPP (öffentlich-private Partnerschaften) oder der CSR (soziale Verantwortung der Unternehmen), sondern auch indem sie Innovationen und Erfahrungen beisteuern sowie Konzepte der Widerstandsfähigkeit, Abmilderung und Anpassung in den gesamten Produktionsprozess einbetten. In der Mitteilung wird zwar auf Sicherheitsaspekte eingegangen, doch sollten deutlichere Hinweise auf die dringende Notwendigkeit aufgenommen werden, das Risiko zu reduzieren, um eine produktive Entwicklung zu ermöglichen.

4.5

Unter Berücksichtigung der Besonderheiten, die in den einzelnen Fällen ermittelt werden können, ist der EWSA der Ansicht, dass sowohl in der Innen- als auch der Außenpolitik der EU für eine stärkere Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft am Risikomanagement auf globaler und lokaler Ebene gesorgt werden sollte.

4.6

Der EWSA unterstreicht die Rolle der — schulischen, formellen wie informellen — Bildung als äußerst wirksame Möglichkeit, den Bekanntheitsgrad und die Effizienz ziviler Katastrophenschutzmaßnahmen zu verbessern. Die Organisationen der Zivilgesellschaft können eine wichtige Rolle bei dieser Aufgabe spielen, die über die Bereiche der formellen Bildung hinausgeht.

5.   Hin zu einem Rahmen für die Rechenschaftspflicht, Transparenz in Bezug auf die Ziele und Fortschrittsindikatoren des Rahmenaktionsplans 2015

5.1

Der EWSA befürwortet allgemein die „Grundsätze des neuen Rahmens“ in der Kommissionsmitteilung in Bezug auf Rechenschaftspflicht und Indikatoren. Das derzeitige Überwachungssystem des Rahmenaktionsplans ist sehr mangelhaft und hat es nicht erlaubt, die Fortschritte auf seriöse Weise zu messen. So haben viele EU-Mitgliedstaaten ihre Daten nicht rechtzeitig und präzise übermittelt und verfügen nicht über solide und zuverlässige Datenbanken auf diesem Gebiet. Die Sensibilität der Öffentlichkeit und der Politik für Katastrophen macht es im Bereich der Katastrophenvorsorge notwendig, glaubwürdige Transparenz- und Rechenschaftspflichtsmechanismen zu schaffen.

5.2

Der EWSA begrüßt die von einigen Mitgliedstaaten ergriffenen Peer-Review-Initiativen, die als vorbildliche Methode verbreitet werden sollten. Mittel- und langfristig sollte nach Ansicht des EWSA die EU bei der Sammlung von Daten der Mitgliedstaaten ehrgeiziger sein, sodass diese Daten nicht nur für die Regierungsstellen, sondern auch für die Zivilgesellschaft, Massenmedien, Hochschulangehörige, Wissenschaftler und andere interessierte Gruppen vergleichbar und zugänglich sind.

5.3

In jedem Falle sollten im Rahmenaktionsplan 2015 ein System gemeinsamer Indikatoren festgelegt werden, die es ermöglichen, die Fortschritte und den Grad der Einhaltung seitens der Länder wie auch der anderen Akteure zu messen. Ohne ins Detail zu gehen, unterstützt der EWSA die Anstrengungen der Organisationen der Zivilgesellschaft hinsichtlich der Indikatoren. Er äußert die Überzeugung, dass diese über die rein technischen und sogar technokratischen Aspekte hinausgehen und Aspekte des Sozialen, der Widerstandsfähigkeit, Teilhabe usw. einbeziehen (5).

5.4

Transparenz und Rechenschaftspflicht sollten dem Dialog zwischen den beteiligten Akteuren — offizielle Stellen, politische Organisationen, Organisationen der Zivilgesellschaft, Privat- und Unternehmenssektor, Hochschuleinrichtungen usw. — über die Katastrophenvorsorge Impulse verleihen.

6.   Kohärenz zwischen Entwicklungs-, Klimaschutz- und Katastrophenvorsorge-Agenden

6.1

In einer Welt voller Wechselbeziehungen und gegenseitiger Abhängigkeiten wie der heutigen erscheint es paradox, dass die internationalen Agenden bei definitionsgemäß eng verknüpften Themen nur schwer miteinander verbunden werden können. Die EU sollte die sich im Jahr 2015 bietende Gelegenheit nutzen, die verschiedenen Klimaschutz-, Entwicklungs- und Katastrophenvorsorge-Initiativen zusammenzuführen und so diese Kohärenz auf internationaler Ebene zu fördern. Die Förderung der Kohärenz hat u. a. viele konzeptuelle, institutionelle und prioritätenbezogene Auswirkungen, die auf der Grundlage der Erfahrungen der betroffenen Gemeinschaften angegangen werden sollten, wobei die Tatsache zu berücksichtigen ist, dass Entwicklung, Klimawandel und Katastrophen nicht für sich genommen behandelt werden können. Der EWSA unterstützt die internationalen Anstrengungen zur Definition gemeinsamer Kriterien und Indikatoren im Bereich der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung und des Rahmenaktionsplans 2015.

6.2

Angesichts der Bedeutung des Klimawandels für die Zunahme und das Ausmaß von Katastrophen (insbesondere hydrometeorologischen) sowie der gemeinsamen Ziele der Katastrophenvorsorge und der Anpassung an den Klimawandel muss die Koordinierung zwischen den Stellen, die die Entwicklung und Umsetzung der einzelnen diesbezüglichen Strategien fördern, erheblich ausgebaut werden.

6.3

Im künftigen Rahmenaktionsplan 2015 sollten die sehr vielgestaltigen und komplexen Beziehungen zwischen Katastrophen und Entwicklung klarer herausgestellt werden. Eine durchaus gut geplante Entwicklung kann das Risiko verringern, aber auch, wie vielfach zu sehen ist, erhöhen. Ebenso verwoben und vielschichtig sind die Beziehungen zwischen Klimawandel und Katastrophen. Der EWSA teilt die Auffassung, dass Konzepte und Ansätze wie die Resilienz nützlich sein können, um diese komplementären Fragenkomplexe anzugehen.

6.4

Gleichzeitig weist der EWSA darauf hin, dass die Beziehungen zwischen der traditionellen Katastrophenvorsorge und der Sicherheitsagenda angegangen werden sollten. Bisher lag der Schwerpunkt des Rahmenaktionsplans, wie erwähnt, auf „Naturkatastrophen“; allerdings erscheint es angesichts anderer Risiken und Realitäten im Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten, Konflikten oder Streitigkeiten wegen Ressourcen empfehlenswert, diese Konvergenz in Angriff zu nehmen. Das Konzept der menschlichen Sicherheit wirft diese Frage auf; es sollte untersucht werden, inwiefern es in diesem Bereich nützlich ist.

7.   Finanzierung der Katastrophenvorsorge und Engagement der EU

7.1

Das Fehlen einer „Präventionskultur“ hat dazu geführt, dass die Katastrophenvorsorge, die Risikovermeidung, die Abmilderung von und Vorbereitung auf Katastrophen in der Innen- und Außendimension der EU keine Priorität haben. Wie in der Kommissionsmitteilung richtig festgestellt wird, haben einige Programme eine Vorreiterrolle gespielt (DIPECHO (6)); der Prozentsatz der für diese Aufgaben vorgesehenen Mittel war jedoch niedrig. Der EWSA ist der Ansicht, dass ein Index empfohlener Mindestprozentsätze für die Finanzierung der Katastrophenvorsorgemaßnahmen im Bereich der Entwicklungspolitik und humanitären Hilfe der EU im Einklang mit den Tätigkeiten anderer Geber erstellt werden muss (7). Deshalb sollten die Mitgliedstaaten im Bereich der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe Verfahren zur finanziellen Überwachung von Katastrophenvorsorgemaßnahmen einführen.

Brüssel, den 10. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Arbeitsdokumente der Kommissionsdienststellen: „Overview on natural and man-made disasters risks in the EU“ (SWD (2014) 134 final), „EU policies contributing to disaster risk management“ (SWD (2014) 133 final).

(2)  Den UNISDR-Studien zufolge rühren 90 % der Verluste weltweit aus diesen „extensiven“ Katastrophen. Global Assessment Report (GAR), UNISDR, 2013.

(3)  Seit Kurzem wird diese Frage eingehender untersucht: „The Labour Market Impacts of Natural and Environmental Disasters“. ADAPT Italia und The Japan Institute for Labour Policy and Training. http://moodle.adaptland.it/mod/page/view.php?id=9533

(4)  Der Rahmenaktionsplan umfasst fünf vorrangige Aktionsbereiche: (1) Katastrophenvorsorge muss nationale und lokale Priorität sein und eine starke institutionelle Grundlage für die Umsetzung haben, (2) Ermittlung, Bewertung und Überwachung von Katastrophenrisiken sowie Förderung der Frühwarnung, (3) Einsatz von Wissen, Innovation und Bildung zur Schaffung einer Kultur der Sicherheit und Widerstandsfähigkeit auf allen Ebenen, (4) Begrenzung der zugrunde liegenden Risikofaktoren, (5) Stärkung der Katastrophenvorsorge, um eine effektive Katastrophenbewältigung auf allen Ebenen zu gewährleisten.

(5)  Joint Civil Society Position on Post 2015 Framework for Disaster Risk Reduction. Es gelten die Leitlinien des Dokuments „Elements for Consideration in the Post-2015 Framework for Disaster Risk Reduction“ (UNISDR, Dezember 2013).

(6)  DIPECHO (Disaster Preparedness ECHO) ist ein Katastrophenvorsorgeprogramm, das die GD ECHO der Europäischen Kommission 1996 initiiert hat.

(7)  Eine Zusammenfassung der Überarbeitung der Finanzierungsmöglichkeiten für die Katastrophenvorsorge und einschlägiger Erfahrungen ist hier abrufbar: http://www.odi.org.uk/sites/odi.org.uk/files/odi-assets/publications-opinion-files/8574.pdf


16.12.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 451/157


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 93/5/EWG des Rates vom 25. Februar 1993 über die Unterstützung der Kommission und die Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der wissenschaftlichen Prüfung von Lebensmittelfragen

COM(2014) 246 final — 2014/0132 (COD)

(2014/C 451/26)

Der Rat beschloss am 22. Mai 2014, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 93/5/EWG des Rates vom 25. Februar 1993 über die Unterstützung der Kommission und die Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der wissenschaftlichen Prüfung von Lebensmittelfragen.

COM(2014) 246 final — 2014/0132 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und sich bereits in seiner Stellungnahme CES 404/2001 — 2000/0286 (COD) vom 28. März 2001 (1) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 500. Plenartagung am 9./10. Juli 2014 (Sitzung vom 9. Juli) mit 185 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 9. Juli 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. C 155 vom 29. Mai 2001, S. 32-38.