ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2013.198.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 198

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

56. Jahrgang
10. Juli 2013


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

489. Plenartagung am 17. und 18. April 2013

2013/C 198/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Elektrizitätssystemen mit einem wachsenden Anteil intermittierender erneuerbarer Energien (Sondierungsstellungnahme)

1

2013/C 198/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Einheitlicher europäischer Luftraum II+ (Sondierungsstellungnahme)

9

2013/C 198/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Technische Textilien als Wachstumsmotor (Initiativstellungnahme)

14

2013/C 198/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Politik der EU für den arktischen Raum als Antwort auf das neue weltweite Interesse an dieser Region — Standpunkte der Zivilgesellschaft (Initiativstellungnahme)

26

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

489. Plenartagung am 17. und 18. April 2013

2013/C 198/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung — COM(2012) 722 final

34

2013/C 198/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstum und Beschäftigung in der EU unterstützen — COM(2012) 537 final

39

2013/C 198/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Strategie für die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit des Baugewerbes und seiner Unternehmen — COM(2012) 433 final

45

2013/C 198/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Luftfahrtaußenpolitik der EU — Bewältigung der künftigen Herausforderungen — COM(2012) 556 final

51

2013/C 198/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/70/EG über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen — COM(2012) 595 final — 2012/0288 (COD)

56

2013/C 198/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 über die Errichtung der Agentur für das Europäische GNSS — COM(2013) 40 final – 2013/0022 (COD)

67

2013/C 198/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik — COM(2013) 09 final — 2013/0007 (COD)

71

2013/C 198/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/42/EG, der Verordnung (EG) Nr. 1321/2007 der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 1330/2007 der Kommission — COM(2012) 776 final — 2012/0361 (COD)

73

2013/C 198/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 92/58/EWG, 92/85/EWG, 94/33/EG und 98/24/EG des Rates sowie der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zwecks ihrer Anpassung an die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen — COM(2013) 102 final — 2013/0062 (COD)

77

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

489. Plenartagung am 17. und 18. April 2013

10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Elektrizitätssystemen mit einem wachsenden Anteil intermittierender erneuerbarer Energien“ (Sondierungsstellungnahme)

2013/C 198/01

Berichterstatter: Gerd WOLF

Der künftige irische Ratsvorsitz beschloss am 7. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Elektrizitätssystemen mit einem wachsenden Anteil intermittierender erneuerbarer Energien

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 147 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat erneuerbare Energieträger in früheren Stellungnahmen und bei Vorbereitung des sog. "20/20/20"-Pakets nachdrücklich unterstützt.

1.2

Mit der Förderung erneuerbarer Energien auf EU-Ebene sollen der mit der Energienutzung verbundene CO2-Ausstoß begrenzt (Beitrag zur Erbringung des europäischen Anteils am Klimaschutz) und die Importabhängigkeit vermindert (Erhöhung der Versorgungssicherheit) werden.

1.3

Der wachsende Anteil intermittierender erneuerbarer Energien hat intensive Debatten über die technischen und wirtschaftlichen Folgen eines solchen Zuwachses ausgelöst. Auf Ersuchen des irischen Ratsvorsitzes will der Ausschuss diesbezüglich mehr Klarheit und Transparenz schaffen.

1.4

Oberhalb eines gewissen Anteils intermittierender erneuerbarer Energien am Energiemix werden die zusätzlichen Elemente des erforderlichen Gesamtsystems benötigt – Ausbau der Übertragungsnetze, Einrichtungen für die Speicherung, Reservekapazitäten sowie Bemühungen um flexiblen Verbrauch. Darum empfiehlt der Ausschuss, diese noch fehlenden Elemente mit Nachdruck zu entwickeln und zu installieren.

1.5

Sollten diese Komponenten noch nicht verfügbar sein, kann die gelieferte Energie entweder zeitweise nicht genutzt werden oder die Netze und Regelsysteme können zeitweise überlastet sein. Die Konsequenzen wären ein ineffektiver Gebrauch der installierten Einrichtungen und eine Gefährdung der Versorgungssicherheit sowie der Funktionsfähigkeit des europäischen Energiemarkts.

1.6

Die Einspeiseregeln für erneuerbare Energien müssen daher sorgfältig (re)definiert werden, damit die Versorgungssicherheit jederzeit gewährleistet ist und die regenerative Stromproduktion der Nachfrage folgt.

1.7

Der weitere Ausbau von Produktionsanlagen intermittierender erneuerbarer Energien erfordert somit noch beachtliche Investitionen, um die fehlenden Komponenten des Gesamtsystems zu entwickeln und bereitzustellen. So sind insbesondere die Entwicklung und Installation einer ausreichenden Gesamtspeicherkapazität eine Herausforderung, eine Chance und eine absolute Notwendigkeit.

1.8

Daraus folgt, dass ein verstärkter Einsatz von Technologien zur Nutzung intermittierender erneuerbarer Energien durchaus zu einem weiteren signifikanten Kostenanstieg elektrischer Energie führen kann; soweit dieser an die Verbraucher weitergegeben wird, könnte dies zu einem Anstieg des Strompreises um einen signifikanten Faktor führen.

1.9

Ein nachhaltiges Energiesystem, das hauptsächlich aus erneuerbaren Energien gespeist wird, ist jedoch die einzige langfristige Lösung des Energieproblems, selbst wenn damit zusätzliche Kosten – im Vergleich zur Verwendung fossiler Brennstoffe – verbunden sind. Zudem sind steigende Kosten bereits deswegen unvermeidlich, weil auch externe Kosten und Subventionen auf fossile Brennstoffe einbezogen werden sollten.

1.10

Darum empfiehlt der Ausschuss, die Kommission möge eine entsprechende sorgfältige volkswirtschaftliche Studie zum Thema der vorliegenden Stellungnahme veranlassen, in welcher die offenen Fragen quantitativ behandelt werden.

1.11

Weitere wirtschaftliche Auswirkungen infolge dieses Kostenanstiegs könnten (i) eine potenzielle Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und (ii) eine stärkere Belastung insbesondere der sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen sein.

1.12

Daher besteht das Risiko einer weiteren Verlagerung der Industrieproduktion in Staaten außerhalb der EU, in denen Energie billiger ist. Dadurch ist nicht nur dem Klima nicht gedient (carbon leakage), sondern wird auch der Wirtschaft und dem Wohlstand Europas geschadet.

1.13

Da darüber hinausgehende zusätzliche Kosten durch europaweit unterschiedliche und ungeeignete Förderungen und Fehlanreize verursacht werden können, muss der gesamte Problemkreis, einschließlich der Strategien für alternative Energieträger, offen und transparent diskutiert werden, wobei die Frage der externen Kosten der verschiedenen Energieträger und deren Verknüpfung mit einbezogen werden sollte.

1.14

Also sind eine europäische Energiepolitik und ein europäischer Energiebinnenmarkt erforderlich, auf deren Basis ein verlässlicher, vertrauenerweckender Rechtsrahmen für Energieinvestitionen und europaweite Energiesysteme entsteht. Dies ist das primäre Ziel der Bemühungen um eine Europäische Energiegemeinschaft.

1.15

Es bedarf eines effizienteren, mehr marktwirtschaftlich orientierten und in der gesamten EU geltenden Förderinstruments, das ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Zwecken dient und etwaige externe Kosten einbezieht, damit die Technologien für erneuerbare Energien im freien Markt wettbewerbsfähig werden.

1.16

Dieses Instrument könnte ein angemessener Preis für Kohlenstoff sein, z.B. eine Steuer. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, zusammen mit den Mitgliedstaaten entsprechende politische Initiativen für ein derartiges Förderinstrument zu entwickeln. Alle weiteren auf Marktdurchdringung der verschiedenen Energieformen gerichteten Förderinstrumente könnten dann abgeschafft werden.

1.17

Aufgrund des globalen Charakters der Klimaproblematik und der weltweiten Verflechtung der Wirtschaft müssen die globale Wirtschaftslage und die globalen CO2-Emissionen stärker berücksichtigt werden. Dies zeigt die entscheidende Bedeutung globaler Vereinbarungen über Klimaschutzmaßnahmen.

1.18

Eine wichtige Maßnahme im weiteren Vorgehen wäre die Einrichtung eines öffentlichen Dialogs über Energie quer durch Europa, namentlich des Europäischen Energiedialogs, der vom Ausschuss in einer vor Kurzem verabschiedeten Stellungnahme umrissen und von der Kommission begrüßt wurde. Letztlich müssen auch die Auswirkungen des Energiefahrplans 2050 auf die EU-Wirtschaft und ihre weltweite Wettbewerbsfähigkeit untersucht werden, ehe endgültige Entscheidungen mit langfristigen Folgen getroffen werden.

2.   Einleitung

2.1

Der Ausschuss begrüßt das Ersuchen des irischen Ratsvorsitzes, denn es adressiert ein ernstes und bezüglich des angestrebten Ziels des "Energiefahrplans 2050" noch ungelöstes Problem. In früheren Stellungnahmen und bei Vorbereitung des sog. "20/20/20"-Pakets hat der Ausschuss erneuerbare Energieträger nachdrücklich unterstützt.

2.2

Zudem hat der Ausschuss das Umfeld des vorliegenden Themas erst kürzlich in seiner Stellungnahme "Integration der erneuerbaren Energien in den Energiemarkt" (CESE 1880/2012) behandelt. Dabei hat er sich für den weiteren Ausbau von Anlagen zur Umwandlung erneuerbarer Energieträger in elektrische Energie ausgesprochen, allerdings im Rahmen einer ausgewogenen Mischung der verschiedenen Energieträger. Er empfahl, den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten mehr Gewicht zu geben und den Kostenanstieg zu begrenzen, vor allem durch das einzige Förderinstrument eines angemessenen "Preises für Kohlenstoff". Diese Grundhaltung ist auch Basis der vorliegenden Stellungnahme.

2.3

Ausgangspunkte und Hintergrund der vorliegenden Stellungnahme sind zudem:

Die bisherigen Bemühungen auf internationaler Ebene, einen weiteren Anstieg der globalen CO2-Emissionen zu verhindern, waren de facto erfolglos (Dieter Helm, "The Carbon Crunch", Yale University Press, 2012). Die Überschreitung der 400 ppm-Grenze ist bereits in Sicht.

Energie – zunehmend in Form elektrischer Energie – ist das Lebenselixier unserer heutigen Gesellschaft. Ein länger anhaltender Blackout hätte schwerwiegendste Folgen ("Was bei einem Black-Out geschieht", Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, 2011).

Darum muss die Versorgungssicherheit neben den anderen Kriterien der Energiewirtschaft einen mindestens gleichrangigen Stellenwert erhalten.

Als politische Aufgabe für einen europäischen Beitrag zum Klimaschutz hat der Europäische Rat im Februar 2011 für die EU das Ziel bestätigt, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95% gegenüber 1990 zu verringern. Dies wurde durch den von der Kommission vorgestellten Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft (COM(2011) 112 final) derart konkretisiert, dass für den Elektrizitätssektor eine Senkung sogar auf 5% dieses Referenzwertes erzielt werden soll.

Um das Endziel des Energiefahrplans 2050 zu erreichen und den Rahmen der EE-Richtlinie einzuhalten, müssen erneuerbare Energieträger in einem jeweils von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegenden Energiemix jenen Teil der Energieversorgung übernehmen, der nicht durch Kernenergie oder Kraftwerke mit CCS abgedeckt wird.

Kernproblem der heute dominierenden erneuerbaren Energieträger wie Wind und Sonne ist deren stark fluktuierendes Angebot, das keine gesicherte Leistung bieten kann (Friedrich Wagner, "Features of an electricity supply system based on variable input", Max-Planck-Institute for Plasmaphysics, 2012). Erste daraus folgende Probleme sind bereits spürbar und werden in der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien behandelt.

3.   Die Kostenfrage

3.1

Der wesentliche wirtschaftliche Aspekt aller Energieversorgung betrifft die mit Aufbau und Betrieb des Gesamtsystems – vom Erzeuger bis zum Verbraucher – verbundenen Kosten und deren Einfluss auf Wirtschaftskraft, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Tragfähigkeit.

3.2

In den letzten Jahren waren in allen Sektoren der Energieversorgung deutliche Kostenanstiege zu verzeichnen. Dies betraf fossile Energieträger wie Öl oder Gas (verstärkt durch Steuern und Abgaben!), neu zu bauende Kernkraftwerke auf Grund des deutlichen Mehraufwands bei den Sicherheitssystemen, aber insbesondere erneuerbare Energieträger wegen der beachtlichen Subventionen und Unterstützungsmechanismen für deren Marktdurchdringung. Hinzu kommen noch die im Gesamtsystem enthaltenen indirekten Kosten für Netzausbauten, die Bereitstellung von Regelenergie und von Backup-/Reservekapazitäten sowie die unterschiedlichen externen Kosten der verschiedenen Energietechnologien.

3.3

Wegen der in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlichen Subventionen für und/oder Steuern auf einzelne Energieträger ist es besonders schwierig und komplex, ein die gesamte EU umfassendes Gesamtbild über die Kosten der verschiedenen Energieträger zu erhalten. Dieser Aspekt wird in den Betrachtungen des Kapitels 4 nochmals aufgegriffen.

3.4

In diesem Kapitel werden die durch einen wachsenden Anteil fluktuierender erneuerbarer Energieträger zu erwartenden Kosten betrachtet, und im nächsten Kapitel eine mögliche weitere Rückwirkung auf die Wirtschaft, verbunden mit Handlungsempfehlungen. Die Kosten für andere Energieträger können zwar ebenfalls steigen, die Prognosen über die Reichweite und zukünftige Kostenentwicklung fossiler Brennstoffe werden hauptsächlich von der Debatte über das Potenzial von Shale-Gas and Shale-Öl und über die erheblichen Unterschiede der Energiepreise zwischen den EU-Mitgliedstaaten und beispielsweise den USA bestimmt, und dies ist ein wichtiger Faktor bei der Abwägung der wirtschaftlichen Vorteile und Risiken eines weiteren Ausbaus fluktuierender erneuerbarer Energieträger; indes geht es in diesem Kapitel um die Kosten, die in Verbindung mit einer zunehmenden Nutzung intermittierender erneuerbarer Energien zu erwarten stehen.

3.5

Dies geschieht unter dem Verständnis, dass dies nur zu vorläufigen Ergebnissen führen kann. Denn bisher ist keine unabhängige und anerkannte Analyse bekannt, die zu einem umfassenden Energiekosten-Modell führt, welches zudem nicht nur alle bisher bekannten äußeren Auswirkungen berücksichtigt, sondern auch die kürzliche Entwicklungen im Auffinden und der Gewinnung unkonventioneller fossiler Energieträger. Letztlich sollte die Kommission eine Studie zu den Auswirkungen des Energiefahrplans 2050 auf die EU-Wirtschaft und ihre weltweite Wettbewerbsfähigkeit auf die Wege bringen, ehe endgültige Entscheidungen mit langfristigen Folgen getroffen werden. Dabei sollte auch der sozioökonomische Nutzen der erneuerbaren Energieträger untersucht werden.

3.6

Obwohl in der Debatte über die verschiedenen Energieträger auch deren sog. externe Kosten (insbesondere bei der Kernkraft) eine erhebliche Rolle spielen, und wenngleich auch die Techniken zur Nutzung erneuerbarer Energieträger mit Risiken (z.B. Dammbruch, giftige Materialien) und externen Kosten (z.B. hoher Landschaftsverbrauch) verbunden sein können, würde es den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen, diese und ihre Verknüpfung (u.a. aufgrund von Backup-Kraftwerken, die fossile Brennstoffe nutzen) hier quantitativ in die Betrachtung einzubeziehen. Dieser Aspekt sollte jedoch in künftigen Debatten aufgegriffen werden.

3.7

Bei weiterem Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energieträger werden die indirekten Systemkosten die direkten Kosten der jeweiligen "Elektrizitätserzeugungsanlagen" übertreffen. Zwar sind die direkten Kosten der " Elektrizitätserzeugungsanlagen" deutlich gesunken, ohne Subventionen sind sie vorläufig jedoch noch nicht wettbewerbsfähig und nach wie vor für steigende Energierechnungen verantwortlich. Demgegenüber werden die unten genannten zusätzlichen Kostenbestandteile des Gesamtsystems allerdings erst mit höheren relativen Anteilen der erneuerbaren Energien wesentlich stärker ins Gewicht fallen. Dies wird im Folgenden näher erläutert.

3.8

Fluktuierendes Angebot: Windkraft und Sonnenenergie stehen nur zur Verfügung, wenn der Wind weht und/oder die Sonne scheint. Also liefern Anlagen zur Umwandlung fluktuierender erneuerbarer Energien in elektrischen Strom ihre volle Leistung nur in einer begrenzten Anzahl von Stunden pro Jahr, bei der Photovoltaik beträgt die Nutzungsdauer der installierten Leistung nämlich etwa 800 bis 1 000 Stunden (in Deutschland) und ca. 1 800-2 200 Stunden bei der Windkraft an Land, etwa das Doppelte auf See. So betrug z.B. in Deutschland im Jahr 2011 die Jahresenergieernte (abgeleitet aus "Energie-Daten 2011", Bundesministerium für Wirtschaft) von Photovoltaik nur gut 10% und von Wind-Turbinen nur knapp 20% der bei Dauerbetrieb theoretisch erreichbaren Jahresenergieernte. Demgegenüber können fossile und Kernkraftwerke mit 80 bis 90% eine deutlich höhere Jahresnutzung erreichen (d.h. mehr als 7 000 Volllaststunden), und dieses Potenzial konnte bisher auch für den Grundlastbetrieb genutzt werden.

3.9

Überkapazitäten: Um die Energieausbeute der bisherigen "klassischen" – fossilen oder nuklearen – Energiequellen durch erneuerbare fluktuierende elektrische Energie im Jahresmittel zu ersetzen, ist daher ein Ausbau der entsprechenden Erzeugungskapazitäten um einen Faktor weit über die Jahresspitzenlast hinaus erforderlich; es muss eine erhebliche Zahl an Produktionsanlagen mit Überkapazitäten installiert und verfügbar gehalten und entsprechend die Übertragung/Verteilung des Leistungsüberschusses unterstützt werden. Die benötigten Kapazitäten vervielfachen sich noch nach Maßgabe des bei Speicherung und Wiedernutzung entstehenden Verlustfaktors.

3.10

Zwei typische Fälle: Die Folgerungen aus dieser Sachlage sollen zwei typisch auftretende Situationen beleuchten, nämlich einerseits, dass im betrachteten Zeitraum die Mehrheit der installierten "Produktionsanlagen" elektrische Energie liefert ( Überschussangebot ), und andererseits, dass nur eine unzureichende Minderheit liefern kann ( Überschussnachfrage ).

3.11

Überschussangebot: Wann immer auf Grund der benötigten Überkapazitäten das Angebot an Wind- oder Solarstrom die Kapazität der Netze und den jeweiligen Bedarf der aktuell erreichbaren Verbraucher übersteigt, muss die Erzeugung entweder teilabgeschaltet werden (d.h. ein Teil der möglichen Energie bleibt ungenutzt), oder es kommt zu Netzüberlastung, oder man verfügt über Einrichtungen, diese elektrische Energie zu speichern und sie später, bei unzureichendem Wind- oder Solarangebot, wieder für den Verbraucher nutzbar zu machen. Eine Milderung wird durch die Möglichkeiten für flexiblen Verbrauch erwartet (Ziffer 3.16).

3.11.1

Netzüberlastung, Versorgungssicherheit: Bereits jetzt überlastet das Angebot aus deutschen Wind- und/oder Solaranlagen zeitweise die vorhandenen Übertragungsnetze in Nachbarländern (insbesondere in Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn - EurActiv, 21. Januar 2013) und führt zu Irritationen, die eine Gefahr für den Netzbetrieb sind, und zusätzlichen Kosten aufgrund der Abwehrmaßnahmen und der notwendigen Investitionen in Schutzsysteme (z.B. Phasenregler). Außerdem besteht die Gefahr, die Regelungstoleranz erheblich zu überschreiten und die Versorgungssicherheit ernsthaft zu gefährden.

3.11.2

Speicherung: Um (i) das Netzsystem vor der Überlastung aufgrund des Überangebots aus beträchtlichen Überkapazitäten zu schützen, die die logische Folge eines wachsenden Anteils intermittierender erneuerbarer Energien sind, und (ii) diese Energie für den späteren Gebrauch zu speichern, sind die Entwicklung und Installation einer ausreichenden Gesamtspeicherkapazität eine Herausforderung, Chance und absolute Notwendigkeit.

3.11.3

Speicherverlustfaktor: Obwohl Wasserspeicherkraftwerke die geringsten Verluste aufweisen und bereits seit langem großtechnisch im Einsatz sind, sind die erschließbaren Ausbaupotenziale in Europa aus heutiger Sicht aus wirtschaftlichen, natürlichen und Akzeptanzgründen sehr begrenzt. Weitere Speicherkonzepte für den großtechnischen Einsatz befinden sich noch in Entwicklung. Hochrechnungen zufolge wird die aus innovativen Speichern entnommene Elektrizität umgerechnet mindestens doppelt so viel kosten wie die nicht gespeicherte Elektrizität (Niels Ehlers, "Strommarktdesign angesichts des Ausbaus fluktuierender Stromerzeugung", 2011), also mindestens mit einem Verlustfaktor zwei verbunden sein. Insbesondere hier besteht ein sehr hoher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.

3.11.4

Priorität Gesamtsystem: Mit weiterem Ausbau der Produktionsanlagen intermittierender erneuerbarer Energien müssen daher zunächst vorrangig die noch fehlenden Elemente des Gesamtsystems installiert und bereitgehalten werden, insbesondere angemessene Übertragungsinfrastrukturen und Speichersysteme sowie Systeme für den flexiblen Verbrauch.

3.11.5

Vorabmaßnahmen: Wenn an einer vorrangigen Einspeisung ins Netz (Vorrangregelung) festgehalten werden soll, muss dies so erfolgen, dass die Regelungstoleranz der Netze nicht überschritten, die regenerative Stromproduktion der Nachfrage angepasst und die Versorgungssicherheit nicht gefährdet werden. Andernfalls müssen geltende Vorrangregelungen revidiert werden.

3.12

Überschussnachfrage: Aufgrund des fluktuierenden Einspeiseverhaltens dieser regenerativen Energieträger ist deren Beitrag zur sicheren Deckung der sog. Jahreshöchstlast – also zur "gesicherten Leistung" – sehr gering. Er ist nach Berechnungen der deutschen Energie-Agentur dena ("Integration EE", dena, 2012) bei Windenergie auf 5 bis 10%, bei Photovoltaik (PV) sogar nur auf 1% zu veranschlagen (zum Vergleich: Braunkohlenkraftwerk 92%). Diese Relationen können sich je nach geographischer Lage und klimatischen Verhältnissen einzelner Länder erleichtern oder erschweren.

3.13

Reservekraftwerke: Darum werden weiterhin konventionelle Kraftwerke ("Reserve- oder Backup-Kraftwerke") benötigt, um Mangelangebote der erneuerbaren Energien auszugleichen und eine zuverlässige, regelbare Leistung bereitzustellen. Dies ist unerlässlich, so lange neuartige Stromspeicher nicht in ausreichender Menge verfügbar sind. Einige konventionelle Technologien arbeiten allerdings nicht mehr wirtschaftlich, obwohl sie benötigt werden, um die Stabilität der Stromnetze zu gewährleisten. Falls diese Reservekraftwerke fossile Brennstoffe (und nicht z.B. Wasserstoff, der in einem Elektrolyseverfahren unter Verwendung von Elektrizität aus erneuerbaren Energieträgern gewonnen wird) verwenden, erschweren sie zudem, das Ziel des Energiefahrplans 2050 überhaupt zu erreichen.

3.13.1

Kapazitäten vorhalten: Reservekraftwerke werden im Vergleich zu "normalen" Grundlastkraftwerken mit geringerer jährlicher Auslastung und ggf. mit schlechterem Wirkungsgrad und höheren variablen Kosten betrieben. Deshalb sind deren Vollkosten in diesem Fall höher als bei einem normalen Kraftwerksbetrieb, und es wird diskutiert, welche wirtschaftlichen Anreize erforderlich sind, um die notwendigen Reservekapazitäten zu schaffen (Veit Böckers et al., "Braucht Deutschland Kapazitätsmechanismen für Kraftwerke? Eine Analyse des deutschen Marktes für Stromerzeugung", Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, 2012).

3.14

Regionaler Ausgleich: Neben "Reservekraftwerken" und Speichertechniken besteht auch die Möglichkeit, zuweilen vorhandene regionale Unterschiede zwischen Überangebot und Übernachfrage auszugleichen, z.B. wenn der Wind im Nordwesten Europas weht, aber nicht im Südosten. Allerdings müssen bei dieser Möglichkeit dann auch in der vom Wind begünstigten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt so viele Überkapazitäten installiert sein, dass sie den Leistungsbedarf der gerade nicht begünstigten Region mit abdecken können, und beide Regionen durch eine angemessene Übertragungsinfrastruktur verbunden sein.

3.15

Erweiterung der Stromtransportnetze: Da die große Mehrheit der regenerativen Stromerzeugungskapazitäten in die Nieder- und Mittelspannungsnetze eingespeist wird, müssen diese ausgebaut und ertüchtigt werden. Außerdem müssen die Transformatoren und Steuerungssysteme (smart grid) an die neuen Aufgaben der Verteilnetze angepasst werden. Ferner sind dringend Investitionen in die Hochspannungsübertragungsnetze erforderlich, da unzureichende Verbindungen (z.B. zwischen Nord- und Süddeutschland) ungeplante Energieflüsse bedingen, die die Sicherheit des Übertragungssystembetriebs gefährden. Einerseits sind diese dadurch bedingt, dass Windanlagen in der Regel nicht in der Nähe der Verbrauchsschwerpunkte oder Speicheranlagen errichtet werden, anderseits würde mit der Kapazitätserweiterung eine verbesserte Synchronisierung in Europa möglich, die in einem gewissen Umfang Stromspeicher und Reservekapazitäten substituieren kann.

3.15.1

Wenn das Potenzial der erneuerbaren Energien in Europa wirtschaftlich sinnvoll ausgeschöpft und gleichzeitig Versorgungssicherheit gewährleistet werden soll, ist es erforderlich, die vorhandenen Stromnetze lokal, national sowie transnational-europäisch massiv auszubauen, um das Angebot an fluktuierenden Energien optimal nutzen zu können.

3.16

Demand Side Management (DSM) und Elektromobilität: Weitere Optionen, mit denen die Auswirkungen schwankender Einspeisungen abgefedert werden können, bieten die zeitliche Lastverschiebung auf der Nachfrageseite ("funktionale Energiespeicherung") und Elektromobilität. Es gibt Stromanwendungen, die sich dafür eignen können. Dazu gehören unter anderem Klimaanlagen, Kühl- und Heizanlagen, Elektrolyseure und Elektroschmelzöfen. Ein möglicher Kandidat könnte auch die Elektromobilität mit Batteriefahrzeugen sein. Dabei ist zu klären, welche finanziellen Anreize in Verbindung mit intelligenter Messung gewährt werden müssen, damit von den Stromkunden entsprechende Potenziale bereitgestellt werden.

3.17

Gesamte Systemkosten: Unvermeidlich muss die Volkswirtschaft, im Wesentlichen also der Verbraucher (und/oder Steuerzahler), für die gesamten Systemkosten aus der Nutzung fluktuierender erneuerbarer Energieträger aufkommen. Diese umfassen die Vollkosten mindestens eines doppelten Elektrizitätsversorgungspakets: einerseits des Kraftwerkparks für regenerative Energie mit seinen unvermeidlich großen Überkapazitäten, die genutzt werden müssen, und andererseits des Kraftwerkparksystems aus konventionellen Reservekapazitäten, Stromspeichern, neuen Übertragungskapazitäten und Lastmanagement bei den Endkunden. Diese müssen allerdings den Kosten der anhaltenden Nutzung fossiler Energieträger (siehe Ziffer 3.3) und etwaigen Beihilfen für die Stromerzeugung aus nicht erneuerbaren Quellen gegenübergestellt werden.

3.18

Soweit dafür nicht andere Gründe vorliegen, ist bemerkenswert, dass in jenen Mitgliedstaaten, die eine geplante Förderpolitik für erneuerbare Energien betreiben wie Dänemark oder Deutschland der Preis für Elektrizität bereits ca. 40-60% höher liegt als im EU-Durchschnitt (Eurostat 2012). Daraus folgt, dass ein verstärkter Einsatz von Technologien zur Nutzung intermittierender erneuerbarer Energien nach Maßgabe der Ziele des Energiefahrplans 2050 zu einem weiteren Kostenanstieg elektrischer Energie führen wird; soweit dieser an die Verbraucher weitergegeben wird, kann dies nach erster grober Abschätzung zu einen Anstieg des Strompreises um einen signifikanten Faktor führen. Siehe deswegen die Empfehlung unter Ziffer 3.5.

3.19

Die erste Antwort auf die Fragestellung des irischen Ratsvorsitzes lautet also: Weitere signifikante Kostensteigerungen für die Verbraucher von zunehmend mehr Elektrizität aus fluktuierenden erneuerbaren Energien sind nach Maßgabe der Ziele des Energiefahrplans 2050 vorhersehbar. Bei den bisher in der Öffentlichkeit diskutierten Betrachtungen wurden die Kosten des notwendigen Gesamtsystems meistens nicht ausreichend berücksichtigt, sondern nur die Kosten der (intermittierenden) Einspeisung aus den Produktionsanlagen ins Netz betrachtet, welche schätzungsweise die Hälfte der Gesamtkosten umfassen.

4.   Wirtschaftliche Gesichtspunkte

Angesichts des oben Dargelegten ist der wichtigste weitere Gesichtpunkt, mit welchen Maßnahmen (i) diese Kostensteigerung zumindest so niedrig wie möglich gehalten werden kann, (ii) deren Folgen akzeptabel bleiben, iii) die Wirtschaftskraft der EU davon profitiert und iv) die Energieversorgungssicherheit gewährleistet ist.

4.1

Gesamtsystem erneuerbare Energien: Um eine vermeidbare Verschwendung finanzieller Ressourcen und noch höherer Energiepreise zu verhindern, müssen vorrangig alle notwendigen Komponenten des Gesamtsystems – also Speicher, Netze und Backup-Kraftwerke – definiert, entwickelt und in ausreichenden Umfang installiert werden, um den Weg für den weiteren Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energieträger zu ebnen. Das Beispiel Deutschland und die Reaktion der Nachbarländer zeigen, was geschieht, wenn ganz zu Beginn gegen dieses Prinzip verstoßen wird.

4.1.1

Bedingungen an die Anbieter: Ein derartiges EU-weites Gesamtsystem für erneuerbare Energien muss daher verwirklicht werden, um die Überarbeitung der Einspeisungsregeln (siehe Ziffer 3.10.5) zu vermeiden. Zum Beispiel könnten die Anbieter von Strom aus fluktuierenden erneuerbaren Energien verpflichtet werden, Einspeisungen aus erneuerbaren Energien für den kommenden Tag (Day-ahead) möglichst exakt vorauszuplanen. Diese Aufgabe könnte erleichtert werden durch mögliche Synergien mit Systemen zur Versorgung mit Fernwärme und -kälte sowie mit Verkehrssystemen.

4.2

In der Debatte über weitere Maßnahmen sollte dabei zwischen den verschiedenen Kategorien, Zeitspannen und Handlungsfeldern (unbeschadet deren Verknüpfungen) unterschieden werden, wie z.B.:

unbedingt und jederzeit Versorgungssicherheit gewährleisten;

beschränkte Netzkapazitäten für Übertragung und Verteilung;

EU-Gemeinschaftspolitik versus nationalstaatliche Alleingänge;

wirtschaftspolitisch: Auswirkungen der höheren Kosten, Amortisationszyklen, Innovationen, Vertrauen der Investoren, Energiekosten in Produktion, Gewerbe und Verkehr, Marktwirtschaft versus Planwirtschaft;

sozialpolitisch: (nicht quersubventionierte) Arbeitsplätze, Energiekosten für den privaten Verbraucher;

Zeithorizont: einerseits bis 2020-2030 planen, andererseits über 2050 hinaus denken. Viele Entwicklungen und ihre Umsetzung benötigen Zeit; Überhastung führt zu Fehlentwicklungen;

Spielraum für Innovationen und deren Erprobung;

global: (i) bezüglich Klima/zunehmende CO2-Emissionen und (ii) bezüglich Wirtschaftspolitik und der europäischen Wettbewerbssituation, carbon leakage.

4.3

Prioritätenliste: Bei der Suche nach Handlungsoptionen ist stärker auf die globalen Trends und Fakten zu achten, eine klare Prioritätenliste der wichtigsten Ziele zu erstellen und die zunehmenden, nicht abgestimmten regulativen staatlichen Eingriffe in zahlreichen Mitgliedstaaten zurückzudrängen (siehe Ziffer 4.7). Stattdessen sollte Vertrauen geschaffen werden, um die privatwirtschaftliche Investitionsbereitschaft zu entfesseln. Dazu werden im Folgenden einige Punkte herausgegriffen.

4.4

Global denken: Hauptziel der europäischen Energie- und Klimapolitik sollte es sein, jene Maßnahmen zu treffen und Signale zu setzen, die angesichts der bisherigen Misserfolge (Kopenhagen, Cancún, Durban, Doha) am erfolgversprechendsten sind, um den globalen Anstieg der CO2-Konzentration zu minimieren, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf dem globalen Markt zu stärken und die Kosten für Energie auf dem innereuropäischen Markt so preiswert wie möglich zu halten. Ein ausschließlich europazentriertes Weltbild ist angesichts der weltweiten Klimaproblematik irreführend. Der Anspruch einer "Vorreiterrolle" könnte zwar Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern, aber auch die internationale Verhandlungsposition der EU und ihren Bezug zur Realität schwächen.

4.5

Transparenz, Zivilgesellschaft und Verbraucherinteressen: Um die Zivilgesellschaft konstruktiv an diesen Prozessen zu beteiligen (TEN/503) und eine stärker an den Interessen der Verbraucher orientierte Energiepolitik durchzusetzen, müssen Bürger und Entscheidungsträger besser und offener mit den quantitativen Fakten und Zusammenhängen vertraut gemacht werden. Dies wird häufig durch einseitige Argumentation und Information seitens der jeweils begünstigten Interessengruppen erschwert, die Nachteile ihrer Standpunkte werden verschleiert. Der Ausschuss begrüßt die dementsprechenden Schlussfolgerungen des Rats (Schlussfolgerungen des Rates zu erneuerbaren Energien, 3. Dezember 2012), empfiehlt aber zugleich eine noch weitergehende offenere Informationspolitik. Langfristig gewinnt immer die Realität.

4.6

Europäischer Energiedialog: Eine wichtige Maßnahme im weiteren Vorgehen wäre, darüber einen öffentlichen Dialog quer durch Europa zu führen, wie er vom Ausschuss in einer vor Kurzem verabschiedeten Stellungnahme (TEN/503) umrissen und von der Europäischen Kommission begrüßt wurde. Dafür ist notwendig, die Öffentlichkeit einzubinden, um Verständnis und Akzeptanz für die Veränderungen zu finden, welche unser Energiesystem in den kommenden Dekaden zu durchlaufen hat. Diesbezüglich ist der Ausschuss in seiner Zusammensetzung und Aufgabe besonders geeignet, an die Bürger und Stakeholder in den Mitgliedstaaten heranzutreten und ein umfassendes Programm partizipativer Demokratie und Handlungsoptionen zu entwickeln.

4.7

Europäische Energiegemeinschaft: Der Ausschuss bekräftigt sein Engagement für eine Europäische Energiegemeinschaft (CESE 154/2012). Nur durch sie können die europäischen Positionen und Interessen mit internationalen Partnern am wirksamsten vertreten und die jeweiligen regionalen und klimatischen Gegebenheiten optimal genutzt werden. Und nur so können die einander häufig widersprechenden nationalen Regelwerke und Förderinstrumente koordiniert und optimiert werden. Und nur so kann der innereuropäische Netzausbau optimal gestaltet und verwirklicht werden.

4.8

Energiebinnenmarkt: Eine Konsequenz einer Europäischen Energiegemeinschaft wäre ein freier Energiebinnenmarkt (CESE 2527/2012), der auch die erneuerbaren Energien einschließt. Er kann bewirken, dass angesichts des in dem Energiefahrplan 2050 beschriebenen radikalen Umbaus der Energieversorgung die jeweiligen Stromproduktionen so kostengünstig wie möglich an den Bedürfnissen der Verbraucher ausgerichtet werden und dass Investitionen am richtigen Ort (z.B. Klimaregionen) und zur richtigen Zeit in die jeweils kostengünstigsten Stromerzeugungstechnologien fließen. Also müssen auch die erneuerbaren Energien in einen marktwirtschaftlich organisierten Europäischen Energiebinnenmarkt integriert werden.

4.8.1

Wettbewerbsfähige erneuerbare Energien: Erneuerbare Energien werden dann im Energiemarkt wettbewerbsfähig, wenn die Emission von CO2 aus fossilen Brennstoffen durch ein geeignetes, kohärentes Preis- bzw. Marktinstrument ausreichend eingepreist wird. In diesem Sinne sollten erneuerbare Energien mittelfristig "wettbewerbsfähig" gemacht werden. Dafür sollten sie nur den freien Strompreis und einen angemessenen Preis (z.B. Steuern) für Kohlenstoff als Investitionsanreiz benötigen. Zusammen mit einer sachgerechten Bestimmung von Netznutzungsentgelten ist dies Voraussetzung und Gewähr, dass Investitionen in Reservekraftwerke, Speicher und Demand Side Management zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und im richtigen Umfang erfolgen. Beihilfen und Subventionen sollten dann ausschließlich für Forschung, Entwicklung und Demonstration von Technologien gewährt werden.

4.9

Verteilung der Kosten mit Augenmaß: Obwohl sich der zu erwartende Anstieg der Kosten für elektrische Energie gerade erst andeutet, werden bereits Maßnahmen für Ausnahmefälle diskutiert oder sogar umgesetzt. Einerseits gilt es und wird auch vom Ausschuss angemahnt (1), den einkommensschwachen Teil der Bevölkerung vor Energiearmut zu schützen. Andererseits müssen die energieintensiven Industriezweige von den gestiegenen Energiekosten verschont werden, um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Ansonsten würden deren Produktionsstätten weg aus Europas dorthin verlegt, wo Energie billiger ist. Damit wäre dem Klima aber in keiner Weise gedient (carbon leakage) (TEN/492).

4.9.1

Eine Folge dieser Situation ist allerdings, dass der "Mittelstand" von Bevölkerung und Wirtschaft deren "erlassene" Kosten noch zusätzlich tragen muss.

4.10

De-Industrialisierung vermeiden: Weitere De-Industrialisierung der EU sollte vermieden werden. Durch De-Industrialisierung wird zunächst zwar ein Erfolg europäischer Bemühungen zur Absenkung der CO2-Emissionen vorgetäuscht. Tatsächlich handelt es sich aber auch hier um verdecktes carbon leakage: wenn Produkte statt wie bisher in Europa anderswo hergestellt werden, bleibt der mit ihnen verknüpfte carbon footprint erhalten bzw. verstärkt sich sogar.

4.11

Mehr Forschung und Entwicklung statt überstürzter verfrühter und umfangreicher Markteinführung. Die Grenze zwischen Forschung, Entwicklung und Demonstration einerseits und großskaliger Markteinführung und -unterstützung andererseits darf nicht verwischt werden, z.B. weil dadurch sogar innovationsfeindliche Marktsituationen entstehen können. Die weit überförderte Markteinführung von Photovoltaik (z.B. in Deutschland - Frondel et al., "Economic impacts from the promotion of renewable energy technologies", Energy Policy, 2010) hat nicht bewirkt, in der EU wettbewerbsfähige Systeme zu entwickeln (Hardo Bruhns und Martin Keilhacker, "Energiewende – wohin führt der Weg", Politik und Zeitgeschichte, 2011). Der Preisverfall von Photozellen kam aus China, nicht aus Europa! Darum müssen alle erfolgversprechenden Optionen für eine CO2-arme Energieversorgung, insbesondere auch grundlastfähige wie z.B. die Geothermie und die Kernfusion mit Nachdruck entwickelt werden. Das Energieproblem wird bis 2050 weder in Europa noch global endgültig gelöst sein!

4.12

Investitionsanreize setzen: Angesichts der gegenwärtigen Krise und des benötigten Ausbaus des Gesamtsystems sind Investitionen in neue Techniken und Infrastrukturen dringend geboten. Sie erzeugen Aufbruchstimmung, sie schaffen Arbeitsplätze und Zuversicht. Dies gilt grundsätzlich auch für Investitionen in CO2-arme Technologien wie erneuerbare Energieträger. Dennoch gibt es Einschränkungen und Voraussetzungen, von denen einige bereits oben genannt wurden. Insbesondere sind seitens der Politik technologiespezifische Vorgaben zu vermeiden, denn sie können zu weiteren Fehlallokationen der begrenzten Mittel führen (s.o.).

4.13

Generelle Empfehlung: Generell wird also empfohlen, alle Regelwerke und Rahmenbedingungen zu überprüfen und darauf auszurichten, ein Forschung stimulierendes, investitionsförderndes, innovationsfreundliches, binnenmarktwirtschaftliches und Versorgungssicherheit gewährleistendes Klima zu schaffen. Beihilfen müssen sich auf Forschung, Entwicklung und Demonstration von Technologien und Systemen konzentrieren, während die Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energieträger ausschließlich mit Hilfe des Kriteriums der CO2-Vermeidungskosten (carbon price!) erreicht werden sollte (CESE 271/2008). Gleichzeitig sind jegliche Subventionen für den Verbrauch fossiler Brennstoffe abzuschaffen.

4.14

Faire globale Wettbewerbsbedingungen: Damit dies ohne zusätzliche globale Wettbewerbsnachteile für die europäische Industrie erfolgt, und für die Lösung des weltweiten Klimaproblems eine hinreichende Wirkung entfaltet, ist es dringend nötig, dass auch die übrigen Staaten der Welt ähnliche Anstrengungen unternehmen oder sich gemeinsam auf realistische Zielvorgaben einigen, so dass weltweit faire und vergleichbare Wettbewerbsbedingungen herrschen. Der Ausschuss unterstützt weitere diesbezügliche Bemühungen seitens der EU trotz der bisherigen Enttäuschungen.

4.15

Europäischer Alleingang: Solange dies allerdings nicht gelingt, verbleibt die offene Frage, über welchen Zeithorizont hinaus sich die EU hier einen Alleingang leisten und an den einschneidenden Zielvorgaben festhalten kann, ohne für ihre Wirtschaftskraft massiven Schaden zu erleiden und sich damit gleichzeitig jener notwendigen Mittel zu entblößen, die erforderlich sind, um sich auf die dann wohl unvermeidliche Klimaänderung samt allen wirtschaftlichen und politischen Folgen einzustellen.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 53.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/9


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Einheitlicher europäischer Luftraum II+“ (Sondierungsstellungnahme)

2013/C 198/02

Berichterstatter: Jacek KRAWCZYK

Die Europäische Kommission beschloss am 24. Januar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Einheitlicher europäischer Luftraum II+

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 188 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Vollendung des einheitlichen europäischen Luftraums (SES) ist integraler Bestandteil des Prozesses zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums der EU-Wirtschaft durch eine stärkere Konsolidierung des europäischen Binnenmarkts. Ziel ist es, den Unionsbürgern bessere, wirksamere und verlässlichere Bedingungen für ihre Flugreisen zu bieten.

1.2

Aufgrund der anhaltenden Krise in der EU-Luftfahrt und insbesondere in der Luftfahrtindustrie ist eine rasche Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums umso notwendiger. Die europäischen Flugverkehrsmanagementdienste (ATM-Dienste) müssen unbedingt einen Wirkungsgrad in Bezug auf Leistung, Wirtschaftlichkeit, Qualität, Sicherheit und Umweltschutz erreichen, der mit international bewährten Verfahren vergleichbar ist.

1.3

Im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen TEN/451 (vom 20. Juni 2011) und TEN 354/355 (vom 21. Januar 2009) unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschusses die rasche und umfassende Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums und der Initiativen des Forschungsprogramms für das Flugverkehrsmanagement im einheitlichen europäischen Luftraum (SESAR) in dem ursprünglich 2004 und 2009 vereinbarten Umfang. Die der Europäischen Kommission in den EU-Verordnungen an die Hand gegebenen Rechtsmittel sind hierfür ausreichend. Aufgrund der anhaltenden Krise in der EU-Luftfahrt und insbesondere in der Luftfahrtindustrie könnten die für 2025 festgelegten Ziele überdacht werden.

1.4

Der Ausschuss bedauert, dass die meisten Mitgliedstaaten die an sie gerichteten Leistungsziele nicht erreicht haben, dafür allerdings keinerlei wirksame rechtliche Folgen tragen müssen. Er bedauert außerdem, dass die Initiative zur Einrichtung funktionaler Luftraumblöcke die erhofften Ergebnisse großteils nicht gebracht hat und die verbindliche Frist für ihre Einrichtung, namentlich der 4. Dezember 2012, nicht eingehalten wurde.

1.5

Diesbezüglich begrüßt der Ausschuss die Absicht der Europäischen Kommission, dem einheitlichen europäischen Luftraum durch eine neue Initiative "Einheitlicher europäischer Luftraum II+" ("SES II+") weitere Impulse zu verleihen.

1.6

Nach Meinung des Ausschusses sollte die Überarbeitung des geltenden SES-Rechtsrahmens nicht allein auf institutionelle Entwicklungen und eine größere Rechtsklarheit, sondern auch auf die Stärkung folgender Elemente ausgerichtet sein:

Top-down-Elemente in Ergänzung des Bottom-up-Ansatzes;

bessere Durchsetzung rechtzeitiger und grundlegender Fortschritte bei der Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums durch Sanktionen bei Nichteinhaltung;

Entflechtung von ATM-Nebendiensten – Öffnung für einen stärkeren Wettbewerb und das freie Spiel der Marktkräfte;

Festlegung von Zielen, die in gleichem Maße auf die Dienstequalität und die Effizienzverbesserung anheben;

stärkere Einbeziehung der Luftraumnutzer.

1.7

Die europäische Luftfahrt steckt in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage, die bereits zur Entlassung tausender Mitarbeiter geführt hat. Deshalb sind die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums und seine erhöhte Effizienz auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen in diesem Teil der Luftfahrt-Wertschöpfungskette von grundlegender Bedeutung. Diesbezüglich ist der 5. Pfeiler des einheitlichen europäischen Luftraums für die angemessene Berücksichtigung der Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Mobilität der Arbeitnehmer, Änderungen im Personalmanagement und Weiterbildung entscheidend. Der soziale Dialog sollte daher gestärkt werden und nicht nur den reinen Luftverkehrsmanagement-Sektor betreffen, sondern für weitere Sozialpartner über die Flugsicherungsdienste hinaus und für Diskussionen über die sozialen Auswirkungen für die Arbeitnehmer von Flugsicherungsdiensten, Luftfahrtunternehmen und Flughäfen sowie zu der Frage, wie Arbeitsplätze in der EU-Luftfahrt insgesamt gesichert werden können, geöffnet werden.

1.8

Die Mitgliedstaaten, einschl. derjenigen, die bei der Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums nur langsam vorankommen, sollten ihre Strategien für die künftige Entwicklung ihres Luftfahrtsektors vorlegen.

1.9

Der Ausschuss betont, dass dem in der EU-Luftfahrt erreichten hohen Sicherheitsniveau auch weiterhin größte Bedeutung beigemessen werden sollte. Die zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Ziele notwendigen Maßnahmen müssen unbedingt die Weiterentwicklung des Sicherheitsniveaus fördern.

2.   Einleitung

2.1

Die Vollendung des einheitlichen europäischen Luftraums (SES) ist integraler Bestandteil des Prozesses zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums der EU-Wirtschaft durch eine stärkere Konsolidierung des europäischen Binnenmarkts. Damit soll die Gesamteffizienz des europäischen Luftraums in Bezug auf Organisation und Management verbessert werden. Dies impliziert Senkung der Kosten, Verbesserung der Sicherheit, Erhöhung der Kapazitäten und Begrenzung der Umweltauswirkungen. Zielsetzung ist, den Unionsbürgern bessere, wirksamere und verlässlichere Bedingungen für ihre Flugreisen zu bieten.

2.2

Den jüngsten Eurocontrol-Berichten (zum Vergleich der Kosteneffizienz im Flugverkehrsmanagement – ACE-Benchmarkingbericht 2010 und Entwurf des ACE-Benchmarkingberichts 2011 – sowie zur Leistungsüberprüfung – Entwurf des PRU-Berichts 2011) ist zu entnehmen, dass zwischen 2007 und 2011 zahlreiche Veränderungen stattgefunden haben. Daher sollten die wichtigsten Ereignisse in diesem Zeitraum bei jedweder Analyse der Gesamtvariation der Kosteneffizienz berücksichtigt werden.

2.3

Die jährlichen durch die Fragmentierung des europäischen Luftraums verursachten Kosten beliefen sich 2010 auf 4 Mrd. EUR. Darin eingerechnet ist eine durch Flugverkehrsflusssteuerungsmaßnahmen (ATFM) in der Flugphase bedingte Gesamtverspätung von 19,4 Mio. Minuten; außerdem verlängerte sich jeder Flug dadurch um durchschnittlich 49 km gegenüber der direkten Flugstrecke. Auf europäischer Ebene sind die wirtschaftlichen Kosten pro Gesamtflugstunde von 2006 bis 2009 leicht gestiegen (+1% real jährlich); in 2010 war ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen (+4,6% real). 2011 – vor Beginn des ersten Referenzzeitraumes für das Maßnahmenpaket "Einheitlicher europäischer Luftraum II" – gingen diese Kosten wieder zurück (-4,3%). Die Bereitstellungskosten für Dienste im Bereich Flugverkehrsmanagement (ATM)/Kommunikation, Navigation und Überwachung des Luftverkehrs (CNS) gingen real um 4,8% zurück; diese Einsparungen wurden allerdings durch einen enormen Anstieg der Kosten für ATFM-bedingte Verspätungen pro Flug (+77,5%) zunichte gemacht. 2011 gingen diese Kosten jedoch um 42% zurück.

2.4

Die deutlichen Unterschiede in den Gesamtkosten, die Luftfahrtunternehmen für Flugsicherungsdienste entstehen, sind ein besonders wichtiger Aspekt: 2010 lag die Bandbreite zwischen 179 und 849 EUR, d.h. die Kosten betrugen bis zum Fünffachen. Außerdem waren auch die Kosten, die die fünf größten Flugsicherungsorganisationen pro Flug berechnen, die alle unter mehr oder weniger vergleichbaren wirtschaftlichen und betrieblichen Bedingungen arbeiten, stark unterschiedlich und betrugen zwischen 466 und 720 EUR. Diese Schwankungsbreite lässt ganz klar und deutlich erkennen, dass das Luftverkehrsmanagement in Europa nicht optimiert ist.

2.5

Die Ergebnisse der Maßnahmenpakete "Einheitlicher europäischer Luftraum I und II" (aus den Jahren 2004 und 2009) zeigen, dass die Grundsätze und die grundlegende Ausrichtung dieser Initiative korrekt sind und Anstrengungen zur Optimierung der Vorschriften für das Luftverkehrsmanagement unternommen wurden, die erste Früchte tragen. Allerdings haben diese Maßnahmenpakete auch eine Reihe von Schwächen zutage gefördert, die hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Mitgliedstaaten ihre aktuellen Luftfahrtprioritäten nicht klar umreißen konnten. Ihre Prioritäten reichen von der Schaffung eines Mehrwerts für die Luftraumnutzer bis zur Maximierung ihrer eigenen Einnahmen aus dem Flugbetrieb und der Nutzung der Luftfahrt als Mittel zur regionalen und mikroökonomischen Entwicklung. Infolgedessen weist die Flugsicherung in Europa in punkto Effizienz und Qualität immer noch erhebliche Mängel auf, ohne dass es bislang eine klare Erklärung für diese Situation gäbe. Außerdem ist das derzeitige institutionelle Konzept keinesfalls optimal, da es zahlreiche Überschneidungen und Lücken aufweist und es an einer gemeinsamen Linie der verschiedenen Interessenträger mangelt. Daher muss der institutionelle Rahmen für den einheitlichen europäischen Luftraum gestärkt werden.

2.6

SESAR ist die technologische Komponente des einheitlichen europäischen Luftraums. Laut einer Studie des Gemeinsamen Unternehmens SESAR könnte diese Initiative in makroökonomischer Hinsicht eine Steigerung des BIP um 419 Mio. EUR für die europäische Wirtschaft und die Schaffung von rund 320 000 Arbeitsplätzen bewirken. Für den Abschluss des SESAR-Programms sind umfassende Investitionen aller Mitglieder der Wertschöpfungskette in der Luftfahrt erforderlich, die schwer zu rechtfertigen sind, solange keine annehmbare Kapitalrendite auf der Grundlage einer abgestimmten Entwicklung von Luft- und Bodenkomponenten unter Einbeziehung der Luftraumnutzer, Flugsicherungsdienste und Flughäfen sichergestellt werden kann. Der institutionelle Rahmen muss weiterentwickelt werden, um eine erfolgreiche Einführung von SESAR zu gewährleisten. Gleichzeitig müssen alle Partner solide Kosten-Nutzen-Studien für die aufeinanderfolgenden Investitionsvorhaben in der gesamten Luftfahrt-Wertschöpfungskette durchführen.

2.7

Die Europäische Kommission beabsichtigt daher, ein neues auf den bestehenden Initiativen aufbauendes Legislativpaket ("Einheitlicher europäischer Luftraum II+") vorzulegen, mit dem Kosteneffizienz, Kapazitäten, Sicherheit und Qualität der Rechtsetzung verbessert werden sollen.

2.8

Laut Informationen der Europäischen Kommission werden mit dieser Initiative folgende Ziele angestrebt:

Verbesserung der niedrigen Leistungsfähigkeit von Flugsicherungsdiensten durch die Beschleunigung der Einrichtung der funktionalen Luftraumblöcke, Sicherstellung der Finanzierung für die SESAR-Durchführung, Aktualisierung der Gebührenregelung für Flugsicherungsdienste, Modernisierung der Technologie zur Vollendung von SESAR und Aufstellung effizienterer Leistungsziele;

Verbesserung der derzeit suboptimalen institutionellen Struktur durch verschiedenste Maßnahmen, wie z.B. Zusammenführung der wirtschaftlichen Regulierung bei der Europäischen Kommission, während die Zuständigkeit für technische Vorschriften und Aufsicht bei der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) angesiedelt wird; Anerkennung von Eurocontrol als unterstützendes Gremium für diese Institutionen; Überarbeitung der Governance der Netzverwalter und Klarstellung des jeweiligen Funktionsrahmens des einheitlichen europäischen Luftraums bzw. der EASA, dergestalt dass Überschneidungen vermieden werden und letztlich eine Europäische Luftfahrtagentur (European Aviation Agency – EAA) eingerichtet wird, die für alle Aspekte der Aufsicht über die europäische Luftfahrtindustrie, d.h. technische, wirtschaftliche und sicherheitstechnische Aspekte, zuständig ist;

Zusammenführung der Rechtsinstrumente in einem einzigen kohärenten Rechtsakt;

Aufforderung an die Mitgliedstaaten, Eurocontrol an das neue institutionelle Umfeld anzupassen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Im Einklang mit seinen früheren Stellungnahmen TEN/451 (vom 20. Juni 2011) und TEN 354/355 (vom 21. Januar 2009) unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschusses voll und ganz die rasche und umfassende Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums und der SESAR-Initiativen. Angesichts der aktuell sehr angespannten finanziellen Situation vieler europäischer Luftfahrtunternehmen wäre allerdings ein weitaus höheres Dringlichkeitsbewusstsein geboten.

3.2

Der Ausschuss erwartet, dass das SES-Maßnahmenpaket vollständig umgesetzt wird, d.h. in dem ursprünglich 2004 und 2009 vereinbarten Umfang. Die der Europäischen Kommission in den EU-Verordnungen an die Hand gegebenen Rechtsinstrumente sind hierfür ausreichend.

3.3

In diesem Zusammenhang begrüßt der Ausschuss die Absicht der Europäischen Kommission, dem einheitlichen europäischen Luftraum durch die neue SES-Initiative weitere Impulse zu verleihen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre früheren politischen Zusagen einhalten, um den einheitlichen europäischen Luftraum rechtzeitig zu verwirklichen. Die Europäische Kommission muss während des gesamten Umsetzungsprozesses weiterhin eine starke Führungsrolle und Verantwortung übernehmen.

3.4

Angesichts der relativ bescheidenen Ergebnisse bei der Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftrahms nach Inkrafttreten der Maßnahmenpakete "SES I" im April 2004 und "SES II" im Dezember 2009 betont der Ausschuss, dass eine Überarbeitung des geltenden SES-Rechtsrahmens nicht allein auf institutionelle Entwicklungen, sondern auch auf die Stärkung folgender Elemente ausgerichtet sein sollte:

Top-down-Elemente in Ergänzung des Bottom-up-Ansatzes;

klare Darstellung der Strategien der Mitgliedstaaten, insbesondere der Strategien, die der Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums zuwiderlaufen könnten;

Stärkung der rechtzeitigen Verwirklichung grundlegender Elemente des einheitlichen europäischen Luftraums durch Sanktionen bei Nichteinhaltung;

verpflichtende Entflechtung von ATM-Nebendiensten – Öffnung für einen stärkeren Wettbewerb und das freie Spiel der Marktkräfte;

Festlegung von Zielen, die in gleichem Maße auf die Dienstequalität und die Effizienzverbesserung anheben;

stärkere Einbeziehung der Luftraumnutzer;

Beteiligung einer breiteren Palette an Sozialpartnern – über die Vertreter der Flugsicherungsdienste hinaus – als Teil des sozialen Dialogs im Rahmen des Maßnahmenpakets "SES II+".

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss bedauert, dass viele Mitgliedstaaten die an sie gerichteten Leistungsziele nicht erreicht haben, dafür allerdings keinerlei wirksame rechtliche Folgen tragen müssen. Die vor Kurzem eingereichten nationalen Leistungspläne zeigen, dass diese Mitgliedstaaten ihre Ziele sogar noch weiter verwässert haben. Daher und um zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten größere Synergien in ihren funktionalen Luftraumblöcken und letztlich auch zwischen diesen schaffen, müssen ehrgeizigere Leistungsziele gekoppelt an einen wirksamen Sanktionsmechanismus sowie eindeutige und klare Strategien der Mitgliedstaaten festgelegt werden, die durch die notwendige gesamteuropäische Harmonisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften flankiert werden Der einheitliche europäische Luftraum sollte die Entwicklung der erforderlichen gemeinsamen europäischen Rechtsinstrumente (im Zivilrecht) und eines gemeinsamen Konzepts für die europäische Luftabwehr anstoßen.

4.2

Nach Ansicht des Ausschusses sollten auf Ebene der EU und der funktionalen Luftraumblöcke mehr Zuständigkeiten angesiedelt sein, um die derzeitigen Probleme zu bewältigen, namentlich dass Mitgliedstaaten darauf abzielen, ihre eigenen nationalen Flugsicherungsdienste zu schützen oder sie als nationale Wirtschaftsinstrumente einzusetzen, anstatt einen Mehrwert für die Luftraumnutzer und die Kunden/Fluggäste zu schaffen. Mit EU-weiten Leistungszielen sollte sichergestellt werden, dass die ehrgeizigen SES-Ziele für 2020, und zwar eine Verdreifachung der Kapazität gegenüber 2005 wo nötig, die Verringerung der Umweltfolgen des Flugverkehrs um 10%, die Reduzierung der Kosten von ATM-Nebendiensten für Luftraumnutzer um 50%, auch wirklich erreicht und Fortschritte bei der Defragmentierung der nationalen Lufträume erzielt werden.

4.3

Der Ausschuss betont, dass die Unabhängigkeit des Leistungsüberprüfungsgremiums der EU gewahrt werden muss. Seine Tätigkeiten sollten von der Arbeit von Eurocontrol abgetrennt und einem in der Zuständigkeit der Europäischen Kommission angesiedelten gesonderten Gremium auf EU-Ebene übertragen werden. Die EU sollte dem Leistungsüberprüfungsgremium auch eine größere Rolle bei der Festlegung EU-weiter Leistungsziele und nationaler Leistungspläne zuweisen. Flugsicherungsdienste sollten nicht länger überrepräsentiert sein.

4.4

Nach Meinung des Ausschusses sollten Sanktionen und Anreize auf EU-Ebene festgelegt werden, um der Nichteinhaltung von Leistungszielen vorzubeugen und zu gewährleisten, dass derartige Ziele getrennt von nationalen Interessen aufgestellt werden. So sollten insbesondere die Quote der Kapitalrendite der Flugsicherungsdienste und des Eigenkapitals ihrer Anteilseigner an die Ergebnisse des Leistungssystems gekoppelt werden.

4.5

Der Ausschuss bedauert, dass die Initiative zur Einrichtung funktionaler Luftraumblöcke die erhofften Ergebnisse großteils nicht gebracht hat und die verbindliche Frist für ihre Einrichtung im SES-II-Maßnahmenpaket, namentlich der 4. Dezember 2012, nicht eingehalten wurde. Mit einer stärker "top-down" ausgerichteten Lenkung auf EU-Ebene sollte dieser Initiative neuer Schwung verliehen werden. Durch einen derartigen Ansatz sollte auch gewährleistet werden, dass die funktionalen Luftraumblöcke echte Vorteile bringen, anstatt nur als "Augenwischerei" zu dienen. In diesem Kontext sollte der SES-Netzverwalter dazu ermächtigt werden, spezifische Vorhaben aus funktionalen Luftraumblöcken vorzuschlagen und durchzuführen, um die Governance der funktionalen Luftraumblöcke, den Luftraum sowie die technischen Mittel und Humanressourcen auf der Grundlage klarer Leitlinien zu optimieren. Bei Nichteinhaltung sollten Sanktionen festgelegt werden. Der Netzverwalter und interessierte Luftraumnutzer sollten außerdem als Beobachter an den Sitzungen der wichtigsten Gremien der funktionalen Luftraumblöcke teilnehmen.

4.6

Der Beitrag der Mitgliedstaaten zu den Arbeiten des Ausschusses für den einheitlichen europäischen Luftraum (SSC) ist von nationalen Interessen anstelle von EU-Zielen dominiert gewesen. Der jüngste Beschluss des SSC-Ausschusses zu den Leistungszielen und den Gebührenregelungen für 2015-2019 ist ein weiterer Rückschlag für die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums. Der EWSA schlägt vor, dass sowohl Luftraumnutzer als auch Flugsicherungsdienste als Beobachter mit Initiativrecht an allen Tätigkeiten dieses Ausschusses teilnehmen sollten.

4.7

Der Ausschuss begrüßt einmal mehr die Absicht der Europäischen Kommission, die Entflechtung von ATM-Nebendiensten als Möglichkeit zur Stärkung der Kundenorientierung und Erhöhung der Effizienz neu zu überdenken. Die EU-Rechtsinstrumente sollten zur Beschleunigung dieser Entflechtung genutzt werden. Diesbezüglich bedauert der EWSA, dass die Europäische Kommission die verbindliche Frist vom 4. Dezember 2012 für die Ausarbeitung einer Studie und ihre Weiterleitung an das Europäische Parlament und den Rat zur Bewertung der rechtlichen, sicherheitstechnischen, industriellen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Anwendung der Marktgrundsätze auf die Erbringung von Diensten in den Bereichen Kommunikation, Navigation, Überwachung und Luftfahrtinformationen unter Berücksichtigung der Entwicklungen bezüglich der funktionalen Luftraumblöcke und der verfügbaren Technologien halten konnte.

4.8

Aus seiner Sicht sollte in dem Maßnahmenpaket "Einheitlicher europäischer Lufttraum II+" die Trennung zwischen gebündelten Hauptdiensten der Flugsicherungsorganisationen und Nebendiensten, u.a. in den Bereichen Kommunikation, Navigation und Überwachung, Flugwetter und Schulungen, aufgegriffen werden, indem der Markt für diese Dienste geöffnet wird, um für höhere Effizienz und Qualität sowie eine Senkung der Gesamtkosten zu sorgen. Er weist darauf hin, dass die Bedeutung einer weitergehenden Liberalisierung der Nebendienste auch in der Folgenabschätzung für die Rechtsakte im Rahmen des Maßnahmenpakets "SES II+" sowie auf der hochrangigen SES-Konferenz in Limassol betont wurde. Obwohl nach den geltenden Rechtsvorschriften eine Entflechtung auf nationaler Ebene ermöglicht wird, stehen die Mitgliedstaaten diesem Instrument zur Leistungssteigerung nach wie vor eher skeptisch gegenüber. Nach Möglichkeit sollte die Bereitstellung von Nebendiensten in den Bereichen Kommunikation, Navigation und Überwachung sowie Flugwetter Marktbedingungen unterworfen und Gegenstand von Ausschreibungsverfahren sein. Außerdem sollten Marktbedingungen nicht an ein Vergabeverfahren auf dem gleichen Markt gebunden sein, da in diesem Falle dieser Markt dominieren würde. Lokale und umfangreiche Quersubventionen sollten untersagt sein.

4.9

Das neue Konzept der zentralisierten Dienste von Eurocontrol sollte entsprechend berücksichtigt werden, sofern diese Dienste auf annehmbaren Geschäftsplänen beruhen, die von den betrieblichen Interessenträgern (Luftfahrtunternehmen, Flugsicherungsdienste und Flughäfen) befürwortet wurden, und auf offene Ausschreibungen für die Vergabe zeitlich begrenzter Verträge an diejenigen Unternehmen ausgerichtet sind, die das beste Angebot unterbreitet haben.

4.10

Der Ausschuss betont, dass die Beseitigung der Fragmentierung von Flugsicherungsdiensten über Konsolidierungszentren ermöglicht werden könnte. Das "Virtual Centre"-Konzept könnte hier ein zweckdienlicher Ausgangspunkt sein. Es besteht in der Nutzung vollständig genormter Methoden seitens der Luftverkehrsdienste, die von verschiedenen Orten aus operieren und Standardmethoden für Betrieb, Verfahren und Ausrüstung derart einsetzen, dass die Luftraumnutzer sie als einheitliches System ansehen. Diese Wirkung ist auch in den laufenden SES-Programmen wie SERA und SESAR klar erkennbar. Derartige Vereinbarungen unterstützen die volle technische und betriebliche Interoperabilität zwischen Flugsicherungsdiensten, wodurch wiederum Streckenabschnitte, die einem bestimmten Dienst zugeordnet sind, vorübergehend auf die betriebliche Verantwortlichkeit eines anderen Dienstes übertragen werden können. Folglich wäre eine optimierte Nutzung der Bezirkskontrollstellen (ACC) unmittelbar möglich; außerdem könnte jederzeit die optimale Leistung sichergestellt werden.

4.11

Der Ausschuss ist daher der Ansicht, dass mit den Rechtsvorschriften für "SES II+" ein geeigneter Rechtsrahmen geschaffen werden sollte, um die kohärente und konsequente Umsetzung von Normungsmaßnahmen anzustoßen und zu lenken. In den funktionalen Luftraumblöcken könnte ein gemeinsames Lenkungsgremium eingerichtet werden, um eine kohärente und koordinierte Verbreitung sicherzustellen. Normungsmaßnahmen sind ein realistisches und wirksames Mittel zur Verwirklichung EU-weiter Leistungsziele.

4.12

Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, die Aufgaben und Zuständigkeiten des SES-Netzverwalters auszuweiten. Diesbezüglich wird es von grundlegender Bedeutung sein, dass die Luftraumnutzer in strategische Entscheidungen betreffend die Netzleistung eingebunden sind und Flugsicherungsdiensten eine Rolle in der Entscheidungsfindung für die Leistung vor Ort zugewiesen wird.

4.13

Der Ausschuss nimmt das Vorhaben der Europäischen Kommission zur Kenntnis, den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) dahingehend auszuweiten, dass sie für technische Regulierung und Aufsicht einschl. in nicht sicherheitsbezogenen Bereichen verantwortlich ist. Er stimmt zwar zu, dass dies der richtige Ansatz sein könnte, äußert jedoch Bedenken, die EASA trotz Unterstützung durch das Konzept der risikobasierten Prioritäten mit neuen Aufgaben zu überlasten und so möglicherweise mehr Probleme zu verursachen als Vorteile zu schaffen und die Aufmerksamkeit der EASA von ihrer grundlegenden Aufgabe, namentlich der Gewährleistung der Sicherheit, abzulenken. Seiner Meinung nach sollte die Ausweitung des Tätigkeitsbereichs der EASA daher derzeit nicht vorrangig betrieben werden. Stattdessen könnte potenziellen Überschneidungen zwischen den Rechtsrahmen für die EASA und den einheitlichen europäischen Luftraum durch geeignete Koordinierungsmechanismen zwischen der EASA, Eurocontrol und der Europäischen Kommission ohne zwingender Änderung des institutionellen Rahmens Abhilfe geschaffen werden.

4.14

Eurocontrol kommt bei der praktischen Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums eine sehr wichtige Rolle zu. Zur Sicherstellung einer effizienten Leistung zentralisierter Dienste wie der vom Netzverwalter erbrachten Dienste in der Zukunft ist eine Überarbeitung des derzeitigen Eurocontrol-Übereinkommens notwendig.

4.15

Bezüglich SESAR betont der Ausschuss, dass ausreichende öffentliche Mittel zur Finanzierung der zeitgleichen Umsetzung der Boden- und Luftkomponenten sichergestellt werden müssen. Außerdem sollte den Investoren in der Praxis (Luftraumnutzer, Flugsicherungsdienste und Flughäfen) eine maßgebliche Rolle in der Governance der SESAR-Durchführung, namentlich bei der Entscheidung über die Prioritäten auf der Grundlage klarer Geschäftspläne, zugewiesen werden. Der Ausschuss unterstreicht die Wichtigkeit der Durchführung von SESAR als ein grundlegendes europäisches Infrastrukturprojekt. Er zeigt sich höchst besorgt über mögliche Kürzungen im Haushalt für die Fazilität "Connecting Europe", die die weitere Durchführung dieses Projekts beeinträchtigen könnte. Außerdem müssen unbedingt denkbare künftige Finanzierungsmodelle für die militärische Durchführung von SESAR beleuchtet werden.

4.16

Der Ausschuss lehnt den Kommissionsvorschlag zur Einführung einer Preismodulation für überlastete Strecken ab. Dies würde keinerlei echte Verbesserung für die Nutzung der Luftraumkapazität bringen. Außerdem würde sie den Zielen der EU zur Emissionsverringerung als Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels zuwiderlaufen, da Luftverkehrsunternehmer mit ihrer Einführung zu längeren Flugstrecken gezwungen sein könnten. Ferner wäre ein derartiges System auch ungerecht, da Luftfahrtunternehmen wegen der indirekten Kosten von Verspätungen ohnehin schon für Luftraumüberlastungen aufkommen müssen. Ein derartiger Ansatz würde somit zu einer doppelten Bestrafung führen, die absolut inakzeptabel wäre, zumal Luftfahrtunternehmen Streckengebühren zur Finanzierung des Infrastrukturausbaus verwenden, der zur Verringerung der Überlastung beitragen sollte.

4.17

Der Ausschuss ist vielmehr der Ansicht, dass die Preismodulation darauf ausgerichtet sein sollte, Luftfahrtunternehmen zur Anschaffung der erforderlichen Ausrüstung für die Verbesserung der Gesamtleistung des Flugverkehrsmanagementsystems zu bewegen. Hierfür könnten öffentliche Mittel eingesetzt werden, um die Nutzungsgebühren für Luftfahrtunternehmen zu senken, die frühzeitig in SESAR-Technologien investieren. Diese Vorgehensweise könnte mit weiteren Maßnahmen wie "Best Equipped, Best Served"-Grundsätzen flankiert werden, die der Ausschuss voll unterstützt.

5.   Der soziale Dialog

5.1

Die europäische Luftfahrt steckt in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage, die bereits zur Entlassung von mehreren Tausend Mitarbeitern geführt hat. Daher sind die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums und seine erhöhte Effizienz auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen in diesem Teilstück der Luftfahrt-Wertschöpfungskette von grundlegender Bedeutung. Diesbezüglich ist der 5. Pfeiler des einheitlichen europäischen Luftraums für die angemessene Berücksichtigung der Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Mobilität der Arbeitnehmer, Änderungen im Personalmanagement und Weiterbildung entscheidend. Der soziale Dialog sollte daher gestärkt werden und nicht nur den reinen Luftverkehrsmanagement-Sektor betreffen, sondern für weitere Sozialpartner über die Flugsicherungsdienste hinaus und für Diskussionen über die sozialen Auswirkungen für die Arbeitnehmer von Flugsicherungsdiensten, Luftfahrtunternehmen und Flughäfen sowie zu der Frage, wie Arbeitsplätzen in der EU-Luftfahrt insgesamt sichergestellt werden können, geöffnet werden.

5.2

Der Ausschuss ist überzeugt, dass ein wirksamer kontinuierlicher sozialer Dialog für den Umstellungsprozess unabdingbar ist. Wenn die Mitarbeiter nicht voll in diese Umstellung eingebunden werden, wird die Gefahr eines Scheiterns dieses Unterfangens erheblich größer sein. So werden insbesondere neue Technologien und Betriebskonzepte, die von SESAR entwickelt werden, die herkömmliche Rolle von Fluglotsen ändern, die dann als Flugverkehrsmanager agieren werden.

5.3

In dem sozialen Dialog im Rahmen des einheitlichen europäischen Luftraums müssen die Anliegen aller an seiner Verwirklichung beteiligten Interessenträger zu ihrem Recht kommen. Daher ist die gegenwärtige Dominanz von Vertretern der Flugsicherungsdienste nicht gerechtfertigt und birgt die Gefahr, dass andere wichtige Industrievertreter noch stärker diskriminiert werden.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Technische Textilien als Wachstumsmotor“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 198/03

Berichterstatterin: Emmanuelle BUTAUD-STUBBS

Ko-Berichterstatterin: Ingeborg NIESTROY

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Technische Textilien als Wachstumsmotor

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 12. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 172 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Branche der technischen Textilien, die in der EU im wirtschaftlichen und Beschäftigungsbereich eine positive Entwicklung zu verzeichnen hatte, ist ein Beispiel für einen "traditionellen Sektor", dem es gelungen ist, sich mit Hilfe eines neuen, voll und ganz auf die Bedürfnisse der neuen industriellen Revolution (intelligenter, inklusiver und nachhaltiger) zugeschnittenen Geschäftsmodells "neu zu erfinden".

1.2

Textile Materien und Technologien sind Schlüsselinnovationen, die Lösungen für unterschiedlichste gesellschaftliche Herausforderungen bieten könnten. Technische Textilien fungieren in anderen Industriezweigen als Motor, da sie Folgendes bieten:

alternative Werkstoffe: leicht, elastisch, weich, (multi)funktional, beständig

neue Technologien: flexibel, durchgängig, vielseitig

funktionelle Bestandteile: zuverlässig, multifunktional, kosteneffizient, nutzerfreundliche Teile größerer Technologiesysteme und -lösungen.

1.3

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss macht die Europäische Kommission und das Europäische Parlament auf die wichtigsten Erfolgsfaktoren aufmerksam, die gefördert werden müssen, um das Wachstum dieser viel versprechenden Branche zu stärken:

Einführung einfacher und wirksamer Instrumente auf nationaler und EU-Ebene zur Förderung und Finanzierung der technologischen und nicht technologischen Innovation;

Förderung aller erforderlichen Bemühungen um eine bessere Qualifizierung der Arbeitnehmer und Anpassung ihrer Fähigkeiten an die wachsenden Märkte (Gesundheit, Bauwesen, Verkehr, Schönheitspflege usw.);

Aufnahme einer Textilkomponente in die einschlägigen FuE-Programmen der EU, um den Ersatz herkömmlicher Werkstoffe wie Stahl und Beton durch nachhaltigere Textilien zu fördern, und Förderung der Forschung im Textilrecycling sowie in dem sich ständig entwickelnden Bereich der "CO2-Wirtschaft" (CO2 als Ressource);

Berücksichtigung der Auswirkungen steigender Energiekosten auf äußerst energieintensive Unternehmen in der EU, die beispielsweise in der Vliesstoff- und Verbundstoffherstellung tätig sind;

Unterstützung der Industrie bei der Durchführung von Lebenszyklusanalysen zum Nachweis der ökologischen Nachhaltigkeit der Erzeugnisse.

2.   Die Branche der technischen Textilien in der EU

2.1   Definition der Branche und wichtigste Märkte

2.1.1   Technische Textilien werden als Textilfasern, Stoffe und Trägermaterial definiert, für die eher technische als ästhetische Kriterien gelten, auch wenn bei bestimmten Märkten wie Arbeitsbekleidung oder Sportausrüstung beide Kriterien erfüllt werden.

Technische Textilien bieten funktionelle Lösungen für eine große Palette besonderer Anforderungen: Leichtigkeit, Widerstandsfähigkeit, Verstärkung, Filtrierung, feuerhemmende Wirkung, Leitfähigkeit, Wärmedämmung, Elastizität, Absorption usw.

Dank der Faserbeschaffenheit (Polyester, Polypropylen, Viskose, Baumwolle, Karbon, Glas, Aramid usw.) sowie der Wahl der am besten geeigneten Herstellungstechniken (Spinnen, Weben, Flechten, Stricken, Vliesstoffherstellung usw.), darunter auch die Endbearbeitung (Färben, Bedrucken, Beschichten, Laminieren usw.), sind die Hersteller technischer Textilien in der Lage, Textillösungen mit auf die Bedürfnisse der Endnutzer zugeschnittenen mechanischen, "Intelligenz"- oder Schutzeigenschaften anzubieten.

Die Definition hängt also nicht vom Rohstoff, der Faser oder der eingesetzten Technologie, sondern vom Verwendungszweck des Endprodukts ab.

Die Messe Frankfurt, die mit ihrer Fachmesse "Techtextil" im Bereich technische Textilien weltweit führend ist, hat zwölf große Märkte ermittelt (1):

Technische Textilien gehören einem breiteren Bereich an, den David Rigby Associates als "engineering of flexible materials" (2) (Verarbeitung flexibler Werkstoffe) bezeichnet, wozu auch Schaumstoffe, Folien, Pulver, Harze und Kunststoffe zählen. Sie sind außerdem Schlüsselbestandteile von Verbundstoffen, die als eine Kombination aus zwei oder mehr Werkstoffen mit unterschiedlicher Form oder Zusammensetzung definiert werden könnten, die in der Regel mit einer eventuell aus Fasern bestehenden Matrix versehen sind sowie einer Verstärkung, die stärker als die Matrix ist.

2.2   Fakten und Zahlen

2.2.1   Die Textil- und Bekleidungsindustrie in der EU

Jüngsten Schätzungen von EURATEX zufolge erzielte die Textil- und Bekleidungsindustrie dank ihrer nahezu 187 000 Unternehmen mit über 1,8 Mio. Beschäftigten in der EU 2011 einen Umsatz von 171,2 Mrd. EUR. Die Unternehmen sind relativ klein (Textilindustrie: 13 Beschäftigte, Bekleidungsindustrie: 9, insgesamt: 10), was erklärt, warum sie in erster Linie innerhalb des Binnenmarkts Handel treiben, während die Ausfuhren der EU in Drittländer 38,7 Mrd. EUR bzw. 22,6% des weltweiten Absatzes erreichten.

2011

Verbrauch in Privathaushalten

(in Mrd. EUR)

Umsatz

(in Mrd. EUR)

Unternehmen

(in Tausend)

Beschäftigte

(in Tausend)

Importe aus Drittländern in die EU

(in Mrd. EUR)

Exporte aus der EU in Drittländer

(in Mrd. EUR)

Handelsbilanz

(in Mrd. EUR)

Bekleidung

304,0

77,5

131,4

1 117,9

67,7

18,4

–49,32

Textilien

166,5

93,9

55,5

716,4

25,4

20,3

–5,06

INSGESAMT

470,5

171,4

186,9

1 834,3

93,1

38,7

–54,37

Quelle: Von EURATEX überarbeitete Daten der Mitglieder und EUROSTAT - 2011

2.2.2   Die Branche der technischen Textilien in der EU

In früheren Stellungnahmen zum Textilsektor hat der EWSA auf die technischen Textilien als meistversprechenden Tätigkeitsbereich für die europäischen Textilunternehmen, insbesondere die KMU, verwiesen. Die EU-Industrie spielt bereits heute eine führende Rolle bei der Entwicklung technischer Textilien (3). Diese Branche bietet dank ihres hohen Innovationsvermögens ein Potenzial für direkte und indirekte Arbeitsplätze und Wachstum in der EU.

2.2.2.1   Ein Teilsektor der Textilbranche

Die Branche der technischen Textilien hat laut Euratex mit 30 Mrd. EUR in der EU einen Anteil von ca. 30% am Gesamtumsatz im Textilbereich (ausgenommen Bekleidung) (in einigen Mitgliedstaaten wie Deutschland (50%), Österreich (45%) oder Frankreich (40%) ist der Marktanteil eventuell höher), umfasst 15 000 Unternehmen und beschäftigt 300 000 Mitarbeiter. Einige Analysten sind der Ansicht, dass andere Teilbereiche der EU-Industrie hinzugezählt werden sollten: ein Teil der Textilmaschinenindustrie sowie der Textilbereich der Herstellungsaktivitäten anderer Sektoren wie Reifen oder die Bewehrung von Straßenbelägen oder Gebäuden mit Geotextilien. Daher könnte der Marktanteil der Branche der technischen Textilien in der EU insgesamt sogar noch größer sein (bis zu 50 Mrd. EUR Umsatz).

2.2.2.2   Anteil der EU am weltweiten Faserverbrauch

Die weltweite Entwicklung der Produktion technischer Textilien lässt sich anhand des Faserverbrauchs veranschaulichen. Der Faserverbrauch für technische Textilien belief sich 2010 weltweit auf ca. 22 Mrd. Tonnen, was 27,5% des Gesamtverbrauchs von 80 Mrd. Tonnen für sämtliche Textil- und Bekleidungszwecke ausmacht. Schätzungen des Europäischen Verbands für Chemiefasern (CIRFS) zufolge entfallen auf Europa etwa 15% des Gesamtverbrauchs an technischen Textilien.

 

Faserverbrauch

(in Tausend Tonnen)

EU

3 437

Amerikanischer Kontinent

4 111

China

7 100

Indien

4 020

Übrige Welt

3 812

Weltweit

21 880

Quellen: CIRFS, Edana, JEC

Der wertmäßige Marktanteil der EU ist größer: er schwankt zwischen 20% und 33% der wichtigsten Untersegmente des Weltmarkts für technische Textilien (einschließlich Vliesstoffe und Verbundstoffe) mit einem wertmäßigen Marktvolumen von 230 Mrd. US-Dollar.

STRUKTUR DES WELTMARKTS FÜR TECHNISCHE TEXTILIEN - 2011

2011

Mt

Mrd. USD

EU-Anteil

Wachstumsrate

Technische Textilien

25,0

133

20 %

+3,0%

Vliesstoffe

7,6

26

25 %

+6,9%

Verbundstoffe

8,0

94

33 %

+6,0%

Insgesamt

40,6

253

 

 

Quelle: INDA, Freedonia Group, IFAI, JEC

2.2.2.3   Weltweite Ausfuhren der EU-27 an technischen Textilien 2011

Auf die fünf größten Exporteure technischer Textilien (DE, IT, FR, UK, BE) entfallen 60% des weltweiten Gesamtexports der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten mit dem größten Anteil der technischen Textilien an ihren Textilausfuhren (ausgenommen Bekleidung) sind Finnland, Dänemark, Schweden, die Tschechische Republik und Ungarn (siehe Anhang 1: Anteil der technischen Textilien am weltweiten Textilexport der Mitgliedstaaten 2011).

2.2.3   Jüngste Entwicklungen in der Branche der technischen Textilien in der EU

2.2.3.1   Wachstum des Bereichs Vlies- und Verbundstoffe

In den vergangenen zehn Jahren ist die Branche um 22% gewachsen, wie aus der nachstehenden Abbildung hervorgeht, die die nach Verwendungszweck (ausgenommen Glasfaser) aufgeschlüsselte Entwicklung des Faserverbrauchs zeigt.

Image

Die Branche der technischen Textilien durchläuft derzeit eine Phase einschneidender industrieller Veränderungen aufgrund der zunehmenden Bedeutung neuer Anwendungen (Medizin, Sport und Freizeit, Luftfahrt, Umwelt) und einer radikalen Umstellung von traditionellen Technologien (Stricken, Weben, Flechten usw.) auf neuere Verfahren (wie Verbundstoff- oder Vliesstofftechnik).

Das Wachstum in Europa wird in erster Linie von zwei Technologien vorangetrieben:

den Vliesstoffen mit einer Wachstumsrate von 60% in den letzten zehn Jahren;

den Verbundstoffen mit einer Wachstumsrate von 75% in den letzten zehn Jahren.

2.2.3.2   Schlüsselposition auf drei Märkten

Laut David Rigby Associates machten die drei an vorderster Stelle rangierenden Anwendungsbereiche in Europa 50% des Gesamtverbrauchs aus, doch handelte es sich in diesem Fall um die Bereiche Mobiltech, Hometec und Indutech (4).

2.2.3.3   Partnerschaft Europa-Mittelmeer

Die Textil- und Bekleidungsindustrie der EU ist mit den Ländern des Europa-Mittelmeerraums wie Marokko, Tunesien, Ägypten usw. im Modebereich eine erfolgreiche industrielle Partnerschaft eingegangen. Hier liegt die künftige Chance zur Förderung von EU-Investitionen auf einigen reiferen und weniger technologisch ausgerichteten Märkten für technische Textilien, die empfindlicher auf den Preisdruck aus Asien reagieren.

In dieser Hinsicht sollte die Situation der Türkei getrennt betrachtet werden. Die Türkei ist ein Schlüsselakteur des Europa-Mittelmeerraums in der Modebranche und besitzt eine leistungsfähige integrierte Textilindustrie, die von Rohstoffen (Baumwolle oder synthetische Fasern) bis hin zu Bekleidung oder Heimtextilien reicht. Immer mehr türkische Unternehmen werden auf technischen Märkten aktiv (10% bis 15%), und der Binnenverbrauch ist dynamisch.

2.2.3.4   Branche mit großem Innovationsvermögen

Jüngste Untersuchungen in Deutschland haben bestätigt, dass die dieser sektorübergreifenden Branche angehörenden technischen Textilien herstellenden Unternehmen und die mehrere Industriesegmente versorgenden Materiallieferanten ein großes Innovationsvermögen besitzen. Sie erzielen über 25% ihres Umsatzes mit neuen innovativen Erzeugnissen und stehen an dritter Stelle nach der Automobil- und der Elektronikindustrie. (Quelle: Vortrag von Herrn Huneke auf der ersten EURATEX-Tagung in Istanbul).

Image

2.3   SWOT-Analyse (Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken)

2.3.1   Stärken und Chancen

2.3.1.1   Stärken:

steigendes Niveau bei FuE und Innovation in den Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe;

effiziente gemeinsame Instrumente zur Förderung der Innovation auf nationaler Ebene (Cluster in der Textilbranche, FuE-Zentren usw.), insbesondere in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, den Niederlanden und Polen;

effiziente gemeinsame Instrumente auf EU-Ebene: die Plattform für Textil- und Bekleidungstechnologie mit zahlreichen gemeinsamen Projekten, die zu einem fruchtbaren Austausch zwischen den Anwendungsmärkten, den Textilunternehmen und den Forschern geführt haben; ein europäisches Netz der wichtigsten im Bereich Textiltechnologie tätigen Institute (Textranet), Universitätsnetze (AUTEX) und ein Netz der wichtigsten innovativen Textilregionen;

auf wachsenden Märkten führende EU-Unternehmen (z.B. Freudenberg oder Fiberweb im Vliesstoffbereich);

Führungsposition der EU in der Textilmaschinenherstellung mit 75% des Gesamtmarktes;

Vielfalt der Endnutzer, was in Zeiten schwachen Wachstums von Vorteil ist;

starke Förderung des Markts für persönliche Schutzausrüstungen (PSA), den die Kommission als einen der sechs führenden Märkte erachtet;

generell bessere finanzwirtschaftliche Kennzahlen als die übrigen Textil- und Bekleidungsunternehmen (größere Wertschöpfung pro Arbeitnehmer, größerer Cashflow, größere Gewinnspannen usw.);

Kontrolle der führenden Weltmesse (Techtextil).

2.3.1.2   Chancen:

zunehmender Bedarf an Textillösungen seitens der Endnutzer: Komfort- und Kontrolllösungen für aktives Leben, Reduzierung der Kohlenstoffemissionen des Verkehrs (durch Gewichtssenkung) und der Gebäude (durch Wärmedämmung), Verbesserung der Medizintechnik (Vorbeugung gegen Nosokomialinfektionen, Implantate, Gesundheitsüberwachung usw.);

enge Zusammenarbeit zwischen den Herstellern und den Kunden für die Bedienung ganz spezifischer Bedürfnisse ("maßgeschneiderte Lösungen") und nachfrageorientierte Innovation;

steigende Nachfrage nach besserer Recyclingfähigkeit, wie z.B. das Ersetzen von Schaumstoff durch Vliesstoffe, Verbundstoffe und Filtereinsätze für Auto-Innenbelüftungsanlagen;

rasche Zunahme des weltweiten Pro-Kopf-Verbrauchs an technischen Textilien, insbesondere in China, Indien und Brasilien.

Image

2.3.2   Schwächen und Risiken

2.3.2.1   Schwächen:

KMU mit begrenztem Investitionsvermögen;

schwierigerer Zugang zu Krediten;

mangelnde Attraktivität der Textilindustrie für junge Hochschulabsolventen;

Rückgang der Produktion von Natur- und Chemiefasern in der EU, was aufgrund der geringen Auswahl an Faserstärken zu Schwierigkeiten bei der Innovation und einem erhöhten Risiko der Importabhängigkeit führt;

derzeit geringe Wiederverwendbarkeit der technischen Textilien im Vergleich zu traditionellen Materialen;

äußerst energieintensive Industrie;

Spezialisierung in reife Anwendungsmärkte wie Mobiltech (angesichts der kritischen Lage der Kfz-Herstellungsindustrie in der EU) oder Hometech, insbesondere für Teppiche, Heimtextilien und Matratzen.

2.3.2.2   Risiken:

Rohstoffverknappung und steigende Preise (hauptsächlich synthetische Fasern, Regeneratfasern oder anorganische Fasern, Polymere, Spinnfasergarne und Filamentgarne);

steigende Energiekosten (Gas und Strom) in der EU, die dazu führen könnten, dass energieintensivere Hersteller (Chemiefaser- und Vliesstoffhersteller, Färber und Veredler) ihre Produktionsstätten in die USA oder nach Asien verlagern;

zunehmender Wettbewerb aus den Schwellenländern und wachsende Hindernisse für den Zugang zu den Märkten dieser Länder. Asien stand 2010 mengenmäßig unter den Herstellerregionen bereits an erster Stelle, nachdem der Kontinent den Wert seiner Produktion um das 2,6-Fache gesteigert hatte;

steigender Preisdruck, insbesondere auf reifen Märkten;

zunehmendes Risiko von Nachahmungen und Kopien.

3.   Beitrag dieser dynamischen Branche zu den Herausforderungen der Europa-2020-Strategie

3.1   Intelligentes Wachstum

Voraussetzung für intelligentes Wachstum ist eine energieeffizientere, neue Werkstoffe einsetzende, IKT-gestützte und innovativere EU-Industrie mit wettbewerbsfähigen Unternehmen, insbesondere KMU.

Die Branche der technischen Textilien kann auf verschiedenerlei Art anteilig zu diesem intelligenten Wachstum beitragen:

Förderung bewährter Verfahren für den Transfer von Technologien zwischen verschiedenen Sektoren (fruchtbarer Austausch);

Bemühungen um eine energieeffizientere Produktion;

Fähigkeit, die technologische mit einer nicht technologischen Innovation zu kombinieren: ein Rückenstützgurt sollte nicht nur wirkungsvoll, sondern auch für den Patienten ästhetisch gestaltet sein;

Fähigkeit, im Hinblick auf die Konzipierung, die Verwendung und das Ende des Lebenszyklus der Erzeugnisse/Materialien die Kreativität zu fördern;

Verbesserung des Qualifikationsprofils der Arbeitnehmer, um neue Märkte zu erobern;

Verbreitung der IKT im Alltag dank intelligenter Textilien, die mit ihrem Umfeld kommunizieren: so wird beispielsweise "intelligente Bekleidung" für ältere Menschen, die kritische physiologische Daten überwacht und den Krankenhäusern übermittelt, es ihnen ermöglichen, weiterhin zu Hause zu leben.

3.2   Integratives Wachstum

Die Branche der technischen Textilien in der EU hatte in der jüngeren Vergangenheit in vielen Mitgliedstaaten eine positive Tendenz zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu verzeichnen, was bereits zu einem gewissen Arbeits- und Fachkräftemangel geführt hat, der behoben werden sollte.

Dank eines integrativen Wachstums in der EU wird sich unser Sozialmodell mit hohen Standards, einem Sozialsystem mit Tradition und einer ausgeprägten Tradition des sozialen Dialogs bewahren und weiterentwickeln lassen. Anfälligere Industriezweige, Gebiete und Bevölkerungsgruppen sollten der EU-Politik und der nationalen Ebene besondere Beachtung schenken, damit sie im täglichen Leben Anteil am Wirtschaftswachstum, dem technischen Fortschritt und Innovationen haben.

Die Branche der technischen Textilien kann auf ihrer Ebene durch Folgendes auf mehrerlei Weise zu diesem integrativen Wachstum beitragen:

Fähigkeit, geeignete und innovative Waren und Dienstleistungen für behinderte, kranke oder ältere Menschen auf den Markt zu bringen: maßgeschneiderte Bekleidung, Bekleidung zum Schutz vor Stürzen, spezifische Ausrüstung für Sport und Freizeit;

dank der Anpassung an individuelle Anforderungen Fähigkeit, Lösungen für demografische und soziale Veränderungen zu finden, die zu einer größeren Nachfrage nach anspruchsvolleren und personalisierten Produkten und Dienstleistungen führen (siehe einige Projekte im Rahmen der Europäischen Konsumgüter-Forschungsinitiative Prosumer.net).

3.3   Nachhaltiges Wachstum

Nachhaltiges Wachstum in der EU bedeutet eine energie- und ressourceneffiziente Wirtschaft, die in der Lage ist, ihren Verpflichtungen bei der Eindämmung des Klimawandels und der Bewältigung der aufkommenden Ressourcenverknappung nachzukommen. Erstere wird in der Regel als "kohlenstoffarme Wirtschaft" bezeichnet, was sich auf die Reduzierung der CO2-Emissionen bezieht. Die Branche der technischen Textilien ist jedoch ein erstes Beispiel für eine potenzielle Entwicklung hin zu einer Wirtschaft, die sich auf Kohlenstoff als Ressource stützt.

Die Branche der technischen Textilien kann in erster Linie auf dreierlei Art anteilig zu einem nachhaltigen Wachstum beitragen:

durch eine Reduzierung der CO2-Emissionen dank des Einsatzes leichterer Werkstoffe im Verkehr (Verbundstoffe in der Luftfahrt und Karbonfasern bei Pkw);

durch die Bereitstellung konkreter Textillösungen, beispielsweise in den Bereichen Filtrierung, Verstärkung und Wärmedämmung, zur Verbesserung der Energieeffizienz im Wohnungs- und Bausektor;

durch Wiederverwendung von Polyethylenterephthalat (PET) aus Plastikflaschen zur Herstellung von Polyester.

Im Hinblick auf eine nachhaltige Markenpolitik bei technischen Textilien, sollten die Unternehmen in der EU dazu angehalten werden:

bei der Konzipierung von Produkten und Herstellungsmethoden Ökodesign-Lösungen in Betracht zu ziehen; den Lebenszyklus ihrer Produkte zu analysieren;

Lebenszyklusanalysen werden künftig eine immer größere Rolle spielen, da sich bislang traditionelle Werkstoffe wie Metalle häufig preiswerter recyceln lassen.

Hinsichtlich der Karbonfasern sind drei wichtige Fragen noch offen:

erstens die Entwicklung einer auf Naturfasern basierenden recyclebaren Karbonfaser in der EU im Vorgriff auf das Ende des Erdölzeitalters (5);

zweitens die Konzipierung von Recyclingverfahren, die ein vollständiges Recyceln von Textilien aus Mischgewebe (80-90%) ermöglichen;

drittens die ehrgeizigere Unterstützung der Industrie und Wissenschaft bei der Entwicklung geeigneter Verfahren zur Nutzung des Kohlenstoffs aus CO2 als Wertstoff, z.B. durch eine Umwandlung mittels beschleunigter Photosynthese oder anderer Techniken. Zwar werden im Kontext anderer Anwendungen derzeit bereits Forschungen angestellt, diese sollten aber (im Hinblick auf eine "CO2-Wirtschaft" (6)) intensiviert werden.

[siehe qualitativer Vergleich der Umweltauswirkungen kontra technische Textilien anhand von drei Beispielen in Anhang 2]

4.   Auf EU-Ebene zu fördernde Schlüsselfaktoren für den Erfolg

4.1   Verbesserung und Weitergabe von Fertigkeiten und Know-how

4.1.1   Für die Entwicklung dieser Branche spielt die Bildung eine ausschlaggebende Rolle: Hochschulen, Fachhochschulen im Bereich Textilien, Kunststoffe, flexible Werkstoffe usw. Die Unternehmen in der EU benötigen junge Fachkräfte mit den für diese neuen Märkte erforderlichen Kenntnissen: qualifiziertere Arbeitskräfte, Ingenieure mit breiten Kenntnissen im Bereich Textilien, aber auch in den Bereichen Chemikalien, Kunststoffe und Harze, Kfz-Herstellung, Bauwesen usw.

Auch die Aus- und Fortbildung der Arbeitnehmer spielt eine wesentliche Rolle. Auf nationaler Ebene sollte einer Verlagerung der wichtigeren Fähigkeiten von reifen Märkten auf wachsende Märkte der Vorrang gegeben werden.

Daher unterstützt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die Arbeit des branchenspezifischen Europäischen Qualifikationsrats für Textilien, Bekleidung und Leder (ESC-TCL), der 2011 mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Kommission von den Sozialpartnern ins Leben gerufen wurde, und ersucht diesen Rat, den spezifischen Qualifikationsbedarf der im Bereich technische Textilien tätigen Unternehmen zu analysieren.

4.1.2   Da die rasche Entwicklung neuer Anwendungsmärkte eine ziemlich junge Erscheinung ist, müssen die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten dieser Branche gefördert werden. Das Vorhaben, die verschiedenen vorhandenen Beobachtungsstellen für Qualifikationen und Beschäftigung miteinander zu vernetzen, sollte vorangetrieben werden. Diese Förderung ist aufgrund des negativen Images der Textilindustrie besonders dringlich.

4.2   Zugang zu nicht technologischer und technologischer Innovation und Instrumente für das Inverkehrbringen neuer Produkte und Dienstleistungen

Die Europäische Kommission hat in Horizont 2020 für den Zeitraum 2014-2020 drei Hauptprioritäten festgelegt:

gesellschaftliche Herausforderungen,

führende Rolle bei grundlegenden und industriellen Technologien und

Wissenschaftsexzellenz.

Der EWSA stimmt den gegenüber dem früheren siebten Rahmenprogramm an Horizont 2020 vorgenommen wichtigsten Änderungen zu, als da sind:

stärkere Beteiligung der Industrie und KMU und größere Vorteile für dieselben;

zahlreichere kleinere Projekte mit weniger Verwaltungsaufwand (Höchstdauer von zwei Jahren, drei bis sechs Partner);

klares Engagement für die Innovationsförderung, einschließlich nicht technologischer Innovation.

4.2.1   Der EWSA befürwortet COSME, da dieses Programm den im Verbrauchsgütersektor tätigen KMU dabei hilft, dank Projekten und Initiativen zur Umsetzung von Technologie in marktfähige Produkte unter Verwendung neuer Geschäftsmodelle innovative Verbrauchsgüter auf dem Markt einzuführen.

4.2.2   Die auf nationaler und EU-Ebene mit den (bereits erwähnten) gemeinsamen Instrumenten gesammelten Erfahrungen haben einige spezifische Erfordernisse dieser Branche aufgezeigt, als da sind:

Entwicklung einer einfachen, KMU-freundlichen Form der Kommunikation über FuE-Programme, die neue Produkte und Werkstoffe betreffen, da sie häufig einen Bezug zum Textilbereich aufweisen;

Förderung der Forschungszusammenarbeit zwischen Industrie und Hochschulen und der Innovationsstrukturen (Europäische Plattform für die Zukunft der Textil- und Bekleidungsindustrie, Räte und Netze auf nationaler Ebene, innovative Cluster auf regionaler Ebene usw.);

Gewährleistung der Kommunikation und Interaktion zwischen diesen Strukturen in der EU und ähnlichen Strukturen in anderen Industriezweigen, um branchenübergreifende Innovation zu fördern;

die Bereitstellung neuer, umfassender Mittel im Rahmen von Horizont 2020 für das Textilrecycling (sowohl von Produktionsabfällen als auch von Fertigprodukten) vorgeschlagen werden, um die Verwertungsleistung bei Textilien im Vergleich zur Papier-, Glas- oder Holzindustrie zu verbessern. Die Überarbeitung der Abfallrichtlinie bietet eine Gelegenheit zur Strukturierung des Textilrecyclingsektors;

intensivere Erforschung von technischen Lösungen für die Nutzung von CO2 als Wertstoff, darunter auch die beschleunigte Photosynthese.

4.3   Die Herausforderung des Zugangs zu Finanzierungsmitteln

4.3.1   Zugang zu Finanzierungsmitteln von Banken

Die Einführung neuer Solvenzvorschriften durch die Bankenregulierung Basel III (7) wird aufgrund der von den Bankenaufsichtsbehörden auferlegten höheren Kapitalbeteiligungen zu einer restriktiveren Kreditpolitik im Bankensektor führen. Diese eingeschränkte Kreditvergabe wird erhebliche Konsequenzen für die KMU haben, insbesondere diejenigen, die im industriellen Bereich tätig sind.

Der Zugang zu Finanzierungsmitteln für verschiedene Investitionen (Investitionen in Maschinen, neue Technologien, Expansion, Erwerb von Patenten usw.) ist ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung der technischen Textilien in der EU.

Die über relativ wenig Eigenkapital verfügenden KMU haben in der Regel schwerer Zugang zu Finanzierungen von Banken und können obendrein noch durch ein negatives Rating der Branche benachteiligt werden.

4.3.2   Zugang zu Finanzmitteln außerhalb der Banken

Im Vergleich zu den USA ist der Anteil der Finanzierungen außerhalb des Bankensektors in der EU-Wirtschaft gering: 1/3 im Vergleich zu 2/3. Daher sollten Anstrengungen zur Förderung des Zugangs der KMU zu Finanzmärkten und von Einzelinvestoren ("Business Angels") und Beteiligungsfonds unterstützt werden.

Die im Bereich der technischen Textilien tätigen Unternehmen zeichnen sich durch Merkmale aus, die für Privatinvestoren attraktiv sein könnten: häufig handelt es sich um Familienunternehmen, die Führungskräfte sind oft Ingenieure mit wissenschaftlichem Hintergrund (wie z.B. einige französische Jungunternehmen, die von Chirurgen gegründet wurden, um Spezialgarne für chirurgische Zwecke und Prothesen zu entwickeln) und sie investieren einen größeren Anteil des erzielten Umsatzes in FuE als die so genannten "traditionellen Unternehmen" (siehe Ziffer 2.2.3.4 oben).

4.4   Schutz der Rechte des geistigen Eigentums inner- und außerhalb der EU

KMU unterschätzen in der Regel den Wert ihres immateriellen Vermögens. Sie sollten beim Schutz ihrer Rechte des geistigen Eigentums unterstützt werden, insbesondere im Bereich Patente und Marken, während Gebrauchs- und Geschmacksmustern auf den Märkten für Bekleidung und Heimtextilien größere Bedeutung zukommt.

Der EWSA fordert eine rasche Einführung des europäischen Patents, das innerhalb der Grenzen der "Patentierbarkeit" (spezifische SWOT-Analyse im Hinblick auf die Art der Innovation, den Markt und das Unternehmensprofil) für die innovativen KMU in der EU eine Vereinfachung und einen einheitlichen, finanziell tragbaren Schutz mit sich bringt.

Auf internationaler Ebene fallen die europäischen Unternehmen in großem Maßstab Kopien und Nachahmungen zum Opfer. Die Europäische Kommission sollte sie beim Schutz ihrer Rechte auf großen aufstrebenden Märkten wie China, Indien, Brasilien oder Mexiko unterstützen. Die Probleme im Zusammenhang mit dem Schutz von Marken sowie Geschmacks- und Gebrauchsmustern sind den Kreativindustrien bereits wohl bekannt. Der Schutz von Patenten für Textilmaschinen, neue Fasern und neue Verfahren mit neuen Funktionen sollte im Aktionsplan der Kommission für Rechte des geistigen Eigentums stärker Berücksichtigung finden.

4.5   Zugang zur öffentlichen Beschaffung in der EU und im Ausland

Die öffentliche Auftragsvergabe ist ein wirkungsvoller Hebel für die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie für die Förderung der nachhaltigen Entwicklung und der Innovation in den im Bereich technische Textilien tätigen Unternehmen (8). Die in der EU hierfür geltenden Anforderungen sollten wirtschaftliche, soziale und ökologische Kriterien umfassen. Die Mitarbeiter der ausschreibenden öffentlichen Stellen sollten darin geschult werden, wie sich die Preiskriterien und die nicht den Preis betreffenden Kriterien "entschärfen" lassen (praktische Leitlinien).

Ausländische Unternehmen, die im Ausland tätig sind und gegen die sozialen und ökologischen Standards der EU verstoßen, sollten einen eingeschränkten Zugang zu europäischen öffentlichen Beschaffungsmärkten haben, während der Zugang von EU-Unternehmen zu ausländischen öffentlichen Beschaffungsmärkten verbessert werden sollte.

Der EWSA befürwortet den Verordnungsvorschlag vom 21. März 2012, der auf eine vollständige Gegenseitigkeit beim Zugang von Unternehmen aus Drittländern zu öffentlichen Beschaffungsmärkten in der EU und beim Zugang von EU-Unternehmen zu öffentlichen Beschaffungsmärkten in Drittländern abzielt (9).

4.6   Zugang zu Drittmärkten

Die GD Handel ist sich voll und ganz der offensiven Interessen der gesamten Textil- und Bekleidungsindustrie der EU bewusst, und die Kommission ist bereits bemüht, die verschiedenen tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnisse zu analysieren und zu beseitigen.

Der EWSA fordert außerdem die GD Handel auf, bei den derzeitigen und künftigen bilateralen Verhandlungen (Indien, Kanada, Japan, USA usw.) den spezifischen Bedürfnissen der Branche der technischen Textilien folgendermaßen Rechnung zu tragen:

stärkere Berücksichtigung der Investitionen (nicht nur der Exporte);

stärkere Berücksichtigung der Zolltarifpositionen, die nicht eigens in den Kapiteln 50 bis 63 aufgeführt werden (Spinnstoffe und Waren daraus), beispielsweise Glasfaserstoffe (HS 70.19) oder Vlieswaren zu hygienischen Zwecken (HS 96.19);

nähere Beleuchtung der Probleme, denen die EU-Unternehmen beim Zugang zu ausländischen öffentlichen Beschaffungsmärkten in Bereichen wie Arbeitsbekleidung, Krankenhäuser usw. gegenüberstehen.

Berücksichtigung von Standardisierungsauflagen, beispielsweise in einer künftigen transatlantischen Vereinbarung.

4.7   Zugang zu kritischen Rohstoffen

Mehr als 80% der für technische Textilien verwendeten Fasern sind synthetisch. Einige sind in großen Mengen und zu erschwinglichen Preisen erhältlich, wie z.B. Polyester, während andere wie Karbonfasern, Aramid, Glasfasern oder hochfestes Garn teurer sind und in der Regel außerhalb der EU produziert werden.

Die Branche der technischen Textilien in der EU hängt von Lieferanten aus Drittländern ab, die versucht sein könnten, restriktive Handelsmaßnahmen zu ergreifen, wie dies 2011 Indien bei Baumwollrohstoffen und -garnen getan hat.

Daher fordert der EWSA die Europäische Kommission auf,

im Rahmen ihrer "Diplomatie" im Rohstoffbereich erforderlichenfalls die kritischen Rohstoffe für technische Textilien zu berücksichtigen;

die Herstellung von Naturfasern – Flachs, Hanf, Wolle und Zellulosefasern – zu fördern, um für die Textilindustrie einheimische Rohstoffressourcen zu sichern.

5.   Anhang 1

Anteil der technischen Textilien am weltweiten Textilexport (ausgenommen Bekleidung) der Mitgliedstaaten 2011

Mitglied-staat

Anteil techn. Text. am Textilexport (nur Textilien)

Exportvolumen in EUR

Gesamtanteil

AT

21 %

545 836 380

2,5 %

BE

28 %

1 664 943 280

7,5 %

BG

23 %

94 353 020

0,4 %

CZ

46 %

1 075 687 960

4,9 %

DE

37 %

5 471 826 120

24,8 %

DK

55 %

696 198 480

3,2 %

EE

40 %

44 819 560

0,2 %

FI

61 %

201 378 760

0,9 %

FR

35 %

1 781 833 080

8,1 %

GR

16 %

106 778 290

0,5 %

HU

47 %

356 668 170

1,6 %

IT

23 %

2 608 481 980

11,8 %

LT

39 %

178 787 500

0,8 %

NL

31 %

1 499 620 840

6,8 %

PL

42 %

723 561 280

3,3 %

PT

23 %

383 053 520

1,7 %

RO

24 %

237 749 020

1,1 %

SE

65 %

558 986 660

2,5 %

SK

36 %

262 766 180

1,2 %

SL

37 %

221 994 210

1,0 %

SP

28 %

963 521 670

4,4 %

UK

40 %

1 683 055 490

7,6 %

restliche 5 (o)

65 %

712 194 990

3,2 %

EU-Mitgliedstaaten

33,3 %

22 074 096 440

100 %

(o): Zypern, Irland, Luxemburg, Lettland und Malta

Quelle: EURATEX-Berechnungen zu Daten des CITH

6.   Anhang 2 Qualitativer Vergleich der Umweltauswirkungen kontra technische Textilien anhand von drei Beispielen

Februar 2013, IFTH – Französisches Textil- und Bekleidungsinstitut

Ausführliche und wissenschaftlich fundierte Vergleiche der Umweltauswirkungen werden vorzugsweise anhand von Lebenszyklusanalysen vorgenommen. Ein bedeutender Nachteil dieses Instruments liegt in der großen Menge der zu erhebenden und auszuwertenden Daten sowie in der erheblichen Zahl der Annahmen, die zugrunde gelegt werden können, was einen Vergleich und eine Auslegung dieser Analysen erschwert.

Um einen Einblick in den ökologischen Nutzen der Verwendung technischer Textilien zu geben, werden im Folgenden anhand von drei Beispielen für unterschiedliche Anwendungen die Ergebnisse von Lebenszyklusanalysen veranschaulicht, bei denen Textilmaterialen traditionellen Materialen gegenübergestellt werden. Diese Anwendungen wurden unter Produkten für die Bau- und die Verkehrsbranche ausgewählt. Neben dem Lebensmittel- und Getränkesektor entfallen auf diese beiden Branchen 70 bis 80% der Auswirkungen des gesamten Lebenszyklus von Produkten in Europa (Bericht "Environmental Impact of Products (EIPRO) — Analysis of the Life Cycle Environmental Impacts related to the final Consumption of the EU-25" (Umweltauswirkungen von Produkten — Analyse der Lebenszyklus- und Umweltauswirkungen bezogen auf den Endverbrauch in der EU-25). (http://ec.europa.eu/environment/ipp/pdf/eipro_report.pdf) Die vorgestellten Ergebnisse beruhen auf dem normalisierten Wert für die wichtigsten Umweltauswirkungen jedes einzelnen Produkts (die dritte Anwendung ausgenommen, bei der der normalisierte Wert nicht in der Studie berechnet wurde). Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die technischen Textilien in Bezug auf bessere Umweltleistung einige signifikante Vorteile aufweisen.

6.1   1 Bauwesen – Wärmedämmung

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6.2   2 Bauwesen – Wasserbecken

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6.3   3 Flugzeugbau – Hohlprofile

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Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  1. Agrotech: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei. 2. Buildtech: Bauwesen. 3. Clothtech: funktionelle Komponenten von Schuhen und Bekleidung. 4. Geotech: Geotextilien und Tiefbau. 5. Hometech: Möbelkomponenten, Bodenbeläge usw.. 6. Indutech: Filtrierung und sonstige in der Industrie eingesetzte Produkte. 7. Medtech: Gesundheitspflege und Medizin. 8. Mobiltech: Bau, Ausrüstung und Ausstattung im Verkehrsbereich. 9. Oekotech: Umweltschutz. 10. Packtech: Verpackung und Lagerung. 11. Protech: Personen- und Eigentumsschutz. 12. Sporttech: Sport und Freizeit.

(2)  TECHNICAL TEXTILES AND NONWOVENS: WORLD MARKET FORECASTS TO 2010 (Technische Textilien und Vliesstoffe: Weltmarktprognosen bis 2010) von David Rigby Associates, abrufbar unter: http://www.fibre2fashion.com/industry-article/pdffiles/Technical-Textiles-and-Nonwovens.pdf.

(3)  

Ergänzende Stellungnahme zu der Mitteilung "Die Zukunft des Textil- und Bekleidungssektors in der erweiterten Europäischen Union" (CCMI/009), Verabschiedung am 7. Juni 2004, Berichterstatter: Herr NOLLET;

Stellungnahme zu der Mitteilung "Die Zukunft des Textil- und Bekleidungssektors in der erweiterten Europäischen Union" (INT/220), Verabschiedung am 1. Juli 2004, Berichterstatter: Antonello PEZZINI;

Informationsbericht der CCMI zum Thema "Entwicklung der europäischen Textil- und Schuhindustrie" (CCMI/041), Verabschiedung am 4. Februar 2008, Berichterstatter: Claudio CAPPELLINI;

Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur Bezeichnung und Etikettierung von Textilerzeugnissen (INT/477), Verabschiedung am 16. Dezember 2009, Berichterstatter: Claudio CAPPELLINI.

(4)  Siehe Fußnote 1.

(5)  Dieser Lösungsansatz hat allerdings aufgrund des Flächenbedarfs und der Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion ihre Grenzen (wie sich bereits im Zusammenhang mit den Biokraftstoffen gezeigt hat).

(6)  Siehe beispielsweise www.bio-based.eu, www.nova-institut.de, VCI/Dechema, 2009: Positionspapier – Verwertung und Speicherung von CO2.

(7)  Diese enthält neue Kapital- und Liquiditätsvorschriften für die Banken.

(8)  Siehe auch Informationsbericht der CCMI zum Thema "Entwicklung der europäischen Textil- und Schuhindustrie" (CCMI/041), CESE 1572/2007, Verabschiedung am 4. Februar 2008, Berichterstatter: Claudio CAPPELLINI.

(9)  Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über den Zugang von Waren und Dienstleistungen aus Drittländern zum EU-Binnenmarkt für das öffentliche Beschaffungswesen und über die Verfahren zur Unterstützung von Verhandlungen über den Zugang von Waren und Dienstleistungen aus der Union zu den öffentlichen Beschaffungsmärkten von Drittländern, COM(2012) 124 final vom 21.3.2012, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/publicprocurement/docs/international_access/COM2012_124_de.pdf.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Politik der EU für den arktischen Raum als Antwort auf das neue weltweite Interesse an dieser Region — Standpunkte der Zivilgesellschaft“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 198/04

Berichterstatter: Filip HAMRO-DROTZ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 11./12. Juli 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Die Politik der EU für den arktischen Raum als Antwort auf das neue weltweite Interesse an dieser Region – Standpunkte der Zivilgesellschaft."

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 27. März 2013 an.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 163 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

In der Arktis spielen sich tiefgreifende Veränderungen ab. Der Klimawandel trägt außerordentlich stark zur Erwärmung der Erdatmosphäre und zur Schrumpfung der Eisdecke in der Region bei. Diese Veränderungen wiederum haben weltweit Auswirkungen auf das Wetter und die Umwelt. Zugleich wirken sie sich auch auf die Weltwirtschaft aus, weil sich neue Möglichkeiten für wirtschaftliche Aktivitäten in dieser rohstoffreichen Region eröffnen. Der Blick der Weltöffentlichkeit richtet sich auf die Arktis, deren empfindliches Ökosystem und Bevölkerung adäquaten Schutz und Aufmerksamkeit brauchen. Dieser Wandel könnte geopolitische Folgen haben.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erhofft sich von der EU eine zielgerichtete Strategie für die Arktis und eine glaubhaftes Engagement in der Zusammenarbeit mit den Arktisanrainern. Die Arktis ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die gesamte Union und die EU kann sehr viel zur arktischen Kooperation beitragen. Der Ausschuss fordert Anstrengungen zugunsten einer verantwortungsvollen Wirtschaftstätigkeit, die auf Kälteklima-Know-how basiert, sowie eine Entwicklung der Infrastruktur. Gefragt sind auch eine Fortsetzung der Forschungszusammenarbeit rund um das Thema Klimawandel und der gezielte Schutz der empfindlichen Umwelt der Region.

1.3

Die Stellung des Arktischen Rates und die der EU in diesem Rat müssen gestärkt werden. Die Zivilgesellschaft muss in die Arktis-Zusammenarbeit umfassend einbezogen werden. In der arktischen Zusammenarbeit bedarf es größerer Transparenz und einer gezielten Verbesserung der Kommunikation.

1.4

Nützliche Erkenntnisse für diese Stellungnahme konnte der EWSA insbesondere durch die gemeinsam mit dem Arktis-Zentrum der Universität Lappland (1) in Nordfinnland (Rovaniemi) organisierte Anhörung gewinnen. Der Ausschuss möchte einen Beitrag zu der arktischen Zusammenarbeit und der Arktis-Politik der EU leisten und seine Beziehungen mit der Zivilgesellschaft in der Region intensivieren.

2.   Wesentliche Bemerkungen und Empfehlungen der Zivilgesellschaft

In dieser Stellungnahme werden die Standpunkte und Empfehlungen der organisierten europäischen Zivilgesellschaft zur Arktispolitik der EU unter besonderer Berücksichtigung der von der Kommission und der Hohen Vertreterin der EU für die Außenpolitik im Juni 2012 vorgelegten gemeinsamen Mitteilung und der dazugehörigen gemeinsamen Arbeitsunterlage der Dienststellen (2) dargelegt.

2.1

Die strategische Bedeutung der Arktis hat beträchtlich zugenommen, und weltweit ist ein zunehmendes Interesse an dieser Region zu verzeichnen. Daher ist es wichtig, dass die EU möglichst rasch ihre Arktispolitik festlegt, um als glaubwürdiger und konstruktiver Akteur und Impulsgeber für die Zusammenarbeit in der Arktisregion auftreten zu können. Die EU muss ihr Interesse und ihr Engagement in Bezug auf die Arktis und die diesbezügliche Zusammenarbeit demonstrieren. Die vordringliche Aufmerksamkeit muss dabei den nördlichen Landesteilen der EU-Arktisanrainer gelten sowie der Konsolidierung der Zusammenarbeit mit den arktischen Ländern, vor allem mit den europäischen Nachbarländern (einschl. Grönland). Für die EU heißt das, dass sie sich eine umfassende Arktis-Strategie geben muss.

Die Zusammenlegung der EU-Ressourcen für die Arktis an einer Stelle oder ihre wirkungsvolle Koordinierung sowie ein gesondertes Kapitel zur Arktis im EU-Haushalt sind im Interesse der glaubhaften Umsetzung der EU-Arktispolitik und -strategie notwendig.

2.2

Die Arktispolitik und -strategie der EU und die jeweiligen Strategien der Arktisanrainerstaaten müssen miteinander im Einklang stehen. Die Verwaltung der Arktisregion muss in konstruktiver Zusammenarbeit mit den betreffenden Ländern und den zentralen Akteuren entwickelt und umgesetzt werden. Die Zusammenarbeit und Verwaltung in der Arktis sollte, so weit dies möglich ist, weitgehend auf Grundlage internationaler Verträge und im Rahmen internationaler Organisationen (u.a. UNO, IMO, FAO, ILO) erfolgen. Die Zusammenarbeit würde erleichtert, wenn die teilnehmenden Länder die wichtigsten dieser Abkommen mit Geltung für das arktische Gebiet unterzeichneten.

2.3

Aus dem Wettlauf in der Arktis darf kein arktischer Konflikt erwachsen. Die EU sollte den Dialog über ein völkerrechtliches Verfahren der Streitbeilegung fördern, das für alle Beteiligten bindend wäre. Auch aus diesem Grund sollte möglichst bald der bereits 2010 vorgeschlagene und durch das Europäische Parlament unterstützte (3) Arktisgipfel im Rahmen des Arktischen Rates einberufen werden, auf dem alle wichtigen Akteure mit Interesse an der Region und an der regionalen Zusammenarbeit gemeinsam umfassend über die Zukunft der Region beraten und ein gemeinsames Verständnis über die Grundsätze für die Kooperation in diesem Gebiet anstreben könnten. Solche Gipfeltreffen sollten zudem in der Zukunft regelmäßig organisiert werden; eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen den Arktis-Akteuren bedarf effektiver Instrumente, wie etwa ein gemeinsames Kommunikations- und Beobachtungsnetz auf dem neuesten Stand der Technik.

2.4

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Stellung des Arktischen Rates gestärkt werden muss und dieser ein Mandat erhalten sollte, um als internationales Forum für die Verständigung über die zentralen Probleme im Arktis-Raum zu dienen. Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit im Arktischen Rat ist, dass sich sämtliche Arktis-Anrainerstaaten auf Augenhöhe begegnen, wobei die der EU angehörenden Arktisanrainer im Arktischen Rat auch den Standpunkten der EU Rechnung tragen sollten.

Die Stellung der EU in diesem Rat muss ausgebaut werden, da sie so besser zu seiner Arbeit beitragen und mit ihrer Teilnahme das Gewicht des Rates stärken kann. Die EU kann viel zu der Zusammenarbeit beitragen. Ein möglicher Weg zur Stärkung der Stellung der EU ist ihre Zulassung als Beobachter.

Die EU muss auch verstärkt auf die Zusammenarbeit im Euro-Arktischen Barents-Rat (BEAC) (und im Barents-Regionalrat) setzen, denn diese Gremien sind von großer Bedeutung für die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen den dreizehn Mitgliedsregionen (in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland) im rohstoffreichen Barents-Gebiet. Die EU sollte die Zusammenarbeit verschiedener regionaler Kooperationsforen untereinander fördern und ihr Fachwissen nutzen, einschließlich der in Abschnitt 4 genannten Organisationen, wie der Nordische Ministerrat, der Ostseerat oder die Nordisch-Baltischen Acht.

2.5

Der EWSA stimmt der Auffassung zu, wonach mehr fundierte und verlässlichere Informationen über die Umweltveränderungen erforderlich sind, die sich weltweit und in der Arktis mit ihrer einzigartigen Umwelt und einem empfindlichen, verletzlichen Ökosystem vollziehen. Die wissenschaftlichen Forschungen und Beobachtungen über Klimawandel, Ökologie, Umweltschutz und Meteorologie müssen energisch fortgesetzt werden. Die Projekte zur Bewertung der Klimaauswirkungen im Arktischen Raum (ACIA), der Auswirkungen des Klimawandels auf Schnee, Wasser, Eis und Permafrost in der Arktis (SWIPA) und des Abschmelzens des Eises zur Meerwasser ("Ice to Sea" oder Ice2Sea) sowie die Teilnahme am Nachhaltigen Arktisbeobachtungsnetz (SAON) können als Katalysatoren der arktischen Forschungszusammenarbeit dienen. Die etablierten und gut funktionierenden Forschungs- und Beobachtungsnetze der EU müssen wirksamer für die weitere Vertiefung von Wissen und Kompetenzen genutzt werden.

2.5.1

Die Forschung hat sich bis dato schwerpunktmäßig mit der Frage beschäftigt, wie der Klimawandel abgemildert und bewältigt werden kann, jedoch scheint es, dass die Änderungen des Klimas und deren Folgen bereits einen kritischen Punkt erreicht haben, ab dem sie sich kaum noch aufhalten lassen (4). Somit besteht Anlass genug, die Forschungen zur Erhaltung der arktischen Umwelt und zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Naturschätze ebenso wie zur Anpassung an die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels zu intensivieren. Die Forschungstätigkeiten und –ergebnisse sollten öffentlich gemacht werden; die Forschung muss sich auf alle Aspekte des Themas erstrecken, und sie muss der Zivilgesellschaft und Forschern aus allen EU-Staaten offenstehen und sie miteinbeziehen (siehe auch Ziffer 2.9).

2.5.2

Die arktisbezogene Forschung muss in den EU-Forschungsprogrammen viel stärker berücksichtigt und mit spezifischen Mitteln im EU-Haushaltsrahmen für die Jahre 2014 – 2020 bedacht werden.

2.6

Die Arktis ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die lokale Bevölkerung, ganz Europa und darüber hinaus. Unternehmerische Aktivitäten, darunter auch die verarbeitende Industrie und das Gewerbe in den ländlichen Regionen müssen auf verschiedene Weise unterstützt werden, beispielsweise durch Projekte vom Typ "Arctic-Start-Up" sowie durch Bildungsmaßnahmen. Investitionen müssen gefördert werden. Bei der Rohstoffgewinnung und sonstigen wirtschaftlichen Aktivitäten sollte die EU in Technologien, die den Verhältnissen in der Arktis entsprechen, und in die Entwicklung und Anwendung eines entsprechenden (Kälteklima-)Know-how investieren. Es geht hier unter anderem um Offshore-Tiefseebohrungen, Bergbau und Seeverkehr, Konstruktion und Bau von Schiffen und Maschinen sowie Hafen-, Werft- und Transporttechnologien.

2.6.1

Aber auch für die Infrastruktur – und hier insbesondere für den Bau von Eisenbahnverbindungen, Straßen, Flug- und Seeverkehrswegen sowie Energietransportnetzen – müssen geeignete Technologien und Know-how eingesetzt werden, die den harten arktischen Witterungsverhältnissen angemessen sind. Die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur/Logistik (sowohl auf der Nord-Süd- als auch auf der Ost-West-Achse) ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Arktis.

2.6.2

Auch der Bau von Siedlungszentren, die Nutzung der Informationstechnologie in den dünn besiedelten Gebieten (z.B. für Fernunterricht und Telemedizin) und der Tourismus sind wichtige Bereiche in der Region, die der weiteren Entwicklung und der finanziellen Förderung bedürfen.

2.6.3

Bei der Entwicklung der Transportwege durch das Nordmeer als einer kostensparenden und in mancher Hinsicht sichereren Alternative zu der Südroute durch den Suez-Kanal sollte die EU Umwelterwägungen gebührend Rechnung tragen. Die EU sollte auch dafür eintreten, neue Seeverkehrswege in der Arktis für die im internationalen Seerechtsübereinkommen (SRÜ) verankerte "friedliche Durchfahrt" zu öffnen, auch wenn diese Routen durch ausschließliche Wirtschaftszonen verschiedener Staaten führen. Dies ist von zentraler Bedeutung für den Ausbau des Fracht- und Passagierverkehrs in der arktischen Region.

2.6.4

Die Europäische Union muss nachdrücklicher auf die Verzahnung dieser Schwerpunkte mit ihrer EU-2020-Wachstumsstrategie und anderen Programmen, etwa der "Innovationsunion" und "Horizont 2020", hinwirken. Die Regional- und Kohäsionspolitik der EU sowie die Interreg- und ENPI-Programme haben eine große Bedeutung für die entlegenen Gebiete der Europäischen Union im Norden, und es ist von maßgeblicher Bedeutung, dass sie künftig diese Gebiete und deren Nachbargebiete erreichen und Unterstützung für die dortige Wirtschaft und die gesellschaftlichen Aktivitäten sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bieten.

2.6.5

Auch sollte klar auf die mit EU-Partnern vereinbarten Kooperationsprogramme für den arktischen Raum gesetzt werden. So bedürfen die Vorhaben im Rahmen der Verkehrs- und Logistikpartnerschaft der Nördlichen Dimension besonderer Aufmerksamkeit und ausreichender Mittel, da sie die Entwicklung von Verkehrswegen aus der rohstoffreichen Barents-Region, insbesondere zu den europäischen Märkten, fördern können. Zum Beispiel muss unbedingt der Bau von Landverbindungen zwischen dem EU-Gebiet und wichtigen Häfen am Nordpolarmeer wie Murmansk und Narvik beschleunigt werden. Diese Vorhaben sind als dringend erforderlich einzustufen (siehe auch 2.6.1. und 2.6.3).

Durch Lenkung von Ressourcen in die Wirtschaftsförderung können Beschäftigung, Wirtschaftswachstum und Lebensverhältnisse der Bevölkerung in der Region positiv beeinflusst werden.

2.7

Es muss unbedingt ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen Umweltschutz und Wirtschaftstätigkeit in den arktischen Gebieten sichergestellt werden. Die Europäische Union muss die arktischen Länder im Hinblick auf das Erreichen dieses Gleichgewichts entschlossen unterstützen, da die Ökosysteme in diesem Gebiet besonders fragil sind. Die Wirtschaftstätigkeit in den arktischen Gebieten muss unter Einhaltung der durch die Gegebenheiten vor Ort erforderlichen höchsten internationalen Standards für nachhaltige Entwicklung erfolgen. Besonders wichtig sind die soziale Verantwortung der Unternehmen sowie die Einhaltung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen. Die Unternehmen müssen bei ihren Tätigkeiten insbesondere an Orten mit besonders wertvoller Natur oder die für die indigenen Völker heilig sind, verantwortungsbewusst und umsichtig vorgehen. Auch die Fischerei muss verantwortungsbewusst und mit Umsicht betrieben werden. So ist die Nachhaltigkeit bei der Befischung der Tiefseefischbestände im Einklang mit den Bestimmungen der EU zur Hochseefischerei, den einschlägigen Leitlinien der FAO, der Gemeinsamen Mitteilung JOIN(2012) 19 final und der dazugehörigen gemeinsamen Arbeitsunterlage der Dienststellen SWD(2012) 182 final und nach Möglichkeit auch mit dem Übereinkommen über die Fischerei im Nordostatlantik (NEAFC) (5) zu gewährleisten. Dies ist für die Sicherung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit der arktischen Gebiete und die Lebensqualität ihrer Bewohner wichtig.

2.7.1

In der Arktis-Zusammenarbeit sollten die Leitlinien und Erfahrungen der EU mit Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie die EU-Meerespolitik umfassend mit einfließen. Neben einer Abschätzung der Umweltauswirkungen der wirtschaftlichen Tätigkeiten für die Region muss immer auch eine Bewertung ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen erfolgen.

2.7.2

Die Europäische Union muss sich dafür einsetzen, dass die im Rahmen des Arktischen Rates geschlossene neue Vereinbarung zur Vermeidung von Ölverschmutzungen zielbewusst in die Praxis umgesetzt wird und die Verhandlungen über die Grundsätze für solche Bohrungen aufgenommen werden.

2.7.3

Wichtig ist auch, dass die Verhandlungen über einen Polarkodex für die Schifffahrt (Polar Maritime Code) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden. Bei der Erschließung der arktischen Seeverkehrswege sollte die EU auch die Dienste ihres Satellitennavigationssystems Galileo anbieten, um die Navigation und die Sicherheit zu verbessern, und das System nach Möglichkeit mit ähnlichen Systemen kombinieren.

2.8

Der EWSA unterstützt nachdrücklich den von der EU aufgenommenen Dialog mit den Vertretern der Samen und der indigenen Bevölkerungsgruppen in der Arktis und weiteren in der Region tätigen Interessengruppen. Dieser Dialog muss entschlossen fortgesetzt und vertieft werden. Das kulturelle Erbe und die traditionelle Lebensgrundlage der indigenen Völker (u.a. Rentierwirtschaft) müssen geachtet werden. Die Bewohner des Gebiets sind in der Hauptsache (zu ca. 90 %) nicht-indigener Herkunft, weshalb dieser Dialog auf die gesamte Bevölkerung im Gebiet ausgedehnt werden sollte. Der EWSA pflichtet ferner der Feststellung in der Mitteilung vom Juni 2012 bei: " Die Arktis bietet sowohl Herausforderungen als auch Chancen, die das Leben künftiger Generationen europäischer Bürger maßgeblich beeinflussen werden. " Der Wandel in der Arktis wirkt sich nicht nur auf die Lebensverhältnisse der Menschen in der Arktis und ihren angrenzenden Gebieten aus, sondern wird global spürbar sein (etwa in Bezug auf das wirtschaftliche Potenzial, in Form von klimawandelinduzierten Extremwetterlagen, Änderungen der Meeresströmungen, Anstieg der Meeresspiegels, Dürren, äußerst heftigen Regen- und Schneefällen usw.).

2.8.1

Es ist notwendig, neben den Vertretern der indigenen Völker auch die Zivilgesellschaft umfassend und regelmäßig in die arktischen Tätigkeiten einzubeziehen. Die Hauptakteure in der Gesellschaft, darunter die Wirtschaft, Arbeitnehmer und Umweltschützer müssen sowohl in die multilateralen Tätigkeiten als auch in die Arktistätigkeiten der EU einbezogen werden. Dialoge, Gesprächsforen und Anhörungen sind mit den verschiedenen Gruppen der Zivilgesellschaft zu organisieren.

2.8.2

Der EWSA regt an, dass die EU auf mehreren Ebenen auf eine bessere Einbindung der Zivilgesellschaft hinarbeitet:

Die einzelnen arktischen Länder sollten die zentralen Akteure der Zivilgesellschaft in ihre Tätigkeiten mit Arktis-Bezug mit einbeziehen.

Den zentralen zivilgesellschaftlichen Akteuren sollte in für sie relevanten Fragen eine umfassendere beratende Rolle im Arktischen Rat und im Euro-Arktischen Barents-Rat eingeräumt werden.

Die EU sollte den beratenden Dialog mit den zentralen Akteuren der Zivilgesellschaft der EU in ihre künftige Arktispolitik und -strategie aufnehmen.

2.8.3

Der EWSA beabsichtigt, sich an diesem Dialog zu beteiligen und die Sichtweise und Vorschläge der organisierten Zivilgesellschaft der EU einzubringen. Der EWSA beabsichtigt ferner, seine Beziehungen mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren der Arktis in und außerhalb der EU zu intensivieren. Ziel ist, die Stimme der Zivilgesellschaft im Arktis-Gebiet und ihr gemeinsames Auftreten zu fördern. Auch den subregionalen und lokalen Akteuren muss die Möglichkeit gegeben werden, ihre Sicht auf EU-Ebene zu artikulieren.

2.9

Der EWSA stimmt dem Standpunkt zu, wonach wesentlich mehr Transparenz und öffentlich zugängliche Informationen über die arktischen Gebiete und die diesbezügliche Zusammenarbeit nötigt sind. Die EU sollte diesbezüglich auf eine gut funktionierende Kommunikationsstrategie in der arktischen Zusammenarbeit hinarbeiten. Der EWSA befürwortet vorbehaltlos den von der Kommission im Jahr 2008 unterbreiteten Vorschlag (6) zur Einrichtung eines Informationszentrums EU-Arktis, der 2009 vom Rat (7) und später vom Europäischen Parlament (8) zur Kenntnis genommen wurde. Seine Aufgabe soll die umfassende Information über Forschungserkenntnisse und sonstige Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Arktis-Zusammenarbeit sein. Diese Initiative ist gerade unter dem Aspekt der größeren Transparenz von großer Bedeutung. Zu begrüßen ist, dass die Europäische Kommission das Arktis-Zentrum der Universität Lappland damit beauftragt hat, eine Voruntersuchung für das Informationszentrum auszuarbeiten. Das Informationszentrum könnte auf einem Netzwerk aufbauen, an dem sich unter anderem Einrichtungen beteiligen können, die in der EU und in Drittländern arktische Forschungs- und Informationsaufgaben wahrnehmen. Auch der Zivilgesellschaft kommt hier eine Rolle zu.

3.   Begründung

3.1   Wesentliche Merkmale der Arktis

Für gewöhnlich ist unter Arktis das Gebiet zwischen Nordpol und dem (auf 66° 33′ 44″ nördlicher Breite verlaufenden) Polarkreis zu verstehen. Dies ist eine brauchbare Definition.

3.1.1

Das überwiegend mit Eis bedeckte Nordpolarmeer macht den größten Teil dieses Großraums aus – der Nordpol selbst liegt mitten im Meer. Die Barentssee, die Karasee, die Grönlandsee, die Norwegische See, die Beaufortsee, die Laptewsee und einige weitere Meeresgebiete gehören zum Nordpolarmeer. Das Nordpolarmeer ist von Kontinentalsockeln umgeben. Acht arktische Länder - Kanada, Dänemark mit Grönland, Finnland, Norwegen mit Spitzbergen, Russland, Schweden und die Vereinigten Staaten mit Alaska – liegen zumindest teilweise nördlich des Polarkreises und besitzen große arktische Landgebiete. Island ist am Polarkreis gelegen. Von diesen haben fünf Ländern (die sog. "Arktischen Fünf") – Norwegen, Russland, Kanada, Dänemark/Grönland und die Vereinigten Staaten – direkten Zugang zum Nordpolarmeer. Drei Mitgliedstaaten der EU – Finnland, Schweden und Dänemark – gehören zu den Arktis-Staaten. Norwegen und Island sind als Nicht-EU-Staaten Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), Island hat die EU-Mitgliedschaft beantragt. Die Vereinigten Staaten, Russland und Kanada sind strategische Partner der Europäischen Union. Grönland gehört zu Dänemark, ist aber seit 2009 weitgehende selbstverwaltet. Grönland gehört nicht zur EU, hat allerdings einen Partnerschaftsabkommen mit ihr.

3.1.2

Die Arktis hat eine Fläche von 14,5 Mio. km2 und wird von circa 4 Mio. Menschen bewohnt, die größtenteils auf russischem Territorium leben. Etwa 10 % der Bevölkerung sind indigenen Völkern (Samen, Inuit, Nenzen, Aleuten, Athapasken, Gwitchin u.a.) zuzurechnen. Die Samen in Finnland und Schweden sind die einzigen auf dem Gebiet der EU lebenden indigenen Völker. Das im Nordwesten Russlands gelegene Murmansk ist die größte Hafenstadt in der Arktis (9). Im Gebiet gibt es funktionsfähige Gesellschaften und eine gesellschaftliche Planung, wofür als Beispiel der Plan des Regionalrates Lappland für die ländlichen Gebiete 2014–2020 (10) genannt sei. Auch werden in der Arktis an die harten Witterungsverhältnisse angepasste Land- und Forstwirtschaft, Pelztierzucht und verschiedenste Formen der Wirtschaftstätigkeit betrieben (11).

3.2   Zentrale Herausforderungen in der Arktis

3.2.1

Die Arktis ist traditionell ein stabiles Gebiet und das Miteinander der arktischen Staaten ist durch konstruktive Zusammenarbeit und Vertrauen geprägt. Der Region kommt eine wichtige geopolitische Stellung zu, und in den letzten Jahrzehnten ist eine bedeutende Zunahme des Interesses an der Polarregion sowohl in den Anrainerstaaten als auch in Europa und der Welt zu verzeichnen. In diesem Gebiet spielen sich aus mehreren Gründen tiefgreifende Veränderungen ab.

3.2.2

Der vom Menschen verursachte Klimawandel, und hier insbesondere die Erwärmung der Erdatmosphäre macht sich im Polargebiet mit beispielloser Kraft und Geschwindigkeit bemerkbar. Er verursacht das Abschmelzen der Eisdecke und das Auftauen der Permafrostböden, was wiederum den globalen Treibhauseffekt (unter anderem durch die Freisetzung von Methan) antreibt. Dieser Treibhauseffekt wiederum macht sich an verschiedenen Orten der Welt in Form von extremen Witterungsverhältnissen bemerkbar. Es kommt zu Verlagerungen der Wind- und Meeresströmungen, einem Anstieg des Meeresspiegels, zunehmenden langen Dürreperioden sowie schweren Regen- und Schneefällen. Das Abschmelzen des Eises insbesondere in der Antarktis und in Grönland könnte den Meeresspiegel um 1 bis 2 Meter steigen lassen. Die Eisdecke des Nordpolarmeeres war im September 2012 auf eine nie dagewesene Größe geschrumpft (3,41 Mio. km2). Insbesondere das feste ewige Eis schmilzt außerordentlich schnell (seit 1980 sind circa 70% geschmolzen) und weicht dünnem Eis, das nur je ein Jahr hält. Das Nordpolarmeer war im Sommer 2008 zu 65% eisfrei und dürfte bereits in den nächsten Jahrzehnten zum großen Teil ganz eisfrei werden (12).

3.2.3

In diesem Gebiet gibt es sowohl im Meer als auch auf dem Land enorme, noch ungenutzte Naturschätze. Das Dünnerwerden und Schrumpfen der Eisdecke infolge der atmosphärischen Erwärmung sorgt im Verbund mit der Entwicklung und dem Einsatz neuer Technologien dafür, dass sich vielfältige Perspektiven für die Entwicklung und Erschließung neuer Kohlenwasserstoffquellen (Öl, Gas) und sonstiger Rohstoffvorkommen in der Tiefsee eröffnen. So befindet sich zum Beispiel ein Viertel der globalen Gasvorkommen und rund 80% der russischen Erdgaslagerstätten im Polargebiet. Schätzungen zufolge dürften 13% Prozent der noch nicht entdeckten globalen Ölvorkommen, 30% der noch nicht entdeckten Gasvorkommen und 20% der noch nicht entdeckten Flüssiggasvorkommen in der Region lagern.

3.2.4

Mehrere der größten globalen Öl- und Gasunternehmen operieren in der Arktis, wo sie bereits zahllose Offshore-Bohrplätze angelegt haben. Immer neue und nördlicher gelegene Stätten werden ausgemacht und erkundet (Norwegen hat 89 Bohrplätze in der Barentssee, und an neun weiteren Stellen werden in der nächsten Zeit Bohrungen gesetzt). Die zunehmende Bedeutung der Energie aus Schiefergas und -öl steigert die Attraktivität dieser Quellen zusätzlich.

3.2.5

Seit Jahrzehnten gibt es an verschiedenen Orten in der Arktis eine bedeutende Bergbautätigkeit, denn dort befinden sich große und noch ungenutzte Erzlagerstätten. So stammen zum Beispiel 90% der Eisenerzförderung der EU und 20% der weltweiten Nickelförderung aus dieser Region (vor allem aus dem Barentsseegebiet). In der Arktis gibt es auch bedeutende Waldbestände, die eine wichtige erneuerbare natürliche Ressource bilden.

3.2.6

In der arktischen Region befindet sich ca. ein Viertel des gesamten Fischbestands der Meere. Der Anstieg der Wassertemperatur wirkt sich auch auf das Zugverhalten der Fische aus und beeinflusst dadurch den Fischfang. Die Fischerei dringt immer weiter in Richtung Norden vor und erschließt bis dato unberührte Meeresgebiete.

3.2.7

Durch die Schwächung der Eisdecke und die Erwärmung der Atmosphäre erschließen sich zudem neue Meeresroutenauf der Nordwest- und der Nordostpassage – durch das Nordpolarmeer von bzw. nach Ostasien, die etwa 40 % kürzer sind als die bestehenden Seewege zwischen den Atlantikanrainern und den asiatischen Küstenstaaten. Dadurch würden sowohl bedeutende Kosteneinsparungen im Transitverkehr als auch eine Verminderung der Kohlendioxidemissionen dieser Transportform möglich. Ein bedeutender Anteil der globalen Seefracht wird von den Flotten der EU-Länder befördert, und ca. 90% der globalen Seefracht wird derzeit auf den südlichen, traditionellen Seewegen transportiert. Im Jahre 2012 nahmen 46 Frachtschiffe den Seeweg auf der Nordostpassage von der Barentssee zur Beringstraße. Der Frachtverkehr nimmt zu, obwohl diese Meeresroute noch mit großen Unsicherheitsfaktoren verbunden ist, vor allem in puncto Navigationsregeln, Kosten, Sicherheit und die extremen Witterungsbedingungen in der Region.

3.2.8

Das wirtschaftliche Potenzial ist überaus groß, sodass die Arktis aufgrund ihrer Energie- und Rohstoffvorkommen und der neuen Seeverkehrswege eine herausragende Bedeutung für die Weltwirtschaft erlangen könnte.

3.2.9

Die Umweltbedingungen der Arktis sind einzigartig, und ihr Ökosystem empfindlich und anfällig. Das Bestreben, die Umweltveränderungen besser zu bewältigen und auf Menschen zurückgehende Umweltkatastrophen (wie das Austreten von Öl usw.) im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Erschließung zu verhindern, ist bei der Zusammenarbeit in der Region von zentraler Bedeutung.

3.2.10

Die genannten Veränderungen beeinflussen die Lebensumstände der indigenen und der anderen Bevölkerungsgruppen in der Arktis und in den angrenzenden Gebieten. Der Klimawandel und die Umweltveränderungen, die sich abzeichnenden Chancen für die Wirtschaft sowie die wachsenden geo- und sicherheitspolitischen Interessen beeinflussen aber auch das Leben der Menschen anderswo in Europa und in der Welt.

3.2.11

Die Suche nach einem strategischen Ausgleich zwischen Risiken und Möglichkeiten in der Arktis ist eine globale Schicksalsfrage.

4.   Wichtigste Akteure der Arktisgebiete

4.1

Alle acht Arktisanrainer haben eigene Strategien für das arktische Gebiet (13). Ihre Schwerpunkte ähneln sich weitgehend: Es geht um die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Arktis für das jeweilige Land, dessen Stellung im Großraum, die natürlichen Bedingungen und Ökologie sowie die Notwendigkeit zur Gestaltung einer Zusammenarbeit im Hinblick auf ein nachhaltiges Regieren in der Region. Ein Kernanliegen sämtlicher Strategien ist die Frage, wie das Potenzial der Arktis – Energie, Rohstoffe und Verkehrswege – nutzbar gemacht werden kann. Die Staaten haben untereinander auch bilaterale Beziehungen geknüpft, um gemeinsame Interessen der Arktis zu schützen und wahrzunehmen. Die Parlamentarische Versammlung der NATO hat ihrerseits im Oktober 2012 eine eigene Entschließung zu den arktischen Gebieten verabschiedet (14).

4.2

Im Norden gibt es vier regionale Kooperationsforen:

Der Arktische Rat  (15) ist das zentrale Kooperationsgremium mit acht Mitgliedstaaten (den Arktisanrainerstaaten, darunter auch die Färöer und Grönland als Teile Dänemarks), sechs ständigen Teilnehmern (den Kooperationsforen der indigenen Bevölkerungen der Arktisländer) (16) sowie einer großen Zahl Beobachter (Niederlande, Spanien, Vereinigtes Königreich, Polen, Frankreich, Deutschland sowie 18 zwischenstaatlichen Organisationen bzw. NRO). Die EU, Italien, China, Indien, Südkorea und Singapur haben den Status eines ständigen Beobachters beantragt. China hat in den vergangenen Jahren seine Aktivitäten bezüglich der Arktis und der Arktisanrainer beträchtlich intensiviert. Die Mitgliedstaaten des Arktischen Rates haben verschiedene Abkommen, unter anderem einen Vertrag über die Seenotrettung ("Search and Rescue") unterzeichnet. Es wird danach gestrebt, dem Rat eine bedeutendere Rolle, mehr Zuständigkeiten und größeres Gewicht als internationales Kooperationsgremium zu verleihen.

4.3

Der Euro-Arktische Barents-Rat  (17) umfasst die europäischen arktischen und sub-arktischen Regionen. Er fördert die Zusammenarbeit in der rohstoffreichen Barents-Region, die eine bessere Verkehrsanbindung u.a. an die Märkte in Europa benötigt. Ihm gehören sieben Mitglieder an: Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Island, Russland und die Europäische Kommission. Im Rahmen des Rates arbeitet der Barents-Regionalrat (BRC) (18), dem dreizehn Regionen dieses Großraums angehören und der die praktische regionale Zusammenarbeit erleichtern soll.

4.4

Der Nordische Ministerrat  (19) (wie auch der Nordische Rat) hat eine eigene Arktis-Strategie. Die fünf nordischen Länder pflegen von jeher eine enge und umfassende Zusammenarbeit und sind in Bezug auf die arktischen Verhältnisse besonders kompetent und sachverständig. Grönland nimmt an dieser Zusammenarbeit als Vollmitglied teil.

4.5

Der Ostseerat (Council of Baltic Sea States, CBSS) (20) ist das Kooperationsgremium der acht Ostseeanrainerstaaten. Die EU hat eine eigene makroregionale Strategie für den Ostseeraum.

4.6

Die gemeinsame Politik der Nördlichen Dimension  (21) der EU, Islands, Norwegens und Russlands bezieht sich auf den geografischen Großraum der arktischen und sub-arktischen Gebiete Europas vom Nordwesten Russlands im Osten bis hin zu Island und Grönland im Westen. Die Zusammenarbeit beinhaltet vier thematische Partnerschaften (NDEP, NDPHS, NDPTL und NDPC) und ein spezielles "Arktisches Fenster". Für die Zusammenarbeit in Arktis-Fragen ist die Verkehrs- und Logistikpartnerschaft (NDPTL) bedeutungsvoll. In ihrem Rahmen wird unter anderem ein Vorschlag für ein regionales Verkehrsnetz erarbeitet. Auch die Umweltpartnerschaft der Nördlichen Dimension (NDEP) hat eine bedeutende Rolle im arktischen Gebiet, ist es doch in ihrem Rahmen unter anderem gelungen, nukleare Abfälle auf der Halbinsel Kola zu entsorgen. Die dritte Außenministertagung der Nördlichen Dimension fand im Februar 2013 in Brüssel statt (22). Der Wirtschaftsrat der Nördlichen Dimension (23) strebt vor allem danach, die Investitionsbedingungen in der Region und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die Vereinigten Staaten und Kanada sind Beobachter in den Tagungen der Nördlichen Dimension.

4.7

Parlamentsabgeordnete aus den Arktisanrainerstaaten nehmen nicht nur an allen oben genannten gemeinsamen Foren teil, sondern treffen sich regelmäßig zur Konferenz der Parlamentarier des Arktischen Raums.

4.8

Die sechs Foren indigenen Völker der Region pflegen eine regelmäßige Zusammenarbeit.

4.9

Die Internationale Polarstiftung (International Polar Foundation, IPF) unterhält eine internationale Kooperation zwischen an Arktisfragen interessierten Teilnehmer. Sie organisierte unter anderem im September 2012 im AdR das Symposium zur Zukunft der Arktis (Arctic Future Symposium 2012).

5.   Leitlinien für die regionale Zusammenarbeit

5.1

Es wird danach gestrebt, die Zusammenarbeit in Arktis-Fragen möglichst weitgehend auf Grundlage internationaler Verträge und im Rahmen internationaler Foren durchzuführen.

5.2

Der wichtigste internationale Vertrag mit Arktis-Bezug ist das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, SRÜ (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS, 1982) (24), das die Gewässer zwischen den Hoheitsgewässern unabhängiger Staaten zum Gegenstand hat. In seinem Rahmen wurde die Kommission der Vereinten Nationen zur Begrenzung des Festlandsockels (Commission on the Limits of the Continental Shelf, CLCS) eingesetzt.

5.3

Die Anrainerstaaten des Nordpolarmeeres haben auf dieser Grundlage versucht, Einvernehmen über ihre Hoheitsgewässer und ausschließlichen Wirtschaftszonen (auch außerhalb der 200-Meilen-Zone vom Festlandsockel) zu erzielen. Es wird versucht, Territorialstreitigkeiten zu vermeiden, aber einige geografische Streitpunkte sind immer noch ungelöst. Diese Streitigkeiten bergen die Gefahr der Eskalation. Die Anrainerstaaten gelangten 2008 in Ilulissat (Grönland) zu einer gemeinsamen Position, die jedem Unterzeichnerstaat die volle Souveränität zur Regelung seiner Tätigkeiten in seiner ausschließlichen Wirtschaftszone zuerkennt.

5.4

Was die Entwicklung, Infrastruktur, Bedingungen und Sicherheit der potenziellen Seeverkehrswege im Nordpolarmeer – gemeint sind die Nordwestpassage (die durch die ausschließliche Wirtschaftszone Kanadas verläuft) und die Nordostpassage (die in der ausschließliche Wirtschaftszone Russlands verläuft) anbelangt, so laufen Sondierungen. In den diversen Kooperationsgremien wird der Sachverhalt umfassend und mit dem Ziel erörtert, zwischen den beteiligten Parteien einen möglichst weitreichenden Konsens über die Grundsätze der Nutzung und Bewirtschaftung zu erzielen. Es gibt diesbezügliche internationale Verträge, u.a. das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (International Maritime Organisation, IMO) mit dem darin verankerten Grundsatz der friedlichen Durchfahrt (25). Ein Polarkodex der IMO ist in Erarbeitung.

5.5

Fragen des Klimawandels, des Umweltschutzes und der nachhaltigen Entwicklung haben in Bezug auf die Arktis ein ganz besonderes Gewicht. Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC)  (26) bildet im internationalen Umfeld einen wesentlichen Ausgangspunkt. Sie wäre auch für die Arktis von besonders großer Bedeutung.

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP  (27) hat ein Beobachtungsprogramm für die Arktis initiiert.

5.6

Die Umweltschutzorganisationen beteiligen sich aktiv an den genannten Tätigkeiten. Von Greenpeace kam der Vorschlag, Wirtschaftsaktivitäten in der Arktis erst dann aufgenommen werden dürfen, wenn Grundsätze für den Schutz des Gebiets vereinbart worden sind.

6.   Tätigkeit der EU und die Herausbildung einer Arktispolitik der Union

6.1

Die Europäische Union hat umfassende, stetig zunehmende geopolitische, ökologische und wirtschaftspolitische Interessen in der Arktis. Die EU ist alleine schon u.a. aufgrund dessen in die regionale Zusammenarbeit involviert, weil einige ihrer Mitgliedsstaaten Arktisanrainerstaaten sind.

6.2

Die Arktispolitik der EU ist noch im Entstehen begriffen. Sie erhielt vor allem durch eine Initiative des Europäischen Parlaments im Jahr 2008 wesentliche Impulse (28). Die Europäische Kommission hat zu diesem Thema zwei Mitteilungen vorgelegt (2008 und 2012) (siehe Fußnoten 2 und 7). Der Ministerrat hat zwei Entschließungen angenommen (2008 und 2009) (29). Der Rat beriet über die aktuelle Lage in seiner Tagung am 31. Januar 2013.

6.3

Im Jahre 2008 und im Juni 2012 bekannte sich die EU zur Verfolgung einer ganzheitlichen Herangehensweise in der Arktis-Politik. Mit ihrer Arktispolitik verfolgt sie drei zentrale Ziele:

Schutz der arktischen Umwelt in Zusammenarbeit mit den dort lebenden Menschen;

Förderung der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen;

Förderung der internationalen Zusammenarbeit unter Betonung der Bedeutung internationaler Verträge.

Die Grundlage dieser Politik bilden heute die drei Schwerpunkte Wissen, Verantwortung und Engagement.

6.4

In den bilateralen Beziehungen der EU mit Arktis-Drittländern wird auch die Zusammenarbeit in Arktisfragen thematisiert. Die EU hat ein Sonderabkommen mit Grönland. Die multilaterale Politik der Nördlichen Dimension spielt auch eine wichtige Rolle im arktischen Gebiet.

6.5

Etliche EU-Programme könnten auch für Maßnahmen in der Arktis-Region eingesetzt werden. Die EU investierte im Zeitraum 2007-2013 ca. 1,4 Milliarden Euro in die Förderung der nachhaltigen Entwicklung in der Arktis und deren angrenzenden Regionen. Die wissenschaftliche Forschung konnte davon besonders profitieren: Das im Jahre 2002 eingeleitete Sechste Forschungsrahmenprogramm enthielt auch Projekte mit Arktis-Bezug. Die Europäische Union hat in den letzten Jahren 200 Mio. Euro in Forschungsvorhaben mit Arktis-Bezug investiert. Sie beteiligt sich an etlichen gemeinsamen Forschungsprojekten, vornehmlich im Rahmen des Siebten Forschungsrahmenprogramms  (30). Ein funktionierendes Kooperationsnetz zwischen den Forschungseinrichtungen (sowohl in der EU als auch außerhalb) ist vorhanden. Zentrale Forschungsvorhaben für 2008–2012 und Finanzierungsprogramme für die regionale Zusammenarbeit 2007–2013 sind in einem Verzeichnis aufgeführt (31). In der Arktis wurden zahlreiche Vorhaben im Rahmen der EU-Regionalpolitik, von Interreg, der europäischen territorialen Zusammenarbeit, der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung und des Europäisches Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI) umgesetzt. Ohne Relevanz für die arktischen Gebiete sind "Connecting Europe" und TEN-T.

Die Europäische Kommission hat unlängst beschlossen, der Frage nachzugehen, wie Informationen zur Arktis-Forschung in der EU aufbereitet werden sollten. Es wird die Gründung eines Arktis-Informationszentrums der EU erwogen.

6.6

Die Europäische Union ist an der Politik der Nördlichen Dimension beteiligt und gehört dem Euro-Arktischen Barents-Rat an. Sie ist Ad-hoc-Beobachter im Arktischen Rat und hat den Status eines ständigen Beobachters beantragt. Die EU bringt sich bereits seit Jahren mit großem Engagement in die Tätigkeiten der Arbeitsgruppen des Rats ein.

6.7

Die Mitglieder des Europäischen Parlaments beteiligen sich an den Arbeiten der Konferenz der Parlamentarier des Arktischen Raums (CPAR, siehe 3.3.7.) und an der parlamentarischen Zusammenarbeit in den vier regionalen Räten des Nordens sowie im Rahmen der Nördlichen Dimension. Das Europäische Parlament hat zwei Entschließungen zur Arktis angenommen (2008 und 2011) (siehe Fußnote 9 und P6_TA(2008)0474).

6.8

Die EU hat einen regelmäßigen Dialog mit den in der Region tätigen Organisationen der indigenen Völker und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft aufgenommen und beteiligt sich außerdem an den Tätigkeiten der Internationalen Polarstiftung (IPF).

6.9

Der EWSA hat Stellungnahmen in Bezug auf die Arktis-Zusammenarbeit vorgelegt, unter anderem zu den Themen Nördliche Dimension, Regional- und Meerespolitik, nachhaltige Entwicklung und Nachbarschaftsbeziehungen. Der EWSA unterhält institutionalisierte Beziehungen zur Zivilgesellschaft in Norwegen, Island und Russland (Beratender EWR-Ausschuss, GBA Island, Gesellschaftskammer der Russischen Föderation - CCRF) und hat zwei zivilgesellschaftliche Foren der Nördlichen Dimension (2002 und 2006) sowie eine Tagung mit Interessenvertretern im Zusammenhang mit der Ministertagung der Nördlichen Dimension im Februar 2013 organisiert.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Die Universität Lappland ist die nördlichste Universität der EU: www.ulapland.fi, www.arcticcentre.org.

(2)  Europäische Kommission und Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik: Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat – Entwicklung einer Politik der Europäischen Union für die Arktis: Fortschritte seit 2008 und nächste Schritte, Brüssel, 26. Juni 2012, JOIN(2012) 19 final.

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2011 zu einer nachhaltigen EU-Politik für den hohen Norden, P7_TA(2011)0024, Ziffer 52.

(4)  Norsk Polarinstitutt, www.npolar.no, und Matthews, J.A.:The Encyclopedia of Environmental Change, Sage, London 2013.

(5)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 133 vom 09.05.2013, S. 41.

(6)  Mitteilung des Kommission "Die Europäische Union und die Arktis" vom 20. November 2008, COM(2008) 763 final.

(7)  Schlussfolgerungen des Rates zur Arktis, 2985. Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten), 8. Dezember 2009.

(8)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2011 zu einer nachhaltigen EU-Politik für den hohen Norden.

(9)  Einen aktuellen Überblick über den arktischen Raum bietet unter anderem folgendes Dokument: "Arctic Governance: balancing challenges and development, Regional Briefing, European Parliament" von der Fachabteilung Außenbeziehungen der GD Externe Politikbereiche der Union, Verfasser: Fernando Garcés de los Fayos, DG EXPO/B/polDep/Note/2012_136, Juni 2012.

(10)  www.lapinliitto.fi.

(11)  Zum Beispiel: http://www.arcticbusinessforum.org.

(12)  Arctic Impact Assessment, ACIA.

(13)  Norwegen: The High North: visions and strategies, 2011; Russland: The Russian Federation’s main state policy in the Arctic until 2020 and beyond 2008; Kanada: Canada’s Northern Strategy: Our North, Our Heritage, Our Future, 2009; Schweden: Sveriges strategi för den arktiska regionen, 2012; Vereinigte Staaten: US: Arctic Region Policy, 2009; Finnland: Suomen arktinen strategia, 2011; Dänemark, Grönland und Färöer-Inseln: Kingdom of Denmark Strategy for the Arctic 2011-2020, 2011. Island: www.utanrikisraduneyti.is.

(14)  Entschließung 396 der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

(15)  www.arctic-council.org.

(16)  Sekretariat für Indigene Völker (IPS) des Arktischen Rats, www.arcticpeoples.org.

(17)  Siehe www.europa.eu/north_dim. www.beac.st.

(18)  www.beac.st.

(19)  www.norden.org.

(20)  www.cbss.org.

(21)  http://eeas.europa.eu/north_dim/index_en.htm.

(22)  www.consilium.europa.eu 6597/13.

(23)  http://www.northerndimension.info/component/content/article/10-innerpage/9-ndbc.

(24)  www.UN.org.

(25)  www.imo.org.

(26)  www.UN.org.

(27)  www.unep.org.

(28)  Entschließung P6 TA(2008)0474, 9.10.2008.

(29)  Schlussfolgerungen des Rates zur Arktis, 2985. Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten), 8. Dezember 2009, siehe auch Fußnote 9.

(30)  Siebtes Forschungsrahmenprogramm der EU.

(31)  SWD(2012) 182, Anhang I und Europäische territoriale Zusammenarbeit, Anhang II.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

489. Plenartagung am 17. und 18. April 2013

10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung

COM(2012) 722 final

2013/C 198/05

Berichterstatter: Petru Sorin DANDEA

Die Europäische Kommission beschloss am 12. März 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung

COM(2012) 722 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 16., 17. und 18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 169 Stimmen gegen 1 Stimme ohne Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA befürwortet den von der Kommission vorgelegten Plan und unterstützt ihre Bemühungen, konkrete Lösungen zu Verringerung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu finden. Ein wirklicher Fortschritt ist nur möglich, wenn sich die Mitgliedstaaten stärker darauf konzentrieren, unter Einsatz von ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen die Effektivität der Finanzbehörden zu erhöhen, und eine bessere Koordination ihrer Zusammenarbeit sicherstellen.

1.2

Der EWSA empfiehlt der Kommission und dem Rat, die Themen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, aber auch aggressive Steuerplanung in den Jahreswachstumsbericht und das Europäische Semester aufzunehmen und spezielle Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Phänomene zu ergreifen, um Fortschritte bei der Entrichtung und Erhebung der Steuern mit Blick auf mehr Steuergerechtigkeit, eine bessere Umverteilung und eine effektivere Bekämpfung der Armut sicherzustellen.

1.3

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, die Staaten, die unter Missachtung der Grundsätze der guten Regierungsführung im Steuerwesen als Steueroasen fungieren, in eine Schwarze Liste aufzunehmen, und fordert, die gemeinsamen Kriterien zur Bestimmung dieser Staaten und Regionen auf europäischer Ebene festzulegen, um eine unterschiedliche Anwendung auf nationaler Ebene zu vermeiden. Die Möglichkeit der Aufnahme in die Schwarze Liste sollte sich nicht auf Drittländer beschränken, sondern auch Regionen oder Steuergebiete von Mitgliedstaaten und die in diesen Gebieten tätigen Unternehmen umfassen.

1.4

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission ihren Vorschlag zur Führung einer Schwarzen Liste um Sanktionen gegen Unternehmen ergänzen könnte; diese könnten beispielsweise darin bestehen, dass sie von öffentlichen Ausschreibungen für Aufträge ausgeschlossen werden oder keine Mittel der EU oder staatliche Hilfen erhalten.

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass eine aggressive Steuerplanung aufgrund der durch sie verursachten Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen, die die Mitgliedstaaten zu einer Anhebung der Steuersätze zwingen, unmoralisch ist und schwere Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes hat sowie zu für die Steuerpflichtigen ungerechten Verzerrungen der Steuersysteme führt. Aufgrund der Komplexität dieses Phänomens müssen die Vorschläge der Kommission bezüglich einer allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch und der Definition fiktiver bilateraler Vereinbarungen ausreichend klar sein, damit sie ohne Weiteres von allen Mitgliedstaaten angewandt werden können.

1.6

Der EWSA anerkennt die Bedeutung des Einsatzes der Kommission für die Aushandlung der Abkommen über eine gute Regierungsführung im Bereich des Steuerwesens mit den Nachbarstaaten der EU. Er empfiehlt dem Rat, der Kommission ein Mandat zur Führung dieser Verhandlungen zu erteilen, da sich diese Instrumente im Kampf gegen Steuerbetrug und –hinterziehung als äußerst nützlich erweisen können.

1.7

Der EWSA befürwortet, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die Vereinfachung und Harmonisierung des bestehenden Rechtsrahmens sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene weiterverfolgen. Ein vereinfachter und stärker harmonisierter Rechtsrahmen im Steuerwesen, der Steuergerechtigkeit garantieren kann und über moderne IT-Instrumente zur Überprüfung, zur Kontrolle und zum Austausch von Daten verfügt, würde gleichzeitig die Möglichkeiten für Steuerbetrug und -hinterziehung beträchtlich einschränken.

1.8

Der EWSA empfiehlt der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament, sich gegenüber den Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, die den Steuerwettbewerb begünstigenden erheblichen Unterschiede in den Steuersätzen, sowohl bei den direkten als auch den indirekten Steuern, zu beseitigen.

1.9

Der EWSA begrüßt den Beschluss der Kommission, die Möglichkeit der Einführung einer europäischen Steueridentifikationsnummer (TIN) zu prüfen. Der EWSA wiederholt seine bereits in verschiedenen Stellungnahmen an die Mitgliedstaaten gerichtete Forderung, die indirekte Besteuerung zu harmonisieren. Er legt der Kommission nahe, entsprechende Vorschläge vorzulegen. Bei gleichzeitiger Einführung einer europäischen TIN bietet eine derartige Harmonisierung die Chance einer erheblichen Eindämmung des "Karussellbetrugs".

2.   Einführung

2.1

Steuerbetrug und –hinterziehung, aber auch die Vermeidung von Steuerzahlung durch aggressive Steuerplanung verstärken eine wachsende, durch Wirtschaftskrise und Sparprogramme verursachte Ungleichheit und konterkarieren das Engagement der EU-Mitgliedstaaten für ein effizientes Funktionieren der Steuersysteme. Damit soll die Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen, die Verteilung von Wohlstand und der Kampf gegen die Armut sichergestellt und die Entstehung eines Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern vermieden werden. Die Verluste der Mitgliedstaaten werden auf über 1 000 Mrd. EUR pro Jahr geschätzt (1).

2.2

Am 2. März 2012 ersuchte der Europäische Rat den Rat und die Kommission, konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung auszuarbeiten.

2.3

Die Kommission verabschiedete im Juni 2012 eine Mitteilung (2), in der sie ausführte, wie die Einhaltung von Steuervorschriften verbessert und Steuerbetrug und Steuerhinterziehung verringert werden können. In dieser Mitteilung kündigte die Kommission einen Aktionsplan zu stärkeren Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung an.

2.4

Im Dezember 2012 legte die Kommission den angekündigten Aktionsplan vor, der kurz zuvor ergriffene Initiativen enthält und mögliche neue Maßnahmen zur kurz- oder langfristigen Umsetzung vorsieht. Dieser Plan wird von der Empfehlung der Kommission für Maßnahmen, durch die Drittländer zur Anwendung von Mindeststandards für verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veranlasst werden sollen (3) und der Empfehlung der Kommission betreffend aggressive Steuerplanung (4) flankiert.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA befürwortet den von der Kommission vorgelegten Aktionsplan und unterstützt ihre Bemühungen, konkrete Lösungen zu Verringerung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu finden (5). Angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, die die Entscheidungsfindung im Rat bremsen, zeigt sich der Ausschuss mit Blick auf die Umsetzung bestimmter vorgeschlagener Maßnahmen jedoch skeptisch. Auch die Verringerung der Finanz- und Personalausstattung in den Steuerverwaltungen der meisten Mitgliedstaaten aufgrund der Sparmaßnahmen der letzten Jahre (6) ist ein wesentliches Hindernis für die Umsetzung neuer Maßnahmen. Ein wirklicher Fortschritt ist nur möglich, wenn sich die Mitgliedstaaten stärker darauf konzentrieren, unter Einsatz von ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen die Effektivität der Finanzbehörden zu erhöhen, und eine bessere Koordination ihrer Zusammenarbeit sicherstellen.

3.2

Ein erheblicher Teil der durch die Schattenwirtschaft verursachten Verluste für die Steuerverwaltungen ist auf aggressive Steuerplanung zurückzuführen. Die Kommission erkennt an, dass bei dieser Art der Steuerplanung Unstimmigkeiten zwischen den Steuersystemen zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten ausgenutzt werden. Auch wenn ein derartiges Verhalten global als legitim gilt, so werden doch die Grundsätze der sozialen Verantwortung der Unternehmen mit Füßen getreten. Der EWSA ist der Ansicht, dass aggressive Steuerplanung aufgrund der durch sie verursachten Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen, die die Mitgliedstaaten zu einer Anhebung der Steuersätze zwingen, unmoralisch ist und gravierende Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes hat – da der Wettbewerb zwischen den Unternehmen allgemein und insbesondere zwischen kleinen und mittleren Unternehmen beeinträchtigt wird – sowie zu ungerechten Verzerrungen der Steuersysteme für die Steuerpflichtigen führt.

3.3

Der EWSA begrüßt die Empfehlung der Kommission hinsichtlich der aggressiven Steuerplanung, ist aber der Auffassung, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung unzureichend sind. Aufgrund der Komplexität des Phänomens der aggressiven Steuerplanung könnte es sich als schwierig erweisen, im Rahmen der zwischen den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Verträge die allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch anzuwenden und eine Definition für künstliche bilaterale Vereinbarungen zu finden. Außerdem ist der EWSA der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Maßnahmen mit stärkeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn sie diese Vereinbarungen nicht sofort für ungültig erklären, insbesondere, wenn Steuergebiete betroffen sind, die als Steueroasen gelten oder die keine Mindeststandards für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen einhalten.

3.4

Die Kommission schlägt den Mitgliedstaaten vor, eine Reihe von Kriterien anzunehmen, anhand derer sie feststellen können, welche Drittstaaten die Mindeststandards für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen nicht einhalten, und diese Länder auf eine Schwarze Liste zu setzen. Der EWSA weist darauf hin, dass diese Maßnahme ebenfalls die Steuergebiete von Mitgliedstaaten umfassen und sich auch auf Unternehmen erstrecken sollte, die weiterhin Transaktionen tätigen, an denen in diesen Gebieten ansässige Unternehmen beteiligt sind.

3.5

Die Kommission hat Vorschläge zur Änderung verschiedener Richtlinien vorgelegt (7), um Schlupflöcher zu beseitigen, die Steuerbetrug und –hinterziehung begünstigen könnten. Außerdem hat die Kommission den Rat darum gebeten, ihr ein Mandat zur Aushandlung von Abkommen im Bereich der Zusammenarbeit in Steuersachen und der Betrugsbekämpfung mit vier benachbarten Drittländern und zur Unterzeichnung des Vorschlags für ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Liechtenstein andererseits zu erteilen. Der EWSA empfiehlt dem Rat, diesen Vorschlägen so bald wie möglich zu folgen, da diese Instrumente sich im Kampf gegen Steuerbetrug und -hinterziehung als äußerst nützlich erweisen können.

3.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass es im Rahmen der Umsetzung des Aktionsplans zweckmäßig wäre, wenn die Kommission und die Mitgliedstaaten die Vereinfachung und Harmonisierung des bestehenden Rechtsrahmens sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene weiterverfolgen. Ein vereinfachter und stärker harmonisierter Rechtsrahmen im Steuerwesen, der Steuergerechtigkeit garantieren könnte und über moderne IT-Instrumente zur Überprüfung, zur Kontrolle und zum Austausch von Daten sowie über gut ausgebildetes Personal verfügte, würde ebenfalls die Möglichkeiten für Steuerbetrug und –hinterziehung beträchtlich einschränken. Dies würde die Verwaltungs- und Steuerbelastung von Unternehmen und Bürgern verringern und sich unmittelbar vorteilhaft auf die öffentlichen Einnahmen auswirken.

3.7

Der EWSA empfiehlt der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament, die Mitgliedstaaten anzuhalten, die den Steuerwettbewerb begünstigenden erheblichen Unterschiede in den Steuersätzen, sowohl bei den direkten als auch den indirekten Steuern, abzubauen. Gleichzeitig weist der EWSA auf den direkten Zusammenhang zwischen Höhe der Steuern und Steuerhinterziehung hin. Die effektive Bekämpfung des Steuerbetrugs und der Steuerhinterziehung sowie der aggressiven Steuerplanung kann zu einer Senkung des allgemeinen Steuerniveaus führen, die allen Steuerpflichtigen zugute käme.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Die Kommission konstatiert, dass Unternehmen aufgrund der ihnen durch den Binnenmarkt gewährten Freiheiten mit als Steueroasen geltenden Steuergebieten steuerliche Vereinbarungen treffen können - und dabei den Weg über den Mitgliedstaat mit den laxesten Bestimmungen gehen. Dadurch werden die Steuerbemessungsgrundlagen der Mitgliedstaaten unterminiert, der Wettbewerb zwischen den Unternehmen allgemein und KMU im Besonderen verzerrt und die Funktion des Binnenmarkts missbraucht. Der EWSA befürwortet, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten Unternehmen, die derart agieren, auf eine Schwarze Liste setzen. Neben anderen Maßnahmen auf nationaler Ebene sollten die Mitgliedstaaten vorsehen, das Recht dieser Unternehmen auf Bewerbungen um die Vergabe öffentlicher Aufträge auszusetzen oder ggf. beantragte staatliche Beihilfen zu verweigern.

4.2

Nach Schätzungen der Kommission ist die die Hälfte der Verluste, die den Mitgliedstaaten aufgrund bestimmter Praktiken der Schattenwirtschaft entgehen, auf aggressive Steuerplanung zurückzuführen. Der EWSA hält die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bekämpfung derartiger Praktiken (8) für unzureichend und empfiehlt konkret, die allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch und die Definition fiktiver Vereinbarungen klarer zu fassen, so dass die Mitgliedstaaten umgehend tätig werden können, ohne die Sachlage in Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit aggressiver Steuerplanung zu verkomplizieren.

4.3

Der EWSA erachtet den Vorschlag der Kommission zur Einrichtung einer Plattform für verantwortungsvolles Handeln im Steuerwesen für sinnvoll. Er empfiehlt der Kommission, die Sozialpartner ebenfalls zur Beteiligung an dieser Plattform einzuladen, insbesondere diejenigen, zu deren Mitgliedern Beschäftigte in Finanzverwaltungen gehören, die umfassende Erfahrungen im Kampf gegen die verschiedenen Formen von Betrug und Steuerhinterziehung haben. Außerdem muss klargestellt werden, wie die Zusammenarbeit der Plattform mit anderen im Steuerbereich auf Ebene der EU tätigen Strukturen gestaltet werden soll.

4.4

Im Rahmen der von der OECD koordinierten Verhandlungen über den Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung schlägt die Kommission vor, in bestehenden Richtlinien diejenigen Bestimmungen zu streichen, die unter gegebenen Umständen eine aggressive Steuerplanung ermöglichen oder angemessene Lösungen verhindern, weil sie doppelte Nichtbesteuerung zulassen. Der EWSA begrüßt diese Initiative der Kommission und empfiehlt, diese Maßnahmen so schnell wie möglich zu ergreifen.

4.5

Die Kommission schlägt vor, die Arbeiten in Bezug auf steuerliche Sonderregelungen, die für ins Ausland entsandte Mitarbeiter und vermögende Personen gelten und den Binnenmarkt beeinträchtigen und die Steuereinnahmen insgesamt schmälern, zu intensivieren. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Mitgliedstaaten diese steuerlichen Sonderregelungen aufheben. Gleichzeitig wiederholt der EWSA seine (bereits in anderen Stellungnahmen (9) geäußerte) Forderung an die EU-Institutionen, Maßnahmen zu beschließen, die den Missbrauch des "Ansässigkeitsprinzips" durch fiktive Sitz- und Eigentumsregelungen verhindern, welche es Holdings ohne konkrete Aktivität oder Briefkastenfirmen ermöglichen, die wirtschaftlichen Eigentümer von der Zahlung von Steuern in ihrem Wohnsitzland abzuschirmen.

4.6

Der EWSA begrüßt die Schaffung des Europäischen TIN-Portals für Steueridentifikationsnummern ("TIN on EUROPA"). Damit können Dritte, insbesondere Finanzinstitute, schnell, unkompliziert und zuverlässig Steueridentifikationsnummern (TIN) feststellen und aufzeichnen. Des Weiteren kann mit diesem Instrument die Wirksamkeit des automatischen Informationsaustausches verbessert werden. Angesichts des Beschlusses der Kommission, die Möglichkeit der Einführung einer europäischen TIN zu prüfen, wiederholt der EWSA seine bereits in mehreren Stellungnahmen an die Mitgliedstaaten gerichtete Forderung, die indirekte Besteuerung zu harmonisieren. Der EWSA fordert die Kommission auf, entsprechende Vorschläge vorzulegen. Bei gleichzeitiger Einführung einer europäischen TIN bietet eine derartige Harmonisierung die Chance einer erheblichen Eindämmung des "Karussellbetrugs". Die europäische TIN könnte künftig die einzige Identifikationsnummer der Steuerpflichtigen für alle Steuerarten werden.

4.7

Die Kommission hat mit der Vereinheitlichung von Formularen für den Austausch von Steuerinformationen begonnen. Eine IT-Anwendung für diese Standardformulare wurde für alle EU-Sprachen entwickelt und kann seit dem 1. Januar 2013 genutzt werden. Der EWSA begrüßt, dass diese neuen Formate eine wesentliche Rolle in der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Besteuerung spielen können, vor allem, wenn die Entwicklung des IT-Systems einen automatischen Austausch von Informationen ermöglicht.

4.8

Der EWSA begrüßt insbesondere den Beschluss der Kommission, die "Mutter-/Tochterrichtlinie" und die Missbrauchsbekämpfungsbestimmungen in anderen Richtlinien zu überprüfen. Diese Überprüfung ist notwendig, um die Umsetzung der Empfehlung der Kommission hinsichtlich der aggressiven Steuerplanung sicherzustellen. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, die Bemühungen der Kommission zu unterstützen, damit diese Überprüfung in einem angemessenen Zeitraum durchgeführt werden kann. Im Rahmen dieser Überprüfung müssen multinationale Unternehmen dazu zu verpflichtet werden, für jedes Land, in dem sie eine Geschäftstätigkeit ausüben, getrennt Buch zu führen und den Produktionsumfang und die Gewinne genau anzugeben. Wenn die Bücher in dieser Form geführt werden, ist es leichter, festzustellen, welche Unternehmen Verrechnungspreise missbräuchlich festsetzen oder aggressive Steuerplanung betreiben. Gleichzeitig empfiehlt der EWSA, Vorschriften über die Besteuerung von Unternehmensgewinnen auf der Grundlage gemeinsamer Bestimmungen zu konzipieren.

4.9

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, die von der EU entwickelten IT-Instrumente im Rahmen der OECD zu verbreiten. Wenn die OECD die für den spontanen Informationsaustausch und Rückmeldungen im Bereich der direkten Steuern entwickelten e-Formulare gutheißt, wären diese Instrumente im Kampf gegen schwere Fälle von Steuerbetrug und –hinterziehung extrem nützlich und wirksam.

4.10

Die Kommission schlägt die Entwicklung eines europäischen Kodex für die Steuerpflichtigen vor, in dem die bewährten Verfahren auf Ebene der Mitgliedstaaten zusammengefasst werden, um so das Vertrauen zwischen Steuerverwaltungen und Steuerpflichtigen durch mehr Transparenz bezüglich der Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und ein dienstleistungsorientiertes Konzept zu verbessern. Der EWSA weist darauf hin, dass eine Vereinfachung der Steuersysteme den Verwaltungsaufwand für Steuerpflichtige und Unternehmen senkt und somit mehr Vertrauen schaffen kann. Die Mitgliedstaaten sollten für vorschriftenkonforme Steuerpflichtige - seien es natürliche Personen oder Unternehmen - eine Senkung des Verwaltungsaufwandes vorsehen, diesen jedoch bei regelwidrigem Verhalten erhöhen. Es ist bekannt, dass es sich bei Unternehmen, die aggressive Steuerplanung betreiben, häufig um internationale Großunternehmen handelt.

4.11

Die Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, den Ansatz einer zentralen Anlaufstelle zu fördern, wo ansässige wie nicht ansässige Steuerpflichtige sämtliche einschlägige Informationen erhalten können. Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission und ist der Auffassung, dass ein derartiger Ansatz einen Teil der Hindernisse beseitigen kann, mit denen Steuerpflichtige bei grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeiten zu kämpfen haben. Außerdem gibt die Zentralisierung der bestehenden Informationen in Form einer zentralen Anlaufstelle in jedem Mitgliedstaat der Kommission die Möglichkeit, ein europäisches Internetportal für den Steuerbereich (nach dem Modell des Justizportals) zu entwickeln.

4.12

Die Kommission schlägt vor, auf Grundlage der Erfahrungen, die im Rahmen von EUROFISC im Kampf gegen Mehrwertsteuerbetrug durch einen schnellen Informationsaustausch gewonnen wurden, dieses Netz zukünftig auch auf den Bereich der direkten Besteuerung auszudehnen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Ausdehnung von EUROFISC auf den Bereich der direkten Besteuerung eine Vervollständigung der auf Unionsebene bereits bestehenden Instrumente für den Kampf gegen Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressive Steuerplanung darstellt.

4.13

Der EWSA begrüßt die Idee, die Definition bestimmter Arten von Verstößen gegen Steuervorschriften einschließlich verwaltungs- und strafrechtlicher Sanktionen für alle Steuerarten zu vereinheitlichen. Wenn eine derartige Angleichung gelänge, könnten Unternehmen davon abgehalten werden, die Mitgliedstaaten mit den laxesten Bestimmungen für ihre Tätigkeiten auszunutzen. Die Kommission schlägt vor, die Zweckmäßigkeit einer derartigen Angleichung zu prüfen.

4.14

Die Kommission hat in ihrer Mitteilung vom Juni 2012 eine Reihe möglicher Maßnahmen vorgelegt, die der Rat als nicht prioritär einstuft. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Sicherstellung eines unmittelbaren Zugriffs auf nationale Datenbanken im Bereich der direkten Besteuerung, die u.a. von der Kommission vorgeschlagen wurde, eines der wirksamsten Instrumente der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des Steuerbetrugs und der Steuerhinterziehung wäre. Ferner schlägt die Kommission vor zu prüfen, ob nicht ein einziges Rechtsinstrument für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden in Bezug auf alle Steuern erarbeitet werden könnte. Der EWSA unterstützt die Vorschläge der Kommission, mit denen sich Steuerbetrug und Steuerhinterziehung wirksamer bekämpfen lassen können.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2012) 351 final, S. 2.

(2)  COM(2012) 351 final.

(3)  C(2012) 8805 final.

(4)  C(2012) 8806 final.

(5)  Der Ausschuss hat sich mehrfach für Maßnahmen zur Eindämmung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung ausgesprochen: ABl. C 11, 15.1.2013, S.31, ABl. C 347, 18.12.2010, S.73 und ABl. C 255, 22.9.2010, S.61.

(6)  "Impact of austerity on jobs in tax services and the fight against tax fraud and avoidance in EU-27 + Norway" (Auswirkungen der Sparpolitik auf Arbeitsplätze in Steuerbehörden und Bekämpfung von Steuerbetrug und -hinterziehung in EU-27 und Norwegen). Bericht des Labour Research Department Lionel Fulton im Auftrag des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den öffentlichen Dienst (EGÖD), http://www.lrd.org.uk/, März 2013.

(7)  COM(2008) 727 final - 2008/0215 (CNS); COM(2012) 428 final, - 2012/0205 (CNS).

(8)  C(2012) 8806 final.

(9)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 7.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Die Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstum und Beschäftigung in der EU unterstützen

COM(2012) 537 final

2013/C 198/06

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Ko-Berichterstatter: Nicola KONSTANTINOU

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Die Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstum und Beschäftigung in der EU unterstützen

COM(2012) 537 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 12. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 175 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der festen Überzeugung, dass Kultur und Kreativität in Europa:

tragende Pfeiler der Grundwerte der gemeinschaftlichen Identität und ihres Modells der sozialen Marktwirtschaft sind;

eine bewährte Kombination für die qualitätsorientierte Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Produktion auf lokaler, regionaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene sind;

als wesentliche Elemente für komparative Vorteile des europäischen Mehrwerts bei Konzeption, Entwicklung, Produktion und Konsum materieller und immaterieller Güter sorgen;

ein Schlüsselfaktor für Wettbewerbsfähigkeit sind, von der alle wirtschaftlichen und sozialen Bereiche profitieren;

ein vielversprechendes Potenzial für mehr und bessere Arbeitsplätze darstellen;

eine prestigeträchtiges und originelles internationales Aushängeschild der EU in der Welt sind.

1.2

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass angesichts der wachsenden Bedeutung der Rolle der Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) für die Entwicklung der europäischen Wirtschaft und für ihre internationalen Aktivitäten eine mittel- bis langfristige Strategie erforderlich ist, um Folgendes sicherzustellen:

eine solide und kohärente soziale Dimension der KKW, die die Neudefinierung und Aktualisierung bestehender Berufsbilder ermöglicht, gerechte Arbeitsbedingungen sichert und ungenutzte Potenziale erschließt und darüber hinaus Folgendes gewährleisten:

Freisetzung des gesamten Beschäftigungspotenzials in der Kultur- und Kreativwirtschaft und Gewährleistung hochwertiger Arbeitsplätze im Rahmen der Grundrechte;

Neudefinierung und Aktualisierung bestehender Berufsbilder;

Abbau von Bürokratie und Verwaltungslasten für KMU, Kleinstunternehmen und Selbstständige;

Begleitung der Reorganisations- und Umstrukturierungsprozesse unter voller Achtung der Rechte und der Würde der Arbeitnehmer durch Umschulungsmaßnahmen in einem transparenten Rahmen der Information und Konsultation der Arbeitnehmer;

Förderung eines strukturierten sozialen Dialogs in der gesamten Kultur- und Kreativwirtschaft auf europäischer, nationaler und Unternehmensebene;

Festlegung eines angemessenen europäischen Regelungsrahmens, der im Stande ist, kulturelle Vielfalt und mannigfaltige Wahlmöglichkeiten zu sichern, die Verwaltungslasten zu reduzieren und die Mobilität in der EU aber auch auf nationaler Ebene zu erleichtern.

eine technische Dimension des kreativen Mehrwerts. Hier geht es um den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum auf dem Binnenmarkt, aber auch und vor allem auf internationaler Ebene; um die Förderung der Erforschung neuer Technologien und innovativer Anwendungen für Produkte und Prozesse; um die energische Unterstützung neuer Prozesse und neuer digitaler Möglichkeiten durch ein europäisches Qualitätssiegel und um die Entwicklung von Wertschöpfungsketten über gemeinsame Verbreitungsnetze und -systeme.

eine Dimension des territorialen Dialogs mit der Zivilgesellschaft, durch die in der KKW ein strukturierter Dialog auf europäischer, nationaler und gebietskörperschaftlicher Ebene geführt wird. Sie soll die Entwicklung der Kultur- und Kreativwirtschaft fördern, die für die Dynamisierung und Qualifizierung in der Region, der dortigen ausdrucksvollen und kreativen Talente, der geistigen Tätigkeiten und der Beschäftigung notwendig ist.

eine internationale Dimension des kreativen und kulturellen Europas entsprechend den internationalen Verpflichtungen aus dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Sie soll neue Geschäftsmodelle unterstützen, bei denen das Design in die Wertschöpfungskette integriert ist, alle Akteure einen Mehrwert für die Produkte und Prozesse liefern, die auf den globalen Märkten als europäische Aushängeschilder erkennbar sein sollen. Zudem soll sie ihre Werke mit Hilfe flexibler, zugänglicher und wirkungsvoller Instrumente vor Produktpiraterie und Fälschung schützen.

eine finanzielle Dimension des Zugangs zu Krediten zur Unterstützung der Initiativen dieses Wirtschaftszweigs auf dem Binnenmarkt und den internationalen Märkten. Sie soll auch Steuererleichterungen, Steuererstattungen und die Beseitigung der Doppelbesteuerung umfassen und geeignete, dem Wesen dieser Branche angemessene Instrumente für den Kreditzugang sicherstellen. Insbesondere ist hier an Garantiesysteme für Kleinstunternehmen und Kredite für immaterielle Vorhaben gedacht.

1.3

Der EWSA fordert die Kommission auf, stichprobenartig zu überprüfen, inwieweit der gemeinschaftliche Besitzstand in der Kultur- und Kreativwirtschaft befolgt wird, insbesondere mit Blick auf angemessene Regeln in den Bereichen Wettbewerb, Recht am geistigen Eigentum, Arbeitsrecht und den Schutz der Klauseln der zwischen der EU und Drittländern geschlossenen internationalen Abkommen.

1.4

Der Ausschuss schlägt der Kommission vor zu prüfen, ob und wenn ja wie ein Interessenträgerforum für die Kultur- und Kreativwirtschaft im weiteren Sinne veranstaltet werden kann, um – auch im Zuge einer gemeinsamen Vorausplanung – einen besseren Überblick über sämtliche Akteure der Branche zu bekommen und Ansatzpunkte für einen mittel- und langfristigen strategischen Handlungsplan zur Ankurbelung des Wachstums und zur Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze zu skizzieren. Ein solcher Aktionsplan muss auf einer horizontalen Strategie auf lokaler, regionaler und europäischer Ebene fußen und die Mitgliedstaaten, die lokalen und regionalen Behörden, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft einbinden.

1.5

Der Ausschuss mahnt bereits jetzt spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung prekärer Arbeitsverhältnisse in der KKW an, um gerechte Arbeitsbedingungen für alle Arbeitsnehmer und insbesondere "unabhängige" oder atypische Tätigkeiten zu schaffen, die von Unterauftragnehmern "auf Abruf" ausgeführt werden und um allen einen sicheren und gleichberechtigten Zugang zu den digitalen Netzen zu gewähren.

1.6

Der EWSA weist die Kommission auf die Notwendigkeit hin, den Rechtsrahmen so zu gestalten, dass er den Besonderheiten der KKW gerade auch mit Blick auf geistiges Eigentum, Bürokratieabbau und einfachere Besteuerung gerecht wird; Printmedien und digitalen Medien müssen bei der MwSt gleichbehandelt werden, was gerade für die kleinen Unternehmen der Branche wichtig ist.

1.7

Nach Ansicht des EWSA sollte das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger als Gelegenheit genutzt werden, um die Aufnahme eines strukturierten Dialogs mit der Zivilgesellschaft in Betracht zu ziehen, bei dem die Bürger im Mittelpunkt stehen.

2.   Die Sektoren der Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa

2.1

Die Sektoren der Kultur- und Kreativwirtschaft sind eine wesentliche strategische Ressource in Europa: die herausragende Kompetenz und Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Kultur- und Kreativwirtschaft ist nicht nur den Anstrengungen der Künstler, Autoren, Kulturschaffenden, Freiberuflern und Unternehmern zu verdanken – also Personen, die über traditionelle und innovative Talente ebenso wie über formale und informelle Kompetenzen verfügen, die es gilt zu wahren, zu fördern und zur Geltung zu bringen.

2.2

Der Ausschuss hat bereits festgestellt, dass "die in der EU-2020-Strategie anerkannten europäischen Kultur- und Kreativindustrien (KKI) […] eine zentrale Rolle für das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit sowie für die Zukunft der EU und der Unionsbürger [spielen] (1)".

2.3

Laut Definition des Grünbuchs aus dem Jahr 2010 (2) bilden die "Kulturindustrie" […] jene Branchen, die Produkte herstellen und vertreiben oder Dienstleistungen erbringen, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ein bestimmtes Merkmal aufweisen, für eine bestimmte Verwendung oder einen bestimmten Zweck gedacht und dadurch Ausdruck oder Verkörperung von Kultur sind, ungeachtet ihres potenziellen kommerziellen Wertes. "Im Unesco-Übereinkommen (2005) (3) zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen heißt es dazu: "Kreativindustrie: bezeichnet Branchen mit einer kulturellen Dimension, die Kultur als Input verwenden, obwohl ihr Output überwiegend funktional ist. Dazu zählen Architektur und Design, die kreative Elemente in größere Prozesse integrieren, sowie Unterbereiche wie Grafikdesign, Modedesign oder Werbung".

2.4

Die Trennlinien zwischen den Branchen der Kultur- und/oder der Kreativwirtschaft sind nach wie vor fließend (4), weshalb es schwierig ist, ihren tatsächlichen Beitrag zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Beschäftigung zu ermessen.

2.5

Im Rahmen des Vorschlag für die Einrichtung des Programms "Kreatives Europa" (5), zu dem sich der Ausschuss bereits geäußert hat (6), sind laut den Begriffsbestimmungen (in Artikel 2) unter der "Kultur- und Kreativbranche" alle Wirtschaftszweige zu verstehen, "deren Aktivitäten auf kulturellen Werten und/oder künstlerischen und kreativen Ausdrucksformen beruhen, unabhängig davon, ob diese Aktivitäten marktorientiert sind oder nicht, und unabhängig von der Art der Einrichtung, die sie durchführt." Hier sollten auch ausdrücklich das Verlags- und grafische Gewerbe, von den Printmedien bis zu den digitalen Medien, einbezogen werden.

2.6

Im Jahr 2008 machten diese Sektoren machten 4,5% des gesamten BIP in Europa aus, was rund 3,8% der Arbeitskräfte oder 8,5 Mio. Fachkräften entsprach (7).

2.7

Das Europäische Parlament schließt sich der oben dargelegten Definition an und ergänzt sie ausdrücklich um die Bereiche Museen und Mode.

2.8

Obgleich die Kultur- und Kreativwirtschaft innerhalb der Wirtschaftsproduktion in Europa durchaus von großer Bedeutung ist und als Wachstumsbranche einen, wichtigen Beitrag zur Beschäftigung leistet (8), bietet die Vielfalt an bestehenden Definitionen – WIPO (Weltorganisation für geistiges Eigentum), OECD, UNCTAD (Welthandelskonferenz) und der UNESCO, bis hin zum Europarat – keine sichere Arbeitsgrundlage und vergleichbare internationale Statistiken. So findet man für die EU einen Prozentsatz des BIP, der von 2,6% (Grünbuch) über 3,3% (Programm Kreatives Europa) und 4,5% (9) bis hin zu 6,5% (Europarat) reicht. Bei den Fachkräften schwanken die Angaben zwischen gut 5 Mio. über 8,5 (10) bis hin zu fast 18 Mio. (11).

2.9

Kennzeichnend für die europäische Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Diversifizierung der Branche, in der die KMU und Kleinstunternehmen mit circa 80% der Produktionsbetriebe dominieren. Großunternehmen machen weniger als ein Prozent aus, beschäftigen jedoch 40% der Erwerbstätigen (12).

2.10

Der Zustand der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft ist in vielerlei Hinsicht problematisch: das gilt für die Entwicklung fachlicher Qualifikationen, den Zugang zu Finanzmitteln, die Förderung neuer Geschäftmodelle und den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum ebenso wie für den schwierigen Zugang zu den internationalen Märkten und eine bessere Vernetzung mit anderen Wirtschaftszweigen, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit der gegenseitigen Anerkennung von (formalen oder informellen) Qualifikationen (13).

2.11

Während in Europa die Sektoren, die nicht auf die industrielle Produktion ausgerichtet sind (also visuelle Künste wie das Theater und das historische und künstlerische Erbe), oft von besonderer strategischer Relevanz sind, so nehmen in den Vereinigten Staaten vor allen die industriellen, stark marktorientierten Sektoren diese Stellung ein.

2.12

Das amerikanische Modell stellt die natürliche Bezugsgröße für die Länder dar, denen es hauptsächlich darum geht, eine Kulturproduktion aufzubauen, die von öffentlichen Subventionen weitgehend unabhängig und stark gewinnorientiert ist.

2.13

Japan ist nicht nur in Asien richtungsweisend, weil es im Laufe der Zeit jahrhundertealte und hochspezifische Produktionsformen mit neuen und originellen Formen der Industriekultur hervorgebracht hat, die auf die breite Öffentlichkeit und auf Marktakzeptanz ausgerichtet sind.

2.14

In China werden enorme Anstrengungen zum Aufbau der Kulturinfrastruktur unternommen. Dahinter steht die strategische Entschlossenheit, das Vordringen amerikanischer Kulturinhalte einzudämmen, einhergehend mit einem lebhaften Interesse an europäischen Organisationsmodellen sowie an der Rolle der öffentlichen Hand bei der Gestaltung und Unterstützung lokaler Kultursysteme.

2.15

Der Zweig der Kulturwirtschaft, der in Indien auf das stürmischste Wachstum zurückblicken kann, ist die Filmwirtschaft mit ihrem außerordentlichen Umsatzwachstum. Allerdings sind ihre Produkte sehr stark in der traditionellen indischen Kultur verwurzelt, sodass sie sich dem auswärtigen Publikum weitgehend verschließen.

2.16

Lateinamerika erlebt derzeit ein beeindruckendes Wachstum seiner Kulturindustrie. Dies ist nicht zuletzt dem Einfluss der spanischen Kultur in den Vereinigten Staaten und dem schnellen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums Mexikos zu verdanken; auch in Brasilien ist ein bemerkenswertes Aufblühen der Kultur über die Musik hinaus zu beobachten. Und auch in Afrika bildet sich eine ursprüngliche kulturelle Seele heraus, die ihre Inspiration auch aus den vielfältigen Kontakten mit der gesamteuropäischen Kultur bezieht: die Interaktion zwischen den beiden Kontinenten und die künstlerische Bildung können uns viel über das alltägliche Leben und die gesamte Kultur einer Region lehren und gleichzeitig die Hindernisse abbauen, die die Zusammenarbeit verhindern.

2.17

Der EWSA war stets von der Wichtigkeit einer Strategie zur vollen Entfaltung des Potenzials der Kulturwirtschaft und der kreativen Berufe in der EU für die Förderung von Beschäftigung und Wachstum überzeugt. In einer auf Ersuchen von Kommissionsmitglied Viviane Reding erarbeiteten Stellungnahme wurden bereits im Jahre 2004 die Probleme der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft herausgearbeitet (14). Diese Positionen wurden in mehreren nachfolgenden Stellungnahmen (15) bekräftigt und vertieft.

2.18

Europa ist mit Abstand der weltweit führende Exporteur von Produkten der Kreativwirtschaft. Diese Position kann nur behauptet werden, wenn in die Fähigkeit der Branchen investiert wird, international agieren zu können. In diesem Sinne haben sich der Rat am 12. Mai 2009 und das Parlament in seinem Bericht vom 12. Mai 2011 geäußert.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss ist sich darüber im Klaren, dass die herausragende Kompetenz und Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Kultur- und Kreativwirtschaft den Anstrengungen der Künstler, Autoren, Freiberuflern, und Unternehmern – also Personen, die über traditionelle und innovative Talente ebenso wie über formale und informelle Kompetenzen verfügen, die es gilt zu wahren, zu fördern und zur Geltung zu bringen.

3.2

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass Kultur und Kreativität in ihrer ganzen Ausdrucksvielfalt ein wesentlicher identitätsbildender Faktor für die EU und ihrer Legitimität sind: Die Vielfalt der Kreativität und der Kultur eint uns, und sie soll auch die Entwicklung einer europäischen wissensbasierten Wirtschaft durchdringen.

3.3

Um die kulturelle Identität Europas zu respektieren und zu fördern und die völlige Nachhaltigkeit der KKW sicherzustellen, müssen die Maßnahmen der Gemeinschaft zur Förderung der KKW unter Achtung des europäischen Sozialmodells, der demokratischen Prinzipien und der Umweltstandards umgesetzt werden.

3.4

Zahlreichen europäischen und nationalen Studien ist zu entnehmen, dass die Branchen der Kultur- und Kreativwirtschaft vor denselben Herausforderungen stehen:

Der europäische Markt ist fragmentiert.

Die Unternehmensstruktur besteht zu 80% aus KMU und Kleinstunternehmen.

die Digitalisierung der Branche und die Verbreitung neuer Technologien wirken sich zunehmend auf Produktion und Vertrieb aus.

Die Globalisierung schreitet immer schnellerer fort. Neue Akteure und Wettbewerber treten auf den Plan.

Qualifikationen veralten rasch, und es entstehen ständig neue Bedarfslagen.

Geistiges Eigentum ist insbesondere auf internationaler Ebene nur schwach geschützt.

Der Zugang zu Finanzmitteln und zu Investitionen in innovative Technologie ist schwierig.

Es mangelt an verfügbaren Daten.

Es gibt keine einheitliche, international anerkannte Definition dieser Branchen und der Besonderheiten ihrer Teilbranchen.

Es bedarf größerer Synergieeffekte zwischen der Kultur- und Kreativwirtschaft einerseits und technischen Innovationen andererseits.

Es müssen Partnerschaften zwischen den Bereichen der Aus- und Berufsbildung, den Unternehmen und der Kultur- und Kreativwirtschaft aufgebaut werden.

Verbesserung des Qualitätsniveaus und der Berufsaussichten durch Anerkennung des "kreativen Werts" in der Wertschöpfungskette.

Das Sozialdumping in der Kultur- und Kreativwirtschaft muss bekämpft werden.

3.5

Nach Auffassung des EWSA ist aufgrund der Bedeutung und Vielschichtigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft eine kohärente EU-Strategie erforderlich. Diese muss langfristiger angelegt sein, detaillierte nationale und regionale Arbeitsprogramme sowie mess- und prüfbare Zielsetzungen nach einem von Kommission und Parlament überwachten Fahrplan enthalten, indem auch die Beiträge und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Handlungsebenen – lokale, regionale, nationale und EU-Ebene – festgelegt werden.

3.6

Der Ausschuss fordert demnach die Kommission zur Ausarbeitung einer neuen, koordinierten mittel- bis langfristig angelegte Strategie auf, die auf einer gemeinsamen Vision bis 2020 basiert, den Besonderheiten der KKW im vollen Umfang Rechnung trägt und sichere Rahmenbedingungen schafft, die für innovative Investitionen in diesen Branchen sowie für die Entwicklung qualifizierter Humanressourcen unerlässlich sind.

3.7

Weiterhin muss die Strategie dringend dem Umstand Rechnung tragen, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft durch einen unverhältnismäßig hohen Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere bei den Tätigkeiten "auf Abruf", geprägt ist. Es gibt sehr viele freiberufliche befristete Arbeitsverhältnisse, Selbstständige und Kleinst-, meist Einmannunternehmen sowie unzählige KMU mit weniger als 10 Beschäftigten (16). Die Entlohnung der Beschäftigten in dieser Branche ist somit oft unregelmäßig und liegt zuweilen nahe oder unter der Armutsschwelle.

3.8

Viele Beschäftigte müssen unter schwierigen Bedingungen arbeiten und haben keinerlei soziale Grundsicherung. Insbesondere Frauen, die einen hohen Prozentanteil der Arbeitskräfte in der Branche ausmachen, werden in verstärktem Maße durch die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen und dem starken Lohn- und Gehaltsgefälle diskriminiert.

3.9

In der Branche gibt es relativ viele Selbstständige. Häufig teilt sich diese Kategorie in zwei Pole: Den einen bilden die hoch qualifizierten Profis mit großer Berufserfahrung, die eine starke Position auf dem Markt haben. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Selbstständigen, deren Status ausschließlich darauf hinausläuft, billige Arbeit zu liefern, um den Verwaltungs- und Kostenaufwand für ihre Kunden möglichst gering zu halten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat schon vor geraumer Zeit vor möglichem Missbrauch in dieser Branche gewarnt (17).

3.9.1

Gleichzeitig muss man sagen, dass die Wirtschaftskrise die Kultur- und Kreativwirtschaft in voller Breite erfasst hat: in ganz Europa wurden im Zuge der Sparmaßnahmen und beispiellosen Einschnitte die öffentlichen Mittel für die Kultur gekürzt.

3.10

Nach Auffassung des EWSA müssen auch in der Kultur- und Kreativwirtschaft die Maßnahmen zur Anwendung gebracht werden, die der Ausschuss in seinen Stellungnahmen zur Antizipierung von Umstrukturierungsprozessen vorgeschlagen hat (18). Die Technologien und Geschäftsmodelle in der KKW sind einem raschen Wandel unterworfen, und viele Großunternehmen stellen ihre Produktionsverfahren um, angetrieben durch die Digitalisierung der Printmedien, die Kürzung der öffentlichen Beihilfen und durch Unternehmensübernahmen und -fusionen.

3.11

Diesen Wandel bekommen die Arbeitnehmer in der Kultur- und Kreativwirtschaft unmittelbar zu spüren: Entlassungen, Druck auf Löhne und Gehälter, Vorruhestandsregelungen, verstärkter Einsatz von Zeitarbeit, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Zunahme von Stress, kürzere Arbeitsverträge und fehlende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer.

3.12

Um die Vielfalt und den kulturellen Reichtum in der EU zu gewährleisten, hält es der Ausschuss für sinnvoll, übermäßige Konzentrationen in der Produktion und im Vertrieb zu vermeiden. Der EWSA rät zum bevorzugten Einsatz von digitalen Netzen und Meta-Clustern, die es ermöglichen, eine kritische Masse für Investitionen zu erreichen, die Forschung auszubauen und auf dem internationalen Markt Fuß zu fassen und so Arbeitsplätze zu erhalten.

3.13

Gleichermaßen hält der EWSA gemeinsame Anstrengungen auf europäischer und nationaler Ebene für notwendig, um Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für neue und moderne Berufsprofile durch Maßnahmen im Rahmen des lebenslangen Lernens zu fördern, um mit dem sich in der Branche vollziehenden Wandel Schritt zu halten und eine ständig aktualisierte Professionalität und entsprechendes Fachwissen zu entwickeln. Eine Beschleunigung der Investitionen in die Modernisierung der Aus- und Weiterbildungssysteme für Künstler, kreativen Köpfe und Arbeitnehmer in der KKW ist notwendig, damit die EU ihre gegenwärtige Spitzenposition behaupten und die Ziele von Europa 2020 verwirklichen kann.

3.13.1

Derartige Maßnahmen werden umso vordringlicher, wenn man den tiefgreifenden Wandel betrachtet, der durch die Herausbildung des globalen Wettbewerbs ausgelöst wurde, mittlerweile auch die geistigen Tätigkeits- und Berufsfelder erfasst hat und immer neue Konzepte und Modalitäten für die Ausführung wissensintensiver Arbeit, wie etwa die "Europäischen Wissensgenossenschaften", erforderlich macht.

3.14

Wenn aber, wie die Kommission unterstreicht, "die Finanzinstitute ihr Bewusstsein für das wirtschaftliche Potenzial dieser Sektoren schärfen und ihre Kapazität zur Bewertung von Unternehmen verbessern [müssen], deren Geschäft auf immateriellen Vermögenswerten basiert", dann muss dies insbesondere auch für den Haushaltsrahmen 2014-2020 gelten. Hier sind die derzeit bestehenden Unsicherheiten – man denke nur an Erasmus – auszuräumen und die Programme und Instrumente, die die EU einsetzen kann (Strukturfonds, EIB, EIF u.ä.) so umzugestalten, dass sie auch die nicht-technische Innovation und die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der KKW umfassen und bevorzugen.

3.15

Bei der Vorbereitung der künftigen Kohäsionspolitik ab 2014 müssen die Lehren aus Projekten und Studien über die Verwirklichung von Instrumenten gezogen werden, damit das gesamte Potenzial der Kreativwirtschaft freigesetzt werden kann. Die Kultur- und Kreativwirtschaft muss nach Auffassung des EWSA in integrierte Strategien zur regionalen oder lokalen Entwicklung einbezogen werden, an der auch Behörden und relevante Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft beteiligt sein müssen.

3.16

Es bedarf eines Gemeinschaftsrahmens, der die Mobilität der Künstler und Kulturschaffenden, ihrer Werke, Dienste und Vertriebssysteme dadurch verbessert, dass er die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen ebenso wie moderne Bildungs- und Berufsbildungsinstrumente inner- und außerhalb der europäischen Kultur- und Kreativitätssphäre vorsieht und die Empfehlungen umsetzt, die die Sachverständigengruppe der Kommission zur Mobilität der Künstler ausgearbeitet hat (19).

3.17

Der EWSA unterstreicht, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft häufig zur Umstellung des wirtschaftlichen Umfeldes vor Ort beiträgt, neue Wirtschaftsaktivitäten durch Schaffung neuer und dauerhafter Arbeitsplätze begünstigt (20) und die Anziehungskraft europäischer Regionen und Städte steigert, wie es in der Studie "The rise of the creative class" (21) beschrieben wird.

3.18

Ein zentrales Element einer echten neuen Strategie für die Kultur- und Kreativwirtschaft muss nach Meinung des Ausschusses ein EU-Aktionsplan "Creative Europe Open to the World - CEOW" sein, um die Präsenz der Künstler und der Kultur- und Kreativwirtschaft, insbesondere der KMU, auf den wichtigsten internationalen Märkten sicherzustellen. Hierzu sind Sonderregelungen und die Erleichterung des Austausches mit Drittländern sowie die Aufnahme von genauen und bindenden Klauseln in die bilateralen und multilateralen Verträge der Europäischen Union erforderlich.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Förderung eines angemessenen ordnungspolitischen Umfelds

4.1.1

Die Mitgliedstaaten und die Kommission sollten unter voller Mitwirkung und aktiver Einbindung der Sozialpartner spezielle Regulierungsmaßnahmen ergreifen, die auf die Besonderheiten der KKW zugeschnitten sind. Diese Maßnahmen sollten angemessene Wettbewerbsregeln umfassen, um übermäßige Konzentrationen auf dem Markt zu verhindern und die kulturelle Vielfalt, das breite Spektrum an Wahlmöglichkeiten für den Verbraucher und die Vielzahl an Unternehmensformen zu erhalten.

4.1.2

Die Mitgliedstaaten müssten Verwaltungslasten und Bürokratie abbauen, die insbesondere für KMU und Selbstständige in der Kultur- und Kreativwirtschaft eine Belastung sind, indem sie für vereinfachte Verfahren der Dienstleistungserbringung und Erleichterungen der Mobilität von Dienstleistungen, Künstlern und Kulturveranstaltern sorgen.

4.2   Zugang zu Finanzmitteln, EU-Zuschüsse und öffentlich-private Partnerschaften

4.2.1

Die KKW ist selbst da, wo sie in höherem Maße marktorientiert ist, doch immer das Werk einzelner Schöpfer, Autoren, Künstler, Schauspieler und Interpreten, die auf einen einfachen Zugang zu Krediten angewiesen sind. Daher ist es sehr wichtig, die finanzielle Unterstützung für die KKW mit der Schaffung und Wahrung guter Arbeitsbedingungen für sämtliche Kategorien von Arbeitnehmern auch in finanzieller Hinsicht zu verknüpfen.

4.2.2

Demnach ist die Schaffung eines steuerlichen Umfelds wichtig, das die Entwicklung der KMU und der Selbstständigen dadurch unterstützt, dass sie von der Doppelbesteuerung bei grenzüberschreitender und transnationaler Mobilität befreit werden und in den Genuss eines angemessenen Sozialschutzes kommen.

4.2.3

Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten müssen die Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor unterstützen, um die Nachhaltigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft sicherzustellen und die kulturelle Vielfalt von Gütern und Dienstleistungen zu fördern.

4.2.4

Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten sollten Benchmarking-Mechanismen für die Modalitäten von Garantien, Darlehen, Investitionen und Exportbeihilfen vorsehen, um für kreative oder kulturelle Projekte die Zugangsbedingungen zu privaten Finanzierungen zu erleichtern und die Verbindungen zwischen den nicht kommerziellen Sektoren, die oft von öffentlichen Mittel profitieren können, und Branchen, die stärker am Markt orientiert sind – wie Design, Mode oder Werbewirtschaft – zu verbessern.

4.2.4.1

Der EWSA empfiehlt die Ausarbeitung:

einer Kartierung der wichtigsten europäischen Maßnahmen für die KKW in den letzten drei Jahren;

einer Aufstellung der KKW-spezifischen Haushaltsmittel in den letzten drei Jahren;

einer Übersicht über die Ergebnisse der Anwendung der offenen Methode der Koordinierung in der KKW.

4.3   Kreatives und kulturelles Unternehmertum und Geschäftsmodelle

4.3.1

Die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle erfordert einen unbefangenen Umgang mit den neuen digitalen Verfahren, wie etwa Remixing, Mashing und Sampling: Die Inhalte von Multimediendateien (wie Texte, Grafiken, audio-visuelle Inhalte, Videos, Animationen aus bereits bestehenden Quellen) werden ganz oder teilweise genutzt, um zu Neuschöpfungen umgestaltet zu werden.

4.3.2

Das Modell creativity for social quality bezieht sich auf Kultur, Gebiet und Gesellschaft in den kreativen Regionen und sieht Maßnahmen vor, über die Wissen mobilisiert und der Einsatz von Designern angeregt werden soll, die Broker oder Katalysatoren von Schnittstellenprozessen zwischen Entwicklung, Technologie und Produktion sein sollen.

4.3.3

Der EWSA hält es für unerlässlich, verstärkt neue Geschäftsmodelle zu nutzen, in denen das Design Teil der Wertschöpfungskette ist und sämtliche Akteure zu den Produkten und Prozessen, die als europäische Aushängeschilder auf den globalen Märkten herausstechen, einen Mehrwert beisteuern können.

4.3.4

Wichtig ist nach Auffassung des EWSA auch, dass die grenzüberschreitende und transnationale Mobilität und die Anziehungskraft auf Spitzenkräfte und Talente gefördert werden. Gleiches gilt für den Wissenstransfer, den Erfahrungsaustausch, die unternehmerischen Fähigkeiten sowie die Bildung von Netzen und Clustern zwischen den verschiedenen Akteuren sowie den verschiedenen Branchen der Wirtschaft in der EU.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 051, 17.02.2011, S. 43–49.

(2)  COM(2010) 183 final.

(3)  Vgl. http://portal.unesco.org/culture/en/ev.php-URL_ID=33232&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html.

(4)  Netzwerk "Kultur" des Europäischen Statistischen Systems (ESSnet-Kultur) - Abschlussbericht 10/2012.

(5)  COM(2011) 785 final.

(6)  ABl. C 181, 21.6.2012, S. 35–39.

(7)  Siehe auch "TERA Consultants 2010" und Wettbewerbsbericht für die EU 2010, COM(2010) 614 final.

(8)  Gemäß Eurostat verbesserte sich zwischen 2008 und 2011 die Beschäftigungslage in der Kultur- und Kreativwirtschaft besser als in der Gesamtwirtschaft in der EU.

(9)  TERA Consultants, 2010.

(10)  TERA Consultants, 2010.

(11)  Siehe 2006 Report – "The Cultural Economy of Europe" (CEOE).

(12)  Vgl. "The study on the entrepreneurial dimension of cultural and creative industries".

(13)  ABl. C 175, 28.07.2009, S. 63-72.

(14)  ABl. C 108, 30.4.2004, S. 68–77.

(15)  Stellungnahmen: ABl. C 181, 21.6.2012, S. 35–39; ABl. C 228, 22.9.2009, S. 52–55; ABl. C 132, 3.5.2011, S. 39–46; ABl. C 68, 6.3.2012, S. 28–34; ABl. C 48, 15.2.2011, S. 45–50; ABl. C 27, 3.2.2009, S. 119–122; ABl. C 51, 17.2.2011, S. 43–49; ABl. C 112, 30.4.2004, S. 57–59; ABl. C 110, 9.5.2006, S. 34–38; ABl. C 248, 25.8.2011, S. 144–148; ABl. C 229, 31.7.2012, S. 1–6; ABl. C 255, 14.10.2005, S. 39–43; ABl. C 117, 30.4.2004, S. 49–51; ABl. C 228, 22.9.2009, S. 100–102; ABl. C 77, 31.3.2009, S. 63–68.

(16)  In der EU-27 arbeiten 25% der Kulturschaffenden Teilzeit, gegenüber 19% aller Erwerbstätigen. Der Anteil derjenigen, der zuhause arbeitet, liegt bei den Kulturschaffenden (mit 26%) doppelt so hoch wie in der Gesamtheit der Erwerbstätigen. Unter Kulturschaffenden ist es außerdem weitaus üblicher, gleichzeitig mehrere Jobs zu haben (6%), als bei den Erwerbstätigen insgesamt (4%). Siehe Cultural Statistics, Eurostat pocketbooks, Ausgabe 2011.

(17)  Vgl. Stellungnahme CESE "Missbrauch des Status der Selbstständigkeit", ABl. C 161, 06.06.2013.

(18)  ABl. C 299, 4.10.2012, S. 54–59.

(19)  Vgl. http://ec.europa.eu/culture/documents/moc_final_report_en.pdf.

(20)  V. Beschäftigungsinitiative für Jugendliche, Europäischer Rat, 8. Februar 2013.

(21)  Richard Florida, amerikanischer Experte für urbane Entwicklung.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Strategie für die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit des Baugewerbes und seiner Unternehmen

COM(2012) 433 final

2013/C 198/07

Berichterstatter: Aurel Laurențiu PLOSCEANU

Ko-Berichterstatter: Enrico GIBELLIERI

Die Europäische Kommission beschloss am 7. September 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Strategie für die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit des Baugewerbes und seiner Unternehmen

COM(2012) 433 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 12. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 128 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die im Juli 2012 erfolgte Veröffentlichung des Aktionsplans der Kommission zur nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit des Baugewerbes und seiner Unternehmen.

1.2

Der EWSA hebt die strategische Bedeutung hervor, die dem Baugewerbe wegen seines Beitrags zum BIP, seiner Rolle für die Beschäftigung im Rahmen der Gesamtwirtschaft in Europa sowie als Impulsgeber für das Wirtschaftswachstum zukommt.

1.3

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass das Baugewerbe eine entscheidende Rolle bei der Senkung des Energieverbrauchs in der EU und der Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit spielt und damit einen Beitrag zur Eindämmung und Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels leistet. Er erwartet, dass der Aktionsplan dazu beitragen wird, dass das Baugewerbe diese wichtigen gesellschaftlichen Herausforderungen besser bewältigen kann.

1.4

Dem Baugewerbe, das fast 10% des EU-BIP erwirtschaftet, kommt eine Schlüsselrolle bei der Sicherstellung einer prosperierenden EU-Gesamtwirtschaft zu. Zur Schaffung des angestrebten Wachstums müssen die nationalen Politikverantwortlichen – wie die Kommission durch die Vorlage dieser Mitteilung – Maßnahmen für das Baugewerbe ergreifen, durch die sichergestellt ist, dass es die entsprechenden finanziellen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen vorfindet, um zu Wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und Umweltschutz beitragen zu können, wie dies im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der EU liegt.

Der EWSA ist zudem der Ansicht, dass das Baugewerbe keiner direkten finanziellen Unterstützung in Form von Beihilfen bedarf, sondern im Rahmen des Aktionsplans versucht werden sollte, die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es dem Baugewerbe ermöglichen, den ihm zukommenden Beitrag zum Wirtschaftswachstum, zum allgemeinen Wohlstand sowie zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt in bestmöglicher Weise zu leisten, was auch die Gewährleistung entsprechender öffentlicher und privater Investitionen zur Förderung nachhaltiger Projekte sowie die Finanzierung der Wirtschaft der Mitgliedstaaten vor allem durch Bankdarlehen umfasst, wobei unverzügliche und wirksame Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs von KMU zu Krediten zu ergreifen sind, einschließlich der Schaffung besonderer Instrumente für Bürgschaften und Rückbürgschaften..

1.5

Darüber hinaus kommt einem einfachen, stabilen und kohärenten Rechts- und Normungsrahmen auf EU-Ebene eine Schlüsselrolle für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Baugewerbes auf dem Binnenmarkt und den internationalen Märkten zu.

1.6

Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass Sparmaßnahmen zwar strukturelle Ungleichgewichte austarieren, jedoch keine Ankurbelung des Wirtschaftswachstums bewirken, sondern die Wirtschaftskrise in vielen Staaten eher verschlimmern. Es muss in nachhaltige Gebäude und Infrastruktur investiert werden, um für die Zukunft Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in Europa zu sichern.

1.7

Die organisierte Zivilgesellschaft fordert die Kommission, das Europäische Parlament, den Rat und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, Investitionen in die Nachhaltigkeit von Gebäuden und Kerninfrastruktur nicht nur als eine andere Form öffentlicher Ausgaben, sondern als strategischen Beitrag zur Gewährleistung von Wachstum und Beschäftigung auch in der Zukunft zu betrachten. Der EWSA empfiehlt zudem, derartige Investitionen bei der Berechnung der Leistung eines Landes im Zusammenhang mit den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht zu berücksichtigen.

1.8

Die Sanierung der alternden Gebäudeinfrastruktur der EU birgt ein enormes Potenzial hinsichtlich der Reduzierung der Energienachfrage, die notwendig ist, um das EU-Ziel einer Senkung der Treibhausgasemissionen sowie der Energienachfrage um jeweils 20% zu verwirklichen. Dies würde auch zu einer Senkung der Importe fossiler Brennstoffe beitragen und damit sicherstellen, dass mehr von der Wertschöpfung in der EU auch in Europa verbleibt, wodurch in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise Arbeitsplätze erhalten bzw. neu geschaffen werden könnten. Um dies zu bewerkstelligen, müssen die Mitgliedstaaten angemessene finanzielle und steuerliche Anreize schaffen, die den Markt zu größeren Energieeinsparungen und zum Abbau der Qualifikationsdefizite anspornen.

1.9

Die Modernisierung der europäischen Verkehrs-, Energie- und Breitbandinfrastruktur stellt eine weitere große Herausforderung dar, die im Hinblick auf die Bedürfnisse künftiger Generationen und die Sicherstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität Europas für ausländische Direktinvestitionen bewältigt werden muss. Erkennen die Regierungen die Bedeutung dieser Art von Investitionen nicht, droht Europa, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf den allgemeinen Wohlstand hinter andere Weltregionen zurückzufallen.

1.10

Der demografische Wandel bringt neue Herausforderungen im Bereich der Gebäudeinfrastruktur mit sich, die das Baugewerbe bewältigen muss. Dazu zählen etwa die Auswirkungen der Bevölkerungsalterung hinsichtlich der Zugänglichkeit von Gebäuden. Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der Europäische Normungsausschuss im Auftrag der Europäischen Kommission derzeit an der Anpassung der relevanten Normen an die Prinzipien des "Designs für alle" arbeitet. Darüber hinaus sieht sich das Baugewerbe auch der Herausforderung der Überalterung der Arbeitskräfte gegenüber. In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum (1) und die Herausforderung hin, die dies für die Gesamtwirtschaft darstellt.

1.11

Neben dem Beitrag des Baugewerbes zur Eindämmung der Auswirkungen des Klimawandels bringt die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels neue Herausforderungen in Bezug auf die Bebauung mit, die die Bauwirtschaft wird bewältigen müssen. Dazu zählen die Auswirkungen extremer Wetterereignisse, die eine robustere Gebäudeinfrastruktur erfordern, sowie adäquate Schutzeinrichtungen. Der EWSA betont, dass dem auch im Rahmen der bestehenden technischen Normen wie z.B. Eurocodes Rechnung getragen werden muss.

1.12

Wenn die erforderlichen Investitionen getätigt werden, kann das Baugewerbe hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten; gleichzeitig sind Projektanleihen zwar ein probates Mittel zur Aufbringung zusätzlicher privater Finanzmittel für Projekte, können aber öffentliche Investitionen nicht ersetzen.

1.13

Zahlreiche Bauunternehmen und insbesondere KMU stehen aufgrund des Zahlungsverzugs von öffentlichen Auftraggebern und von Kunden aus der Privatwirtschaft erheblich unter Druck. Die Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr muss ordnungsgemäß durchgesetzt werden, um das Überleben der Unternehmen zu sichern. Der EWSA hebt nachdrücklich hervor, dass es zur vollständigen Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2011/7/EU und Erreichung ihrer Ziele wichtig ist, die Zahlungs- und Eingangsfristen auf den öffentlichen Beschaffungsmärkten auf 30 Tage zu beschränken und dafür zu sorgen, dass die Zahlung tatsächlich innerhalb dieser Fristen erfolgt. Dies sollte durch angemessene fiskalische und administrative Maßnahmen (insbesondere hinsichtlich des Erhalts von Bankkrediten für die Begleichung ausstehender Verbindlichkeiten) geschehen. Der EWSA unterstreicht, dass die Lösung des Problems der Zahlungsrückstände, die aus der Zeit vor der Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU datieren, von prioritärer Bedeutung ist. Tatsächlich stellt der Zahlungsverzug bei hohen Rechnungsbeträgen im Rahmen der öffentlichen Beschaffungsmärkte eine erhebliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit, der Rentabilität und der Überlebensfähigkeit von Unternehmen dar. Jene Länder, die bislang kürzere Zahlungsfristen hatten, sollten die Ausnahmebestimmungen der Richtlinie nicht dazu nutzen, um diese Fristen zu verlängern. Der EWSA spricht sich in diesem Zusammenhang dafür aus, für die Begleichung von Rechnungen (einschließlich Abnahme und Prüfung) eine höchstens 30-tägige Zahlungsfrist zuzulassen.

1.14

Der EWSA hebt hervor, dass Bankkredite zugunsten der Investoren und der Realwirtschaft wieder gefördert und gestärkt werden müssen, um die Chancen für einen Aufschwung nicht zu gefährden oder erheblich zu senken. Er empfiehlt, bei der Genehmigung von Krediten übertriebene Prüfungen zu vermeiden und die Entwicklung von Wertpapieranlagen zu Lasten von Krediten für Unternehmen, die die Krise durchgestanden haben, nicht länger zu bevorzugen. Brückenkrediten kommt entscheidende Bedeutung für das Überleben zahlreicher Unternehmen und insbesondere KMU im Tagesgeschäft zu. Daher stellt die derzeit eingeschränkte Kreditvergabe durch die Banken eine echte Bedrohung für die Lebensfähigkeit dieser Unternehmen dar. Um die bereits vorhandene Kreditklemme nicht weiter zu verschärfen, dürfen Finanzaufsichtsregeln wie jene, die im Basel-III-Abkommen vorgeschlagen wurden, nicht zu einer weiteren Einschränkung der Kreditvergabe an die Realwirtschaft führen. Deshalb sollte die Möglichkeit, günstig Geld von der EZB zu borgen, an die Auflage geknüpft werden, dass dies großteils der Realwirtschaft zugutekommen muss.

1.15

Eine entscheidende Rolle für die Schaffung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Bauwirtschaft kommt der Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen zu. Der Atkins-Bericht aus dem Jahr 1993 (2) kommt zu dem Schluss, dass von einer auf prekären Beschäftigungsverhältnissen wie Scheinselbständigkeit beruhenden Bauwirtschaft negative Produktivitätsanreize ausgehen. Deshalb sollte der Aktionsplan auch Strategien zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zur Bekämpfung unlauterer Geschäftspraktiken wie Scheinselbständigkeit in der Bauwirtschaft enthalten.

1.16

Unabhängig von der Beschäftigungsform müssen Anreize für die Qualifizierung von Arbeitnehmern und für ein Angebot an Möglichkeiten für lebenslanges Lernen geschaffen werden.

1.17

Eine Umgehung der Regelungen und sozialen Verpflichtungen führt zu Wettbewerbsverzerrungen im Baugewerbe. Deshalb muss auf der Grundlage der im Aufnahmestaat bestehenden Vorschriften und Sozialbestimmungen für gleiche Wettbewerbsbedingungen gesorgt werden. Zu diesem Zweck sind entsprechende Durchsetzungsverfahren anzuwenden, um zu gewährleisten, dass die im Aufnahmestaat geltenden Bedingungen respektiert werden.

1.18

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, ihr politisches Engagement zu verstärken und konkrete Maßnahmen gegen die Beeinflussung der Vergabe öffentlicher Aufträge – insbesondere bei großen Infrastrukturprojekten – durch Korruption und kriminelle Organisationen zu ergreifen, da der Einsatz von Drohungen und Gewalt eine Beschneidung von Freiheit und Demokratie darstellt und zu inakzeptablen und unfairen Wettbewerbsbedingungen führt.

1.19

Der EWSA betont, dass es den Mitgliedstaaten ermöglicht werden sollte, die bereits bestehenden sowie zusätzliche Kontrollmaßnahmen und Verwaltungsauflagen anzuwenden, die für wirksam und notwendig erachtet werden. Dabei ist sicherzustellen, dass die Kontroll-, Überwachungs- und Durchsetzungsinstrumente auch tatsächlich angewandt und wirksame und angemessene Inspektionen auch tatsächlich durchgeführt werden, um die Einhaltung der nationalen Vorschriften sowie der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern zu gewährleisten.

1.20

Zugewanderten Arbeitnehmern sollte auf der Grundlage der im Aufnahmestaat geltenden Bedingungen und Vorschriften Anspruch auf die sozialen Mindestleistungen und/oder gleichwertige Bedingungen gewährt werden. Zur Bekämpfung von Sozialdumping und ungleicher Behandlung zugewanderter Arbeitnehmer vor dem Recht sollten entsprechende Durchsetzungsmechanismen geschaffen werden.

1.21

Der Anteil an FuE im Bereich der Bauwirtschaft muss im Hinblick auf die damit zu erzielenden Produktivitätszuwächse angehoben werden. Es bedarf einer Politik, die kontinuierliche Innovation, Produktivitätssteigerungen auf der Grundlage der Qualifikation der Arbeitnehmer, "intelligente" neue Produkte und Arbeitsorganisation sowie hochwertige Beschäftigungsmöglichkeiten fördert. Diesbezüglich kann die Umwelttechnologie Anstöße für neue Entwicklungen geben.

1.22

Der EWSA spricht sich für faire und ausgewogene Vertragsbedingungen in allen EU-Mitgliedstaaten aus, wobei diese auch für Unternehmen aus Drittstaaten gelten sollten, die auf dem EU-Baugewerbemarkt tätig sind. Die Vergabe öffentlicher Aufträge nach dem Prinzip des "wirtschaftlich günstigsten Angebots" (anstelle des "Niedrigstangebots") sowie eine generelle Ablehnung ungewöhnlich niedriger Angebote sind entscheidende Faktoren für einen wirksamen und fairen Wettbewerb.

1.23

Damit das Baugewerbe stärker zur nachhaltigen Entwicklung beitragen kann, sollten Investitionen und ihre Kosten auf der Grundlage ihres gesamten Lebenszyklus bewertet werden. Gegebenfalls sollte eine solche Bewertung auf der Grundlage der vom Europäischen Normungsausschuss erarbeiteten bzw. angenommenen Normen erfolgen.

1.24

Der EWSA begrüßt die Einsetzung eines hochrangigen Gremiums der EU zum Thema Bauwirtschaft und möchte sich daran beteiligen, um für mehr Konsistenz bei den für die Bauwirtschaft relevanten EU-Maßnahmen zu sorgen.

2.   Hintergrund

2.1

Das Baugewerbe in der EU-27 hat die Auswirkungen der 2008 beginnenden Finanzkrise und den folgenden Wirtschaftsabschwung bei der Bautätigkeit stark zu spüren bekommen. Ein Wiederaufschwung wird durch die einsetzende Staatsschuldenkrise in der Eurozone und die Umsetzung von Sparprogrammen in einer Reihe von Mitgliedstaaten verzögert.

2.2

Nichtsdestoweniger belief sich der Umsatz des Baugewerbes im Jahr 2011 auf 1 208 Mrd. EUR, was 9,6% des BIP der EU-27 sowie 51,5% der Bruttoanlageninvestitionen ausmacht (3).

2.3

Das Baugewerbe besteht aus 3,1 Mio. Unternehmen, von denen 95% KMU mit weniger als 20 Beschäftigten sind, wobei 93% weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigen.

2.4

Das Baugewerbe zeichnet mit 14,6 Mio. Beschäftigten im Jahr 2011 als größter gewerblicher Arbeitgeber in Europa für 7% der Gesamtbeschäftigung und 30,7% der Industriearbeitsplätze verantwortlich. Seit 2008 geht die Beschäftigung laufend zurück.

2.5

Unter Berücksichtigung des Multiplikatoreffekts (ein Beschäftigter im Baugewerbe schafft zwei weitere Arbeitsplätze in anderen Branchen) ist die Zahl der Arbeitsplätze, die in der EU direkt bzw. indirekt vom Baugewerbe abhängen, auf 43,8 Mio. zu beziffern.

2.6

Das Baugewerbe wird – in den einzelnen Mitgliedstaaten gleichermaßen – insbesondere von folgenden Wirtschaftsfaktoren beeinflusst:

langfristige Auswirkungen der Kreditklemme, durch die es zu Einschränkungen bei der Kreditvergabe gekommen ist;

Rücknahme der verbleibenden Konjunkturmaßnahmen;

Beginn der Staatsschuldenkrise im Sommer 2010 sowie

die im Anschluss daran in ganz Europa ergriffenen Sparmaßnahmen.

2.7

Die Bemühungen auf einzelstaatlicher Ebene wurden durch die budgetären und fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen sowie die massiven Kürzungen der Investitionen untergraben, die zur Lösung der Staatsschuldenkrise erfolgten.

2.8

Diese Situation hat das ohnehin labile Unternehmens- und Verbrauchervertrauen weiter geschwächt.

2.9

In den Prognosen für das Jahr 2012 wird von einem Rückgang der gesamten Bautätigkeit um über 2% infolge der rückläufigen Entwicklung in den einzelnen Teilbereichen des Baugewerbes ausgegangen.

2.10

In einer Analyse der Weltbank wird das Baugewerbe als eine der Branchen bezeichnet, in der sich Korruption und organisiertes Verbrechen wie folgt äußern:

Vergabe von Projekten durch politische Intervention und nicht auf der Grundlage von Ausschreibungen;

Art zur Zulassung zum Zertifizierungsverfahren bei Bauvorhaben.

Die EU-Mitgliedstaaten sehen Missstände in folgenden Bereichen:

Finanzierungspraktiken und Verzug bei der Bezahlung von Leistungen von Baufirmen;

Beibehaltung technischer, administrativer oder gesetzlicher Hürden, die den Prozess zur Vergabe öffentlicher Aufträge verzerren.

3.   Vorschlag der Kommission

3.1

Die vorgeschlagene Strategie zielt darauf ab,

die wichtigsten Herausforderungen zu beschreiben, mit denen das Baugewerbe bis 2020 in den Bereichen Investitionen, Humankapital, Energie, Umweltbelange, Regulierung und Marktzugang konfrontiert sein wird, und

einen kurz- bzw. mittelfristigen Aktionsplan zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterbreiten.

3.2

Der Vorschlag umfasst Folgendes:

Stimulierung der Nachfrage für nachhaltige Bebauung und insbesondere für Gebäudesanierung;

Verbesserung der Leistungskraft entlang der Liefer-/Wertschöpfungskette sowie des Binnenmarkts für Bauprodukte und -dienstleistungen;

Steigerung der internationalen Marktchancen von Bauunternehmen aus der EU.

3.3

Mit dem vorgeschlagenen Aktionsplan werden die folgenden fünf Ziele verfolgt:

3.3.1

Schaffung günstiger Bedingungen für Investitionen

3.3.2

Verbesserung des Faktors Humankapital

3.3.3

Verbesserung der Ressourceneffizienz, der Umweltverträglichkeit und der Geschäftschancen

3.3.4

Stärkung des Binnenmarktes im Bereich der Bauwirtschaft

3.3.5

Stärkung der Position der EU-Baufirmen im weltweiten Wettbewerb.

3.4

Es wird vorgeschlagen, dass ein strategisches Dreier-Forum (aus Kommission, Mitgliedstaaten und Branchenvertretern) die Fortschritte bei der Umsetzung der Strategie beobachtet.

4.   Aktuelle Lage in der Bauwirtschaft – Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken

4.1   Stärken

4.1.1

Eindämmung der Auswirkungen des Klimawandels und Anpassung an diese sowie Verringerung des ökologischen Fußabdrucks

Das Baugewerbe ist ein ortsbezogenes und überaus arbeitsintensives Geschäftsfeld. Die Produktion kann somit nicht in Drittstaaten verlagert werden, wodurch der Erhalt von Arbeitsplätzen in der EU sichergestellt wird.

Noch immer hängen 43,8 Mio. Arbeitsplätze in der EU-27 direkt oder indirekt von der Bauwirtschaft ab.

Die Vielzahl der in der Bauwirtschaft tätigen Kleinstunternehmen und KMU ist ein Beleg für die starke lokale Verankerung der Bauwirtschaft und spiegelt die Vielfalt lokaler Traditionen und Kulturen wider.

In etlichen Mitgliedstaaten spielt die Bauwirtschaft gemeinsam mit den Einrichtungen der beruflichen Bildung eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung von Lehrstellen für junge Menschen, wodurch die soziale Mobilität gewährleistet wird.

4.2   Schwächen

4.2.1

In vielen Ländern leidet die Bauwirtschaft unter Vorschriften, die Zusammenschlüsse von Unternehmen erschweren (z.B. Haftungsregelungen), und weist eine komplexe Wertschöpfungskette sowie ein hohes Potenzial für Konflikte und Ineffizienz auf. Dies behindert eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.

4.2.2

Trotz jüngster Verbesserungen, etwa durch die zunächst im November 2010 und in weiterer Folge im Hinblick auf die Kommissionsmitteilung am 28. Januar 2013 erfolgte Veröffentlichung des Grundsatzpapiers "Building Prosperity for the Future of Europe" durch die informelle Plattform "Europäisches Bauforum", ist darauf hinzuweisen, dass sich die Bauwirtschaft aus so vielen unterschiedlichen Interessenträgern zusammensetzt, dass es schwierig ist, all die divergierenden Standpunkte aufeinander abzustimmen und auf nationaler und europäischer Ebene mit einer Stimme zu sprechen.

4.2.3

Die Bauwirtschaft ist bei niedrigen Kreditzinsen für Immobilienprojekte mitunter anfällig für spekulativen Immobilienboom, wie er in einigen Mitgliedstaaten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu beobachten war.

4.2.4

Politische Maßnahmen zur Förderung bestimmter Bauformen, wie Steueranreize für energieeffiziente Renovierungen bzw. Nachrüstungen oder Einspeisetarife zur Unterstützung von Kleinstkraftwerken zur Erzeugung nachhaltiger Energie, sind häufig unberechenbar, kurzfristig ausgerichtet und werden wieder eingestellt, noch bevor sich die Ergebnisse spürbar auswirken.

4.2.5

Die Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt üblicherweise an den Niedrigstbieter. Ein solcher Druck in Richtung auf einen möglichst niedrigen Preis des Angebots hindert die Unternehmen daran, ihre Arbeitsprozesse innovativ zu gestalten und in neue und innovative Baustoffe zu investieren. Darüber hinaus ist es bei öffentlichen Ausschreibungen oftmals nicht möglich, Varianten vorzuschlagen. Dies führt gemeinsam mit restriktiven Versicherungssystemen dazu, dass Innovation zusätzlich gehemmt wird.

4.2.6

Im Vergleich zu anderen Branchen wird in der Bauwirtschaft nur wenig in FuE investiert, was auf die Fragmentierung der Bauwirtschaft, die starke Regulierung und die engen Vorgaben bei der Bautätigkeit sowie die traditionell knappen Gewinnspannen in diesem Wirtschaftszweig zurückzuführen ist. Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auf die öffentlich-private Partnerschaft für Energieeffizienz (EeB) hin, bei der FuE sowohl mit EU-Mitteln als auch mit gezielten Investitionen der Privatwirtschaft gefördert wird.

4.2.7

Trotz der ausgeprägten Hochphasen in den letzten Jahren leidet die Bauwirtschaft nach wie vor unter einem schlechten Image, und die Erzielung weiterer Verbesserungen in den Bereichen Gesundheitsschutz und Sicherheit bleibt weiter eine Priorität. Generell gelingt es dem Baugewerbe trotz Wirtschaftsabschwung nach wie vor nicht, eine ausreichende Zahl qualifizierter Ingenieure von den Hochschulen anzuziehen. Dieses Dilemma wird sich aufgrund des demografischen Wandels weiter verschärfen. Die Bauwirtschaft muss dieses Imageproblem aus eigener Kraft lösen und erfolgreich junge qualifizierte Arbeitnehmer anziehen.

4.3   Chancen

4.3.1

Die Energieeffizienz des Gebäudebestands bietet der Bauwirtschaft eine hervorragende Gelegenheit, um ihre Tätigkeit mittels existierender Technologien auszuweiten. Die Regierungen der Mitgliedstaaten müssen das sich bietende Potenzial jedoch erkennen und die notwendige finanzielle Unterstützung und steuerliche Anreize bieten.

4.3.2

Deshalb sollten die Mitgliedstaaten und die EU umfassende Programme für Investitionen in die Schlüsselinfrastruktur und die Bautätigkeit koordinieren, die höher dotiert sind als die Fazilität "Connecting Europe" im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen.

4.3.3

Mittel- und langfristig birgt die Bauwirtschaft bei Vorhandensein entsprechender regulativer und finanzieller Anreize das Potenzial zur Schaffung einer nachhaltigen Wirtschaft mit geringem CO2-Ausstoß.

4.3.4

Das Baugewerbe wird einen ganz wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an dessen Folgen leisten.

4.3.5

Die Entwicklung neuer IT-basierter Technologien wie die digitale Darstellung der physischen und funktionellen Merkmale eines Gebäudes (Building Information Modelling – BIM) fördert die Innovationskraft und die Effizienz der Bauwirtschaft.

4.4   Risiken

4.4.1

Die größten Risiken liegen für die Bauwirtschaft im Fehlen öffentlicher und privater Investitionen, was bereits zum Bankrott gesunder Unternehmen und zu einem enormen Rückgang der Beschäftigung seit 2008 geführt hat. Eine weiter andauernde Rezession im Baugewerbe wird zu einem dauerhaften Verlust an Architekten, Designern, Ingenieuren und Handwerkern führen.

4.4.2

Ein weiteres erhebliches Risiko besteht in der Überalterung der Arbeitskräfte und dem Mangel an qualifizierten jungen Arbeitskräften, die diese ersetzen könnten. In Deutschland beispielsweise waren 2011 44 % der Arbeitnehmer über 45 Jahre alt.

4.4.3

Die Öffnung des EU-Marktes für öffentliche Aufträge für Auftragnehmer aus Drittstaaten stellt eine weitere Bedrohung dar. Diese oftmals staatlichen Unternehmen nutzen die in ihren Heimatländern gewährten Subventionen zur Aushebelung des fairen Wettbewerbs, wie das Beispiel des Baus der polnischen Autobahn A2 durch einen chinesischen Staatsbetrieb gezeigt hat. Durch solch unlauteren Wettbewerb sinken sowohl das Qualitätsniveau in der Bauwirtschaft als auch die Löhne der vor Ort beschäftigten Bauarbeiter.

4.4.4

Der Druck der Behörden, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu sparen, führt dazu, dass häufig ungewöhnlich niedrige Angebote gelegt werden. Derartige Angebote verschlechtern die Qualität der Bebauung, gefährden die Sozialleistungen für die Arbeitnehmer und steigern auf lange Sicht die Kosten.

4.4.5

Die Bauwirtschaft ist aus gutem Grund bereits ein stark regulierter Wirtschaftszweig; die auf EU-Ebene angenommenen Rechtsvorschriften für die Bauwirtschaft können jedoch kontraproduktiv wirken, wenn es an entsprechender Abstimmung mangelt.

4.4.6

Eines der Hauptmerkmale der EU-Bauwirtschaft ist die hohe Mobilität der Arbeitnehmer. Der Einsatz von Arbeitskräften aus anderen Ländern und insbesondere von Selbständigen sowie von entsandten Arbeitnehmern darf aber nicht genutzt werden, um Sozialdumping zu betreiben, keine Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten oder im jeweiligen Land geltende sozialrechtliche Bestimmungen zu umgehen.

4.4.7

Der künftige Zugang zu Rohstoffen sowie die effiziente Ressourcennutzung stellen große Herausforderungen für die Baustoffindustrie dar.

5.   Standpunkt der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner

5.1

Im Rahmen der von der CCMI veranstalteten Anhörung am 19. Dezember 2012 wurden insbesondere folgende Aspekte thematisiert:

5.1.1

Die Vorlage der Kommissionsmitteilung erfolgt zum richtigen Zeitpunkt und enthält zahlreiche Elemente, die sich die Bauwirtschaft erwartet hat.

5.1.2

Die vorgeschlagene Strategie beinhaltet keine Maßnahmen zur Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels auf die Bauwirtschaft.

5.1.3

Projektfinanzierung und immer häufigerer Zahlungsverzug sind nach wie vor wichtige Themen für das Baugewerbe.

5.1.4

Die starke Überalterung der Bauarbeiter ist ein dringliches Problem, das durch das Anwerben junger qualifizierter Arbeitnehmer gelöst werden muss.

5.1.5

Es bedarf besserer Ansätze zur Bewältigung der wichtigsten Risiken und Schwächen sowie zur Erreichung der EU-2020- und der TEN-Ziele.

5.1.6

Ohne hohe Qualität bei Planung und Ausführung kann weder nachhaltig gebaut noch die Wettbewerbsfähigkeit der Bauwirtschaft nachhaltig gewährleistet werden. Eine solche hochwertige Planung und Ausführung lässt sich jedoch nicht im Rahmen von Ausschreibungen erzielen, bei denen der Zuschlag ausschließlich an den Bieter mit dem niedrigsten Preis erfolgt und die langfristige Kosten ausgeblendet werden.

5.1.7

Werden öffentliche Aufträge üblicherweise auf der Grundlage möglichst geringer Kosten vergeben, werden Unternehmen daran gehindert, ihre Arbeitsabläufe innovativer zu gestalten und in neue und innovative Baustoffe zu investieren. Darüber hinaus werden Innovationen durch Versicherungssysteme gehemmt, die jene Unternehmen pönalisieren, die ihre Arbeitsmethoden diversifizieren oder innovative Baustoffe einsetzen wollen.

5.1.8

Zwischen Unternehmen in den OECD-Staaten einerseits und in den BRICS-Ländern andererseits bestehen ungleiche Wettbewerbsbedingungen, was spezifische Lösungsansätze erfordert.

5.1.9

Eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes für erschwinglichen Wohnraum könnte erneut als möglicher Impulsgeber ins Auge gefasst werden.

5.1.10

Die Sozialpartnerschaft in der Bauwirtschaft, aus der bereits eine Reihe paritätisch besetzter NGO hervorgegangen ist, sollte ebenso wie der soziale Dialog im Hinblick auf die Bewältigung der spezifischen Herausforderungen, vor der die Branche steht (Gesundheitsschutz und Sicherheit, berufliche Bildung, Urlaubsgeld usw.), auf der Ebene der Mitgliedstaaten weiterentwickelt und gestärkt werden.

5.1.11

Zudem bedarf es eines Verhaltenskodexes, um die Auswirkungen der Korruption zu verringern.

5.1.12

Außerdem muss die Kommunikation bezüglich Investitionsmaßnahmen verstärkt werden, um die Unternehmensstrategien zu verbessern, die bislang hauptsächlich auf kurzfristiges Überleben ausgerichtet sind.

5.1.13

Das von der Europäischen Kommission eingesetzte hochrangige Forum zum Thema Bauwirtschaft, das seine Tätigkeit im Januar 2013 aufnimmt, ist dringend notwendig, und der EWSA sollte sich an ihm beteiligen.

6.   Allgemeine Bemerkungen

6.1

Folgende Elemente werden voraussichtlich für die künftige Entwicklung der Bauwirtschaft kennzeichnend sein:

die Energieeffizienz von Gebäuden, effiziente Ressourcennutzung bei Baustoffen, Verkehr, Nutzung von Produkten für Gebäude und Infrastrukturbau;

die Gewährleistung eines geringen CO2-Ausstoßes der Wirtschaft, was sich erheblich auf die Bauwirtschaft auswirken wird;

globale Herausforderungen wie

globale Wettbewerbsverzerrungen;

Energieeffizienz;

nachhaltige Gebäude;

Widerstandskraft gegen Katastrophen;

Raumklima;

Wiedergewinnung, Recycling und Wiederverwendung von Gebäuden und Baustoffen;

Design, das den Bedürfnissen künftiger Kunden entspricht;

Überalterung der Arbeitskräfte;

Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge;

öffentlich-private Partnerschaften;

Fragen im Zusammenhang mit Gesundheitsschutz und Sicherheit;

Verhaltensregeln für Unternehmen.

6.2

Die einzelnen Akteure der Bauwirtschaft – Bauunternehmen, Planer, Architekten, Designer, Entwickler usw. – sollten organisch zusammenarbeiten, d.h. sie sollten in Bereiche wie Finanzierung, Versicherung, Vergabe öffentlicher Aufträge, Marketing und Bildung einbezogen werden.

6.3

Zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität schlagen die Bauunternehmen umfassende Maßnahmen und Strukturreformen vor, wie z.B.:

Beseitigung bestehender technischer, administrativer und rechtlicher Hürden, die die Vergabe von öffentlichen Aufträgen in den Bereichen Infrastruktur, Bau- und Montagearbeiten verzerren, durch die Vereinfachung des Rechtsrahmens und eine strenge Haftung der involvierten Akteure;

Überprüfung laufender Verträge und Zahlungsverfahren, bei denen EU-Mittel in Anspruch genommen wurden, durch eine Verbesserung des Dokumentenflusses, eine Stärkung der Verantwortung der Überwachungs- und Kontrollinstanzen sowie den Einsatz von Treuhandkonten für jedes Projekt; bei EU-geförderten Projekten Prüfung sowie Kontrolle und Gegenkontrolle – sowohl beim Empfänger als auch beim Bauunternehmen – von offenen Zahlungen und auszuführenden Arbeiten, wenn eine Kofinanzierung durch die EU und die nationale Ebene in Anspruch genommen wird.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Mitteilung der Kommission COM(2010) 573 final. vom 3. März 2010: Europa 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum.

(2)  Secteur, Strategic Study on the Construction Sector: Final Report: Strategies for the Construction Sector, WS Atkins International (1993).

(3)  Statistikbericht R54 des Verbands der Europäischen Bauwirtschaft.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Luftfahrtaußenpolitik der EU — Bewältigung der künftigen Herausforderungen

COM(2012) 556 final

2013/C 198/08

Berichterstatter: Thomas McDONOGH

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Luftfahrtaußenpolitik der EU – Bewältigung der künftigen Herausforderungen

COM(2012) 556 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 165 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Kommissionsmitteilung zur Luftfahrtaußenpolitik der EU. Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit Europas vom Außenhandel und der Schlüsselrolle der Flughäfen bei der Anbindung Europas an die Welt unterstützt der Ausschuss ausdrücklich eine ehrgeizige Agenda für die Luftverkehrsbranche.

1.2

Der Ausschuss hofft insbesondere auf rasche Fortschritte bei der Verwirklichung eines erweiterten einheitlichen Luftraums, der auch die EU-Nachbarn im Nahen Osten, Osteuropa, Russland und die Türkei sowie den Mittelmeerraum bis hin zu Nordafrika umfasst. Dies würde wegen der geografischen Nähe einerseits und des beträchtlichen Wirtschaftswachstums vieler dieser Märkte andererseits Entwicklungsperspektiven für sekundäre Flughäfen und Regionalflughäfen schaffen.

1.3

Der Ausschuss unterstützt außerdem ausdrücklich eine ehrgeizige Liberalisierungsagenda in Bezug auf die BRIC- und die ASEAN-Länder, um den europäischen Luftfahrtunternehmen Möglichkeiten zur verstärkten Zusammenarbeit mit anderen Luftfahrtunternehmen zu eröffnen und zusätzliche Flüge über Europa abzuwickeln.

1.4

Die Europäische Kommission unterstreicht zu Recht, dass für die Luftfahrtindustrie gleiche Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden müssen. Sie nennt in ihrer Mitteilung Luftverkehrssteuern, unangemessene staatliche Beihilfen, Flughafen- und Luftraumüberlastung, verbraucherschutzbedingte Haftungskosten und die Anlastung von Kosten für Kohlendioxidemissionen als wettbewerbsverzerrende Faktoren, die es anzugehen gilt.

1.5

Der Ausschuss schließt sich den Bedenken der Europäischen Kommission in Bezug auf die erforderlichen Investitionen in die Flughafenkapazitäten an. Er verweist auf die dringende Notwendigkeit, die Flughafenkapazität in der Europäischen Union sicherzustellen, um Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Wachstumsregionen zu vermeiden und damit Verkehrsverlagerungen in Nachbarregionen zu verhindern.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1

Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Luftfahrtaußenpolitik der EU.

2.2

Er unterschreibt nachdrücklich die Aussage, dass die Luftfahrt von wesentlicher Bedeutung für die europäische Wirtschaft, für die EU-Bürger wie auch als Branche selbst, ist. Sie bietet 5,1 Mio. Menschen Arbeit und trägt 365 Mrd. EUR oder 2,4% zum BIP der EU bei und leistet somit einen wesentlichen Beitrag zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in der EU.

2.3

Durch koordinierte Bemühungen der Europäischen Kommission und der EU-Mitgliedstaaten wurden fast 1 000 bilaterale Luftverkehrsabkommen mit 117 Ländern außerhalb der EU geschlossen. Bezüglich der Errichtung eines erweiterten gemeinsamen Luftverkehrsraums mit den Nachbarländern wurden Fortschritte erzielt und mit den westlichen Balkanstaaten, Marokko, Jordanien, Georgien und der Republik Moldau bereits Abkommen unterzeichnet.

2.4

Die Umstellung von ausschließlich bilateralen Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Partnerländern auf eine Kombination von bilateralen Beziehungen und Beziehungen auf EU-Ebene hat jedoch gelegentlich bei den Partnerländern Verwirrung ausgelöst, und die Interessen der EU wurden auch nicht immer optimal definiert und verteidigt.

2.5

Außerdem bewirkt die nationale Zersplitterung, dass die Luftfahrt noch immer zu sehr nationalen Interessen unterliegt und sich zu stark auf Ad-hoc-Initiativen auf der Grundlage individueller Verhandlungsmandate zur Schaffung der Bedingungen für einen effektiven Markteintritt und Wachstum stützt. Aufgrund der rasanten unkoordinierten Marktliberalisierung auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten mit bestimmten Drittländern und der scheinbaren Absicht einiger Mitgliedstaaten, Drittländern auch weiterhin bilaterale Verkehrsrechte ohne angemessene Gegenleistung zu gewähren bzw. ohne die Auswirkungen auf EU-Ebene zu berücksichtigen, könnte es, wenn jetzt keine ehrgeizigere und effektivere EU-Außenpolitik aufgelegt wird, in einigen Jahren zu spät sein.

2.6

Der Rat hat der Europäischen Kommission außerdem das Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss umfassender Abkommen mit Australien und Neuseeland erteilt. Die Verhandlungen mit diesen Ländern sind noch nicht abgeschlossen. Derzeit fliegen nur zwei europäische Luftfahrtunternehmen Australien direkt an: British Airways und Virgin Atlantic. Früher gab es diesbezüglich weitaus mehr europäische Fluggesellschaften.

2.7

Der Ausschuss begrüßt die umfassenden Schlussfolgerungen des Rates zu dem Kommissionsvorschlag (1), ist jedoch der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten einige der wichtigsten EU-Verhandlungen nachdrücklicher unterstützen könnten und beispielsweise der Europäischen Kommission ein starkes Verhandlungsmandat für die "Normalisierung" der angespannten Beziehungen zu Russland im Bereich Luftfahrt übertragen könnten.

2.8

Lateinamerika ist ein rasch wachsender Markt, und die Fusion von LAN und TAM stellt eine echte kommerzielle Bedrohung für Iberia, TAP und weitere europäische Luftfahrtunternehmen, die Lateinamerika anfliegen, dar. Der rasche Abschluss des Abkommens mit Brasilien ist deswegen dringlich.

3.   Die Bedeutung von Drehkreuzen

3.1

Trotz der Zunahme an Billigfluglinien, die Flüge zu sekundären Flughäfen anbieten, sind die europäischen Drehkreuz-Flughäfen von erheblicher Bedeutung für die internationale Luftfahrt und die Außenbeziehungen, da sie oftmals der Dreh- und Angelpunkt von Verkehrsübereinkommen sind.

3.2

Die Entwicklung von wichtigen Drehkreuz-Flughäfen in Städten wie Abu Dhabi und Dubai bedeutet eine ernsthafte Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit der Langstreckenflüge von EU-Luftfahrtunternehmen. So stellt das vor kurzem geschlossene Abkommen zwischen Qantas und Emirates eine echte Gefahr für die europäische Luftfahrtindustrie dar.

3.3

Um rentabel zu sein, erfordert ein Drehkreuz eine maßgebliche lokale Nachfrage sowie ein ausgedehntes Netz von Zubringerdiensten, weshalb die erfolgreichsten Drehkreuze in der Regel wichtige Stadtflughäfen sind, an denen die Verkehrsüberlastung jedoch immer größer wird. Außerdem verhindern vor allem Umweltauflagen zunehmend ihren Ausbau.

3.4

Aufgrund von Kapazitätsmangeln beschränken einige europäische Drehkreuz-Flughäfen bereits die Zahl von Zubringerstrecken; diese Problematik muss angegangen werden, soll die europäische Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten werden.

4.   Gewährleistung eines fairen und offenen Wettbewerbs

4.1

Die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Luftverkehrsunternehmen, von denen viele mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfen, wird beeinträchtigt, wenn die wirtschaftlichen Belastungen, die zu höheren Produktionsstückkosten führen, höher sind als die von Luftfahrtunternehmen aus anderen Regionen der Welt.

4.2

Daher ist es wichtig, die gesamte Wertschöpfungskette des Luftverkehrs (Flughäfen, Flugsicherungsorganisationen, Hersteller, Computerreservierungssysteme, Bodenabfertigungsdienste usw.) zu betrachten und die Kostenstrukturen, die Wettbewerbsintensität in anderen Teilen der Wertschöpfungskette und Mechanismen der Infrastrukturfinanzierung in anderen wichtigen Märkten zu berücksichtigen, wenn die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Luftfahrtsektors und insbesondere der EU-Luftfahrtunternehmen auf internationaler Ebene beurteilt wird.

4.3

Innerhalb Europas ist es außerdem nicht gelungen, für gleiche Wettbewerbsbedingungen auf Ebene der Mitgliedstaaten sowie auf lokaler/regionaler Ebene zu sorgen, da beispielsweise der häufig geübten Praxis nicht vorgebeugt wurde, dass kleine Flughäfen unter Nichtbeachtung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers Luftfahrtunternehmen günstigere Flughafengebührensätze gewähren. Die unlängst erlassenen EU-Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit mobiler Arbeitnehmer in der EU, wie etwa Flugzeugbesatzungen, werden ebenfalls zu einem besseren Funktionieren des Binnenmarktes beitragen. Die Europäische Kommission ist in zahlreichen Fälle von Verdacht auf unlauteren Wettbewerb tätig geworden.

5.   Eine Wachstumsstrategie auf der Grundlage von "mehr Europa"

5.1

In der für die Europäische Kommission durchgeführten unabhängigen Studie wird angenommen, dass sich ein erheblicher wirtschaftlicher Nutzen, mehr als 12 Mrd. EUR im Jahr, aus weiteren umfassenden Luftverkehrsabkommen ergäbe, die auf EU-Ebene mit den Nachbarländern und den wichtigsten Partnerländern, insbesondere in rasch wachsenden und/oder Beschränkungen unterliegenden Märkten, geschlossen werden.

5.2

Es ist für die EU von strategischer Bedeutung, weiterhin über eine starke und wettbewerbsfähige europäische Luftverkehrsbranche zu verfügen, die die EU mit der Welt verbindet. Die am schnellsten wachsenden Luftverkehrsmärkte liegen jetzt außerhalb Europas, daher ist es unabdingbar, dass die europäische Branche die Möglichkeit hat, auch auf diesen Märkten zu wachsen.

5.3

Es ist wichtig sicherzustellen, dass sich im Laufe der Zeit in diesem Prozess ein wirklich integrierter gemeinsamer Luftverkehrsraum herausbildet, in dem sich die Nachbarländer untereinander in ihren Beziehungen selbst auch öffnen und integrieren. Es ist nicht mehr sinnvoll, dass sich der Rat mit der Erteilung von Mandaten für das Aushandeln von Abkommen für jeweils einzelne Länder befassen muss. Es wäre sehr viel effizienter, wenn der Kommission ein einziges Mandat für Verhandlungen mit den verbleibenden Nachbarländern erteilt würde, wenngleich auch weiterhin einzelne Verhandlungen mit den jeweiligen Ländern geführt werden.

5.4

Im Rahmen der dritten Säule (umfassende Abkommen mit den wichtigsten Partnern) wurde eine Reihe wichtiger Abkommen ausgehandelt. Dies ist jedoch auch ein Bereich, in dem einige zentrale Ziele noch nicht erreicht wurden, insbesondere im Rahmen der Abkommen zwischen der EU und den USA und zwischen der EU und Kanada hinsichtlich der Liberalisierung des Eigentums und der Kontrolle von Luftfahrtunternehmen.

5.5

Die meisten Länder haben noch Regelungen, wonach die Luftfahrtunternehmen mehrheitlich im Eigentum und unter der Kontrolle ihrer eigenen Staatsangehörigen stehen müssen, was den Luftfahrtunternehmen den Zugang zu einer breiteren Palette von Investoren und Kapitalmärkten versperrt. Ausgewirkt hat sich dies in einer künstlichen Struktur der Luftverkehrsbranche, die es in anderen Branchen nicht gibt. In den USA beispielsweise darf das ausländische Eigentum an stimmberechtigten Anteilen an Luftfahrtunternehmen 25% nicht überschreiten. Diese nationalen Beschränkungen bezüglich Eigentum und Kontrolle haben zum Entstehen der drei globalen Allianzen von Luftfahrtunternehmen (Star Alliance, SkyTeam und Oneworld) und insbesondere der Gemeinschaftsunternehmen zwischen einigen ihrer Mitglieder auf bestimmten Strecken geführt. Diese stellen das einer globalen Luftverkehrsgesellschaft am nächsten kommende Äquivalent dar.

5.6

Nach geltendem EU-Recht unterliegen EU-Luftfahrtunternehmen demgegenüber keinen nationalen Beschränkungen bezüglich Eigentum und Kontrolle, sondern können als Eigentümer Anteilseigner aus der gesamten EU haben.

5.7

Der Konsolidierungstrend in Europa ist einzigartig, da grenzüberschreitende Fusionen und Übernahmen nur innerhalb der EU zulässig sind, während die Regelungen bezüglich Eigentum und Kontrolle sonst im Wesentlichen unverändert dem Stand entsprechen, der 1944 im Abkommen von Chicago ausgehandelt wurde. Die Schwierigkeiten infolge der derzeitigen Bestimmungen bezüglich Eigentum und Kontrolle sind erheblich und erfordern Verhandlungen mit den Partnerländern und äußerst komplexe Leitungs- und Aufsichtsstrukturen. Mitglieder von Allianzen arbeiten immer enger zusammen, um ihren Kunden Dienste in einem nahtlos integrierten weltweiten Streckennetz mit mehreren Drehkreuzen zu bieten.

5.8

Die Zeit ist jetzt reif, die im EU-US-Luftverkehrsabkommen vorgesehenen zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Regelungen für Eigentum und Kontrolle der Luftfahrtunternehmen zu liberalisieren, damit die Gesellschaften Investitionen ungeachtet der Nationalität des Investors anziehen können.

6.   Hauptgrundsätze der künftigen EU-Luftfahrtaußenpolitik

6.1

Die EU sollte weiterhin ehrgeizig Offenheit und Liberalisierung im Luftverkehr fördern, wobei zu gewährleisten ist, dass ein zufriedenstellendes Maß an Regulierungskonvergenz erreicht wird. In den Verhandlungen mit den Partnerländern sollte auch den Arbeits- und Umweltstandards gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden, ebenso der Einhaltung internationaler Übereinkommen und Vereinbarungen in beiden Bereichen, um Marktverzerrungen zu vermeiden und eine Nivellierung nach unten zu verhindern. Luftverkehrsunternehmen, die Europa anfliegen, müssen die Übereinkommen und Vorschriften der ILO einhalten.

6.2

Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit Europas vom Außenhandel und der Schlüsselrolle der Flughäfen bei der Anbindung Europas an die Welt unterstützt der Ausschuss ausdrücklich eine ehrgeizige Agenda für die Liberalisierung der Luftfahrt.

6.3

Zur Maximierung der Vorteile muss die EU rasch handeln (noch vor einer Intensivierung der Liberalisierungsbemühungen zwischen neuen Märkten), um die Vorreitervorteile wirklich nutzen zu können. Damit würde die Stellung des europäischen Luftfahrtmarktes auf globaler Ebene sowohl geschützt als auch gestärkt. Andernfalls läuft die EU Gefahr, in Zukunft im internationalen Luftverkehr vollständig an den Rand gedrängt zu werden.

6.4

Die Vorreiterfunktion in Sachen Liberalisierung der Luftfahrt wäre auch für die Verbreitung europäischer technischer Normen wichtig, was erhebliche Vorteile für die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie bringen könnte.

6.5

Der Ausschuss spricht sich bereits seit langem für die Aufhebung von Beschränkungen bezüglich Eigentum und Kontrolle als Möglichkeit aus (2), um Luftfahrtunternehmen Zugang zu einer breiteren Palette an Investoren und Kapitalmärkten zu geben. Angesichts der Bedeutung des europäischen und des US-amerikanischen Marktes sollte diese Politik in erster Linie auf weitere Änderungen der Abkommen zwischen der EU und den USA ausgerichtet sein. Damit könnte eine Benchmark für eine neue Ära in der Luftfahrt (post-Chicago) festgelegt werden.

6.6

Die Europäische Kommission muss beweisen, dass ein koordinierter Ansatz bei den Verhandlungen schneller Ergebnisse bringt, damit im Vergleich zu bilateralen Vereinbarungen keine Verzögerungen bei der Wahrnehmung von Möglichkeiten entstehen. Die Unterzeichnung des bilateralen Abkommens mit Brasilien ist bedauerlicherweise erheblich in Verzug geraten. An dieser Stelle sei betont, dass die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Verantwortung für die Stärkung der Luftfahrtaußenpolitik der EU tragen. Die Kommission muss über starke Verhandlungsmandate verfügen, insbesondere um die EU-Wettbewerbsvorschriften gegenüber Ländern und Regionen durchzusetzen, in denen vollkommen andere Regeln für die Luftfahrt gelten.

6.7

Im Falle einer Übernahme einer der finanziell angeschlagenen indischen Fluggesellschaften durch ein Luftfahrtunternehmen aus dem Nahen Osten würde die Position der europäischen Luftfahrtindustrie weiter geschwächt.

7.   Verbesserung der Beziehungen mit wichtigen Partnern

7.1

Wegen ihrer besonderen Merkmale leidet insbesondere die europäische Luftfracht- und Expressdienstbranche weltweit unter restriktiven bilateralen Luftverkehrsabkommen, weshalb ihr bei der Beseitigung von Hindernissen für den Marktzugang hohe Priorität eingeräumt werden sollte.

7.2

Der Ausschuss hofft insbesondere auf schnelle Fortschritte bei der Errichtung eines erweiterten einheitlichen Luftraums, der auch die EU-Nachbarn im Nahen Osten, Osteuropa, Russland und die Türkei sowie im Mittelmeerraum bis hin zu Nordafrika umfasst. Dies würde wegen der geografischen Nähe einerseits und des beträchtlichen Wirtschaftswachstums vieler dieser Märkte andererseits Entwicklungsperspektiven für Sekundär- und Regionalflughäfen schaffen. Eine positive und pragmatische Agenda für die Zusammenarbeit mit der Türkei sollte beiderseitig vorteilhafte Fortschritte bei der Lösung konkreter Fragen in der Region ermöglichen. Insbesondere sollte ein bilaterales Abkommen zur Flugsicherheit vorangebracht werden.

7.3

Der Ausschuss unterstützt außerdem eine ehrgeizige Liberalisierungsagenda mit den BRIC- und den ASEAN-Ländern. Diese Länder entwickeln sich immer mehr zu den marktbeherrschenden Anbietern von Rohstoffen sowie gewerblichen Waren und Dienstleistungen, und ihre Bürger werden immer reisefreudiger. Wesentliche potentielle wirtschaftliche Vorteile wurden auch für anzustrebende umfassende EU-Luftverkehrsabkommen mit China, Indien, Japan und Lateinamerika dargelegt. Mit der Liberalisierung der Luftfahrt könnten die europäischen Luftfahrtunternehmen ihre Zusammenarbeit mit Luftfahrtunternehmen in diesen Regionen ausbauen und zusätzliche Flüge über Europa abwickeln.

7.4

Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass jedwedes Abkommen für beide Seiten von Vorteil ist, d.h. für die EU wie auch die Drittländer. Diesbezüglich muss Russland dringend sein Engagement für die im Jahr 2011 geschlossene Vereinbarung zur Umsetzung der "vereinbarten Grundsätze der Modernisierung des Systems für Sibirienüberflüge" unter Beweis stellen. Werden diese Verpflichtungen nicht eingehalten, sollte die Europäische Kommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen ergreifen.

7.5

Die Beziehungen zu den Golfstaaten waren in den letzten Jahren weitgehend von einem einseitigen Prozess der Öffnung der EU-Märkte für Luftfahrtunternehmen der Golfregion geprägt, was zu sehr unausgeglichenen Chancen geführt hat. Aufgrund möglicher weiterer Verkehrsverlagerungen ist es daher nicht angezeigt, die Golfstaaten unmittelbar ins Zentrum weiterer Verhandlungen zu stellen.

8.   Flughafeninfrastrukturinvestitionen

8.1

Der Ausschuss schließt sich den Bedenken der Europäischen Kommission in Bezug auf die erforderlichen Investitionen in die Flughafenkapazitäten an. Die diesbezüglichen Vorschläge in der Kommissionsmitteilung bedürfen jedoch weiterer Klarstellungen hinsichtlich der vorgeschlagenen Maßnahmen, mit denen die Ziele erreicht werden können. Der Bezug zu dem früheren Kommissionsvorschlag für ein "Flughafenpaket" (3) sollte ebenfalls ausführlicher dargelegt werden.

8.2

Der Ausschuss verweist auf die dringende Notwendigkeit, die Flughafenkapazität in der Europäischen Union sicherzustellen, um Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Wachstumsregionen zu vermeiden und mithin Verkehrsverlagerungen in Nachbarregionen zu verhindern.

8.3

Die europäische Wirtschaft wird schon lange bevor die Nachfrage das Angebot übersteigt Schaden nehmen. Laut Eurocontrol werden Drehkreuzflughäfen, sobald sie mehr als 75% ihrer theoretischen Maximalkapazität nutzen, rasch in Schwierigkeiten geraten, schlechte Wetterbedingungen und betriebsbedingte Verspätungen effizient abzufedern und zuverlässige Flugverbindungen zu gewährleisten.

8.4

Außerdem bezahlen Fluggäste zu Stoßzeiten mehr, als sie bei größerer Verfügbarkeit von Kapazitäten bezahlen würden. So wurde der Verkehrausschuss des britischen Unterhauses jüngst darüber informiert, dass die Fluggäste 2030 möglicherweise insgesamt 1,2 Mrd. GBP für Flugscheine ausgeben müssen, wenn im Südosten Englands kein Flughafenausbau erfolgt.

8.5

Die Flughafenkapazitäten müssen auf EU-Ebene überwacht werden; es müssen EU-Leitlinien ausgearbeitet werden, um den lokalen Gebietskörperschaften einen gemeinsamen umfassenden Rahmen für Überlegungen zum Flughafenausbau zu bieten.

8.6

Langfristig ist die Aufstockung der Kapazitäten auf großen Flughäfen unabdingbar, doch müssen auch die bestehenden Kapazitäten insbesondere in Bezug auf Flughafenzeitnischen optimal genutzt werden. Flughäfen müssen in der Lage sein, auf Änderungen in Angebot und Nachfrage zu reagieren, und die Nutzung ihrer Zeitnischen mit Blick auf eine optimale wirtschaftliche Nutzung zu steuern. Diesbezüglich muss mit dem Vorschlag für Zeitnischen im aktuellen Flughafenpaket (4) auch weiterhin eine verbesserte Leistung bei der Nutzung der Flughafenkapazitäten durch Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten bei der Vergabe der Zeitnischen ermöglicht werden, da dies für einige Flughäfen der einzige Weg für künftiges Wachstum sein wird. Die Start- und Landebahnkapazitäten auf großen Flughäfen sind vielfach bereits ausgeschöpft, wohingegen auf nahegelegenen Regionalflughäfen Kapazitäten im Überschuss vorhanden sind.

8.7

Sekundäre Flughäfen können ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Verringerung der Überlastung an den wichtigsten europäischen Drehkreuzflughäfen spielen und so die führende Stellung der europäischen Luftfahrt unterstützen. Angesichts der langen Vorlaufzeiten für den Ausbau von Start- und Landepisten oder Flughafenterminals auf Großflughäfen kann Kapazitätsproblemen durch die stärkere Nutzung von sekundären Flughäfen und geeigneter Investitionen für diese unmittelbarer Abhilfe geschaffen werden. Ein gut ausgebautes Netz von Klein- und Regionalflughäfen wird auch die Sicherheit der Fluggäste verbessern, indem unter anderem im Falle einer Wetterverschlechterung oder aufgrund anderer Ursachen ein Netz an Not- und Ersatzflughäfen garantiert wird.

8.8

Der Ausschuss bekräftigt seine Forderung nach einer einmaligen Sicherheitskontrolle ("One-Stop-Security"), die ohne weitere Verzögerungen eingeführt werden sollte, da sie erhebliche Kosteneinsparungen für die Luftfahrtunternehmen sowie eine Zeitersparnis für die Reisenden bringen würde. Diese Frage muss daher vorrangig mit wichtigen Partnern aufgegriffen werden.

9.   Einheitlicher Europäischer LUFTRAUM / SESAR

9.1

Funktionale Luftraumblöcke sind für die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraums unerlässlich. Sie sollten mit Stichtag 4. Dezember 2012 in Betrieb sein. Angesichts der Bedeutung der funktionalen Luftraumblöcke für die Optimierung der Bereitstellung von Luftverkehrsdiensten und das effiziente Management des Luftverkehrsaufkommens muss die Kommission Verfahren beim Europäischen Gerichtshof gegen die Mitgliedstaaten einleiten, die dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sind.

9.2

Die rasche und kohärente Umsetzung der Kommissionsvorschläge kann zu einem nachhaltigen Wachstum der Industrie und somit zum Konjunkturaufschwung der europäischen Wirtschaft beitragen.

10.   Anzuwendende Instrumente

10.1

Umfassende Luftverkehrsabkommen mit den Nachbarstaaten und den großen und gleichgesinnten Partnern sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb und eine nachhaltige Luftverkehrsbranche behandeln und einander angleichen, wobei wesentliche Aspekte wie Flugsicherheit, Gefahrenabwehr, Umwelt und wirtschaftliche Regulierung einzubeziehen sind.

10.2

Die genaue Form des vorgeschlagenen neuen Instruments zum Schutz der europäischen Interessen gegen unlauteren Wettbewerb ist noch nicht vollkommen klar, es sollte jedoch mit einem weitreichenderen Beschwerdeverfahren gegen "versteckte Beihilfen" vergleichbar sein, die in die Flugpreisen Niederschlag finden. Dieses Verfahren könnte durch so genannte "faire Wettbewerbsklauseln" in den Luftverkehrsabkommen an rechtlichem Gewicht gewinnen, die die Kommission mit Drittländern abschließen will.

10.3

Die Kommission unterstreicht zu Recht, dass die Bemühungen um gleiche Wettbewerbsbedingungen auf internationaler Ebene durch vergleichbare Anstrengungen in Europa flankiert werden müssen. Die europäische Luftfahrtindustrie hat mit immer umfassenderen rechtlichen Auflagen und Inkohärenzen zu kämpfen. Die Kommission nennt in ihrer Mitteilung Luftverkehrssteuern, unangemessene staatliche Beihilfen, Flughafen- und Luftraumüberlastung, verbraucherschutzbedingte Haftungskosten und die Anlastung von Kosten für Kohlendioxidemissionen als wettbewerbsverzerrende Faktoren, die es anzugehen gilt.

10.4

Dem europäischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das EU-ETS erweist sich in den Diskussionen über die Luftfahrtaußenpolitik als äußerst heikles Thema. So weigern sich China und Indien, die EU-ETS-Auflagen zu erfüllen; der US-Kongress hat ein Gesetz beschlossen, mit dem US-amerikanischen Luftverkehrsunternehmen die Einhaltung der EU-Vorschriften untersagt wird. Ökologische Nachhaltigkeit ist selbstredend eine zentrale Frage, doch muss die EU der internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO die Möglichkeit geben, einen Vorschlag für eine globale Lösung vorzulegen, dem alle Partnerländer in der ICAO-Versammlung im Herbst 2013 zustimmen können, anstatt die EU-Luftverkehrsbranche in einen nachteilige Wettbewerbsposition zu bringen (5).

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Schlussfolgerungen der 3213. Tagung des Rates Verkehr, Telekommunikation und Energie, Brüssel, 20. Dezember 2012.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema "Die transatlantischen Beziehungen zwischen der EU und Nordamerika im Luftverkehr – eine echte regelungsbezogene Konvergenz", ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 1.

(3)  COM(2011) 823 final – Stellungnahme des EWSA: ABl. C 277 vom 13.9.2012, S. 110.

(4)  COM(2011) 827 final - 2011/0391 (COD).

(5)  Siehe auch Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die vorübergehende Abweichung von der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft" (COM(2012) 697 final - 2012/328 (COD)), Kat. B1.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/70/EG über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen

COM(2012) 595 final — 2012/0288 (COD)

2013/C 198/09

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 19. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/70/EG über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen

COM(2012) 595 final – 2012/0288 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 147 gegen 26 Stimmen bei 23 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA hat sich stets für einen verstärkten Einsatz von Erneuerbaren Energien – auch in Form von Bioenergien – ausgesprochen. Er hat sich aber bereits in seiner Stellungnahme zur Erneuerbare-Energien-Richtlinie kritisch zum Einsatz von Agrokraftstoffen im Mobilitätsbereich geäußert. Er begrüßt insofern die jetzt von der Kommission geplante Begrenzung der "konventionellen Biokraftstoffe" auf 5 %.

1.2

Die Kommission will nun verstärkt die energetische Nutzung von Rest-, Neben- bzw. Abfallprodukten zur Kraftstoffproduktion fördern. Das wird vom EWSA im Prinzip positiv gesehen, allerdings muss auch hierbei streng darauf geachtet werden, dass eine kohärente Politik betrieben und keine neuen Probleme verursacht werden. Genau hier sieht der EWSA jedoch im Kommissionsentwurf Gefahren.

1.3

Biomasse ist zwar erneuerbar, die Fläche aber, auf der diese angebaut wird, ist begrenzt. Deshalb ist es nachvollziehbar, indirekte Landnutzungsänderungen (ILUC) – insoweit sie Flächenkonkurrenzen meinen – in die politisch-strategischen Überlegungen einzubeziehen. Solche Änderungen bzw. Konkurrenzen ergeben sich aber nur, wenn die bisherige Nahrungs- bzw. Futtermittelproduktion z.B. durch die Bioenergieproduktion abgelöst wird, nicht aber, wenn es nur regionale Verschiebungen im Anbau gibt.

1.4

Der von der Kommission gewählte ILUC-Ansatz ist Teil einer vergleichenden Bewertung von fossilen und biogenen Energieträgern, die einseitig auf Treibhausgasbilanzen ausgerichtet ist. Fragen wie z.B. die der Versorgungssicherheit oder der Endlichkeit der fossilen Rohstoffe passen in dieses mathematische Schema nicht hinein, sie werden ausgeklammert. Damit verliert ILUC den Anspruch, einer Nachhaltigkeitspolitik gerecht zu werden.

1.5

Der von der Kommission gewählte ILUC-Ansatz ist auch insofern fragwürdig, als dieser zwar für flüssige, nicht jedoch für gasförmige bzw. feste Energieträger gelten soll. Der EWSA ist damit nicht einverstanden.

1.6

Mit dem vorgelegten Vorschlag wird die europäische Eiweißproduktion und damit die in bestimmten Bereichen durchaus sehr sinnvolle direkte energetische Nutzung von Pflanzenölen in Frage gestellt, weil Pflanzenöle von der Kommission mit einem ILUC-Faktor belegt und so begrenzt werden sollen. Dies ist nicht gerechtfertigt. Pflanzenöle sind keine "Hauptprodukte", sondern fallen als Nebenprodukt im Rahmen eines wünschenswerten Anbaus von Eiweißpflanzen in Europa an. Der Anbau von Ölpflanzen in Europa, die gleichzeitig Eiweißfutter und Pflanzenöle liefern (und somit Sojaimporte ersetzen) sollte im Rahmen nachhaltiger landwirtschaftlicher Anbaumethoden gefördert und nicht beschränkt werden.

1.7

Bei den als "fortschrittlich" beschriebenen Biokraftstoffen, die die EU Kommission nun fördern will, sieht der EWSA die Gefahr, dass wertvolle potenzielle Kohlenstoffsenken (wie Holz, Stroh, Laub) als Basis von Kraftstoffen genutzt werden sollen, was zur Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre führen würde (vgl. Ziffer 4).

1.8

In der vorgelegten Änderung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie erkennt der EWSA keine erfolgversprechende Basis für eine Strategie, um den Einsatz fossiler Kraftstoffe wirklich zu minimieren, die Versorgungssicherheit Europas zu verbessern und Beiträge zum Klimaschutz zu leisten.

1.9

Biokraftstoffe jeglicher Art sind kein dauerhaftes Mittel gegen den verbreiteten übermäßigen Energieverbrauch. Allein von der Verfügbarkeit her werden sie die fossilen Kraftstoffe nicht ersetzen können. Somit handelt es sich hierbei – besonders hinsichtlich des PKW-Verkehrs, bei dem sich Alternativen zu flüssigen Kraftstoffen abzeichnen – maximal um eine Übergangslösung, die zudem mit erheblichen unerwünschten Nebenwirkungen behaftet sein kann und keinesfalls davon ablenken darf, dass die Verminderung unseres Energieverbrauchs als solches unverzichtbar ist, unabhängig von einzelnen Energiequellen.

1.10

Der EWSA ist sich bewusst, dass es in einigen Bereichen der Mobilität und in der Land- und Forstwirtschaft derzeit noch keine praktikablen Alternativen zum Einsatz flüssiger Kraftstoffe gibt. Reine Pflanzenöle können hier eine praktische Alternative sein, allerdings ist auch ihr Produktionsvolumen begrenzt, weshalb ihr Verwendungsbereich sehr strategisch geplant werden muss.

1.11

Auch die Kommissionsmitteilung "Saubere Energie für den Verkehr: Eine europäische Strategie für alternative Kraftstoffe" (1), die in einem strategischen Zusammenhang mit der Biokraftstoffpolitik steht, bietet keine ausreichenden Ansätze (2).

1.12

Insgesamt erkennt der EWSA erhebliche Inkohärenzen zwischen verschiedenen Politikansätzen der Kommission, die dringend behoben werden müssen. Der Ausschuss ruft die Kommission auf, ihre Bioenergiepolitik – besonders im Verkehrsbereich – insgesamt zu überdenken. Dabei sind die Endlichkeit der Ressource "Fläche" (und somit von Biomasse), die Energiebilanz und -effizienz der jeweiligen Bioenergien (und somit die unterschiedlichen THG-Reduktionspotentiale) sowie die Wirtschaftlichkeit zu beachten. Den Energieverlusten bei den Konversionsprozessen sollte weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt, Alternativen zum Verbrennungsmotor im Verkehrssektor (wie Elektromobilität, Wasserstofftechnologie) sollten entwickelt und gefördert und eine eigenständige europäische Strategie für eine nachhaltige europäische Gewinnung von Eiweiß und Pflanzenölen sowie deren Verwendung erarbeitet werden.

2.   Einleitung: politischer Hintergrund und Vorstellung der Kommissionsvorschläge

2.1

Mit der Richtlinie 2009/28/EG (die "Erneuerbare-Energien-Richtlinie") wurden verbindliche Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien (im Folgenden als "EE" abgekürzt) festgelegt; ihr Anteil soll bis 2020 20 % des Energieverbrauchs ausmachen. Den Mitgliedsstaaten wurde bei der Umsetzung insofern ein hohes Maß an Flexibilität eingeräumt, als sie selbst entscheiden können, in welchem Sektor (Strom, Wärme/Kälte bzw. Verkehr) sie hauptsächlich aktiv werden wollen.

2.2

Von dieser Flexibilität wurde allerdings im Verkehrssektor abgewichen; dort wurde ein verbindlicher Mindestanteil von 10 % am Energieverbrauch festgeschrieben. Geplant war zunächst, diesen Anteil in Form von Biokraftstoffen (3) vorzuschreiben, nach Kritik des EWSA und des EP einigte man sich darauf, auch andere Formen erneuerbarer Energien (z.B. Strom aus erneuerbaren Quellen zum Betrieb von Autos und Bahnen, Biogas etc.) anzurechnen.

2.3

Die jetzt vorgelegten Änderungsvorschläge sind Konsequenz des 2010 von der Kommission veröffentlichten "Berichts über indirekte Landnutzungsänderungen in Zusammenhang mit Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen" (4), in dem man zur Erkenntnis kam, dass "gegen indirekte Landnutzungsänderungen infolge des gestiegenen Bedarfs an Biokraftstoffen […] anzugehen" ist.

2.4

Im Prinzip wird an dem vom EWSA kritisierten Einsatz von Kraftstoffen aus pflanzlichem Material im Verkehrsbereich festgehalten, jedoch soll jetzt eine Begrenzung von "konventionellen Agrokraftstoffen" vollzogen und ein Übergang zu so genannten "fortschrittlichen" Biokraftstoffen eingeleitet werden, bei denen die Gefahr indirekter Landnutzungsänderungen nicht bestehen soll. Bei diesen von der Kommission als "fortschrittlich" definierten Biokraftstoffen handelt es sich um flüssige Kraftstoffe, die z.B. aus biogenen Abfällen/Reststoffen oder Algen hergestellt werden. Ihre Produktion soll nach den Vorstellungen der Kommission gefördert werden, da sie derzeit nicht in großen Mengen kommerziell erhältlich sind. Anreize sollen dadurch geschaffen werden, dass "fortschrittliche Biokraftstoffe" bei der Anrechnung auf das in der Richtlinie 2009/28/EG festgelegte 10 %-Ziel im Verkehrssektor gegenüber konventionellen Agrokraftstoffen stärker gewichtet werden.

2.5

Mit ihren Vorschlägen verfolgt die Kommission zusammengefasst folgende Ziele:

Begrenzung des Beitrags konventioneller Biokraftstoffe zur Erfüllung der Ziele der Erneuerbare-Energien-Richtlinie auf max. 5 % des Energieeinsatzes im Verkehrsbereich, also auf maximal die Hälfte der gesetzten 10 % Zielmarke;

Förderung sog. "fortschrittlicher Biokraftstoffe" (mit keinen bzw. geringen indirekten Landnutzungsänderungen), indem u.a. zugelassen wird, dass solche Kraftstoffe rein rechnerisch einen größeren Beitrag zur Erfüllung der Ziele der Erneuerbare-Energien-Richtlinie leisten als konventionelle Agrokraftstoffe;

Verbesserung der Treibhausgasbilanz der Biokraftstoff-Herstellungsverfahren (Verringerung der damit verbundenen Emissionen) durch die Anhebung der bei neuen Anlagen zu erzielenden Treibhausgasemissionseinsparungen;

Verbesserung der Meldung von Treibhausgasemissionen dadurch, dass die Mitgliedstaaten und Kraftstoffanbieter verpflichtet werden, die auf indirekte Landnutzungsänderungen von Biokraftstoffen zurückgehenden Emissionen zu melden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA hatte in seiner Stellungnahme (5) zum damaligen Richtlinienentwurf "Erneuerbare Energien" die generelle Zielrichtung der Richtlinie begrüßt und unterstützt, den Einsatz von Bioenergien im Verkehrssektor aber kritisch gesehen.

3.2

Europa benötigt einen konsequenten Ausbau der erneuerbaren Energien, aber parallel dazu konsequentes Energiesparen, effektive und umfassende Energieeffizienzverbesserungen sowie strukturelle Veränderungen in verschiedenen Bereichen (wie z.B. der Verkehrspolitik).

3.3

Der EWSA allerdings hat die Sonderbehandlung des Verkehrssektors und die Fokussierung dort auf Agrokraftstoffe u.a. mit der Begründung abgelehnt, dass "die strategische Festlegung auf den teilweisen Ersatz von Diesel bzw. Benzin durch Agro-Kraftstoffe eine der am wenigsten effektiven und teuersten Klimaschutzmaßnahmen ist und derzeit eine extreme Fehlallokation von Finanzmitteln bedeutet. Weshalb gerade die teuersten Maßnahmen politisch am intensivsten gefördert werden sollen, zumal neben wirtschaftlichen noch eine Unmenge ökologischer und sozialer Fragen völlig unbeantwortet ist […] kann der EWSA nicht nachvollziehen. Er lehnt deshalb das separate 10%-Ziel für Agro-Kraftstoffe ab" (6). An dieser Position hat sich nichts geändert.

3.4

Der Kommission sollte es allerdings nicht um die politisch gesetzte 10%-Zielmarke gehen. Ihr Ziel sollte es vielmehr sein, eine kohärente Politik zu entwickeln, die zum Ziel hat, langfristig möglichst 100% der heute eingesetzten fossilen Kraftstoffe substituieren zu können.

3.5

Dies wird beim jetzigen Verkehrsaufkommen nur zu einem sehr marginalen Teil mit Agrokraftstoffen geschehen können. Die FAO hat errechnet, dass man 2/3 der derzeit weltweit verfügbaren Ackerfläche für die Agrokraftstoffherstellung nutzen müsste, wollte man den heutigen weltweiten Energiebedarf des Verkehrssektors mit Agrokraftstoffen decken.

3.6

Die sich aus einer solchen Politik ergebenden Auswirkungen hinsichtlich indirekter Landnutzungsänderungen liegen auf der Hand.

3.7

Biokraftstoffe jeglicher Art sind also kein dauerhaftes Mittel gegen den verbreiteten übermäßigen Energieverbrauch. Allein von der Verfügbarkeit her werden sie die fossilen Kraftstoffe nur sehr begrenzt ersetzen können. Somit handelt es sich hierbei – besonders bezogen auf den PKW-Verkehr, bei dem sich Alternativen zu flüssigen Kraftstoffen abzeichnen – maximal um eine Übergangslösung, die zudem mit erheblichen unerwünschten Nebenwirkungen behaftet sein kann und keinesfalls davon ablenken darf, dass die Verminderung unseres Energieverbrauchs als solches unverzichtbar ist, unabhängig von einzelnen Energiequellen.

3.8

Ein Grund für die kritisch-distanzierte Haltung des EWSA zum Kommissionsvorschlag von 2008 lag in der Frage der indirekten Landnutzungsänderungen. Der Ausschuss begrüßt daher den jetzigen Ansatz, der zum Ziel hat, den Einsatz konventioneller Agrokraftstoffe zu begrenzen.

Der ILUC-Ansatz ist nachvollziehbar, hat aber gravierende Schwächen

3.9

Der gedankliche Ansatz der Kommission zu ILUC ist nachvollziehbar: wenn immer auf einer landwirtschaftlichen Nutzfläche, auf der bisher Nahrungs- oder Futtermittel angebaut wurden, Nutzungen für neue Anwendungsbereiche (wie z.B. Agrokraftstoffe, aber auch die stoffliche Verwertung von Pflanzen usw.) erfolgen, muss die bisherige Nahrungs- oder Futtermittelproduktion auf anderen Flächen stattfinden, was zu negativen ökologischen und sozialen Folgen führen kann.

3.10

Deshalb ist es nachvollziehbar, diese "indirekten Landnutzungsänderungen" in die politisch-strategischen Überlegungen mit einzubeziehen.

3.11

Eine Studie im Auftrag der Kommission beziffert diese indirekten Landnutzungsänderungen auf 1,4 Mio. ha allein dadurch dass der Einsatz von Agrokraftstoffen von heute EU-weit unter 5% auf 10% steigen würde.

3.12

Der Ausschuss weist die Kommission, das EP und den Rat darauf hin, dass sich indirekte Landnutzungsänderungen nicht nur bei der Nutzung flüssiger Kraftstoffe ergeben. Sie sind vielmehr bei der Nutzung von Biomasse, so es sich nicht um Reststoffe handelt, systemimmanent.

3.13

Das würde bedeuten: Ein ähnlicher Ansatz wie jetzt bei flüssigen Kraftstoffen müsste folgerichtig auch bei gasförmigen und festen Energieträgern vollzogen werden. In Deutschland beispielsweise wurden 2011 neben den 1,2 Mio. ha Ackerfläche, auf denen Pflanzen für die Herstellung konventioneller Agrokraftstoffe angebaut wurden, mittlerweile ca. 1 Mio. ha für den Anbau von Pflanzen (vornehmlich Mais) zur Herstellung von Biogas genutzt. Werden Pflanzen zu Kraftstoff, soll ein ILUC-Faktor angerechnet werden, werden sie verstromt, jedoch nicht. Das ist unlogisch und inkonsequent.

3.14

Der EWSA hält es für sehr sinnvoll, Energieträger wie Biomasse, für die separat Flächen in Anspruch genommen werden, im Verkehrsbereich nur dann zu nutzen, wenn keine praktikablen Alternativen zur Verfügung stehen. Biomasse ist zwar regenerativ, aber wegen des Flächenbedarfs nicht unbegrenzt verfügbar.

3.15

Oft stehen Alternativen zur Verfügung oder können entwickelt werden, z.B. im Rahmen der Elektromobilität, wo mit Wind- und Solarstrom Energie viel flächenschonender erzeugt werden kann: Zur Stromerzeugung von 10 GWh/Jahr ist beispielsweise ein Flächenbedarf von 400 ha Maisanbau, aber von nur 8 ha Dachflächen (besetzt mit Photovoltaikanlagen) bzw. von 0,3 ha (wenn Windkraftanlagen genutzt werden) notwendig. Anders ausgedrückt: dort, wo z.B. Elektromobilität denkbar und auch wirtschaftlich sinnvoll bzw. in der Praxis umsetzbar ist, sollte diese weiter entwickelt und genutzt werden, um Flächenkonkurrenzen möglichst zu vermeiden bzw. gering zu halten.

3.16

Der EWSA erkennt in dem nun von der Kommission vorgelegten Vorschlag kein schlüssiges Gesamtkonzept, weder bei den Bioenergien, noch zur Lösung der von der Kommission im Verkehrsbereich immer wieder vorgetragenen Problematik, dass nämlich dort

a)

die Abhängigkeit von Energieimporten extrem hoch ist und

b)

die THG ganz besonders aus dem Ruder laufen.

Klimaschutz und Versorgungssicherheit werden durch den neuen Ansatz kaum verbessert

3.17

Der Kommission ist bewusst, dass die sogenannten "fortschrittlichen" Biokraftstoffe, die aus Reststoffen bzw. Algen hergestellt werden, wesentlich teurer sein werden als die "konventionellen Agrokraftstoffe" aus Nahrungsmittelpflanzen. Da die Kommission davon ausgeht, dass solche "fortschrittlichen" Kraftstoffe zur Erreichung des 10%-Ziels benötigt werden, wird ein rechnerischer Trick zur Erreichung dieser Zielmarke angewendet. Jeder Liter "fortschrittlicher Kraftstoff", der aus Rohstoffen nach Anhang IX Teil A des Richtlinienentwurfs hergestellt wird (also z.B. aus Algen, Stroh, Tierdung oder Klärschlamm, Nussschalen oder Rinde, Sägespäne und -mehl oder Laub) wird mit dem Faktor 4 versehen, also so berechnet wie 4 Liter "konventioneller Agrokraftstoffe". Bei Kraftstoffen, die z.B. aus gebrauchten Speiseölen, tierischen Fetten, zellulosehaltiges Non-Food-Material (Anhang IX Teil B) hergestellt werden, soll ein Faktor 2 angesetzt werden.

3.18

Das bedeutet: schon mit einem 2,5 % igem Anteil "fortschrittlicher Kraftstoffen", der mit dem Faktor 4 aufgewertet wird, gilt das eigentliche "10 %-Ziel" als erreicht. Geht man davon aus, dass diese "fortschrittlichen Kraftstoffe" gegenüber fossilen Kraftstoffen eine 60 %ige Treibhausgasreduktion erbringen, würden sich folglich die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors um ca. 1,5 % reduzieren. Da die Verkehrsemissionen rund 25 % der Gesamtemissionen der EU ausmachen würde damit eine errechnete Gesamttreibhausgasreduktion in der EU von weniger als einem halben Prozent erreicht!

3.19

Egal, ob das gesetzte Ziel von 10 % nun mit 2,5 % "moderner" Biokraftstoffe oder einer Mischung aus dem maximalen Anteil von 5 % konventionellen und beispielsweise 1,25 % "fortschrittlichen" Biokraftstoffen erzielt wird: als substantieller Beitrag zur Erhöhung der Versorgungssicherheit in der EU und zum Klimaschutz kann dies nicht angesehen werden.

3.20

Langfristig ist ein Anteil erneuerbarer Energien im Verkehrsbereich notwendig, der weit über die jetzige Zielmarke von 10% hinausgehen muss. Die Kommission selbst plant bis zum Jahr 2050 eine Reduktion der THG-Emissionen im Verkehrsbereich von bis zu 67%. Der vorgelegte Vorschlag bietet keinen Ansatz für eine erfolgversprechende Strategie, um dieses Ziel zu erreichen.

Der Kommissionsansatz konterkariert eine europäische Eiweißstrategie

3.21

Der EWSA betont, dass ein ILUC-Ansatz nur dann in Betracht gezogen werden kann, wenn es sich um neue Nutzungsformen handelt; nicht aber, wenn es um eine regionale Verschiebung bisheriger Nutzungen geht. Und genau an dieser Stelle beinhaltet der Kommissionsentwurf einen entscheidenden Denkfehler.

3.22

Bei ihren ILUC-Berechnungen stellt die Kommission dar, dass bei der Herstellung von Pflanzenölen als Nebenprodukt der sog. Öl- bzw. Eiweißkuchen anfällt, dessen "Wert" allerdings allein klimapolitisch bewertet wird, indem man nur seinen Brennwert in die THG-Vergleichsberechnungen einbezieht.

3.23

Niemand in Europa käme aber auf die Idee, Ölkuchen zu verbrennen. Fakt ist vielmehr: der Anbau von Ölpflanzen in Europa ist höchst sinnvoll. Raps z.B. wurde in den letzten Jahrzehnten züchterisch deshalb entwickelt, um seinen Anbau zu Futterzwecken zu fördern, um so die extrem schlechte Eiweißversorgung Europas zu verbessern. Der EWSA hat häufig darauf hingewiesen, dass dies zwingend notwendig ist, denn rund 75 % der verfütterten Eiweißfuttermengen müssen heute importiert werden. Mit einem europäischen Anbau von Eiweißkulturen kann der Import von Eiweißpflanzen wie Soja verringert werden; und damit auch die negativen ökologischen und sozialen Effekte, die mit dem industriell betriebenen Sojaanbau in Übersee z.T. einhergehen.

3.24

Das Pflanzenöl ist somit nicht das primäre Ziel des Ölpflanzenanbaus. Ca. 2/3 der Erntemenge ist der Eiweißkuchen, nur 1/3 ist ausgepresstes Öl. Das Öl ist somit ebenso wie das Stroh, das bei der Produktion anfällt (7), das Neben- bzw. Abfallprodukt.

3.25

Die Kommission gibt auf der einen Seite vor, Neben- bzw. Abfallprodukte fördern zu wollen, mit dem vorgelegtem Vorschlag wird aber die europäische Eiweißproduktion und damit auch die hoch sinnvolle direkte Nutzung von Pflanzenölen in Frage gestellt. Das ist alles andere als eine kohärente Politik.

ILUC ist nur ein Kriterium, Bioenergien sind mehr als nur eine Frage von Flächenbedarf und Treibhausgasemissionen

3.26

Die Kommission reduziert mit ihren Vorschlägen die Diskussion um Bioenergien auf eine Vergleichsberechnung von THG-Emissionen aus fossilen und regenerativen Energieträgern. Ihr Ansatz ist, dass biogene Kraftstoffe nur noch dann auf die EE-Richtlinie angerechnet werden, wenn diese gegenüber fossilen Kraftstoffen einen bestimmten THG-Reduktionsgrad erreichen.

3.27

Der EWSA betont, dass eine solche Politik viel zu kurz greift, denn sie klammert andere wichtige Fragen wie die der Versorgungssicherheit (inkl. der Entwicklung regionaler Versorgungsstrukturen) aus. Auch die Frage der Endlichkeit der fossilen Energien/Rohstoffe, soziale Aspekte wie die Verdrängung von Kleinbauern oder indigenen Gruppen in überseeischen Anbaugebieten sowie Preisentwicklungen auf den Lebensmittelmärkten werden ebenfalls nicht berücksichtigt. Denn diese lassen sich nicht – wie ILUC – in ein mathematisches Raster von "THG-Äquivalent" umrechnen.

3.28

Bei den THG-Vergleichszahlen wird ferner nicht stringent genug zwischen dem fossilen, endlichen Erdöl (als Grundlage von Benzin, Diesel und Kerosin) und z.B. dem regenerativen, immer wieder erzeugbaren Pflanzenöl (als Abfallprodukt einer europäischen Eiweißstrategie) unterschieden. Die THG-Vergleichszahl muss – wenn sie adäquat eingesetzt werden soll – diesem fossil/regenerativen Sachverhalt unbedingt Rechnung tragen. Das heißt: Erdöl-Derivate sollten – je nach ihrer konkreten Auswirkung – vorab einen kräftigen Malus erhalten, überdies sind neue, (klima)schädlichere Abbaumethoden in die Klimabilanz fossiler Energieträger einzuberechnen (z.B. Sand- oder Schieferöl); hier muss die Kommission nachbessern.

3.29

Zu beachten ist außerdem dass es bei den einzelnen biogenen Kraftstoffen extreme Unterschiede gibt. THG-Emissionen bei Biotreibstoffen resultieren a) aus der Art des Anbaus der Pflanzen und b) durch den Aufwand bei der technischen Herstellung des Biotreibstoffs, inkl. des Transports der Rohstoffe und der Endprodukte.

3.30

Biokraftstoffe, die aus einem natur- und ressourcenschonendem Anbauverfahren (wie dem ökologischen Landbau) stammen, müssten also unterschieden werden von solchen, die unter Einsatz von viel Agrochemikalien hergestellt werden (was die THG-Bilanz verschlechtert), lokal hergestellte Kraftstoffe wiederum von solchen aus zentralen, großtechnischen Anlagen usw. Eine solche Differenzierung wird von der Kommission nicht vorgenommen.

3.31

Vielmehr werden mit den vorgeschlagenen Berechnungsmethoden der Kommission kurioserweise sogar "fortschrittliche" Kraftstoffe, die mit hohem Energie- und Transportaufwand hergestellt werden, rechnerisch besser gestellt als z.B. das von der Natur quasi zum "Nulltarif" gelieferten Ausgangsprodukts (wie reines Pflanzenöl) (vgl. Ziffer 4). Dies hält der EWSA für inakzeptabel.

4.   Besondere Anmerkungen

4.1   Die Kommission stellt dar, dass bei den "fortschrittlichen" Kraftstoffen keine Gefahr indirekter Landnutzungsänderungen auftreten soll. Dem EWSA ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass dies keinesfalls mit deren klimapolitischen Undenklichkeit gleichzusetzen ist. Anhand vier konkreter Beispielen aus der Liste der von der Kommission vorgeschlagenen "Reststoffe" möchte der Ausschuss seine kritische Haltung zum jetzt geplanten Ansatz im Folgenden deutlich machen.

4.2   Glycerin

4.2.1

Die Kommission setzt bei den "fortschrittlichen" Biokraftstoffen nun u.a. auf Glyzerin statt auf den "konventionellen" Biodiesel, den man begrenzen will. Nun sind allerdings gerade die europäischen Biodieselproduzenten in den letzten Jahren zum größten Glycerinlieferanten in Europa geworden, 80 % der europäischen Glycerinproduktion entstammen der Biodieselproduktion (8). Der EWSA fragt sich, woher zukünftig der "Rohstoff Glycerin" stammen soll, der verstärkt eingesetzt werden soll, wenn man die Herstellung des entsprechenden Ausgangsstoffes (Biodiesel) begrenzen will. Das ist ein Widerspruch in sich.

4.2.2

Die Kommission hat selbst klar gemacht, dass es klimapolitisch und energetisch sowieso sinnvoller wäre, Pflanzenöle naturbelassen direkt zu nutzen und nicht zu Biodiesel umzuestern (siehe Anlage V Teil A der Richtlinie 2009/28/EG). Bei dieser klimapolitisch sinnvollen Vorgehensweise entstünde überhaupt kein Glyzerin. Der jetzige Vorschlag der Kommission führt allerdings zu einer erheblichen und fatalen "Wettbewerbsverzerrung" im Ranking bei Treibhausgasemissionen (THG). Das industrielle Restprodukt Glycerin, das aus einem energieintensiven Produktionsvorgang stammt (nämlich der Umesterung von Pflanzenöl zu Biodiesel) erhält durch die Vervierfachung ihres Abfallwertes einem fiktiv besseren THG-Wert als das Ausgangsprodukt Pflanzenöl. Auf dem Papier wird ein rechnerischer THG-Einsparungsvorteil erzeugt, den es in der Wirklichkeit nicht gibt (vgl. auch Ziffer 4.4.3.).

4.3   Holz ("Biomass to liquid")

4.3.1

Technisch ist es zweifellos möglich, den Weg "Biomass to liquid" zu gehen, wie es die Kommission z.B. mit dem Einsatz von Holz vorschlägt. Das entsprechende "Fischer-Tropsch-Verfahren" ist seit Jahrzehnten bekannt. Dies besteht darin, dass die Ligninmoleküle des Holzes total zerlegt werden und das verbleibende CO meist mit fremdeingespeistem H2 zu CH-Molekülen aufgebaut wird.

4.3.2

Der Prozess ist nicht (!) aus Restholz oder Rinde herstellbar, er erfordert Holz mit bester Qualität (Konkurrenz zu Möbel und Furnierholz), da Fremdmoleküle, die gerade im Restholz und in der Rinde vorhanden sind, den Fischer-Tropsch-Prozess stören.

4.3.3

Dieser Prozess ist extrem energieaufwändig! Aus 1 000 kg bestem Stammholz (mit 60 Gew % organischer Substanz) können 135 kg Dieselkraftstoff erzeugt werden. Über 85 % der in Form von Holz eingesetzten Energie geht bei diesem Prozess verloren, gerade einmal ca. 15 % werden zu "fortschrittlichem Biokraftstoff". D.h.: aus einem Wald von 1 000 Bäumen werden über 850 als Prozessenergie verfeuert, um aus weniger als 150 Bäumen Kraftstoff zu erhalten. Bei der nachfolgenden Verbrennung des BtL-Kraftstoffs in den Motoren der Autos wird dann das gesamte durch die Photosynthese gebundene CO2 aller 1 000 eingesetzten Bäume freigesetzt.

4.3.4

Das ist energetisch ein inakzeptabel schlechter Wirkungsgrad und weit entfernt von Energieeffizienz, wie sie von der Kommission immer wieder gefordert wird. Im Einklang mit den Zielen der Energieeffizienz sollte auf Prozesse gesetzt werden, durch die ein zufriedenstellender Wirkungsgrad bei der Energienutzung erreicht werden kann.

4.3.5

Dennoch wird dieser Prozess im Rahmen der EE-Politik der EU als weitgehend CO2-neutral dargestellt, eben weil man Holz als Prozessenergie nutzen will. Allerdings plant die EU auf der anderen Seite, CO2-Speicher einzurichten. Was bietet sich dafür mehr an, als CO2 in Holz umzuwandeln und dieses dort auch langfristig gebunden zu halten, also nicht gleich wieder – z.B. für die Herstellung von "fortschrittlichen Biokraftstoffen" – zu verfeuern?

4.3.6

Der EWSA betont: natürlich kann und soll Holz aus einer nachhaltigen Forstwirtschaft auch zu energetischen Zwecken eingesetzt werden, um z.B. fossile Energieträger wie Öl oder Kohle zu substituieren. Er hat aber bereits früher darauf hingewiesen (9), dass man sich an die Empfehlungen der Gemeinsamen Forschungsstelle halten und die klimapolitisch effektivsten und wirtschaftlich sinnvollsten Maßnahmen zuerst angehen sollte. Diese bestehen zu aller erst in der Wärmenutzung von Holz (z.B. in Nahwärmesystemen, optimal in Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen), und nicht in den energieaufwendigen chemischen Konversionsprozessen von Holz zu flüssigen Kraftstoffen für den Verkehrssektor (10).

4.4   Stroh

4.4.1

Aus ökologischer und klimapolitischer Sicht ist es mehr als problematisch, dass die Kommission Stroh schlichtweg zum "Reststoff" (im Sinne von nutzlosem Abfall) erklärt. Über Jahrhunderte hinweg war Stroh der zentrale Stoff im Prozess einer bäuerlichen Kreislaufwirtschaft. Unter einem Hektar gesundem Ackerboden leben ca. 10 Tonnen Lebewesen, die ernährt werden wollen. Man muss dazu wissen, dass Humus über viele Jahrhunderte eben durch Stroh, Laub oder verwelktes Gras etc. von Bodenlebewesen aufgebaut wurde. Humus bedeutet Bodenqualität, Fruchtbarkeit und CO2-Senke.

4.4.2

Dem EWSA ist unklar, was die Kommission nun eigentlich will: CO2-Senken auf- und ausbauen oder potenziellen Senken mit der privilegierten Nutzung von Stroh zur Kraftstoffproduktion eine der entscheidenden Quellen entziehen?

4.4.3

Die EU fördert letzteres, in dem Stroh als "Abfall" angesehen wird und daraus – mit hohem Energieaufwand – ein "fortschrittlicher" Kraftstoff gemacht wird, der auf das Klimaziel im Verkehrssektor vierfach positiv angerechnet wird. Der entsprechende "Gegenverlust" der CO2-Senke wird hingegen nicht berechnet!

4.4.4

Ein weiterer, nicht bedachter Sachverhalt: Wenn Stroh im Bodensystem fehlt, bekommen nicht nur die Bodenstruktur und die Mikroorganismen Probleme. Auch die damit entzogenen Nährstoffe müssen in Form von mineralischen Düngern, deren Herstellung sowohl Geld als auch viel Energie kostet, ersetzt werden.

4.4.5

Für Landwirte ist es lukrativ, wenn durch politische Rahmenbedingungen Stroh zu einem Wirtschaftsgut wird, für das sie Geld bekommen. Für den Humusaufbau und die Kohlenstoffspeicherung im Boden sowie für die Energieeinsparung, die mit der Verwendung von Stroh im Rahmen einer Kreislaufwirtschaft verbunden ist, bekommen sie hingegen nichts. Hier werden eindeutig falsche marktwirtschaftliche Anreize geschaffen.

4.4.6

Der Ausschuss erinnert an seine Stellungnahme vom 19. September 2012 zu dem "Vorschlag über Anrechnungsvorschriften und Aktionspläne für die Emissionen und den Abbau von Treibhausgasen infolge von Tätigkeiten im Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft" (11). Darin führte er aus, dass die geplanten Aktionspläne z.B. zur Schaffung von entsprechenden CO2-Speichern durch die Landwirtschaft "zwingend mit anderen politischen Maßnahmen flankiert bzw. mit bestehenden kombiniert werden (müssen), damit Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den Grundeigentümern und Bewirtschaftern ermöglichen, entsprechend wirksame LULUCF-Maßnahmen in wirtschaftlich sinnvoller Weise – und nicht allein zu deren Lasten – umzusetzen". Es ist bedauerlich, dass nicht einmal zwei Monate, nachdem der Ausschuss diesen Grundsatz formuliert hat, die Kommission mit ihrem jetzigen Vorschlag auftritt, Stroh in "fortschrittliche" Kraftstoffe umzuwandeln und somit wieder völlig gegenläufige Impulse setzt.

4.5   Laub

4.5.1

Laub undifferenziert als "Abfall" bzw. als Rohstoff für die Herstellung "fortschrittlicher" Biokraftstoffe zu erklären, ist ökologisch inakzeptabel. Laub spielt z.B. im ökologischen Kreislauf des Waldes und für dessen Produktivität eine zentrale Rolle. Der Laubentzug aus einigen Wäldern Europas im Mittelalter z.B. hat zu deren nachhaltiger Degradierung geführt. Nach den jetzigen Vorschlägen der Kommission wäre es denkbar, das Laub des Waldes zur privilegierten Kraftstoffproduktion zu nutzen, ein Vorgehen, das mit Mühe vor wenigen Jahrzehnten im Sinne der Gesundung der Wälder endlich abgeschafft werden konnte. Lediglich ökonomische Gründe mögen derzeit dagegen sprechen, die Vorschläge der Kommission zu realisieren.

5.   Vorschläge des EWSA

5.1

Die Kommission wird vom EWSA aufgerufen, ihre Bioenergiepolitik – besonders bei den Biokraftstoffen – völlig neu zu überdenken. Dabei sind die Endlichkeit der Ressource "Fläche" (und somit von Biomasse), die Energiebilanz und -effizienz der jeweiligen Bioenergien (und somit die unterschiedlichen THG-Reduktionspotentiale) sowie die Wirtschaftlichkeit zu beachten. Der Kommission wird empfohlen, dabei sowohl die wichtigen Aussagen der Gemeinsamen Forschungsstelle als auch die Hauptthesen aus dem Positionspapier des Umweltbundesamtes (12), das anlässlich des Side-Events des EWSA im Rahmen der Klimakonferenz in Durban präsentiert wurde, zu berücksichtigen.

5.2

Dem Energieaufwand der Konversionsprozesse muss weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, er wird häufig unterschätzt. Eingriffe in die Molekularstruktur von Ausgangsprodukten sind in vielen Bereichen unseres Lebens (etwa für Medikamente) etwas Essenzielles, nicht aber unbedingt für den Energiebereich. Dort muss es um höchste energetische Effizienz gehen, man will Energie gewinnen! Alle Energieprodukte, die einer chemischen Konversion unterzogen wurden, sind immer dann in Frage zu stellen, wenn es Alternativen dazu gibt.

5.3

Statt Holz energieaufwändig umzuwandeln und dann im Auto zu verbrennen, sollte es entweder als Kohlenstoffspeicher genutzt oder direkt verbrannt werden, um fossile Energieträger im Bereich "Wärme" zu ersetzen.

5.4

Die Kommission sollte eine Strategie entwickeln, die wie im Falle der geplanten europäischen Eiweißstrategie die Notwendigkeit der Bereitstellung von Energie energieeffizient mit natürlichen Prozessen z.B. im Land- und forstwirtschaftlichem Bereich verbindet. Das bedeutet: Der Anbau von Ölpflanzen in Europa, die gleichzeitig Eiweißfutter und Pflanzenöle liefern (und somit Sojaimporte ersetzen), sollte im Rahmen nachhaltiger landwirtschaftlicher Anbaumethoden gefördert und nicht beschränkt werden.

5.5

Die Kommission sollte den begrenzt möglichen Einsatz von Biokraftstoffen strategisch eindeutig auf jene Bereiche ausrichten, in denen – anders als beim PKW – noch keine wirklich durchgängig erfolgversprechenden Alternativen zu fossilen Kraftstoffen absehbar sind. Das ist z.B. der Bereich Luft- und Schiffsverkehr, aber auch die Land- und Forstwirtschaft (also: off road) selbst.

5.6

Sie sollte aber auch den selbst formulierten Grundsatz ernst nehmen, dass Bioenergien dort eingesetzt werden, wo mit dem wirtschaftlich geringstem Aufwand der energetisch und klimapolitisch größte Effekt erreicht werden kann. Das ist eindeutig im Bereich "Wärmenutzung" der Fall, nicht im Bereich flüssiger Brennstoffe.

5.7

Zu erneuerbaren Energien in der Landwirtschaft hat sich der EWSA bereits mehrfach geäußert und u.a. darauf verwiesen, dass dort mit der Nutzung reiner Pflanzenöle interessante Nutzungsalternativen vorhanden sind. Österreich beispielsweise greift entsprechende Ergebnisse eines von der Kommission im Rahmen des 7. FP geförderten Projektes zur Nutzung von reinen, chemisch nicht veränderten Pflanzenölen auf und wird von deren Nutzung in der Landwirtschaft verstärkt Gebrauch machen. Es ist bedauerlich, dass die Kommission an keiner Stelle hierzu Ausführungen macht bzw. selbst entsprechende Initiativen ergreift.

5.8

Der EWSA möchte sich zukünftig noch intensiver in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu Themen wie Landnutzung und Flächenkonkurrenz sowie dem zunehmenden Problem der Bodenversiegelung einbringen.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  COM(2013) 17 final.

(2)  Siehe EWSA-Stellungnahme "Paket "Saubere Energie für den Verkehr"" (noch nicht verabschiedet).

(3)  Im Richtlinienvorschlag wird offiziell der Begriff "Biokraftstoffe" verwendet. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen auf viele ökologische Probleme hingewiesen, die von diesen "Bio"Kraftstoffen ausgehen. Da die Silbe "Bio" suggeriert, es handele sich um ein ökologisch einwandfreies Produkt (vgl. "Bio"logischer Landbau), verwendet der EWSA in seiner Stellungnahme anstelle des Begriffs Biokraftstoff den Begriff Agro-Kraftstoff.

(4)  COM(2010) 811 final vom 22.12.2010.

(5)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43.

(6)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43.

(7)  Beim Raps sind dies immerhin ca. 9 t pro Hektar, der energetische Wert dieses Strohs wird kurioserweise bei der THG-Berechnung nicht berücksichtigt!

(8)  Siehe Jahresbericht 2009 der ADM, http://www.oelag.de/images_beitraege/downloads/ADM%20GB%202009%20final.pdf.

(9)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 43.

(10)  Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission: "Biofuels in the European Context: Facts, Uncertainties and Recommendations", 2008, http://ec.europa.eu/dgs/jrc/downloads/jrc_biofuels_report.pdf (nur auf Englisch verfügbar).

(11)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 85.

(12)  "Globale Landflächen und Biomasse nachhaltig und ressourcenschonend nutzen", Umweltbundesamt, 2012; http://www.umweltbundesamt.de/uba-info-medien/4321.html.


ANHANG

Zu der stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 3.16 (Änderungsantrag 8)

Ändern:

Der EWSA erkennt in dem nun von der Kommission vorgelegten Vorschlag kein schlüssiges Gesamtkonzept, weder bei den Bioenergien, noch zur Lösung der von der Kommission im Verkehrsbereich immer wieder vorgetragenen Problematik, dass nämlich dort

a)

die Abhängigkeit von Energieimporten extrem hoch ist und

b)

die THG ganz besonders aus dem Ruder laufen.

Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass die von der Kommission anvisierte Meldepflicht über Treibhausgasemissionen aufgrund von Landnutzungsänderungen in praktischer und technischer Hinsicht kaum machbar ist und jedenfalls einen erheblichen Mehraufwand für Verwaltung und die betroffenen Unternehmen bewirken würde.

Begründung

Wurde mündlich vorgetragen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

63

Nein-Stimmen

:

79

Simmenthaltungen

:

34

Ziffer 4.3.1 (Änderungsantrag 11)

Ändern:

Technisch ist es zweifellos möglich, den Weg "Biomass to liquid" zu gehen, wie es die Kommission z.B. mit dem Einsatz von Holz vorschlägt. Das entsprechende "Fischer-Tropsch-Verfahren" ist seit Jahrzehnten bekannt. Dies besteht darin, dass die Ligninmoleküle des Holzes total zerlegt werden und das verbleibende CO meist mit fremdeingespeistem H 2 zu CH-Molekülen aufgebaut wird). Unter Einsatz neuer Verfahren ist es technisch möglich, den Weg "Biomass to liquid" zu gehen, wie es die Kommission z.B. mit der Verwendung von Holz vorschlägt. Das Fischer-Tropsch-Verfahren z.B. (bei dem die Ligninmoleküle des Holzes total zerlegt werden und das verbleibende CO meist mit fremdeingespeistem H2 zu CH-Molekülen aufgebaut wird) ist seit Jahrzehnten bekannt. Darüber hinaus wurden weitere neue Verfahren entwickelt.

Begründung

Es ist irreführend, wenn nur ein Verfahren als Beispiel angegeben wird, auch wenn das Fischer-Tropsch-Verfahren gut bekannt ist.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

53

Nein-Stimmen

:

89

Simmenthaltungen

:

30

Ziffer 4.3.2 (Änderungsantrag 12)

Ändern:

Der Prozess ist nicht (!) aus Restholz oder Rinde herstellbar, er erfordert Holz mit bester Qualität (Konkurrenz zu Möbel und Furnierholz), da Fremdmoleküle, die gerade im Restholz und in der Rinde vorhanden sind, den Fischer-Tropsch-Prozess stören.

Gemäß dem Grundsatz der Ressourceneffizienz können diese Prozesse auf Hackgut, im großen Maßstab anfallende industrielle Nebenprodukte und ausgedünntes Schwachholz angewandt werden. Dies ermöglicht eine effizientere Verwertung des Holzes, ohne dass hochwertiges Rundholz zur Energieerzeugung verwendet wird.

Begründung

Die frühere Formulierung ist unzutreffend. Die Prozesse ermöglichen ausdrücklich eine effizientere Verwertung von Holz.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

54

Nein-Stimmen

:

96

Simmenthaltungen

:

27

Ziffer 4.3.3 (Änderungsantrag 13)

Ändern:

Dieser Prozess ist extrem energieaufwändig! Aus 1 000 kg bestem Stammholz (mit 60 Gew % organischer Substanz) können 135 kg Dieselkraftstoff erzeugt werden. Über 85 % der in Form von Holz eingesetzten Energie geht bei diesem Prozess verloren, gerade einmal ca. 15 % werden zu "fortschrittlichem Biokraftstoff". D.h.: aus einem Wald von 1 000 Bäumen werden über 850 als Prozessenergie verfeuert, um aus weniger als 150 Bäumen Kraftstoff zu erhalten. Bei der nachfolgenden Verbrennung des BtL-Kraftstoffs in den Motoren der Autos wird dann das gesamte durch die Photosynthese gebundene CO2 aller 1 000 eingesetzten Bäume freigesetzt. Beim Einsatz des richtigen Verfahrens ist der Prozess besonders energieeffizient und rohstoffschonend. Das beste Rundholz wird nach wie vor von den Sägewerken verarbeitet bzw. für die Herstellung sonstiger Produkte verwendet, während Nebenprodukte wie Rinde, Sägemehl und Restholz der Gewinnung von Kraftstoffen, Elektrizität und Wärmeenergie zugeführt werden. Aus 1 000 kg trockener Holzmasse können 526 kg Methanol bzw. 205 kg FT-Diesel gewonnen werden. Dies bedeutet, dass ca. 60 % des Energiegehalts des Holzes in Methanol bzw. etwa 50 % in Dieselkraftstoff umgewandelt werden kann, und dies mit einer bereits heute industriell erprobten Technologie. In der Entwicklung sind Verfahren, mit denen der Wirkungsgrad um ca. zusätzliche 5 Prozentpunkte angehoben werden kann. Wenn die Erzeugung von Kraftstoff mit der Forstwirtschaft oder wärmenutzenden Industrien verzahnt wird, kann auch die Abwärme genutzt werden, sodass der Gesamtnutzungsgrad des Holzes bis auf 70-80 % gesteigert werden kann.

Begründung

Die ursprüngliche Formulierung ist nicht zutreffend und gibt ein vollkommen falsches Bild davon, wie heute Biokraftstoffe hergestellt werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

66

Nein-Stimmen

:

99

Simmenthaltungen

:

24

Ziffer 4.3.5 (Änderungsantrag 15)

Ändern:

Dennoch wird dieser Prozess im Rahmen der EE-Politik der EU als weitgehend CO2-neutral dargestellt, eben weil man Holz als Prozessenergie nutzen will. Allerdings plant die EU auf der anderen Seite, CO2-Speicher einzurichten. Was bietet sich dafür mehr an, als CO2 in Holz umzuwandeln und dieses dort auch langfristig gebunden zu halten, also nicht gleich wieder– z.B. für die Herstellung von "fortschrittlichen Biokraftstoffen" zu verfeuern? In Anbetracht der bis zum Heranwachsen der Bäume vergehenden Zeit gilt Holz als bewährter kohlenstoffneutraler Energieträger. Die Verwendung von Biomasse hat positive Klimaauswirkungen gezeitigt, da sie die Wachstumskapazität des Waldes verbessert, die Kohlenstoffbindung steigert und an die Stelle fossiler Brennstoffe und anderer nicht erneuerbarer Rohstoffe tritt.

Begründung

Nachhaltige Forstwirtschaft und die verstärkte Verwendung von Holz erhöhen nachweislich das Kohlenstoffbindungsvermögen des Holzes, das als Ersatz für nicht erneuerbare Rohstoffe fungiert. Die Aussage, dass die Wälder, wenn man sie aus der Nutzung ausschlösse, effizientere Kohlenstoffsenken wären, ist irreführend.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

60

Nein-Stimmen

:

96

Simmenthaltungen

:

25

Ziffer 1.5 (Änderungsantrag 1)

Streichen:

Der von der Kommission gewählte ILUC-Ansatz ist auch insofern fragwürdig, als dieser zwar für flüssige, nicht jedoch für gasförmige bzw. feste Energieträger gelten soll. Der EWSA ist damit nicht einverstanden.

Begründung

Da der iLUC-Ansatz insgesamt problematisch erscheint, sollte nicht gleichzeitig eine Ausdehnung auf weitere Energieträger gefordert werden. Für gasförmige und feste Energieträger werden derzeit eigene Nachhaltigkeitskriterien entwickelt. Bevor der iLUC-Ansatz weiter empfohlen wird, sollten die in dieser Stellungnahme erwähnten Kritikpunkte geklärt werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

56

Nein-Stimmen

:

93

Simmenthaltungen

:

36

Ziffer 1.7 (Änderungsantrag 9)

Streichen:

Bei den als "fortschrittlich" beschriebenen Biokraftstoffen, die die EU Kommission nun fördern will, sieht der EWSA die Gefahr, dass wertvolle potenzielle Kohlenstoffsenken (wie Holz, Stroh, Laub) als Basis von Kraftstoffen genutzt werden sollen, was zur Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre führen würde (vgl. Ziffer 4).

Begründung

Nicht Europas Laub- oder Nadelwälder sollen für die Produktion fortschrittlicher Kraftstoffe eingesetzt werden, sondern ausgedünntes Schwachholz und Altholz. Dank der heutigen Technologien haben Biokraftstoffe einen höheren Wirkungsgrad als es im ursprünglichen Text zum Ausdruck kommt (siehe Änderungsantrag zu Ziffer 4.3.3).

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

47

Nein-Stimmen

:

121

Simmenthaltungen

:

18


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 über die Errichtung der Agentur für das Europäische GNSS

COM(2013) 40 final – 2013/0022 (COD)

2013/C 198/10

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 27. Februar 2013 bzw. am 12. März 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 172 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 über die Errichtung der Agentur für das Europäische GNSS

COM(2013) 40 final – 2013/0022 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 169 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative, die Strukturen der Agentur der EU für das weltweite Satellitennavigationssystem anzupassen, um die volle Unabhängigkeit ihrer Organe und eine klare Autonomie der Akkreditierungs- und Sicherheitstätigkeiten zu gewährleisten.

1.2

Der Ausschuss hält den neuen Rahmen für die Autonomie und Zusammenarbeit innerhalb der Agentur für das Europäische GNSS für angemessen. Deswegen befürwortet er unter den derzeitigen Gegebenheiten die Kommissionsvorlage zu Änderung der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 über die Errichtung der Agentur für das Europäische GNSS und unterstützt diesen Vorschlag, soweit er geeignet ist, die damit angestrebten Zielsetzungen voll und ganz zu erreichen.

1.3

Um zu bewerten, ob die gewählte Lösung tatsächlich die beste ist, sollte unbedingt der effektive Einsatz der geschaffenen Funktionsstrukturen beobachtet werden und Gegenstand regelmäßiger ausführlicher Berichte der Kommission sein.

1.4

Der Ausschuss weist erneut auf die Schlüsselrolle hin, die die europäischen Satellitennavigationsprogramme EGNOS und Galileo im Rahmen der europäischen Raumfahrtpolitik und der Europa-2020-Strategie als Motor für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Dienste der Bürger spielen, genau wie die großen Projekte im Bereich der globalen Boden- und Sicherheitsüberwachung, die es gestatten sollen, im Weltraumsegment eine starke Führungsposition und strategische Unabhängigkeit im Interesse der Zukunft Europas aufrechtzuerhalten.

1.5

Nach Meinung des Ausschusses muss sich die Union klarmachen, dass die hinsichtlich Integration und nachhaltige und friedliche Entwicklung der Mitgliedstaaten erreichten Ziele es ermöglichen müssen, die eingesparten Ressourcen für eine beschleunigte Durchführung weltweit konkurrenzfähiger großer gemeinsamer Vorhaben wie etwa Galileo, GMES und ITER (Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung – GMES, Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor – ITER) zu verwenden.

1.6

Der EWSA bedauert außerordentlich, dass der Europäische Rat auf seiner Tagung am 19. Februar 2013 im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 der EU die Mittel für das Programm Galileo gekürzt hat, und fordert die EU-Institutionen, insbesondere das Europäische Parlament, nachdrücklich auf, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken, und gleichzeitig die Mittelbindung für GMES und ITER zu erhöhen.

1.7

Der Ausschuss hält es für unerlässlich, die Kompatibilität und Interoperabilität von Galileo mit anderen Satellitennavigationssystemen und mit den auf internationaler Ebene übernommenen europäischen Normen zu gewährleisten.

1.8

Der Ausschuss fordert umfassende Maßnahmen zur Unterstützung und Sensibilisierung für die Vorteile der GNSS-Programme, damit die Öffentlichkeit auf optimale Weise die sich aus den Galileo- und EGNOS- Dienstleistungen ergebenden neuen Möglichkeiten nutzen kann.

1.9

Der Ausschuss ist außerdem der Ansicht, dass die Einrichtung der Galileo-Sicherheitsüberwachungszentren (GSMC) schneller vorangetrieben werden sollte.

1.10

Der Ausschuss äußert starke Bedenken hinsichtlich der Übertragung der bislang von der Kommission ausgeübten Tätigkeiten zur Förderung von Forschung und Innovation auf Agenturen, und fordert die Kommission auf, den bislang gesammelten positiven Erfahrungen größere Beachtung zu schenken.

1.11

Der Ausschuss empfiehlt, unter Vermeidung weiterer Verzögerungen zusätzlich zu dem beim Programm Galileo ohnehin schon eingetretenen Verspätungen den Abschluss der Übertragungsvereinbarung zwischen der Kommission und der GNSS-Agentur voranzutreiben, insbesondere hinsichtlich der Förderung der GNSS-Technologien in verschiedenen Forschungsbereichen und ihrer Integration in die sektorspezifischen strategischen Initiativen.

2.   Einleitung

2.1

Das weltweite Ortungs-, Synchronisierungs- und Satellitennavigationssystem GNSS ist ein Schlüsselfaktor für die technische Innovation in Europa im Dienste der Bürger, Unternehmen, öffentlichen Verwaltung und Gesellschaft, über das Navigationsdienste bereitgestellt werden. Dadurch werden neue Arbeitsplätze geschaffen und bieten sich enorme wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile.

2.2

Der EWSA hat bereits mehrere Stellungnahmen zum Programm Galileo verabschiedet (1). Die Sicherheitsanforderungen haben höchsten Stellenwert bei Planung, Aufbau und Betrieb der Infrastrukturen, die aus den Programmen Galileo und EGNOS hervorgehen.

2.3

Es ist wichtig, dass das System Galileo, bei dem bereits diverse Verzögerungen zu verzeichnen waren, endlich schnellstmöglich in Betrieb genommen wird – ohne Verfahrenshindernisse oder Interessenskonflikte –, damit Europa über sein eigenes Satellitensystem verfügt und nicht mehr von den Diensten anderer abhängt, insbesondere bei deren Nutzung zu militärischen Zwecken.

2.4

Der EWSA ist sich voll und ganz bewusst, dass die Verbreitung der Satellitennavigation in zahlreichen Tätigkeitsbereichen dazu beiträgt, die Sicherheit zu erhöhen und die kommerzielle Nutzung zu verbessern, sofern ein kontinuierlicher Betrieb und eine unterbrechungsfreie Bereitstellung der Dienste sichergestellt werden.

2.5

Die Kommission hat die Frage des Risikomanagements in den Mittelpunkt der Arbeiten gestellt, dessen Bedeutung anlässlich der 2007 durchgeführten Reform der Leitungsstruktur betont wurde. Alle mit dem Programm verbundenen Risiken werden in einem zentralen Register erfasst. Dieses enthält die Risiken bezüglich der industriellen Lieferketten, der externen Faktoren wie den Einfluss der politischen Instanzen und die Sicherheitsanforderungen sowie der internen Faktoren wie die Programmorganisation und die Aufsichtsbehörde GNSS. Letztgenannte hat 2007 die Aufgaben ihres Vorläufers, des gemeinsamen Unternehmens Galileo, übernommen (2).

2.6

Jedem Risiko werden Wahrscheinlichkeit und Gefährdungspotenzial zugeordnet. Das Risikoregister erstreckt sich auf zahlreiche Eventualitäten: technologische Risiken, industrielle Risiken bei der Schaffung integrierter Systeme, insbesondere im Bereich der Sicherheit, Marktrisiken, Steuerungsrisiken und Haftungsrisiken bei den bereitgestellten Infrastrukturen.

2.7

Im Zusammenhang mit der Sicherheitsproblematik ist anzumerken, dass die Kommission laut Verordnung zwar für das Sicherheitsmanagement der Systeme zuständig ist, ihr Handlungsspielraum hier allerdings durch zwei wichtige Faktoren eingeschränkt wird.

2.7.1

Erstens werden die Sicherheitsanforderungen von den Mitgliedstaaten festgelegt, da sich die Bedrohungen für die Sicherheit von sensiblen Infrastrukturen wie z.B. der Satellitennavigation ständig ändern. Für die Deckung eines Teils dieser Risiken sind die Mitgliedstaaten zuständig.

2.7.2

Zweitens wird mit der GNSS-Verordnung (EG) Nr. 683/2008 die Aufgabe der Sicherheitsakkreditierung der Systeme der Agentur für das Europäische GNSS übertragen. Diese Trennung zwischen Verwaltungsaufgaben und Akkreditierung ist im Rahmen einer verantwortungsvollen Verwaltung für diese Art von Projekten wichtig und gängige Praxis.

2.8

Wie der EWSA bereits früher betont hat, ist eine "erfolgreiche Umsetzung und Verwaltung der europäischen GNSS-Programme Galileo und EGNOS […] unerlässlich, damit die in der Europa-2020-Strategie festgeschriebene Vision eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums verwirklicht werden kann". Außerdem stellt er fest, dass "die GNSS-Programme in ihrer vorgeschlagenen Form während dem Systemlebenszyklus von 2014 bis 2034 einen Nettonutzen von 68,63 Mrd. EUR […] generieren [werden]" (3).

2.9

Darüber hinaus begrüßte der EWSA, "dass die Europäische Kommission […] dafür zuständig ist, die den Programmen zugewiesenen Mittel zu verwalten und die Durchführung aller Programmaktivitäten zu überwachen, auch derjenigen, die an die Agentur für das Europäische GNSS und die Europäische Weltraumorganisation (ESA) übertragen worden sind" und ein "Risikomanagementsystem" entwickeln will (4).

2.10

Der EWSA hält es für unerlässlich, die Unabhängigkeit der Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Sicherheitsakkreditierung zu stärken. Diese Tätigkeiten müssen von den Aktivitäten der Agentur für das Europäische GNSS vollkommen getrennt werden, damit Interessenkonflikten – insbesondere mit anderen Funktionen (5) – vorgebeugt und die Gefahr, Richter in eigener Sache zu sein, vermieden wird.

2.11

Vor diesem neuen Hintergrund erachtet es der EWSA als grundlegend wichtig, dafür zu sorgen, dass das Gremium für die Sicherheitsakkreditierung die ihm übertragene Aufgabe in völliger Unabhängigkeit von den anderen Organen und den anderen Tätigkeiten der Agentur für das Europäische GNSS ausüben kann, wobei innerhalb der Agentur die Akkreditierungstätigkeiten und die anderen Tätigkeiten klar voneinander getrennt sein müssen.

2.12

Andererseits hat das Europäische Parlament betont, dass "in der langfristigen Governance- und Managementstruktur des GNSS die Aufteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen der Kommission, der Agentur und der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ebenso ihren Niederschlag finden sollte wie andere relevante Fragen, etwa eine angemessene Kostenteilung, das Verfahren zur Einnahmenteilung, die Haftungsregelung, die Preisbildungspolitik und die mögliche Beteiligung der Privatwirtschaft an den GNSS-Programmen bzw. ihren diesbezüglichen Beitrag" (siehe Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2011, P7_TA(2011)0265).

2.13

Der Rat hat seinerseits erklärt, dass die derzeit in Kapitel II der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 geregelten Akkreditierungstätigkeiten ganz und gar unabhängig von den Aufgaben der Agentur für das Europäische GNSS durchgeführt werden sollten (siehe Dokument Nr. 11279/12 ADD 1 vom 7.6.2012 des Rates der Europäischen Union).

2.14

Daher schlägt die Kommission eine "Änderung der Verordnung (EU) Nr. 912/2010 [vor], damit in erster Linie die Unabhängigkeit und die Befugnisse des Gremiums für die Sicherheitsakkreditierung und seines Vorsitzenden gestärkt werden und sie großteils an jene des Verwaltungsrats und des Exekutivdirektors der Agentur angeglichen werden, ohne jedoch auf eine Verpflichtung zur Kooperation der einzelnen Organe der Agentur zu verzichten".

2.15

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission, die Verordnung (EU) Nr. 912/2010 zu ändern, und hält die vorgeschlagenen Bestimmungen für sinnvoll, sofern sich anhand regelmäßiger Überprüfungen und Berichte feststellen lässt, dass sie tatsächlich den gesteckten Zielen gerecht werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen zum GNSS-Programm der EU

3.1

Der Ausschuss weist erneut darauf hin, dass die europäische Raumfahrtpolitik ein Schlüsselelement der Europa-2020-Strategie und Motor für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Dienste der Bürger ist: den europäischen Satellitennavigationsprogrammen EGNOS und Galileo kommt hierbei - genau wie dem GMES-Vorhaben (6) - eine zentrale Rolle zu, die aufgewertet und gestärkt werden sollte.

3.2

Der EWSA betont die strategische Bedeutung der Raumfahrtpolitik und des GNSS-Programms als Element zur Schaffung einer wahrhaft europäischen Industriepolitik auf der Grundlage konkreter Vorhaben mit greifbaren Vorteilen für Bürger und Unternehmen.

3.3

Die tatsächliche Umsetzung der Leitungsstruktur des Europäischen GNSS ist deswegen grundlegend für die Bewertung, ob die gewählte Lösung wirklich optimal ist. Der EWSA begrüßt zwar die vorgeschlagenen Änderungen, fordert aber die Kommission auf, die tatsächliche Umsetzung der Funktionsstrukturen zu überwachen und darüber regelmäßig ausführliche Berichte vorzulegen.

3.4

Der Ausschuss bedauert außerordentlich, dass der Europäische Rat auf seiner Tagung am 19. Februar 2013 im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2014-2020 der EU die Mittel für das Programm Galileo von den von der Kommission vorgesehenen 7,9 Mrd. EUR auf nur 6,3 Mrd. EUR gekürzt hat.

3.5

Der EWSA fordert die EU-Institutionen, insbesondere das Europäische Parlament, auf, bei der endgültigen Entscheidung über den kommenden mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 das ursprünglich für Galileo vorgeschlagene Finanzierungsniveau wiederherzustellen und gleichzeitig auch die Mittelbindung für die Vorhaben GMES und ITER (7) zu erhöhen.

3.6

Ferner sollte die Agentur für das europäische GNSS umfassende Maßnahmen zur Unterstützung und Sensibilisierung für die Vorteile der GNSS-Programme konzipieren, damit die Öffentlichkeit auf optimale Weise die neuen Möglichkeiten zur Vermarktung der Galileo- und EGNOS- Dienstleistungen nutzen kann, um so deren Marktdurchdringung zu fördern und einen möglichst großen sozioökonomischen Nutzen zu erhalten.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Angemessenheit des Lenkungsrahmens. Mit Blick auf die Übertragung der Verwaltung der Betriebsphase von EGNOS auf die Agentur für den europäischen GNSS und – ab Januar 2014 – der Betriebsphase des Programms Galileo ist der Ausschuss der Ansicht, dass der neue vorgeschlagene Rahmen für die Unabhängigkeit und Zusammenarbeit innerhalb der Agentur angemessen ist und im Einklang mit den interinstitutionellen Leitlinien steht. Er ist allerdings der Ansicht, dass diese positiven Entwicklungen im Auge behalten werden sollten, um zu sehen, ob die vorgeschlagenen Lösungen Ergebnisse bringen, die den gesteckten Zielen bestmöglich entsprechen.

4.2

Galileo-Sicherheitsüberwachungszentren. Die Errichtung der Galileo-Sicherheitsüberwachungszentren in Frankreich und im Vereinigten Königreich sollte beschleunigt, ihre Strukturen sollten gestärkt und sie sollten mit mehr Mitteln ausgestattet werden. Die Ausbildungsmaßnahmen sind auszubauen, um den Anforderungen der Nutzer im Bereich des Zugangs zum öffentlich-staatlichen Dienst (Public Regulated Service, PRS) gerecht zu werden.

4.3

Kommunikationstätigkeit. Die weltweiten Kommunikationskampagnen der Agentur sollten mit Blick auf die Vollbetriebsphase in den Jahren 2018-2019 im Zuge der Inbetriebnahme der Galileo-Dienste verstärkt werden. Die Verwaltung der "Spitzenforschungszentren" sollte sichergestellt werden, um die Entwicklung und Verbreitung der GNSS-Anwendungen zu fördern und eine "Markenstrategie und [eine] Qualitätsmarke für [die] EGNOS/Galileo-Technologie und -Dienste" zu entwickeln ("Qualitätsmarke" ist zu verstehen als ein Markensystem mit Lizenzvergabe an zugelassene EGNOS/Galileo-Technologieanbieter für den Vertrieb von Technik und Anwendungen, die strengen Qualitätsstandards genügen. Die Wi-Fi-Alliance beispielsweise hat ein solches Markensystem mit großem Erfolg eingesetzt, um die WLAN-Technologie auf dem Markt durchzusetzen. Siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Wi-Fi_Alliance bzw. http://de.wikipedia.org/wiki/Wi-Fi) (8).

4.4

Forschung und Innovation. Der Ausschuss hegt starke Bedenken bezüglich der Tendenz, "bisherige Aufgaben und Tätigkeiten der Forschungs- und Innovationsförderung aus der Kommission heraus in Agenturen zu verlagern und sich kommissionsseitig auf rechtliche Fragen und die Verwaltung der finanziellen Aspekte zurückzuziehen" und empfohlen, "die Erfahrungen bei der Errichtung derartiger, ins technologische Neuland vorstoßender Großprojekte besser zu berücksichtigen und dementsprechend für eine angemessene ‧contingency‧ von z.B. 10% zu sorgen" (9).

4.5

Zeitlicher Rahmen und Durchführungsmodalitäten. Der Ausschuss ist darüber besorgt, dass es bei der Verabschiedung der derzeit vom Europäischen Parlament und vom Rat diskutierten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend den Aufbau und den Betrieb der europäischen Satellitennavigationssysteme, die die Verordnung (EG) Nr. 683/2008 ersetzen wird, zu Verzögerungen gekommen ist, da diese eng mit dem vorliegenden Kommissionsvorschlag verknüpft ist.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 179-182, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 73-75, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 47, ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 41-42, ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 28.

(2)  ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 42-46, ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 37-40.

(3)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 179-182.

(4)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 179-182.

(5)  ABl. C 388/2012, vom 15.12.2012, S. 208.

(6)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 72-75.

(7)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 60-63.

(8)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 44-48.

(9)  ABl. C 229 vom 31.07.2012, S. 60-63.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/71


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik

COM(2013) 09 final — 2013/0007 (COD)

2013/C 198/11

Alleinberichterstatter: Gabriel Sarró IPARRAGUIRRE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 5. Februar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik

COM(2013) 09 final – 2013/0007 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz betraute Gabriel Sarró IPARRAGUIRRE mit der Ausarbeitung der Stellungnahme und nahm diese am 25. März 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 177 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA erachtet die Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 als erforderlich, um sie an den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anzupassen.

1.2

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass bestimmte wesentliche Aspekte, die in dieser Stellungnahme aufgeführt werden, durch Durchführungsrechtsakte und nicht durch delegierte Rechtsakte umgesetzt werden sollten.

2.   Hintergrund

2.1

In der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 wird eine gemeinschaftliche Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) festgelegt.

2.2

In dieser Verordnung werden der Kommission Befugnisse zur Durchführung einiger der darin aufgeführten Bestimmungen übertragen.

2.3

Im AEUV wird unterschieden zwischen den der Kommission übertragenen Befugnissen, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsakts zu erlassen (delegierte Rechtsakte, Art. 290 Absatz 1), und den der Kommission übertragenen Befugnissen, einheitliche Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Europäischen Union festzulegen (Durchführungsrechtsakte, Art. 291 Absatz 2).

2.4

Angesichts der Notwendigkeit einer Anpassung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 an die neuen Beschlussverfahren des AEUV hat die Europäische Kommission den dieser Stellungnahme zu Grunde liegenden Vorschlag zur Änderung der Verordnung vorgelegt, in dem die Befugnisse der Kommission neu als Delegations- und Durchführungsbefugnisse eingestuft werden.

3.   Analyse des Vorschlags

3.1

In dem Vorschlag werden die Befugnisse, die der Kommission in der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 des Rates übertragen wurden, festgelegt und als Delegations- oder Durchführungsbefugnisse eingestuft.

3.2

Ferner werden bestimmte Vorschriften an die Beschlussverfahren des AEUV angepasst.

3.3

Dies wird in dem Vorschlag durch die Änderung von 66 Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 realisiert.

3.4

Die Analyse des Vorschlags ist deshalb sehr komplex. Mit der Änderung von 66 Artikeln umfasst die Modifizierung der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 insgesamt rund 200 Änderungen, mit deren Hilfe die Kommission ermächtigt wird, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte zu erlassen.

3.5

Bei Befugnissen zum Erlass delegierter Rechtsakte erfolgt die Befugnisübertragung auf unbestimmte Zeit und kann jederzeit vom Europäischen Parlament oder vom Rat widerrufen werden. Der Beschluss über den Widerruf beendet die Übertragung der darin genannten Befugnis. Er wird am Tag nach seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union oder zu einem darin angegebenen späteren Zeitpunkt wirksam. Die Gültigkeit von delegierten Rechtsakten, die bereits in Kraft sind, wird von dem Beschluss über den Widerruf nicht berührt.

3.6

Ein erlassener delegierter Rechtsakt tritt nur in Kraft, wenn innerhalb von zwei Monaten nach Übermittlung dieses Rechtsakts an das Europäische Parlament und den Rat weder Parlament noch Rat Einwände erhoben haben oder wenn vor Ablauf dieser Frist sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat der Kommission mitgeteilt haben, dass sie keine Einwände erheben werden. Diese Frist wird auf Initiative des Europäischen Parlaments oder des Rates um 2 Monate verlängert

3.7

Die Kommission wird von dem mit Artikel 30 der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 eingesetzten Ausschuss für Fischerei und Aquakultur unterstützt.

3.8

Der EWSA hat in seinen Stellungnahmen die Ermächtigung der Kommission, delegierte Rechtsakte zur Kontrolle und Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der GFP zu erlassen, regelmäßig befürwortet.

3.9

Trotzdem sollte nach Auffassung des Ausschusses angesichts der zahlreichen Änderungen an der Verordnung (EG) Nr. 1224/2009 ein Vorabkonsens unter den Mitgliedstaaten über Inhalt und Tragweite der vorgeschlagenen Änderungen hergestellt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Im AEUV wird grundsätzlich der Ansatz verfolgt, dass wesentliche Aspekte von Gesetzesvorschriften durch Durchführungsrechtsakte und nicht wesentliche Aspekte durch delegierte Rechtsakte umgesetzt werden.

4.2

Nach der Analyse des Vorschlags ist der EWSA der Auffassung, dass zumindest die Aspekte jeglicher Maßnahmen bezüglich

Anmeldung und Umladung,

Änderungen hinsichtlich der Art und Häufigkeit der Datenübermittlung über Quoten und Fischereiaufwand an die Kommission,

Ausnahmen von der Verkaufsbelegsvorschrift für bestimme Fangflotten,

Erlass von Vorschriften über Pläne der Lagerplätze und

Bestimmung von Fischereien, die spezifischen Inspektions- und Kontrollprogrammen unterliegen sollen,

auf Grund ihrer Wichtigkeit nicht durch delegierte Rechtsakte, sondern durch Durchführungsrechtsakte umgesetzt werden sollten.

4.3

Schließlich möchte der Ausschuss seine Verwunderung über die Tatsache zum Ausdruck bringen, dass der Kommission jederzeit die für einen bestimmten Aspekt übertragene Befugnis zum Erlass eines delegierten Rechtsakts entzogen werden kann, dies aber nicht die automatische Aufhebung eines zu diesem Aspekt bereits erlassenen delegierten Rechtsaktes bewirkt.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/42/EG, der Verordnung (EG) Nr. 1321/2007 der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 1330/2007 der Kommission

COM(2012) 776 final — 2012/0361 (COD)

2013/C 198/12

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 24. Januar 2013 bzw. am 17. Januar 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 996/2010 und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/42/EG, der Verordnung (EG) Nr. 1321/2007 der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 1330/2007 der Kommission

COM(2012) 776 final – 2012/0361 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. April 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013 (Sitzung vom 17. April) mit 195 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Maßnahmen der Europäischen Kommission zur Unfallverhütung in der Zivilluftfahrt und den Ausbau des Informationsflusses betreffend Ereignisse oder Störungen, die ein Luftfahrzeug, seine Insassen oder Dritte gefährden bzw. – wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden – gefährden würden.

1.2

Um Unfallrisiken in der Zivilluftfahrt ermitteln und ihnen vorbeugen zu können, müssen alle Beschäftigten in diesem Sektor dazu angehalten werden, sämtliche Ereignisse zu melden, die ein Sicherheitsrisiko sein könnten, gegebenenfalls auch Fehler, die sie selbst gemacht oder zu denen sie beigetragen haben oder die von Arbeitskollegen zu verantworten sind.

1.3

Ein derartiges Meldesystem kann nur dann effizient funktionieren, wenn

die Erfassung von Ereignismeldungen ausschließlich der Verhütung von Unfällen und Störungen, nicht der Klärung von Schuld- oder Haftungsfragen dient;

es im Rahmen einer "Kultur des gerechten Umgangs" ("Just Culture") angewendet wird, bei der die Betroffenen vor Maßnahmen seitens ihres Arbeitgebers, Nachteilen oder Strafverfolgung bei unbeabsichtigten Fehlern geschützt werden – außer bei vorsätzlicher grober und eindeutig als solcher festgestellter Fahrlässigkeit.

1.4

Nach Ansicht des Ausschusses können die geltenden und die in dem Verordnungsvorschlag vorgesehenen zusätzlichen Maßnahmen zum Schutz der Informationsquellen noch weiter gestärkt und ausgebaut werden. In diesem Sinne

wiederholt der Ausschuss seinen Vorschlag zur Ausarbeitung einer "EU-Charta der Just Culture";

schlägt er vor, ausdrücklich klarzustellen, dass nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Organisationen der Luftfahrtbranche auf die Einleitung von Verfahren in Fällen eines nicht vorsätzlichen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften, von denen sie lediglich aufgrund einer Meldung Kenntnis erlangen, verzichten sollten;

fordert er, dass die von den Organisationen der Luftfahrtbranche festzulegenden internen Regeln, aus denen hervorgeht, wie die Grundsätze der "Kultur des gerechten Umgangs" gewährleistet und umgesetzt werden, von den zuständigen Behörden vor ihrer Umsetzung genehmigt werden.

1.5

Angesichts der entscheidenden Bedeutung der "Kultur des gerechten Umgangs" für den wirksamen Schutz der Meldenden hat der Ausschuss ganz im Interesse der Prävention von Unfallrisiken einen externen Sachverständigen mit der Ausarbeitung einer einschlägigen Studie beauftragt, deren Schlussfolgerungen er an die Interessenträger weiterleiten wird.

1.6

Der Ausschuss äußert Vorbehalte gegenüber der neuen Bestimmung, derzufolge die Meldenden ihre Meldung nunmehr entweder an ihren Arbeitgeber oder an die zuständige Behörde richten können, wohingegen bislang ausschließlich die Meldung bei der zuständigen Behörde vorgesehen war. Seiner Ansicht nach muss bei Meldungen, die direkt an den Arbeitgeber ergehen, gleichzeitig verpflichtend eine Kopie der Meldung durch den Meldenden an die zuständige Behörde gerichtet werden, um die Neutralität zu gewährleisten und jedweder späteren Einwirkung des Arbeitgebers auf die Beschreibung des Ereignisses durch den Meldenden vorzubeugen.

1.7

Der Ausschuss bedauert, dass eine Meldung von Störungen seitens der Fluggäste in dem Verordnungsvorschlag nicht ausdrücklich vorgesehen ist; dabei sind Fluggäste in Bezug auf Sicherheitsrisiken für Infrastruktur oder Dienste oftmals aufmerksamer und stellen Mängel fest, die die in der Zivilluftfahrt tätigen Personen aus Routine ganz anders wahrnehmen. Dies gilt ebenfalls für Fluggäste mit eingeschränkter Mobilität, die die Risikofaktoren für ihre besondere Situation am besten bewerten können. Der Ausschuss schlägt daher die Aufnahme von Verfahren in die Verordnung vor, um die Fluggäste in den Informationsfluss für zu meldende Ereignisse einzubinden.

1.8

Abschließend betont der Ausschuss, dass Ereignisse oder Mängel, die vor dem Einsteigen, insbesondere während der Sicherheitskontrollen der Passagiere, festgestellt werden, in das Verzeichnis meldepflichtiger Störungen aufgenommen werden müssen.

2.   Einleitung

2.1

Seit Errichtung des Luftverkehrsbinnenmarktes 1992 hat die Einhaltung der immer strikteren Rechtsvorschriften im Bereich Flugsicherheit von Luftfahrzeugen, die in einem Mitgliedstaat eingetragen sind oder von einer in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Organisation betrieben werden, untermauert durch eingehende und unabhängige Untersuchungen von Unfällen, zu einer erheblichen und mehr oder weniger kontinuierlichen Verringerung der Rate tödlicher Unfälle geführt.

2.2

Erfahrungsgemäß deuten häufig bereits vor Eintritt eines Unfalls bestimmte Störungen und andere Mängel auf Sicherheitsrisiken hin. Es ist schnell deutlich geworden, dass sich die Flugsicherheit mit den bislang vorherrschenden rein reaktiven Systemen nur schwer verbessern ließ, d.h. indem erst nach Unfällen reagiert wird und dann die Lehren daraus gezogen werden.

2.3

Die Europäische Union konnte sich somit nicht mehr nur mit ihrer Rolle als Gesetzgeber begnügen, sondern sah sich gezwungen, sich auch mit dem ganzheitlichen Management von Risiken in der Luftfahrt auseinanderzusetzen. Mit der Richtlinie 2003/42/EG über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt hat sie ergänzend einen so genannten "proaktiven" Ansatz gewählt.

2.4

Das Meldesystem beruht auf einem Vertrauensverhältnis zwischen demjenigen, der diese Störungen oder Mängel meldet (der Meldende), und der für die Erfassung und Auswertung der einschlägigen Daten zuständigen Stelle.

2.5

Seit 2007 verfügt die EU über einen Europäischen Zentralspeicher, in dem alle von den Mitgliedstaaten erfassten Ereignisse in der Zivilluftfahrt zusammengeführt werden; derzeit sind in diesem Speicher beinahe 600 000 Ereignisse erfasst.

2.6

Die erfassten Informationen sind sensible Daten und somit vertraulich und dürfen von den Teilnehmern und Empfängern nur zur Ausübung ihrer Tätigkeit benutzt werden. Um Befürchtungen zu zerstreuen oder überzogene Reaktionen zu vermeiden, dürfen die Daten nur in aggregierter Form veröffentlicht werden; diese Veröffentlichung beschränkt sich zumeist auf einen Jahresbericht über das Sicherheitsniveau in der Luftfahrt insgesamt.

2.7

Neben dem System zur Erfassung meldepflichtiger Ereignisse können die Mitgliedstaaten auch ein System zur Erstattung freiwilliger Meldungen einrichten, um die in der Zivilluftfahrt festgestellten Mängel zu ermitteln und zu analysieren, die nicht als meldepflichtige Ereignisse gelten.

2.8

Die Meldepflicht erfasst die gesamte Luftverkehrskette, insbesondere die Luftfahrtunternehmen, die Betreiber zertifizierter Flughäfen und die Bodenabfertigungsdienste.

2.9

Die in verschiedenen Bereichen der Zivilluftfahrt tätigen Personen, die Kenntnis von solchen für die Unfallverhütung relevanten Ereignissen erlangen, sind verpflichtet, diese zu melden.

2.10

Alle auf den Meldenden bezogenen persönlichen Angaben und die technischen Angaben, die Rückschlüsse auf seine Identität ermöglichen, müssen aus den Meldungen getilgt werden. Die Mitgliedstaaten müssen dafür Sorge tragen, dass Beschäftigte, die Störungen melden, keine Nachteile seitens ihres Arbeitgebers erfahren; gegen eine Person, die ein derartiges Ereignis meldet, darf keine Verwaltungs-, Disziplinar- oder Berufsstrafe verhängt werden – außer im Falle grober Fahrlässigkeit oder vorsätzlicher Verstöße.

3.   Inhalt der neuen Richtlinie

3.1   Laut Europäischer Kommission gibt es bei der Meldung von Ereignissen in der EU und der Nutzung des Europäischen Zentralspeichers noch gewisse Unzulänglichkeiten, die die Nützlichkeit des Ereignismeldesystems für Zwecke der Unfallverhütung stark beeinträchtigen. Um dieser Situation Abhilfe zu schaffen, schlägt die Europäische Kommission folgende Maßnahmen vor:

3.1.1   Bessere Erfassung von Ereignissen

Mit dem Vorschlag wird das Umfeld geschaffen, um zu gewährleisten, dass alle Ereignisse, die die Flugsicherheit gefährden oder gefährden könnten, gemeldet werden. Neben dem System zur Erfassung meldepflichtiger Ereignisse schreibt der Vorschlag die Einrichtung von Systemen zur Erstattung freiwilliger Meldungen vor.

Der Vorschlag enthält außerdem Bestimmungen, um das Luftfahrtpersonal zu ermutigen, sicherheitsbezogene Informationen zu melden, indem es – außer bei grober Fahrlässigkeit – vor Strafe geschützt wird.

3.1.2   Klarstellung des Informationsflusses

In der Luftfahrt tätige Organisationen sind ebenso wie die Behörden verpflichtet, ein System zur Meldung von Ereignissen einzurichten.

3.1.3   Verbesserte Qualität und Vollständigkeit der Daten

Meldungen von Ereignissen müssen Mindestangaben und obligatorische Datenfelder enthalten. Die Ereignisse müssen nach dem Risiko klassifiziert werden, das sie gemäß dem gemeinsamen europäischen Risikoklassifizierungssystem darstellen. Außerdem müssen Verfahren zur Kontrolle der Datenqualität eingeführt werden.

3.1.4   Verbesserung des Informationsaustausches

Der Zugang der Mitgliedstaaten und der EASA zum Europäischen Zentralspeicher wird auf alle in dieser Datenbank gespeicherten Informationen ausgeweitet. Alle Meldungen von Ereignissen müssen mit der Gemeinschaftssoftware ECCAIRS kompatibel sein.

3.1.5   Besserer Schutz vor unangemessener Verwendung von Sicherheitsinformationen

Neben der Verpflichtung zur vertraulichen Behandlung der erfassten Daten dürfen die Daten nur zum Zweck der Aufrechterhaltung oder Verbesserung der Luftfahrtsicherheit zur Verfügung gestellt und verwendet werden. Es müssen entsprechende Regelungen mit den Justizbehörden getroffen werden, um die negativen Auswirkungen der Verwendung dieser Daten zu juristischen Zwecken zu minimieren.

3.1.6   Besserer Schutz des Meldenden zur Gewährleistung der kontinuierlichen Verfügbarkeit von Informationen ("Just Culture")

Die Bestimmungen für den Schutz der Meldenden werden gestärkt sowie die Verpflichtung zur Anonymisierung der Meldungen von Ereignissen und die Begrenzung des Zugangs zu vollständig identifizierbaren Daten auf bestimmte Personen bekräftigt. Die Vorschrift, nach der Beschäftigte – außer im Falle grober Fahrlässigkeit (gemäß der Begriffsbestimmung in Artikel 2 Absatz 4 des Verordnungsentwurfs) – aufgrund von ihnen gemeldeten Informationen keine Nachteile seitens ihres Arbeitgebers erfahren dürfen, wird ebenfalls bekräftigt. In der Zivilluftfahrt tätige Organisationen sind aufgefordert, darzulegen, wie der Schutz der Beschäftigten gewährleistet wird. Außerdem muss jeder Mitgliedstaat eine Stelle einrichten, die für die Umsetzung der Bestimmungen betreffend den Schutz der Informationsquelle zuständig ist und bei denen die Meldenden Verstöße gegen die einschlägigen Regeln melden können. Erforderlichenfalls schlägt die zuständige Stelle ihrem Mitgliedstaat die Verhängung von Sanktionen gegen den Arbeitgeber vor, der einen Regelverstoß begangen hat.

3.1.7   Einführung von Anforderungen an die Analyse von Informationen und die Annahme von Maßnahmen zur Weiterverfolgung auf nationaler Ebene

Mit diesem Vorschlag werden die auf internationaler Ebene vereinbarten Regeln für die Analyse und Weiterverfolgung erfasster Ereignisse in EU-Recht umgesetzt.

3.1.8   Verstärkte Analyse auf EU-Ebene

Der Grundsatz, dass die im Europäischen Zentralspeicher enthaltenen Informationen von der EASA und den Mitgliedstaaten analysiert werden, wird gestärkt und die laufende Zusammenarbeit im Rahmen eines Netzes von Luftfahrt-Sicherheitsanalysten unter Vorsitz der EASA formalisiert.

3.1.9   Mehr Transparenz gegenüber der breiten Öffentlichkeit

Unter Wahrung der notwendigen Vertraulichkeit veröffentlichen die Mitgliedstaaten einen jährlichen Sicherheitsbericht mit aggregierten Informationen zu den die von ihnen getroffenen Maßnahmen zur Verbesserung der Flugsicherheit.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss begrüßt die Maßnahmen der Europäischen Kommission zur Unfallverhütung in der Zivilluftfahrt und den Ausbau des Informationsflusses betreffend Ereignisse, die ein Luftfahrzeug, seine Insassen oder Dritte gefährden bzw. – wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden – gefährden würden.

4.2

Er begrüßt außerdem die Vereinfachung der Rechtsvorschriften, da in einem einzigen Text die alte Richtlinie und zwei Verordnungen zusammengeführt werden.

4.3

Da die Mitgliedstaaten regelmäßig die Umsetzungsfristen für Richtlinien überschreiten (dies war beispielsweise auch bei der Richtlinie 2003/42/EG der Fall, die das Thema dieser Stellungnahme zum Gegenstand hat) und eine schnellstmögliche Ermittlung etwaiger Sicherheitsprobleme Katastrophen verhindern und Menschenleben retten kann, stimmt der Ausschuss der Entscheidung der Europäischen Kommission zu, einen Rechtsakt mit direkter Anwendung, namentlich eine Verordnung, als zweckmäßigstes Rechtsinstrument zur Verwirklichung der verfolgten Ziele zu wählen.

4.4

Der Ausschuss stimmt dem Verordnungsvorschlag ganz allgemein zu, meldet jedoch in einigen Punkten Zweifel an:

4.5

Die Meldenden können ihre Meldung nunmehr entweder an ihren Arbeitgeber oder an die zuständige Behörde richten, wohingegen bislang ausschließlich die Meldung bei der zuständigen Behörde vorgesehen war. Werden diese Meldungen direkt an den Arbeitgeber gerichtet, muss dieser sie an die zuständige Behörde weiterleiten. Laut Artikel 7 Absatz 3 des Verordnungsentwurfs legen die Organisationen der Luftfahrtbranche und Mitgliedstaaten Verfahren zur Kontrolle der Datenqualität fest, um insbesondere Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Daten in der Meldung eines Ereignisses und den vom Meldenden ursprünglich gemeldeten Angaben zu Ereignissen sicherzustellen.

Der Ausschuss schließt daraus, dass die vom Meldenden ursprünglich gemeldeten Angaben zu Ereignissen nicht unbedingt mit den Angaben übereinstimmen, die dann an die Behörde weitergeleitet werden. Dies ist unannehmbar.

Der Ausschuss äußert Vorbehalte betreffend Meldungen, die direkt an den Arbeitgeber ergehen. Um die Neutralität zu gewährleisten und jedweder späteren Einwirkung des Arbeitgebers auf die Beschreibung des Ereignisses durch den Meldenden vorzubeugen, sollte gleichzeitig eine Kopie der Meldung durch den Meldenden an die zuständige Behörde gerichtet werden.

4.6

Der Ausschuss merkt an, dass in dem Verzeichnis meldepflichtiger Störungen (Anhang 1 der Verordnung) die Vorgänge vor dem Einsteigen ausgeklammert sind. Daraus folgt, dass Mängel bei der Sicherheitskontrolle vor dem Einsteigen bestenfalls im Rahmen freiwilliger Meldungen gemeldet werden. Derartige Mängel können jedoch verheerende Auswirkungen haben. Daher fordert der Ausschuss, sie in das Verzeichnis meldepflichtiger Störungen aufzunehmen.

4.7

Eine Meldung von Störungen seitens der Fluggäste ist in dem Verordnungsvorschlag ebenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen; allerdings wird dies auch nicht ausgeschlossen, da festgehalten ist, dass die Systeme zur Erstattung freiwilliger Meldungen die Erfassung von Angaben zu Ereignissen durch andere Personen als die in der Luftfahrt tätigen Personen, die zur Meldung derartiger Ereignisse verpflichtet sind, ermöglichen müssen.

Dabei sind Fluggäste in Bezug auf Sicherheitsrisiken für Infrastruktur oder Dienste oftmals aufmerksamer und stellen Mängel fest, die in der Zivilluftfahrt tätigen Personen aufgrund von Routine oder "Berufsblindheit" ganz anders wahrnehmen. Der Ausschuss schlägt daher die Aufnahme von Verfahren in die Verordnung vor, um die Fluggäste in den Informationsfluss für zu meldende Ereignisse einzubinden. Dies gilt auch für Fluggäste mit eingeschränkter Mobilität, die gemäß Anhang I, Teil A, Ziffer 3.4 des Verordnungsvorschlags in Bezug auf Gepäcksabfertigung und Beförderung wie alle anderen Fluggäste behandelt werden, obwohl die Risikofaktoren grundsätzlich unterschiedlich sind.

5.   "Kultur des gerechten Umgangs" ("Just Culture")

5.1

Um Unfallrisiken in der Zivilluftfahrt ermitteln und vorbeugen zu können, müssen alle in der Luftfahrt tätigen Personen dazu angehalten werden, sämtliche Ereignisse zu melden, die ein Sicherheitsrisiko sein können.

5.2

Gegebenenfalls müssen die Betroffenen zur Meldung von Fehlern angehalten werden, die sie selbst gemacht oder zu denen sie beigetragen haben oder die von Arbeitskollegen zu verantworten sind.

5.3

Ein derartiges Meldesystem kann nur im Rahmen einer "Kultur des gerechten Umgangs" effizient funktionieren, bei der die Betroffenen vor Maßnahmen seitens ihres Arbeitgebers, Nachteilen oder Strafverfolgung bei unbeabsichtigten Fehlern geschützt werden – außer bei vorsätzlicher grober und eindeutig als solcher festgestellter Fahrlässigkeit.

5.4

Der Ausschuss befürwortet daher, dass der Schwerpunkt darauf gelegt wird, dass die Erfassung von Ereignismeldungen ausschließlich der Verhütung von Unfällen und Störungen, nicht der Klärung von Schuld- oder Haftungsfragen dient; er befürwortet außerdem, dass in dem Verordnungsvorschlag die Maßnahmen zum Schutz des Meldenden bekräftigt und ergänzt werden, auch wenn sie seiner Meinung nach noch weiter gestärkt werden könnten.

5.5

In seiner Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Verordnung über die Untersuchung und Verhütung von Unfällen und Störungen in der Zivilluftfahrt (1) hat der Ausschuss bereits betont, dass stärker auf EU-Ebene gehandelt werden muss, damit alle Mitgliedstaaten ihr nationales Strafrecht zur Sicherstellung einer "Just Culture" anpassen. Er hat außerdem darauf hingewiesen, dass eine "EU-Charta der Just Culture" ausgearbeitet werden muss, um die Bestrafung unbeabsichtigter Fehler zu vermeiden.

5.6

Der Ausschuss bedauert, dass dieser Vorschlag nicht in den vorliegenden Verordnungsvorschlag aufgenommen wurde, in dem eine Zusammenarbeit zwischen Sicherheits- und Justizbehörden durch im Voraus getroffene Regelungen (Artikel 15 Absatz 4: "Diese im Voraus getroffenen Regelungen dienen der Gewährleistung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen dem Bedarf an einer geordneten Rechtspflege einerseits und der weiterhin erforderlichen Verfügbarkeit von Sicherheitsinformationen andererseits.") vorgesehen ist – was durchaus einen Schritt in die richtige Richtung bedeutet –, allerdings betreffen diese Regelungen keine "angemessene" Vertraulichkeit der Informationen und schützen die Meldenden nicht vor Strafverfolgung.

5.7

Die Bestimmung für den Schutz des Meldenden, derzufolge "die Mitgliedstaaten auf die Einleitung von Verfahren in Fällen eines nicht vorsätzlichen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften, von denen sie lediglich aufgrund einer Meldung Kenntnis erlangen, [verzichten]", sollte auch auf den Arbeitgeber des Meldenden Anwendung finden. Daher sollte Artikel 16 Absatz 3 des Verordnungsvorschlags entsprechend ergänzt werden.

5.8

In Bezug auf die Bestimmung, dass die Organisationen der Luftfahrtbranche interne Regeln festlegen, aus denen hervorgeht, wie die Grundsätze der "Kultur des gerechten Umgangs" gewährleistet und umgesetzt werden, schlägt der Ausschuss vor, dass diese Regeln von den für die Umsetzung der EU-Vorschriften für den Schutz der Informationsquellen zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten vorab genehmigt werden müssen.

5.9

Auch wenn diese Verordnung in all ihren Teilen verbindlich ist und ab dem zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, so müssen einige Elemente, insbesondere die internen Bestimmungen, wie die Grundsätze der "Kultur des gerechten Umgangs" von den Organisationen angewendet werden, oder die Regeln für Sanktionen bei Verstößen gegen diese Verordnung erst noch festgelegt und gegebenenfalls in nationales Recht umgesetzt werden. Nach Ansicht des Ausschusses hätte in dieser Verordnung eine Frist für die Umsetzung dieser Elemente festgelegt werden müssen.

5.10

Angesichts der entscheidenden Bedeutung der "Kultur des gerechten Umgangs" für den wirksamen Schutz der Meldenden hat der Ausschuss ganz im Interesse der Prävention von Unfallrisiken einen externen Sachverständigen mit der Ausarbeitung einer einschlägigen Studie beauftragt, deren Schlussfolgerungen er an die Interessenträger weiterleiten wird.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  ABl. C. 21 vom 21.1.2011, S. 62.


10.7.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 198/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 92/58/EWG, 92/85/EWG, 94/33/EG und 98/24/EG des Rates sowie der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zwecks ihrer Anpassung an die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen

COM(2013) 102 final — 2013/0062 (COD)

2013/C 198/13

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 15. März 2013 bzw. am 12. März 2013, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 153 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 92/58/EWG, 92/85/EWG, 94/33/EG und 98/24/EG des Rates sowie der Richtlinie 2004/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zwecks ihrer Anpassung an die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen

COM(2013) 102 final – 2013/0062 COD.

Da der Ausschuss sich bereits in seiner Stellungnahme CESE 493/2008 vom 12. März 2008 (1) zu dem Vorschlag geäußert hat, beschloss er auf seiner 489. Plenartagung am 17./18. April 2013, (Sitzung vom 17. April) mit 178 gegen 3 Stimmen bei 10 Enthaltungen, von der Ausarbeitung einer neuen Stellungnahme abzusehen und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 17. April 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen sowie zur Änderung der Richtlinie 67/548/EWG und der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006, COM(2007) 355 final – 2007/0121 COD, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 47-56.