ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2013.133.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 133

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

56. Jahrgang
9. Mai 2013


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

487. Plenartagung am 13. und 14. Februar 2013

2013/C 133/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Nautische Industrie: ein beschleunigter Wandel im Zeichen der Krise (Initiativstellungnahme)

1

2013/C 133/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Geschäftsmodelle für nachhaltiges Wachstum, kohlenstoffarme Wirtschaft, industrieller Wandel (Initiativstellungnahme)

8

2013/C 133/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Handelsbeziehungen zwischen großen Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln — aktueller Stand (Initiativstellungnahme)

16

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

487. Plenartagung am 13. und 14. Februar 2013

2013/C 133/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Förderung der gemeinsamen Nutzung von Funkfrequenzen im Binnenmarkt — COM(2012) 478 final

22

2013/C 133/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein funktionierender Energiebinnenmarkt — COM(2012) 663 final

27

2013/C 133/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die vorübergehende Abweichung von der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft COM(2012) 697 final - 2012/328 (COD)

30

2013/C 133/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/92/EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten — COM(2012) 628 final – 2012/0297 (NLE)

33

2013/C 133/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit besonderen Auflagen für die Befischung von Tiefseebeständen im Nordostatlantik und Vorschriften für den Fischfang in internationalen Gewässern des Nordostatlantiks und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2347/2002 — COM(2012) 371 final

41

2013/C 133/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Empfehlung des Rates zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist — COM(2012) 301 final

44

2013/C 133/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 — COM(2012) 542 final –– 2012/0266 (COD) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über In-vitro-Diagnostika — COM(2012) 541 final –– 2012/0267 (COD) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sichere, wirksame und innovative Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika zum Nutzen der Patienten, Verbraucher und Angehörigen der Gesundheitsberufe — COM(2012) 540 final

52

2013/C 133/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt — COM(2012) 584 final — 2012/0283 (COD)

58

2013/C 133/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen — COM(2012) 617 final — 2012/295 (COD)

62

2013/C 133/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen — COM(2012) 614 final — 2012/0299 (COD)

68

2013/C 133/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten — COM(2012) 709 final — 2012/0335 (NLE)

77

2013/C 133/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Jahreswachstumsbericht 2013 — COM(2012) 750 final

81

2013/C 133/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen — COM(2012) 499 final — 2012/0237 (COD)

90

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

487. Plenartagung am 13. und 14. Februar 2013

9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nautische Industrie: ein beschleunigter Wandel im Zeichen der Krise“ (Initiativstellungnahme)

2013/C 133/01

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Ko-Berichterstatter: Patrizio PESCI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Nautische Industrie: ein beschleunigter Wandel im Zeichen der Krise

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 22. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 70 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Freizeitaktivitäten – auf dem Wasser mittels eines Boots (Segel- oder Motorboot, Kanu, Kajak u.Ä.) oder im Rahmen der zahlreichen angebotenen Wasseraktivitäten (Wind- oder Kitesurfing, Tauchen, Freizeitfischerei usw.) – wird seit vielen Jahren von allen gesellschaftlichen Gruppen in Europa praktiziert. Deshalb werden sie nicht nur als sommerlicher Zeitvertreib betrachtet, sondern tragen auch zur Entwicklung und Vermittlung sportlicher, kultureller, ökologischer und sozialer Werte bei. In diesem Sinne spielt der Breiten-Wassersport in Europa eine wichtige gesellschaftliche Rolle und fördert die Werte der EU.

1.2

Durch Aktivitäten auf dem Wasser können insbesondere junge Menschen lernen, die Natur zu achten, das gemeinschaftliche Arbeiten zu schätzen und Verantwortung zu übernehmen, Kontakte knüpfen, einen unterhaltsamen und preisgünstigen Sport ausüben, neue Regionen im Zuge des Wassertourismus entdecken und Zugang zu besonders wertvollen Meeresgebieten erhalten. Aktivitäten auf dem Wasser erfüllen seit einiger Zeit insofern eine therapeutische Funktion für Menschen mit Behinderung oder solche ohne Selbstvertrauen, als sie ihnen helfen, sich wieder einzugliedern oder ihre Selbstsicherheit zurückzuerlangen.

1.3

Diese Stellungnahme beruht auf der Feststellung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), dass der europäische Binnenmarkt im Bereich der nautischen Industrie noch nicht vollendet ist. Bei der öffentlichen Anhörung während der internationalen Bootsschau im Oktober 2012 in Genua (Italien), an der Vertreter der Kommission und des Europäischen Parlaments, der Industrie, der Arbeitnehmer, der Nutzer und Verbraucher, der Hochschulen und der Umweltverbände teilnahmen, wurden die noch stets zahlreichen Schwierigkeiten im europäischen Binnenmarkt für diese Branche hervorgehoben. Der EWSA fordert deshalb die Europäische Kommission auf, die in dieser Stellungnahme vorgeschlagenen Maßnahmen zu berücksichtigen, die notwendig sind, um den Binnenmarkt zu vollenden und die fortbestehenden Hindernisse und Einschränkungen auf nationaler und internationaler Ebene zu beseitigen.

1.4

Die Produktion der europäischen nautischen Industrie ist während der Krise je nach Land um ca. 40 bis 60 % zurückgegangen, was einen Verlust von 46 000 Arbeitsplätzen und eine Verminderung des Gesamtumsatzes im Produktionsbereich der Branche in Höhe von ca. 3 bis 4,5 Mrd. EUR zur Folge hatte. Gleichwohl bleibt die europäische nautische Industrie die wichtigste auf globaler Ebene, wo die Konkurrenz durch die USA abnimmt und die Konkurrenz durch neue Schwellenländer wie Brasilien, China und die Türkei zunimmt.

1.5

Der EWSA ist der Ansicht, dass dieses Kapital an Kompetenz und Innovationsfähigkeit, das es Unternehmen ermöglicht hat, sich zu behaupten und ihre Exportorientierung zu steigern, keinesfalls verlorengehen darf, (dies betrifft jedoch fast ausschließlich Produkte im oberen Preissegment).

1.6

Im Mittelmeerraum konzentriert sich über 70 % des weltweiten Wassertourismus, der große Vorteile für die Anrainerstaaten mit sich bringt. Dieser Tourismus wird durch einzelstaatliche, divergierende Rechtsvorschriften behindert, z.B. in Bezug auf die Registrierung von Sportbooten, Bootsführerscheinen und Sicherheits- und Steuermaßnahmen (um nur die wichtigsten Punkte zu nennen).

1.7

Auch wenn sich der EWSA der unterschiedlichen Befindlichkeiten in den Ländern mit langer Seefahrtstradition bewusst ist, empfiehlt er der Kommission, gemeinsame Lösungen zu finden, und betont, dass es für die Branche besonders wichtig ist, den für den Binnenmarkt geltenden Grundsatz des Verbots der mittelbaren oder unmittelbaren Diskriminierung auf die Freizügigkeiten von Dienstleistungen und Personen anzuwenden.

1.8

Während in Europa die Sicherheits- und Umweltanforderungen für den Bau von Sportbooten auf europäischer Ebene harmonisiert sind, variiert der Rechtsrahmen für den Bootssport zwischen den Ländern hinsichtlich der Nutzungsbedingungen in erheblichem Maße (Bootsführerscheinen, Anmeldungen, Sicherheitsvorschriften und -ausrüstungen, Besteuerung usw.). Diese nationalen Unterschiede führen zu einer Zersplitterung des europäischen Binnenmarkts, zur Verunsicherung der Wirtschaftsteilnehmer und Nutzer sowie auch zu einem gewissen unlauteren Wettbewerb. Das offenkundigste Beispiel ist sicherlich der Mittelmeerraum, in dem die Nautik in den einzelnen Ländern (Spanien, Frankreich, Italien, Kroatien, Slowenien, Griechenland) unterschiedlich geregelt ist. Solch unterschiedliche Behandlungsweisen gibt es für andere Verkehrsmittel wie Auto, Bahn oder Flugzeug nicht.

1.9

Anlässlich der interessanten Anhörung, die während der internationalen Bootsschau in Genua stattfand, forderten die verschiedenen Akteure der Industrie, die Arbeitnehmervertreter der Branche und die Umweltverbände einhellig und mit Nachdruck geeignete EU-Initiativen zur Unterstützung der Tätigkeiten der nautischen Industrie.

1.10

Die nautische Industrie ist ein Wirtschaftszweig, für dessen Überleben Innovation und Entwicklung entscheidend sind; darüber hinaus verlangt sie im Unterschied zu vielen anderen Branchen keine außergewöhnlichen Maßnahmen oder Finanzhilfen, sondern nur Initiativen und Aktionen, die den europäischen Binnenmarkt in diesem Bereich Realität werden lassen.

1.11

Der EWSA teilt die Bedenken der Vertreter der nautischen Industrie und fordert die Kommission auf, die Annahme der überarbeiteten Richtlinie 94/25/EG über Sportboote bis 24 Meter Länge durch zusätzliche Initiative zu flankieren, die dann in einen spezifischen Aktionsplan aufgenommen werden sollten. Es wäre sehr nützlich, ein Grünbuch über die zu ergreifenden Maßnahmen für nautische Industrie zu erarbeiten, wobei alle Interessenträger einbezogen werden sollten, sodass danach ein Aktionsplan festgelegt werden könnte, der mit den allgemeinen Grundsätzen einer neuen europäischen Industriepolitik (1) und einer europäischen Politik für nachhaltigen Tourismus übereinstimmt (2).

1.12

Der EWSA weist insbesondere auf folgende Fragen hin, die behandelt und beantwortet werden müssen:

Verhandlung mit Drittstaaten (insbesondere den USA, China und Brasilien) über neue wechselseitig geltende Marktzugangsregelungen für europäische Produkte;

Verstärkung der Marktaufsicht, um zu vermeiden, dass Sportboote, die nicht den europäischen Lärmschutz- und Emissionsvorschriften entsprechen, aus Drittstaaten eingeführt werden, was zu unlauterem Wettbewerb führen würde;

Förderung einer einheitlichen und fortlaufenden Ausbildung, die die Anerkennung der erworbenen Berufsqualifikationen ermöglicht und damit die Arbeitsmobilität begünstigt. Die sozialen Akteure fordern in diesem Zusammenhang einen Europäischen Berufsbildungspass.

Einrichtung einer europäischen Datenbank über Unfälle im Bereich des (Boots-)Sports, um die einschlägigen Risiken zu ermitteln und die am besten geeigneten Sicherheitsvorschriften und Standards festzulegen;

Verabschiedung einheitlicher Sicherheitsverordnungen im gesamten EU-Gebiet und insbesondere in Meeresregionen wie dem Mittelmeer, der Ostsee und anderen europäischen Seegebieten;

Beauftragung einer Fachstudie zur Überarbeitung des derzeitigen Systems der Entwurfskategorien, wie auch vom Europäischen Parlament hinsichtlich der Revision der Richtlinie 94/25/EG gefordert wurde;

Erleichterung des Zugangs der nautischen Industrie zu den EU-Mitteln für Forschung, Entwicklung und Innovation, wie es bei Branchen anderer Verkehrmittel der Fall ist;

Förderung der Annahme und Verwendung internationaler Standards, die tatsächlich eingehalten werden. Beispielsweise beteiligen sich die USA an der Erarbeitung der ISO-Normen, erkennen diese aber weder an, noch verwenden sie sie auf nationaler Ebene, weil sie amerikanische Normen bevorzugen;

Harmonisierung der steuerlichen Behandlung im Bereich des Wassertourismus im Binnenmarkt. In einigen Mitgliedstaaten richtet sich der Mehrwertsteuersatz für die Hafen- und Chartergebühren nach dem reduzierten Satz für das Hotelgewerbe, während in anderen die normalen Sätze gelten, was einen offensichtlichen und ungerechtfertigten Nachteil für die nationalen Wirtschaftsteilnehmer mit sich bringt.

Stärkung der Attraktivität der Aktivitäten auf dem Wasser als Berufs-, Freizeit- und Sportaktivität für Jugendliche.

2.   Die europäische nautische Industrie

2.1

Die nautische Industrie in Europa zählt gegenwärtig über 37 000 Unternehmen, die 234 000 Menschen direkt beschäftigen und im Jahr 2011 einen Umsatz von 20 Mrd. EUR erzielten. 97 % dieser Unternehmen sind KMU und es gibt etwa zehn (weitverzweigte) Konzerne. Aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise gingen die Verkaufszahlen und die Industrietätigkeit zwischen 2008 und 2009 um durchschnittlich 40-60 % zurück, wobei alle Produktsegmente in Mitleidenschaft gezogen wurden. Im Zuge der Wirtschaftskrise gingen in diesem Sektor seit 2009 46 000 Arbeitplätze verloren, und der Gesamtumsatz im Produktionsbereich der Branche sank um 3 bis 4,5 Mrd. EUR. Ebenso hoch ist der Prozentsatz der Arbeitsplätze, die in kleinen, mittleren und großen Unternehmen verlorengingen. Sowohl der Arbeitsplatzabbau als auch der Umsatzrückgang fanden im Wesentlichen im industriellen Bereich der Branche (Schiffsbau und Herstellung von Ausrüstung und Zubehör) statt. Im Bereich der Dienstleistungen (Vermietung und Vercharterung von Sportbooten, Reparatur und Instandhaltung, Freizeit- und Jachthäfen), der der Krise bisher weitgehend standgehalten hatte, ist diese seit Anfang dieses Jahres spürbar. Europa ist zwar nach wie vor Weltmarktführer, die Krise hat aber den internationalen Kontext tiefgreifend verändert: Die Konkurrenz durch die USA hat abgenommen, während die Schwellenländer wie Brasilien, China und die Türkei an Bedeutung gewinnen (3).

2.2

Die Industrietätigkeit der Branche deckt den gesamten Produktionsbereich des Schiffsbaus ab: von kleineren Booten bis zu über 100 m langen Superjachten. Üblicherweise geht es bei der nautischen Industrie jedoch um die Herstellung von Schiffen bis 24 m Länge (letzteres ist durch die Richtlinie 94/25/EG geregelt). Es handelt sich um Boote mit unterschiedlichen Nutzungszwecken: Sportboote, Kleinboote für die Küstenwache, Wasserschutzpolizei und Grenzschutz, kleine Fahrgastschiffe, insbesondere in Tourismusregionen und Inselgebieten, Spezialboote. Die nautische Industrie produziert Ausrüstungen und Einzelteile (Motoren, Antriebssysteme, Aufbauten, Elektronik und Navigationssysteme, Segel, Farben und Lacke, Innenausstattung), nautisches Zubehör (Sicherheitsausrüstungen, Textilprodukte usw.) und Wassersportausrüstungen (Tauchen, Windsurfing, Kitesurfing, Kanu-/Kajakfahren usw.).

2.3

Zu den zahlreichen und vielfältigen Dienstleistungen gehören die Verwaltung und Entwicklung der 4 500 europäischen Freizeit- und Jachthäfen (mit 1,75 Mio. Liege- und Ankerplätzen für 6,3 Mio. Schiffe in Europa) sowie Vertrieb und Wartung der Boote, Verpachtung und Vercharterung von Booten für See- und Binnenreviere (mit und ohne Besatzung), Wassersportschulen, Schiffsagenturen, auf Seefahrt spezialisierte Finanz- und Versicherungsdienste usw.

2.4

Gegenwärtig betreiben 48 Mio. Menschen in Europa eine oder mehrere Wassersportarten, davon 36 Mio. mit (Motor- oder Segel-)Booten (4). Das Profil der Bootssportler spiegelt faktisch die verschiedenen sozialen Gruppen der einzelnen Nationen wider: Auch wenn die Wassersportarten häufig zu Unrecht von den Medien ausschließlich mit Luxus in Verbindung gebracht werden, sind sie nicht einer sozialen Elite vorbehalten. In dieser Hinsicht kann zu Recht durchaus von "Breiten-Wassersport" gesprochen werden.

2.5

Darüber hinaus ist seit einem Jahrzehnt festzustellen, dass die Bootssportler durchschnittlich immer älter werden, was der demografischen Entwicklung in Europa entspricht und was für die Zukunft der nautischen Industrie wenig Gutes verheißt.

2.6

In verschiedenen europäischen Ländern haben die nautischen Unternehmen und Sportvereinigungen über ihre Verbände seit Jahren Initiativen entwickelt, damit jungen Menschen Erfahrungen im Bereich der Aktivitäten auf dem Wasser machen können. Diese Initiativen sollen die nautische Industrie als sportliche und touristische Aktivität sowie als Beschäftigungsbranche im Rahmen von Berufserfahrungen und Praktika in Unternehmen für Auszubildende und Studierende bekannt machen. Die einzelstaatlichen Initiativen könnten auf europäischer Ebene aufgegriffen werden, und zwar im Rahmen kollektiver Werbemaßnahmen für die Aktivitäten auf dem Wasser bei Veranstaltungen wie dem Europäischen Tag der Meere am 20. Mai (5).

2.7

Mit 66 000 km Küste ist Europa die weltweit wichtigste Destination für die Sportschifffahrt. Wassersportaktivitäten finden normalerweise auf dem Meer statt; sie werden aber auch europaweit – und in einigen Ländern ganz besonders intensiv – auf den 27 000 km langen Binnenwasserstraßen oder auf den Seen (in Europa gibt es 128 Seen mit einer Oberfläche über 100 km2) ausgeübt. Insbesondere konzentrieren sich 70 % der weltweiten Chartertätigkeit (für alle Bootstypen) im Mittelmeerraum.

2.8

Die europäische Industrie ist offen und wettbewerbsfähig. Zwei Drittel ihrer Produktion werden innerhalb des Binnenmarkts ausgetauscht oder in die traditionellen Märkte wie die USA, Kanada und Australien/Neuseeland exportiert. Infolge des Nachfrageeinbruchs in diesen Ländern nehmen die Exporte der europäischen Industrie in die Schwellenländer Asiens (hauptsächlich China) und Lateinamerikas (hauptsächlich Brasilien) stetig zu, wo die Nachfrage zwar hoch ist, die zuständigen lokalen Behörden die nationale Industrie aber schützen und entwickeln wollen. In Asien werden insbesondere die europäischen KMU durch den Verwaltungsaufwand und die Einfuhrformalitäten abgeschreckt. Die CE-Kennzeichnung europäischer Produkte ist nicht allgemein anerkannt. Werften müssen eigene technische Dokumente vorlegen, um vor Ort eine Betriebserlaubnis zu erhalten, was für die europäische nautische Industrie ernsthafte Probleme hinsichtlich des Schutzes des geistigen Eigentums aufwirft, mit immensen Kosten für die KMU verbunden ist und große Unternehmen dazu veranlasst, ihren Standort zu verlagern.

3.   Auswirkungen des europäischen Rechts auf die nautische Industrie

3.1

1994 wurde die europäische Richtlinie über Sportboote (Richtlinie 94/25/EG) verabschiedet, die eine EU-weite Harmonisierung der Sicherheitsanforderungen für Sportboote zwischen 2,5 und 24 m ermöglichte Sie wurde 2003 geändert (Richtlinie 2003/44/EG), indem neue Umweltanforderungen (z.B. geringere Abgas- und Geräuschemissionen von Bootsmotoren) hinzugefügt und sog. personal watercraft (Wassermotorräder und Jetskis) in den Geltungsbereich der Richtlinie aufgenommen wurden.

3.2

Innerhalb von 15 Jahren hat die Umsetzung dieser Richtlinie über Sportboote zur Entwicklung von über 60 EN-ISO-Standards auf internationaler Ebene geführt, die für solche Boote und Wassersportgeräte gelten. Diese Standards europäischen Ursprungs gelten heute international als technischer Maßstab. Die Richtlinie 94/25/EG hat es auch ermöglicht, einen europäischen Binnenmarkt für Sportboote zu schaffen und damit die Bedingungen für den Handel, Wettbewerb und innereuropäischen Austausch zu erleichtern. Der EWSA fordert die Kommission auf, kohärente Vorschläge vorzulegen, um die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für nautische Dienstleistungen und damit die Konvergenz der Nutzungs- und Navigationsbedingungen in Europa zu ermöglichen.

3.3

Die Richtlinie 94/25/EG ist derzeit Gegenstand der Überarbeitung und Erörterung durch das Europäische Parlament und den Rat (Vorschlag für eine Richtlinie COM(2011) 456 final). Die bemerkenswertesten Änderungen betreffen eine weitere Reduzierung der Abgasemissionen für Bootsmotoren, die Verpflichtung zum Einbau von Abwasserauffang- und –aufbereitungssystemen an Bord und die Anpassung an die Kriterien des neuen europäischen Rechtsrahmens zur Harmonisierung der Vermarktung von Produkten (Beschluss Nr. 768/2008 und Verordnung 765/2008/EG). Der EWSA hat den Vorschlag für eine Überarbeitung bereits begrüßt (6).

3.4

Der EWSA ist der Ansicht, dass die neue Richtlinie eine Gelegenheit sein könnte, um das derzeitige System zur Kategorisierung der Sportboote zu überprüfen. In der Richtlinie werden die Boote in vier Entwurfskategorien danach eingeteilt, inwieweit sie bestimmten Witterungs- und Seegangsverhältnissen (Windstärke und Wellenhöhe) standhalten können. Das Europäische Parlament hat die Kommission dazu aufgefordert, eine technische Studie über Zweckmäßigkeit und Möglichkeit einer Überarbeitung des derzeitigen Systems der Entwurfskategorien anzufertigen, um der großen Bandbreite der heute auf dem Markt befindlichen Sportboote Rechnung zu tragen und gleichzeitig den Nutzern genaue Angaben zu den Merkmalen der Boote zu liefern. Die europäische nautische Industrie und der europäische Verband der Nutzer haben die Initiative des Europäischen Parlaments begrüßt (7). Der EWSA fordert die Kommission auf, für die Durchführung der Studie zu sorgen.

3.5

Im Bereich des Seeverkehrs hat die Kommission mit der Überarbeitung der Richtlinie 2009/45/EG über Sicherheitsvorschriften und -normen für Fahrgastschiffe begonnen, die mindestens 24 m lang und aus einem metallischen Material gebaut sind sowie für die Binnenschifffahrt genutzt werden. Heutzutage werden aber die meisten dieser Schiffe aus anderen Materialien als Stahl (hauptsächlich Glasfaser und Verbundwerkstoffen) gebaut und unterliegen damit den nationalen Rechtsvorschriften. Der EWSA ist der Ansicht, dass der von der Kommission derzeit erarbeitete Vorschlag zur Vereinfachung dieser Richtlinie eine Ausweitung des Geltungsbereichs auf Passagierschiffe vorsehen könnte, die weniger als 24 m lang und/oder aus nicht-metallischen Materialien gebaut sind. Es sollte sichergestellt werden, dass sich die Ausweitung des Geltungsbereichs nicht nachteilig auf europäische Werften auswirkt, die kleine Passagierschiffe bauen.

4.   Die europäische nautische Industrie vor dem Nachfrageproblem

4.1

Die europäische nautische Industrie hat angesichts einer tiefgreifenden Finanzkrise mit dramatischen Wirtschaftsfolgen umgehend reagiert: Sie hat die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um über die traditionellen Märkte (Europa, Nordamerika, Australien/Neuseeland) hinaus neue Märkte zu erschließen, in neue Modelle und neue Technologie zu investieren und so innovative Produkte anzubieten, die Produktionskosten zu senken und ihre Position als Weltmarktführer zu behaupten. Darüber hinaus sind die derzeitigen Preise von Neubooten für die Verbraucher günstiger als früher.

4.2

Die Frage der Finanzierung der industriellen Produktion und des Erwerbs der Boote muss unter Berücksichtigung der durch das europäische Bankensystem aufgestellten Hürden angegangen werden. Eine der Folgen der Finanzkrise für die nautische Industrie ist die Verlagerung der Nachfrage – ein für nicht lebensnotwendige Produkte übliches Phänomen. Darüber hinaus gewährleistet das Bankensystem nicht mehr die Finanzierung in Höhe des Wertes des Sportboots, weil diesbezüglich ein beträchtlicher Wertverlust befürchtet wird. Eine weitere Folge der Finanzkrise ist die Stagnation des Gebrauchtmarkts in Verbindung mit dem Verkauf der von den Banken gehaltenen Sportboote zu sehr niedrigen Preisen. Und auch das im Bootssport so populäre Leasing ist in die Krise geraten. Es handelt sich hier um eine Situation, die der anderen Branchen (z.B. des Immobiliensektors in Spanien) ähnelt.

4.3

Vor der Krise entfielen auf die traditionellen Märkte ca. 80 % der Verkäufe der europäischen nautischen Industrie; die übrigen 20 % auf die Schwellenmärkte. Der Verkaufsrückgang von 40 bis 60 % in den traditionellen Märkten, der durch ihre gegenwärtige Stagnation verschlimmert wird, wurde durch die Verkaufszunahme in den Schwellenmärkten bisher nur geringfügig ausgeglichen. Im Übrigen finden viele Hersteller von Sportbooten für "Einsteiger" (z.B. Schlauchboote) keine Absatzmöglichkeiten in den Schwellenmärkten, wo derartige Produkte nicht gefragt sind (entweder wegen des Preises oder wegen des Fehlens einer Bootssporttradition in den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten der betreffenden Länder). Die europäische nautische Industrie ist deshalb in diesen Märkten eher mit einem Problem der Nachfrage als der Wettbewerbsfähigkeit konfrontiert.

4.4

In Europa wird der Rechtsrahmen für den Bootssport weitgehend auf nationaler Ebene festgelegt. Auch wenn der Bau von Sportbooten auf europäischer Ebene harmonisiert ist, unterscheiden sich die Nutzungsbedingungen (d.h. Bootsführerscheine, Registrierung, Sicherheitsausrüstung, Besteuerung des Sektors usw.) von Land zu Land beträchtlich. Der EWSA ist der Ansicht, dass in diesem Falle das Subsidiaritätsprinzip der Entwicklung eines europäischen Binnenmarkts abträglich ist.

4.5

Die Marktaufsicht auf EU-Ebene ist gegenwärtig ausgesprochen unbefriedigend. Zahlreiche Sportboote, die gegen die europäischen Geräusch- und Abgasnormen verstoßen, werden nach Europa importiert und dort verkauft, ohne dass sich die betreffenden Importeure von den Marktaufsichtsbehörden kontrolliert werden, was zu unlauterem Wettbewerb führt.

4.6

Im Rahmen ihrer Arbeit sollte die Kommission der Entwicklung der Industrie und der Dienstleistungen in der Wassersportbranche im Einklang mit Umwelt- und Landschaftsschutzprinzipien besondere Aufmerksamkeit widmen, insbesondere hinsichtlich des Erhalts der natürlichen Ressourcen und Ökosysteme, der Bekämpfung der Lärmbelästigung in Binnengewässern, der Verschmutzung von Gewässern durch Kommunal- und Industrieabfälle und der Sicherheit derjenigen, die verschiedene Formen wasserbezogener Freizeitaktivitäten betreiben, usw.

5.   Was kann Europa tun?

5.1

Der EWSA veranstaltete während der internationalen Bootschau im Oktober 2012 in Genua eine öffentliche Anhörung, an der verschiedene maßgebliche und fachlich qualifizierte Akteure der europäischen nautischen Industrie teilnahmen und ihre Standpunkte vermittelten.

5.2

Trotz der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist die europäische nautische Industrie heute weltweit führend – dank der Innovationen, die die Unternehmen seit jeher hervorbringen. Die derzeitigen Schwierigkeiten beim Zugang zu Finanzmitteln über das Bankensystem gefährden die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, in Forschung, Entwicklung und Innovation zu investieren. Innovation bleibt der wichtigste Faktor dafür, dass die europäische nautische Industrie ihre Führungsposition behaupten kann. Für die Unternehmen der nautischen Branche sollte der Zugang zu den EU-Mitteln für Forschung, Entwicklung und Innovation erleichtert werden, die heute für die Verkehrsträger zu Verfügung stehen, für die nautische Industrie aber nur begrenzt zugänglich sind. Auf nationaler Ebene sind Steuervergünstigen für Forschung, Entwicklung und Innovation ein weiteres Instrument, das es zu fördern gilt. Im Falle der nautischen Industrie geht es nicht nur um technologische Innovation, sondern auch um Innovation in den Bereichen Nutzung und Instandhaltung sowie Dienstleistungen wie Vercharterung und Finanzierung.

5.3

Im Bereich der öffentlichen Konzessionen für nautische Unternehmen ist die Situation in Europa sehr heterogen; in einigen Ländern werden die Investitionen in Tourismushäfen durch die Bedingungen für die Konzessionsvergabe (ein zu kurzer Ausstellungszeitraum oder eine unsichere Konzessionsverlängerung) eingeschränkt. Der EWSA empfiehlt die Erarbeitung von Leitlinien durch die EU, um Investitionen europäischer Unternehmen in dieser Branche zu erleichtern.

5.4

Gemäß dem Lissabon-Vertrag ist der Fremdenverkehr ein Bereich mit europäischer Zuständigkeit, weshalb die EU hier Initiativen vorschlagen kann. Die Europäische Kommission hat für 2013 die Veröffentlichung ihrer Strategie für den Küsten- und Meerestourismus angekündigt. Diese Strategie sollte es ermöglichen, den Bootssport letztlich in ganz Europa zu verbreiten und insbesondere eine Reihe einschlägiger Probleme anzugehen, die in diesem Dokument benannt werden sollen, z.B. die rechtlichen Unterschiede bei Bootsführerscheinen, Registrierungen und Sicherheitsanforderungen dadurch anzugehen, dass Maßnahmen zur Harmonisierung der Bootssportregelungen in Europa eingeführt werden.

5.5

Der EWSA begrüßt die Entwicklung geschützter Seegebiete, die in Europa und vor allem im Mittelmeerraum stark zunehmen, aber zu Unsicherheit in Bezug auf die Schifffahrtsvorschriften führen. Der EWSA empfiehlt, die Vorschriften über den Zugang von Sportbooten zu geschützten Seegebieten auf europäischer Ebene zu harmonisieren, damit der Nutzer von Anfang an weiß, ob sein eigenes Boot für das Fahren in diesen Gebieten entsprechend ausgerüstet ist oder nicht.

5.6

Zur Verbesserung der Sicherheit sollten auf europäischer Ebene in einer einzigen gemeinsamen Datenbank Informationen über Unfälle gesammelt werden, um eine gemeinsame und vergleichende Untersuchung und ein besseres Verständnis der Risiken im Zusammenhang mit dem Bootssport und damit die Festlegung von risikoadäquaten Vorschriften zu ermöglichen. Der EWSA ersucht die Kommission, ein mit den Mitgliedstaaten vereinbartes Datenerhebungsmodell bereitzustellen, um einheitliche und vergleichbare Daten zu erhalten.

5.7

Darüber hinaus sind die berufliche Bildung und die Anerkennung der jeweiligen Qualifikationen auf europäischer Ebene von grundlegender Bedeutung. Die Ausbildung in den nautischen Berufen (vor allem im Industriebereich für Lehrlinge sowie in Dienstleistungsbereichen im Zusammenhang mit Reparatur und Instandhaltung) ist nicht überall in Europa möglich. Es sollte darüber nachgedacht werden, wie auf europäischer Ebene anerkannte Ausbildungspläne entwickelt werden können, die eine hochwertige Ausbildung ermöglichen, eine größere Mobilität der Arbeitnehmer in Europa fördern und auf diese Weise Jugendliche für die nautischen Berufe interessieren würden. Wünschenswert wäre ein europäischer "Bildungspass" wie im Falle der Bergbauingenieure; die Sozialpartner sollten zur Entwicklung eines Systems zur Anerkennung von Qualifikationen auf europäischer Ebene beitragen, indem sie z.B. ein Pilotprojekt im Rahmen von ECVET (Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsbildung ) vorschlagen (8). Die Ausbildung der Besatzung und das maritime Fachwissen sind zwei Bereiche, die gleichermaßen von einem europäischen Ansatz profitieren und eine Öffnung des Arbeitsmarkts in der EU ermöglichen würden. In der Vergangenheit hat die nautische Industrie darunter gelitten, dass ihre Berufsbilder in Schulen und Universitäten wenig präsent und bekannt waren, wodurch auch die Kenntnisse über die Karrieremöglichkeiten in dieser Branche eingeschränkt wurden. In mehreren europäischen Ländern gibt es noch nicht einmal spezifische Sozialvereinbarungen für die nautische Industrie, was auch der Attraktivität dieser Branche abträglich ist.

5.8

Die europäische nautische Industrie verwendet seit 15 Jahren die durch die Richtlinie 94/25/EG harmonisierten internationalen ISO-Normen. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die internationalen Standards des Typs ISO als einzige technische Bezugspunkte für Sportboote auf internationaler Ebene gefördert werden, um ein Ausufern nationaler Standards (brasilianischer, chinesischer usw.) zu verhindern, welches eine weitere Fragmentierung der technischen Anforderungen bewirken und damit echte Hürden schaffen könnte.

5.9

Die EU kann und muss ihre nautische Industrie schützen, indem sie bessere und effektive direkte und indirekte Marktaufsichts- und -kontrollmaßnahmen ergreift und den Zugang zu außereuropäischen Märkten für ihre Exporte unterstützt. Beispielsweise sollten die Handelsverhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur eine Gelegenheit sein, gegen protektionistische Maßnahmen und von einigen südamerikanischen Ländern zur Begrenzung des Marktszugangs verhängte übermäßige Zölle vorzugehen.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Mitteilung der Europäischen Kommission: "Eine stärkere europäische Industrie bringt Wachstum und wirtschaftliche Erholung – Aktualisierung der Mitteilung zur Industriepolitik" (COM(2012) 582 final).

(2)  Mitteilung der Kommission "Europa – wichtigstes Reiseziel der Welt: ein neuer politischer Rahmen für den europäischen Tourismus " (COM(2010) 352 final).

(3)  Diese Angaben beruhen auf den Jahresstatistiken der nautischen Industrie: Annual ICOMIA Boating Industry Statistics Book (2007-2012).

(4)  Quelle: European Boating Industry, European Boating Association, Annual ICOMIA Boating Industry Statistics Book.

(5)  Der Europäische Tag der Meere 2013 findet am 21./22. Mai in Malta zum Thema Küstenentwicklung und Meerestourismus mit Unterstützung der Europäischen Kommission (GD MARE) statt.

(6)  Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Sportboote und Wassermotorräder" (COM(2011) 456 final - 2011/0197 (COD)), ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 30.

(7)  Europäisches Parlament, GD Interne Politikbereiche, Fachabteilung A, Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik: "Auslegungskategorien für Wasserfahrzeuge", Informationsvermerk, IP/A/IMCO/NT2012-07, PE 475.122 (Juni 2012): http://www.europarl.europa.eu/committees/en/imco/studiesdownload.html?languageDocument=EN&file=74331.

(8)  Das Europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (European Credit System for Vocational Education and Training/ECVET) ist das neue europäische Instrument zur Förderung von gegenseitigem Vetrauen und Mobilität im Bereich der Aus- und Berufsbildung.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Geschäftsmodelle für nachhaltiges Wachstum, kohlenstoffarme Wirtschaft, industrieller Wandel (Initiativstellungnahme)

2013/C 133/02

Berichterstatter: Joost VAN IERSEL

Ko-Berichterstatter: Enrico GIBELLIERI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Geschäftsmodelle für nachhaltiges Wachstum, kohlenstoffarme Wirtschaft, industrieller Wandel

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 22. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 57 gegen 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Weite Teile der europäischen Industrie leiden unter der Krise. Dennoch sind immer mehr Unternehmen in Europa und weltweit bemüht, sich auf die zahlreichen globalen Herausforderungen wie die Auswirkungen der demografischen Entwicklung und des Klimawandels und insbesondere Emissionsreduktionsziele einzustellen.

1.2

Veränderte Denkweisen bereiten den Boden für neue oder angepasste Geschäftsmodelle. Nachhaltigkeit ist im Rahmen des World Business Council for Sustainable Development (WBCSD), bei Unternehmensinitiativen auf nationaler Ebene und im Zuge der Aufstellung branchenspezifischer Fahrpläne für eine Senkung der Kohlenstoffintensität auf EU-Ebene eine Frage von strategischer Bedeutung. Schwerpunktverlagerungen und Strukturveränderungen in Unternehmen und in internationalen Wertschöpfungsketten bringen neue Geschäftsmodelle hervor.

1.3

Eine wichtige Rolle spielt eine proaktive Verpflichtung der Unternehmensführung auf Nachhaltigkeit, die damit auch die vor- und nachgelagerten Bereiche beeinflusst. Das erforderliche Engagement und die notwendigen Innovationen finden auf allen Ebenen statt und werden durch einen interaktiven Dialog mit Betriebsräten und spezifische Programme in Unternehmen sowie über den sektoralen sozialen Dialog auf nationaler und europäischer Ebene unterstützt.

1.4

Beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft müssen aktuellste Kenntnisse und die Verfügbarkeit hochqualifizierter Arbeitsplätze sichergestellt werden, um weitestmöglich Unstetigkeit oder vorübergehende Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Neben unternehmenseigenen Maßnahmen sollten EU-weite, nationale und regionale Programme aufgelegt werden.

1.5

Neue Perspektiven und Entwicklungen werden die Widerstandsfähigkeit von Unternehmen und Wertschöpfungsketten stärken und Investitionen und Beschäftigung sichern. Eine kohlenstoffarme Wirtschaft erfordert eine ständige abgestimmte Koordinierung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren, u.a. hinsichtlich der Finanzierung. Die staatliche Politik sollte sich Standpunkte und Praktiken aus der Privatwirtschaft zunutze machen und zielorientierte unternehmensgetriebene Ansätze übernehmen, die häufig staatlichen Praktiken gegenüber voraus sind.

1.6

Der Ausschuss fordert die EU und die Mitgliedstaaten auf, zur Unterstützung der Wachstumsinitiative die Bereitstellung bislang ungenutzter oder gar ganz neuer Mittel für die Finanzierung dringender Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Die Kommission sollte FuE und Innovation anregen, indem sie im anstehenden „Horizont 2020“-Rahmenprogramm, dessen Mittelausstattung keinesfalls gekürzt werden darf, die Priorität auf Initiativen zur Förderung einer emissionsarmen Zukunft legt. Sie sollte auch in enger Zusammenarbeit mit europäischen Technologieplattformen und Industriezweigen, die die gesamte Innovationskette umfassen, die Einrichtung operationeller öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) fördern.

1.7

Eine kohärente Vorgehensweise ist wesentlich. Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit eines mit allen Interessenträgern zu erörternden, klar definierten, kohärenten und langfristigen EU-Rahmens, der Vermeidung von Überregulierung, einer engen Verknüpfung von FEI- und Energie-/Klimapolitik sowie einer leistungsfähigen Energieinfrastruktur und wirksamer Speicherkapazitäten. Bewährten Verfahrensweisen und wirksamen, gemeinsam vereinbarten Regelungen ist Rechnung zu tragen. Ein solcher EU-Rahmen wird auch die Akzeptanz seitens der Öffentlichkeit und der unmittelbar Betroffenen stärken.

1.8

Auf die EU entfallen ca. 10 % der weltweiten Klimagasemissionen. Ihr Anteil soll bis 2040/2050 auf 5 % gesenkt werden. Es spricht nichts dagegen, dass die EU in den internationalen Verhandlungen über ein verbindliches Weltklimaübereinkommen eine führende Rolle übernimmt. Der Ausschuss betont allerdings, dass Verzerrungen vermieden werden müssen. Solange es hinsichtlich Emissionssenkungen und CO2-Bepreisung nicht weltweit gleiche Ausgangsbedingungen für alle gibt, müssen Ungleichgewichte zwischen der EU und dem Rest der Welt durch europäische Maßnahmen in globalen Sektoren ausgeglichen werden.

1.9

Den jüngsten Entwicklungen muss Rechnung getragen werden. Der Ausschuss plädiert für eine aktuelle Bewertung der CO2-Reduktionsziele, nachdem eine besorgniserregende Verlagerung von Unternehmenstätigkeiten in Drittländer, insbesondere die USA, mit einer pragmatischen und vorausschauenden Energiepolitik festzustellen ist, die sich verheerend auf die Investitionen und Beschäftigung in Europa auswirkt.

1.10

Eine offene, lernende Gesellschaft benötigt flexible Partizipationsmöglichkeiten, Regeln und Verantwortlichkeiten. Eine neue Innovationskultur, die auf der Partizipation der betroffenen Gruppen aufbaut, muss entwickelt werden. Sie muss auf einem gesellschaftlichen Grundkonsens beruhen. Wichtige Voraussetzungen sind ein umfassendes Verständnis der Herausforderungen und die Einsicht, dass die komplexen globalen Probleme nur durch ein Zusammenwirken von Industrie, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik bewältigt werden können. Alle Interessenträger – Unternehmen und Beschäftigte, NGO, Sozialpartner, Zulieferer und Kunden sowie Verbraucher – sollten einbezogen werden. Transparenz sollte gesichert sein.

1.11

Der Ausschuss fordert, dass die in seiner Stellungnahme hervorgehobenen Lösungsansätze in die neue Industriepolitik und in andere wesentliche Politiken einfließen. Die EU sollte im Bereich Klimapolitik und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in enger Zusammenarbeit mit der Industrie Lösungen erarbeiten, die sowohl die technische Machbarkeit als auch die wirtschaftliche Tragfähigkeit berücksichtigen.

2.   Einleitung

2.1

Technologie und Innovation, globalisierte Finanzmärkte und Handel, kundenorientierte Produkte, dynamische Wertschöpfungsketten und stoffliche Verwertung spielen eine entscheidende Rolle in der heutigen Wirtschaft.

2.2

Gleichzeitig ergeben sich zusätzliche Problemstellungen im Zusammenhang mit der wachsenden Weltbevölkerung, Einkommensverteilung, Rohstoffen, Wasser- und Nahrungsmittelversorgung. Klimawandel, nachhaltige Entwicklung und Energie – in Bezug auf Energieeffizienz, Klimafreundlichkeit, erneuerbare Energieträger und Zugang zu Ressourcen – stehen auf der internationalen Agenda ganz oben. Die neuen Zielsetzungen müssen in Europa in einem von Unsicherheit und Wachstumseinbrüchen gekennzeichneten Klima angegangen werden.

2.3

Die multinationalen Unternehmen, ihre Beschäftigten und ihre vor- und nachgeschalteten Wertschöpfungsketten werden zunehmend von der vielschichtigen Problematik der aktuellen Lage berührt. Die europäischen Wertschöpfungsketten sind im internationalen Wettbewerb immer noch führend, und ihre Stellung muss gesichert werden.

2.4

In dieser Stellungnahme werden jüngste Entwicklungen in den Denkweisen und Einstellungen in Branchen und Unternehmen erörtert, die derzeit den Boden für neue Geschäftsmodelle bereiten. Die enormen Problemstellungen können nur durch staatliche wie auch privatwirtschaftliche Ansätze gelöst werden, die einvernehmlich zugrunde gelegten Analysen, eine abgestimmte Koordination sowie Initiativen zur Förderung von Wachstum und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen umfassen. Öffentliche und private Interessenträger müssen auf dem Weg in die Zukunft partnerschaftlich zusammenarbeiten.

2.5

Allgemein herrscht Einvernehmen darüber, dass die jahrzehntelange Zunahme der CO2-Emissionen den Treibhauseffekt verstärkt und zu einem Anstieg der Durchschnittstemperaturen, merklichen Veränderungen von Klimamustern und weiteren, nicht abschätzbaren Folgen geführt haben, wie einem Anstieg des Meeresspiegels oder ökologischen und ökosystemischen Veränderungen mit (negativer) Auswirkung auf die Landwirtschaft, wodurch wiederum die Lebensmittelpreise unverhältnismäßig ansteigen und Hungersnot und Armut entstehen.

2.6

Die Klimawandelproblematik weitet sich aus (1). Wie vielschichtig auch immer die Lage sein mag, die Erfahrung zeigt, dass es unverzichtbar ist, in den Bereichen CO2-Emissionsminderung und Fahrpläne für eine Senkung der Kohlenstoffintensität auf globaler Ebene vorzugehen.

2.7

Mittlerweile sind trotz eines fehlenden stabilen langfristigen Rahmens viele Unternehmen bemüht, ihre vor- und nachgelagerten Märkte umfassende nachhaltige Geschäftsstrategien zu entwickeln und nachhaltigere, weniger kohlenstoffintensive Erzeugnisse und Dienste zu produzieren. Auch Umstrukturierungs-, Optimierungs- und Anpassungsmaßnahmen bewirken tiefgreifende Veränderungen. Globale Lösungen müssen bei kohlenstoffarmer Technologie und Innovation ansetzen.

2.8

Die Wertschöpfungsketten sind nach wie vor ein wichtiger sozioökonomischer Aktivposten. Nachhaltige Produktion setzt Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, neue Kompetenzen und hochwertige Arbeitsplätze voraus. Schlüsseltechnologien wie Bio- und Nanotechnologie und neue Werkstoffe werden umso mehr benötigt, als die rasch sinkenden Kosten für Kommunikation und Koordination die geographische Verteilung von verschiedenen Tätigkeiten innerhalb einer Wertschöpfungskette erleichtern. Auch wenn die Kosten nicht linear sinken, bewirkt dies häufig eine Verlagerung von arbeitsintensiven und digitalen Arbeitsabläufen.

2.9

Immer mehr Unternehmen gelangen zu der Einsicht, dass der bereits in den 90er Jahren formulierte und erneut aktuelle Ansatz „People, Planet, Profit“, d.h. das magische Dreieck der Nachhaltigkeit, als Leitbild dienen sollte, trotz der häufig damit verbundenen Komplikationen und konkurrierenden Ziele. Daraus sollte ein unternehmensgetriebenes wirtschaftliches, soziales und ökologisches Konzept als Antwort auf die aktuellen globalen Ansichten, Entwicklungen und Indikatoren entstehen.

2.10

Ein zielorientierter unternehmensgetriebener Ansatz, wie er in einigen europäischen Ländern erkennbar ist, wird die Position von in Europa ansässigen Unternehmen stärken. Damit bietet sich ein zukunftsfähiges strategisches Konzept, auf das sich Geschäftsführer, Verwaltungsräte, Beschäftigte, Zulieferer, Kunden, Sozialpartner und andere Interessenträger festlegen.

3.   Analytische Bemerkungen

3.1

Die bisherige Vorherrschaft der westlichen Welt wird allmählich durch ein polyzentrisches System mit verschiedenen Gravitationszentren abgelöst. Bindeglied zwischen den verschiedenen Gravitationszentren sind häufig multinationale Unternehmen. Die Entwicklung der Weltwirtschaft ist fortwährend verschiedenen (verzerrenden) politischen und wirtschaftlichen Impulsen ausgesetzt.

3.2

Auch die Klimaschutz- und Energieziele üben Einfluss aus. Die Vereinten Nationen, die OECD und die EU, aber auch die Privatwirtschaft erstellen Analysen und konzipieren ratsame Politiken, um auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren. Es ist nun an Kommission und Rat, bei der Agendasetzung, der Festlegung der Spielregeln und der Schaffung investitions- und innovationsfreundlicher Rahmenbedingungen eine führende Rolle zu übernehmen.

3.3

Der 1999 eingeführte Dow Jones Nachhaltigkeits-Index und die „Global Reporting Initiative“ sowie ein breit gefächertes Spektrum an Akteuren, darunter führende Unternehmen und ihre Beschäftigten, Sozialpartner und alle Arten von NGO, fördern Nachhaltigkeitsbewusstsein. Der Weltwirtschaftsrat für Nachhaltige Entwicklung (WBCSD) in Genf ist ein aktives Unternehmensnetzwerk, das in den globalen Klimaschutzverhandlungen die Wirtschaftsinteressen formuliert. Der WBCSD ist ferner führendes Forum für die Entwicklung neuer Unternehmensstrategien und fördert vielschichtige gemeinsame Projekte von Unternehmen. Zu seinen wichtigsten Initiativen zählen „Vision 2050“ aus dem Jahr 2010 und das 2012 darauf folgende Diskussionspapier „Changing Pace“, in dem der Beitrag von Regelungsmaßnahmen zur Förderung der guten Unternehmenspraxis erläutert wird (2).

3.4

In „Changing Pace“ wird argumentiert, dass die Regierungen eine klare Prioritätenrangfolge und die erforderlichen Regeln festlegen müssen, um diese Prioritäten bestmöglich in Wachstums- und Kaufkraftziele umzusetzen und zu verwirklichen. Dem Diskussionspapier zufolge ist es Sinn und Zweck von Unternehmen, immer bessere, erschwingliche und nachhaltige Güter und Dienste für immer mehr Menschen bereitzustellen und dabei Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Wert zu schaffen (3).

3.5

Zunächst werden mittel- und langfristige globale Megatrends, die öffentlichen Maßnahmen und ihre Ziele erläutert und danach die politischen Optionen aus Sicht der Unternehmen beleuchtet. Das Kapitel über die menschlichen Wertvorstellungen geht explizit auf verantwortungsvolle Bürger und Verbraucher ein.

3.6

Die allgemein anerkannten Analysen und die von Regierungen tatsächlich verwirklichten Zielvorgaben klaffen auseinander. Die europäische Wirtschaft scheint von der Krise überfordert zu werden: Viele Unternehmen müssen ihre Produktionskapazität an die sinkende Nachfrage in der westlichen Welt und offenbar auch in China und Indien anpassen.

3.7

Die EU hat durch die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls und die Umsetzung einschlägiger Rechtsvorschriften eine führende Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Förderung von Energieeffizienz übernommen. Andere globale Akteure haben währenddessen bislang weder vergleichbare Grundsätze angenommen noch verbindliche Rechtsvorschriften festgelegt. Diese unausgewogene und unbefriedigende Situation besteht weiter, ungeachtet der jüngsten UN-Konferenzen. Für die Industrie in der EU bedeutet dies einen Mangel an Klarheit, der unter den Arbeitnehmern der betroffenen Unternehmen für Verunsicherung und Unruhe sorgt. Ein gut koordinierter und ausgewogener Ansatz mitsamt einer zwischen öffentlichen und privaten Akteuren abgestimmten Vorgehensweise sind unerlässlich.

3.8

Die Unternehmen ergreifen derzeit Rationalisierungsmaßnahmen. Obwohl Technologie, Innovation und starke Wertschöpfungsketten gute Ergebnisse ermöglichen, leiden die Unternehmen und die Beschäftigungslage unter negativen Auswirkungen. In ganz Europa bewegen sich die Arbeitslosenzahlen auf historischen Höchstständen, und die Jugendarbeitslosigkeit ist nahezu überall besorgniserregend. Neue Perspektiven tun dringend Not.

3.9

Die europäische Arbeitsmarktkrise trübt die Aussichten für eine ehrgeizige Klimaschutzpolitik. Die umfangreichen Entlassungen in Unternehmen und der eingeschränkte oder ganz unmögliche Zugang junger Menschen zum Arbeitsmarkt untergraben den Transfer von Wissen und Kompetenzen, die für die Umstellung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft unverzichtbar sind.

3.10

Doch entstehen durch eine allgemeine Sensibilisierung für den Klimawandel und andere Problemstellungen auch neue Chancen. Europäische Unternehmen übernehmen diese Agenda schrittweise in ihre Strategien und sind bemüht, sich dadurch Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Eine vergleichbare Entwicklung zeichnet sich auch in führenden Unternehmen in den USA, in Japan und sogar in Schwellenländern wie China ab. In vielen europäischen Unternehmen herrscht von der Geschäftsleitung bis zum Fertigungsbereich die Überzeugung, dass sich derartige Anpassungen letztendlich lohnen und so allen Beteiligten zum Vorteil gereichen werden. Die interessantesten Ergebnisse sind mit ökoeffektiven Lösungen („Cradle to Cradle“-Konzept) und mit der Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft, in der wertvolle Ressourcen und Stoffe wiederverwertet werden, erzielt worden.

3.11

Der Ausschuss betont schlussendlich, dass eine wirksame Koordinierung von Analysen, Standpunkten und Agendasetzungen von öffentlichen und privaten Interessenträgern unbedingt erforderlich ist, und zwar auf mehreren Ebenen – international, europäisch, national und regional –, um einerseits die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu sichern und andererseits Nachhaltigkeit und soziale Innovation zu gewährleisten. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei der Technologie und der Innovationsförderung sowie der Sicherstellung fortschrittlichster Fach-, Sach- und Managementkompetenz zu.

4.   Unternehmensinitiativen und -praktiken

4.1

In immer mehr Unternehmen werden Nachhaltigkeitsziele als Teil ihrer Unternehmenskultur, ihrer CSR-Strategien und ihres Risikomanagements verankert. So wie sich auf globaler Ebene verschiedene führende Unternehmen die Grundsätze von „Changing Pace“ (4) zueigen gemacht haben, werden in Europa vergleichbare Initiativen auf Branchen- und Unternehmensebene ergriffen.

4.2

Diese Entwicklung geht in den verschiedenen Branchen und Unternehmen unterschiedlich schnell vonstatten. Eine Umorientierung hin zu neuen Zielen erfordert Zeit und umfangreiche Anstrengungen, vor allem in Zeiten schwachen Wachstums. Auch allgemeine gesellschaftliche Trends, die von NGO und kritischen Verbrauchern zum Ausdruck gebracht werden, tragen zur Entwicklung von neuen Ansätzen und Methoden bei.

4.3

Diese Entwicklung wird in Studien von der Kommission und Sachverständigen bestätigt. Die Schlussfolgerung eines Berichts aus dem Jahr 2011 lautet sinngemäß: „Die Umweltleistung der EU-Industrie zeichnet sich durch erhebliche Fortschritte bei der Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltauswirkungen in den vergangenen zwanzig Jahren aus, wobei mehr Nachhaltigkeit und eine bessere Ressourceneffizienz der Unternehmen dabei eine wichtige Rolle spielen (5).

4.4

Mit Blick auf die Sicherung der Widerstandsfähigkeit ihrer Unternehmen in der Zukunft machen Geschäftsführer und Vorstände diese Neuausrichtung häufig zu ihrem eigenen Anliegen und übernehmen unmittelbare Verantwortung dafür, was strukturiertere und zielorientiertere Entwicklungsprozesse innerhalb der Unternehmen gewährleistet. Im WBCSD-Netzwerk ist diese Art persönliches Engagement an der Tagesordnung. Unternehmen in verschiedenen Ländern nehmen sich ein Beispiel daran. Die Verknüpfung zwischen Geschäftstätigkeit und Nachhaltigkeit tritt immer deutlicher zutage und wird stetig greifbarer.

4.5

Europäische Unternehmen ergreifen viele Initiativen, um Umweltziele und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit miteinander zu vereinbaren. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang in Nordeuropa, hat an Momentum gewonnen und erfasst mittlerweile den ganzen Kontinent. Die Ziele einzelner Unternehmen werden in Grundsatzerklärungen, in Vorhaben und in der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, NGO, Sozialpartnern und anderen Interessenträgern zum Ausdruck gebracht. Beispiele für Organisationen auf einzelstaatlicher Ebene:

der 1993 in Deutschland gegründete Ulmer Initiativkreis Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung e.V.;

Das französische Mitglied im WBCSD, der Unternehmensverband Entreprises pour l’Environnement in Frankreich, dem 40 Großunternehmen angehören; ferner eine Initiative der Arbeitgeberorganisation Mouvement des Entreprises de France (MEDEF), in deren Rahmen sich 250 Unternehmen auf Rio+20-Ziele verpflichten;

Eine Gruppe britischer Unternehmen arbeitet in vergleichbarer Weise im Rahmen des „Accounting for sustainability community“-Projekts des Prince of Wales an der Aufstellung von Nachhaltigkeitsbilanzen;

In der 2012 gegründeten Dutch Sustainable Growth Coalition arbeiten im Rahmen der Arbeitgeberorganisation VNO-NCW sieben führende Unternehmen aus verschiedenen Bereichen zusammen. Sie entwickeln Ziele, Verfahren und Methoden für langfristiges nachhaltiges Wachstum unter Einbeziehung der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette;

der Verband UK Sustainable Investment and Finance Association hat jüngst eine Initiative aufgelegt, in der er Unternehmen und Besitzer von Vermögenswerten zu langfristigen Investitionen aufruft. Das Banking Environment Initiative Forum 2012 der Umweltinitiative der Banken (BEI), die erste Jahreskonferenz für globale Banken und Unternehmen, die nachhaltige Investitionen fördern, fand im November 2012 in London statt.

4.6

Die gewählten Herangehensweisen unterscheiden sich noch erheblich, was mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand und dem Grad der Verflechtung der nationalen Volkswirtschaft und FuE mit Entwicklungen jenseits der nationalen und europäischen Grenzen zu tun hat. In absehbarer Zukunft jedoch werden Unternehmen europaweit in ein und demselben globalen Umfeld tätig sein, was vergleichbare Denkweisen und Konzepte erfordert. In den Bereichen Unternehmensführung sowie allgemeine und berufliche Bildung müssen entsprechend Vorbereitungen getroffen werden.

4.7

Einige Gemeinsamkeiten lassen sich festmachen:

internationale politische Verhandlungen bringen aufgrund unterschiedlicher Standpunkte, Strategien und sozioökonomischer Zwänge bislang zwar kaum greifbare Ergebnisse, in Unternehmenskreisen besonders der westlichen Welt hat aber ein Umdenken eingesetzt;

in letzter Zeit zeichnet sich der Trend ab, dass sich die Unternehmensführung zu Nachhaltigkeit bekennt und engagiert eine zielorientiertere Herangehensweise fördert. In unternehmensinternen Diskussionen und Verfahren wird der Schwerpunkt verstärkt auf Nachhaltigkeit gesetzt. Damit wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, das künftige Geschäftsmodelle, Berufsbildungs- und Karriereplanung und die Denkweisen der Unternehmensmitarbeiter beeinflussen wird;

es gibt eine Umorientierung auf eher langfristige Strategien, wobei jedoch wirksame kurzfristige Lösungen weiterverfolgt werden;

Zulieferer und Kunden werden häufig einbezogen;

neben den traditionellen Dialogpartnern wie die Beschäftigten und Sozialpartner werden zunehmend NGO konsultiert und die Ansichten der Kunden stärker berücksichtigt;

das Augenmerk gilt verstärkt der beruflichen Aus- und Fortbildung sowie der Hochschul- und Business School-Bildung. Junge Arbeitnehmer begrüßen diese Umorientierung, die ihnen letztlich den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert;

diese Trends müssen vor dem Hintergrund der öffentlichen Zielsetzungen für Nachhaltigkeit und europäische Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden.

5.   Nachhaltige Strategien zur Senkung der Kohlenstoffintensität

5.1

Strategien zur Senkung der Kohlenstoffintensität sind wichtig, um nachhaltiges Wachstum zu fördern. Sie sind mit der EU-Industriepolitik verknüpft.

5.2

Die europäische Industrie muss im Zusammenhang mit CO2-Emissionen, erneuerbaren Energieträgern und Energieeffizienz derzeit auf europäischer, nationaler und sogar lokaler Ebene eine breite und komplizierte Palette an Zielvorgaben und Instrumenten berücksichtigen. Diese Zielvorgaben und Instrumente sind teilweise widersprüchlich, überschneiden sich und sind unzureichend koordiniert. Im Interesse von Wirksamkeit und Kosteneffizienz benötigen die Unternehmen einfachere, berechenbare und stärker integrierte politische Maßnahmen.

5.3

Die Entwicklung hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ist vor allem durch die Bemühungen vorangetrieben worden, die durch die Öl- und Energiepreissteigerungen bedingten Kosten zu senken, also schon vor dem Aufkommen der Umweltschutzkultur, die ihren Ursprung in den realen oder erwarteten Folgen des durch Treibhausgase verursachten Klimawandels hat.

5.4

Nach Meinung des Ausschusses sollte ein in den Mitgliedstaaten konsequent angewandter, kohärenter und konsistenter Rahmen für eine sicherere, wettbewerbsfähige und kohlenstoffarme Energieversorgung auf vier Säulen beruhen:

einer zusammenhängenden Energie- und Klimaschutzpolitik für die Sektoren, die in einem auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Emissionshandelssystem (ETS) erfasst sind;

Nutzung des potenziellen Beitrags von nicht im EU-ETS erfassten Sektoren;

eine engere Verknüpfung zwischen FuE und Innovation auf der einen und der Energie- und Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite;

eine Energieinfrastruktur sowie Regelwerke, die effizienten Energietransport, eine intelligente Nutzung der Energienetze, modernste Speichertechnik und flexible Nachfragesteuerung ermöglichen.

5.5

Das EU-ETS wird das wichtigste politische Instrument der EU sein, um Emissionssenkungs-Zielvorgaben auf harmonisierte und kosteneffiziente Weise umzusetzen. Seine Anwendung sollte marktgestützt erfolgen. Der Ausschuss verweist auf drei kritische, noch ungelöste Fragen:

das ETS sollte den Unternehmen langfristige Investitionssicherheit bieten, was bislang noch nicht der Fall ist;

eine kostspielige und schädliche Überregulierung in Europa muss vermieden und eine abgestimmte Koordinierung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren gefördert werden;

das ETS sollte Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Branchen berücksichtigen. Dieser Aspekt wird mit ehrgeizigeren Zielen noch kritischer werden, zumal wenn andere globale Player nicht bereit oder nicht in der Lage sind, Nachhaltigkeitsziele zur Senkung der Kohlenstoffintensität aufzustellen oder umzusetzen. Europäische Alleingänge, die Investitionen und Beschäftigung in globalen Sektoren abträglich sind, müssen vermieden werden.

5.6

Außerdem herrscht allgemein Einvernehmen darin, dass die öffentliche Infrastruktur, d.h. das europäische Energieversorgungsnetz, umfangreiche Vorleistungen erfordert. Es ist grundlegend wichtig, dass sich öffentliche Interessenträger bereit erklären, Anfangsinvestitionen bereitzustellen, um das Vertrauen der privatwirtschaftlichen Investoren zu stärken. Hiermit sollte sich der Rat im Rahmen der EU-Wachstumsinitiative befassen.

5.7

Dies dürfte dann auch der Verlagerung bestimmter industrieller Tätigkeiten aus Europa in andere Regionen entgegenwirken, die zu beobachten ist, obwohl bei der Aufstellung und Durchführung der Klimastrategie bis 2020 die Gefahr der Verlagerung von CO2-Emissionen (carbon leakage) berücksichtigt worden ist.

5.8

Vorschläge für eine Verbesserung des Aufbaus des ETS sollten die in Ziffern 5.4 und 5.5 angesprochenen Fragen aufgreifen. Die aktuelle Debatte über die Anpassung des EU-ETS geht an diesen Fragen oder an einem möglichen Umbau des Emissionshandelssystems vorbei. Eine Anpassung der Leitlinien sollte ab 2020 für einen stabilen Kohlenstoffpreis sorgen, so dass die Marktteilnehmer langfristige Investitionen in kohlenstoffarme Lösungen planen können sollten. Durch konzeptionelle Verbesserungen des ETS könnten kurzfristig erforderliche politische Eingriffe vermieden werden.

5.9

Eine Verbesserung des ETS-Konzepts ist auch erforderlich, um die Akzeptanz seitens der Öffentlichkeit und der Beschäftigten zu erhöhen. Es ist davon auszugehen, dass einige „traditionelle“ Arbeitsplätze rasch verschwinden werden, indes ist die Ersetzung durch Arbeitsplätze in „grünen“, weniger kohlenstoffintensiven Sektoren noch nicht richtig in Gang gekommen. Der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft wird in den traditionellen Bereichen industrieller Produktion aufgrund der damit einhergehenden höchst abrupten Veränderungen häufig als Bedrohung empfunden. Der soziale Dialog muss auf mehreren Ebenen geführt werden, um für Transparenz zu sorgen und die Akzeptanz seitens der Betroffenen zu fördern, und auch um Ausbildungs- und Umschulungsprogramme für alle Arbeitnehmer zur Anpassung ihrer Qualifikationen an die neuen Arbeitsmarkterfordernisse aufzulegen.

5.10

Am wichtigsten ist eine neue FEI-Politik, die auf Wertschöpfung in komplexen (internationalen) Wertschöpfungsketten in der Perspektive einer kohlenstoffarmen Wirtschaft abhebt. Die aktuelle technologische Ausrichtung muss verbreitert werden. Der Klimawandel, die sich abzeichnende Verknappung strategischer Ressourcen und dadurch absehbare Preissteigerungen bewirken ein Umdenken im Energie- und Rohstoffsektor. Auch müssen Aufholprozesse in den Schwellen- und Entwicklungsländern sowie Technologietransfer bedacht werden. Die Nachfrage nach Ressourcen steigt, während der Umbau der Energiesysteme und die Verbesserung der Ressourceneffizienz mit Risiken und sehr hohen Kosten verbunden sind. Ein Erfolg hängt auch von verschiedenen, eng miteinander verzahnten Industriebereichen und Kompetenzfeldern ab. All diese Aspekte machen es erforderlich, dass die EU technologisch einen koordinierten Weg einschlägt (6) und durch konsequente politische Entscheidungen untermauert.

5.11

Integrierte Ansätze zielen darauf ab, die Ökobilanz über die Produktion hinaus unter Einbeziehung des gesamten Lebenszyklus wie Konzeption, Rohstoffgewinnung, Verteilung, Montage und Entsorgung zu verbessern. Eine integrierte Produktpolitik muss zwischen den öffentlichen und privaten Akteuren ausgehandelt werden. Sie muss genau definiert werden, um eine Überregulierung zu vermeiden. In Frage kommen in diesem Zusammenhang ggf. Vereinbarungen zwischen Herstellern und Regierungen bzw. EU über Umweltkennzeichnung, Energieverbrauchsangaben, Ökodesign, Verbote von Stoffen und Erfassung des ökologischen Fußabdrucks in der Produktkennzeichnung. Um wirksam zu sein, sollten Produktkennzeichnungen angemessene und korrekte Verbraucherinformationen enthalten und auch den Vorgaben der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken entsprechen, die umfassend umgesetzt werden sollte.

5.12

Ferner sind umfangreiche Ausgaben für Grundlagen- und angewandte FuE notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels einer sicheren, global wettbewerbsfähigen, erschwinglichen und effizienten Energieversorgung Europas, das durch eine effiziente Energieinfrastruktur und ein geeignetes Regelwerk abgesichert wird (7).

5.13

Sektorübergreifende systemische Innovationen und integrierte Wertschöpfungsketten sind wichtig für Unternehmen, da die fossil basierten weltweiten Energiesysteme langfristig dekarbonisiert werden müssen und die Ressourcenverknappung eine ressourceneffiziente Wirtschaftsweise erforderlich macht. Nachhaltigkeit setzt sich Schritt für Schritt auf allen Märkten durch und führt dazu, dass traditionelle Sektorgrenzen verwischt werden und neue Wertschöpfungsketten entstehen.

5.14

Die aktuelle Debatte spornt auch zu einer wachsenden Zahl von Bottom-up-Initiativen in Unternehmen an. Großunternehmen wie auch KMU entwickeln die ganze Wertschöpfungskette umfassende kohlenstoffarme Geschäftsstrategien und –modelle. Die vorausschauende Vorwegnahme des zukünftigen Energiebedarfs wird sich als Wettbewerbsvorteil niederschlagen. Dies erfordert geeignete Rechtsvorschriften. Die interne Entwicklung innovativer Ideen und Verfahren in Produktion und Organisation ist in vielen Unternehmen – von der Geschäftsleitung bis zum Fertigungsbereich – mittlerweile gängige Praxis.

5.15

Beispiele:

5.15.1

Im Gebäudebereich, auf den ein erheblicher Teil des Endenergieverbrauchs entfällt, kann der Verbrauch fossiler Energieträger umfassend und gleichzeitig kostenwirksam verringert werden, indem die Energieleistung bestehender und neuer Gebäude durch u.a. verbesserte Isolierung und Heizsysteme optimiert wird. Zu nennen wären auch Energietransport-Infrastrukturvorhaben von Unternehmen und Kommunen und der Transport von dezentral erzeugter nachhaltiger Energie. Auf diese Aspekte und ihren spezifischen Kontext geht der Ausschuss in einer separaten Stellungnahme ein (8).

5.15.2

Der Verband der europäischen Kohlenindustrie (EURACOAL) schlägt eine dreistufige Saubere-Kohle-Strategie vor, die am Energiefahrplan 2050 ansetzt und auf modernste Kohlekraftwerke und dadurch Emissionssenkung, die Entwicklung hocheffizienter, flexibler Technologien der nächsten Generation, Demonstration und Einsatz von Technologien für die Abscheidung, den Transport und die Speicherung von CO2 (CCS) und CCS für andere Brennstoffe und Branchen abhebt. Die Exportmöglichkeiten für Saubere-Kohle-Technologien aus der EU sind ausbaufähig.

5.15.3

Die forstbasierte Industrie, die erneuerbare Rohstoffe verarbeitet und naturgemäß erneuerbare Energieträger nutzt, ist sehr proaktiv. Ein sektorspezifisches Maßnahmenpaket einschl. FuE ist notwendig, um bahnbrechenden Technologien und neue Produkten zu Markterfolg zu verhelfen. Es muss ein gesundes Verhältnis zwischen Rohstoffen und der energetischen Nutzung von Rohstoffen gefunden werden. In den Strategien müssen die weltweiten Entwicklungen, andere Politikbereiche und die Investitionszyklen der Branchen berücksichtigt werden.

5.15.4

Es gibt bereits bereichsübergreifende Initiativen. Öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) wie SPIRE (Sustainable Process Industry through Resource and Energy Efficiency) und EMIRI (Energy Materials Industrial Research Initiative) sollten unter dem „Horizont 2020“-Rahmenprogramm prioritär und angemessen gefördert werden.

5.16

Derzeit arbeiten in der EU zahlreiche andere Branchen an der Aufstellung langfristiger Fahrpläne zur Senkung der Kohlenstoffintensität.

5.17

Teil der Lösung und ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ist der Umstieg Europas auf eine Bioökonomie. Verschiedene Unternehmen entwickeln neue biobasierte Produkte und Lösungen, die den wachsenden Ansprüchen und Anforderungen gerecht werden.

6.   EU, Regierungen, Interessenträger

6.1

All diese Entwicklungen müssen durch geeignete technologische, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen flankiert und untermauert werden. Diese umfassen zielorientierte Forschungs- und Investitionsprogramme in Unternehmen und einen fein-abgestimmten Dialog auf Sektor- und Unternehmensebene mit EU- und nationalen Behörden und relevanten Interessenträgern.

6.2

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten zur Unterstützung der Wachstumsinitiative die Bereitstellung bislang ungenutzter oder gar ganz neuer Mittel für die Finanzierung dringender Maßnahmen in Betracht ziehen. Das 7. und 8. Forschungsrahmenprogramm sollten bahnbrechende Technologien und innovative Vorhaben fördern. Die EIB sollte auch eine unterstützende Rolle übernehmen. Der Ausschuss empfiehlt ferner, Steuervergünstigungen als mögliches Instrument in diesem Kontext in Betracht zu ziehen.

6.3

Die zumeist von der Industrie getragenen EU-Technologieplattformen bieten ein Forum für Unternehmen, Forschungsinstitute, Wissenschaft und auch den öffentlichen Sektor zum Austausch über zukunftsorientierte Entwicklungen (9). Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Analyse von globalen Entwicklungen und Erwartungen sowie bei der gemeinsamen Festlegung von Ziel- und Zeitvorgaben.

6.4

Die Festlegung von Marktzielen erfordert die gemeinsame Beratung und Prüfung mit Zulieferern und Kunden sowie mit Interessenträgern wie Sozialpartnern, NGO, Regionalbehörden und Verbrauchern. Rechtsetzung und Regulierung sind die Zuständigkeit der EU und Mitgliedstaaten, sollten aber niemals Einbahnstraße sein, sondern realisierbare Fahrpläne und laufende Entwicklungen und Planungen in führenden Unternehmen berücksichtigen (10). Dazu ist ein ständiger Austausch von Analysen und Meinungsbildern zwischen öffentlichem und privatem Sektor erforderlich.

6.5

Im Mittelpunkt der politischen Diskussion stehen häufig vor allem Top-down-Initiativen der EU (oder der Mitgliedstaaten) in den Bereichen Klimaschutz, demografische Entwicklung, Gesundheit, Nahrungsmittel, Wasser usw., ohne dass die Entwicklungen in den Unternehmen berücksichtigt würden. Der Ausschuss fordert die Einbeziehung von einschlägigen Analysen und Lösungskonzepten der Privatwirtschaft. Um die wesentlichen Probleme bewältigen zu können, sind vor allem privatwirtschaftliche Investitionen und qualifizierte Arbeitskräfte erforderlich.

6.6

Im Rahmen der Neuausrichtung müssen in den Unternehmen auch soziale Zielsetzungen, die das Engagement der Beschäftigten sichern, festgelegt werden. Die EU und die Mitgliedstaaten sollten im Rahmen des sektoralen und sektorübergreifenden sozialen Dialogs Maßnahmen für eine sozialverträgliche Bewerkstelligung des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft fördern und durchführen. Neben der Schwerpunktsetzung auf die auf dem Arbeitsmarkt (11) benötigten Kompetenzen muss auch der quantitativen und der zeitlichen Komponente Rechnung getragen werden.

6.7

Das gemeinsame Engagement von Regierungen/Verwaltungen, Unternehmen, Beschäftigten und Arbeitnehmervertretern zur Überwindung der historisch hohen Arbeitslosigkeit kann in aktualisierten Lehrplänen, in Schul- und Berufsbildungsprogrammen und in Lehrverträgen zum Ausdruck gebracht werden.

6.8

Eine wichtige und womöglich entscheidende Voraussetzung ist die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen weltweit, bspw. durch globale Normen und Zertifizierung, transparente Rechtsetzung, symmetrischen Marktzugang, Schutz geistigen Eigentums und vergleichbaren Verbraucherschutz. Auch sollten die grundlegenden Arbeitsrechte gewahrt werden. Nach Meinung des Ausschusses sollte diesen Aspekten im Rahmen der europäischen Handelspolitik Rechnung getragen werden (12).

6.9

Der Ausschuss ist der Meinung, dass alle Akteure sich vergegenwärtigen sollten, welche Anforderungen und Verfahrensweisen sich Unternehmen und Unternehmensgruppen selbst auferlegt haben, da die Umsetzung neu festgelegter Ziele und die fristgerechte Verwirklichung wünschenswerter Ergebnisse zu einer sehr großen Belastung werden können.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe einschlägige Berichte des Weltklimarats (IPCC)

http://www.ipcc.ch/publications_and_data/publications_and_data_reports.shtml

(2)  Changing Pace, Public policy options to scale and accelerate business action towards Vision 2050, 2012.

http://www.wbcsd.org/changingpace.aspx

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  Siehe Fußnoten 1, 2 und 3. Der WBCSD hat 200 Mitglieder. Ca. die Hälfte davon sind europäische Unternehmen.

(5)  Siehe die Broschüre der Europäischen Kommission „Sustainable Industry: Going for Growth & Resource Efficiency“ (Eine nachhaltige Industrie für ressourceneffizientes Wachstum und Arbeitsplätze, nur in EN) von Juli 2011. Siehe auch die „Study on the Competitiveness of European Companies and Resource Efficiency“ (Studie zur Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen und zur Ressourceneffizienz, nur in EN) von Juli 2011 und die „Study on the Competitiveness of the EU eco-industry“ (Studie zur Wettbewerbsfähigkeit der EU-Ökoindustrie, nur in EN) von September 2009.

(6)  Allem voran durch das 8. Forschungsrahmenprogramm.

(7)  Siehe Ziffer 5.4, vierter Spiegelstrich.

(8)  Dossier CCMI/106, Stellungnahme zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Strategie für die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit des Baugewerbes und seiner Unternehmen“.

(9)  Siehe u.a. die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Europäische Technologieplattformen (ETP) und industrieller Wandel“, ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 12.

(10)  Siehe u.a. die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Der industrielle Wandel und die Entwicklung nachhaltiger energieintensiver Industrien in Anbetracht des Ziels der Ressourcenschonung in der Europa-2020-Strategie“, ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 1; die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Förderung nachhaltiger grüner Arbeitsplätze für das Energie- und Klimapaket der EU“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 110; sowie die Stellungnahme des EWSA zum „Energieeffizienzplan 2011“, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 155.

(11)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zu der Leitinitiative im Rahmen der Europa-2020-Strategie: Stellungnahme zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten: Europas Beitrag zur Vollbeschäftigung“ (COM(2010) 682 final), ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 142.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Auswärtige Dimension der EU-Industriepolitik: Trägt die EU-Handelspolitik den Interessen der europäischen Industrie gebührend Rechnung?“, ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 25.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Handelsbeziehungen zwischen großen Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln — aktueller Stand (Initiativstellungnahme)

2013/C 133/03

Berichterstatter: Igor ŠARMÍR

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 12. Juli 2012 gemäß Artikel 29 A der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Handelsbeziehungen zwischen großen Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln – aktueller Stand.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 9. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 79 gegen 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA stellt fest, dass die großen Einzelhandelsunternehmen in allen Ländern ein Oligopol bilden. Den Statistiken über die Marktanteile zufolge beherrschen eine Handvoll großer Einzelhandelsunternehmen überall den Großteil des Marktes. Nach Auffassung des EWSA verleiht diese Stellung den oligopolistischen Unternehmen eine enorme Verhandlungsmacht gegenüber den Lieferanten, denen sie Handelsbedingungen auferlegen können, die alles andere als ausgewogen sind.

1.2

Der EWSA stellt fest, dass die Einzelhandelsketten, die das Oligopol bilden, lediglich in Bezug auf die Verbraucher miteinander im Wettbewerb stehen. Sie kämpfen gegeneinander zwar um ihre Kunden, in Bezug auf die Lieferanten ist jedoch kaum ein Wettbewerbsdruck spürbar. Indessen konkurrieren die Einzelhandelsketten um ihre Kunden insbesondere in Bezug auf den Verbraucherendpreis; sozioökologische Aspekte der Gesamtqualität kommen bei diesem Wettbewerb nicht ausreichend zum Tragen (1).

1.3

Der EWSA stellt fest, dass die Preis- und Margengestaltung der verschiedenen Akteure sehr undurchsichtig ist. Aufgrund der außerhalb der Rechnung gewährten Rabatte der Großhandelsunternehmen spiegelt der dem Lieferanten gezahlte Einkaufspreis nicht den realen Ertrag wieder, den der Lieferant mit dem entsprechenden Produkt erzielt.

1.4

Der EWSA ist überzeugt, dass in einer Situation, in der eine Vertragspartei ihren Handelspartnern ihre Bedingungen aufzwingen kann, keine Vertragsfreiheit besteht. Dass es sich um keine echte Vertragsfreiheit handelt, ist nach Auffassung des EWSA an den missbräuchlichen und wettbewerbsschädigenden Praktiken ersichtlich, die die großen Einzelhandelsunternehmen gegenüber ihren Lebensmittellieferanten verfolgen. Die missbräuchlichen Praktiken haben nicht nur negative Folgen für die Hersteller, sondern auch für die Verbraucher (insbesondere langfristig). Allgemein schadet das derzeitige Ausmaß der missbräuchlichen Praktiken dem öffentlichen Interesse, und insbesondere dem wirtschaftlichen Interesse der Mitgliedstaaten.

1.5

Nach Auffassung des EWSA kommt es zu besonders besorgniserregenden missbräuchlichen Praktiken nur im Rahmen der Beziehungen zwischen dem großen Einzelhandel und den Lebensmittellieferanten. Sie werden weder von der Lebensmittelindustrie gegenüber den Landwirten angewandt, noch vom großen Einzelhandel gegenüber den Lieferanten anderer Waren als Lebensmittel.

1.6

Der EWSA stellt fest, dass in einigen Mitgliedstaaten die Versuche von Landwirten und Verarbeitungsunternehmen zur Bildung von Erzeugergruppierungen von den nationalen Wettbewerbsbehörden bestraft wurden, da bei der Bewertung des Gewichts dieser Gruppierungen lediglich die inländische Produktion berücksichtigt wurde.

1.7

Der EWSA stellt das Scheitern des Marktes fest, da sich die Lage in einem System, das unzureichend reguliert ist, immer weiter verschlechtert.

1.8

Nach Auffassung des EWSA bietet die Selbstregulierung keine ausreichende Abhilfe gegen die festgestellten Wettbewerbsverzerrungen. Die Verhaltenskodizes werden die Handelsbeziehungen nicht in ein neues Gleichgewicht bringen. Angesichts des Wesens der missbräuchlichen Praktiken ist deren gesetzliches Verbot erforderlich und gerechtfertigt.

1.9

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, sich mit der Frage der Oligopole auseinanderzusetzen, deren tatsächliches Gewicht und Einfluss zu beleuchten, zu ermitteln, inwieweit ihre Auswirkungen mit jenen der Monopole verglichen werden können, und anschließend die Grundsätze der Wettbewerbsvorschriften angemessen zu ändern.

1.10

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, ebenfalls anzuerkennen, dass es in den Beziehungen zwischen dem großen Einzelhandel und den Lebensmittellieferanten keine Vertragsfreiheit gibt.

1.11

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Lösungen für ein transparenteres System vorzuschlagen. Idealerweise sollten die außerhalb der Rechnung gewährten Rabatte des großen Einzelhandels in die Rechnung aufgenommen werden. Mit anderen Worten sollten die Unternehmen verpflichtet werden, die Preise für die verschiedenen Dienstleistungen, die den Lieferanten in Rechnung gestellt werden, in den Einkaufspreis des Produkts aufzunehmen. Dadurch wäre ersichtlich, wie viel der Lieferant für sein Produkt tatsächlich erhalten hat.

1.12

Der EWSA fordert die Kommission auf, den nationalen Wettbewerbsbehörden klare Anweisungen zu geben, damit sie bei der Bewertung des Verhandlungsgewichts der Erzeugergruppierungen den relevanten Markt berücksichtigen, d.h. sämtliche Lebensmittelprodukte derselben Kategorie, die auf dem Markt des betreffenden Staates angeboten, und nicht nur jene, die im Land erzeugt werden.

1.13

Der EWSA fordert die Europäische Kommission nachdrücklich auf, den Grundsatz der Selbstregulierung aufzugeben und einen verbindlichen Rechtstext vorzulegen, um die Situation in der Lebensmittelkette zu verbessern und einen unverfälschten Wettbewerb zu fördern. Eine Regelung sollte sich nicht auf den Schutz des Wettbewerbs stützen, sondern es den Mitgliedstaaten, deren wirtschaftliches Interesse auf dem Spiel steht, ermöglichen, in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren als Kläger aufzutreten.

1.14

Schließlich ist der EWSA der Auffassung, dass es zweckmäßig wäre, Rechtsakte im Sinne der Gesellschaft zu erlassen, und nicht ausschließlich der kommerziellen Logik zu folgen, um der tendenziellen Ausbreitung immer mächtigerer Einzelhandelsunternehmen Einhalt zu gebieten und andere Handelsformen zu fördern, so zum Beispiel die selbstständigen Einzelhändler, die lokalen Märkte und auch den Direktverkauf vom Hersteller an den Verbraucher. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die Kommission auf, in den in Vorbereitung befindlichen Dokumenten im Bereich der Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung den kürzeren Vertriebswegen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

2.   Hintergrund

2.1   Entwicklung der Wahrnehmung des großen Einzelhandels

Das Thema der Handelsbeziehungen zwischen großen Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln stößt auf wachsendes Interesse bzw. ruft Besorgnis hervor. Dabei war das Thema noch vor zehn Jahren nicht nur für die EU-Behörden und -Institutionen, sondern auch für die meisten Journalisten tabu (2), obgleich in Frankreich bereits 1992 die ersten legislativen Schritte in diesem Bereich unternommen wurden und im Vereinigten Königreich die Wettbewerbskommission 1999 und 2000 in Umfragen zum Missbrauch von Lebensmittellieferanten durch Einzelhandelsunternehmen zu dem Ergebnis gelangte, dass die Supermärkte ihre Nachfragemacht missbrauchten (mit Nachfragemacht ist im Wesentlichen gemeint, dass der Abnehmer günstigere Abnahmebedingungen durchzusetzen kann als dies bei uneingeschränktem Wettbewerb möglich wäre (3)). Im Allgemeinen galten die Einzelhandelsunternehmen als ein gemeinnütziges Phänomen, von dem alle profitieren konnten, und ihre Ausbreitung wurde sogar für ein Zeichen des wirtschaftlichen Wohlergehens eines Landes gehalten. Die Behörden und die Medien hoben insbesondere deren unweigerlich positiven Aspekte hervor, allen voran die Möglichkeit für die Verbraucher, nahezu alles an ein- und demselben Ort zu einem günstigen Preis zu erwerben sowie die dazugehörigen Annehmlichkeiten (z.B. ausreichende Parkmöglichkeiten) und das Dienstleistungsangebot. Seit etwa fünf Jahren hat sich die Situation radikal geändert und die europäischen Institutionen haben zu diesem Thema zahlreiche kritische Dokumente veröffentlicht.

2.2   Die oligopolistische Stellung des großen Einzelhandels

2.2.1

Vor fast dreißig Jahren begannen sich große Einzelhandelsunternehmen rasch auszubreiten, wobei diese Entwicklung eng mit der Globalisierung zusammenhing. So sind die meisten großen Handelsgesellschaften, die den heutigen Einzelhandel dominieren, multinationale Unternehmen. Solche Unternehmen sind im Vergleich zu kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) viel besser in der Lage, sich die durch die Globalisierung entstandenen neuen Bedingungen zunutze zu machen.

2.2.2

Der Aufwärtstrend der multinationalen Unternehmen (darunter der Großunternehmen des Einzelhandels) geht oftmals auf Kosten der KMU. In zahlreichen Bereichen beherrscht eine Handvoll transnationaler Großunternehmen den wesentlichen Teil des jeweiligen Marktes. Neben den Einzelhandelsunternehmen handelt es sich hierbei u.a. auch um die Pharma- und Lebensmittelindustrie, Saatgutunternehmen (4), Erdölverarbeitungsunternehmen, den Bankensektor usw. Diese multinationalen Unternehmen sind keine Monopolisten. In den meisten Fällen konkurrieren sie auf den Märkten mit anderen multinationalen Unternehmen, sogar den KMU, sodass man im Allgemeinen von keiner beherrschenden Stellung spricht (5).

2.2.3

Die großen europäischen Einzelhandelsunternehmen breiten sich auf dem Weltmarkt aktiv aus. Die britische Handelskette Tesco, die französischen Einzelhändler Auchan und Carrefour, die deutschen und österreichischen multinationalen Unternehmen Kaufland, Lidl, Metro oder Billa, sowie der niederländische Ahold sind in zahlreichen Ländern vertreten.

2.2.4

Die Folge ist, dass einige wenige Vertreiber wirksam den Endkundenlebensmittelmarkt der verschiedenen Länder beherrschen. So kontrollieren in Deutschland vier Unternehmen 85 % des Marktes, im Vereinigten Königreich beherrschen vier Unternehmen 76 %. In Österreich werden 82 % des Marktes von drei Einzelhandelsunternehmen beherrscht, in Frankreich und den Niederlanden verfügen fünf Unternehmen über einen Marktanteil von 65 % und so weiter (6). Diese Situation hat zur Folge, dass die offizielle Definition der beherrschenden Stellung auf kein Einzelhandelsunternehmen zutrifft, dass aber andererseits drei bis fünf Unternehmen den Großteil des Marktes kontrollieren und ein Oligopol bilden.

2.2.5

Die einzelnen Mitglieder dieser Oligopole stehen miteinander zweifellos im Wettbewerb, jedoch ausschließlich in Bezug auf ihre Kunden. In Bezug auf die Lieferanten ist dieser Wettbewerb kaum spürbar, insbesondere bei den KMU. Im Gegensatz zu den Lieferanten, die viel zahlreicher sind, haben die Abnehmer die Qual der Wahl. Mit anderen Worten müssen die Lieferanten große Anstrengungen unternehmen und zahlreiche Zugeständnisse machen, um ihre Waren liefern zu dürfen, während die Abnehmer jene Lieferanten herauspicken, die sich in Bezug auf ihre Konditionen am „flexibelsten“ zeigen.

2.2.5.1

Will jedoch der Hersteller einen legitimen Anspruch auf einen angemessenen Anteil am Mehrwert im Rahmen einer gesunden und loyalen Handelsbeziehung mit seinen Vertreibern gelten machen, so muss er auch die Signale aufmerksam verfolgen, die ihm die Verbraucher in Bezug auf ihre Erwartungen senden. Er wird eine stärkere Verhandlungsposition haben, wenn es ihm gelingt, die Konzipierung und Präsentation seines Produktes entsprechend zu modernisieren und an die Nachfrage anzupassen.

2.3   Missbräuchliche Praktiken

2.3.1

Dank ihrer Nachfragemacht können große Einzelhandelsunternehmen somit die Vertragsbedingungen diktieren, die häufig derart gestaltet sind, dass von einem Missbrauch der Nachfragemacht gesprochen werden kann. Solche Vertragsbedingungen werden auch als „missbräuchliche Praktiken“ bzw. als „unlautere Praktiken“ bezeichnet. Eine nicht erschöpfende Auflistung dieser Praktiken wurde bereits mehrmals erstellt. Neben dem Druck auf die Einkaufspreise (nach unten), dem Zahlungsverzug oder den übermäßig langen Zahlungsfristen hat der große Einzelhandel mithilfe missbräuchlicher Praktiken das klassische Modell der Zusammenarbeit zwischen dem Lieferanten und dem Abnehmer gänzlich verändert. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass in der Vergangenheit die Vertragsparteien den Umfang und den Preis der zu liefernden Waren sowie die anderen notwendigen Modalitäten vereinbarten und anschließend der Lieferant die Ware lieferte und der Abnehmer sie bezahlte. Mit dem Eintritt der Supermärkte wurde dieses Modell radikal umgekrempelt. Heute sind die Lieferanten, die für ihre Produkte immer weniger Geld bekommen, gezwungen, als Ausgleich für den Zugang zu den Diensten des Abnehmers immer mehr zu bezahlen bzw. andere Gegenleistungen zu erbringen. Diejenigen, die Geld erhalten sollen, erhalten somit stattdessen Rechnungen! Es ist bemerkenswert, dass es die großen Einzelhandelsunternehmen geschafft haben, dieses nunmehr allgemein akzeptierte Modell aufzuerlegen und dass sich – angefangen bei den zuständigen Behörden – niemand darüber wundert.

2.3.2

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die geläufigsten missbräuchlichen Praktiken zwei Aspekte der Beziehungen zwischen dem Lieferanten und dem Abnehmer betreffen (7). Beim ersten Aspekt geht es um die Übertragung der Vertriebskosten vom Abnehmer auf den Lieferanten. Gemeint sind hiermit die Werbe- und Marketingkosten sowie die Kosten für die Bestückung der Märkte, den Vertrieb und die Leitung der einzelnen Märkte. Die Einzelhandelsketten erreichten dieses Ziel, indem sie dem Lieferanten unterschiedliche „Zahlungen“ aufbürdeten, so zum Beispiel für die Einlistung oder die Werbeprospekte. Beim zweiten Aspekt überträgt der Vertreiber auf den Lieferanten die Kosten seines Geschäftsrisikos. In der Praxis geschieht dies durch Anpassungen des Einkaufspreises im Nachhinein, je nach dem, wie gut die betreffende Ware bei den Endverbrauchern ankommt, sodass für alle Absatzverluste der Lieferant aufkommen muss. Dieses zweite Ziel lässt sich mithilfe eines komplizierten Systems zur Bestimmung des Nettoendpreises erreichen (unterschiedliche Arten von Rückvergütungen). Diese zwei Mechanismen verfälschen die einfache Handelsformel, wonach die Produktionskosten der Hersteller und die Vertriebskosten der Händler trägt.

2.3.3

Dieses neue Modell der Beziehungen zwischen den Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten wurde unter dem Vorwand etabliert, dass angesichts des zunehmenden Wettbewerbsdrucks im Einzelhandel eine engere Zusammenarbeit notwendig war. Die Einzelhandelsketten argumentieren, dass den Lieferanten daran gelegen sein müsste, den Verkauf ihrer Produkte zu steigern, weshalb es ganz und gar gerechtfertigt sei, sie an den Vermarktungskosten zu beteiligen. Obgleich diese Sichtweise lang nicht von allen geteilt wird, müssen sich ihr die Lieferanten wohl oder übel fügen. Indessen geben sich die großen Einzelhandelsunternehmen hiermit noch nicht zufrieden und missbrauchen diese erweiterte Handelszusammenarbeit auf eine zunehmend skandalöse Art und Weise. Entweder es werden für tatsächlich erbrachte Leistungen deutlich überhöhte Preise in Rechnung gestellt, oder die Abnehmer stellen rein fiktive Leistungen in Rechnung. Die letztgenannte Praktik wird als „ungerechtfertigte Rechnungsstellung“ bezeichnet, da sie offenkundig jeglicher Gegenleistung entbehrt. So ist es beispielsweise ausreichend, von einer „Zahlung für eine stabile Zusammenarbeit“, „Zahlung für die Rechnungsstellung“, „Zahlung für die Begleichung der Rechnung“ oder einem „Unkostenbeitrag zur Unternehmensfeier“ zu sprechen. So unglaublich dies auch erscheinen mag – Einzelhandelsketten stellen ihren Lebensmittellieferanten tatsächlich derart formulierte Rechnungen aus.

2.3.3.1

Die französischen Abgeordneten haben mehr als 500 Gründe ermittelt, die von den Einkaufszentralen angeführt wurden, um von ihren Lieferanten auf diese Weise zusätzliche Vorteile einzufordern (8).

2.3.3.2

Nach Angaben des Verbandes der europäischen Lebensmittel- und Getränkeindustrie (FoodDrinkEurope) und des Europäischen Verbandes der Markenartikelindustrie (AIM) waren 2009 84 % der europäischen Lieferanten des großen Einzelhandels Opfer von Verstößen gegen die Vertragsbestimmungen: Von diesen wurden 77 % mit Auslistung gedroht, sollten sie nicht bereit sein, den Unternehmen ungerechtfertigte Vorteile zu gewähren, bei 63 % wurde der von ihnen in Rechnung gestellte Preis ohne stichhaltigen kommerziellen Grund nach unten korrigiert, und 60 % wurden gezwungen, Zahlungen ohne jegliche Gegenleistung zu leisten.

2.3.4

Aufgrund der Rabatte, die der große Einzelhandel seinen Lieferanten außerhalb der Rechnung fakturiert, ist das System gänzlich undurchsichtig. Weder der Lieferant noch externe Beobachter kennen den tatsächlichen Einkaufspreis. Die auf der Technik der „doppelten Gewinnspanne“ beruhenden Handelspraktiken verursachen Verbrauchern wie Lieferanten ernste Probleme (9). Hier sollte ein transparenteres System vorgeschrieben werden.

2.4   Keine echte Vertragsfreiheit

2.4.1

Die Lieferanten fügen sich diesem für sie sehr unvorteilhaften System, da sie keine andere Wahl haben. Wenn sie ihre Produkte absetzen wollen, kommen sie um den großen Einzelhandel nicht herum. Deshalb unterzeichnen sie Verkaufsverträge, solange sie sich durch diese Zusammenarbeit eine minimale Gewinnspanne sichern können. Die missbräuchlichen Praktiken, auf die die unterschiedlichen Einzelhandelsketten zurückgreifen, sind beinahe identisch. Aus diesem Grund kann nicht gesagt werden, die Zusammenarbeit mit einem bestimmten Unternehmen sei einem anderen vorzuziehen. In den Handelsbeziehungen herrscht eine Atmosphäre von Angst und Furcht (vor einer Auslistung), was sogar in offiziellen Dokumenten anerkannt ist (10).

2.4.2

Die Anwendung missbräuchlicher Vertragsbedingungen gilt in der Regel als unethisch. Indessen scheint diese Bezeichnung vor dem Hintergrund der vorgenannten Praktiken unzureichend. In einer Situation, in der die Handelsbedingungen von der stärkeren Partei diktiert werden und die schwächere Partei keine wirkliche Möglichkeit hat, diese abzulehnen, wäre es angebrachter, von Erpressung oder Schutzgeld zu sprechen. Unter diesen Umständen ist es auch nicht angemessen, von Vertragsfreiheit zu sprechen, auf die sich die Einzelhandelsketten und die zuständigen Behörden oftmals berufen. Ebenso wie bei Beziehungen zwischen natürlichen Monopolen (Lieferanten von Strom, Gas usw.) einerseits und den Verbrauchern andererseits nicht von einer Vertragsfreiheit ausgegangen werden kann, ist es irreführend, in Bezug auf die Beziehungen zwischen den große Einzelhandelsunternehmen und den Lieferanten von Lebensmitteln von einer solchen zu sprechen.

2.5   Auswirkungen und Ermittlung der Leidtragenden der missbräuchlichen Praktiken

2.5.1

Die Anwendung missbräuchlicher Praktiken durch große Einzelhandelsunternehmen hat negative Folgen für die Lieferanten, aber auch für die Verbraucher. Die Lieferanten, insbesondere die kleinen und mittleren Hersteller, befinden sich oftmals in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage, die bisweilen sogar zur Auflösung des Unternehmens führt. Große Lebensmittelunternehmen können sich hier viel besser aus der Affäre ziehen, da sie einen geringeren Ertrag aus dem Verkauf ihrer Produkte durch große Liefermengen ausgleichen können. Darüber hinaus verfügen diese multinationalen Lebensmittelunternehmen über eine recht starke Verhandlungsposition: Der Einzelhandel ist auf deren Produkte angewiesen und kann mit ihnen folglich nicht in derselben Weise verfahren wie mit den KMU. So stammen beispielsweise in Frankreich 70 bis 80 % des Umsatzes großer Supermärkte aus Lieferungen von rund zwanzig großen multinationalen Unternehmen (11).

2.5.2

Die Situation der Verbraucher, die laut den zuständigen Behörden stark von diesem System profitieren, ist in Wirklichkeit weitaus weniger rosig, als vorgegeben wird. Vieles deutet darauf hin, dass die Anwendung missbräuchlicher Praktiken gegenüber Lieferanten auch für die Verbraucher negative Auswirkungen hat. Zum einen profitieren die Verbraucher nicht immer vom niedrigen Einkaufspreis (12), und zum anderen sind die Auswahlmöglichkeiten zunehmend begrenzt, die Innovationen sind rückläufig, die Qualität zahlreicher Lebensmittelprodukte lässt aufgrund des ständigen Drucks auf den Einkaufspreis nach und letztlich steigt auch der Verbraucherendpreis (13).

2.5.2.1

Der große Einzelhandel hat ferner auch wichtige soziale Auswirkungen, denn er hat einige Tabus des gesellschaftlichen Lebens gebrochen. So ist beispielsweise der Sonntag nicht mehr so „heilig“ wie früher, da die Hyper- und Supermärkte an allen Wochentagen rund um die Uhr geöffnet sind – mit allen damit verbundenen Folgen für die Arbeitsbedingungen.

2.5.3

Neben der Lebensmittelbranche betrifft das Problem des großen Einzelhandels auch zahlreiche weitere Bereiche. Die Leidtragenden der missbräuchlichen Praktiken sind jedoch in erster Linie die Lebensmittelhersteller. Die Gründe hierfür sind wahrscheinlich vielfältig: So gibt es zum Beispiel für die Hersteller anderer Produkte als Lebensmittel viel mehr Absatzmöglichkeiten. Abgesehen von den Supermärkten stehen den Bekleidungs-, Haushaltsgeräte-, Buch- oder Sportausrüstungsherstellern auch noch Fachgeschäftketten zur Verfügung. Somit ist es gerechtfertigt, sich insbesondere den Beziehungen zwischen den großen Einzelhandelsunternehmen und den Lebensmittellieferanten zu widmen.

2.5.4

Auch in den Beziehungen zwischen Landwirten und der Lebensmittelindustrie, in der die Unternehmen ebenfalls über eine wichtige „Nachfragemacht“ verfügen, kommt es zu den vorgenannten missbräuchlichen Praktiken, allerdings deutlich seltener. Die Verhandlungen über den Einkaufspreis sind zwar oftmals recht hart, in der Regel fordert aber ein Industrieller von seinem Rohstofflieferanten keinen finanziellen Beitrag zum Erwerb einer neuen Abfüllanlage … Ganz im Gegensatz zum großen Einzelhändler, der seine Lieferanten regelmäßig auffordert, sich finanziell an der Modernisierung eines bestehenden bzw. an der Eröffnung eines neuen Geschäfts zu beteiligen.

2.5.5

Kurzum, die meisten der angeführten missbräuchlichen Praktiken werden nur im Rahmen der Beziehungen zwischen Supermarkt und Lebensmittellieferant angewandt. Angesichts der vorgenannten praktischen Auswirkungen und ihrer großen Verbreitung fordern die missbräuchlichen Praktiken noch ein drittes Opfer: das nationale wirtschaftliche Interesse. Die Tatsache, dass ein Teil der Lieferanten nicht in der Lage ist, den Ansprüchen des großen Einzelhandels gerecht zu werden, und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten tragen zum Niedergang des gesamten Agrar- und Lebensmittelsektors in mehreren Ländern bei. Einige Länder, die ihren Lebensmittelbedarf früher selbst decken konnten, haben auf diese Weise an Ernährungssicherheit eingebüßt, was in der heutigen Zeit besonders gefährlich ist.

2.6   Mögliche Lösungen

2.6.1

Seit einiger Zeit sind die missbräuchlichen Praktiken des großen Einzelhandels gegenüber den Lieferanten Gegenstand einer immer konkreteren Kritik vonseiten der Behörden der verschiedenen Mitgliedstaaten und der europäischen Institutionen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete sein erstes kritisches Dokument im Jahr 2005 (14). Jedoch erst mit der schriftlichen Erklärung der Mitglieder des Europäischen Parlaments (15), die die Mehrheit der Abgeordneten im Januar 2008 unterzeichnet haben, wurde eine echte Debatte zu diesem Thema ins Rollen gebracht. Auf diese Erklärung folgten mehrere Dokumente und Studien der Kommission, des Parlaments und des EWSA (16).

2.6.1.1

Das Europäische Wettbewerbsnetz, dem die Europäische Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden der 27 Mitgliedstaaten angehören, veröffentlichte einen Bericht im Anschluss an die Mitteilung der Kommission zur Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette. In der Mitteilung sprach sich die Kommission für einen gemeinsamen Ansatz der Wettbewerbsbehörden im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes aus, um lebensmittelmarktspezifische Probleme aufzudecken und zeitnah künftige Maßnahmen zu koordinieren. Sie richtete ein hochrangiges Forum für die Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette ein, das sich auf die Arbeit mehrerer Sachverständigenplattformen stützt, darunter auch der Plattform für die Vertragspraktiken zwischen den Unternehmen („business to business“), die mit der Ausarbeitung der geeignetsten Methode zur Vermeidung unlauterer Praktiken betraut wurde. Infolge einer Einigung aller Akteure der Agrar- und Lebensmittelkette über die grundlegenden Prinzipien wurde die Plattform damit beauftragt, nach Wegen für einen Konsens über deren Umsetzung zu suchen. Bislang haben es die Parteien jedoch nicht geschafft, im Rahmen eines freiwilligen Kodex einen für alle zufriedenstellenden Kompromiss zu erzielen.

2.6.2

Die Situation ist nunmehr politisch brisant und die Behörden werden eindringlich aufgerufen zu reagieren. Die auf bloßen Marktkräften beruhende Regulierung ist fehlgeschlagen und gilt heute kaum noch als die optimale Lösung, da die Probleme in den letzten Jahrzehnten, die durch ein System nicht regulierter Handelsbeziehungen gekennzeichnet waren, noch zugenommen haben. Als potenzielle Lösungen werden entweder die gesetzliche Regelung, die Selbstregulierung oder die Bildung von Gruppierungen der Erzeuger und Verarbeiter befürwortet, die ein Gegengewicht zur Nachfragemacht des großen Einzelhandels bilden könnten.

2.6.3

Die Ethikkodizes sind sogenannte „sanfte“ Lösungen. Es handelt sich dabei um einen freiwilligen Verzicht auf die Anwendung der betreffenden Praktiken. Das Vereinigte Königreich, Spanien und Belgien entschieden sich jeweils für eine Selbstregulierung. Die Ergebnisse sind weder zufriedenstellend noch überzeugend. Abgesehen davon, dass mit der Selbstregulierung keine positiven Erfahrungen gemacht wurden, werfen die Ethikkodizes auch philosophische Fragen auf. Welche Ethik greift zum Beispiel im Falle eines multinationalen Unternehmens? Jene der Führungskräfte, der Aktionäre oder der Gesellschaft selbst? Die wahren Herren multinationaler Unternehmen sind die – oftmals anonymen – Aktionäre. Der Aktienbesitz ist für sie häufig eine ausschließlich finanzielle Investition. Für das Verhalten des Unternehmens und eine eventuelle Anwendung missbräuchlicher Praktiken haften sie nicht persönlich. Folglich kommt im Falle des großen Einzelhandels die Ethik als Bezugspunkt kaum in Betracht.

2.6.4

Die Europäische Kommission und andere Gremien empfehlen den Landwirten und den kleinen und mittleren Unternehmen nachdrücklich, sich zusammenzuschließen, um ihre Verhandlungsmacht bei Geschäftsterminen mit den Abnehmern der Einzelhandelsketten zu stärken. Indessen wurde in einigen Mitgliedstaaten, in denen sich Unternehmen zu solchen Gruppierungen zusammenschlossen, dieses Vorgehen von den inländischen Wettbewerbsbehörden unter Hinweis auf die Schaffung von „Kartellvereinbarungen“ bestraft. So beherrschten diese Erzeugergruppierungen nach Auffassung der lokalen Behörden einen zu großen Teil des Marktes. Berücksichtigt wurde dabei jedoch lediglich die inländische Erzeugung, nicht aber die Erzeugnisse aus anderen Ländern. Aus unerklärlichen Gründen berücksichtigen die genannten Behörden bei der Bestimmung des von einem Betreiber dominierten Teils des Marktes in der Regel nicht die Gesamtmenge der auf dem nationalen Markt angebotenen Produkte.

2.6.5

Im Bereich der gesetzlichen Regelung haben mehrere Mitgliedstaaten mehr oder weniger ehrgeizige Versuche unternommen. In einigen Ländern wurde die Anwendung bestimmter Praktiken untersagt (so herrscht z.B. in der Hälfte der Mitgliedstaaten ein Verbot des Verkaufs unter Selbstkosten). Andere Mitgliedstaaten haben wiederum recht komplexe sektorspezifische Vorschriften erlassen (beispielsweise Italien, Polen Rumänien, die Slowakische Republik, die Tschechische Republik und Ungarn) oder haben ihre Vorschriften geändert (Lettland und Frankreich). In den letzten Jahren haben insbesondere mehrere postkommunistische Länder in Mittel- und Osteuropa Gesetze zur Bekämpfung der Anwendung missbräuchlicher Praktiken durch den großen Einzelhandel verabschiedet. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die Situation in dieser Region besonders besorgniserregend ist. Im Gegensatz zu Westeuropa liegt der Einzelhandel in diesen Ländern fast ausschließlich in den Händen ausländischer Unternehmen. Diese pflegen privilegierte Beziehungen zu den Lieferanten aus ihren Herkunftsländern bzw. aus jenen Ländern, in denen sie bereits niedergelassen sind. Die Folge ist eine rückläufige Entwicklung der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion in der Region.

2.6.6

Die Anwendung dieser Rechtsvorschriften ist nicht einfach, zumal die leidtragenden Lieferanten aus Angst um ihre Existenz davor zurückschrecken, sich zu beklagen. Nichtsdestotrotz sind diese Gesetze zweckmäßiger als die Verhaltenskodizes. Zum einen, da die missbräuchlichen Praktiken nicht nur unethisch, sondern auch mit den elementaren Rechtsgrundsätzen unvereinbar sind. Unabhängig von den Problemen im Zusammenhang mit der Durchsetzung ist schon dieses Argument an sich ausreichend, um sie gesetzlich zu verbieten. Zum anderen, weil systematische rechtliche Schritte in Frankreich bereits einige Früchte tragen (17).

2.6.7

Die Kommission nimmt die Existenz dieser Probleme zur Kenntnis, zieht jedoch zurzeit noch die Selbstregulierung vor und verweist in diesem Zusammenhang auf die Fragmentierung des europäischen Rechtsraums. Die von den verschiedenen Mitgliedstaaten erlassenen Rechtsvorschriften sind miteinander in der Tat kaum vereinbar. Und dennoch ist die einzige Lösung für die Überwindung dieser Fragmentierung und dieser Unvereinbarkeit eine verbindliche europäische Regelung. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission nachdrücklich, die erforderlichen Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Aus praktischen Gründen scheint es zweckmäßig, einem eventuellen europäischen Rechtsrahmen nicht das Konzept des Wettbewerbsschutzes zugrunde zu legen, weil sich dann die Lieferanten als Leidtragende den großen Einzelhandelsketten vor Gericht stellen müssten. In Anlehnung an das französische Konzept sollte vielmehr der Staat, dessen wirtschaftliches Interesse ebenfalls auf dem Spiel steht, die Rolle des Klägers übernehmen. Dadurch ließen sich wohlbekannte Probleme vermeiden, die entstehen, weil die Lieferanten vor einer Beschwerde zurückschrecken.

2.6.7.1

Mit dieser Regelung sollten schriftliche Verträge mit Angabe der Dauer, der Menge und den Merkmalen des verkauften Produktes sowie des Preises und der Modalitäten der Lieferung und Zahlung vorgeschrieben und festgelegt werden, dass bei Verstößen gegen diese Auflagen die Nichtigkeit des Vertrages festgestellt wird. Die gesetzliche Zahlungsfrist sollte unter Androhung von Geldbußen 30 Tage bei verderblichen und 60 Tage bei anderen Produkten betragen. Es sollte insbesondere verboten werden,

unmittelbar oder mittelbar die Absatz- und/oder Abnahmebedingungen bzw. sonstige verbindliche Vertragsbedingungen sowie außervertragliche und rückwirkende Bedingungen aufzuerlegen,

unterschiedliche Bedingungen für gleichwertige Dienstleistungen durchzusetzen,

den Abschluss und die Umsetzung des Vertrags sowie die Fortführung und die Regelmäßigkeit der Handelsbeziehung von der Durchführung von Dienstleistungen abhängig zu machen, die mit dem Gegenstand des Vertrags und der betreffenden Handelsbeziehung nichts gemein haben,

unangemessene einseitige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die im Verhältnis zum Wesen oder zum Inhalt der Handelsbeziehungen ungerechtfertigt sind,

sich in Bezug auf die Handelsbeziehung insgesamt in sonstiger Weise unfair zu verhalten.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA „Das gemeinschaftliche Agrarmodell: Produktionsqualität und Verbraucherkommunikation als Elemente der Wettbewerbsfähigkeit“, ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 5-10.

(2)  Einer der wenigen Experten, die es seinerzeit gewagt haben, den Missbrauch der Einzelhandelsunternehmen öffentlich anzuprangern, war Christian Jacquiau, Autor des Buches „Coulisse de la grande distribution“ und eines in der Le Monde diplomatique (Dezember 2002) erschienen Artikels „Racket dans la grande distribution à la française“.

(3)  Consumers International, „The relationship between supermarkets and suppliers: What are the implications for consumers?“, 2012, S. 2.

(4)  2009 war der weltweite Saatgutmarkt in der Hand von rund zehn Unternehmen, während 25 Jahre zuvor hunderte von Unternehmen im Bereich Saatgutzucht und -vertrieb tätig waren. Gleiches gilt für Agrochemikalien.

(5)  British Institute of International and Comparative Law, „Models of Enforcement in Europe for Relations in the Food Supply Chain“, 23. April 2012, S. 4.

(6)  Consumers International, „The relationship between supermarkets and suppliers: What are the implications for consumers?“, 2012, S. 5.

(7)  British Institute of International and Comparative Law, „Models of Enforcement in Europe for Relations in the Food Supply Chain“, 23. April 2012, S. 4.

(8)  Christian Jacquiau, „Racket dans la grande distribution à la française“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002, S. 4 und 5.

(9)  Stellungnahme des EWSA „Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 145-149.

(10)  Z.B.: Bericht der Kommission COM(2010) 355 final „Ein effizienterer und fairerer Binnenmarkt in Handel und Vertrieb bis 2020“, S. 8, oder British Institute of International and Comparative Law, „Models of Enforcement in Europe for Relations in the Food Supply Chain“, 23. April 2012, S. 3.

(11)  Sgheri Marie-Sandrine, „La machine à broyer des PME“, Le Point, Paris, Nr. 1957 vom 18. März 2010, S. 88-89.

(12)  So verkauften die Supermärkte während der Krise im Milchsektor 2009 die Milch monatelang zum selben Preis wie zuvor, obgleich der Einkaufspreis beim Erzeuger beträchtlich gesunken war.

(13)  Consumers International, „The relationship between supermarkets and suppliers: What are the implications for consumers?“, 2012, S. 12, sowie EWSA-Stellungnahme, ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 48.

(14)  Stellungnahme des EWSA „Große Einzelhandelsunternehmen — Tendenzen und Auswirkungen auf Landwirte und Verbraucher“, ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 44-49.

(15)  SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNG Nr. 0088/2007 zu der Untersuchung des Machtmissbrauchs durch große Supermarktketten, die in der Europäischen Union tätig sind, und zu entsprechenden Abhilfemaßnahmen.

(16)  Stellungnahme des EWSA „Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 145.

(17)  Nach Angaben der französischen Generaldirektion Wettbewerb, Verbrauch und Betrugsbekämpfung (DGCCRF) ist die Zahl der von den Einzelhandelsketten außerhalb der Rechnung gewährten Rabatte auf ein annehmbares Niveau gesunken.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

487. Plenartagung am 13. und 14. Februar 2013

9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Förderung der gemeinsamen Nutzung von Funkfrequenzen im Binnenmarkt

COM(2012) 478 final

2013/C 133/04

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Am 3. September 2012 beschloss die Europäische Kommission, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Förderung der gemeinsamen Nutzung von Funkfrequenzen im Binnenmarkt

COM(2012) 478 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 89 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA stimmt dem Ansatz der Kommission zu, die gemeinsame Nutzung von Funkfrequenzen im Binnenmarkt zu fördern, da Drahtlosverbindungen wirtschaftlich immer wichtiger werden.

1.2

Der EWSA hofft, dass diese Strategie letztlich tatsächlich den EU-Bürgern zugute kommen wird und diese sämtliche Fortschritte werden nutzen können, wobei eine Nutzung der zugewiesenen Frequenzen in größtmöglichem Umfang sowie die Sicherheit und der Datenschutz zu gewährleisten sind.

1.3

Jedwede verabschiedete Rechtsvorschrift muss für ein hohes Verbraucherschutzniveau sowie den wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt sorgen, um zu vermeiden, dass die digitale Kluft vertieft wird und eine Zweiklassen-Informationsgesellschaft entsteht.

1.4

Mit der Verwaltung der gemeinsam genutzten Funkfrequenzen sollte auf einen hohen Beschäftigungsgrad hingewirkt und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gesteigert werden, ohne dass der freie Wettbewerb verfälscht wird. Ferner sollte diese Gelegenheit genutzt werden, um sich verstärkt der Forschung und innovativen Technologien zu widmen. Der Ausschuss fordert die Kommission auf sicherzustellen, dass ein stärkerer Wettbewerb unter den im Frequenzspektrum aktiven Betreibern zu einer Nettoarbeitsplatzschaffung führt, bevor sie eine Liberalisierung des Frequenzspektrums betreibt. In diesem Zusammenhang sollte im Einklang mit der Europa-2020-Strategie der Lage der Staaten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, die von dem wirtschaftlichen und finanziellen Schock getroffen wurden.

1.5

Der EWSA hofft, dass die Kommission die Empfehlung eines gemeinsamen Formats für die Erteilung von gemeinsamen Zugangsrechten zu Funkfrequenzen und einer gemeinsamen Terminologie für die Dokumentation von Bedingungen und Regeln für die gemeinsame Nutzung annehmen wird.

2.   Einleitung

2.1

Das Frequenzspektrum ist eine öffentliche Ressource für wesentliche Bereiche und Dienstleistungen, darunter der Mobilfunk, drahtlose Breitband- und Satellitenverbindungen, Hörfunk und Fernsehen, Verkehr, Funkortung und Anwendungen wie Alarmanlagen, Fernbedienungen, Hörgeräte, Mikrofone und medizinische Geräte.

2.2

Es trägt zum reibungslosen Funktionieren öffentlicher Dienste bei, wie Schutz- und Sicherheitsdienste, einschließlich des Zivilschutzes, sowie zu wissenschaftlichen Tätigkeiten wie Meteorologie, Erdbeobachtung, Radioastronomie und Raumforschung.

2.3

Ein leichter Zugang zu Funkfrequenzen spielt auch eine Rolle bei der Bereitstellung von elektronischen Kommunikationsnetzen, insbesondere in Bezug auf Nutzer und Unternehmen in entlegenen oder dünn besiedelten Gebieten, beispielsweise im ländlichen Raum oder auf Inseln.

2.4

Sämtliche Regulierungsmaßnahmen im Bereich des Frequenzspektrums können sich auf die Sicherheit, die Gesundheit und das öffentliche Interesse auswirken, sowie auch wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche soziale und ökologische Auswirkungen haben.

2.5

Mit der Frequenzentscheidung von 2002 wurde der grundlegende Rechtsrahmen für die Funkfrequenzpolitik festgelegt, der 2012 durch den Beschluss über ein Mehrjahresprogramm für diese EU-Politik ergänzt wurde, zu dem der Ausschuss sich bereits in einer Stellungnahme geäußert hat.

2.6

Der Rechtsrahmen der Union bezweckt einen leichteren Zugang zu Frequenzen auf der Grundlage eines möglichst unkomplizierten Genehmigungssystems. Er begünstigt die Erteilung von Allgemeingenehmigungen, außer in Fällen, in denen zweifelsfrei Einzellizenzen erforderlich sind. Er basiert auf den Grundsätzen effiziente Nutzung, wirksame Verwaltung von Funkfrequenzen sowie Technologie- und Diensteneutralität.

Es ist eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Untersuchung der Frequenzverwaltung durch die Kommission vorhanden wie etwa der Rechtsrahmen für die elektronische Kommunikation sowie die Vorschriften zum Binnenmarkt, zum Verkehr und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen.

2.7

Da die Verwaltung der Funkfrequenzen eine wesentliche Voraussetzung für den digitalen Binnenmarkt ist, trägt diese Initiative direkt zur Erreichung der Ziele der Europa-2020-Strategie bei. Die Kommission strebt im Einklang mit dem Programm für die Funkfrequenzpolitik einen möglichst breiten Konsens hinsichtlich der vorgeschlagenen Maßnahmen an, um Funkinnovationen in der EU zu fördern und somit sicherzustellen, dass die derzeit zugewiesenen Frequenzen in größtmöglichem Umfang genutzt werden.

3.   Die Mitteilung der Kommission

3.1

In der Mitteilung werden die Antriebsfaktoren und zu schaffenden Voraussetzungen für die gemeinsame Funkfrequenznutzung wie drahtlose Breitbanddienste, die drahtlos verbundene Gesellschaft sowie Forschung und innovative Technologien untersucht. Hierbei hebt sie besonders Folgendes hervor:

die gemeinsame Nutzung lizenzpflichtiger oder -freier Frequenzen für die drahtlose Breitbandkommunikation ermöglicht Kosteneinsparungen für Mobilfunknetzbetreiber, macht Internetverbindungen erschwinglich und eröffnet Chancen für die gemeinsame Infrastrukturnutzung;

der Trend zu einer verbundenen Gesellschaft belegt den Mehrwert niedriger Zugangshürden in lizenzfrei gemeinsam genutzten Frequenzbändern als Einsatzfeld für Funkinnovationen, die die Entwicklung und Einführung robusterer Funktechnik voranbringen;

Forschungsergebnisse haben es ermöglicht, dass Frequenzen auf der Grundlage einer gemeinsamen Nutzung zugänglich gemacht werden, wobei gewährleistet wird, dass die primären Dienste geschützt sind. Die Entwicklung kognitiver Funktechniken schreitet heute mit Hilfe von Aufträgen für harmonisierte Normen und durch Erprobungen in europäischen Forschungsprojekten voran. Es sind weitere Fortschritte im Bereich der Erkennung und der Nutzung von Basisstationen kleiner Zellen zu erwarten.

3.2

In der Mitteilung werden die Herausforderungen auf dem Weg zu einer verstärkten gemeinsamen Frequenznutzung angesprochen und Überlegungen zur Beseitigung von Unsicherheiten durch Beherrschung funktechnischer Störungen, zur Schaffung ausreichender Anreize und Schutzvorkehrungen für alle Beteiligten sowie zur Kapazität lizenzfreier Frequenzbänder angestellt.

3.2.1

Diese stärkere gemeinsame Frequenznutzung erfordert:

eine gemeinsame Verantwortung von Nutzern hinsichtlich akzeptabler Grenzwerte für Störungen und angemessene Minderungsstrategien;

die Schaffung von Rechtssicherheit für geltende Regeln und Bedingungen sowie Durchsetzungsverfahren, als auch Transparenz der Kompatibilitätsannahmen und Schutzrechte;

Anreize für Investitionen in bessere Technologien, die etablierten und zusätzlichen Nutzern Vorteile bringen, wobei der Wettbewerb zu wahren und zu fördern ist;

die Ausweisung breiter Frequenzkanäle für die RLAN-Entwicklung sowie die Erstellung von Überlastungsprognosen, um die Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der wichtigsten gemeinsam genutzten Frequenzbänder zu erhöhen und

die Gewährleistung, dass bei einer Umstellung von ausschließlichen Nutzungsrechten auf die gemeinsame Nutzung der Wettbewerb durch zusätzliche Nutzer gestärkt wird und insbesondere derzeitigen oder künftigen Rechteinhabern keine ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteile entstehen.

3.3

Die Kommission schlägt vor, zwei Instrumente zu entwickeln, um eine stärkere und effizientere Nutzung bestehender Funkfrequenzen zu ermöglichen:

ein EU-Konzept zur Ermittlung von vorteilhaften gemeinsamen Zugangsmöglichkeiten in harmonisierten und nicht harmonisierten Frequenzbändern und

gemeinsame Zugangsrechte zu Funkfrequenzen als Regulierungsinstrumente, mit denen eine lizenzierte gemeinsame Nutzung mit garantiertem Störungsschutzniveau genehmigt werden kann.

3.4

Angesichts der Tatsache, dass der technische Fortschritt eine größere Zahl von Möglichkeiten für eine vorteilhafte gemeinsame Nutzung (VGN) im Binnenmarkt schafft, hält es die Kommission für erforderlich, Investitionen zu fördern und Frequenznutzer dazu zu ermuntern, ihre Frequenzressourcen besser zu nutzen, indem in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf EU-Ebene ein Verfahren und Schlüsselkriterien zur Ermittlung von VGN festgelegt werden (z. B. in einer Empfehlung).

3.5

Der Kommission zufolge können Verträge über die gemeinsame Frequenznutzung den Nutzern größere Rechtssicherheit geben bei gleichzeitiger Schaffung marktgestützter Anreize, einschließlich eines finanziellen Ausgleichs, um mehr VGN im Binnenmarkt zu ermitteln, wenn die nationalen Regulierungsbehörden (NRB) in einem Frequenzband zusätzlichen Nutzern gemeinsame Zugangsrechte zu Funkfrequenzen erteilen.

3.6

Die Kommission schlägt vor, für die nächsten Schritte folgende Maßnahmen vorzusehen:

1)

Ermittlung vorteilhafter gemeinsamer Möglichkeiten zur Nutzung lizenzpflichtiger oder -freier Frequenzbänder/gemeinsamer Nutzungsmöglichkeiten sowohl bei lizenzpflichtigen als auch lizenzfreien Frequenzbändern;

2)

Überlegungen zur Verfügbarmachung ausreichender, auf EU-Ebene harmonisierter lizenzfreier Frequenzen für Funkinnovationen;

3)

Festlegung (in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten) eines gemeinsamen Wegs zu mehr Möglichkeiten einer gemeinsamen Nutzung auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen zwischen Nutzern und

4)

Abschluss vertraglicher Vereinbarungen zwischen den Nutzern, die ihnen größere Rechtssicherheit geben können.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss wertet den Inhalt der Kommissionsmitteilung insofern positiv, als mit ihr für eine künftige Anpassung des EU-Rechtsrahmens an die Ziele des Mehrjahresprogramms für die Funkfrequenzpolitik erforderliche Überlegungen eingeleitet werden.

4.1.1

In dieser Hinsicht werden in der Mitteilung Möglichkeiten untersucht, den Mangel an freien Frequenzen zu beseitigen und die mit einer Neuzuweisung von Frequenzen verbundenen Kosten zu senken, die die Nutzung von Drahtlosverbindungen stark einschränken, und plädiert für grundlegende Änderungen bei der Frequenzverwaltung.

4.2

Um die derzeitigen Regulierungshindernisse für den Einsatz innovativer Funkzugangstechnik abzubauen und die gemeinsame Funkfrequenznutzung zu ermöglichen, wählt die Kommission einen ganzheitlichen Ansatz, demzufolge die kollektive und gemeinsame Nutzung durch die nationalen Regulierungsbehörden und Vereinbarungen zwischen den etablierten und den neuen Frequenznutzern aktiv erleichtert werden soll.

4.3

Zudem beabsichtigt sie, auf der Grundlage des für elektronische Kommunikation geltenden EU-Rechtsrahmens zu handeln und die Grundsätze effiziente Nutzung, wirksame Verwaltung von Funkfrequenzen sowie Technologie- und Diensteneutralität weiterzuentwickeln und umzusetzen, was der Ausschuss für äußerst sachdienlich hält. Die Kommission will demnach ihre Befugnisse in diesem Bereich in vollem Umfang nutzen, um soweit als möglich die Nutzung der Funkfrequenzen zu verbessern und zu verbreiten. Es gilt, sich den freien Wettbewerb und die Übereinstimmung der Genehmigungskriterien der nationalen Regulierungsbehörden zunutze zu machen und dabei den Schwerpunkt ganz besonders auf einen Zugang mittels gemeinsamer Lizenzen zu legen.

4.4

Der Ausschuss möchte jedoch einige inhaltliche Aspekte der Kommissionsmitteilung unterstreichen, um soweit wie möglich den Weg für die nächsten Schritte des Regulierungsprozesses in Bezug auf die Funkfrequenzen zu ebnen, sodass diesen solide Grundsätze zugrunde gelegt werden, zumal die der Demokratie, Transparenz und Achtung der Grundrechte sowie der Rechte der Verbraucher und der Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste. Es müssen insbesondere die Rechte der Verbraucher und Nutzer klar und deutlich vor Betrug geschützt werden. Hierzu sind Kriterien aufzustellen, die die Festlegung eines fairen Preises, einen allgemeinen Zugang zum Frequenzspektrum sowie effiziente Beschwerde- und Entschädigungsmechanismen erleichtern. Außerdem muss dafür gesorgt werden, dass die unabhängigen Aufsichtsstellen die Möglichkeit besitzen, transnationale Konflikte über die Frequenznutzung beizulegen, sodass funktechnische Störungen vermieden werden. Die Kommission sollte regelmäßig über die im Zusammenhang mit den genannten Rechten und Pflichten ergriffenen Maßnahmen und erreichten Ziele berichten.

4.5

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, im Hinblick auf die künftige Entwicklung des einschlägigen Rechtsrahmens eine möglichst vollständige Liste der „rechtlichen Hemmnisse“ innovativer Technologien für den Zugang zu Funkfrequenzen zu erstellen.

4.6

Es muss vermieden werden, dass unter dem Vorwand eines falschen übermäßigen Schutzes der Nutzer in Wirklichkeit aus Gründen der Staatszugehörigkeit oder anderen ähnlichen Gründen protektionistischer Art versucht wird, eine maximale Öffnung des Frequenzspektrums zu verhindern, die die Integration anderer Nutzer und innovativer Technologien erleichtert. Nach Ansicht des EWSA sollte mit der Umsetzung der Mitteilung Menschen mit Behinderungen ein leichterer Zugang zu neuen Technologien garantiert werden.

4.7

Dies würde darüber hinaus zu höheren Einnahmen aus den für die Nutzung von Funkfrequenzen erhobenen Gebühren führen, deren Nutzen auf der Hand liegt. Allerdings ist hervorzuheben, dass das Frequenzspektrum physisch begrenzt ist und die vorgesehenen Maßnahmen einen größeren Benutzerverkehr bewirken werden und somit sorgfältig verschiedene Sachverhalte abzuwägen sind, wie die Ausgleichszahlungen für die derzeitigen Lizenznehmer, die Frage, wie sich ein Zusammenbruch oder eine Einengung des Frequenzspektrums infolge einer übermäßigen Nutzung verhindern und die Einführung innovativerer Technologien sicherstellen lassen usw. Zwar steht der Gegenstand dieser Stellungnahme nicht im Einklang mit einigen früheren Stellungnahmen zur Anwendung von EU-Maßnahmen in Bezug auf den technologischen Wandel wie beispielsweise die so genannte digitale Dividende, doch sollte in diesem Zusammenhang den tatsächlichen Auswirkungen dieser Maßnahmen Beachtung geschenkt werden, um die durch die Entwicklung der Funkfrequenzpolitik der EU geweckten Erwartungen ins rechte Licht zu rücken.

4.8

Andererseits plädiert der Ausschuss dafür, die Vergabe von Einzellizenzen durch die NRB möglichst zu begrenzen, und spricht sich für einen weitaus offeneren Zugang aus, sofern dies die materielle Verfügbarkeit und die Wahrung der von den Frequenznutzern erworbenen Rechte zulassen. Deswegen fordert er die NRB auf, Einzellizenzen nur in begrenztem Maße und in begründeten Fällen zu vergeben, um einen deutlich breiteren Zugang zu ermöglichen.

4.9

Aus der Mitteilung geht neben anderen einschlägigen Zielen auch die Notwendigkeit hervor, die technologische Kluft zwischen den Geräte für die elektronische Kommunikation produzierenden europäischen Herstellern und den Herstellern aus Drittstaaten zu verringern, deren Ursache teilweise in der Fragmentierung des geltenden Rechtsrahmens liegt. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, eine Folgenabschätzung hinsichtlich der Vorteile beizufügen, die eine Öffnung des Spektrums im Hinblick auf eine Verringerung der digitalen Kluft zwischen den EU-Mitgliedstaaten haben könnte. Der Ausschuss tritt folglich für eine dringende Anpassung dieses Rahmens ein, wobei er auf die Regulierungsmöglichkeiten der Kommission im Wege der Komitologieverfahren vertraut.

4.9.1

Anderseits bekräftigt der Ausschuss das starke Engagement der EU für die Grundrechte und fordert die Kommission auf, bei der Ausarbeitung der entsprechenden Anpassungsregeln, im Hinblick auf den Schutz dieser Grundrechte wie Privatsphäre, Berufsgeheimnis oder die Verarbeitung von Daten, die von Anbietern elektronischer Kommunikationsdienstleistungen gespeichert werden könnten, größte Umsicht walten zu lassen.

4.9.2

Darüber hinaus erscheint es ratsam, eine wirksame Überwachung des lizenzfreien Zugangs neuer Nutzer der Frequenzbänder einzuführen, wenn für diese der dank ihrer technologischen Innovationen erbrachte Mehrwert von ausschlaggebender Bedeutung ist, insbesondere dann, wenn diese Nutzer die friedliche Nutzung der Frequenzen durch Dritte beeinträchtigen, deren Recht auf Schutz nicht durch eine NRB gewährleistet wird. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt mit Sorge fest, dass diese Liberalisierung Auswirkungen auf die Anwendung des Grundsatzes des Zugangs zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Polizei, Krankenwagen, Rettungsdienst usw.) haben kann.

4.9.3

Gleichermaßen sollte sorgfältig die Situation von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erbringenden Nutzern geprüft werden, die auf die Frequenzen zugreifen möchten. Im Wege einer supranationalen Bestimmung oder eventuell der Erlassung entsprechender Vorschriften könnte ihre Befreiung von der Entrichtung einer finanziellen Vergütung vorgesehen oder für sie nur ein symbolischer Betrag festgelegt werden.

4.9.3.1

Die obigen Ausführungen ändern nichts an der Pflicht, im Einklang mit dem EU-Recht – insbesondere was die Rechtsvorschriften über Inhalte und die Politik im audiovisuellen Bereich anbelangt – und mit dem Recht der Mitgliedstaaten, ihre Funkfrequenzen so zu organisieren und zu nutzen, dass die öffentliche Ordnung und Sicherheit gewahrt werden, Ziele von allgemeinem Interesse zu fördern.

4.10

Aus Gründen der Unabhängigkeit und Rechtssicherheit schlägt der EWSA außerdem vor, die Verantwortung für die Überwachung und Mitteilung der Existenz der zwischen den Nutzern geschlossenen Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung und deren Übereinstimmung mit den Wettbewerbsvorschriften den NRB und dem Gremium europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) zuzuweisen. Dies gilt für den Fall, dass sich eine strategische Planung, Koordinierung und Harmonisierung – insbesondere von Verfahren für die Erteilung allgemeiner Genehmigungen oder die Gewährung von individuellen Funkfrequenznutzungsrechten – als erforderlich erweist, um der Entwicklung des Binnenmarkts im Wege stehende Hindernisse zu beseitigen.

4.11

Die Kommission sollte in Zusammenarbeit mit Vertretern der Verbraucherverbände und Unternehmen einen „Verhaltenskodex“ über die Bereitstellung von Informationen auf EU-Ebene über die Anträge auf eine vorteilhafte gemeinsame Nutzung und deren Ergebnisse erarbeiten. Hierdurch würde die Verbreitung transparenter Verfahren und eine optimale Verwaltung der vorhandenen Frequenzressourcen bei der „Frequenzbestandsaufnahme“ erleichtert.

4.12

Schließlich fordert der Ausschuss die Kommission auf, auf der Grundlage der Arbeiten der Gruppe für Frequenzpolitik (RSPG) wie in Art. 291 AEUV vorgesehen einen Durchführungsrechtsakt auszuarbeiten, der zur Verwirklichung der Ziele in Bereichen wie ein gemeinsames Konzept für die Lizenzen für eine gemeinsame Nutzung beitragen würde, sowie die Bedingungen der Empfehlungen zur Förderung der Verwendung gemeinsamer Kriterien bei der Vergabe dieser Lizenzen in der EU, damit in allen Mitgliedstaaten deren Anwendung erleichtert wird.

4.12.1

Dieses Regelwerk sollte neben anderen wichtigen Aspekten den Schutz der Grundsätze des freien Wettbewerbs beinhalten sowie den Schutz der Sicherheit und der Rechte der Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste zum Gegenstand haben, wobei besonderes Gewicht auf die Senkung der Kosten für die von den Anbietern erbrachten Dienstleistungen gelegt werden sollte.

4.13

Der Ausschuss ist überzeugt, dass die technologischen Innovationen, die sich eventuell aus der größeren Zahl von im Frequenzspektrum aktiven Betreibern ergeben, mit Mitteln aus den EU-Fonds finanziert werden könnten, um der Technologie in den weniger entwickelten EU-Mitgliedstaaten Impulse zu verleihen.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein funktionierender Energiebinnenmarkt

COM(2012) 663 final

2013/C 133/05

Berichterstatter: Pierre-Jean COULON

Die Europäische Kommission beschloss am 15. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein funktionierender Energiebinnenmarkt

COM(2012) 663 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 94 gegen 2 bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss erachtet den Energiebinnenmarkt als Chance, um aus den verschiedenen energiepolitischen Entscheidungen in Europa Nutzen zu ziehen und ihr optimales Zusammenspiel – über Verbundnetze – zum Vorteil aller Verbraucher, d.h. Industrie wie Privathaushalte, sicherzustellen.

1.2

Der Ausschuss unterstützt das Konzept der Europäischen Kommission insofern, als es auf die Abschaffung von Maßnahmen abhebt, die den Endverbrauchern die Vorteile einer Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Energieentscheidungen verwehren.

1.3

Die Verbraucher müssen wieder ins Zentrum der Überlegungen gerückt werden; neue Funktionalitäten in Verbindung mit intelligenten Netzen und intelligenten Messsystemen (smart grids und smart meters) müssen in ihrem Interesse entwickelt werden.

1.4

Es besteht ein erhebliches Informationsdefizit in Bezug auf Zwecke und Modalitäten des Energiebinnenmarktes, dem lediglich mit einer umfassenden EU-Informationskampagne abgeholfen werden kann, an der alle Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt sind.

1.5

Die Bekämpfung von Energiearmut muss zur politischen Priorität in der EU werden. Der Ausschuss fordert den Rat und die Europäische Kommission auf, dieses Thema in den Mittelpunkt des Energiegipfels der Staats- und Regierungschefs im Mai 2013 zu stellen.

2.   Der Energiebinnenmarkt, ein unvollkommener Markt

2.1

Die Europäische Kommission fordert in ihrer Mitteilung zu Recht ein reibungsloses Funktionieren des Energiebinnenmarktes, um das im Februar 2011 von den Staats- und Regierungschefs der EU für 2014 festgesetzte Ziel zu erreichen. Diese haben damals die Notwendigkeit bekräftigt, den Energiebinnenmarkt bis zu dieser Frist zu vollenden, damit die europäischen Verbraucher ihren Strom- und Gasversorger frei wählen können.

2.2

Der Aufbau des Elektrizitäts- und Gasbinnenmarkts wurde 1996 ausgehend von zwei Überlegungen in Angriff genommen: Zum einen sollten die europäischen Verbraucher durch die Entflechtung von Energieinfrastrukturen und Energieerzeugung freie Wahl ihres Strom- und Gasversorgers (unabhängig von deren Mitgliedstaat) haben und zum anderen sollte sich ein effizienter Binnenmarkt vorteilhaft auf die Energiepreise auswirken und dynamische und zielführende Investitionssignale geben.

2.3

Die Verwirklichung dieser Ziele ist bislang jedoch nicht 100% gelungen. In einigen Mitgliedstaaten finden die Verbraucher aufgrund des Energiebinnenmarktes bereits flexiblere Wahlmöglichkeiten und wettbewerbsfähigere Tarife vor, wodurch die Preissteigerungen aufgrund der höheren Primärenergiekosten gedämpft werden; der Energiebinnenmarkt hat außerdem die Errichtung von liquideren und flexibleren Großhandelsmärkten ermöglicht, wodurch die Energieversorgungssicherheit in der EU gestärkt wurde. In den meisten Mitgliedstaaten war die Entwicklung der Energiemärkte jedoch durch den Übergang von (nationalen bzw. regionalen) Monopolen auf nach wie vor nationale oder regionale Oligopole mit nur sehr wenigen Berührungspunkte oder geringem Wettbewerb gekennzeichnet

2.4

Die neuen Instrumente (Börsen, Marktkoppelung usw.) betreffen nur sehr geringe Volumen, der Großteil des Handels ist nach wie vor auf nationaler Ebene organisiert. Wettbewerb bei der Stromerzeugung ist in einigen Mitgliedstaaten graue Theorie: In 8 der 27 Mitgliedstaaten werden 80% der Stromerzeugung von traditionell etablierten Unternehmen kontrolliert. Angesichts der marktbeherrschenden (oder in einigen Mitgliedstaaten sogar exklusiven) Stellung der nationalen Gasversorger ist auch der Gasbinnenmarkt überwiegend virtuell.

2.5

Der Energiebinnenmarkt gestaltet sich daher heute mehr als Nebeneinander nationaler Verfahren, Märkte und Unternehmen, die unter Aufsicht der nationalen Regulierungsbehörden und der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) die verschiedenen, in den letzten 20 Jahren angenommenen europäischen Rechtsvorschriften anwenden, denn als ein einheitlicher Wirtschaftsraum, der dank eines echten Wettbewerbs Vorteile für die europäischen Unternehmen und Verbraucher bringt. Die nationalen energiepolitischen Entscheidungen haben jedoch Auswirkungen auf die Energiepreise in den Nachbarländern, und Beschlüsse darüber können nicht unilateral gefasst werden.

2.6

Die Preise werden durch die Einrechnung undurchsichtiger, asymmetrischer und oftmals überzogener lokaler oder nationaler Steuern verzerrt, die teilweise in den letzten 15 Jahren eine 1 000%ige Steigerung erfahren und die Privathaushalte und stromintensiven Industrien schwer belastet haben. Aufgrund der nicht koordinierten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung der Entwicklung der erneuerbaren Energieträger, die teilweise nicht regelbar sind und prioritär ins Netz eingespeist werden, muss der europäische Markt schleunigst neugestaltet werden, um eine Beeinträchtigung des europäischen Elektrizitätssystems zu verhindern. Die Förderregelungen (bzw. Ausnahmen) für sämtliche Energieträger in allen Mitgliedstaaten müssen transparent sein, um ein faires Verhalten aller Marktakteure und die Einhaltung der EU-Wettbewerbsvorschriften im Energiebereich sicherzustellen.

2.7

Die weit verbreitete Praxis national geregelter Tarife liefert nicht die erforderlichen dynamischen Preissignale, um die Verbraucher zur Verringerung ihres Verbrauchs und zur Kontrolle ihrer Energierechnung anzuregen. Sie bietet außerdem keine Garantie, dass die reellen Energieversorgungs- oder -gestehungskosten abgedeckt sind. Dies kann die Bilanzen der Energieunternehmen und die in den kommenden Jahrzehnten notwendigen Investitionen in Erzeugung und Netzinfrastruktur beeinträchtigen.

2.8

Aufgrund mangelnder Aufklärung, Information und Transparenz versteht die Mehrheit der europäischen Bürger/Verbraucher weder Zweck noch Modalitäten des Energiebinnenmarkts. Obwohl der Markt für Privathaushalte theoretisch seit dem 1. Januar 2007 liberalisiert ist, ist die geringe Versorgerwechsel-Quote in einigen Mitgliedstaaten Ausdruck des chronischen Informations- und Kommunikationsdefizits der Regierungen, Regulierungsbehörden und Energieunternehmen.

3.   Schwerpunkte für die Vollendung des Energiebinnenmarkts

3.1

Angesichts der großen Herausforderungen, die Europa bewältigen muss (Weltwirtschaftskrise, Klimawandel, Versorgungssicherheit usw.) müssen Transparenz und Flexibilität erhöht sowie der Energiehandel und die Verbindungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgebaut werden, um Effizienz und Solidarität sowie die Optimierung der Investitionen zu fördern.

3.2

Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich die Kommissionsinitiativen und erachtet die Vollendung eines echten gemeinsamen Energiemarktes für 500 Millionen Verbraucher als zentralen Faktor für die Wiederankurbelung des Wachstums in Europa sowie die Errichtung einer europäischen Energiegemeinschaft. Energie, die in ausreichenden Mengen und zu wettbewerbsfähigen Preisen für alle zur Verfügung steht, ist seiner Meinung nach ein Schlüsselelement für die Entwicklung der europäischen Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die europäische Industrie braucht wettbewerbsfähige Energiepreise, um sich in diesem Rahmen zu behaupten und weiterzuentwickeln.

3.3

In diesem Sinne muss neben der rein formalen Anwendung der seit Dezember 1996 angenommenen Richtlinien und Verordnungen auch sichergestellt werden, dass der in den Energiebinnenmarkt-Dokumenten verankerte Grundgedanke gewahrt bleibt und die Mitgliedstaaten einen echten Wettbewerb auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene fördern. Der Ausschuss unterstützt Initiativen, um mittels beschleunigter Normung, die für einen erheblichen Ausbau erneuerbarer Energien unabdingbar ist, die Nutzung und Effizienz der Energieübertragungsnetze zu erleichtern. Er stimmt außerdem dem Ausbau von Energieverbundnetzen und der Marktkopplung sowie Projekten zur multilateralen Zusammenarbeit wie "Coreso" (eine technische Koordinierungsplattform für Transmission System Operators (TSO)) als Vorstufe für ein europäisches Verbundsystem für die Stromübertragung zu.

3.4

Geregelte Tarife, die in erster Linie auf nationalen politischen Überlegungen beruhen, reihen sich in ein protektionistisches Konzept ein, das den Interessen der EU zuwiderläuft und ein an die reellen Energiekosten angepasstes Verhalten der Verbraucher erschwert. Eine solche Verfahrensweise von Mitgliedstaaten kann nur vorübergehend geduldet werden. Es gilt, Preissignale, die die echte Kostenentwicklung (einschl. CO2) widerspiegeln, an die Verbraucher und Investoren zu senden, um informierte Entscheidungen zu fördern. Ein Energiepreis im Einklang mit den echten Kosten ist ein Baustein für eine bessere Verbrauchssteuerung und Impulsgeber für das notwendige Umdenken seitens der Verbraucher, die in dem neuen im Aufbau befindlichen Modell aktiver agieren müssen.

3.5

Gleichzeitig muss die lokale wie nationale Energiebesteuerung, die EU-weit erhebliche Unterschiede aufweist, geklärt und auf neue Grundlagen gestellt werden. So reicht die Bandbreite der auf Strom erhobenen Abgaben und der Mehrwertsteuer von 4,7% im Vereinigten Königreich bis 54,6% in Dänemark, ohne dass dabei jedoch der Energiegehalt des erzeugten Stroms berücksichtigt würde. Der Ausschuss befürwortet daher die Kommissionsinitiativen für eine einheitliche, intelligentere Energiebesteuerung in Europa. Für die Verwirklichung der 20-20-20-Ziele und die Senkung der CO2-Emissionen um 80 bis 95% bis 2050 ist ein gemeinsamer Steuerrahmen erforderlich, in dem die Steuerlast für erneuerbare und fossile Energieträger objektiv geregelt wird, wobei für jedes Produkt der Energiegehalt und die CO2-Emissionen eingerechnet werden.

3.6

Bei der Vollendung des Energiebinnenmarktes muss auch dem Phänomen der Energiearmut, das 13% der europäischen Haushalte, d.h. 65 Millionen Unionsbürger betrifft, Rechnung getragen werden. Der zu den grundlegenden Zielsetzungen dieses Binnenmarkts zählende Wettbewerb darf nur im Interesser aller Verbraucher in der EU stattfinden. Hierfür müssen die Bürger als Verbraucher wieder ins Zentrum der Überlegungen gerückt werden; es gilt, zügig eine europäische Definition von Energiearmut festzulegen, die nach Vorbild der europäischen Politik für Regionalbeihilfen den Anstoß für nationale Unterstützungsmaßnahmen geben kann. Die EU muss dafür sorgen, dass klar zwischen diesen notwendigen und dringlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Energiearmut und protektionistischen Preisbildungspraktiken unterschieden wird, die der Idee des Binnenmarktes zuwiderlaufen. Der Ausschuss schlägt vor, diese Frage in den Mittelpunkt des nächsten Energiegipfels der Staats- und Regierungschefs im Mai 2013 zu stellen und dabei einen europäischen öffentlichen Energiedienst zu skizzieren.

3.7

Nach Meinung des Ausschusses sind Erziehung, Information und Transparenz im Energiewesen eine Priorität (1), um die Verbraucher in die Lage zu versetzen, die besten Entscheidungen sowohl aus wirtschaftlicher Sicht als auch unter dem Blickwinkel der Energieeffizienz zu treffen und zu den günstigsten Versorgern zu wechseln. Die EU muss umfangreiche Kommunikationsanstrengungen unternehmen, um die gemeinsamen Herausforderungen und die grundlegenden Informationen für die europäischen Verbraucher auf einfache und konkrete Weise zu vermitteln.

3.8

Der Ausschuss erachtet die Verbraucherakzeptanz als eine unverzichtbare Voraussetzung für den erfolgreichen Ausbau der intelligenten Verbrauchsmessung, die Energieeffizienzpotenzial bieten kann. Es gibt jedoch noch viele offene Fragen – unter anderem, ob die potenziellen Vorteile die Kosten für die Verbraucher aufwiegen, sowie Datenschutzaspekte. Diese Probleme sollten im Interesse aller Energieverbraucher schnellstmöglich gelöst werden.

3.9

Der europäische Energiemarkt von morgen darf nicht mehr nur von der Logik des Angebots geleitet sein; er muss auch die Laststeuerung und -regelung in Industrie und Privathaushalten fördern und die neuen Funktionalitäten in intelligenten Netzen und Messsystemen ausschöpfen. Der Ausschuss unterstützt daher den Aufbau koordinierter Kapazitätsmechanismen auf europäischer Ebene, mit denen Verbrauchsspitzen abgefedert, das Funktionieren der europäischen Elektrizitätssysteme (insbesondere in Spitzenverbrauchszeiten) gewährleistet und eine Senkung des Energieverbrauchs gefördert werden können.

3.10

Der Ausschuss fordert eine echte europäische Debatte zur Energiewende, ihre Herausforderungen und Kosten sowie ihre koordinierte Verwirklichung in den Mitgliedstaaten. Europa kann nicht die Summe der in den 27 Mitgliedstaaten im rein nationalen Interesse verfolgten Energiepolitik sein. Die EU muss in der Lage sein, die Auswirkungen der Entscheidungen eines Mitgliedstaates auf die anderen zu bewerten. Die Einbindung der Zivilgesellschaft ist diesbezüglich von grundlegender Bedeutung. Die hierfür bestehenden Foren sind zu begrüßen. Es gilt, einen echten europäischen Energiedialog – insbesondere in den Mitgliedstaaten, im Einklang mit der europäischen Dimension – aufzubauen, an dem alle Interessenträger beteiligt sind.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 191 vom 29.6.2012, S. 11.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die vorübergehende Abweichung von der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft

COM(2012) 697 final - 2012/328 (COD)

2013/C 133/06

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat beschloss am 5. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die vorübergehende Abweichung von der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft

COM(2012) 697 final - 2012/328 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz betraute Antonello PEZZINI mit der Ausarbeitung der Stellungnahme und nahm ihre Stellungnahme am 29. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 136 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss bekräftigt seine Überzeugung, der er im Übrigen bereits in anderen Stellungnahmen Ausdruck verliehen hat, dass es für die Bekämpfung des Klimawandels und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Luftfahrt von grundlegender Bedeutung ist, eine umfassende Lösung für den Emissionshandel zu finden, die mit einem reibungslos funktionierenden einheitlichen europäischen Luftraum und mit diesen Zielen in Einklang stehenden Vorschriften einhergehen muss.

1.2

Der Ausschuss begrüßt daher die Initiative, die Anwendung des Emissionshandelssystems (ETS) auf Luftfahrtgesellschaften, die Flüge in den und aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durchführen, so lange aufzuschieben, bis die internationalen Verhandlungen abgeschlossen sind.

1.3

Der EWSA hält es jedoch für wichtig, dass alle Regionen der Welt sich darauf verständigen, die CO2-Emissionen bei intraregionalen Flügen zu begrenzen.

1.4

Der Ausschuss hebt die Risiken hervor, die dies für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Verkehrssektors mit sich bringt. Solange das für den EWR vorgesehene Moratorium gilt, werden Passagieren von innerhalb der EU durchgeführten Flügen Steuern berechnet, den anderen Passagieren hingegen nicht.

1.5

Der Ausschuss fordert daher den Rat und das Parlament auf, mit Unterstützung der Kommission auf eine auf einem globalen Ansatz beruhende rasche Lösung hinzuwirken, wobei ungerechte Benachteiligungen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden sind, die der Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung schaden würden, was in offensichtlichem Widerspruch zu der von allen befürworteten Europa-2020-Strategie steht.

2.   Einleitung

2.1

Die europäische Richtlinie 2008/101/EG, mit der seit 2012 auch der Luftverkehr, darunter auch Luftfahrtunternehmen aus Drittländern, in das europäische System für den Handel mit CO2-Emissionszertifikaten (ETS) einbezogen wird, wurde in einem Urteil als rechtmäßig erachtet (1), das unlängst vom Gerichtshof der Europäischen Union erlassen wurde, nachdem einige nordamerikanische Unternehmen Klage erhoben hatten, da die europäischen Rechtsvorschriften ihres Erachtens gegen mehrere internationale Abkommen verstoßen.

2.2

Gemäß dem Gerichtshof verstößt die „Anwendung des Systems für den Handel mit Emissionszertifikaten auf die Luftfahrt […] weder gegen die ins Feld geführten Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts noch gegen das ‚Open-Skies‘-Abkommen“. Demnach werden mit den europäischen Rechtsvorschriften die Ziele des Kyoto-Protokolls verfolgt, in dem der Abschluss einer Vereinbarung über die Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs durch die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) der Vereinten Nationen vorgesehen ist.

2.3

Um auf die Fortschritte zu reagieren, die bislang im Rahmen der internationalen Verhandlungen erzielt wurden, und ein diesen Verhandlungen förderliches Klima zu schaffen, beabsichtigt die Kommission, nichteuropäische Flüge vorübergehend vom Emissionshandelssystem (ETS) auszunehmen.

2.4

Im Rahmen des Emissionshandelssystems ist derzeit vorgesehen, dass die der Pflicht zur Emissionsreduzierung unterliegenden Unternehmen Emissionsgutschriften erhalten, die den ihnen gestatteten Tonnen CO2-Äquivalenten entsprechen, wobei deren Zahl von Jahr zu Jahr sinkt. Den Unternehmen, die ihre Emissionen über das verlangte Maß hinaus reduzieren konnten, wird eine andere Art von Gutschriften erteilt, die sie weniger vorbildlichen und stärker Gutschriften benötigenden Unternehmen verkaufen können. Seit 2012 gilt die ETS-Richtlinie auch für den Luftverkehr und alle an einem europäischen Flughafen ankommenden oder von dort abgehenden Flüge. Damit ist eine Rechenschaftspflicht über die Emissionen und der Teilnahme am ETS-Mechanismus verbunden, wobei April 2013 als Frist für die erste Abgabe der Zertifikate gesetzt wurde.

2.5

Um den Abschluss einer internationalen Vereinbarung durch die ICAO zu erleichtern, war eine vorübergehende Abweichung von der EU-Richtlinie über das ETS erforderlich, um sicherzustellen, dass Luftfahrzeugbetreibern, die den Richtlinienverpflichtungen zur Berichterstattung und zur Einhaltung der Bestimmungen nicht nachkommen, die sich in Bezug auf Flüge in die und aus der EU und bei auf Ziel- und Abflughäfen außerhalb der EU bezogenen Tätigkeiten vor dem 1. Januar 2014 ergeben, keine Sanktionen auferlegt werden

2.6

Durch das vorgeschlagene Vorgehen könnte jedoch gerade in den heutigen Zeiten der wirtschaftlichen Rezession die internationale Konkurrenzfähigkeit des europäischen Luftverkehrs beeinträchtigt werden: Das „Einfrieren“ der ETS-Vorschriften für ein Jahr in Erwartung internationaler Vorschriften über die Emissionen des Luftverkehrs (weltweiter Marktmechanismus) würde nicht für den Luftverkehr innerhalb der EU gelten.

2.7

Um derartige Benachteiligungen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, sollte diese Abweichung nach Ansicht des Ausschusses zeitlich begrenzt werden und lediglich für Luftfahrzeugbetreiber gelten, die entweder Zertifikate, die 2012 für solche Tätigkeiten kostenlos zugeteilt wurden, nicht erhalten oder alle solchen Zertifikate zurückgeben haben. Aus demselben Grund sollten diese Zertifikate nicht bei der Berechnung des diesbezüglichen Anspruchs berücksichtigt werden.

3.   Der Vorschlag der Kommission

3.1

Mit dem Richtlinienvorschlag sollen:

eine Fristaussetzung bewirkt werden, indem die Durchsetzung der Verpflichtungen der Flüge in die und aus der EU durchführenden Luftfahrzeugbetreiber im Rahmen des Emissionshandelssystem der Europäischen Union (ETS) vorübergehend aufgeschoben wird;

sichergestellt werden, dass Flüge in den und aus dem EWR organisierenden Luftfahrzeugbetreibern, die den in der Richtlinie 2008/101/EG vorgesehenen Verpflichtungen zur Berichterstattung und zur Einhaltung der Bestimmungen nicht nachkommen, die sich vor dem 1. Januar 2014 ergeben, keine Sanktionen auferlegt werden und

die ETS-Vorschriften im Rahmen des gemeinsamen Engagements zur Eindämmung des Klimawandels auch weiterhin ohne Einschränkung für Flüge zwischen Flughäfen im EWR gelten.

3.2

Der Vorschlag zielt unter anderem darauf ab, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, indem diese Abweichung lediglich auf die Luftfahrzeugbetreiber angewendet wird, die entweder Zertifikate, die 2012 für solche Tätigkeiten kostenlos zugeteilt wurden, nicht erhalten oder alle solchen Zertifikate zurückgeben haben.

4.   Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss hat sich bereits in seiner früheren einschlägigen Stellungnahme stark gemacht für:

eine umfassende Lösung für den Emissionshandel;

einen möglichst funktionsfähigen einheitlichen europäischen Luftraum und

geeignete Rechtsvorschriften.

„Die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Luftraums ist auch für die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Luftfahrtindustrie auf dem Weltmarkt von grundlegender Bedeutung“ (2), da der Luftverkehr mit 748 Mio. Passagieren pro Jahr, mehr als 11 Mio. Tonnen beförderten Gütern, einem Anteil am BIP von 359 Mrd. EUR und über 5 Mio. Beschäftigten eine wichtige Komponente der europäischen Wirtschaft ist.

4.2

Der Ausschuss stimmt daher der Entscheidung zu, die Anwendung des ETS auf die Luftfahrtunternehmen mit Flügen in den und aus dem EWR aufzuschieben, um den Abschluss der internationalen Verhandlungen abzuwarten, ist allerdings der Ansicht, dass sich alle Regionen weltweit darauf einigen sollten, das ETS sogar auf die intraregionalen Flüge anzuwenden..

4.3

Der Ausschuss hebt die Risiken hervor, die sich für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Verkehrssektors ergeben könnten. Solange das Moratorium für das ETS gilt, werden Passagieren von innerhalb der EU durchgeführten Flügen aufgrund zu Recht gestellter Umweltschutzanforderungen erhobene Steuern berechnet, den aus anderen Ländern ankommenden Passagieren hingegen nicht.

4.4

In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen fordert der Ausschuss eine auf einem globalen Ansatz beruhende rasche Lösung, wobei ungerechte Benachteiligungen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden sind. Sollte keine umfassende Lösung für den Emissionshandel gefunden werden, so würde dies zweifelsohne ein Hemmnis für den europäischen Markt darstellen, der als einziger dieser Art von Vorschriften unterläge.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Gerichtshof der Europäischen Union– Urteil in der Rechtssache C-366/10 – Air Transport Association of America u.a. / Minister für Energie und Klimawandel – Luxemburg, 21. Dezember 2011.

(2)  CESE 1391-2011, ABl C 376 vom 22.12.2011, S. 38.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/92/EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten

COM(2012) 628 final – 2012/0297 (NLE)

2013/C 133/07

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 19. November 2012 bzw. am 16. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2011/92/EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten

COM(2012) 628 final – 2012/0297 (NLE).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 29. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 116 gegen 11 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass das Konzept der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu einer Verbesserung der Umwelt in den Mitgliedstaaten und in der EU insgesamt beigetragen hat.

1.2

Die Frage, ob gültige Entscheidungen über die Umweltauswirkungen eines Projekts wirklich greifen können, hängt weitgehend von der Qualität und der Unabhängigkeit der in der UVP-Dokumentation verwendeten Informationen und der Qualität der Dokumentation selbst ab. Jede Qualitätsanalyse muss auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beruhen, und Qualität muss auch von den Genehmigungsbehörden gefordert werden, wobei ein konstruktiver Dialog mit der Zivilgesellschaft vorausgehen muss.

1.3

Nach Ansicht des EWSA muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Aufwendungen für Projekte kleiner und mittlerer Unternehmen sowohl in finanzieller, vor allem aber auch zeitlicher Hinsicht ein Hindernis darstellen können, insbesondere dann, wenn mit der Forderung, alternative Lösungswege für das Projekt zu suchen, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen wird.

1.4

Eine flexible und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtete Umsetzung der UVP-Richtlinie sollte es ermöglichen, bei Vorhaben, deren Umweltfolgen im Vorfeld bereits als bekannter- bzw. erwiesenermaßen unbedeutend eingestuft werden, die ökologischen Genehmigungsverfahren mit den Baugenehmigungsverfahren zu kombinieren. Der EWSA begrüßt und unterstützt die Schritte der Kommission, um mehr Rechtssicherheit für alle an der Umweltverträglichkeitsprüfung Beteiligten zu schaffen.

1.5

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, einen Zeitrahmen für die in der Richtlinie vorgesehenen Hauptphasen (öffentliche Konsultation, Screening-Entscheidung, endgültige UVP-Entscheidung) festzulegen und einen Mechanismus einzuführen, der die Harmonisierung und Koordinierung der UVP-Verfahren überall in der EU gewährleistet.

1.6

Nach Ansicht des EWSA sollte in dem Beschluss über die UVP eine Überwachung nur in begründeten Fällen und nur dann festgeschrieben werden, wenn es unbedingt erforderlich ist.

1.7

Im Zusammenhang mit dem Vorschlag, eine „Anpassung der UVP an neue Herausforderungen“ einzufügen, vertritt der EWSA die Ansicht, dass eine derartige Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie auf alle Vorhaben ausgerichtet sein muss, bei deren Durchführung mit Folgen für die einer Bewertung unterzogenen Umweltschutzaspekte zu rechnen ist. Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen hohen Stellenwert einnehmen, und die einzelnen Phasen der Vorbereitung und Durchführung des vorgeschlagenen Projekts sollten getrennt voneinander betrachtet werden.

1.8

Der EWSA unterstützt das Recht der Bürger auf Zugang zu Informationen und Beteiligung am UVP-Verfahren. Gleichzeitig fordert er, Verfahrensregeln für die Bewertung der Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt dergestalt festzulegen, dass es nicht zu einem Missbrauch der Bestimmungen der UVP-Richtlinie, d.h. zu Korruption und einer überflüssigen Verschleppung von Fristen kommen kann. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass die Bearbeitung von Beschwerden im Interesse aller Beteiligten innerhalb angemessener Fristen erfolgt.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1

Mit der Richtlinie 2011/92/EU wurden die Grundsätze der Umweltverträglichkeitsprüfung von Projekten harmonisiert, indem Mindestanforderungen eingeführt wurden, und somit ein Beitrag zu einem hohen Schutzniveau für die Umwelt und die menschliche Gesundheit geleistet.

2.2

Die Richtlinie 2011/92/EU muss geändert werden, um die Qualität des UVP-Verfahrens zu erhöhen, die einzelnen Verfahrensschritte zu rationalisieren und die Kohärenz und die Synergien mit anderen EU-Rechtsvorschriften und –Politiken sowie mit den Strategien und Politiken, die die Mitgliedstaaten in bestimmten in die nationale Zuständigkeit fallenden Bereichen erarbeitet haben, zu verstärken.

2.3

Ziel der Maßnahmen zur Vermeidung, Verringerung und zum weitestgehenden Ausgleich erheblicher nachteiliger Umweltauswirkungen ist, gemäß den Verpflichtungen der Europäischen Union im Rahmen des Übereinkommens und den Zielen und Maßnahmen der EU-Strategie zum Schutz der Biodiversität bis 2020 eine Verschlechterung der Qualität der Umwelt und Nettoverluste an Biodiversität zu vermeiden.

2.4

Der Klimawandel wird weiter Umweltschäden verursachen und die wirtschaftliche Entwicklung gefährden. Die ökologische, soziale und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union muss daher gefestigt werden, damit im gesamten EU-Gebiet wirksam gegen den Klimawandel vorgegangen werden kann. In zahlreichen Bereichen des EU-Rechts müssen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zur Abschwächung seiner Auswirkungen getroffen werden.

2.5

Um gemäß den Zielvorgaben der Mitteilung der Kommission „Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen, muss bei der Anwendung der Richtlinie 2011/92/EU ein wettbewerbsfähiges Geschäftsumfeld, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, sichergestellt werden.

2.6

Um die Qualität des Bewertungsverfahrens zu erhöhen und die Einbeziehung von Umweltaspekten bereits in einem frühen Entwurfsstadium zu ermöglichen, sollte der vom Projektträger für das Projekt zu erstellende Umweltbericht eine Bewertung vernünftiger Alternativen zu dem vorgeschlagenen Projekt enthalten, einschließlich der voraussichtlichen Entwicklung des aktuellen Umweltzustands für den Fall, dass das Projekt nicht realisiert wird (Basisszenario).

2.7

Um Transparenz und Verantwortlichkeit zu gewährleisten, sollte die zuständige Behörde verpflichtet sein, ihren Beschluss über die Genehmigung eines Projekts zu begründen und anzugeben, dass sie die Ergebnisse der durchgeführten Konsultationen und der zusammengetragenen einschlägigen Informationen berücksichtigt hat.

2.8

Es ist ein Zeitrahmen für die verschiedenen Phasen der Umweltprüfung von Projekten vorzusehen, um zu einer wirksameren Entscheidungsfindung beizutragen und die Rechtssicherheit zu erhöhen, wobei Art, Komplexität, Standort und Umfang des vorgeschlagenen Projekts zu berücksichtigen sind. Dieser Zeitrahmen sollte in keinem Fall zu Abstrichen bei den hohen Standards für den Umweltschutz, insbesondere denjenigen aufgrund anderer EU-Umweltvorschriften, noch bei der effektiven Beteiligung der Öffentlichkeit und dem Zugang zu den Gerichten führen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass das Konzept der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu einer Verbesserung der Umwelt in den Mitgliedstaaten und in der EU insgesamt beigetragen hat. Die UVP ist ein Querschnittsinstrument der Umweltpolitik und des Rechtssystems der EU und der Mitgliedstaaten, mit dem der Regelungsrahmen dieser Politik konkret ausgestaltet wird.

3.2

Der Vorschlag der Kommission, das System zur Bewertung der Umweltauswirkungen von Projekten weiter zu verbessern, beruht auf den umfassenden Erfahrungen, die in den 27 Jahren seit Annahme der ersten Richtlinie bei der Durchführung der UVP gesammelt wurden (1). Des Weiteren wurde eine öffentliche Konsultation durchgeführt, deren Ergebnisse zur Formulierung der vorgeschlagenen Änderungen und somit zur Anpassung der Bestimmungen der kodifizierten UVP-Richtlinie 2011/92/EU (2) beitrugen mit dem Ziel, Mängel zu beheben, laufende ökologische und sozioökonomische Veränderungen und Herausforderungen zu berücksichtigen und die Grundsätze intelligenter Rechtsetzung zu wahren.

3.3

Die Frage, ob gültige Entscheidungen über die Umweltauswirkungen eines Projekts wirklich greifen können, hängt weitgehend von der Qualität der Angaben in der UVP-Dokumentation und der Qualität des UVP-Verfahrens ab. Die Qualität sollte nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit objektiv bewertet und eingefordert werden, also nach dem Wert und dem Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen in der Phase der Planfeststellung. Zusätzlich zu der Qualität und der Unabhängigkeit der Informationen sollte gefordert werden, dass die verantwortlichen Akteure, insbesondere in den Genehmigungsbehörden, die erforderliche Kompetenz besitzen und beständig ausbauen. Der EWSA sieht es als notwendig an festzulegen, unter welchen Bedingungen die Bürger ein Gegengutachten fordern können.

3.4

Hier darf kein allgemeingültiges Muster zugrunde gelegt werden. Da jedes vorgeschlagenes Projekt in spezifischer Weise mit seiner Umgebung interagiert, müssen die Grundsätze zur Gewährleistung einer besseren Datenqualität bei der Bereitstellung der Basisinformationen sowie bei der Bewertung der möglichen Auswirkungen, der Alternativen und allgemein der Qualität der Daten stärkere Berücksichtigung finden. Die Flexibilität muss im Hinblick auf die Angemessenheit der Anforderungen bei der Umweltverträglichkeitsprüfung die entscheidende Rolle spielen. Dieses Prinzip ist die grundlegende Voraussetzung, um die Kohärenz mit anderen Rechtsvorschriften der EU zu stärken und die Verfahren zum Abbau überflüssigen Verwaltungsaufwands zu vereinfachen.

3.5

Die Förderung der Durchführung von UVP sollte eine Priorität und durch einen einheitlichen europäischen Rahmen geregelt sein, der allerdings die nötige Flexibilität und Möglichkeiten zur Anpassung bieten muss, insbesondere an die spezifischen lokalen und regionalen Bedürfnisse im Hinblick auf den Schutz der Gesundheit und der Umwelt. Gleichzeitig muss dieser Rahmen bei der Bewertung der Auswirkungen von Projekten in Grenzgebieten ausreichend klar definiert und verständlich sein, um unberechtigte Interessen zu vermeiden.

3.6

Für lokale, regionale und nationale Prüfungen müssen auf strategischer Ebene hochwertige Daten zugänglich sein, um projektspezifischen Bewertungen einen Kontext zu verschaffen. Die Verantwortung für die Erhebung und Bereitstellung solcher Daten für den Prüfungsprozess in sämtlichen Sektoren muss von den Behörden getragen werden.

3.7

Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in der Vorbereitungsphase verschiedene Änderungsoptionen für die UVP-Richtlinie untersucht hat und dass der Vorschlag schließlich nach eingehenden Analysen auf Grundlage einer Variante erarbeitet wurde, bei der die wirtschaftlichen Kosten im Rahmen bleiben und die – nach den Ergebnissen der UVP zu urteilen – angemessene Vorteile für die Umwelt bietet. Nach Ansicht des EWSA muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Aufwendungen für kleine und mittlere Unternehmen sowohl in finanzieller, vor allem aber auch zeitlicher Hinsicht ein Hindernis darstellen können, insbesondere in Bezug auf die Forderung, alternative Lösungswege für das Projekt zu suchen, was einem Vorhaben den Todesstoß versetzen kann.

3.8

Eine flexible und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtete Umsetzung der UVP-Richtlinie sollte es ermöglichen, bei Vorhaben mit im Vorfeld bereits bekannten bzw. erwiesenen, aber unbedeutenden Umweltfolgen die ökologischen Genehmigungsverfahren mit den Baugenehmigungsverfahren zu kombinieren, damit es in einer ganzen Reihe von Genehmigungsverfahren nicht zu unverhältnismäßigen und überflüssigen zeitlichen Verzögerungen kommt. Diese Empfehlung ist gerade heute wichtiger denn je, da die transeuropäischen Netze genehmigt werden, die für die Vereinheitlichung der Strom- und Gasmärkte sowie für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur erforderlich sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA befürwortet voll und ganz die Absicht der Kommission, mit der vorgeschlagenen Änderung der UVP-Richtlinie eine größere Kohärenz der Rechtsnormen in der EU zu erzielen, auch durch eine Präzisierung der Definitionen grundlegender Begriffe dort, wo es nötig ist. Der Antragsteller und die zuständige Behörde sollten indes nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit urteilen und sich zu dem jeweiligen Projekt gemeinsam über eine Zusammenstellung entsprechender Informationen und Auswahlkriterien verständigen, die für die jeweilige UVP erforderlich sind.

4.2

Des Weiteren begrüßt der EWSA den Vorschlag, einen Zeitrahmen für die in der Richtlinie vorgesehenen Hauptphasen (öffentliche Konsultation, Screening-Entscheidung, endgültige UVP-Entscheidung) festzulegen und einen Mechanismus einzuführen, der eine Art zentrale UVP-Anlaufstelle darstellt und damit die Koordinierung bzw. gemeinsame Durchführung der UVP mit den geforderten Umweltprüfungen gewährleistet. Es ist jedoch kontraproduktiv, der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit einzuräumen, die ursprünglichen drei Monate für die Durchführung der nötigen Untersuchung bzw. für das Screening-Verfahren um weitere drei Monate zu verlängern. Die Harmonisierung des Verfahrens in der gesamten EU ist einfach unerlässlich, und eine maximale Frist von drei Monaten plus einen Monat lässt der Verwaltungsbehörde einen genügend großen zeitlichen Spielraum, um die Schlussfolgerungen vorzulegen.

4.3

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, den Mitgliedstaaten in außergewöhnlichen Situationen zu gestatten, in dringenden und begründeten Fällen keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen. Der EWSA begrüßt darüber hinaus die Maßnahmen der Kommission für mehr Transparenz und Verantwortung sowie die Forderung, dass die zuständige Behörde ihre Genehmigung oder Ablehnung eines Projektes ordnungsgemäß begründet.

4.4

Der EWSA begrüßt und unterstützt die Schritte der Kommission, um mehr Rechtssicherheit für alle an der Umweltverträglichkeitsprüfung Beteiligten zu schaffen. Der EWSA ist jedoch davon überzeugt, dass es zur Verwirklichung dieses Teilziels erforderlich ist, nicht nur für die einzelnen Schritte im Zuge der Umweltverträglichkeitsprüfung, sondern auch für den Abschluss des gesamten Verfahrens und für die letztendliche Entscheidung über den Projektvorschlag verbindliche Fristen festzulegen. Besonders wichtig ist es, das Missbrauchsrisiko in den einzelnen Phasen des UVP-Verfahrens einzuschränken, denn durch diese Praktiken werden Entscheidungen über Gebühr hinausgezögert und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten geschmälert.

4.5

Wenn es darum geht, auf alternative Lösungen zurückzugreifen, worüber bereits häufig und vielerorts diskutiert wurde, empfiehlt der EWSA ein sehr behutsames Vorgehen. Es liegt auf der Hand, dass das sog. Basisszenario insbesondere bei Investitionen zur Modernisierung seine Berechtigung hat. Die Zahl der erarbeiteten Projektalternativen und die Einzelheiten dazu sollten dem Umfang und der Art des Vorhabens entsprechen und im Vorfeld mit der Genehmigungsbehörde abgestimmt werden.

4.6

In bestimmten Bereichen ist auf eine bessere Umsetzung zu achten; so sollte unter anderem gewährleistet sein, dass

die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt nicht aus dem Prüfungsrahmen herausfallen; diese werden wegen ihrer Unscheinbarkeit häufig nicht erkannt, können kumuliert jedoch ein signifikantes Ausmaß erreichen;

die Öffentlichkeit frühzeitig am UVP-Verfahren beteiligt wird;

die Verfahren zur Berücksichtigung der Standpunkte und Sachkenntnisse Dritter genau festgelegt werden;

die Umwelterklärungen und -prüfungen unabhängig und hochwertig sind;

es eine Prüfung und ein genau festgelegtes Verfahren für Fälle gibt, in denen die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen nicht greifen, und für Fälle, in denen erhebliche Umweltschädigungen auftreten;

die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt werden.

4.7

Ein weiteres Problem sind die Anforderungen an eine Überwachung: Der EWSA ist der Ansicht, dass eine Überwachung in die UVP-Entscheidung in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 2 der vorgesehenen Änderung nur in begründeten Fällen und nur in einem Ausmaß aufgenommen werden sollte, wie es zur Erfassung der wesentlichen Auswirkungen bei der Durchführung des Projekts unbedingt erforderlich ist. Die Überwachungsaufgaben im Laufe der Durchführung des Projekts/der Anlage werden in den geltenden Rechtsvorschriften zur integrierten Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (IPPC) festgelegt, und diese Bestimmung bleibt auch in der Richtlinie über Industrieemissionen in Kraft.

4.8

Im Zusammenhang mit dem Vorschlag, eine „Anpassung der UVP an neue Herausforderungen“ einzufügen, vertritt der EWSA die Ansicht, dass eine derartige Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie auf alle Vorhaben ausgerichtet sein muss, bei deren Durchführung mit Folgen für die einer Bewertung unterzogenen Umweltschutzaspekte zu rechnen ist. Der EWSA empfiehlt, folgende Aspekte zu berücksichtigen:

4.8.1

Im Hinblick auf den Schutz der biologischen Vielfalt sollten die Auswirkungen eines Projekts sowohl dann bewertet werden, wenn sie von regionaler Bedeutung sind, als auch dann, wenn sie auf lokaler Ebene spürbar sind. Zwar gibt es rechtliche Instrumente zum Schutz bestimmter Aspekte der Umwelt (z.B. Nationalparks, Naturschutzgebiete, NATURA-2000-Gebiete etc.), doch besteht ein klarer Bedarf an einem umfassenderen Bewertungsrahmen wie der UVP, der sowohl durch nationale als auch europäische Vorschriften geregelt wird.

4.8.2

Der Klimawandel ist ein globales Phänomen mit lokalen Auswirkungen und erfordert Maßnahmen vor Ort. Es ist schwierig, die Auswirkungen von Projekten zum weltweiten Klimawandel einzuschätzen und Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Hier sollte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten und auf nationaler und lokaler Ebene Beratung geboten werden. Auf dem Gebiet des Klimaschutzes sollte daher eine Bewertung auf die tatsächlichen, unmittelbaren Folgen des Projekts für das lokale Klima (Landnutzung, Wasservorräte) sowie auf seine Auswirkungen auf die Region ausgerichtet sein. Von besonderer Bedeutung für den EWSA ist auch eine Einschätzung der Möglichkeiten zur Abschwächung der erwarteten Folgen des Klimawandels (lokal, regional und global).

4.8.3

Der EWSA verweist darauf, dass das vorgeschlagene Kriterium – Treibhausgasemissionen – für die Bewertung der Auswirkungen einzelner Projekte auf den globalen Klimawandel nicht hinreichend ist. Aus diesem Grunde empfiehlt der EWSA, dafür einschlägige Leitlinien aufzustellen und eine Abschätzung der Auswirkungen großer Projekte und Programme auf den Klimawandel auch in die Phase der strategischen Umweltprüfung aufzunehmen

4.8.4

Die Bewertung der Katastrophenrisiken sollte nicht auf gänzlich hypothetische Fälle bzw. ihre hypothetische Kombination ausgerichtet werden. Eine solche Bewertung der Katastrophenrisiken in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist keine grundsätzlich neue Forderung, sofern es auch weiterhin um mögliche vorhersehbare Naturkatastrophen geht (Überschwemmungen, ausgedehnte Flächenbrände, Erdbeben).

4.8.5

Der EWSA erachtet es als notwendig, im Rahmen der Genehmigungsverfahren für die UVP einzuschätzen, inwiefern (natürliche) Ressourcen sparsam verwendet werden. Der sparsame Einsatz von Ressourcen ist ein einfaches ökonomisches Gesetz im Rahmen jedes Vorhabens, das Aussicht auf Umsetzung haben will; indes machen Verluste an biologischer Vielfalt deutlich, dass dennoch weitergehende Maßnahmen Not tun. Allerdings liegen während des UVP-Verfahrens nicht genügend Informationen für eine derartige Einschätzung vor. Dafür müssen einschlägige Leitlinien aufgestellt und relevante Informationen zusammengetragen werden. Die Einschätzung des Bedarfs an Rohstoffen, natürlichen Ressourcen und Energie im Rahmen von Anlageinvestitionen ist zwar Gegenstand der integrierten Genehmigung gemäß der Richtlinie über Industrieemissionen, doch Biodiversitätsverluste werden darin vernachlässigt.

4.9

Der EWSA unterstützt das Recht der Bürger auf Zugang zu Informationen und Beteiligung am UVP-Verfahren. Gleichzeitig fordert er, Verfahrensregeln für die Bewertung der Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt dergestalt festzulegen, dass es nicht zu einem Missbrauch der Bestimmungen der UVP-Richtlinie, d.h. zu Korruption und einer überflüssigen Verschleppung von Fristen kommen kann. 27 Monate für das Treffen einer Entscheidung sind nicht hinnehmbar, und die EU würde sich auf diese Weise als geeigneter Wirtschaftsraum für neue Investitionen disqualifizieren.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 175 vom 5.7.1985, S. 40-48.

(2)  ABl. L 26 vom 28.1.2012, S. 1.


ANHANG I

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Ziffern der Stellungnahme der Fachgruppe wurden aufgrund von Änderungsanträgen geändert, die im Plenum angenommen wurden, wobei jedoch mehr als ein Viertel der Mitglieder für ihre unveränderte Beibehaltung gestimmt hat (Artikel 54 Absatz 4 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.1 und 3.1 (gemeinsame Abstimmung)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass das Konzept der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) in besonderem Maße zu einer allmählichen, jedoch bedeutenden Verbesserung der Umwelt in den Mitgliedstaaten und in der EU insgesamt beigetragen hat. Die UVP ist ein Querschnittsinstrument der Umweltpolitik und des Rechtssystems der EU und der Mitgliedstaaten, mit dem der Regelungsrahmen dieser Politik konkret ausgestaltet wird.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

55

Nein-Stimmen

:

41

Enthaltungen

:

19

Ziffer 1.2 und 3.3 (gemeinsame Abstimmung)

Die Frage, ob gültige Entscheidungen über die Umweltauswirkungen eines Projekts wirklich greifen können, hängt weitgehend von der Qualität der Angaben in der UVP-Dokumentation und der Qualität des UVP-Verfahrens ab. Das Problem besteht jedoch darin, wie Qualität von den einzelnen Beteiligten aufgefasst wird. Sie sollte nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit objektiv bewertet und eingefordert werden, also nach dem Wert und dem Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen in der Phase der Raumplanung. Zusätzlich zu der Qualität der Informationen sollte gefordert werden, dass die verantwortlichen Akteure, insbesondere in den Genehmigungsbehörden, die erforderliche Kompetenz besitzen und beständig ausbauen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

65

Nein-Stimmen

:

44

Enthaltungen

:

13

Ziffer 3.4

Hier darf kein allgemeingültiges Muster zugrunde gelegt werden, da ein jedes vorgeschlagenes Projekt in spezifischer Weise mit seiner Umgebung interagiert, und die Flexibilität muss im Hinblick auf die Angemessenheit der Anforderungen bei der Umweltverträglichkeitsprüfung die entscheidende Rolle spielen. Dieses Prinzip ist die grundlegende Voraussetzung, um die Kohärenz mit anderen Rechtsvorschriften der EU zu stärken und die Verfahren zum Abbau überflüssigen Verwaltungsaufwands zu vereinfachen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

68

Nein-Stimmen

:

51

Enthaltungen

:

11

Ziffer 4.6

Die folgende Ziffer erschien nicht in der Stellungnahme der Fachgruppe:

In bestimmten Bereichen ist auf eine bessere Umsetzung zu achten; so sollte unter anderem gewährleistet sein, dass

die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt nicht aus dem Prüfungsrahmen herausfallen; diese werden wegen ihrer Unscheinbarkeit häufig nicht erkannt, können kumuliert jedoch ein signifikantes Ausmaß erreichen;

die Öffentlichkeit frühzeitig am UVP-Verfahren beteiligt wird;

die Verfahren zur Berücksichtung der Standpunkte und Sachkenntnisse Dritter genau festgelegt werden;

die Umwelterklärungen und -prüfungen unabhängig und hochwertig sind;

es eine Prüfung und ein genau festgelegtes Verfahren für Fälle gibt, in denen die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen nicht greifen, und für Fälle, in denen erhebliche Umweltschädigungen auftreten;

die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt werden.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

70

Nein-Stimmen

:

54

Enthaltungen

:

8

Ziffer 4.7 (wird zu Ziffer 4.8)

Im Zusammenhang mit dem Vorschlag, eine „Anpassung der UVP an neue Herausforderungen“ einzufügen, vertritt der EWSA die Ansicht, dass eine derartige Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ausschließlich auf Vorhaben ausgerichtet sein muss, bei deren Durchführung mit hohen und bezifferbaren Folgen für die einer Bewertung unterzogenen Umweltschutzaspekte zu rechnen ist. Der EWSA empfiehlt, folgende Aspekte zu berücksichtigen:

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

69

Nein-Stimmen

:

52

Enthaltungen

:

11

Ziffer 4.7.1 (wird zu Ziffer 4.8.1)

Im Bereich des Schutzes der biologischen Vielfalt sollten die Auswirkungen eines Projekts nur dann bewertet werden, wenn sie von mindestens regionaler Bedeutung sind oder aber auf lokaler Ebene Gebiete betreffen, die durch besondere Rechtsvorschriften geschützt werden (z.B. Nationalparks, Naturschutzgebiete, NATURA-2000-Gebiete etc.).

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

71

Nein-Stimmen

:

56

Enthaltungen

:

5

Ziffer 4.7.2 (wird zu Ziffer 4.8.2)

Der Klimawandel ist ein globales Phänomen, doch nur wenige Antragsteller sind in der Lage, den Einfluss ihrer Projekte auf den weltweiten Klimawandel in qualifizierter Weise einzuschätzen. Daher sollte hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten. Auf dem Gebiet des Klimaschutzes sollte daher eine Bewertung auf die tatsächlichen, unmittelbaren Folgen des Projekts für das lokale Klima (Landnutzung, Wasservorräte) sowie auf seine Auswirkungen auf die Region ausgerichtet sein. Von besonderer Bedeutung für den EWSA ist auch eine Einschätzung der Möglichkeiten zur Abschwächung der erwarteten Folgen des Klimawandels (lokal, regional und global).

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

84

Nein-Stimmen

:

53

Enthaltungen

:

6

Ziffer 4.7.3 (wird zu Ziffer 4.8.3)

Der EWSA verweist darauf, dass das vorgeschlagene Kriterium – Treibhausgasemissionen – für die Bewertung der Auswirkungen einzelner Projekte auf den globalen Klimawandel nicht hinreichend ist. Aus diesem Grunde empfiehlt der EWSA, in Übereinstimmung mit dem geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Abschätzung der Auswirkungen großer Projekte und Programme auf den Klimawandel in die Phase der strategischen Umweltprüfung aufzunehmen und von der Ausweitung des Anwendungsbereichs der UVP-Richtlinie auf die Problematik der globalen Klimaveränderungen Abstand zu nehmen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

74

Nein-Stimmen

:

51

Enthaltungen

:

7

Ziffer 4.7.5 (wird zu Ziffer 4.8.5)

Der EWSA erachtet es als verfrüht, im Rahmen der Genehmigungsverfahren für die UVP einzuschätzen, inwiefern (natürliche) Ressourcen sparsam verwendet werden. Der sparsame Einsatz von Ressourcen ist ein einfaches ökonomisches Gesetz im Rahmen jedes Vorhabens, das Aussicht auf Umsetzung haben will. Darüber hinaus liegen während des UVP-Verfahrens nicht genügend Informationen für eine derartige Einschätzung vor. Die Einschätzung des Bedarfs an Rohstoffen, natürlichen Ressourcen und Energie im Rahmen von Anlageinvestitionen ist Gegenstand der integrierten Genehmigung gemäß der Richtlinie über Industrieemissionen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

78

Nein-Stimmen

:

53

Enthaltungen

:

6


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/41


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit besonderen Auflagen für die Befischung von Tiefseebeständen im Nordostatlantik und Vorschriften für den Fischfang in internationalen Gewässern des Nordostatlantiks und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2347/2002

COM(2012) 371 final

2013/C 133/08

Berichterstatter: Mário SOARES

Der Rat beschloss am 3. September und das Europäische Parlament am 11. September 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit besonderen Auflagen für die Befischung von Tiefseebeständen im Nordostatlantik und Vorschriften für den Fischfang in internationalen Gewässern des Nordostatlantiks und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2347/2002

COM(2012) 371 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 29. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 89 gegen 3 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält es für zweckmäßig und dringend geboten, den Fortbestand der Tiefseearten und den Schutz des Meeresbodens zu gewährleisten. Die Komplexität dieser Problematik erfordert eine Lösung, die sich auf umfassende Daten und eine eingehende wissenschaftliche Analyse stützt. Es sollte dabei nach dem Vorsorgeprinzip vorgegangen werden, um den Einsatz von Fanggeräten zu vermeiden, deren Auswirkungen noch nicht in vollem Umfang bekannt sind und die Langzeitschäden verursachen könnten.

1.2

Darüber hinaus vertritt der EWSA die Ansicht, dass jegliche Änderung im Bereich dieser Fischereien sowohl der ökologischen als auch der sozialen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit Rechnung tragen muss, da eine große Zahl von Arbeitsplätzen sowohl auf See als auch an Land und letztlich auch die Lebensfähigkeit der Küstengemeinden davon abhängt. Alle Interessenträger sollten bei der Erarbeitung geeigneter Vorschriften für die Kontrolle der Fangtätigkeit und bei der gemeinsamen Um- und Durchsetzung dieser Vorschriften im Rahmen von Anhörungen und Verhandlungen eingebunden werden.

1.3

Der derzeit im Kapitel „Überwachung“ enthaltene Artikel über den Entzug von Fanggenehmigungen sollte in das Kapitel „Fanggenehmigungen“ aufgenommen werden, was nach Ansicht des EWSA die Kohärenz des Vorschlags erhöhen und alle Zweifel über die Rolle der in diesem Artikel erwähnten wissenschaftlichen Beobachter ausräumen würde, deren Tätigkeit auf keinen Fall als Überwachung wahrgenommen werden darf.

1.4

Der EWSA bekräftigt, dass alle Maßnahmen, die in diesem Bereich erlassen werden, sich auf wissenschaftliche Forschungen gründen müssen, womit bislang ausgezeichnete Ergebnisse erzielt wurden.

2.   Hintergrund

2.1

Im Zuge der von der Europäischen Kommission mit dem Grünbuch von 2009 (1) eingeleiteten Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) (2) sind weitere Änderungen der Verordnungen zur konkreten Umsetzung der GFP für bestimmte Fanggebiete und/oder Arten vorgesehen. Hierin reiht sich auch der in dieser Stellungnahme behandelte Vorschlag ein, mit dem gewissermaßen die allgemeinen Veränderungen, die es grundsätzlich für die GFP festzulegen gilt, insbesondere die Prinzipien der Nachhaltigkeit und der wissenschaftlichen Forschung als Grundlagen der Fischereitätigkeit, für die Befischung von Tiefseebeständen im Nordostatlantik eingeführt werden.

2.2

Die in dem neuen Vorschlag enthaltene Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 dient zum einen der Umsetzung der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Resolutionen 61/105 und 64/72, mit denen die Staaten und regionalen Fischereiorganisationen aufgefordert werden, Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Tiefseeökosysteme vor den schädlichen Auswirkungen der Fischereitätigkeit zu ergreifen und damit eine nachhaltige Ressourcennutzung als Grundregel jedweder Tätigkeit zu gewährleisten. Zum anderen sollen nach Aussage der Kommission bestimmte Mängel bei der Anwendung der derzeit geltenden Verordnung hinsichtlich des Geltungszeitraums korrigiert werden.

2.3

In der Zwischenzeit hat die Kommission angesichts der festgestellten Probleme mit der praktischen Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 eine Reihe von Vorschriften veröffentlicht, um den Inhalt dieser Verordnung anzupassen.

2.4

Hervorzuheben ist hier vor allem die Mitteilung vom 29. Januar 2007 über die Bestände von Tiefseefischarten und die Unterschiede zwischen den festgelegten zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) und den tatsächlichen Fangmengen, wobei als eine Ursache das Fehlen einer guten wissenschaftlichen Informationsbasis für die in der Verordnung aufgezählten Arten wie auch für die tatsächliche Fangkapazität der im Nordostatlantik operierenden Flotten, deren Quoten vor dieser Verordnung festgelegt worden waren, genannt wird. Zudem hielt man eine Beobachtung und Kontrolle dieser Fischereien mithilfe von VMS-Systemen (satellitengestütztes Überwachungssystem für Fischereischiffe) für erforderlich.

2.5

In der Verordnung (EG) Nr. 199/2008, die einen EU-Rahmen für die Erhebung, Verwaltung und Nutzung von Daten im Fischereisektor schuf, wurden die Vorschläge der Kommission zur Festlegung eines EU-Programms für die Durchsetzung der Bewirtschaftung und Kontrolle der Fischerei auf einer wissenschaftlichen Grundlage bis zu einem gewissen Grad aufgegriffen.

2.6

Schließlich gibt es noch die Verordnung (EU) Nr. 1262/2012 zur Festsetzung der Fangmöglichkeiten für Fischbestände bestimmter Tiefseearten für die Jahre 2013 und 2014, mit der der Pflicht zur Festlegung von jeweils zwei Jahre geltenden Fischereiplänen entsprochen wurde. In ihr werden die zulässigen Gesamtfangmengen und - noch wichtiger - die Aufteilung dieser Mengen festgelegt.

3.   Analyse des Vorschlags

3.1

Ausgangspunkt ist das Eingeständnis, dass die Verordnung (EG) Nr. 2347/2002 - gemessen an ihren Zielen - nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt hat, was vor allem für folgende Aspekte gilt:

die Empfindlichkeit vieler Tiefseebestände,

die negativen Auswirkungen von Grundschleppnetzen auf die empfindlichen Meeresökosysteme,

die hohen Mengen unerwünschter Beifänge,

die Schwierigkeit festzustellen, welches Maß an Befischung nachhaltig wäre, da die wissenschaftlichen Daten dafür fehlen bzw. nicht ausreichen.

3.2

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Erlass der zahlreichen, seit Inkrafttreten der Verordnung im Jahr 2003 veröffentlichten Durchführungsbestimmungen möglicherweise sowohl ökologische Schäden als auch wirtschaftliche Einbußen für die Fischereifahrzeuge verursacht hat. Aus diesem Grund und als Leitmotiv für die Debatte über den neuen Vorschlag gilt es, einen Weg der Vereinfachung, der Stabilität der Vorschriften und der Rechtssicherheit für die Mitgliedstaaten und die beteiligten wirtschaftlichen und sozialen Akteure einzuschlagen.

3.3

Tiefseefische können sowohl Zielarten als auch Beifänge anderer Fischereien sein. Generell zielt der Vorschlag darauf ab, möglichst eine nachhaltige Nutzung der Tiefseebestände sicherzustellen, die Folgen dieses Fischfangs für die Umwelt zu begrenzen und die Informationsbasis für wissenschaftliche Schätzungen zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, werden verschiedene Maßnahmen festgelegt, die nachstehend behandelt werden.

3.4   Nachhaltige Nutzung von Tiefseearten

3.4.1

Grundsätzlich werden die Fangmöglichkeiten so festgesetzt, dass die Befischung der Tiefseearten in einem Umfang erfolgt, der auf den höchstmöglichen Dauerertrag abgestimmt ist. Im Hinblick auf die angestrebte Nachhaltigkeit sind mehrere Maßnahmen vorgesehen: eine Regelung für Fanggenehmigungen, wobei jedes Unternehmen im Antrag eine oder mehrere der in der Liste aufgeführten Arten als seine Zielarten festlegen muss. Der EWSA stellt fest, dass die in diesem Vorschlag enthaltenen Listen, denen die Vereinbarungen in der Kommission für die Fischerei im Nordostatlantik (NEAFC) zu Grunde liegen, umfassender sind als die derzeit geltenden Listen und Fischereien beinhalten, die in der derzeit geltenden Regelung für Tiefseebestände nicht enthalten sind. Zweitens wird die Bedeutung der wissenschaftlichen Information gestärkt, wobei allerdings betont werden muss, dass die meisten Mitgliedstaaten über wissenschaftliche Einrichtungen und Instrumente verfügen, die eine vorbildliche Arbeit geleistet haben, welche einer nachhaltigen Fischerei dienlich ist.

3.4.2

Fangenehmigungen sind die zwingende Voraussetzung für die gewerbliche Tiefseefischerei, wobei nach einem Übergangszeitraum von zwei Jahren ein Verbot für bestimmte Fanggeräte (Grundschleppnetzen und Stellnetzen) in Kraft tritt. Fischereifahrzeuge mit anderen Zielarten dürfen in diesen Gebieten fangen, wenn sie eine Fangenehmigung besitzen, in der die Tiefseearten aufgeführt sind, die bis zu einem bestimmten Umfang als Beifang zulässig sind.

3.4.3

Bestimmte Arten (wie Butte oder Kaisergranat) können derzeit nur mit Schleppnetzen wirtschaftlich befischt werden. Hier würde ein sehr kurzfristig und ohne vorherige Verhandlungen mit den Interessenträgern erlassenes Verbot zu wirtschaftlichen Einbußen und Arbeitsplatzverlusten in diesem Sektor führen. Nach Auffassung des EWSA würden bessere wissenschaftliche Kenntnisse und eine kontrollierte Befischung dieser Arten zusammen mit anderen technischen und unterstützenden Maßnahmen eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Nutzung dieser Bestände ermöglichen. In diesem Zusammenhang sollte die Verbreitung von neuen Fischereigeräten unterstützt werden, die durch technische Lösungen eine Ablösung der derzeitigen Grundschlepptechniken durch andere Tiefseefangmethoden ermöglichen.

3.5   Wissenschaftliche Informationsbasis

3.5.1

Dieses Ziel ist ein stetiges Kriterium in der gesamten GFP: ohne wissenschaftliche Kenntnisse des Meeres und seiner Lebensräume ist es nicht möglich, Befischungsraten festzulegen, die mit einer nachhaltigen Nutzung der Bestände im Einklang stehen. Die fischereiliche Bewirtschaftung muss auf der Grundlage der für den höchstmöglichen Dauerertrag vorgegebenen Befischungsraten erfolgen.

3.5.2

Der EWSA hat sich bereits in seiner Stellungnahme zum Grünbuch und in späteren diesbezüglichen Stellungnahmen für bessere wissenschaftliche Kenntnisse über die Meeresumwelt und den Zustand der Bestände ausgesprochen und vorgeschlagen, dass die regionalen Fischereiorganisationen die Forschung und Datenerhebung koordinieren.

3.5.3

Der EWSA bekräftigt zudem seinen in der Stellungnahme zur Finanzierung der GFP (3) formulierten Vorschlag, diese Tätigkeit unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen und den Fischern bzw. ihren Zusammenschlüssen gemeinsam zu übertragen. Im Hinblick darauf weist der Ausschuss erneut auf die Notwendigkeit hin, das Humankapital durch Fortbildungsmaßnahmen zu fördern, insbesondere durch Lenkung von Nachwuchsforschern in den Bereich Meeresforschung.

3.6   Technische Maßnahmen zur Bestandsbewirtschaftung

3.6.1

Dem Vorschlag zufolge werden die Fangmöglichkeiten, die derzeit als Fischereiaufwandsgrenzen oder als Fangbeschränkungen festgelegt werden können, künftig nur noch als Fischereiaufwandsgrenzen festgesetzt. In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA seine Ansicht, dass jegliche Grenze oder Beschränkung wissenschaftlich begründet sein muss.

3.6.2

Die Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen festlegen, die einen Anstieg der Gesamtfangkapazität und der Beifänge an besonders gefährdeten Arten verhindern und Rückwürfen vorbeugen.

3.6.3

Damit die EU-Fischer, für die Fangquoten oder Aufwandsbeschränkungen gelten, nicht gegenüber ihren keinen Fangbeschränkungen unterliegenden Konkurrenten aus Drittstaaten benachteiligt werden, ersucht der Ausschuss die Kommission, sich energisch um den Abschluss von für alle Seiten verbindlichen regionalen Abkommen über die Erhaltung dieser Ressourcen zu bemühen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA stimmt in folgenden Aspekten des Vorschlags mit der Europäischen Kommission überein:

Tiefseeökosysteme und Tiefseearten sind durch die Tätigkeiten des Menschen besonders gefährdet.

Die Fischer arbeiten bereits mit Wissenschaftlern bei der Erforschung der Meeresumwelt und der Arten in der Tiefsee zusammen. Es gibt bereits eine regelmäßige Präsenz von Wissenschaftlern auf den Fischereiflotten.

In der Hauptsache sollte der Vorschlag darauf abzielen, eine nachhaltige Nutzung der Tiefseebestände sicherzustellen und die Folgen dieses Fischfangs für die Umwelt zu begrenzen. Dazu gilt es die bestehende Informationsbasis zu verbessern, die als Grundlage für wissenschaftliche Bestandsabschätzungen und den Erlass von Vorschriften über die Nutzung dieser Gewässer dienen muss.

Eine Regelung mit Fangenehmigungen ist ein geeigneter Weg, den Zugang zur Tiefseefischerei zu kontrollieren.

4.2

Zudem ist dem EWSA bewusst, dass die Fischerei mit Grundschleppfanggeräten nicht nur für die Tiefseearten, sondern auch für den Meeresboden der gefährdeten Zonen eine Bedrohung darstellen kann. Diese Fanggeräte dürfen allerdings auch nicht verteufelt werden, denn sie sind die einzigen, die, bei richtigem Einsatz, eine Nutzung anderer Bestände ermöglichen, ohne deshalb deren Nachhaltigkeit zu gefährden. Der EWSA schlägt vor, wissenschaftliche Kriterien für die Beschränkung ihres Einsatzes festzulegen.

4.3

Insgesamt vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass der Vorschlag in die richtige Richtung geht, dabei jedoch ein angemessener Ausgleich zwischen dem Schutz der gefährdeten Lebensräume und Arten und einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltigen Nutzung der Ressourcen gefunden werden muss. Aus diesem Grund vertritt er die Ansicht, dass ein Verbot von Grundfanggeräten (Grundschleppnetzen und Stellnetzen) ohne entsprechende Berücksichtigung der wissenschaftlichen Einschätzungen überzogen sein könnte.

4.4

Als Alternative zu einem Verbot schlägt der Ausschuss die Einhaltung der Internationalen FAO-Leitlinien für das Management der Tiefseefischerei auf hoher See vor, deren Anwendung auf internationaler Ebene und insbesondere in der Europäischen Union von den Vereinten Nationen positiv bewertet wurde. Überdies begrüßt er die Sicht der Kommission, dass die Umstellung auf andere Fanggeräte und die Schulung der Besatzungen finanziell unterstützt werden müssen, wobei diese Unterstützung im Hinblick auf die derzeitige wirtschaftliche und soziale Krise in Europa ausreichend bemessen sein sollte.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 53-58.

(2)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 183-195.

(3)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 133-140.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/44


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Empfehlung des Rates zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist

COM(2012) 301 final

2013/C 133/09

Berichterstatter: Thomas DELAPINA

Die Europäische Kommission beschloss am 14. August 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist

COM(2012) 301 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 21. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 161 gegen 3 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die Festlegung genereller wirtschaftspolitischer Leitlinien für die Länder der Eurozone als kohärenten Rahmen für die notwendige vertiefte Integration sowie für eine bessere und effizientere Koordinierung.

1.2

Weiters unterstützt der Ausschuss die nach Ländern differenzierte Formulierung von Empfehlungen und Prüfung der Umsetzung. Damit kann den Unterschieden in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und den nach Ländern unterschiedlichen Krisenursachen Rechnung getragen werden.

1.3

Der EWSA möchte allerdings die Empfehlung zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik zum Anlass nehmen, um auf Notwendigkeiten einer Reform der wirtschaftspolitischen Konzeption hinzuweisen, insbesondere im Hinblick auf die für 2014 zu erwartende Neuauflage der Leitlinien. Der Ausschuss hält den vorherrschenden makroökonomischen Policy-Mix für unausgewogen, da er die Bedeutung von Nachfrage und Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigt. Einige Reformbemühungen scheinen eine Stabilisierung der Finanzmärkte zu bewirken, so dass es im Rahmen der bisherigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik möglich sein sollte, stärkeres Augenmerk auf wachstumsfördernde Maßnahmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu legen. Nichtsdestoweniger ist die operationelle Kapazität des Bankensektors und der Finanzmärkte noch nicht zur Gänze wiederhergestellt. Andererseits erlaubt die Austeritätspolitik auch kein glaubwürdiges Expansionsprogramm zur Verringerung von Staatsschulden und Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: die Krise verschärfte sich – anstelle aus der Krise herauszuwachsen, wurde der Euroraum in eine double dip recession mit tiefreichenden, nicht nur wirtschaftlichen, sondern insbesondere sozialen Konsequenzen hineingespart. Eine Vernachlässigung dieser sozialen Konsequenzen bedeutet langfristig eine noch größere Gefährdung des Wachstums der europäischen Wirtschaft.

1.4

Stabilisierungsbemühungen der nationalen Politik sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie durch Entwicklungen auf den Finanzmärkten und durch Spekulation unterlaufen werden. Deshalb fordert der Ausschuss eine straffere Re-Regulierung der Finanzmärkte unter Einbeziehung des Schattenbanksystems, koordiniert auf G-20 Ebene, sowie eine Redimensionierung des Finanzsystems, das wieder in Einklang mit den Bedürfnissen der Realwirtschaft gebracht werden muss. Der EWSA fordert eine „realwirtschaftliche Erneuerung“ in Europa, durch welche unternehmerisches Handeln wieder gegenüber spekulativen Motiven in den Mittelpunkt rückt.

1.5

Ein glaubwürdiges solidarisches Sicherheitsnetz, das auch auf dem soliden Fundament wohlverdienten Vertrauens fußt, könnte gewährleisten, dass Spekulation gegen Problemländer aussichtslos erscheinen lassen und damit deren Finanzierungskosten senken. Auch gemeinsame europäische Anleihen sowie eine Verringerung der Abhängigkeit von Ratingagenturen können zur Senkung der Finanzierungskosten in Krisenländern beitragen.

1.6

Die Maßnahmen zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, die aus einer Vielzahl von Gründen, u.a. wegen der Kosten für Bankenstützungen und Konjunkturbelebungsmaßnahmen und in manchen Ländern für das Platzen der Bau- und Immobilienblasen unabdingbar sind, sind von unterschiedlicher Dringlichkeit, so dass es hierfür breit gefächerterer und flexiblerer Zeitrahmen bedarf. Außerdem sollten diese auch die Nachfrageeffekte berücksichtigen und auf die sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele der EU-2020-Strategie abgestimmt sein. Denn Wachstum und Beschäftigung sind die zentralen Faktoren für eine erfolgreiche Konsolidierung. Ein niedriges Haushaltsdefizit ist vor allem das Ergebnis einer günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und einer guten wirtschaftspolitischen Steuerung - und nicht deren Voraussetzung.

1.7

Eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung muss ausbalanciert sein, indem sie einerseits auf die Balance von Angebots- und Nachfrageeffekten achtet, und andererseits gleichermaßen die Ausgaben- und die Einnahmenseite beachtet. Der Ausschuss weist mit Nachdruck darauf hin, dass ein integrierter haushaltspolitischer Rahmen („Fiskalunion“) nicht nur die Staatsausgaben betrifft, sondern auch die Staatseinnahmen umfasst. Der Ausschuss fordert ein generelles Überdenken nicht nur der Ausgaben, sondern auch der Steuersysteme unter Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit. Er weist auf eine Reihe möglicher Maßnahmen zur Stärkung des Steueraufkommens hin, mit denen die Finanzierung des gewünschten Niveaus an Sozialschutz und zukunftsgerichteter öffentlicher Investitionen sichergestellt werden kann. Eine Harmonisierung von Steuerbemessungsgrundlagen und –systemen auf Basis eingehender Analysen der unterschiedlichen Wirtschaftssysteme innerhalb der EU wäre erstrebenswert. Sie würde Wettbewerbsverzerrungen in der EU vermeiden, anstatt über einen Steuersenkungswettlauf die Erosion der öffentlichen Einnahmen weiter voranzutreiben.

1.8

Der EWSA dringt auf eine Neubewertung der fiskalischen Multiplikatoren im Lichte der Ergebnisse der umfangreichen internationalen Forschungsarbeiten, die nahelegen, dass diese Multiplikatoren in einer Rezession von Land zu Land unterschiedlich sind und eine deutlich stärkere nachteilige Wirkung auf das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung haben als bislang angenommen. Die Politik sollte sich verstärkt den Umstand zunutze machen, dass die negativen Einkommens- und Beschäftigungsmultiplikatoren von einnahmeseitigen Maßnahmen in der Regel geringer sind als bei Ausgabenkürzungen, insbesondere wenn diese einnahmenseitigen Maßnahmen Bevölkerungsgruppen mit geringerer Konsumneigung treffen. Daraus könnten sich Möglichkeiten ergeben, durch budgetsaldoneutrale Umschichtungen Beschäftigung und Nachfrage zu schaffen, indem Mittel für expansive Maßnahmen frei werden, etwa für Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme, für Investitionen in Industrie, Forschung und in soziale Dienstleistungen. Dies wiederum trägt zur dringend notwendigen Stärkung der Zuversicht von Unternehmen und von Konsumenten bei.

1.9

Insbesondere in den Überschussländern würden durch solche expansiven Maßnahmen auch die Importe stimuliert. Eine EU-weite Koordinierung solcher Maßnahmen wäre noch wesentlich effizienter, da die Importquote der Eurozone insgesamt (also gegenüber Drittländern) wesentlich geringer ist als für jede einzelne Volkswirtschaft für sich betrachtet.

1.10

Beim Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte sind im Sinne der notwendigen Symmetrie die Überschussländer gefordert, ihre Gewinne aus den Exporten in Wohlstandsgewinne für breite Bevölkerungskreise zu übertragen. Eine solche Steigerung der inlandswirksamen Nachfrage würde auch zur Reduktion ihrer „Importdefizite“ beitragen.

1.11

Neben der geforderten Neuausrichtung des makroökonomischen Policy-Mix können auch sozial verträglich gestaltete Strukturreformen die Nachfrage stärken und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft verbessern.

1.12

Im Allgemeinen ist die Konzentration auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit beim Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte, vielfach verbunden mit der Forderung nach Lohnmäßigung, nicht zielführend. Lohnzurückhaltung zur Förderung der Exporte in allen Ländern der Eurozone gleichzeitig hat nicht nur folgenschwere Umverteilungseffekte, sondern sie verringert die Nachfrage insgesamt und führt zu einer Abwärtsspirale, in der alle Länder verlieren.

1.13

Der Ausschuss erneuert seine Forderung nach einer Lohnpolitik, welche den Produktivitätsspielraum ausschöpft, und er lehnt staatliche Vorgaben und Eingriffe in die autonome Tarifvertragspolitik als vollkommen unakzeptabel ab.

1.14

Andere, oft bedeutendere Kostenfaktoren als die Löhne, werden zumeist vernachlässigt. Auch wird dabei die Bedeutung nicht-preislicher Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit ausgeblendet. Europa wird im globalen Wettbewerb aber nur mit einer „high road“-Strategie einer qualitativ hochwertigen Wertschöpfung Erfolg haben. Eine „low road“-Strategie des Kostenunterbietungswettlaufes mit anderen Weltregionen wäre zum Scheitern verurteilt.

1.15

Insgesamt hat das europäische Sozialmodell durch die automatischen Stabilisatoren des sozialen Sicherheitssystems die Krisenbewältigung begünstigt, indem Nachfrage und Vertrauen gestützt wurden. Eine Reduktion dieses System birgt die Gefahr eines Abgleitens in eine tiefe Depression wie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

1.16

Generell plädiert der Ausschuss für eine Stärkung der Rolle der Sozialpartner auf nationaler und auf europäischer Ebene sowie für eine Intensivierung der europaweiten Koordinierung der Lohnpolitik, etwa durch eine Aufwertung des Makroökonomischen Dialoges, der auch in der Eurozone eingeführt werden sollte. Die Neuformulierung der Leitlinien sollte berücksichtigen, dass Länder mit einer funktionierenden Sozialpartnerschaft die Krisenfolgen besser abfedern konnten als andere Länder.

1.17

Darüber hinaus fordert der Ausschuss erneut die möglichst frühe und umfassende Einbindung der Sozialpartner und der anderen repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft in die Politikformulierung. Notwendige Veränderungen und Reformen sind nur dann erfolgversprechend und werden nur dann Akzeptanz finden, wenn die Lastenverteilung als fair empfunden wird.

1.18

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Europa benötigt ein neues Wachstumsmodell, welches gekennzeichnet ist durch Kampf gegen die unakzeptable Arbeitslosigkeit, durch ausreichenden Spielraum für Zukunftsinvestitionen sowie für soziale und ökologische Investitionen, wodurch Wachstum und Nachfrage geschaffen werden. Durch haushaltspolitische Umschichtungen und Sicherstellung einer ausreichenden Einnahmenbasis unter Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit müssen die Sozialsysteme zur Erhöhung der Produktivkraft und zur Stabilisierung von Nachfrage und Vertrauen gestärkt werden. Mit einem solchen Wachstumsmodell wird auch die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ermöglicht.

2.   Hintergrund

2.1

In der „Empfehlung des Rates vom 13. Juli 2010 über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Union“ wurden folgende Leitlinien festgelegt, welche bis 2014 unverändert bleiben, damit das Hauptaugenmerk auf die Umsetzung gelegt werden kann:

—   Leitlinie 1: Gewährung der Qualität und langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

—   Leitlinie 2: Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte

—   Leitlinie 3: Abbau von Ungleichgewichten im Euro-Währungsgebiet

—   Leitlinie 4: Optimierung der FuE- sowie der Innovationsförderung, Stärkung des Wissensdreiecks und Freisetzung des Potenzials der digitalen Wirtschaft

—   Leitlinie 5: Verbesserung der Ressourceneffizienz und Abbau der Treibhausgase

—   Leitlinie 6: Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen und Verbraucher und Modernisierung und Weiterentwicklung der industriellen Basis, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen

2.2

In diesem Sinne legte die Kommission am 30.5.2012 ihre jüngste „Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ vor, welche eine Aktualisierung der Empfehlungen zur generellen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik im Euroraum enthält. Weiters wurden einzelne länderspezifische Empfehlungen für alle 27 Mitgliedstaaten der Union verfasst. Am 6. Juli 2012 verabschiedete der Rat der Europäischen Union die entsprechenden Dokumente.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission um einen kohärenten Rahmen für die dringend notwendige bessere Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik. Diese ist unumgänglich, um wieder einen dauerhaften Kurs in Richtung Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Denn es besteht die Gefahr, dass Maßnahmen zum Abbau der Ungleichgewichte zwar für ein isoliert betrachtetes Land sinnvoll sein können, diese für die Eurozone insgesamt aber kontraproduktiv sind.

3.2

Daher sind eine gesamthafte europäische Betrachtung, ein europäisches Denken und Verständnis notwendig. Der Ausschuss teilt somit den Standpunkt der Kommission, dass eine echte wirtschaftspolitische Zusammenarbeit, zumindest in der Eurogruppe, einer vertieften Integration sowie einer besseren und effizienteren Koordinierung bedarf. Dabei muss den Unterschieden in der wirtschaftlichen Leistung der Mitgliedstaaten (BIP-Niveau und Wachstum, Arbeitslosenquoten und Trends, Höhe und Struktur von Haushaltsdefizit und Verschuldung, Ausgaben für FuE, Sozialausgaben, Leistungsbilanzsaldo, Energieversorgung, …) Rechnung getragen werden.

3.3

Die seit 2008 andauernde Krise nahm in den USA ihren Ausgang und weitete sich zur globalen Krise aus. In deren Folge wurde erkennbar, dass die Architektur der Währungsunion zu sehr auf die Marktkräfte vertraute und der Gefahr von Ungleichgewichten nicht angemessen begegnet. Wie die Entwicklung der öffentlichen Haushalte in der Eurozone insgesamt bis 2008 zeigt, war mangelnde Haushaltsdisziplin nicht generell die Krisenursache.

Verhältnis Schulden/BIP in % (Quelle: AMECO 2012/11)

Image

3.4

Im Durchschnitt der Eurozone ergab sich der Anstieg von Defiziten bzw. Schuldenständen erst durch den massiven Einsatz von öffentlichen Mitteln zur Rettung des Finanzsystems sowie zur Stützung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, die infolge der Finanzkrise (1) eingebrochen waren, sowie durch sinkende Staatseinnahmen, insbesondere aufgrund des Beschäftigungsrückgangs. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung für die Entwicklung wirtschaftspolitischer Strategien, denn eine falsche Diagnose führt zu einer falschen Medikation. Daher begrüßt der EWSA grundsätzlich die länderspezifische Differenzierung bei der Beurteilung der Umsetzung der Leitlinien.„One size does not fit all“, da auch die Krisenursachen nach Ländern sehr unterschiedlich sind.

3.5

Der EWSA möchte allerdings die Gelegenheit nutzen, um auf die Notwendigkeit einer Reform der wirtschaftspolitischen Konzeption hinzuweisen. Diese betrifft nicht nur die jährlichen Überprüfungen, sondern ist auch von besonderer Relevanz für die nächste Version der wirtschaftspolitischen Leitlinien im Jahr 2014.

3.6

Europa befand sich 2012 im fünften Jahr der Krise. Kurz nach Festlegung der aktuellen Leitlinien wurde in der Herbstprognose 2010 der Europäischen Kommission für die Eurozone noch mit einem BIP-Wachstum von 1,6 % und mit einer Arbeitslosenquote von 9,6 % im Jahr 2012 gerechnet. Tatsächlich befand sich die Eurozone in diesem Jahr in einer Rezession, und die Arbeitslosenquote ist auf über 11 % angestiegen, in manchen Ländern sogar auf Werte um 25 %.

3.7

Im Gegensatz dazu wächst die Wirtschaft der USA mit Raten um 2 % – zwar mäßig, aber stetig – unterstützt von einer anhaltend stark expansiven Geldpolitik sowie dem sozial- und fiskalpolitischen Kurs der Regierung. Konsum, Investitionen und Industrieproduktion entwickeln sich robust, sodass die Arbeitslosenquote deutlich unter ihrem Höchststand vom Oktober 2009 liegt (2).

3.8

Während das „Europäische Konjunkturprogramm“ aus dem Jahr 2008, das noch voll unter dem Eindruck des rapiden Wirtschaftsabsturzes nach der Lehman-Pleite stand, die Notwendigkeit einer aktiven Stärkung der Binnennachfrage und der Regulierung von Märkten erkannte, kehrte die Wirtschaftspolitik rasch wieder zu ihrer traditionellen Ausrichtung zurück. Die auch vom EWSA wiederholt geäußerte Warnung, dass Europa aus der Krise herauswachsen müsse und nicht in die nächste Krise hineinsparen dürfe, blieb ungehört – und die befürchtete double dip recession ist damit Wirklichkeit geworden.

3.9

Erstens bezieht sich der Fehlschlag der europäischen Wirtschaftspolitik auf die nicht gelungene Stabilisierung der Finanzmärkte. Hohe Volatilität, hohe Spreads sowie überhöhte langfristige Zinssätze und hohe Liquiditätshaltung der Banken zeigen, dass die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems trotz erster wichtiger Schritte in Richtung Bankenunion noch immer nicht voll wiederhergestellt ist. Die entsprechende Verunsicherung von Unternehmen und Konsumenten hemmt weiterhin die Wachstumschancen.

3.10

Zweitens ist es der Wirtschaftspolitik nicht gelungen, den Mangel an interner und externer Nachfrage zu bekämpfen. Die eklatante Verschärfung der Vorgaben für die Budgetpolitik der Mitgliedstaaten sowie der viel zu früh, zu radikal und noch dazu gleichzeitig in allen Ländern erfolgte Wechsel zu einer restriktiven Fiskalpolitik bewirkten eine Dämpfung aller wesentlichen Komponenten der Binnennachfrage. Und dass sich auch die Wachstumsimpulse durch die Auslandsnachfrage in engen Grenzen halten, ist evident, wenn sich die wichtigsten Handelspartner – nämlich die anderen Mitgliedstaaten – gleichzeitig auf Sparkurs befinden. Zur Dämpfung der Binnennachfrage kommt also die gegenseitige Verringerung der Exportchancen dazu.

3.11

Der aktuelle makroökonomische Policy-Mix ist unausgewogen, da er nachfrageseitige sowie Verteilungsaspekte vernachlässigt. Er ist „more of the same“ derjenigen Politik, die schon zum Scheitern der Lissabon-Strategie führte, da sie den Mangel an Binnennachfrage in wesentlichen großen Mitgliedstaaten und die wachsende Verteilungsungleichheit übersah. Sie ist einseitig auf haushaltspolitische Konsolidierung sowie auf eine Strategie der Kostensenkung zur Erhöhung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit konzentriert. Der Ausschuss begrüßt zwar die Forderung der Kommission nach einer wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung, welche auch in nachfolgenden Kommissionsdokumenten wie im Jahreswachstumsbericht 2013 (3) betont wird. Diese scheint allerdings nur auf dem Papier zu existieren, denn die Empirie liefert bislang keine Belege für deren Umsetzung.

3.12

Es ist der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene nicht gelungen, Maßnahmen zu ergreifen, die im Rahmen eines glaubwürdigen Expansionsprogramms die gleichzeitige Verringerung von Staatsschulden und Arbeitslosigkeit ermöglichen. Markante Kürzungen von Staatsausgaben, insbesondere im Bereich des Sozialstaates, sowie Erhöhungen von Massensteuern haben in ohnehin schon schrumpfenden Wirtschaften verheerende Folgen. Das verfügbare Einkommen wird reduziert und damit auch die Konsumnachfrage, die Produktion und die Beschäftigung. Damit bremst die Austeritätspolitik die Steuereinnahmen deutlich stärker, als dies ursprünglich angenommen wurde, wie auch der IWF in seiner jüngsten Prognose eingestehen muss (4). Dadurch wird die Rezession zusätzlich verschärft, was letztlich noch höhere Haushaltsdefizite zur Folge hat – ein Teufelskreis, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Die hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten werden dabei in Form einer drastisch steigenden Arbeitslosigkeit spürbar.

3.13

Es ist evident, dass – vor allem aufgrund der Kosten für Bankenstützungen, Konjunkturbelebungsmaßnahmen und das Platzen von Bau- und Immobilienblasen in manchen Ländern – je nach Land unterschiedlich ausgeprägte Konsolidierungspfade zur Sicherung der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen erforderlich sind. Allerdings weist der EWSA darauf hin, dass Schuldenabbauprogramme auf die in der Europa-2020-Strategie genannten Zielsetzungen für den wirtschaftlichen Aufschwung sowie auf die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele dieser Strategie abgestimmt sein müssen. Wachstum und Beschäftigung sind die zentralen Faktoren für eine gelungene Konsolidierung, wohingegen radikale Sparmaßnahmen neben immensen sozialen Verwerfungen die Schuldenquote sogar erhöhen können.

3.14

Auch wenn sich der Ausschuss in dieser Stellungnahme vor allem auf Aspekte des makroökonomischen Policy-Mix konzentriert, soll dies die Bedeutung von Strukturreformen nicht schmälern. Sozial verträglich gestaltete Strukturreformen müssen beispielsweise in den Bereichen Abgabensystem, Energieversorgung, Verwaltung, Bildung, Gesundheit, Wohnbau, Transport und Pensionen zum Erstarken von Nachfrage und Leistungsfähigkeit beitragen, wobei den Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder Rechnung getragen werden muss.

3.15

Auch die Regional- und Strukturpolitik sollten einen Fokus auf die Steigerung der Produktivität richten, um eine Modernisierung bzw. den Aufbau einer nachhaltigen Industrie- und Dienstleistungswirtschaft zu ermöglichen. Generell kann konstatiert werden, dass Länder mit einem größeren Industrieanteil an der Gesamtwirtschaft weniger hart von der Krise getroffen wurden, was entsprechende Industrialisierungsstrategien nahelegt.

3.16

Allerdings möchte der Ausschuss das vorherrschende, zumeist etwas eingeengte Verständnis des Begriffes „Strukturreform“ erweitern. Bei der Forderung nach Strukturreformen sollten beispielsweise auch die Struktur der Finanzmarktregulierung, die Struktur der Koordinierung der Steuersysteme und die Struktur der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen mitbedacht werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Finanzsystem

4.1.1

Der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, welche die Bedeutung der Stabilisierung und des reibungslosen Funktionierens des Finanzsystems betont. Denn Grundvoraussetzung jeder erfolgreichen Krisensanierung und –prävention ist es, dass die Spielräume der Wirtschaftspolitik nicht von der Spekulation auf Finanzmärkten unterlaufen und konterkariert werden. Das ergibt die Notwendigkeit einer klaren, effizienten Struktur der Aufsicht und einer strafferen Regulierung der Finanzmärkte (unter Einbeziehung des Schattenbanksystems), von welchen größere Destabilisierungsgefahren ausgehen als von einem Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Um Ausweicheffekte zu vermeiden, sollten entsprechende Schritte innerhalb der G-20 koordiniert werden. Die Finanzmärkte müssen auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Sie müssen wieder der Realwirtschaft dienen und dürfen nicht als Konkurrenz zu dieser auftreten (5).

4.1.2

Um die durch Spekulation künstlich erhöhten Finanzierungskosten der Krisenstaaten zu reduzieren, ist einerseits eine Verringerung der Abhängigkeit von privaten Ratingagenturen anzustreben. Andererseits könnte ein glaubwürdiges solidarisches Sicherheitsnetz, das auch auf dem soliden Fundament wohlverdienten Vertrauens fußt, gewährleisten, dass eine Spekulation gegen Problemländer aussichtslos erscheint, und diese somit unterbinden. Vor Kurzem wurden einige bedeutende Schritte in diese Richtung gesetzt (jüngstes Programm der EZB zum Aufkauf von Staatsanleihen, endgültiges Inkrafttreten und volle Funktionsfähigkeit des ESM…). Auch gemeinsame europäische Anleihen können unter geeigneten Rahmenbedingungen zur Entlastung der Haushaltslage in den Krisenländern beitragen (6).

4.1.3

Der Ausschuss weist auf die Notwendigkeit hin, die Verbindung zwischen Geschäftsbanken und Staatsverschuldung zu unterbinden. Weiters muss die Fragmentierung und Renationalisierung der Finanzmärkte durch eine Stabilisierung dieses Sektors wieder umgekehrt werden. Auch eine Intensivierung der Bemühungen um eine Bankenunion könnte gemeinsam mit wirksamen Instrumenten zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten auf europäischer und auf nationaler Ebene (7) zur Stabilisierung beitragen.

4.2   Öffentliche Haushalte

4.2.1

Eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung muss nicht nur auf die Balance von Angebots- und Nachfrageeffekten achten, sie muss auch ein Gleichgewicht zwischen Ausgaben- und Einnahmenseite herstellen. In vielen Ländern ist auch der Faktor Arbeit überproportional belastet. Ein generelles Überdenken nicht nur der Ausgaben, sondern auch des gesamten Steuersystems ist daher angebracht, wobei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zwischen unterschiedlichen Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein werden. In diesem Sinne ist auch ein angemessener Beitrag jener einzufordern, die in besonderem Maße von den Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten und den mit Steuergeldern finanzierten Bankenrettungspaketen profitiert haben.

4.2.2

Auf der Einnahmenseite besteht eine Reihe von Handlungsansätzen zur notwendigen Stärkung der Steueraufkommensbasis: Finanztransaktionssteuer (wie vom Ausschuss wiederholt gefordert (8)), Energie- und Umweltabgaben, Schließung von Steueroasen (9), entschlossener Kampf gegen Steuerhinterziehung, Besteuerung großer Vermögen, von Immobilien und von Erbschaft, Besteuerung von Banken zur Internalisierung externer Kosten (10), Harmonisierung von Steuerbemessungsgrundlagen und -systemen zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen in der EU, anstatt wie bisher über einen Senkungswettlauf die Erosion der öffentlichen Einnahmen voranzutreiben. Es wird oft übersehen, dass sich ein integrierter Haushaltsrahmen („Fiskalunion“) auch auf die Einnahmenseite erstreckt und nicht nur die öffentlichen Ausgaben betrifft.

4.2.3

In manchen Mitgliedsländern ist auch eine deutliche Steigerung der Effizienz des Systems der Steuereinhebung gefragt.

4.2.4

Der traditionelle Ansatz der Haushaltskonsolidierung besteht in einer Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Dass Ausgabenkürzungen erfolgversprechender sind als Einnahmenerhöhungen, bleibt aber ein unbelegtes Dogma. Die empirischen Erfahrungen in Krisenländern wie Griechenland belegen, dass die Hoffnung auf sogenannte „nicht-keynesianische Effekte“ vergeblich war. Denn ein Crowding-in privater Investitionen bei Ausgabenkürzungen aufgrund gestiegenen Vertrauens findet nicht statt, wenn die Binnennachfrage in der gesamten Währungsunion durch eine Sparpolitik schwach ist. Weiters wirken Ausgabenkürzungen, etwa bei Sozialsystemen oder öffentlichen Dienstleistungen, in der Regel regressiv; sie verschärfen damit die Verteilungsungleichheit und dämpfen den Konsum. Allerdings existieren sehr wohl auch Spielräume zur Kürzung gewisser unproduktiver Ausgaben, wie etwa im Rüstungsbereich.

4.2.5

Die Politik sollte sich vielmehr die hohen Unterschiede von Einkommens- und Beschäftigungsmultiplikatoren verschiedener haushaltspolitischer Maßnahmen zunutze machen. Die Multiplikatoren steuerlicher Maßnahmen sind in nahezu allen empirischen Untersuchungen geringer als die von ausgabenseitigen Maßnahmen. Eine Politik der gezielten Erhöhung der Staatseinnahmen könnte somit jene Mittel freimachen, die dringend benötigt werden, beispielsweise für Beschäftigungsprogramme, insbesondere von Jugendlichen.

4.2.6

Eine solche budgetsaldoneutrale Umverteilung würde unmittelbar Beschäftigung und Nachfrage schaffen, ohne die öffentlichen Haushalte zu belasten. Neben den positiven Wirkungen auf die inländische Wirtschaft würden solche Maßnahmen, insbesondere von Überschussländern, über die Stimulierung von Importen auch expansive Impulse für die gesamte Währungsunion setzen.

4.2.7

Eine EU-weite Koordinierung solcher expansiver Maßnahmen wäre noch wesentlich effizienter, da die Importquote der Eurozone insgesamt (also gegenüber Drittländern) wesentlich geringer ist als für jede einzelne Volkswirtschaft für sich betrachtet.

4.3   Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte

4.3.1

Die Beobachtung der Entwicklung der Leistungsbilanz und ihrer Komponenten ist vor dem Hintergrund von Produktivitätsschwächen eines Mitgliedstaates und daraus resultierenden privaten und öffentlichen Finanzierungsproblemen notwendig, um rechtzeitiges (Re)Agieren zu ermöglichen. Beim Abbau von Handelsbilanzungleichgewichten ist allerdings auf die Symmetrie zu achten: Die Exporte eines Landes sind Importe eines anderen Landes. Folglich kann ein Abbau nicht nur über eine Reduktion in den Defizitländern erfolgen, sondern die Überschussländer sind ebenso gefordert, über eine Stärkung ihrer Binnennachfrage die Importe zu stimulieren, also ihre „Importdefizite“ abzubauen.

4.3.2

Aus europäischer Perspektive bildet insbesondere der Energiebereich eine Ausnahme, in welchem de facto alle Mitgliedstaaten große Handelsbilanzdefizite aufweisen (11). Ein ökologischer Umbau des europäischen Binnenmarktes sollte die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten durch die innereuropäische Nutzung eigener alternativer Energieressourcen reduzieren. Zudem ergibt sich für die südliche Peripherie gerade im Bereich der Solarenergie eine Möglichkeit, auch die innereuropäischen Handelssalden zu verbessern.

4.3.3

Bei der Bekämpfung außenwirtschaftlicher Defizite wird zumeist die Rolle der preislichen Wettbewerbsfähigkeit überbetont. Den Fokus alleine auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu legen, wäre gefährlich: Das „deutsche Modell“ (Lohnzurückhaltung zur Förderung der Exporte bzw. Dämpfung der Importe) als Rezept gleichzeitig für alle Länder kann beim hohen Anteil des Binnenhandels in der Eurozone nur zu einer Abwärtsspirale führen („race to the bottom“).

4.3.4

Zumeist werden die unterschiedlichen Entwicklungen der Lohnstückkosten als eine der zentralen Krisenursachen gesehen und daraus die Forderung nach einer Reduktion der Lohnkosten abgeleitet. Abgesehen von den folgenschweren Umverteilungseffekten einer Absenkung der Lohnquote, welche nachfragedämpfend wirken, werden dabei andere relevante Kostenfaktoren (wie Energie-, Material- und Finanzierungskosten) vernachlässigt (12).

4.3.5

So waren beispielsweise vor der Krise die realen Lohnstückkosten in Portugal, Spanien und Griechenland von 2000 bis 2007 rückläufig (13). Offenbar haben überzogene nominelle Profitsteigerungen ebenso preistreibend gewirkt wie Nominallohnsteigerungen.

4.3.6

Nach wie vor kommen knapp 90 Prozent der Gesamtnachfrage in der EU aus EU-Mitgliedstaaten. Was die Lohnentwicklung betrifft bekräftigt der EWSA daher die in seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2011 geäußerte Ansicht: „Einer angemessenen Lohnpolitik kommt eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Krise zu. Gesamtwirtschaftlich betrachtet gewährleistet eine Orientierung des Lohnzuwachses am jeweils nationalen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs die Balance zwischen ausreichender Nachragentwicklung und Wahrung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit. Die Sozialpartner müssen daher bemüht sein, Lohnmäßigungen im Sinne einer ‚beggar-thy-neighbour‘-Politik zu vermeiden und die Lohnpolitik vielmehr an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung zu orientieren“ (14).

4.3.7

Weiters wird zumeist die Bedeutung nicht-preislicher Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit unterschätzt (15). In diesem Zusammenhang sei auch auf die Definition von „Wettbewerbsfähigkeit“ durch die Europäische Kommission verwiesen als „… die Fähigkeit der Wirtschaft, der Bevölkerung nachhaltig einen hohen und wachsenden Lebensstandard und eine hohe Beschäftigung zu sichern“ (16).

4.3.8

Nicht zuletzt durch stark gestiegene nationale Zinsaufschläge ist die Bedeutung der Vermögenseinkommensbilanz in den Krisenländern gestiegen. Die Analyse von Ungleichgewichten darf sich daher nicht auf die Handelsbilanzentwicklung beschränken.

4.4   Europäisches Sozialmodell und sozialer Dialog

4.4.1

Das europäische Sozialmodell stellt einen komparativen Vorteil Europas im globalen Wettbewerb dar. Denn der Sozialstaat trägt auch zum wirtschaftlichen Erfolg bei, wenn Leistungsfähigkeit der Wirtschaft einerseits und sozialer Ausgleich andererseits nicht als Gegensätze gesehen werden, sondern so verstanden werden, dass sie einander unterstützen.

4.4.2

Die automatischen Stabilisatoren der sozialen Sicherungssysteme haben in Europa die Krisenbewältigung begünstigt, die Nachfrage gestützt und ein Abgleiten in eine Depression wie in den dreißiger Jahren verhindert. Auch psychologisch sind die Sozialschutzsysteme von großer Bedeutung, da sie die Gefahr des Angstsparens reduzieren und damit den Konsum stabilisieren.

4.4.3

In einigen Ländern mit funktionierendem sozialen Dialog (wie etwa Österreich, Deutschland und Schweden) trugen die Sozialpartner wesentlich dazu bei, den drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge des Produktionsrückganges zu dämpfen. Denn neben Stützungen durch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen trugen auf Betriebs- und Branchenebene getroffene Vereinbarungen der Sozialpartner wesentlich dazu bei, bestehende Beschäftigungsverhältnisse beizubehalten (z.B. durch Kurzarbeit, Abbau von Überschüssen in Stundenkonten, Inanspruchnahme von Urlaubsansprüchen, Bildungskarenz …). Diese Erfahrungen sollten bei der Neuformulierung der Leitlinien und bei den jährlichen Länderberichten berücksichtigt werden.

4.4.4

Die europäischen Regierungen sind aufgerufen, die Rolle der Sozialpartner auf europäischer und auf nationaler Ebene zu stärken. Diese sollten dabei unterstützt werden, Bemühungen um eine europaweite Koordinierung der Lohnpolitik zu intensivieren. Dazu ist auch eine Aufwertung des Makroökonomischen Dialoges anzustreben; ein solcher Dialog sollte auch für die Eurozone eingerichtet werden.

4.4.5

Die Tarifautonomie muss jedenfalls auch in der Krise gewahrt bleiben: Die Lohnpolitik ist im Rahmen der Tarifautonomie der kollektivvertragsfähigen Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gestalten. Staatliche Zielvorgaben oder gar Eingriffe wie staatlich verordnete Lohnkürzungen sind abzulehnen und inakzeptabel (17).

4.4.6

Neben den Tarifparteien ist auch die bedeutende Rolle der übrigen repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft, also etwa der Verbraucher, zu würdigen. Insbesondere in Krisenzeiten sind diese unverzichtbar als Sprachrohr der Bürger und als Partner im zivilen Dialog.

4.4.7

Notwendige Veränderungen und Reformen sind nur dann erfolgversprechend, wenn ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ökonomischen und sozialen Zielen gefunden und die Lastenverteilung als fair empfunden wird (zwischen Ländern, Einkommensgruppen, Kapital und Arbeit, Sektoren, unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen …). Gerechtigkeit und soziale Ausgewogenheit sind unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz von Konsolidierungsschritten, ansonsten ist der soziale Zusammenhalt gefährdet, und Populismus und Anti-EU-Stimmung erfahren einen gefährlichen Aufschwung. Der Ausschuss wiederholt in diesem Zusammenhang seine dringliche Empfehlung einer möglichst frühen und umfassenden Einbindung der Sozialpartner und der anderen repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft in die Politikgestaltung.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Eine detailliertere und differenziertere Darstellung der Entstehung der Finanz- und Wirtschaftskrise findet sich in ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 71, Ziffer 2.

(2)  Vgl. Herbstprognose 2012 der Europäischen Kommission.

(3)  COM(2012) 750 final.

(4)  In der Prognose des IWF vom 9.10. wird festgehalten, dass die Ausgabenmultiplikatoren in der Krise 0,9 bis 1,7 betragen haben dürften, während man ursprünglich von einer Schätzung von etwa 0,5 ausgegangen ist (vgl. IMF 2012, http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2012/02/pdf/text.pdf).

(5)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 34.

(6)  Zur Diskussion über Stabilitätsanleihen, Eurobonds, Projektbonds etc. siehe ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 60, sowie ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10.

(7)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 68.

(8)  Zuletzt ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 55.

(9)  ABl. C 229 vom 31. Juli 2012, S. 7.

(10)  D.h. Sicherstellung, dass die Kosten von Bankenkrisen in Zukunft nicht vom Steuerzahler zu tragen sind.

(11)  EU-27: 2,5 % des BIP 2010.

(12)  So betragen etwa im Exportsektor Spaniens die Lohnkosten nur 13 Prozent der Gesamtkosten. Quelle: Carlos Gutiérrez Calderón/ Fernando Luengo Escalonilla, Competitividad y costes laborales en España, Estudios de la Fundación 49 (2011, http://www.1mayo.ccoo.es/nova/files/1018/Estudio49.pdf).

(13)  Vgl. Statistical Annex of European Economy, Autumn 2012.

(14)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26, Ziffer 2.3.

(15)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26, Ziffer 2.2.

(16)  COM(2002) 714 final.

(17)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26, Ziffer 2.4.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009

COM(2012) 542 final – 2012/0266 (COD)

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über In-vitro-Diagnostika

COM(2012) 541 final – 2012/0267 (COD)

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Sichere, wirksame und innovative Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika zum Nutzen der Patienten, Verbraucher und Angehörigen der Gesundheitsberufe

COM(2012) 540 final

2013/C 133/10

Berichterstatter: Cveto STANTIČ

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 15. Oktober bzw. 22. Oktober 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe c AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009

COM(2012) 542 final – 2012/0266 (COD).

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 15. Oktober bzw. 22. Oktober 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 168 Absatz 4 Buchstabe c AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über In-vitro-Diagnostika

COM(2012) 541 final – 2012/0267 (COD).

Die Kommission beschloss am 26. September 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Sichere, wirksame und innovative Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika zum Nutzen der Patienten, Verbraucher und Angehörigen der Gesundheitsberufe

COM(2012) 540 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 5. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 14. Februar) mit 136 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstreicht, dass die Gesundheit eine hohe Priorität für die europäischen Bürgerinnen und Bürger hat, und bekräftigt, dass Medizinprodukte (1) und In-vitro-Diagnostika (nachfolgend IVD) (2) bei der Verhütung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten eine wesentliche Rolle spielen. Sie sind von zentraler Bedeutung für unsere Gesundheit und für die Lebensqualität von Menschen, die an einer Krankheit oder gesundheitlichen Beeinträchtigung leiden und damit umgehen müssen.

1.2

Der EWSA begrüßt die Neufassung des derzeitigen Regelungssystems durch die Kommission, mit dem über die reine Vereinfachung des Rahmens hinaus wirksamere Regeln zur Stärkung der Zulassung vor dem Inverkehrbringen und insbesondere der Überwachung nach dem Inverkehrbringen eingeführt werden. Angesichts des jüngsten Skandals um mangelhafte Brustimplantate, der zu der Entschließung des Europäischen Parlaments vom Juni 2012 führte, aber auch anderer großer Probleme mit Hochrisiko-Medizinprodukten und Implantaten spricht sich der EWSA, so wie das Europäische Parlament (3), zusätzlich bei diesen für ein hochqualifiziertes Zulassungsverfahren vor dem Inverkehrbringen aus. Dies entspricht den Forderungen der Bürger nach Patientensicherheit und Wirksamkeit.

1.3

Hochrisiko-Medizinprodukte (Klasse-III- und implantierbare Produkte) sowie Hochrisiko IVD müssen einem geeigneten, anspruchsvollen, EU-einheitlichen Zulassungsverfahren vor dem Inverkehrbringen unterliegen, in dem die Sicherheit, die Wirksamkeit und das positive Risiko-Nutzen-Verhältnis durch die Ergebnisse hochqualifizierter klinischer Prüfungen nachgewiesen werden müssen. Die gesamten Ergebnisse sollten in einer öffentlich zugänglichen zentralen Datenbank gespeichert werden. Für bereits auf dem Markt befindliche Hochrisiko-Medizinprodukte und -IVD ist die Einhaltung von Artikel 45 des Verordnungsvorschlags zu gewährleisten, so dass die Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts nachgewiesen sind.

1.4

Der EWSA befürwortet nachdrücklich die Rechtsform einer Verordnung statt einer Richtlinie, um den Auslegungsspielraum der einzelnen Mitgliedstaaten zu verringern und auf diese Weise mehr Gleichheit für die europäischen Patienten und gleiche Ausgangsbedingungen für die Lieferanten zu schaffen.

1.5

Neben Sicherheit ist auch der rasche Zugang zur neuesten Medizintechnik ein wichtiger Nutzen für die Patienten. Erhebliche Verzögerungen beim Zugang zu neuen Medizinprodukten würden den Patienten schaden, indem sie ihre (möglicherweise lebenserhaltenden) Behandlungsoptionen einschränken bzw. sie zumindest davon abhalten, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu reduzieren und ihre Lebensqualität zu verbessern.

1.6

Der EWSA betont, dass die Sektoren Medizinprodukte und IVD, die durch hohe Innovationsfähigkeit und hochqualifizierte Arbeitsplätze gekennzeichnet sind, ein wichtiger Bestandteil der europäischen Wirtschaft sind und in erheblichem Maße zur Umsetzung der Europa-2020-Strategie und ihrer Leitinitiativen beitragen können. Geeignete Rechtsvorschriften sind daher unabdingbar, nicht nur, um das größtmögliche Maß an Gesundheitsschutz zu garantieren, sondern auch, um ein innovatives und wettbewerbsfähiges Umfeld für die Industrie zu schaffen, die zu 80% aus Kleinstunternehmen sowie kleinen und mittleren Herstellerunternehmen besteht.

1.7

Der EWSA befürwortet hohe Standards für Zulassungsverfahren von Hochrisiko-Medizinprodukten und -IVD vor deren Inverkehrbringen, bei denen die Sicherheit und Wirksamkeit durch die Ergebnisse geeigneter klinischer Tests und Prüfungen nachgewiesen werden müssen. Der EWSA äußert jedoch Bedenken hinsichtlich der Einführung eines zentralisierten Systems der Zulassung vor dem Inverkehrbringen in Europa, das zu weiteren Verzögerungen bei den Zulassungsfristen führen würde, was die Patienten am raschen Zugang zur neuesten Medizintechnik hindern, die Kosten für KMU beträchtlich erhöhen und deren Innovationsfähigkeit gefährden würde.

1.8

Sollten die Anforderungen an die Zulassung von Medizinprodukten und IVD erhöht werden, so muss dies auf transparente und vorhersehbare Weise erfolgen, um die Effizienz des Regelungsprozesses nicht weiter zu gefährden und künftigen Innovationen keinen Dämpfer zu versetzen.

1.9

Der EWSA begrüßt die Einführung einer einmaligen Produktnummer (Unique Device Identification, UDI) für jedes Medizinprodukt, die eine raschere Identifizierung und bessere Rückverfolgbarkeit ermöglicht. Der EWSA spricht sich ebenfalls für ein voll funktionsfähiges zentrales Registrierungstool (Eudamed) aus, das Mehrfachregistrierungen beseitigen und die Kosten für KMU erheblich reduzieren würde.

1.10

Der EWSA unterstützt die Stärkung der Stellung von Patienten: Um eine angemessene Deckungsvorsorge im Schadensfall sicherzustellen, muss die geschädigte Partei das Recht haben, direkte Ansprüche zu erheben und einen uneingeschränkten Schadenersatz zu erhalten. Wenn die Patienten den durch ein mangelhaftes Medizinprodukt entstandenen Schaden nachweisen müssen, sollte der Hersteller dem Patienten (und/oder dem für die Behandlungskosten aufkommenden Zahler) alle notwendigen Unterlagen und Informationen zur Sicherheit und Wirksamkeit des betreffenden Produkts aushändigen. Des Weiteren fordert der EWSA die Kommission auf, sicherzustellen, dass mittels angemessener Verfahren Schadenersatz geleistet wird, der nicht zu einem erheblichen Anstieg der Preise für Medizinprodukte führt.

1.11

Der EWSA nimmt die relative schwache Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den vorgeschlagenen Regelungsrahmen zur Kenntnis. Der Beobachterstatus der Zivilgesellschaft in den von der neugeschaffenen Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (MDCG) eingesetzten nichtständigen Untergruppen reicht nicht aus. Der EWSA schlägt die Einrichtung eines „Beratungsausschusses“ aus Vertretern legitimer Interessenträger auf europäischer Ebene vor. Ein solcher Ausschuss sollte parallel zu und in Zusammenarbeit mit der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte tätig werden, um die Kommission und die Mitgliedstaaten zu verschiedenen Aspekten der Medizintechnik und der Umsetzung der Vorschriften zu beraten.

1.12

Der EWSA wiederholt die Notwendigkeit, die vorgeschlagenen Verordnungen gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur Innovation im Sektor der Medizinprodukte um geeignete Bestimmungen über die Ausbildung und Schulung der Fachkräfte des Gesundheitswesens zu ergänzen (4);

1.13

Sachdienliche Verknüpfung mit anderen Rechtsdossiers und –gremien: Der EWSA unterstreicht, dass die neuen Regeln für klinische Leistungsstudien für IVD – therapiebegleitende Diagnostika gut mit denjenigen Regeln vereinbar sein müssen, die aus dem derzeit erörterten neuen Rahmen für klinische Studien mit Arzneimitteln hervorgehen werden, so die jüngste Stellungnahme des EWSA (5);

1.14

Hausinterne Tests für IVD: Der EWSA empfiehlt, den Grundsatz der Bewertung der Risiken und Nutzen eines Gesundheitsprodukts auf sämtliche Produkte anzuwenden, unabhängig davon, ob sie vermarktet werden oder nur innerhalb einer Einrichtung entwickelt und verwendet werden (hausinterner Test).

1.15

Die Funktionsweise der Verordnungen sollte drei Jahre nach ihrem Inkrafttreten von Behörden und Interessenträgern der Zivilgesellschaft gemeinsam formell überprüft werden, um sicherzustellen, dass die Verordnungsziele erfüllt werden.

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1

Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika (IVD) haben eine entscheidende Bedeutung für die Verhütung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Sie sind für unsere Gesundheit und die Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigungen von zentraler Bedeutung.

2.2

Die Sektoren Medizinprodukte und IVD machen einen wichtigen und innovativen Teil der europäischen Wirtschaft aus. Sie erwirtschaften einen Jahresumsatz von ca. 95 Mrd. EUR (85 Mrd. EUR bei Medizinprodukten und 10 Mrd. EUR bei IVD) und tätigen umfangreiche Investitionen in Forschung und Innovationen (7,5 Mrd. EUR jährlich). Sie beschäftigen mehr als 500 000 Arbeitnehmer (zumeist hochqualifizierte Fachleute) in ca. 25 000 Unternehmen. Über 80 % dieser Unternehmen sind Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen.

2.3

Rapide demografische und gesellschaftliche Veränderungen, ein enormer wissenschaftlicher Fortschritt sowie der jüngste Skandal mit mangelhaften silikonbefüllten Brustimplantaten (6), Probleme mit Metall-auf-Metall-Hüftimplantaten sowie einigen anderen Produkten (7) haben allesamt eine Überarbeitung des aktuellen Rechtsrahmens nötig und dringlich gemacht.

2.4

Unter den Hochrisiko-Medizinprodukten haben Implantate eine große Bedeutung: So wurden weltweit ca. 400 000 PIP-Silikonbrustimplantate verkauft. Viele Frauen in Großbritannien (40 000), Frankreich (30 000), Spanien (10 000), Deutschland (7 500) und Portugal (2 000) haben PIP-Silikonimplantate erhalten, deren Rissrate nach 10 Jahren bei 10-15% liegt (8). Allein in Deutschland wurden 2010 ca. 390 000 Hüft- und Knieendoprothesen implantiert, davon knapp 37 000 Wechseloperationen, bei denen die Kunstgelenke ausgetauscht werden mussten (9).

2.5

Die größten Mängel des derzeitigen Systems sind nach Auffassung des EWSA stichwortartig:

Unterschiede in der Auslegung und Anwendung der Vorschriften durch die EU-Mitgliedstaaten, was zu Ungleichheit unter den EU-Bürgern führt und Hindernisse für den Binnenmarkt schafft;

nicht immer gegebene Möglichkeit, Medizinprodukte zum Lieferanten zurückzuverfolgen;

Patienten und Angehörige der Gesundheitsberufe haben keinen Zugang zu wesentlichen Informationen über klinische Prüfungen und Nachweise;

mangelnde Koordinierung zwischen den einzelstaatlichen Behörden und der Kommission;

Regelungslücken bei bestimmten Produkten (10).

3.   Wesentlicher Inhalt des neuen Pakets überarbeiteter Rechtsakte für Medizinprodukte und IVD

3.1

Das Paket besteht aus einer Mitteilung (11), einem Vorschlag für eine Verordnung über Medizinprodukte (12) (mit der die Richtlinie 90/385/EWG über aktive implantierbare Medizinprodukte und die Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte ersetzt werden) sowie einem Vorschlag für eine Verordnung über In-vitro-Diagnostika (13) (mit der die Richtlinie 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika ersetzt wird).

3.2

Die wichtigsten neuen Elemente der vorgeschlagenen Verordnungen sind:

breiterer und klarerer Geltungsbereich der Vorschriften, die ausgeweitet werden auf Implantate für ästhetische Zwecke und Gentests sowie medizinische Software;

stärkere Überwachung der (benannten) Bewertungsstellen durch die nationalen Behörden, um eine effiziente Bewertung vor dem Inverkehrbringen der Produkte zu ermöglichen;

klarere Rechte und Verantwortlichkeiten für Hersteller, Importeure und Händler;

Ausweitung der zentralisierten europäischen Datenbank für Medizinprodukte und IVD (Eudamed), zu der Angehörige der Gesundheitsberufe, Patienten und teilweise die Öffentlichkeit Zugang haben;

bessere Rückverfolgbarkeit der Produkte entlang der Lieferkette, einschließlich eines Systems der einmaligen Produktnummer (UDI), das bei sicherheitsrelevanten Problemen eine schnelle und wirksame Antwort ermöglicht;

strengere Anforderungen an klinische Nachweise und Bewertung während der gesamten Lebensdauer des Produkts;

strengere Bestimmungen über Marktüberwachung und Vigilanz;

bessere Koordinierung zwischen den einzelstaatlichen Behörden mit wissenschaftlicher Unterstützung durch die Kommission, um eine einheitliche Durchführung der Vorschriften zu gewährleisten;

Angleichung an internationale Leitlinien, um eine bessere Anpassung an den globalen Markt der Medizinprodukte zu ermöglichen.

3.3

Die Sektoren Medizinprodukte und IVD mit ihrem hohen Innovationsgrad und ihrem Potenzial zur Schaffung hochqualifizierter Stellen können in erheblichem Maße zu den Zielen der Europa-2020-Strategie beitragen. Beide Sektoren nehmen einen zentralen Platz in mehreren Leitinitiativen ein, insbesondere der Digitalen Agenda für Europa (14) und der Innovationsunion (15).

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Form von Verordnungen, die unmittelbar gelten und bei denen nicht die Gefahr einer uneinheitlichen Umsetzung und Auslegung durch die einzelnen Mitgliedstaaten besteht. Sie ist zweckmäßig, um mehr Gleichheit für Patienten in der ganzen EU und gleiche Ausgangsbedingungen für die Lieferanten zu erzielen.

4.2   Zulassungssystem und Bewertungsverfahren

4.2.1

Hochrisiko-Medizinprodukte (Klasse-III- und implantierbare Produkte) sowie Hochrisiko-IVD müssen einem geeigneten, anspruchsvollen, EU-einheitlichen Zulassungsverfahren vor dem Inverkehrbringen unterliegen, in dem die Sicherheit, die Wirksamkeit und das günstige Risiko-Nutzen-Verhältnis durch die Ergebnisse hochqualifizierter klinischer Prüfungen nachgewiesen werden müssen. Die gesamten Ergebnisse sollten in einer öffentlich zugänglichen zentralen Datenbank gespeichert werden. Für bereits auf dem Markt befindliche Hochrisiko-Medizinprodukte und -IVD ist die Einhaltung von Artikel 45 des Verordnungsvorschlages zu gewährleisten, so dass die Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts nachgewiesen sind.

4.2.2

In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA die Stärkung des bestehenden Rechtsrahmens für Hochrisiko-Medizinprodukte, der nach Maßgabe der vorgeschlagenen Verordnungen auf dem Konzept der Konformitätsbewertung und dezentralisierten Regelungsstellen beruht. Er befürwortet strengere Anforderungen an den Erhalt einer Konformitätsbescheinigung in Bezug auf Dokumentation und andere Bedingungen, einschließlich präklinischer und klinischer Daten, klinischer Bewertungen und Prüfungen, Risiko-Nutzen-Analysen (16) u.a. Sie können die bestehenden Zulassungsstandards in der EU beträchtlich anheben, ohne dass der rasche Zugang zu neuen Produkten dadurch zu stark beschnitten wird.

4.2.3

Der EWSA befürwortet nachdrücklich strenge Genehmigungsverfahren vor dem Inverkehrbringen mit hohen Standards, hat jedoch Bedenken im Hinblick auf die Einführung eines zentralen Verfahrens der Zulassung vor dem Inverkehrbringen, wie es in den USA existiert. Ein solches Verfahren würde die Zulassung verzögern. Die neueste Medizintechnik, die möglicherweise Leben retten kann, würde den Patienten erst später zur Verfügung stehen. Andererseits hätte ein zentrales Verfahren der Zulassung vor dem Inverkehrbringen negative Folgen für die meisten europäischen KMU, die Medizinprodukte herstellen, da es ihre Kosten erheblich in die Höhe treiben und ihre Innovationsfähigkeit ernsthaft gefährden würde. Diese KMU hätten Probleme, langwierige Verfahren der Marktzulassung zu finanzieren und zu überleben.

4.2.4

Neu vorgeschlagener Kontrollmechanismus (Artikel 44/42): Der EWSA stellt fest, dass die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte mit ihrer Stellungnahme in das von der benannten Stelle übermittelte Antragsdossier eingreifen kann. Der EWSA ist sich der Bedeutung der Sicherheit für die Patienten durchaus bewusst. Um zusätzliche und unvorhersehbare Verzögerungen für die Hersteller (und folglich für die Patienten) zu vermeiden, muss dies auf transparente und vorhersehbare Weise erfolgen, um die Effizienz des Regelungsprozesses nicht zu gefährden und künftigen Innovationen keinen Dämpfer zu versetzen. Durch das präventive Zulassungsverfahren für Hochrisiko-Medizinprodukte, insbesondere für Implantate, wird dieser neue Kontrollmechanismus viel seltener erforderlich sein.

4.3   Vigilanz und Marktüberwachung

4.3.1

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Verbesserung und Stärkung des Vigilanzsystems, insbesondere die Einrichtung eines EU-Portals, in dem Hersteller schwerwiegende Vorkommnisse und Korrekturmaßnahmen melden müssen, damit die Gefahr eines erneuten Auftretens verringert wird (Artikel 61/59). Indem dieses automatisch allen nationalen Behörden zur Verfügung steht, wird eine bessere Koordinierung zwischen den einzelnen Behörden ermöglicht.

4.3.2

Um die Sicherheit der Medizinprodukte weiter zu gewährleisten und vor allem Fragen der langfristigen Sicherheit von Implantaten aufzugreifen, müssen die Vorschriften in den Bestimmungen nach dem Inverkehrbringen gestärkt werden, insbesondere die klinische Weiterverfolgung nach dem Inverkehrbringen sowie Vigilanz und Marktüberwachung.

4.4   Transparenz

4.4.1

Eine der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit beiden Verordnungsneufassungen ist für den EWSA der Vorschlag für eine Erhöhung der Transparenz des gesamten Systems.

4.4.2

In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA die Einführung einer einmaligen Produktnummer (UDI) für jedes Medizinprodukt, die in Erfüllung der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Juni 2012 eine raschere Identifizierung und bessere Rückverfolgbarkeit ermöglicht (17).

4.4.3

Der EWSA hält die Einrichtung eines voll funktionsfähigen Eudamed-Systems für ein sehr zweckmäßiges Instrument für mehr Transparenz. Durch die Bereitstellung eines solchen zentralen Registrierungstools (Eudamed) werden Mehrfachregistrierungen in den Mitgliedstaaten beseitigt, was die Verwaltungskosten für die Antragsteller um bis zu 157 Mio. EUR senken kann.

4.5   Stärkung der Stellung geschädigter Patienten

4.5.1

In der derzeitigen Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG wird die Haftung der Hersteller von Medizinprodukten geregelt. Die geschädigte Person (oder der für die Behandlungskosten haftende Zahler) hat den Schaden und die Fehlerhaftigkeit des Medizinprodukts jedoch nachzuweisen. Häufig fehlt dem Patienten jedoch das zum Nachweis einer solchen Fehlerhaftigkeit nötige Wissen. Deshalb sollte der Hersteller verpflichtet werden, dem Geschädigten alle erforderlichen Dokumente und Informationen zur Sicherheit und Wirksamkeit eines Produkts zur Verfügung zu stellen.

4.5.2

Der EWSA bejaht ebenfalls, dass ein Mechanismus eingesetzt werden sollte, um Patienten zu entschädigen, die durch fehlerhafte Medizinprodukte oder IVD Schaden genommen haben. Um eine angemessene Deckungsvorsorge im Schadensfall sicherzustellen, muss die geschädigte Partei das Recht haben, direkte Ansprüche zu erheben und einen uneingeschränkten Schadenersatz zu erhalten. Die Beweislast, ob ein fehlerhaftes Medizinprodukt für einen Gesundheitsschaden ursächlich ist oder nicht, muss vom Patienten auf den Hersteller verlagert werden. Dem Patienten sollte nur noch der Nachweis der objektiven Möglichkeit der Schadensverursachung durch das Medizinprodukt obliegen. Dementsprechend fordert der EWSA die Kommission auf, sicherzustellen, dass mittels angemessener Verfahren Schadenersatz geleistet wird, der nicht zu einem erheblichen Anstieg der Preise für Medizinprodukte führt.

4.6   Benannte Stellen und zuständige Behörden

4.6.1

Der EWSA unterstützt strengere Bestimmungen für die Benennung und Überwachung der benannten Stellen, um ein einheitlich hohes Kompetenzniveau in der ganzen Union zu gewährleisten. Die zentrale Aufsicht über ihre Benennung durch die Mitgliedstaaten wird ebenfalls begrüßt.

4.6.2

Der EWSA befürwortet sämtliche Vorschläge zur Stärkung der Rechte und Pflichten der zuständigen Behörden (bessere Koordinierung und Klarstellung der Verfahren, unangekündigte Vor-Ort-Inspektionen) einerseits und der Lieferanten andererseits (Forderung nach einer „qualifizierten Person“).

4.6.3

Der EWSA begrüßt die Vereinheitlichung hochwertiger Normen und Kompetenzen für die benannten Stellen in ganz Europa, äußert jedoch Bedenken hinsichtlich der Erreichbarkeit dieses Ziels, wenn die Anzahl der benannten Stellen so hoch bleibt wie bisher (80). Der EWSA empfiehlt hohe Qualität statt Quantität.

4.7   Ausbildung und Schulung

4.7.1

Der EWSA stellt fest, dass die Mitgliedstaaten in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur Innovation im Sektor der Medizinprodukte (18) die Kommission aufforderten, Fachkräfte im Gesundheitswesen, Patienten und Familienangehörige besser über die korrekte Verwendung dieser Produkte zu informieren und zu schulen. Medizinprodukte funktionieren nur, wenn sie ordnungsgemäß verwendet werden. Ihre Wirksamkeit hängt von den Fertigkeiten und der Erfahrung des Arztes und des Laborpersonals ab, von denen sie verwendet werden.

4.7.2

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten daher auf, in die vorgeschlagenen Verordnungen geeignete Bestimmungen über die Ausbildung und Schulung der Fachkräfte aufzunehmen.

4.8   Einbindung der Zivilgesellschaft

4.8.1

Der EWSA ist der Ansicht, dass die vorgeschlagene Koordinierungsgruppe Medizinprodukte keine ausreichende Beteilung aller Interessenträger gewährleistet. Nach Maßgabe der vorgeschlagenen Verordnungen kann die Koordinierungsgruppe Medizinprodukte ständige oder nichtständige Untergruppen einsetzen. Der EWSA halt es jedoch für unzureichend, wenn Organisationen, die die Interessen der Verbraucher, der Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Gesundheits- und Medizinprodukteindustrie auf EU-Ebene vertreten, nur als Beobachter zu diesen Untergruppen eingeladen werden. Ihre aktive Rolle als Berater muss gewährleistet sein.

4.8.2

Die Erfahrung hat gezeigt, dass Fortschritt in der EU nur möglich ist, wenn die verschiedenen Beteiligten eine gemeinsame Vision und gemeinsame Zielvorstellungen haben. Das System profitiert heute von einem aktiven „Beratungsausschuss“ als Teil der Sachverständigengruppe für Medizinprodukte. Dieser sollte beibehalten und in den Vorschriften ausdrücklich erwähnt werden. Andernfalls könnten Beschlüsse und Maßnahmen darunter leiden, dass es an einem frühen und rechtmäßigen Beitrag von Patienten, Angehörigen der Gesundheitsberufe, der Industrie und anderen Teilen der Zivilgesellschaft fehlt.

4.9   Überprüfungsklausel

4.9.1

Die Funktionsweise der Verordnungen sollte überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie ihren Zweck auch wirklich erfüllen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt – spätestens drei Jahre nach dem Inkrafttreten der Vorschläge – sollte die Funktionsweise der Verordnungen von Behörden und Interessenträgern der Zivilgesellschaft gemeinsam formell überprüft werden, um sicherzustellen, dass die Verordnungsziele erfüllt werden.

5.   Besondere Bemerkungen zur IVD-Verordnung in Bezug auf therapiebegleitende Diagnostika

5.1

Begriffsbestimmung: Der EWSA hat Bedenken, dass die Definition des „therapiebegleitenden Diagnostikums“ nach Artikel 2 Absatz 6 zu breit gefasst ist und zu Rechtsunsicherheit führen könnte. Der EWSA schlägt folgende Definition vor: „‧therapiebegleitendes Diagnostikum‧ bezeichnet ein Produkt, das speziell dafür bestimmt ist festzustellen, ob eine Behandlung mit einem bestimmten Arzneimittel für Patienten mit einem bereits diagnostizierten Zustand bzw. einer bereits bekannten Prädisposition geeignet ist“ (statt „eine bestimmte Therapie“).

5.2

Klinische Nachweise: Der Vorschlag für eine IVD-Verordnung enthält ein umfassendes Regelwerk zur Durchführung klinischer Leistungsstudien mit IVD und führt überdies die Möglichkeit ein, dass „Sponsoren“ interventioneller multinationaler klinischer Leistungsstudien durch ein von der Kommission einzurichtendes elektronisches Portal einen einzigen Antrag einreichen.

5.2.1

Die vorgeschlagene Verordnung sollte jedoch sicherstellen, dass die neuen Regeln für klinische Leistungsstudien gut mit denjenigen Regeln interagieren, die aus dem derzeit erörterten neuen Rahmen für klinische Studien mit Arzneimitteln hervorgehen werden, wie der EWSA bereits in einer früheren Stellungnahme betonte (19). Der EWSA vertritt zudem den Standpunkt, dass die Datenbanken für die Registrierung von Prüfungen interoperabel sein müssen.

5.3

Hausinterne Tests“: Nach dem Vorschlag für eine IVD-Verordnung unterliegen hausinterne Hochrisiko-Tests (Klasse D) denselben Anforderungen wie kommerzielle Klasse-D-Tests. Für hausinterne Tests in anderen Klassen (einschließlich Produkte der Klasse C und therapiebegleitende Diagnostika) gilt die IVD-Verordnung jedoch nicht vollständig. Der EWSA empfiehlt, den Grundsatz der Bewertung der Risiken und Nutzen eines Gesundheitsprodukts auf alle Produkte anzuwenden, unabhängig davon, ob sie vermarktet werden oder nur innerhalb einer Einrichtung entwickelt und verwendet werden (hausinterne Tests).

Brüssel, den 14. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Zu den Medizinprodukten gehören beispielsweise Heftpflaster, Kontaktlinsen, Hörgeräte, Zahnfüllungen und künstliche Hüftgelenke sowie technisch anspruchsvolle Geräte wie Röntgengeräte und Schrittmacher.

(2)  In-vitro-Diagnostika umfassen Produkte zur Gewährleistung der Sicherheit von Bluttests, zur Feststellung von Infektionskrankheiten (z. B. HIV), zur Überwachung von Krankheiten (z.B. Diabetes) und zur Durchführung aller Arten von blutchemischen Untersuchungen.

(3)  EP-Entschließung vom 14. Juni 2012 (2012/2621(RSP)), P7_TA-PROV(2012)0262.

(4)  ABl. C 202 vom 8.7.2011, S. 7.

(5)  Stellungnahme des EWSA: Klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. C 44 vom 15.2.2013.

(6)  Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse (PIP) hat gegen die Vorschriften verstoßen, indem er in einigen seiner implantierbaren Produkte nicht zugelassenes Industriesilikon verwendete.

(7)  http://www.aok-bv.de/presse/medienservice/politik/index_06262.html

(8)  EP-Entschließung vom 14. Juni 2012 (2012/2621(RSP)); P7_TA-PROV(2012)0262.

(9)  Mitteilung des deutschen AOK-Bundesvorstands vom 12.1.2012.

(10)  Produkte, die aus nicht lebensfähigen menschlichen Zellen oder Geweben hergestellt wurden, Gentests, Implantate für ästhetische Zwecke usw.

(11)  COM(2012) 540 final.

(12)  COM(2012) 542 final.

(13)  COM(2012) 541 final.

(14)  COM(2010) 245 final/2 und ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58.

(15)  COM(2010) 546 final und ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39.

(16)  Siehe Anhänge II, III,V, IX, XII, XIV, in denen die Anforderungen an den Erhalt einer EU-Konformitätsbescheinigung ausgeführt werden.

(17)  Siehe Fußnote 3.

(18)  Siehe Fußnote 4.

(19)  Stellungnahme des EWSA: Klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. C 44, 15. 2. 2013.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt

COM(2012) 584 final — 2012/0283 (COD)

2013/C 133/11

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Das Europäische Parlament beschloss am 25. Oktober 2012 und der Rat am 5. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 26 und 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt

COM(2012) 584 final – 2012/0283 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 5. Februar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 74 Stimmen bei 1 Enthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission, mit dem die Rechtsvorschriften übersichtlicher gestaltet und vereinfacht und das Unionsrecht betreffend das Inverkehrbringen von Waren kohärenter gestaltet wird.

1.2

Die Wirtschaftsakteure sollten entsprechend ihrer jeweiligen Rolle in der Lieferkette die Verantwortung für die Konformität der Produkte tragen, sodass für die Verbraucher ein hohes Maß an Gesundheitsschutz und Sicherheit gewährleistet ist. Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten dafür zu sorgen, dass Produkte, die aus Drittländern auf den Unionsmarkt kommen, die Anforderungen dieser Richtlinie erfüllen.

1.3

Zwar müssen Sanktionen bereits durch das einzelstaatliche Recht gewährleistet sein, doch sollte die Kommission die strafbaren Handlungen sowie die Art und das Mindestmaß der unionsweit zu ergreifenden Sanktionen präzisieren. Er setzt diesbezüglich darauf, dass die Kommission das sog. Marktüberwachungspaket annimmt, in dem es genau um mehr Zusammenarbeit und Harmonisierung geht.

1.4

Die Kommission, die Hersteller und die Verbraucher sollten die Schaffung eines neuen Systems zur Kennzeichnung erwägen, bei dem die Herkunft der Produkte festgestellt und deren Rückverfolgbarkeit gewährleistet wird, damit die Verbraucher besser informiert werden.

2.   Einleitung

2.1

Der seit 1999 in der EU bestehende Rechtsrahmen (1) für das Inverkehrbringen, den freien Verkehr und die Inbetriebnahme von Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen hat bei der Verwirklichung des Binnenmarktes auf diesem Gebiet eine entscheidende Rolle gespielt.

2.2

Der Ausschuss hat seinerzeit die Richtlinie befürwortet (2), die grundlegende Anforderungen in Bezug auf den Schutz der Gesundheit, die Sicherheit, die elektromagnetische Kompatibilität und die Vermeidung funktechnischer Störungen enthält. Sie entsprach dem sog. „neuen Konzept“, nach dem technische Anforderungen über nicht obligatorische harmonisierte Normen umgesetzt werden, sodass der Rechtsetzungsbedarf auf das Wesentliche beschränkt wird (3).

2.2.1

Der derzeit geltende Rechtsrahmen ist insofern komplex, als allein auf der Grundlage der Richtlinie 1999/5/EG Geräte in Verkehr gebracht werden dürfen, die den Bestimmungen der Richtlinie entsprechen, und die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene keine zusätzlichen Beschränkungen erlassen dürfen, die sich auf dieselben Anforderungen, nämlich den Gesundheitsschutz, die Sicherheit, die elektromagnetische Kompatibilität und die Verhütung funktechnischer Störungen, beziehen.

2.2.2

Für die entsprechenden Produkte gelten zudem weitere EU-Rechtsvorschriften zu Umweltaspekten, insbesondere die Richtlinien über gefährliche Stoffe, über Elektro- und Elektronik-Altgeräte und über Batterien sowie die Durchführungsmaßnahmen gemäß der Ökodesign-Richtlinie.

2.2.3

Ferner unterliegen die Inbetriebnahme und die Benutzung von Funkanlagen nationalen Regelungen. Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit auf diesem Gebiet müssen die Mitgliedstaaten die geltenden EU-Rechtsvorschriften einhalten, insbesondere:

den im Programm für die Funkfrequenzpolitik dargelegten allgemeinen Rahmen für die Frequenzpolitik;

die allgemeinen Kriterien nach der Rahmenrichtlinie für die elektronische Kommunikation;

die Bedingungen für die Genehmigung der Nutzung von Funkfrequenzen nach der Genehmigungsrichtlinie für die elektronische Kommunikation;

die für alle EU-Mitgliedstaaten bindenden Umsetzungsmaßnahmen gemäß der Frequenzentscheidung zur Harmonisierung der technischen Bedingungen für die Nutzung bestimmter Frequenzbänder in der EU.

2.3

Hinzu kommt die notwendige Übereinstimmung mit den übrigen Politiken und Zielen der EU, insbesondere mit dem seit 2008 bestehenden neuen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten (4), dessen Ziele der Ausschuss (5) seinerzeit begrüßte, denn damit wurde ein gemeinsamer Rechtsrahmen errichtet, der sich

auf die Vermarktung von Produkten erstreckt sowie

auf allgemeine Grundsätze und Musterbestimmungen, anzuwenden auf sämtliche Rechtsvorschriften zur Harmonisierung der Bedingungen für die Vermarktung von Produkten, um eine einheitliche Grundlage für die Überarbeitung oder Neufassung dieser Rechtsvorschriften zu bieten.

2.4

Um den komplexen Rechtsrahmen übersichtlicher zu gestalten, schlägt die Kommission vor, die Anwendung der Richtlinie 1999/5/EG zu klären und sie zu ersetzen, um unnötigen Verwaltungsaufwand für Unternehmen und Behörden zu beseitigen, indem die Nutzung des Funkfrequenzspektrums flexibler gestaltet und die Verwaltungsverfahren hierfür vereinfacht werden.

3.   Der Vorschlag der Kommission

Nachfolgend sind die wichtigsten Aspekte des Vorschlags für eine Überarbeitung der Richtlinie aufgeführt:

3.1

Ausrichtung an dem Beschluss 768/2008/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten (unter Aufnahme der Begriffsbestimmungen nach Kapitel R1 des Beschlusses Nr. 768/2008/EG; der Verpflichtungen der Wirtschaftsakteure; von drei Konformitätsbewertungsmodulen; der Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Notifizierung von Konformitätsbewertungsstellen; sowie der vereinfachten Schutzklauselverfahren).

3.2

Dieser Beschluss Nr. 768/2008/EG wurde zusammen mit der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 über die Akkreditierung und Marktüberwachung angenommen. Darin werden Kriterien für die Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarkts vorgegeben, indem ein kohärenteres Konzept für die technische Harmonisierung der Sicherheit der Produkte sowie ein wirksameres Überwachungssystem für alle auf den Markt gebrachten Waren aus der EU oder Drittländern festgelegt und der Verbraucherschutz in der EU verbessert wird.

3.3

Es wird eine neue Definition von „Funkanlagen” festgelegt, die ausschließlich alle Anlagen erfasst, die dazu bestimmt sind, das Funkfrequenzspektrum zur Übertragung von Signalen zu nutzen, unabhängig davon, ob diese der Kommunikation oder anderen Zwecken dienen; der neue Titel der Richtlinie lautet daher: „Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt”. Die Richtlinie gilt nicht für Festnetz-Endeinrichtungen.

3.4

Der Vorschlag ermöglicht es,

die Interoperabilität von Funkanlagen mit Zubehör wie Ladegeräten vorzuschreiben;

dass bei Software-definierten Funkanlagen nur konforme Kombinationen von Soft- und Hardware zusammengestellt werden dürfen, sodass durch geeignete Maßnahmen verhindert werden kann, dass durch diese rechtliche Anforderung Wettbewerbshindernisse für unabhängige Softwareanbieter geschaffen werden.

3.5

Es wird die Möglichkeit eingeführt, die Registrierung von Produkten aus Kategorien, die ein geringes Maß an Konformität aufweisen, in einem zentralen System vorzuschreiben, wobei als Grundlage Informationen der Mitgliedstaaten zur Konformität dienen.

3.6

Mit dem Vorschlag wird das Verhältnis zwischen der Richtlinie 1999/5/EG und den Rechtsvorschriften auf nationaler oder EU-Ebene über die Nutzung des Funkfrequenzspektrums geklärt.

3.7

Administrative Verpflichtungen werden vereinfacht oder verringert:

a)

mit der neuen Definition von Funkanlagen wird eine klare Abgrenzung zum Geltungsbereich der Richtlinie über die elektromagnetische Verträglichkeit vorgenommen;

b)

reine Empfänger und Festnetz-Endgeräte fallen nicht mehr in den Geltungsbereich der Richtlinie, sondern werden von der Richtlinie über die elektromagnetische Verträglichkeit oder die Richtlinie über elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen oder, je nach Höhe der elektrischen Spannung, von der Richtlinie über die elektromagnetische Verträglichkeit und der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit erfasst, was eine gewisse Verringerung der administrativen Verpflichtungen mit sich bringt;

c)

die Vorschrift, nach der das Inverkehrbringen von Geräten, die in nicht EU-weit harmonisierten Frequenzbändern betrieben werden, zu melden ist, wird abgeschafft;

d)

folgende Herstellerverpflichtungen werden abgeschafft:

Anbringung einer Geräteklassen-Kennung auf dem Produkt;

Anzeige des CE-Kennzeichens in der Bedienungsanleitung;

e)

die Vorschriften zur Förderung des Wettbewerbs auf dem Markt für Endeinrichtungen (Spezifikationen der Schnittstellen und technische Gründe für den Nicht-Anschluss von Telekommunikationsendeinrichtungen an die entsprechenden Schnittstellen) werden aus dem Text der Richtlinie gestrichen, da ähnliche Vorschriften in der geltenden Richtlinie über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsendeinrichtungen enthalten sind.

3.8

Schließlich werden in dem Richtlinienvorschlag die Verfahren für die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse und der übertragenen Befugnisse sowie die Ausübung der übertragenen Befugnisse am Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und an der Verordnung (EG) Nr. 182/2011 über die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission ausgerichtet:

Durchführungsbefugnisse werden für die Bestimmung der Geräteklassen sowie die Vorlage von Informationen zum geografischen Gebiet, in dem eine Funkanlage genutzt werden kann, und zu Nutzungsbeschränkungen vorgeschlagen;

übertragene Befugnisse werden für die Anpassung von Anhang II, welcher eine Liste von Einrichtungen enthält, die gemäß der Definition Funkanlagen bzw. keine Funkanlagen darstellen, an den technischen Fortschritt vorgeschlagen sowie für zusätzliche grundlegende Anforderungen, die Bereitstellung von Informationen über die Konformität von Software-definierten Funkanlagen und die Vorschrift zur Registrierung von Funkanlagen bestimmter Kategorien.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission als Beitrag zur Stärkung der Kohärenz des Unionsrechts im Einklang mit Artikel 7 AEUV im Wege der Ersetzung eines bisherigen Rechtsakts durch einen neuen Rechtsakt, in dem sowohl die unverändert geltenden Bestimmungen des ursprünglichen Rechtsakts als auch die im Zuge einer späteren Überarbeitung vorgenommenen grundsätzlichen Änderungen zusammengeführt werden, in Übereinstimmung mit dem Beschluss Nr. 768/2008/EG und dem Vertrag von Lissabon.

4.2

Der freie Warenverkehr ist eine der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union, und der Richtlinienvorschlag hebt auf den freien Verkehr sicherer Waren und damit auf Verbraucherschutz, Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Schaffung gleicher wettbewerblicher Ausgangsbedingungen für die wirtschaftlichen Akteure ab.

4.3

Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie erachtet der Ausschuss es als unerlässlich, dass der Binnenmarkt Interoperabilität sichert und die Zersplitterung der nationalen Märkte sowie der Investitionen in Forschung und Innovation überwindet.

4.4

Eine proaktive Industriepolitik tut Not, die auf ausgewogene Produktionskapazitäten der Hersteller, einen technischen und rechtlichen Rahmen für geistige Eigentumsrechte und vor allem auf die Art Produkte abhebt, die gemeinsamen Normen, harmonisierten Vorschriften und Verfahren entsprechen.

4.5

Die Annahme technisch-normativer Standards sollte im Einklang mit den Grundsätzen der neuen Normungspolitik erfolgen, indem Information und Transparenz sichergestellt und die Sozialpartner und Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft beteiligt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

In Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie werden eine ganze Reihe von Funkanlagen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen, die ausschließlich für Tätigkeiten im Zusammenhang mit der „öffentlichen Sicherheit” benutzt werden, was neben der Verteidigung und der Sicherheit des Staates auch weitere Aspekte wie das „wirtschaftliche Wohl” des Staates umfasst, die im Interesse der Klarheit definiert oder erläutert werden sollten.

5.1.1

Außerdem werden besagte Funkanlagen zwar in Artikel 1 Absatz 3 vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen, nicht aber in Anhang I unter den „nicht unter diese Richtlinie fallenden Geräten” aufgeführt.

5.2

Der Ausschuss befürwortet eine Verbindung mit anderen Funkanlagen über Netzwerke und geeignete Schnittstellen in der gesamten Union, denn die Interoperabilität von Funkanlagen und Zubehör kann die Nutzung von Funkanlagen vereinfachen.

5.3

Um den Schutz der Daten und Privatsphäre der Anwender zu verbessern, muss schon bei der Konzeption eine ethische und soziale Dimension der Sicherheitsvorrichtungen vorgesehen werden, um ihre soziale Akzeptanz zu gewährleisten. Der Schutz der Grundrechte der Bürger muss von Anfang an und in allen Stadien von der Konzeption über die Standardisierung bis hin zum praktischen Einsatz der Funkanlagen berücksichtigt werden.

5.4

Die Anforderungen für das Inverkehrbringen von Produkten aus der EU ebenso wie aus Drittländern sollten genauer dargelegt werden. Deshalb sollte Artikel 6 sich auf die Situationen beziehen, bei denen die Erfüllung der in der Richtlinie festgelegten wesentlichen Anforderungen (harmonisierte europäische Normen, von der Kommission veröffentlichte internationale Normen) sowie ggf. zusätzlicher nationaler Normen vermutet wird.

5.5

Der Ausschuss empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass die bereitgestellten Funkanlagen die Voraussetzungen für den Betrieb in dem vorgesehenen Frequenzband erfüllen, um Interferenzen mit dem 800-MHz-Band und unnötige Funkstörungen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang wäre besonders in Grenzregionen eine Harmonisierung der Nutzungszeiträume und der eingesetzten Technologie angezeigt.

5.6

Der Ausschuss befürwortet den Zugang zu Rettungsdiensten, insbesondere für Menschen mit Behinderungen, und die Berücksichtigung der einschlägigen Anforderungen bei der Konzeption der Anlagen.

5.7

Der Ausschuss hält es für sehr wichtig, dass die Wirtschaftsakteure entsprechend ihrer jeweiligen Rolle in der Lieferkette die Verantwortung für die Konformität der Produkte tragen, sodass für die Verbraucher ein hohes Maß an Gesundheitsschutz und Sicherheit und gleichzeitig ein fairer Wettbewerb auf dem Unionsmarkt gewährleistet ist.

5.8

Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten dafür zu sorgen, dass Produkte, die aus Drittländern auf den Unionsmarkt kommen, die Anforderungen dieser Richtlinie erfüllen. Dementsprechend müssen sie die Importeure verpflichten, sicherzustellen, dass die von ihnen in Verkehr gebrachten Produkte diese Anforderungen erfüllen und sie keine Produkte in Verkehr bringen, die diese Anforderungen nicht erfüllen oder ein Risiko aufweisen.

5.9

Die Rückverfolgbarkeit von Funkanlagen über die gesamte Lieferkette muss gewährleistet sein, um den Markt zu überwachen und den Verbrauchern die Wahrnehmung ihres Rechts auf Information zu erleichtern.

5.10

Der Ausschuss betont erneut (6), dass mit dem derzeitigen System zur Kennzeichnung nicht sichergestellt wird, dass das Erzeugnis ein Verfahren zur Qualitäts- und Sicherheitsprüfung durchlaufen hat, weshalb es nicht den Erwartungen der Verbraucher entspricht.

5.11

Hinsichtlich des Akkreditierungs- und des Konformitätsbewertungssystems befürwortet der Ausschuss ein einheitliches Leistungsniveau der notifizierten Konformitätsbewertungsstellen sowie strengere Auswahlkriterien und harmonisierte Auswahlverfahren für die Konformitätsbewertungen.

5.12

Außerdem ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Unabhängigkeit der notifizierten Konformitätsbewertungsstellen noch besser gewährleistet werden muss, indem der für die in Artikel 26 Absatz 4 aufgeführten Unvereinbarkeiten relevante Zeitraum auf zwei oder drei Jahre vor der Durchführung der Bewertung ausgedehnt wird.

5.13

Der Ausschuss ist über die in dem Vorschlag vorgesehene Möglichkeit der delegierten Rechtsakte beunruhigt, die teilweise zu vage formuliert ist. So wird die Kommission bspw. in Artikel 5 betreffend die Registrierung von Funkanlagen bestimmter Kategorien ermächtigt, eine nachträgliche Zuordnung vorzunehmen, ohne dass Kriterien vorgegeben würden, was ihr womöglich einen zu großen Handlungsspielraum einräumt.

5.14

In dem Vorschlag sollten die Art und das Mindestmaß der unionsweit zu ergreifenden Sanktionen präzisiert werden, die durch das einzelstaatliche Recht gewährleistet sein müssen, anstatt lediglich den Mitgliedstaaten vorzuschreiben, Regeln über „wirksame, verhältnismäßige und abschreckende” Sanktionen für Verstöße festzulegen, was womöglich „forum shopping” auf der Suche nach den günstigsten Rechtsvorschriften Vorschub leistet oder dazu führen kann, dass bei konkurrierenden Sanktionen der Grundsatz ne bis in idem verletzt wird.

5.15

Der Ausschuss empfiehlt, dass der in Artikel 47 Absatz 2 vorgesehene fünfjährige Berichtszeitraum in Anbetracht der raschen Weiterentwicklung dieses Sektors verkürzt wird.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 91 vom 7.4.1999, S. 10.

(2)  ABl. C 73 vom 9.3.1998, S. 10.

(3)  Siehe die mittlerweile aufgehobenen Beschlüsse des Rates 90/683/EWG (ABl. L 380 vom 31.12.1990, S. 13) und 93/465/EWG (ABl. L 220 vom 30.8.1993, S. 23).

(4)  ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 30 und 82.

(5)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1.

(6)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 105.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen

COM(2012) 617 final — 2012/295 (COD)

2013/C 133/12

Berichterstatter: Krzysztof BALON

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 22. November 2012 bzw. am 19. November 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen

COM(2012) 617 final - 2012/295 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 14. Februar) mit 182 gegen 7 Stimmen bei 12 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortet den Verordnungsvorschlag inhaltlich. Gleichzeitig ist er der Auffassung, dass die Finanzmittel, die für den neuen Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen zur Verfügung gestellt werden sollen, nicht ausreichen, um die angestrebten Ziele zu verwirklichen.

1.2

Da 24,2 % der Bevölkerung in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind und ein weiterer Anstieg dieser Zahl zu erwarten ist, fordert der EWSA eine bedarfsgerechte Mittelausstattung des Fonds. Die Haushaltsmittel für den neuen Fonds sollten den Zielen der Europa-2020-Strategie entsprechen, wonach die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis 2020 um mindestens 20 Mio. gesenkt werden soll. Keinesfalls dürfen die bereitgestellten Finanzmittel geringer ausfallen als jene, die bislang für materielle Hilfe zur Verfügung gestellt wurden.

1.3

Der EWSA befürchtet, dass die Kofinanzierung aus Mitteln der Mitgliedstaaten zu Schwierigkeiten bei der Durchführung der aus dem neuen Fonds finanzierten Programme führen könnte, und spricht sich daher für eine 100-prozentige Finanzierung aus dem EU-Haushalt aus, wie dies auch bei den in den letzten Jahren durchgeführten Programmen der materiellen Hilfe der Fall war.

1.4

Der EWSA befürwortet die im Verordnungsvorschlag vorgesehene Vereinfachung der Verfahren und die Verringerung des Verwaltungsaufwands für die Mitgliedstaaten und insbesondere die Partnerorganisationen. Er warnt in diesem Zusammenhang jedoch davor, dass die Mitgliedstaaten die komplizierten Verfahren aus dem Europäischen Sozialfonds übernehmen könnten.

1.5

Der EWSA begrüßt, dass Regelungen vorgesehen sind, die gewährleisteten sollen, dass die Partnerorganisationen über ausreichend Liquidität zur ordnungsgemäßen Durchführung der Maßnahmen verfügen, und dass im Rahmen des Fonds auch Mittel zur Deckung von Verwaltungs-, Transport- und Lagerkosten sowie für den Kapazitätenaufbau der Partnerorganisationen bereitgestellt werden.

1.6

Der EWSA spricht sich für die Schaffung einer EU-Plattform für den Austausch von Erfahrungen und bewährten Praktiken aus. Zudem befürwortet er die Einbindung der Organisationen der Zivilgesellschaft in die Überwachung und Evaluierung der operationellen Programme des neuen Fonds auf der Ebene der Mitgliedstaaten.

1.7

Gleichzeitig appelliert der EWSA angesichts der unterschiedlichen Lage in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten an deren Regierungen, den Stellenwert und den Aufgabenbereich des neuen Fonds gemeinsam mit den Organisationen der Zivilgesellschaft so zu definieren, dass dieser zu einem Instrument wird, das die anderen im Rahmen der nationalen Strategien und Pläne ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung - auch jene, die aus dem Europäischen Sozialfonds gefördert werden – sinnvoll ergänzt.

1.8

Der EWSA unterstreicht, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Sozialpolitik auf das europäische Sozialmodell, sozialwissenschaftliche Standards und die Europa-2020-Strategie gründen. Damit sind als Zielstellung verbunden rechtlich abgesicherte Sozialleistungen, die Achtung vor der Zuständigkeitsordnung der EU, das Ziel der gesellschaftlichen Integration und der Solidarität innerhalb der Mitgliedstaaten und der EU. Verlässliche sozialstaatliche Strukturen und insbesondere die Zugänglichkeit sozialer Dienste sind vorzuhalten, um u.a. existentielle Notlagen nicht entstehen zu lassen. Eine Verfestigung von Armut und eine Stigmatisierung betroffener Menschen ist bei allen Arten von Hilfen zu vermeiden.

1.9

Aufgrund der in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlichen politischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, aber auch im Hinblick auf die eindeutig unzureichende Mittelausstattung des Fonds spricht sich der EWSA außerdem dafür aus, den einzelnen Mitgliedstaaten die Inanspruchnahme des Fonds freizustellen. Dies darf jedoch nicht zu einer Kürzung der Mittel des Europäischen Sozialfonds für jene Mitgliedstaaten führen, die den Fonds nicht nutzen.

2.   Hintergrund

2.1

Gegenstand dieser Stellungnahme sind das neue Bedürftigenhilfsprogramm der EU, nämlich der „Europäische Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen“, der das EU-Programm zur Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige ablöst, sowie die neue Regelung für die Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige im Zeitraum 2012-2013.

2.2

1987 wurden anlässlich der Einrichtung des Nahrungsmittelhilfe-Programms die Grundsätze für die Weitergabe von Lebensmitteln aus Interventionsbeständen an ausgewählte Organisationen zur Verteilung an die Bedürftigsten in der Europäischen Gemeinschaft festgelegt. Dieses Programm hat durch die Verringerung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der EU beigetragen.

2.3

Im Rahmen des Nahrungsmittelhilfe-Programms leisteten Organisationen der Zivilgesellschaft (akkreditierte Hilfsorganisationen) in den meisten EU-Mitgliedstaaten Nahrungsmittelhilfe an besonders Bedürftige. Diese Hilfe war vielfach von grundlegender Bedeutung für die weiteren Maßnahmen zur Integration benachteiligter Bevölkerungsgruppen und zudem ein sichtbares Zeichen der europäischen Solidarität.

2.4

Im Verlauf der Jahre (und insbesondere im Zusammenhang mit den sukzessiven EU-Erweiterungen) wurde die Finanzausstattung des Programms von 97 Mio. EUR im Jahr 1988 auf 500 Mio. EUR im Jahr 2009 erhöht. Bislang (2011) erhielten fast 19 Mio. der Bedürftigsten in Europa (1) Hilfe aus dem Nahrungsmittelhilfe-Programm.

2.5

Manche Mitgliedstaaten haben sich jedoch nicht am Nahrungsmittelhilfe-Programm beteiligt und dies mit fehlendem Bedarf bzw. der Nichtvereinbarkeit des Programms mit den nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung begründet. Ein Teil der Organisationen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern weist auf den stigmatisierenden Charakter direkter materieller Hilfe hin und zieht finanzielle Unterstützung des Staates zur Deckung aller Grundbedürfnisse vor. In diesen Mitgliedstaaten gibt es jedoch auch Menschen bzw. Personengruppen, die aus unterschiedlichen Gründen mit finanzieller Unterstützung im Rahmen staatlicher Hilfssysteme nicht zu erreichen sind.

2.6

Das Nahrungsmittelhilfe-Programm war ungeachtet seiner sozialen Dimension ein Instrument der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU, das durch die Nutzung der Interventionsbestände der Stabilisierung der Agrarmärkte diente. Aufgrund der folgenden GAP-Reformen verringerten sich die Interventionsbestände deutlich, so dass der Bedarf an Nahrungsmittelhilfe in den letzten Jahren damit nicht mehr gedeckt werden konnte. Deshalb wurde u.a. im Anschluss an Konsultationen mit Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft ein Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines auf Dauer angelegten Systems der Nahrungsmittelhilfe für die Bedürftigsten erarbeitet. Der Großteil der in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Änderungen, u.a. die schrittweise Einführung der Kofinanzierung, Dreijahrespläne für die Verteilung, die Festlegung prioritärer Maßnahmen der Mitgliedstaaten und die Aufstockung der Finanzmittel, erhielt im Rat jedoch nicht die erforderliche Mehrheit.

2.7

Am 13. April 2011 urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass an die Stelle der verringerten Interventionsbestände nicht regelmäßige Lebensmittelankäufe auf dem EU-Binnenmarkt treten dürfen. In der Folge forderte das Europäische Parlament (in seiner Entschließung vom 7. Juli 2011) die Europäische Kommission und den Rat auf, für die verbleibenden Jahre des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens eine Übergangslösung zu erarbeiten, um einen plötzlichen Einbruch der Nahrungsmittelhilfe zu vermeiden. Am 15. Februar 2012 wurde eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates für die vorläufige Regelung der Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in den Jahren 2012 und 2013 angenommen. Dieses Programm läuft mit Beendigung des Jahresplans 2013 (2) aus.

2.8

2011 waren 24,2 % der EU-Bevölkerung – etwa 120 Mio. Menschen – von Armut bzw. sozialer Ausgrenzung bedroht (2010 betrug dieser Wert 23,4 % und 2008 23,5 %) (3). Aufgrund der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise ist davon auszugehen, dass diese Zahlen in fast allen Mitgliedstaaten weiter ansteigen werden. Armut und soziale Ausgrenzung sind jedoch sehr komplexe Phänomene. Betroffen sind nicht nur Arbeitslose, sondern auch Erwerbstätige, die für ihre Arbeit kein ausreichendes Entgelt erhalten, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen.

2.9

In der Strategie Europa 2020 hat sich die Europäische Union das Ziel gesetzt, die Anzahl der in Armut lebenden oder von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen bis 2020 um mindestens 20 Mio. zu senken. 2010 wurde zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerufen. Der EWSA weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Wirtschaftskrise die Armut und soziale Ausgrenzung weiter verstärkt hat, was insbesondere dann die Erreichung dieses Ziels der Europa-2020-Strategie durch die einzelnen Mitgliedstaaten gefährden könnte, wenn eine entsprechende finanzielle Unterstützung von Seiten der Europäischen Union ausbleibt.

2.10

Die Frage der Hilfe für die Bedürftigsten wurde vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss mehrfach aufgegriffen und erörtert. Alleine im Jahr 2011 verabschiedete der EWSA zwei Stellungnahmen (4), in denen er auf die Notwendigkeit der Fortführung und des Ausbaus dieser Hilfe hingewiesen hat. Im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der im Rahmen der Europa-2020-Strategie festgelegten Ziele für die soziale Integration hat der EWSA alleine in seinen 2012 verabschiedeten Stellungnahmen verschiedene Aspekte der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung behandelt, darunter solche im Zusammenhang mit der Situation älterer und behinderter Menschen, den Gefahren für die psychische Gesundheit sowie der sozialen Landwirtschaft und dem sozialen Wohnbau (5).

2.11

Laut der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen hat jeder Mensch „das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen […]“ (6). Dies wird in den Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union zur Achtung der Menschenwürde aufgegriffen, u.a. in den Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Daseins für alle, die nicht über ausreichende Mittel verfügen (7). Einer der wichtigsten, auf den historischen Erfahrungen unseres Kontinents fußenden Grundsätze der europäischen Gesellschaft ist die Solidarität (8), die auch und vor allem für jene Bürgerinnen und Bürger der EU gelten sollte, die von extremer Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind.

3.   Wichtigste Aspekte des Vorschlags für eine Verordnung (Kommissionsdokument)

3.1

In dem Vorschlag für eine Verordnung, für den Artikel 175 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als Rechtsgrundlage herangezogen und in dem auf Artikel 174 AEUV verwiesen wird, wird der neue Europäische Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen im Gegensatz zum bisherigen Nahrungsmittelhilfe-Programm als Teil der Kohäsionspolitik gesehen. Dabei wird in dem Entwurf davon ausgegangen, dass das Ziel der Verordnung, also die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der EU und die Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung, von den Mitgliedstaaten nicht in ausreichendem Maß erreicht werden kann und auf europäischer Ebene eine vollständigere Verwirklichung möglich ist. Aus diesem Grund kann die EU unter Einhaltung des in Artikel 5 des EU-Vertrags festgeschriebenen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des ebendort verankerten Subsidiaritätsprinzips entsprechende Maßnahmen ergreifen (9).

3.2

Ziel des neuen Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen („des Fonds“) ist es, zur Erreichung der Europa-2020-Ziele im Bereich der Eindämmung der Armut beizutragen und somit eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Union zu bewirken. Er soll durch die Befriedigung von Grundbedürfnissen zur Eindämmung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der EU beitragen. Im neuen Fonds, der teilweise auf den Erfahrungen mit dem Nahrungsmittelhilfe-Programm aufbaut, ist zudem vorgesehen, dass neben der Nahrungsmittelhilfe ein Teil der Mittel auch für andere Konsumgüter für Obdachlose und/ oder Kinder sowie für Begleitmaßnahmen zur Gewährleistung der sozialen Wiedereingliederung verwendet wird.

3.3

Zielgruppen des Fonds sind von Nahrungsmangel betroffene Personen, Obdachlose sowie materiell unterversorgte Kinder. Der Kreis der förderfähigen Personen sowie die Form der Unterstützung werden dabei im Einzelnen von den Mitgliedstaaten festgelegt.

3.4

Organisationen, die im Rahmen der aus dem Fonds finanzierten Hilfsprogramme Nahrungsmittel oder sonstige Güter direkt abgeben, sind verpflichtet, selbst Aktivitäten durchführen, die die Bereitstellung materieller Unterstützung ergänzen und auf die soziale Integration der am stärksten von Armut betroffenen Personen abzielen. Die Entscheidung, ob derartige flankierende Maßnahmen aus dem Fonds unterstützt werden, obliegt den Mitgliedstaaten.

3.5

Der Kofinanzierungssatz aus Mitteln des Fonds wurde für die operationellen Programme der einzelnen Mitgliedstaaten mit maximal 85 % der förderfähigen öffentlichen Ausgaben festgesetzt, wobei dies nicht für Mitgliedstaaten mit vorübergehenden Budgetproblemen gilt.

4.   Bemerkungen zum Kommissionsvorschlag

4.1   Dotierung des Fonds und Geltungsbereich

4.1.1

Der EWSA stellt mit großem Bedauern fest, dass die für den neuen Fonds vorgesehenen Finanzmittel bei weitem nicht ausreichen, um die angestrebten Ziele umzusetzen.

4.1.2

Beim Einkauf der Nahrungsmittel ist sicherzustellen, dass keine Wettbewerbsregeln verletzt werden und KMU sowie regionale, ökologisch sensible und sozial inklusive Anbieter ausreichend Berücksichtigung finden. Organisationen, welche die Lebensmittel verteilen, dürfen keine privaten Profitinteressen verfolgen.

4.1.3

Im mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2014-2020 hat die Europäische Kommission nämlich für den Fonds Finanzmittel in Höhe von 2,5 Mrd. EUR vorgesehen, d.h. rund 360 Mio. EUR jährlich. Angesichts der laufenden Debatte über die endgültige Gestalt des EU-Haushalts besteht die Gefahr, dass diese Summe noch gekürzt wird. Dabei reichen bereits die im Rahmen des laufenden Programms für die Jahre 2012/2013 jährlich bereitgestellten Mittel in Höhe von 500 Mio. EUR nicht aus, um den auf ca. 680 Mio. EUR jährlich geschätzten Bedarf der Mitgliedstaaten (10) zur Gänze zu stillen. Angesichts eines eventuellen Anstiegs der Zahl der Mitgliedstaaten (derzeit 20) (11), die den Fonds ausschöpfen, sowie im Hinblick auf die Flexibilität der gewährten Unterstützung (Möglichkeit zur Verteilung anderer grundlegender Konsumgüter als Nahrungsmittel an Obdachlose oder Kinder) und die geplanten Maßnahmen zur sozialen Eingliederung ist davon auszugehen, dass der Bedarf die bisher zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel deutlich übersteigen wird. Es ist daher klar, dass die vorgeschlagene Mittelausstattung nicht dem Bedarf entspricht, der gedeckt werden soll. Darüber hinaus ist es schwer zu akzeptieren, dass die Mittel für materielle Hilfe um mindestens 28 % (im Vergleich zum Programm 2012-2013) gekürzt werden sollen, obwohl der EU-Haushalt 2014-2020 auf dem bisherigen Niveau gehalten bzw. nur leicht gekürzt werden soll.

4.1.4

Die Kommission geht davon aus, dass dank der Kofinanzierung durch die Mitgliedstaaten und der von den Partnerorganisationen erbrachten Sachleistungen insgesamt etwa 4 Mio. Menschen direkte Unterstützung aus dem Fonds erhalten (12). Selbst wenn man davon ausgeht, dass dieses Ziel voll erreicht wird, ist fraglich, ob der Fonds die Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie (Senkung der Zahl der von Armut betroffenen Personen in der EU um mindestens 20 Mio.) ermöglichen wird. Der EWSA dringt daher darauf, die materielle Hilfe und insbesondere die Nahrungsmittelhilfe in Europa als wichtige Priorität für die EU zu definieren und den Fonds mit Mitteln auszustatten, die dem bestehenden Bedarf entsprechen.

4.1.5

Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auf den Standpunkt des Ausschusses der Regionen hin, der im Hinblick auf das Hilfsprogramm für 2012-13 „[…] die Kommission auf[fordert], fortlaufend zu prüfen, ob die für den Programmzeitraum gesetzte Jahresgesamtobergrenze von 500 Mio. EUR ausreicht, führt doch die Wirtschaftskrise möglicherweise zu stärkeren Sparzwängen bei den öffentlichen Ausgaben und zu wirtschaftlicher Unsicherheit durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit in vielen Ländern“ (13).

4.1.6

Zudem spricht sich der EWSA für eine 100-prozentige Finanzierung des Fonds aus dem EU-Haushalt aus, wie dies auch bei den Nahrungsmittelhilfe-Programmen in den vergangenen Jahren der Fall war. Nach Auffassung des EWSA kann die Kofinanzierung durch die Mitgliedstaaten nicht nur in den Mitgliedstaaten mit vorübergehenden Budgetproblemen (für die die Möglichkeit einer Aufstockung der Zahlung vorgesehen ist) (14) zu finanziellen Schwierigkeiten bei der Durchführung des Programms führen.

4.1.7

Der EWSA befürwortet die Bestimmung des Verordnungsvorschlags, mit der die Möglichkeit eröffnet wird, Interventionsbestände zur Nahrungsmittelerzeugung zu nutzen, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass in nächster Zeit umfangreiche Bestände verfügbar sein werden (15). Angesichts der deutlich zu geringen Mittelausstattung des Fonds lehnt der EWSA jedoch eine Einberechnung des Werts der genutzten Interventionsbestände in die Dotierung des Fonds ab.

4.1.8

Im Hinblick auf die überaus knappe Mittelausstattung des Fonds und den Standpunkt mancher Mitgliedstaaten, die u.a. auf den fehlenden Bedarf bzw. die Unvereinbarkeit des Fonds mit ihren nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung hinweisen, spricht sich der EWSA dafür aus, die Möglichkeit einer optionalen (freiwilligen) Ausschöpfung des Fonds durch die einzelnen Mitgliedstaaten vorzusehen (was zudem höhere Mittelzuweisungen aus dem Fonds an jene Mitgliedstaaten ermöglichen würde, die den Fonds in Anspruch nehmen würden).

4.2   Zielgruppen des Fonds und Art der Hilfe

4.2.1

Der EWSA weist darauf hin, dass in allen drei im Kommissionsvorschlag genannten Bereichen – Nahrungsmangel, Obdachlosigkeit und materielle Unterversorgung von Kindern – Hilfe geleistet werden sollte, aber auch für Gruppen bzw. Personen, die aus besonderen, darunter auch aus historischen Gründen, von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Diese Hilfe sollte vornehmlich in Form von Nahrungsmittelhilfe geleistet werden. Der Zugang zu Nahrungsmitteln ist nämlich der erste Schritt auf dem Weg zur sozialen Eingliederung bzw. zur Wiedereingliederung sozial ausgegrenzter Personen. Angesichts der unterschiedlichen Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten spricht sich der EWSA dafür aus, die Festlegung der Art der Hilfe für die einzelnen Zielgruppen ganz den Mitgliedstaaten zu überlassen.

4.2.2

Außerdem spricht sich der EWSA dagegen aus, die Organisationen, die Nahrungsmittel bzw. andere Güter direkt an die Bedürftigen verteilen, zur Ergreifung von Maßnahmen zu verpflichten, die die materielle Hilfe ergänzen sollen, wenn diese Maßnahmen nicht aus dem im Rahmen des Fonds von den Mitgliedstaaten durchgeführten operationellen Programm gefördert werden (16).

4.3   Durchführung des Fonds

4.3.1

Der EWSA schließt sich dem Standpunkt der Europäischen Kommission bezüglich der Vereinfachung der Verfahren und der Verringerung des Verwaltungsaufwands für die Mitgliedstaaten und insbesondere die Partnerorganisationen an (17). Die effizienteren und vereinfachten Verfahren für die Erbringung von Hilfsleistungen sollten auf die einzelnen Ziele und Zielgruppen des Fonds zugeschnitten werden. In diesem Zusammenhang warnt der EWSA vor der Anwendung der Verfahren des Europäischen Sozialfonds (18). Diese sind in manchen Mitgliedstaaten nämlich kompliziert und könnten für die Partnerorganisationen schwer zu handhaben sein.

4.3.2

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission zur Einrichtung einer EU-Plattform, deren Tätigkeit im Rahmen der technischen Hilfe finanziert würde. Der Austausch von Erfahrungen und bewährten Vorgehensweisen zwischen den EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern sowie anderen Organisationen der Zivilgesellschaft stellt einen zusätzlichen Nutzen dieses Fonds dar (19).

4.3.3

Der EWSA hält es für richtig, dass die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, die operationellen Programme in Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft zu erarbeiten (20). Der EWSA spricht sich zudem dafür aus, die Mitgliedstaaten dazu zu verpflichten, Monitoringausschüsse oder andere Gremien zur Überwachung und Bewertung der operationellen Programme unter Einbindung von Organisationen der Zivilgesellschaft und von Armut Betroffenen bzw. deren Vertretern einzurichten.

4.3.4

Für sinnvoll hält es der EWSA, dass im Fonds Mittel zur Deckung der Verwaltungskosten und der Kosten des Transports und der Lagerung der Nahrungsmittel und Konsumgüter sowie die Möglichkeit zur Finanzierung des Kapazitätenaufbaus der Partnerorganisationen vorgesehen sind (21). Dies ermöglicht eine wirksame Einbindung der Partnerorganisationen in die erfolgreiche Umsetzung der im Rahmen des Fonds durchgeführten Programme.

4.3.5

Schließlich begrüßt der EWSA die Bestimmungen zur Gewährleistung der für eine ordnungsgemäße Durchführung der Programme erforderlichen Liquidität der Partnerorganisationen (22).

Brüssel, den 14. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  „Main results of the distribution plan in the last years“ – AGRI C5, Treffen der Interessenträger am 5. Juli 2012, Brüssel, http://ec.europa.eu/agriculture/most-deprived-persons/meetings/05-07-2012/dg-agri-1_en.pdf, S. 9-10.

(2)  Verordnung (EU) Nr. 121/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Februar 2012.

(3)  Eurostat, Pressemitteilung 171/2012 vom 3. Dezember 2012.

(4)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 49-52 sowie ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 94-97.

(5)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 16-20, ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 28-35, ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 36-43, ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 44-48 sowie ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 53-58.

(6)  Artikel 25 Absatz 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO.

(7)  Siehe Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union sowie Artikel 34 Absatz 3 der Grundrechtecharta der Europäischen Union.

(8)  Siehe Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union.

(9)  Siehe Ziffern 3 und 42 der Präambel des Kommissionsdokuments.

(10)  European food aid programme for the most deprived persons in the EU – AGRI C.5, Treffen der Interessenträger am 5. Juli 2012, Brüssel, http://ec.europa.eu/agriculture/most-deprived-persons/meetings/05-07-2012/dg-agri-2_en.pdf, S. 12.

(11)  Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn.

(12)  MEMO/12/800 vom 24. Oktober 2012: „Armut: Kommission schlägt neuen europäischen Hilfsfond gegen Armut vor – häufig gestellte Fragen“, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-12-800_de.htm.

(13)  ABl. C 104 vom 2.4.2011, S. 44-46, Ziffer 22 der Stellungnahme.

(14)  Siehe Artikel 18 sowie Artikel 19 des Kommissionsvorschlags.

(15)  Siehe Artikel 21 Absatz 3 des Kommissionsvorschlags.

(16)  Siehe Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 7 Absatz 1 des Kommissionsvorschlags.

(17)  Siehe Artikel 23 des Kommissionsvorschlags.

(18)  Siehe Artikel 32 Absatz 4 des Kommissionsvorschlags.

(19)  Siehe Artikel 10 des Kommissionsvorschlags.

(20)  Siehe Artikel 7 Absatz 2 des Kommissionsvorschlags.

(21)  Siehe Artikel 24 Absatz 1c) sowie Artikel 25 Absatz 2 des Kommissionsvorschlags.

(22)  Siehe Artikel 39 und 41 des Kommissionsvorschlags.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten über ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 4.1.3

Ändern:

Die Kommission geht davon aus, dass dank der Kofinanzierung durch die Mitgliedstaaten und der von den Partnerorganisationen erbrachten Sachleistungen insgesamt etwa 4 Mio. Menschen direkte Unterstützung aus dem Fonds erhalten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass dieses Ziel voll erreicht wird, ist fraglich, ob der Fonds die Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie (Senkung der Zahl der von Armut betroffenen Personen in der EU um mindestens 20 Mio.) ermöglichen wird. Der EWSA dringt daher darauf, die materielle Hilfe und insbesondere die Nahrungsmittelhilfe in Europa als wichtige Priorität für die EU zu definieren und den Fonds mit Mitteln auszustatten, die dem bestehenden Bedarf entsprechen.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

55

Nein-Stimmen

:

102

Enthaltungen

:

15

Ziffer 4.2.1

Ändern:

Der EWSA weist darauf hin, dass in allen drei im Kommissionsvorschlag genannten Bereichen – Nahrungsmangel, Obdachlosigkeit und materielle Unterversorgung von Kindern – Hilfe geleistet werden sollte, aber auch für Gruppen bzw. Personen, die aus besonderen, darunter auch aus historischen Gründen, von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Diese Hilfe sollte vornehmlich in Form von Nahrungsmittelhilfe geleistet werden. Der Zugang zu Nahrungsmitteln ist nämlich der erste kann hier ein erster Schritt auf dem Weg zur sozialen Eingliederung bzw. zur Wiedereingliederung sozial ausgegrenzter Personen sein. Angesichts der unterschiedlichen Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten spricht sich der EWSA dafür aus, die Festlegung der Art der Hilfe für die einzelnen Zielgruppen ganz den Mitgliedstaaten zu überlassen.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

54

Nein-Stimmen

:

108

Enthaltungen

:

21


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen

COM(2012) 614 final — 2012/0299 (COD)

2013/C 133/13

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 22. November 2012 bzw. am 10. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen

COM(2012) 614 final – 2012/0299 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 128 gegen 58 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

In dem vorliegenden Vorschlag schlägt die Europäische Kommission eine Richtlinie zur Gewährleistung einer stärkeren Ausgewogenheit zwischen weiblichen und männlichen nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Unternehmen vor, wobei bis 2020 mindestens 40 Prozent davon Frauen sein sollen.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt diesen Vorschlag. Auch wenn er freiwilligen Maßnahmen den Vorzug vor einer Quotenregelung gibt, vertritt er die Auffassung, dass sich ohne rechtsverbindliche Ziele kaum etwas an der Vertretung von Frauen und Männern in börsennotierten Unternehmen in der EU ändern wird. Heutzutage sind nur 13,7 Prozent der Sitze in den Leitungsorganen mit Frauen besetzt, was ein klares Zeichen für Diskriminierung ist.

1.3

Der EWSA ist wie die Kommission der Auffassung, dass das Recht auf freie Unternehmensführung respektiert werden muss. In der vorliegenden Richtlinie werden Mindestnormen festgelegt, die die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum verbessern sollen, wobei es den Mitgliedstaaten freisteht, über die empfohlenen Maßnahmen hinauszugehen. Die Sozialpartner in der EU haben 2005 selbst einen Plan ausgearbeitet, in dem zahlreiche Argumente für die ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern angeführt und konkrete Werkzeuge für die Mitgliedstaaten und Unternehmen dargestellt wurden (1).

1.4

Ausgangspunkt des Wandels ist die eindeutig belegte Tatsache, dass es in den Mitgliedstaaten hochqualifizierte Frauen gibt, sodass sich die Argumentation pro Geschlechtergleichstellung eher auf die Regel „Eignung und Präferenz“ denn auf positive Diskriminierung stützen sollte. Nichtsdestoweniger gibt es noch immer Faktoren, die Frauen daran hindern, Führungspositionen einzunehmen, wie z.B. mangelnde Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, eingeschränkter Zugang zu den für höhere Positionen wichtigen Netzwerken, mangelndes Selbstvertrauen usw.

1.5

Der EWSA hofft, dass diese Mindestnormen von allen öffentlichen und privaten Beschlussfassungsgremien im Sinne einer Selbstregulierung übernommen werden, um eine weitere gesetzliche Reglementierung zu vermeiden. Sie sollten auch für geschäftsführende Direktoren, Aufsichtsräte börsennotierter KMU sowie alle Einrichtungen des öffentlichen Sektors gelten, um eine ausgewogenere Vertretung von Frauen und Männern zu gewährleisten, die eine Voraussetzung für Transparenz bei Bewerbungen und Einstellungen sowie für die Schaffung einer Kultur der Inklusion und der „Wahlmöglichkeit“ in der Gesellschaft insgesamt bildet.

1.6

Zudem empfiehlt der EWSA den Politikverantwortlichen und Unternehmen, folgende Aspekte zu prüfen, um sicherzustellen, dass das 40-Prozent-Ziel erreicht bzw. übertroffen wird:

Stärkung der öffentlichen Wahrnehmung von Frauen in Spitzenpositionen

mehr Transparenz beim Anwerben von Talenten

Aufbau und Erhalt einer kritischen Masse

Aufbrechen stereotyper Geschlechterrollen

Planung der Nachfolge an der Unternehmensspitze

Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten für Nachwuchstalente

Verbreitung von Beispielen bewährter Praktiken

Schaffung einer europaweit koordinierten Datenbank von Frauen, die über die Qualifikationen für eine Leitungsfunktion in einem Unternehmen verfügen.

1.7

Der EWSA beglückwünscht Viviane Reding und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer in der Europäischen Kommission, im Europäischen Parlament und den anderen Institutionen dazu, die ersten Schritte in Richtung eines ausgewogeneren Europas gesetzt und einen Wandel der öffentlichen Meinung bezüglich der Vertretung von Frauen und Männern in den Leitungsorganen von Unternehmen angestoßen zu haben, um eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Dies ist ein bedeutender Mentalitätswandel. Der EWSA weiß, dass intensive Forschungsarbeiten, eine Prüfung der Rechtslage und eine Konsultation mit der Zivilgesellschaft durchgeführt wurden, um eine praxisorientierte Richtlinie zu erarbeiten, die sowohl den Unternehmen als auch den Mitgliedstaaten ausreichend Flexibilität bei Umsetzung und Zeitrahmen bietet und gleichzeitig die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit respektiert.

1.8

Zur Erzielung einer vollständigen Geschlechtergleichstellung in der Entscheidungsfindung gilt es weit schwierigere Hürden zu überwinden als die immer wieder vorgebrachten Argumente zu den Geschlechterrollen und zur Angebotsproblematik. Ohne den Willen von Frauen und Männern, von jetzt an über reine Absichtserklärungen hinaus positive Maßnahmen zu ergreifen und den Standpunkt des jeweils Anderen zu respektieren, werden sich nie größere Veränderungen erzielen lassen. Europas Stärke beruht in der „Einheit in der Vielfalt“, diese Vielfalt muss aber erst nutzbar gemacht werden.

1.9

Der EWSA fordert, dass spezifische Bestimmungen zur ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern unter den Mitgliedern der Leitungsorgane, die die Mitarbeiter des Unternehmens vertreten, in den vorliegenden Richtlinienvorschlag aufgenommen und dabei die besonderen Modalitäten ihrer Ernennung berücksichtigt werden.

2.   Hintergrund

86,3 Prozent der Führungspositionen sind mit Männern besetzt

2.1

Die Geschlechtergleichstellung ist eines der grundlegenden Ziele der EU, das in den Verträgen (Artikel 3 Absatz 3 EUV) und in der Grundrechtecharta (Artikel 23) festgeschrieben ist. Nach Maßgabe von Artikel 8 AEUV hat die EU Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Das Recht der EU, in Sachen Geschlechtergleichstellung im Beschäftigungsbereich tätig zu werden, ergibt sich aus Artikel 157 Absatz 3 AEUV.

2.2

Aufgrund der unterschiedlichen Politik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten bestehen zwischen ihnen erhebliche Unterschiede in der Vertretung von Frauen in Führungspositionen. Die Rolle von Frauen in Leitungsorganen wird seit Jahrzehnten untersucht, insbesondere aber in den letzten beiden Jahren, nachdem sich die EU erneut zur Förderung der Geschlechtergleichstellung in den Leitungsorganen börsennotierter Unternehmen verpflichtet hat. Die in der Debatte unterbreiteten Vorschläge reichen von der Einführung rechtsverbindlicher Quoten bis hin zur Selbstregulierung ohne Sanktionen bei Nichteinhaltung. Wirksame freiwillige Ansätze greifen noch immer langsam. Letztes Jahr hat sich die Zahl der Frauen in Führungspositionen nur um 0,6 Prozent erhöht, und nur 24 Unternehmen haben die Verpflichtungserklärung aus dem Jahr 2011 unterzeichnet.

2.3

Die Maßnahmen der Mitgliedstaaten reichen von rechtsverbindlichen Quotenregelungen einschließlich Sanktionen bis hin zu Selbstregulierung in bestimmten Bereichen, sodass die Vertretung von Frauen in Leitungsfunktionen erwartungsgemäß unterschiedlich ausfällt. In Ländern mit verpflichtenden Quoten ist die Zahl der Frauen in Leitungspositionen jedoch allgemein um 20 Prozent angestiegen. In sechs Ländern, die keinerlei Maßnahmen ergriffen haben, ist die Zahl der Frauen in Führungspositionen zurückgegangen (siehe Anhang 1).

2.4

Bis Ende 2011 haben elf Mitgliedstaaten Gesetze zur Festsetzung von Quoten bzw. Zielvorgaben für eine ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in den Leitungsgremien von Unternehmen erlassen. Frankreich, Italien und Belgien haben Quoten einschließlich Sanktionen bei Nichteinhaltung eingeführt; in Spanien und den Niederlanden wurden Quotenregelungen ohne Sanktionsandrohung verabschiedet; Dänemark, Finnland, Griechenland, Österreich und Slowenien haben Regelungen umgesetzt, die nur für die Leitungsorgane staatlich kontrollierter Unternehmen gelten, und in Deutschland ist die Gleichstellungsfrage im Rahmen von Regelungen zur Vertretung von Arbeitnehmern in Unternehmensleitungsgremien geregelt.

2.5

Die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten haben unvermeidlich zu einer unterschiedlichen Vertretung von Frauen in Unternehmensleitungen geführt. Länder mit gesetzlicher Quotenregelung verzeichnen einen Anstieg um 20 Prozent, außer Italien, wo sich die Zahl der Frauen in Unternehmensleitungen nur um 4 Prozent erhöht hat. In Ländern, in denen Unternehmensverhaltenskodizes umgesetzt wurden, reicht der Anstieg von 2 bis 11 Prozent.

2.6

Bei gleichbleibendem Anstieg ist Frankreich das einzige Land, das das Ziel eines 40-prozentigen Frauenanteils in Leitungsorganen bis 2020 erreichen wird. Rechnet man den derzeitigen Frauenanteil in Leitungsgremien hoch, wird die EU das 40-Prozent-Ziel selbst 2040 noch nicht erreicht haben (2).

2.7

Die Zielvorgaben können nur dann erreicht werden, wenn auch Strafen vorgesehen sind, das heißt, es sind ausreichende Sanktionen im Fall der Nichteinhaltung vorzusehen. Die Richtlinie sieht in allen Fällen einen Nachweis der Nichteinhaltung vor, wobei es dem Unternehmen obliegt, nachzuweisen, dass es im Einstellungsverfahren ordnungsgemäß vorgegangen ist. Sanktionen greifen dann am besten, wenn sie auf den konkreten Fall zugeschnitten sind und vom jeweiligen Mitgliedstaat auferlegt und durchgesetzt werden, sodass die Kommission nur Empfehlungen als Leitlinien für mögliche Sanktionen ausgesprochen hat.

2.8

Die Kommission weist auf die Notwendigkeit hin, das grundlegende Recht auf Unternehmensführung ohne Einmischung von außen zu respektieren, vertritt jedoch die Auffassung, dass diese Freiheit nicht zu einer Aushebelung des Rechtsstaats oder der Grundrechte führen darf. Die vorliegende Richtlinie stellt eine Mindestnorm dar, die die Situation für die Wirtschaft und auf dem Binnenmarkt verbessern soll, indem gleiche Bedingungen für Unternehmen geschaffen werden, die in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind.

2.9

In der Richtlinie wird zudem ein Zeitrahmen für die Umsetzung des quantitativen 40-Prozent-Ziels bis 2020 festgesetzt, der der zyklischen Neubesetzung der Leitungsgremien in den einzelnen Unternehmen Rechnung trägt. Die Richtlinie enthält auch eine Auslaufklausel, der zufolge sie nach 2028 nicht mehr erforderlich sein sollte.

2.10

Das Potenzial von Frauen kann nur durch Maßnahmen auf europäischer Ebene voll ausgeschöpft werden, wobei diese flexibel genug sein müssen, um den Unterschieden in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie dem Subsidiaritätsprinzip umfassend Rechnung zu tragen.

3.   Geschlechtergleichstellung ist ein Grundrecht und gemeinsamer Wert der EU

3.1

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Anhebung des Frauenanteils in Entscheidungspositionen ein Ziel ist, das alle Akteure der Zivilgesellschaft anstreben sollten, die sich aktiv für die Förderung der ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern einsetzen. Er hat bereits mehrere Stellungnahmen zur ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern in der Gesellschaft verabschiedet und in seinem Bericht zu der „Rolle der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Einrichtungen in der neuen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Weltordnung“ betont, dass „politische Gleichheit, wahre Demokratie und Gleichberechtigung […] unerreichbar bleiben [werden], solange eine gleichberechtigte Vertretung nicht auf rechtlichem Wege eingefordert wird“.

3.2

Dies ist nicht nur eine Voraussetzung für echte Demokratie und eine gerechte Gesellschaft, sondern auch eine Grundbedingung für die Erreichung der EU-Ziele im Bereich des intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Wachstums. Untersuchungen von Weltbank und Transparency International haben ergeben, dass die Transparenz steigt und die Korruption abnimmt, wenn Frauen gut in die Beschlussfassungsprozesse eingebunden sind. Verantwortungsvolles Handeln in allen Lebensbereichen kommt der ganzen Gesellschaft zugute.

3.3

Über 51 Prozent der EU-Bevölkerung sind Frauen, wobei diese 45 Prozent der Beschäftigten ausmachen und hinter 70 Prozent der Kaufentscheidungen stehen. Der EWSA würde es daher begrüßen, wenn in allen gesellschaftlichen Bereichen und in allen Beschlussfassungsorganen rechtsverbindliche Maßnahmen einschließlich Sanktionen zur Verbesserung der ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern ergriffen würden. Dies würde zu einem Wandel der öffentlichen Meinung darüber, wer in Beschlussfassungsprozesse eingebunden werden sollte, sowie zur Entstehung einer inklusiven Gesellschaft führen.

„Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass Frauen und Männer nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert werden dürfen“  (3);

Tatsache ist aber, dass 96,8 Prozent der Vorsitzenden von Unternehmensleitungsgremien Männer sind.

3.4

Das globale Wirtschaftswachstum ist unmittelbares Ergebnis menschlicher Schaffenskraft – auch und vor allem der Frauen, die starke Impulse für den geopolitischen Wandel mit Auswirkungen auf die Bereiche Gesundheit, Bildung, soziale Sicherung, Umwelt und wirtschaftliche Produktivität setzen, und dies ist ein starkes wirtschaftliches Argument für Frauen in Unternehmensleitungsgremien. Geschlechtervielfalt ist nicht nur für das Bild eines Unternehmens in der Öffentlichkeit von Vorteil, sondern auch deshalb, weil sie die Bindung zwischen Unternehmen, Mitarbeitern, Aktionären und Kunden stärkt. Vielfalt gilt aufgrund ihrer positiven Wirkung als zentraler Aspekt von Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Verantwortung in der Privatwirtschaft, wobei sie in vielen Unternehmen jedoch erst in die Praxis umgesetzt werden muss.

3.5

So unbeliebt Quotenregelungen auch sein mögen, sind sie doch ein probates Mittel zur Förderung des Zugangs von Frauen zu Führungspositionen, wie die Präsidentin des französischen Unternehmerdachverbands MEDEF, Laurence PARISOT, 2012 in einer Rede auf der EWSA-Plenartagung betonte: „Quoten sollten nicht notwendig sein – sie sind jedoch der einzige Weg, um die Vorurteile der Männer über die Inkompetenz von Frauen zu durchbrechen“.

3.6

Andererseits haben sich einige Frauen in Führungspositionen klar gegen rechtsverbindliche Quoten ausgesprochen, da sie eine solche Regelung als Abwertung ihrer eigenen Leistungen empfinden. Es besteht die konkrete Gefahr, dass Frauen, die eine Führungsposition übernehmen, durch eine Quotenregelung stigmatisiert werden.

3.7

Um mehr Frauen in Leitungspositionen zu bringen, braucht es entsprechende Maßnahmen, die sie dazu ermuntern, die Führungsrolle zu übernehmen; dazu zählen auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zur Förderung der Vernetzung und des beruflichen Fortkommens auf allen Ebenen sowie zur Bewusstseinsbildung und Herbeiführung eines Mentalitätswandels.

4.   Förderung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums

4.1   Wirtschaftliches Potenzial

4.1.1

Angesichts der nach wie vor schwierigen Wirtschaftslage in Europa hängt der Aufschwung von der vollen Einsatzfähigkeit der Arbeitskräfte ab, und dies setzt eine aktive Einbindung der Frauen voraus. Auch vor der Krise haben sich die Sozialpartner in der EU, die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas UNICE, die Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe UEAPME, der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft CEEP und der Europäische Gewerkschaftsbund für die Förderung einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz eingesetzt. 2005 machten sie die stärkere Einbindung von Frauen in die Entscheidungsfindung zu einer ihrer Hauptprioritäten und empfahlen in ihrem Bericht praktische Instrumente zur Stärkung der Einbindung von Frauen (4).

4.1.2

Im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen rücken Wachstum, Innovation, Forschung, Weiterbildung, Kompetenzen, Verbraucherschutz und die soziale Verantwortung von Unternehmen als zentrale Bereiche für Maßnahmen der Kommission zur optimalen Förderung besserer Wirtschaftschancen in den Blickpunkt. Um diese Ziele dauerhaft zu erreichen, bedarf es einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern.

4.1.3

51 Prozent der Bevölkerung der EU sind Frauen. Viele davon sind sehr gut ausgebildet und hoch qualifiziert und sind somit ein wichtiger Teil des Arbeitskräftepotenzials. Es gibt mehr Studentinnen als Studenten, sodass auf dem Arbeitsmarkt 50 Prozent mehr hochqualifizierte Frauen als Männer verfügbar sind. Im britischen Davies-Bericht wurde darauf hingewiesen, dass der im Vereinigten Königreich festgestellte Arbeitskräftemangel durch die Einstellung von zwei Millionen qualifizierten Arbeitnehmern in den nächsten zehn Jahren ausgeglichen werden könnte, wobei dies überwiegend hochqualifizierte Frauen sein müssten (5).

4.1.4

Darüber hinaus hat die Einbindung von Frauen in die Wirtschaft für die jeweiligen Länder weitreichende positive Auswirkungen in finanzieller und sozialer Hinsicht. Aus dem globalen Index zur Geschlechtergleichstellung 2011 geht hervor, dass Länder mit einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern ein höheres Pro-Kopf-BIP aufweisen (6).

4.1.5

Laut Goldman Sachs würde eine höhere Frauenbeschäftigungsquote das BIP steigern, und zwar

um 21 % in Italien,

um 19 % in Spanien,

um 9 % in Frankreich und Deutschland sowie

um 8 % im Vereinigten Königreich.

4.1.6

Zahlreiche Untersuchungen zu den wirtschaftlichen Gründen für die Einbindung von Frauen in Leitungsorgane liefern überzeugende Argumente bezüglich der Stärkung der Wirtschaftsleistung der Unternehmen. In unabhängig voneinander durchgeführten Untersuchungen von Crédit Suisse (2012) (7), McKinsey (2007) (8) und Catalyst (2004) (9) wurde ein Zusammenhang zwischen dem Frauenanteil in der Unternehmensleitung und der Finanz- und Ertragslage dieser Unternehmen nachgewiesen. Unter anderem wurde Folgendes festgestellt:

McKinsey fand heraus, dass die Eigenkapitalrendite in den Unternehmen mit dem höchsten Frauenanteil in den Leitungsgremien im Vergleich zu den Unternehmen, in deren Leitungsgremien keine Frauen vertreten waren, um 41 Prozent höher lag.

Catalyst stellte fest, dass die Eigenkapitalrendite in Unternehmen mit 14,3 bis 38,3 Prozent Frauenanteil in Führungspositionen 34,1 Prozent höher lag als in Unternehmen, in denen weniger Frauen leitende Funktionen innehatten.

Aus der Untersuchung von Crédit Suisse wiederum ergab sich, dass sich die Aktienkurse von Unternehmen mit Frauen in den Leitungsgremien besser als jene von Unternehmen ohne Frauen in Leitungsgremien entwickelten.

4.1.7

Zwar gibt es auch Studien, die belegen, dass sich die Geschlechtervielfalt in Unternehmensleitungsgremien wenig bis gar nicht auf die Finanz- und Ertragslage auswirkt, in den meisten Fällen ergeben diese jedoch eine positive Korrelation zwischen der Vertretung von Frauen in den Leitungsgremien und der Finanz- und Ertragslage von Unternehmen.

4.2   Wirtschaftliche Argumente

4.2.1

Es gibt zahlreiche Erklärungen für das bessere Abschneiden von Unternehmen, in deren Leitungsgremien sowohl Frauen als auch Männer vertreten sind. Als eines der Hauptargumente wird die Bereitschaft angeführt, vielfältige Standpunkte zu berücksichtigen und wirtschaftliche Entscheidungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, wodurch ein proaktiveres Geschäftsmodell entsteht.

4.2.2

Die Vielfalt der Märkte zu verstehen, ist von erheblichem finanziellem Wert und eine Grundvoraussetzung für Konzerne, die auf einem internationalen Markt tätig sind.

4.2.3

Innovation und Leistung der Leitungsgremien – Die Stärke, die Frauen den Organen der Unternehmensleitung verleihen, liegt in ihrer Vielfalt, ihrer Erfahrung sowie ihrer Herangehensweise an Probleme, neue Märkte und Chancen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Konsumentinnen. Denken ohne Scheuklappen fördert die Innovation und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, es führt zur Infragestellung vorgefasster Meinungen und trägt dazu bei, dass das Augenmerk vermehrt nach außen auf bestehende und neue Märkte gerichtet wird. Die Förderung eines fruchtbaren Ideenaustauschs hat enorme Auswirkungen, und dies gilt auch für die Möglichkeiten zur grenzübergreifenden Besetzung von Leitungsgremien. Die Herausforderung besteht für die Unternehmen darin, eine echte Vielfalt in den Leitungsgremien zu gewährleisten und zu erkennen, wie geschäftliche Herausforderungen produktiv genutzt werden können.

4.2.4

Vielfalt in Leitungsgremien bedeutet echte Vielfalt im weitesten Sinne des Wortes. Der EWSA spricht sich nicht dafür aus, Leitungspositionen einer kleinen Zahl von Frauen vorzubehalten, die von Gremium zu Gremium die Runde machen. Diese allgemein als „golden skirts“ bezeichnete Praxis untergräbt die Hauptsäule, die die Vielfalt in Leitungsorganen ausmacht. Norwegische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Anteil der Männer, die nur eine Leitungsposition innehaben, 62 Prozent beträgt, während es bei den Frauen 79 Prozent sind. Nach Auffassung des EWSA sollten Frauen und Männer die Wahl sowie einen gleichberechtigten Zugang zu Leitungspositionen auf der Grundlage ihrer Eignung haben.

5.   Durchführung

5.1

Damit die quantitativen Ziele im Bereich der Vertretung von Frauen in Unternehmensleitungen tatsächlich erreicht werden, müssen konkrete Maßnahmen ergriffen werden. Zur Sicherstellung der Vielfalt in Unternehmensleitungen über das Jahr 2028 hinaus müssen sowohl kurz- als auch mittelfristige Maßnahmen umgesetzt werden. Folgendes ist dabei zu beachten:

5.1.1

Stärkung der öffentlichen Wahrnehmung von Frauen in Führungspositionen – Herausstellung von Frauen aus den einzelnen Mitgliedstaaten, die es bis in die Führungsetage von Unternehmen geschafft haben; Schärfung des Bewusstseins der Geschäftswelt für diese Frauen und Aufzeigen der Auswirkungen der Vielfalt in Unternehmensleitungen auf den Geschäftserfolg.

5.1.2

Mehr Transparenz bei der Anwerbung von Talenten – Die Besetzung von Leitungspositionen ist sehr intransparent und läuft über persönliche Netzwerke. Um das Interesse möglichst vieler geeigneter Bewerberinnen und Bewerber zu wecken, müssen offene Stellen veröffentlicht und so beworben werden, dass sich alle geeigneten Bewerber angesprochen fühlen.

5.1.3

Aufbau und Erhalt einer kritischen Masse – Die Vorzüge der Meinungsvielfalt kommen in Unternehmensleitungsgremien nur dann zum Tragen, wenn es eine kritische Masse gibt, die vorgefasste Meinungen ins Wanken bringen kann, sodass es unbedingt eines 40-prozentigen Frauenanteils in den Leitungsorganen bedarf. Durch mehr Transparenz im Einstellungsverfahren kann sichergestellt werden, dass so viele Bewerber wie möglich berücksichtigt werden und das Risiko umgangen wird, dass die „golden skirt“-Regel zum Tragen kommt (10).

5.1.4

Aufbrechen stereotyper Geschlechterrollen – Hinsichtlich der Rolle der Frau im Haushalt als Hindernis für ihre Einbindung in das Wirtschaftsleben sind erhebliche Fortschritte erzielt worden. Die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung und werden zu einer stärkeren Einbindung von Frauen in Unternehmensleitungsgremien führen.

5.1.5

Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten für Nachwuchstalente – Um die Vielfalt in den Unternehmensleitungen und die sich daraus ergebenden Vorteile langfristig zu sichern, muss laufend für Nachwuchs an hochqualifiziertem Personal gesorgt werden, das sowohl den Ehrgeiz als auch die Eignung für die Übernahme einer Leitungsfunktion mitbringt. Deshalb muss ein Umfeld geschaffen werden, das es Frauen ermöglicht, ihren beruflichen Weg durch das Labyrinth (11) zu finden und es bis in die Führungsetage zu schaffen. So wird dafür gesorgt, dass stets ausreichend Talente nachkommen, wobei weibliche Rollenmodelle, transparentere Einstellungsverfahren und eine klare Planung der Nachfolge an der Unternehmensspitze die Grundlage für die Geschlechtervielfalt in Unternehmensleitungsorganen bilden.

5.1.6

Schaffung einer europaweit koordinierten Datenbank mit Angaben zu Frauen, die über die Qualifikationen für eine Leitungsfunktion in einem Unternehmen verfügen. Dies wäre eine Abhilfe für das Problem der „Unsichtbarkeit“ von Frauen, die für Leitungsfunktionen in Frage kommen. Mit Hilfe dieser Datenbank könnte das Risiko, dass ein kleiner Kreis von Frauen in mehrere Leitungsorgane zugleich berufen wird, weiter verringert und mehr Transparenz im Einstellungsverfahren gewährleistet werden. Zudem wäre eine solche europaweit koordinierte Datenbank ein weiteres gutes Argument für den fruchtbaren Austausch von Qualifikationen und Erfahrungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und die Möglichkeit, in unterschiedlichen Bereichen zu arbeiten.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  http://www.etuc.org/IMG/pdf/framework_of_actions_gender_equality_010305-2.pdf.

(2)  Dokument zur Folgenabschätzung.

(3)  COM(2012) 615 final.

(4)  http://www.etuc.org/IMG/pdf/framework_of_actions_gender_equality_010305-2.pdf.

(5)  Davies, Women on Boards, One Year On, March 2012 http://www.bis.gov.uk/assets/biscore/business-law/docs/w/12-p135-women-on-boards-2012.pdf.

(6)  Global Gender Gap Index for 2011; World Economic Forum, http://www.uis.unesco.org/.

(7)  Credit Suisse Research Institute August 2012; Gender diversity and corporate performance.

(8)  McKinsey, Women Matter: Gender Diversity: a corporate performance driver (2007).

(9)  The Bottom Line: Connecting Corporate Performance and Gender Diversity, January 2004, Catalyst.

(10)  „Golden Skirts fill the board rooms“ - Artikel der BI Norwegian Business School vom 31.10.2012, Hrsg. Morten Huse (2011): The „Golden Skirts“. Changes in board composition following gender quotas on corporate boards.

(11)  Siehe „Through the Labyrinth: The Truth About How Women Become Leaders“ von Alice Eagly und Linda Carli.


ANHANG 1

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten über ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.2

Ändern:

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass der Anteil von Frauen in den Leitungsorganen von Unternehmen von 13,7 % im Januar 2012 auf 15,8 % im Januar 2013 angestiegen ist. Das Engagement der Unternehmen ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sich dieser Trend fortsetzt, weshalb sich der EWSA nicht generell für Quoten ausspricht, obwohl er anerkennt, dass die Kommission mit ihrem Vorschlag einen erheblichen Beitrag zur Bewusstseinsbildung und dadurch zur Intensivierung der Bemühungen um eine weitere Stärkung dieser Entwicklung geleistet hat diesen Vorschlag. Auch wenn er freiwilligen Maßnahmen den Vorzug vor einer Quotenregelung gibt, vertritt er die Auffassung, dass sich ohne rechtsverbindliche Ziele kaum etwas an der Vertretung von Frauen und Männern in börsennotierten Unternehmen in der EU ändern wird. Heutzutage sind nur 13,7 Prozent der Sitze in den Leitungsorganen mit Frauen besetzt, was ein klares Zeichen für Diskriminierung ist .

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

78

Nein-Stimmen

:

102

Enthaltungen

:

5

Ziffer 1.5

Ändern:

Der EWSA hofft vertritt die Auffassung, dass alle öffentlichen und privaten Beschlussfassungsgremien das 40 %-Ziel mittels freiwilliger Maßnahmen, Konformitätsdruck und der Anhebung der Zahl der verfügbaren Frauen (bzw. Männer) auf allen Managementebenen in allen betroffenen Bereichen erreichen können, und würde diese Mindestnormen von allen öffentlichen und privaten Beschlussfassungsgremien im Sinne einer Selbstregulierung sowie weiche Maßnahmen bevorzugen übernommen werden, um eine weitere gesetzliche Reglementierung zu vermeiden. Sie sollten auch für geschäftsführende Direktoren, Aufsichtsräte börsennotierter KMU sowie alle Einrichtungen des öffentlichen Sektors gelten, um eine ausgewogenere Vertretung von Frauen und Männern zu gewährleisten, die eine Voraussetzung für Transparenz bei Bewerbungen und Einstellungen sowie für die Schaffung einer Kultur der Inklusion und der „Wahlmöglichkeit“ in der Gesellschaft insgesamt bildet. Der EWSA betont zudem, dass viele Mitgliedstaaten bereits eine breite Palette an Initiativen zur Förderung der Vertretung von Frauen in Leitungsgremien von Unternehmen ergriffen haben; jedwede EU-Initiative sollte derartige Initiativen auf einzelstaatlicher Ebene respektieren.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

75

Nein-Stimmen

:

107

Enthaltungen

:

3

Ziffer 1.7

Streichen:

Der EWSA beglückwünscht Viviane Reding und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer in der Europäischen Kommission, im Europäischen Parlament und den anderen Institutionen dazu, die ersten Schritte in Richtung eines ausgewogeneren Europas gesetzt und einen Wandel der öffentlichen Meinung bezüglich der Vertretung von Frauen und Männern in den Leitungsorganen von Unternehmen angestoßen zu haben, um eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Dies ist ein bedeutender Mentalitätswandel. Der EWSA weiß, dass intensive Forschungsarbeiten, eine Prüfung der Rechtslage und eine Konsultation mit der Zivilgesellschaft durchgeführt wurden, um eine praxisorientierte Richtlinie zu erarbeiten, die sowohl den Unternehmen als auch den Mitgliedstaaten ausreichend Flexibilität bei Umsetzung und Zeitrahmen bietet und gleichzeitig die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit respektiert.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

79

Nein-Stimmen

:

107

Enthaltungen

:

5

Ziffer 2.2

Hinzufügen:

Aufgrund der unterschiedlichen Politik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten bestehen zwischen ihnen erhebliche Unterschiede in der Vertretung von Frauen in Führungspositionen. Die Rolle von Frauen in Leitungsorganen wird seit Jahrzehnten untersucht, insbesondere aber in den letzten beiden Jahren, nachdem sich die EU erneut zur Förderung der Geschlechtergleichstellung in den Leitungsorganen börsennotierter Unternehmen verpflichtet hat. Die in der Debatte unterbreiteten Vorschläge reichen von der Einführung rechtsverbindlicher Quoten bis hin zur Selbstregulierung ohne Sanktionen bei Nichteinhaltung. Wirksame freiwillige Ansätze greifen noch immer langsam. Letztes Jahr hat sich die Zahl der Frauen in Führungspositionen nur um 0,6 Prozent erhöht, und nur 24 Unternehmen haben die Verpflichtungserklärung aus dem Jahr 2011 unterzeichnet. Der EWSA weist nichtsdestoweniger darauf hin, dass nicht geschäftsführende Direktoren üblicherweise für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren bestellt werden. Es wäre daher seiner Auffassung nach besser gewesen, den europäischen Unternehmen mehr Zeit für die Unterzeichnung der Verpflichtungserklärung aus dem Jahr 2011 zu geben, um die Zahl der weiblichen Mitglieder in den Leitungsgremien der Unternehmen zu erhöhen.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

82

Nein-Stimmen

:

90

Enthaltungen

:

8

Ziffer 2.7

Ändern:

Die Zielvorgaben können nur dann erreicht werden, wenn auch Strafen vorgesehen sind, das heißt, es sind ausreichende Sanktionen im Fall der Nichteinhaltung vorzusehen. Die Richtlinie sieht in allen Fällen einen Nachweis der Nichteinhaltung vor, wobei es dem Unternehmen obliegt, nachzuweisen, dass es im Einstellungsverfahren ordnungsgemäß vorgegangen ist. Sanktionen greifen dann am besten, wenn sie auf den konkreten Fall zugeschnitten sind und vom jeweiligen Mitgliedstaat auferlegt und durchgesetzt werden, sodass die Kommission nur Empfehlungen als Leitlinien für mögliche Sanktionen ausgesprochen hat. Der EWSA fordert jedoch sicherzustellen, dass die Sanktion in Form der Nichtigkeit oder Nichtigerklärung der Ernennung oder der Wahl nicht geschäftsführender Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitglieder nicht auch die von dem jeweiligen Gremium gefassten Beschlüsse betrifft. Die betroffenen Unternehmen würden sonst erheblichen Schaden erleiden.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

71

Nein-Stimmen

:

93

Enthaltungen

:

7

Ziffer 2.10

Hinzufügen:

Das Potenzial von Frauen kann nur durch Maßnahmen auf europäischer Ebene voll ausgeschöpft werden, wobei diese flexibel genug sein müssen, um den Unterschieden in den einzelnen Mitgliedstaaten, der Vielfalt der Strukturen der Leitungsorgane sowie dem Subsidiaritätsprinzip und den Privateigentumsrechten umfassend Rechnung zu tragen. Die Bedürfnisse von Unternehmen variieren in Abhängigkeit von ihrer Produktpalette und ihren Kunden, zudem verändern sie sich mit der Zeit je nach Unternehmenstypus, Größe, Eigentümerstruktur, Tätigkeiten, Entwicklungsphase usw.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

80

Nein-Stimmen

:

100

Enthaltungen

:

8

Neue Ziffer 2.11

Aus diesem Grund hätte der EWSA eine Selbstregulierung als geeigneten Weg zur Verbesserung der Situation bevorzugt, weil sie Unternehmen die nötige Flexibilität bietet, um die Chancengleichheit auf allen Ebenen zu gewährleisten sowie einen zweckgerechten, angemessenen Mix von Frauen und Männern in Leitungsorganen unter Berücksichtigung ihrer internen Zyklen, Neubesetzungen und langfristigen Wachstumsperspektiven zu erreichen. Der EWSA betont, dass zahlreiche Mitgliedstaaten bereits eine breite Palette an Initiativen zur Förderung der Vertretung von Frauen in Leitungsorganen ergriffen haben; jedwede EU-Initiative sollte derartige Initiativen auf nationaler Ebene respektieren.

Ergebnis der Abstimmung

Ja-Stimmen

:

78

Nein-Stimmen

:

99

Enthaltungen

:

9


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten

COM(2012) 709 final — 2012/0335 (NLE)

2013/C 133/14

Hauptberichterstatter: Wolfgang GREIF

Der Rat beschloss am 11. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 148 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten

COM(2012) 709 final – 2012/0335 (NLE).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft am 11. Dezember 2012 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) Wolfgang GREIF zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 170 gegen 5 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Europa schafft es bisher nicht, die Krise zu überwinden, infolgedessen verfestigt sich die Spaltung Europas. Vor dem Hintergrund der derzeit in der EU forcierten austeritätsorientierten Krisenbewältigung bringt der EWSA erneut seine tiefe Besorgnis zum Ausdruck, dass weder die für die Beschäftigung noch die für die Armutsbekämpfung in der Europa-2020-Strategie formulierten Zielvorgaben zu erreichen sein werden.

1.2

Der Ausschuss fordert ein europäisches Konjunkturprogramm mit umfangreicher arbeitsmarktpolitischer Wirkung in Höhe von 2% des BIP. Zusätzliche nationale Investitionen müssen umgesetzt und europäische Investitionsprojekte rasch, zielgerichtet und koordiniert identifiziert werden, um die Beschäftigungslage zu verbessern.

1.3

Die umfassende Einbindung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in alle Phasen der Gestaltung und Umsetzung der Beschäftigungspolitik ist ein entscheidender Eckpfeiler für den Erfolg der Politikkoordinierung. Der Ausschuss betont, dass allen einschlägigen Akteuren, darunter auch dem Ausschuss selbst, zwischen der Veröffentlichung des nächsten Vorschlags und dem Erlass des Beschlusses ausreichend Zeit für eine eingehende Erörterung des Vorschlags gegeben werden muss. Dies gilt insbesondere für die neuen Leitlinien, die 2014 angenommen werden sollen.

1.4

Daneben bringt der Ausschuss Vorschläge zu folgenden Aspekten vor:

Generelle Ziele der europäischen Beschäftigungspolitik sollten durch Ziele für gesonderte Gruppen ergänzt werden;

die Jugendgarantie sollte so früh wie möglich greifen, d.h. vorzugsweise bei der Registrierung bei Arbeitsagenturen;

ein gesonderter Jugend-Solidaritätsfonds für Länder mit besonderen Schwierigkeiten sollte eingerichtet werden, falls die ESF-Mittel nicht ausreichen;

Qualitätsstandards für erste Berufserfahrungen und die innerbetriebliche Ausbildung sollten gefördert werden;

das duale System der Berufsausbildung sollte im Hinblick auf seine breitere Anwendung näher betrachtet werden, wobei den Sozialpartnern eine maßgebliche Rolle zukommen muss;

prekäre Beschäftigung sollte eingedämmt werden, z.B. durch eine Erweiterung des Flexicurity-Ansatzes, wobei internen Flexicurity-Lösungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte;

die Rolle der Unternehmen und insbesondere der KMU für die Schaffung von Arbeitsplätzen sollte stärker anerkannt und gewürdigt werden;

Arbeitsmarkteinrichtungen sollten in den nationalen Reformprogrammen eine größere Rolle spielen;

Länder mit angespannter Arbeitsmarktlage sollten einen leichteren Zugang zu EU-Mitteln erhalten;

es müssen ausreichend EU-Mittel zur Verfügung gestellt werden, was im mehrjährigen Finanzrahmen umfassend zu berücksichtigen ist.

2.   Einleitung

2.1

Der Rat der EU beschloss am 21. Oktober 2010, die neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien bis 2014 unverändert zu belassen, um das Hauptaugenmerk auf die Umsetzung zu legen (1). Die Europäische Kommission legte am 28. November 2012 ihren Vorschlag für einen Beschluss des Rates vor, durch den die Leitlinien auch 2013 ihre Gültigkeit behalten sollen.

2.2

Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Beschäftigungslage in den meisten EU-Mitgliedstaaten und insbesondere angesichts des dramatischen Anstiegs der Jugendarbeitslosigkeit und der gleichbleibend hohen Langzeitarbeitslosigkeit sowie mit Blick auf die Vorbereitung der im nächsten Jahr anstehenden Aktualisierung der Leitlinien nutzt der EWSA die Gelegenheit der jährlichen Befassung auf der Grundlage von Artikel 148 Artikel 2 AEUV, um seine wesentlichen Empfehlungen des vergangenen Jahres zu den Leitlinien und ihrer Umsetzung zu wiederholen (2).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Beschäftigungsziele der Europa-2020-Strategie sind wahrscheinlich nicht zu erreichen

3.1.1

Europa manövriert sich in den kommenden Jahren in eine äußerst angespannte Beschäftigungslage. Bestimmte Gruppen sind stärker als andere betroffen: Jugendliche, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderungen, Migranten und Alleinerziehende. Im fünften Jahr der Finanzkrise lassen alle Prognosen, einschließlich des Beschäftigungsberichts der Kommission, darauf schließen, dass die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in ganz Europa zumindest 2013 auch weiterhin düster aussehen werden. Europa schafft es bisher nicht, die Krise zu überwinden, infolgedessen verfestigt sich die Spaltung Europas.

3.1.2

Die Konjunkturerholung ist zum Stillstand gekommen. Die Beschäftigung nimmt ab. In Bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen ist die Lage verhalten geblieben bzw. hat sich verschlechtert, obwohl in einigen arbeitsplatzintensiven Branchen im gesamten Binnenmarkt nicht alles Potenzial ausgeschöpft ist. Die Segmentierung der Arbeitsmärkte ist weiter vorangeschritten und die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse und Teilzeitstellen hat zugenommen. Die Besteuerung des Faktors Arbeit ist unverändert hoch und wurde in einigen Mitgliedstaaten weiter angehoben. Die Arbeitslosigkeit steigt wieder und hat ein nie dagewesenes Niveau erreicht, wobei die Langzeitarbeitslosigkeit und nicht nur die Jugendarbeitslosigkeit alarmierend hoch sind, besonders in Mitgliedstaaten, in denen eine straffe Haushaltskonsolidierung durchgeführt wird. Das Durchschnittseinkommen der Haushalte ist in vielen Mitgliedstaaten rückläufig und aktuelle Daten belegen, dass Armut und soziale Ausgrenzung auf dem Vormarsch sind und ausgeprägtere Formen annehmen, wobei die Erwerbstätigenarmut und die soziale Polarisierung in vielen Mitgliedstaaten zunehmen (3).

3.1.3

In diesem Zusammenhang wiederholt der EWSA seine tiefe Besorgnis, dass vor dem Hintergrund der derzeit in der EU forcierten politischen Prämissen zur austeritätsorientierten Krisenbewältigung die im Rahmen des Schwerpunkts „Integratives Wachstum“ der Europa-2020-Strategie formulierten Zielvorgaben weder für die Beschäftigung noch für die Armutsbekämpfung zu erreichen sein werden.

3.2   Ein europäisches Konjunkturprogramm für einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung

3.2.1

Sparmaßnahmen, durch die die Endnachfrage in einem Mitgliedstaat zurückgeht, lösen Kettenreaktionen in anderen Staaten aus, die zu einer Abwärtsspirale führen. Durch die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in mehreren Staaten werden die Wachstumsaussichten weiter eingetrübt, und es ist möglich, dass auf diese Weise ein Teufelskreis der Unsicherheit entsteht, u.a. bei Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Innovation, Beschäftigung und Verbrauch.

3.2.2

Dennoch kann die Beschäftigungspolitik Fehlsteuerungen makroökonomischer Politik nicht ausgleichen. Der EWSA hält die beschäftigungspolitische Flankierung des Ausbaus europäischer Infrastruktur und qualitativen Wachstums deshalb für zentral. Hier bedarf es rasch zielgerichteter europäischer und nationaler Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung, die koordiniert umgesetzt werden sollten, um beschäftigungspolitische Effekte zu erhöhen. Dafür müssen unter Hochdruck sowohl private als auch öffentliche Investitionen mobilisiert und die erforderlichen Reformen durchgeführt werden.

3.2.3

Der Ausschuss teilt die Analyse der Kommission, dass die Aussichten für das Beschäftigungswachstum entscheidend davon abhängen, ob es der EU gelingt, mithilfe einer Politik in den Bereichen Makroökonomie, Industrie und Innovation für Wirtschaftswachstum zu sorgen und dies durch eine Beschäftigungspolitik zu ergänzen, die darauf ausgerichtet ist, für einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung zu sorgen. Der EWSA ist in Sorge, dass viele der positiven Vorschläge des im April 2012 angenommenen Beschäftigungspakets im Falle einer ungebrochenen Fortsetzung der Sparpolitik in der EU nicht durchführbar sind.

3.2.4

Der EWSA befürchtet zudem, dass mit den vorgeschlagenen Maßnahmen allein die in der EU-Beschäftigungsstrategie formulierten Zielvorgaben nicht zu erreichen sein werden. Aus diesem Grund hat der Ausschuss wiederholt ein europäisches Konjunkturprogramm mit umfangreicher arbeitsmarktpolitischer Wirkung in Höhe von 2% des BIP gefordert. Mit dem auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates im Juni 2012 vereinbarten „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ wurden hier erste Schritte getan, dies muss jetzt mit Inhalten gefüllt werden, um europaweit den dringend notwendigen Spielraum für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Ferner mahnte der Ausschuss einen sozialen Investitionspakt an, um nachhaltig die Krise zu überwinden und in die Zukunft zu investieren; er wird das von der Europäischen Kommission für Februar zur Annahme angekündigte Sozialinvestitionspaket aufmerksam prüfen.

3.3   Einbindung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner

3.3.1

Der EWSA hat den mehrjährigen Turnus für die Politikkoordinierung im Rahmen der Europa-2020-Strategie mehrfach begrüßt, dabei aber auch konsequent darauf hingewiesen, dass die umfassende Einbindung der nationalen Parlamente, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft auf europäischer und nationaler Ebene in alle Phasen der Gestaltung und Umsetzung der Beschäftigungspolitik ein entscheidender Eckpfeiler für den Erfolg der Politikkoordinierung ist.

3.3.2

Da die Leitlinien für die Mitgliedstaaten eine Richtschnur für die Konzeption, Durchführung und Überwachung ihrer nationalen Maßnahmen im Rahmen der Gesamtstrategie der EU bilden, betont der Ausschuss, dass allen einschlägigen Akteuren, darunter auch dem Ausschuss selbst, zwischen der Veröffentlichung des nächsten Vorschlags und dem Erlass des Beschlusses ausreichend Zeit für eine eingehende Erörterung des Vorschlags gegeben werden muss. Dies ist umso wichtiger, als die europäische Beschäftigungspolitik einen größeren Beitrag leisten muss, um die Mitgliedstaaten in der Krise zu unterstützen.

3.3.3

Gemäß dem Zeitplan für das Europäische Semester sollten die europäischen Sozialpartner frühzeitig im Rahmen der Vorbereitung des Jahreswachstumsberichts bei der Festlegung der „strategischen Kernprioritäten für die Beschäftigungspolitik“ wie auch bei der Formulierung, Umsetzung und Evaluierung der beschäftigungspolitischen Leitlinien konsultiert werden. Dies gilt insbesondere für die neuen Leitlinien, die 2014 angenommen werden sollen.

4.   Besondere Bemerkungen und konkrete Vorschläge

4.1

Generelle Ziele der europäischen Beschäftigungspolitik sollten durch Ziele für gesonderte Gruppen ergänzt werden: In Ergänzung zur Zielvorgabe einer generell EU-weit zu erreichenden Beschäftigungsquote sollten künftig messbare EU-Vorgaben auch zu gesonderten Zielgruppen wie Langzeitarbeitslosen, Frauen, älteren Arbeitnehmern, Menschen mit Behinderungen und insbesondere auch Jugendlichen festgeschrieben werden. Die weitgehende Verlagerung der Formulierung konkreter Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik auf die Ebene der Mitgliedstaaten hat sich bislang wenig bewährt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein Indikator zur substanziellen Verringerung der Anzahl jener Jugendlichen erforderlich, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung stehen (sog. NEET).

4.2

Die Jugendgarantie sollte möglichst früh greifen: Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Kommission für eine Jugendgarantie, mit der sichergestellt werden soll, dass allen jungen Menschen unter 25 Jahren in kurzer Zeit, nachdem sie arbeitslos werden oder die Schule verlassen, eine hochwertige Arbeitsstelle oder Weiterbildungsmaßnahme oder ein hochwertiger Ausbildungs- bzw. Praktikumsplatz angeboten wird (4). Der EWSA hält eine Intervention nach vier Monaten jedoch für zu spät. Am besten sollte die Jugendgarantie so früh wie möglich, d.h. direkt bei Registrierung bei Arbeitsagenturen, greifen, da ein nicht gelungener Übergang der Volkswirtschaft schadet und Narben für das ganze Leben hinterlässt. Im Rahmen der nationalen Reformpläne sind diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu formulieren.

4.3

Ein gesonderter Jugend-Solidaritätsfonds für Länder mit besonderen Schwierigkeiten sollte eingerichtet werden, falls die ESF-Mittel nicht ausreichen: Der EWSA merkt an, dass bei der Planung der finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2014-2020 besonders darauf geachtet werden muss, dass im Rahmen des Europäischen Sozialfonds Mittel für junge Menschen bereitgestellt werden. Der EWSA plädiert angesichts des Ernstes der Lage für die Schaffung eines Jugend-Solidaritätsfonds als solidarische Lösung ähnlich dem Globalisierungsfonds. Länder in besonderen Schwierigkeiten könnten bei der Umsetzung der Jugendgarantie vorübergehend unterstützt werden. Wenn dies nicht allein aus ESF-Mitteln zu bewältigen ist, müssen zusätzliche europäische Mittel (Jugend-Solidaritätsfonds) aufgewandt werden, um dies zu finanzieren. Für die Banken konnten Milliardensummen aufgebracht werden, daher müssten auch diese Mittel mobilisierbar sein.

4.4

Qualitätsstandards, erste Berufserfahrungen und die innerbetriebliche Ausbildung fördern: Der EWSA unterstützt die Entwicklung der auf dem Arbeitsmarkt nötigen Kompetenzen unter aktiver Mitwirkung der Arbeitswelt und von Bildungseinrichtungen. Der EWSA hält die Unterstützung erster Berufserfahrungen und innerbetrieblicher Ausbildung für sinnvoll und teilt daher die Meinung, dass Praktika sowie Freiwilligenprogramme für junge Menschen wichtig sind, um Fähigkeiten zu erwerben und Berufserfahrung zu sammeln. Der EWSA betont, dass Qualitätsstandards für Praktika unverzichtbar sind. Diesbezüglich begrüßt er das Ziel der Kommission, einen Qualitätsrahmen für die Bereitstellung und Inanspruchnahme hochwertiger Praktika vorlegen zu wollen.

4.5

Das duale System der Berufsausbildung sollte im Hinblick auf seine breitere Anwendung näher betrachtet werden: Wichtig ist, die Kluft zwischen Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt, der Bildung und den Erwartungen der Jugendlichen zu schließen. Ein Weg, dies zu erreichen, ist die Bereitstellung von Anreizen und die Förderung der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen hoher Qualität. Der Ausschuss begrüßt die einschlägigen Leitlinien der Kommission. Das duale System der Lehre mit seinem Mix aus betrieblichen und schulischen Komponenten in der Berufsbildung sollte auf seine Übertragbarkeit hin untersucht werden. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Ländern mit einer Berufsausbildung im dualen System erheblich niedriger als in Ländern ohne Lehrlingsausbildungssysteme. In einigen Krisenländern besteht zudem Interesse an der Einführung dualer Ausbildungssysteme. Der EWSA spricht sich für eine bessere Sammlung von Erfahrungen sowie dafür aus, dass die Ausbildungsprogramme durch den ESF gefördert werden. Dieser Austausch und Anschubfinanzierungen müssen gefördert und ein Qualitätsrahmen für die duale Ausbildung muss entwickelt werden. Der Ausschuss unterstreicht die Bedeutung der Einbindung der Sozialpartner in die berufliche Bildung. Er hält daher die enge Einbindung der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten in die Gestaltung, Umsetzung und Überwachung der Entwicklung dieser Systeme für unerlässlich.

4.6

Prekäre Beschäftigung eindämmen: Der Ausschuss hat sich bereits wiederholt zum Flexicurity-Ansatz geäußert. Er begrüßt, dass die Erfahrungen im Umgang mit der Krise dazu geführt haben, den Flexicurity-Ansatz zu erweitern. Der Verbesserung der internen Flexibilität wurde bisher im Rahmen der Flexicurity-Debatten nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet. Befristete Beschäftigung und Zeitarbeit können kurzfristig Übergänge ermöglichen und stellenweise notwendig sein, um besonders benachteiligten Gruppen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Die damit verbundene Beschäftigungsunsicherheit darf aber nur vorübergehend sein und muss sozial abgesichert werden. Mit Blick auf die Jugendbeschäftigung rät der EWSA von unbeständigen und perspektivlosen Lösungen bei der Integration in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung zu setzen, sind Maßnahmen durchzuführen, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und schlechter sozialer Absicherung nicht zur Norm für Jugendliche werden.

4.7

Stärkere Anerkennung der Rolle der Unternehmen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen: Die Unternehmen in Europa sind zentrale Akteure, um die Arbeitsmarktkrise zu überwinden. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren positive Einstellungsbilanzen zu verzeichnen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, den Zugang der KMU zu Kapital zu verbessern und die Unternehmensgründungskosten zu senken. Der Europäischen Kommission zufolge hätte dies erhebliche Auswirkungen auf die EU-Wirtschaft: zu rechnen wäre mit einem Anstieg des BIP um rund 1,5 % bzw. circa 150 Mrd. EUR, ohne dass das Schutzniveau für die Arbeitnehmer gesenkt würde. Auch die Sozialunternehmen und die Organisationen der Zivilgesellschaft können einen Beitrag zu mehr Beschäftigung leisten, wie der EWSA mehrfach betont hat. Ferner wurde unlängst in einer Initiativstellungnahme der CCMI darauf hingewiesen, dass Genossenschaften, insbesondere Arbeitnehmergenossenschaften, auch in Krisenzeiten mehr Arbeitsplätze sichern, indem sie die Gewinne zu deren Schutz reduzieren (5).

4.8

Stärkung der Rolle der Arbeitsmarkteinrichtungen in den nationalen Reformprogrammen: In vielen Ländern wird es notwendig sein, die von den öffentlichen Arbeitsverwaltungen gewährte spezifische Unterstützung auszubauen, wobei benachteiligten Gruppen vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Die Zugangsbedingungen zu Unterstützungsleistungen für beschäftigungslose Jugendlichen und Langzeitarbeitslose, die einen Arbeitsplatz bzw. eine Ausbildung suchen, sind zu überprüfen und ggf. zu verbessern. Die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in die nationalen Reformprogramme wird angeraten.

4.9

Erleichterter Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds für Länder mit angespannter Arbeitsmarktlage: Trotz angespannter Haushaltslagen in den Mitgliedstaaten ist die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen neben Mitteln für die Bildung und Beschäftigung junger Menschen und Langzeitarbeitsloser beizubehalten und wo notwendig aufzustocken. Länder mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage, die zugleich restriktive Budgetvorgaben zu erfüllen haben, sollten erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds erhalten. Gebraucht werden pragmatische und flexible Vorgehensweisen und Vereinfachungen bei der Verwaltung der Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Kofinanzierungen beim Mittelbezug durch den ESF sowie anderer europäischer Fonds.

4.10

Zusätzliche EU-Mittel: Die Schwere der Wirtschaftskrise zeigt, dass die Mittel, die die Kommission derzeit für die Strukturfonds im Programmplanungszeitraum 2014-2020 vorschlägt, eventuell nicht ausreichen, um die gewünschte Wirkung auf das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zu erzielen und den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in der EU voranzubringen. Dies sollte im mehrjährigen Finanzrahmen umfassend berücksichtigt werden.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Beschluss 2010/707/EU des Rates.

(2)  Siehe insbesondere die Stellungnahme des EWSA vom 27. Mai 2010 zu den „Beschäftigungsleitlinien“, (ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 66), die EWSA-Stellungnahme vom 22. Februar 2012 zu den „Beschäftigungsleitlinien“, (ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94), die EWSA-Stellungnahme vom 22. Februar 2012 zu den „Sozialen Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung“, (ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 23), die EWSA-Stellungnahme vom 25. April 2012 zu den „Strukturfonds – Allgemeine Bestimmungen“, (ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 30), die EWSA-Stellungnahme vom 12. Juli 2012 zu der Initiative „Chancen für junge Menschen“, (ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 97) und die EWSA-Stellungnahme vom 15. November 2012 zum Thema „Arbeitsplatzintensiver Aufschwung“, (ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 8-15).

(3)  COM(2012) 750 final: Jahreswachstumsbericht 2013, Anhang: Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts.

(4)  Stellungnahme des EWSA vom 21. März 2013 zum „Jugendbeschäftigungspaket“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(5)  Stellungnahme des EWSA vom 25. April 2012 zum Thema „Genossenschaften und Umstrukturierung“, (ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 24).


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Jahreswachstumsbericht 2013

COM(2012) 750 final

2013/C 133/15

Hauptberichterstatter: Xavier VERBOVEN

Die Kommission beschloss am 19. Dezember 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission – Jahreswachstumsbericht 2013

COM(2012) 750 final.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte den Lenkungsausschuss Europa 2020 am 13. November 2012 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner 487. Plenartagung am 13./14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) Xavier VERBOVEN zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 180 gegen 4 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass die Veröffentlichung des Jahreswachstumsberichts 2013 vor dem Hintergrund trüber Wirtschafts- und Beschäftigungsaussichten und neuer Maßnahmen und Vorhaben wie dem Pakt für Wachstum und Beschäftigung sowie der großen Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU zu sehen ist. Der EWSA dringt darauf, den Pakt für Wachstum und Beschäftigung und die Maßnahmen zur Kappung der Verbindung zwischen Banken und Staatsschulden einschließlich einer Bankenunion und des neuen Programms der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen („Outright Monetary Transactions“ – unbegrenzter Anleihekauf) rasch und ausgewogen umzusetzen, da diese entscheidend zur Ankurbelung der Wirtschaft und Wiederherstellung des Vertrauens beitragen werden.

1.2

Im Hinblick auf die bestehenden Zweifel an der Fähigkeit der EU, die Ziele der Europa-2020-Strategie rechtzeitig zu erreichen, bedauert der EWSA, dass es im Jahreswachstumsbericht versäumt wurde, die Ursachen für die mangelnden Fortschritte bei der Umsetzung dieser Ziele zu analysieren.

1.3

Angesichts der schlechten Wirtschaftslage, der negativen Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt, die hohe und weiter steigende Arbeitslosigkeit und den Anstieg der Armut warnt der EWSA vor der Fortführung der derzeitigen Sparpolitik und den ernsten Folgen einer tiefen und langen Rezession, die die Wirtschaft strukturell schwächen und den Übergang hin zu einem umweltverträglichen Wirtschaftsmodell gefährden kann. Diese Sorge über den Zustand Europas und die Auswirkungen der Sparpolitik auf das Wirtschaftswachstum werden international von vielen anderen politischen Akteuren geteilt.

1.4

In Bezug auf den Vorschlag für eine „wachstumsfreundliche“ Konsolidierung hat der EWSA bereits in der Vergangenheit (1) gefordert, die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen über einen möglichst flexiblen Zeitraum vorzunehmen, um die Wachstumsdynamiken nicht zu brechen, sowie ein „intelligentes“ Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben, Angebot und Nachfrage zu gewährleisten. Zudem wiederholt der EWSA seine Warnung vor der Gefahr einer Unterminierung der öffentlichen Dienstleistungen und Solidarsysteme, die vermieden werden muss, um die soziale Absicherung gegen die großen gesellschaftlichen Bedrohungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Älterwerden) nicht zu schwächen und eine Zunahme vorsorglichen Sparens zu vermeiden.

1.5

In Bezug auf das Konzept einer „differenzierten“ Konsolidierung sowie den Vorschlag, wonach Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten sogar eine „rasche Haushaltsanpassung“ vornehmen sollten, wohingegen andere Mitgliedstaaten ihre automatischen Stabilisatoren spielen lassen können, zeigt sich der EWSA skeptisch, ob ein derartiger Policy-Mix tatsächlich zum Erfolg führt. Auf den Euroraum insgesamt und insbesondere auf jene Mitgliedstaaten, die sich bereits in einer tiefen, von den Sparmaßnahmen induzierten Krise befinden, kann sich dies ausgesprochen negativ auswirken. Gleichzeitig ist klar, dass manche Mitgliedstaaten bei der Überwindung der Krise deutlich mehr Anstrengungen zur Wiederherstellung von Stabilität und Wachstum unternehmen müssen als andere.

1.6

Der EWSA ist besorgt wegen der unausgewogenen wirtschaftlichen Maßnahmen und der großen Bedeutung, die der Sparpolitik eingeräumt wurde. Der EWSA ist der Auffassung, dass es zur Korrektur der ausgeprägten fiskalischen Ungleichgewichte mittels Haushaltskonsolidierung eines langfristigeren Zeitrahmens bedarf, und fordert, diesen Zeitrahmen für die Haushaltskonsolidierung durch einen substanziell gestärkten und konkreten Pakt für Wachstum und Beschäftigung auszubalancieren.

1.7

Im Jahreswachstumsbericht 2013 scheint die Haushaltskonsolidierung damit begründet zu werden, dass das Vertrauen und insbesondere das Vertrauen der Finanzmärkte gestärkt werden müsse. Der EWSA erkennt zwar die Bedeutung des Zugangs zu Krediten und der Wiederbelebung des Finanzsektors an, weist jedoch auch darauf hin, dass das Vertrauen der Haushalte und Unternehmen ebenso wichtig ist und es kein Vertrauensklima geben kann, wenn Unternehmen sich um die Nachfrage sorgen und die Bevölkerung Angst um ihre Jobs, ihr Einkommen oder ihre soziale Absicherung hat. Das Vertrauen der Finanzmärkte und jenes der Verbraucher und Produzenten muss Hand in Hand gehen.

1.8

Der EWSA fordert entschlossenes Handeln zur Stärkung von Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und ermutigt den derzeitigen Ratsvorsitz, eine zielgerichtete Wachstumsagenda zu verfolgen. Es bedarf ehrgeiziger Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung sowie einer Investitionspolitik, die sowohl auf eine kurzfristige Ankurbelung als auch einen strukturellen Wandel der europäischen Wirtschaft ausgerichtet ist, um die zentralen Herausforderungen – Nachhaltigkeit, mehr und bessere Arbeitsplätze, Stärkung des sozialen Zusammenhalts und innovationsbasierte Wettbewerbsfähigkeit – zu bewältigen.

1.9

Von essenzieller Bedeutung ist hier, die Maßnahmen zur Straffung der Haushaltsregeln mit Maßnahmen zur Konjunkturbelebung zu kombinieren  (2).

Der neue politische Ansatz für die Zukunft Europas muss auf mehreren Grundsätzen beruhen. Statt sich gegenseitig Konkurrenz zu machen, sollten die Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene einen weitgehend integrierten supranationalen und mehrjährigen Ansatz verfolgen. Die Marktkräfte und insbesondere die Finanzmärkte müssen mittels auf der Basis demokratischer Beschlussfassungsprozesse festgelegter politischer Prioritäten kontrolliert und gesteuert werden. Die Finanzen müssen einerseits stabil sein, andererseits aber auch fair und ausgewogen verteilt. Stärkere Regionen müssen schwächere unterstützen und ihnen bei ihrem Aufholprozess hin zu einer produktiveren, innovativen und starken Wirtschaft helfen. Im Gegenzug müssen die Mitgliedstaaten, die Gelegenheit zur Anhebung des Steueraufkommens haben, diese nutzen, um die Staatsschulden abzubauen.

1.10

Der EWSA begrüßt den Pakt für Wachstum und Beschäftigung und fordert die Kommission und den Europäischen Rat auf, ihn zügig umzusetzen und in einem weiteren Schritt zu einem umfassenden europäischen Investitionsprogramm auszuweiten. Aus diesem Grund fordert der EWSA erneut eine den Zielen und den anstehenden Herausforderungen angemessene Stärkung des EU-Haushalts, eine rasche Einigung über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen sowie eine wichtige Rolle für die EIB, die an beschäftigungsintensiven Projekten arbeitet (z.B. Projekte in den Bereichen KMU, Schlüsselinfrastruktur, Energie und Klima).

1.11

Darüber hinaus bekräftigt der EWSA die Bedeutung der Kohäsionspolitik für die Erzielung einer EU-weiten Konvergenz.

1.12

Im Zusammenhang mit der Konjunkturbelebung weist der EWSA zudem auf das Potenzial des Binnenmarkts und die Notwendigkeit von Innovation zur Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft hin. Er hebt die wichtige Rolle von Unternehmen, insbesondere KMU, und die Bedeutung von Unternehmergeist und Unternehmensgründung sowie von sozialen Unternehmen und Kooperativen für den Wirtschaftsaufschwung hervor.

1.13

Angesichts der Verflechtung der finanziellen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekte der Krise vertritt der EWSA die Auffassung, dass der Ökologisierung der Wirtschaft und des Europäischen Semesters größeres Augenmerk beigemessen werden sollte, und fordert eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in diese Bereiche.

1.14

In Bezug auf Beschäftigung und die Verbesserung von Qualifikationen bekräftigt der EWSA die Notwendigkeit von Investitionen in schulische und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen (einschließlich innerbetrieblicher Ausbildungsmaßnahmen und des dualen Systems zur Lehrlingsausbildung), wobei die Problematik der Qualifikationsengpässe und der Nichtübereinstimmung von Angebot und Nachfrage angegangen werden muss.

Der EWSA bekräftigt seine Forderung, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, die Dienste der öffentlichen Beschäftigungsagenturen zu verbessern, verstärkt aktive Arbeitsmarktmaßnahmen zu ergreifen und Unternehmertum und selbstständige Tätigkeit zu fördern. Es muss alles daran gesetzt werden, um Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung zu fördern.

Der EWSA weist in diesem Zusammenhang auf seine jüngsten Stellungnahmen zu diesen Themen sowie darauf hin, dass er derzeit spezifische Stellungnahmen zum Jugendbeschäftigungspaket (3) sowie zu den Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (4) erarbeitet.

Der EWSA stellt fest, dass im Jahreswachstumsbericht 2013 Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt propagiert wird, wobei die Dimension der Sicherheit kaum oder gar nicht berücksichtigt wird. Er weist diesbezüglich auf seine bereits verabschiedeten Stellungnahmen hin, in denen er die Auffassung vertrat, dass es eine Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit zu gewährleisten gilt und es in Bezug auf die Flexicurity „eines starken und lebendigen sozialen Dialogs [bedarf], an dem die Sozialpartner aktiv beteiligt sind und in dessen Rahmen sie über die Konzipierung und Gestaltung der Flexicurity verhandeln, sie beeinflussen und verantworten sowie die Umsetzung bewerten können“ (5).

In Bezug auf das Lohnniveau zeigt sich der EWSA besorgt darüber, dass die Strukturreformen zu einem Senkungswettlauf zwischen den Mitgliedstaaten führen könnten. Er weist erneut darauf hin, dass Reformen der Tarifverhandlungssysteme nur in Gesprächen der Sozialpartner auf nationaler Ebene beschlossen werden können, und fordert die Kommission auf, ihren Standpunkt zu Löhnen, Inflation und Produktivität klar darzulegen.

1.15

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Frage der Fairness und der sozialen Gerechtigkeit größeres Augenmerk beigemessen werden sollte. Kosten und Nutzen der Reformen sind gerecht auf alle (Arbeitnehmer, Haushalte und Unternehmen) zu verteilen.

1.16

Der EWSA fordert zusätzliche Anstrengungen zur Sicherstellung einer wirksamen Abfederung der Krisenfolgen durch die Sozialschutzsysteme und zur Stärkung der sozialen Eingliederung sowie die Umsetzung einer „aktiven Eingliederungsstrategie“ zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarkts und zur Bekämpfung der Armut.

1.17

Schließlich bekräftigt der EWSA die Notwendigkeit, die demokratische Rechenschaftspflicht und Legitimation der einzelnen Prozesse des Europäischen Semesters und die Abstimmung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik zu stärken. Dem sozialen und dem zivilen Dialog kommt im Hinblick auf die ordnungsgemäße Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen und Reformen zentrale Bedeutung zu. Deshalb bedarf es einer engen Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Sozialpartnern. Der EWSA fordert eine Aufwertung der Rolle der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft auf der europäischen und insbesondere der einzelstaatlichen Ebene. Eine stärkere Einbindung der Sozialpartner sollte eine erfolgreichere Umsetzung gewährleisten.

2.   Einleitung

2.1

In ihrer Mitteilung zum Jahreswachstumsbericht 2013, mit der das Europäische Semester eröffnet wird, skizziert die Kommission ihre Vorstellungen vom Gesamthaushalt und von den wirtschaftlichen und sozialen Prioritäten für das Jahr 2013. Ziel des Europäischen Semesters ist eine verbesserte Abstimmung der wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen in Europa, wodurch die zentralen Ziele der Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum wirksam umgesetzt werden sollen.

2.2

Der Jahreswachstumsbericht soll in die volkswirtschaftlichen und budgetären Entscheidungen einfließen, die die Mitgliedstaaten in ihren Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen und nationalen Reformprogrammen festlegen.

2.3

Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die fünf 2012 festgelegten Prioritäten – Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung, Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft, Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für heute und morgen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folgen der Krise sowie Modernisierung der Verwaltungen –angesichts der Notwendigkeit, die Wirtschaft weiter anzukurbeln und das Vertrauen wiederherzustellen, im Jahr 2013 weiter aktuell bleiben.

2.4

Der vorliegende Stellungnahmeentwurf enthält neben einer Analyse des Jahreswachstumsberichts auch Kommentare und Vorschläge.

Teil 3 umfasst eine Reihe allgemeiner Anmerkungen zum Kontext, in dem der Jahreswachstumsbericht 2013 vorgelegt wird.

In Teil 4 werden spezifische Anmerkungen und Vorschläge unterbreitet: Im Hinblick darauf, dass Europa nicht auf dem richtigen Weg zu sein scheint, um die Ziele der Europa-2020-Strategie zu erreichen, wird in dem Stellungnahmeentwurf die Frage der Entscheidung für die Sparpolitik und ihrer Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Beschäftigung und den sozialen Zusammenhalt aufgeworfen. Zudem wird in dem Stellungnahmeentwurf darauf hingewiesen, dass es nun gilt, der Realwirtschaft sowie wachstums- und beschäftigungsfördernden politischen Maßnahmen Priorität einzuräumen. Die Politikverantwortlichen Europas werden insbesondere im Hinblick auf die Tagung des Europäischen Rates im März 2013 aufgefordert, einen Richtungswechsel vorzunehmen und ihre Maßnahmen verstärkt an einem Ansatz auszurichten, bei dem die EU Investitionsimpulse setzt und die Konjunkturbelebung, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Herausforderung der nachhaltigen Entwicklung im Zentrum stehen. Abschließend wird in dem Stellungnahmeentwurf die Bedeutung der Einbindung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in die Politikgestaltung auf europäischer wie auf einzelstaatlicher Ebene hervorgehoben.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der diesjährige Jahreswachstumsbericht wurde in einem schwierigen Kontext vor dem Hintergrund düsterer Vorhersagen in Bezug auf Beschäftigung und Wachstum veröffentlicht. Der EWSA teilt die im Bericht zum Ausdruck gebrachten Bedenken, dass die anhaltende Krise nicht dazu beigetragen hat, die Bemühungen der Mitgliedstaaten um Erreichung ihrer Ziele in den Bereichen Beschäftigung, FuE, Klima und Energie sowie Bildung und Armutsbekämpfung voranzutreiben, und dass wachsende Skepsis darüber besteht, ob die EU diese Ziele überhaupt erreichen kann.

Der EWSA stellt zudem fest, dass der Jahreswachstumsbericht 2013 vor dem Hintergrund beispielloser Entwicklungen verfasst wurde. Einerseits wurde auf der Juni-Tagung des Europäischen Rates der Pakt für Wachstum und Beschäftigung (6) angenommen. Andererseits wurden an den europäischen Steuerungsstrukturen grundlegende Veränderungen vorgenommen (insbesondere eine verstärkte gegenseitige fiskalpolitische Überwachung), die daraus herrühren, dass es die bestehende Struktur nicht ermöglichte, die Wirtschaftskrise zu bewältigen und eine Kettenreaktion zu verhindern; dies hat die Existenz des Euro und der Europäischen Union akut bedroht und die Rezession verlängert, wodurch hohe Arbeitslosigkeit entstand. Der EWSA drängt darauf, diese Maßnahmen rasch und ausgewogen umzusetzen, da sie entscheidend zur Ankurbelung der Wirtschaft und Wiederherstellung des Vertrauens der Investoren, Unternehmen und Verbraucher beitragen werden.

3.2

Der EWSA nimmt die jüngste Veröffentlichung zweier wichtiger Dokumente zur Kenntnis: „Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion“ (7) und „Ein Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion“ (8), zu denen der EWSA derzeit eine Stellungnahme erarbeitet.

Der EWSA begrüßte das Bekenntnis zur unbedingten Notwendigkeit, die Verbindung zwischen Banken und Staaten zu kappen, und befürwortete die ersten Schritte hin zu einer Bankenunion (9). Es wurde zugesagt, „alles Nötige“ zu tun, um finanzielle Stabilität sicherzustellen, und die EZB verpflichtete sich zu umfangreichen Maßnahmen, um die krisengeschüttelten Märkte für staatliche Schuldtitel zu beruhigen.

Eine Bankenunion würde zu einem gleichberechtigten Zugang zu Krediten für Haushalte und Unternehmen in allen Teilen der EU beitragen und es dem Binnenmarkt ermöglichen, seine Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, um die Europa-2020-Ziele zu erreichen.

4.   Besondere Bemerkungen und Vorschläge

4.1   Europa ist nicht auf dem richtigen Weg, um die Europa-2020-Ziele zu erreichen, und die Politikverantwortlichen müssen dies unbedingt erkennen.

4.1.1

Der EWSA stellt mit Bedauern fest, dass die Europa-2020-Strategie im Jahreswachstumsbericht der Kommission – mit Ausnahme einer kurzen Bezugnahme auf einen Eurostat-Bericht (10) in der Fußnote – weitgehend übergangen wird. In der Mitteilung heißt es lediglich: „Insgesamt bleibt Europa hinter den Vorgaben zurück“. Im Wachstumsbericht wird jedoch keine angemessene Analyse der genauen Ursachen dieses Zurückbleibens hinter den Europa-2020-Zielen angestellt, und es wird nicht einmal die Frage aufgeworfen, ob die aktuellen politischen Entscheidungen dafür verantwortlich sind, dass sich die EU weiter von der Europa-2020-Strategie wegbewegt. Der EWSA fordert eine radikale Reform des Europa-2020-Prozesses und die Neuzuweisung der Strukturfondsmittel zur Erreichung dieser Zielvorgaben, um auf diese Weise wettbewerbs- und sparpolitische Maßnahmen einerseits sowie wachstums-, beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahmen andererseits wieder miteinander ins Gleichgewicht zu bringen.

4.1.2

Der EWSA bringt seine Besorgnis über den kontinuierlichen Rückgang der Beschäftigungsrate der Altersgruppen der 20- bis 64-Jährigen zum Ausdruck. Diese Rate ging von 70,3 % im Jahr 2008 auf 68,6 % im Jahr 2011 zurück, während laut Europa-2020-Ziel 75 % der Bevölkerung von 20 bis 64 Jahren in Arbeit stehen sollte. In absoluten Zahlen hat Europa in diesem Zeitraum 5 Mio. Arbeitsplätze verloren (11). Die Auswirkungen hiervon schlagen sich in steigenden Arbeitslosenzahlen nieder, die derzeit 10,7 % in der EU-27 und sogar 11,8 % im Euroraum erreichen (12).

Krisenbedingt ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und sind – in Kombination mit den durch die Sparmaßnahmen bedingten Kürzungen bei den öffentlichen Sozialausgaben – zwischen 2009 und 2011 zu den 113,8 Mio. armutsgefährdeten und von sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in der EU (24,2 % der Bevölkerung) weitere 5,9 Mio. hinzugekommen (13).

Es ist schwer vorstellbar, wie die Europa-2020-Ziele in Bezug auf die Beschäftigung und darauf, 20 Millionen Menschen aus der Armut herauszuholen, erreicht werden können, wenn sich diese Tendenzen fortsetzen.

4.1.3

Im krassen Gegensatz zu den anderen großen Volkswirtschaften der Welt ist die europäische Wirtschaft 2012 wieder in die Rezession zurückgefallen, und die wirtschaftlichen Prognosen sagen ein äußerst schwaches Wachstum für 2013 und einen ungewissen, aber ebenso schwachen Aufschwung für 2014 voraus. Dies bedeutet, dass sich – sofern die Ausrichtung der Fiskalpolitik unverändert bleibt und keine zusätzlichen Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung ergriffen werden – die Beschäftigungs- und Soziallage noch weiter verschlechtern wird.

4.1.4

Der EWSA stellt fest, dass ähnliche Bedenken hinsichtlich der Lage Europas international von vielen anderen politischen Akteuren geäußert werden. Die ILO hat davor gewarnt, dass der Euroraum ohne eine konzertierte Abwendung von der Sparpolitik weitere 4,5 Mio. Arbeitsplätze verlieren könnte (14). Die Vereinten Nationen warnen in ihren globalen Aussichten in Bezug auf die weltweite wirtschaftliche Lage und Perspektiven (15), dass die Rezession 2012 weiter andauern und sich bis weit ins Jahr 2015 (16) verstärken würde, sollten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien 2013 noch tiefere Haushaltseinschnitte vornehmen. Zusammen mit der US-amerikanischen „Fiskalklippe“ und der harten Landung Chinas wird die europäische Strategie der Haushaltskonsolidierung als eine Gefahr für die weltweite Wirtschaftstätigkeit angesehen. Auch der IWF äußert in seinem Weltwirtschaftsausblick (17) tiefe Zweifel: Er räumte ein, dass die Auswirkungen der Sparpolitik auf das Wirtschaftswachstum gravierend unterschätzt wurden, und hat den Umfang der verwendeten Fiskalmultiplikatoren in Frage gestellt.

4.1.5

Der EWSA warnt die Politikverantwortlichen in Europa eindringlich davor, dass eine verlängerte Rezession die Wirtschaft strukturell schwächen und den Übergang zu einem anderen Umwelt- und Energiemodell untergraben kann.

Langzeitarbeitslosigkeit kann zu einem Verlust von Kompetenzen, zu Verzweiflung und zu Diskriminierung bei der Einstellung und beim Verlassen des Arbeitsmarkts führen und dadurch andauernde negative Strukturauswirkungen auf die Produktivität und das Wachstumspotenzial haben.

Das Fehlen an öffentlichen und privaten Investitionen (aufgrund der schlechten Nachfrageaussichten der Unternehmen) kann das Wachstumspotenzial der Wirtschaft beeinträchtigen, da das Aufnahmevermögen für technischen Fortschritt und Innovation unzureichend ist. Um dem entgegenzuwirken, ist es daher dringend erforderlich, die makroökonomische Politikgestaltung zu überdenken und Reformmaßnahmen wie aktive Arbeitsmarktmaßahmen, Investitionsanreize und Maßnahmen für soziale Integration zu propagieren.

Differenzierte, wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung

4.1.6

Während im Jahreswachstumsbericht 2013 anerkannt wird, dass die Haushaltskonsolidierung kurzfristig gegenteilige Auswirkungen auf die Wirtschaft haben kann, werden darin unmittelbar zwei weitere Argumente angeführt, die solche Auswirkungen minimieren. Der EWSA möchte auf beide Argumente eingehen.

1)

Im Jahreswachstumsbericht 2013 wird auf das Konzept der „wachstumsfreundlichen Konsolidierung“ Bezug genommen, worunter zu verstehen ist, dass Ausgabensenkungen für das Wachstum „besser“ sind als eine weitere Anhebung der Steuereinnahmen in Ländern, in denen die Steuerbelastung schon jetzt hoch ist. Der EWSA stellt fest, dass die Kommission nicht näher erläutert, was eine „hohe“ Steuerbelastung wäre, und erinnert an seine Stellungnahme von 2011 zu intelligenten Wegen zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen (18), in der er sich dafür aussprach, die öffentlichen Finanzen über einen möglichst flexiblen Zeitraum hinweg zu konsolidieren, um die Wachstumsdynamik nicht zu unterbrechen, sowie zugunsten eines „intelligenten“ Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben und zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage. In derselben Stellungnahme warnte der EWSA zudem vor der Gefahr einer Unterminierung des Systems der öffentlichen Dienstleistungen und Solidarsysteme. Wenn, wie dies heute in mehreren Mitgliedstaaten der Fall ist, die soziale Absicherung gegen die großen gesellschaftlichen Bedrohungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Älterwerden) schwerwiegend geschwächt wird, dann ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Haushalte auf diese Verallgemeinerung der Unsicherheit durch eine Erhöhung ihres vorsorglichen Sparens reagieren – und das ist das Letzte, was die Wirtschaft in Zeiten der Rezession braucht.

2)

Das andere Argument lautet, dass die Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten ihre Sparpolitik fortsetzen und sogar eine „rasche Haushaltsanpassung“ vornehmen sollten, wohingegen andere Mitgliedstaaten ihre automatischen Stabilisatoren spielen lassen könnten.

Obwohl manche Mitgliedstaaten bei der Überwindung der Krise klarerweise deutlich mehr Anstrengungen zur Wiederherstellung von Stabilität und Wachstum unternehmen müssen als andere, bezweifelt der EWSA, dass diese Art von Policy-Mix funktionieren würde. Die Kombination aus einer streng restriktiven Fiskalpolitik in vielen Mitgliedstaaten und einer neutralen fiskalpolitischen Haltung in einigen wenigen Mitgliedstaaten wird sich deutlich negativ auf den Euroraum insgesamt und auf die Mitgliedstaaten, die sich bereits in einer tiefen, von den Sparmaßnahmen induzierten Krise befinden, im Besonderen auswirken.

4.1.7

Zusammenfassend ist der EWSA besorgt über die unausgewogenen wirtschaftlichen Maßnahmen. Der Sparpolitik wurde zu großes Gewicht gegeben, und die Haushaltskonsolidierung zur Korrektur der ausgeprägten fiskalischen Ungleichgewichte bedarf eines längeren Zeitrahmens. Neueste Daten aus dem „Fiscal Monitor“ des IWF (19) bestätigen dies. Innerhalb kurzer Zeit (2011-2012) wurden durch Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen 3 % des BIP (20) aus der Wirtschaft des Euroraums genommen, wodurch eine neue Rezession ausgelöst wurde. Das entspricht einem dreimal höheren Konsolidierungstempo als dem, das die europäischen Politikverantwortlichen zuvor im reformierten Stabilitätspakt (in dem von einer Verringerung des Strukturdefizits um mindestens 0,5 % des BIP pro Jahr die Rede ist) festgelegt hatten.

Um zu verhindern, dass dieselben Ursachen weiterhin zu denselben Folgen führen, dringt der EWSA darauf, den Zeitrahmen für die Haushaltskonsolidierung mit einem substanziell gestärkten und konkreten Pakt für Wachstum und Beschäftigung auszubalancieren.

4.1.8

Der Jahreswachstumsbericht 2013 beruht auf dem Gedanken, dass es von größter Bedeutung ist, das Vertrauen wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, insbesondere das Vertrauen der Finanzmärkte, da sie in der Lage sind, auf die Bereitstellung von Finanzmitteln in den Mitgliedstaaten zu drücken. Ausgehend von diesem Gedanken wird im Jahreswachstumsbericht 2013 der Kurs der Sparpolitik weiter fortgesetzt.

4.1.9

Der EWSA erkennt an, dass Finanzmärkte eine maßgebliche Rolle in der Krise spielen und dass die Wiederbelebung dieses Sektors für den Wirtschaftaufschwung wesentlich ist. In der Tat ist der Zugang zu Krediten die Lebensader jeder Wirtschaft, da ohne ihn Unternehmen nicht investieren oder Handel treiben und Verbraucher keine Waren oder Immobilien kaufen können.

Der EWSA ist jedoch der Ansicht, dass das Vertrauen anderer Wirtschaftakteure (Haushalte und Unternehmen) ebenso wichtig ist. Selbst wenn es ein verbesserter Zugang zu Krediten ermöglichen würde, dass Unternehmen und Handel florieren, haben niedrigere Zinssätze und ein Kreditüberangebot nicht dieselbe Wirkung, wenn die Menschen sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze, ihren Lohn und/oder ihre soziale Sicherheit machen und die Geschäftswelt stark an den Nachfrageaussichten zweifelt.

Der EWSA möchte betonen, dass das Vertrauen in die Finanzmärkte und das Vertrauen der Verbraucher und Produzenten sich nicht notwendigerweise widersprechen. In dem Maße, wie mehr Unternehmen, insbesondere KMU, ihre normale Handelstätigkeit wiederaufnehmen können, da der Zugang zu Finanzierung wiederhergestellt ist, werden die Verbraucher schrittweise ihr Vertrauen zurückgewinnen.

Wenn sich die Märkte Sorgen wegen der Staatsverschuldung machen, werden sie sich noch mehr sorgen, wenn die Wirtschaft vom Zusammenbruch bedroht ist.

Der EWSA bekräftigt einen zentralen Gedanken aus seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2012: „Die Staatsverschuldungskrise [lässt sich] nur mit einer ausreichenden Wachstumsrate bewältigen […], insbesondere in Ländern, die unter Druck geraten sind“ (21). Dem Wachstum niedrige Priorität einzuräumen, würde die große Gefahr bergen, die Wirtschaft in die Rezession zu treiben, was wiederum die Tragfähigkeit der Schulden unmittelbar schwächen würde.

4.2   Krisenmaßnahmen müssen zurückstehen – Priorität sollten jetzt die Realwirtschaft sowie Wachstums- und Beschäftigungsmaßnahmen haben.

Den Pakt für Wachstum und Beschäftigung in ein umfassendes europäisches Investitionsprogramm für nachhaltiges Wachstum umwandeln

4.2.1

Der EWSA fordert entschlossenes Handeln zur Stärkung von Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und ermutigt den derzeitigen Ratsvorsitz, eine ehrgeizige Wachstumsagenda zu verfolgen. Zu oft hat der Europäische Rat minimalistische Maßnahmen zur Überwindung dieser Krise unterstützt und wurde nur dann zum Handeln bewegt, wenn der Druck des Marktes das Projekt Euro zu stürzen drohte. Es ist notwendig, mit wirklich entschlossenem Nachdruck eine ausgewogene und harmonische wirtschaftspolitische Steuerung mitsamt Reformen zu verfolgen, die die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit in der ganzen Union fördern und die Umsetzung der Europa-2020-Agenda in den Vordergrund des Europäischen Semesters bringen werden. Jede fiskalische Abhilfemaßnahme wird zu Widerspruch führen, doch wenn sie dadurch erzielt wird, dass die Ausgaben zur Förderung des Wachstumspotenzials (Bildung, Ausbildung für Arbeitslose, FuE, Unterstützung für KMU) beibehalten und von konkreten Fortschritten bei der Beseitigung der Fragmentierung des Finanzsektors begleitet werden, könnten die mittel- und langfristigen Wachstums- und Beschäftigungsaussichten erhalten bleiben.

4.2.2

Der EWSA begrüßt den Pakt für Wachstum und Beschäftigung als wichtigen ersten Schritt hin zur Anerkennung der Tatsache, dass Wachstum für die Überwindung der Krise wesentlich ist, und fordert die Kommission und den Europäischen Rat auf, den Pakt nicht nur zügig umzusetzen, sondern noch weiter zu gehen und ihn in ein konkretes und weitreichendes europäischen Investitionsprogramm umzuwandeln.

4.2.3

Die Priorität müssen „wachstumsfördernde Ausgabe“ wie Bildung, Qualifikationen und Innovation – Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und deren Ökologisierung – haben; sie müssen zu einer Triebfeder für die nächste industrielle Revolution werden, z.B. Hochgeschwindigkeitsinternet, Energie- und Verkehrsbindungen. Von zentraler Bedeutung ist die Nutzung arbeitsintensiver Branchen: Gesundheitswesen, grüne Wirtschaft, Seniorenwirtschaft, Bau, Unternehmensdienstleistungen, Tourismus usw.

4.2.4

Der Binnenmarkt bietet immer noch das Potenzial, Unternehmen, Verbrauchern und Bürgern unmittelbar spürbaren Nutzen zu bringen. Es sind jedoch Weiterentwicklungen erforderlich, z.B. im Bereich Dienstleistungen, Mobilität, elektronischer Handel, Digitale Agenda, elektronische Auftragsvergabe, Kleinst- und Familienunternehmen und Maßnahmen zur Förderung der Gründung neuer Unternehmen sowie Maßnamen zugunsten des Verbraucherschutzes und der sozialen Dimension des Binnenmarkts. Es bedarf einer größeren Transparenz und stärkerer Bewusstheit, Beteiligung und Identifikation seitens der Zivilgesellschaft (22).

4.2.5

Der EWSA unterstreicht die wichtige Rolle von Unternehmen, insbesondere KMU, und die Bedeutung von Unternehmergeist und Unternehmensgründungen für den Wirtschaftsaufschwung und als Motor von Wirtschaftswachstum, Innovation, Qualifikationen und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Zur Ausschöpfung des Potenzials von KMU sind verschiedene Maßnamen erforderlich, wie die Erleichterung ihrer Internationalisierung, die Beseitigung der Verwaltungslast, die Reduzierung der Kosten von Unternehmensgründungen sowie die Erleichterung ihres Zugangs zu Krediten und Kapitalmärkten, zum KMU-spezifischen Anleihenmarkt sowie zu Strukturfonds und Darlehensgarantien.

4.2.6

Der EWSA weist zudem darauf hin, dass soziale Unternehmen ein zentrales Element des europäischen Sozialmodells und des Binnenmarkts sind. Sie verdienen eine starke Anerkennung und Förderung, insbesondere im derzeitigen rauen Wirtschaftsklima, und ihre Besonderheiten müssen bei der Konzipierung europäischer Politiken berücksichtigt werden.

4.2.7

Die Rolle von Kooperativen muss ebenfalls erwähnt werden, da sie zum sozialen und territorialen Zusammenhalt beitragen, neue unternehmerische Initiativen entwickeln, stabiler und widerstandsfähiger als andere Unternehmensformen sind und selbst in Krisenzeiten Arbeitsplätze sichern (23).

4.2.8

Der EWSA begrüßt, dass im Jahreswachstumsbericht 2013 die Bedeutung des Voranbringens der nachhaltigen Entwicklung, erneuerbarer Energieträger und Energieeffizienz zur Erreichung der Europa-2020-Klimaschutz-/Energieziele hervorgehoben wird (24). Es muss eine ressourceneffiziente und kohlenstoffarme „grüne“ Wirtschaft gefördert werden, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten und die Beschäftigung anzukurbeln. Es bedarf einer umfassenden Renovierung von Gebäuden im Sinne der Energieeffizienz sowie Investitionen in umweltfreundliche Verkehrsdienstleistungen und in die Abfall- und Wasserbewirtschaftung. Dies muss mit verbesserten Energieübertragungsnetzen einhergehen, um den großvolumigen Energietransport und den Stromaustausch in ganz Europa zu erleichtern. Um die europäische Wettbewerbsfähigkeit weiter zu stärken, sollte dies um Investitionen in transeuropäische Hochleistungs-Verkehrsnetze und die Ausweitung der Infrastruktur für Breitbandnetze ergänzt werden.

4.2.9

Es ist eine Synergie zwischen Industriepolitik, effizienter Nutzung der natürlichen Ressourcen und Innovation erforderlich, um nachhaltiges Wachstum zu schaffen.

4.2.10

Es sind umfassende Investitionen erforderlich, um den Strukturwandel zu fördern und die Wirtschaft der EU auf den Weg des intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums zu bringen.

Der EWSA nimmt die von den Staats- und Regierungschefs erzielte Einigung über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) zur Kenntnis und macht erneut auf die Bedeutung aufmerksam, über einen MFR zu verfügen, der die Erreichung der Europa-2020-Ziele ermöglicht.

Der EWSA nimmt auf seine jüngste Stellungnahme zum EU-Haushalt (25) Bezug, in der er durchgängig darauf dringt, dass die EU einen gestärkten Haushalt benötigt, um den derzeitigen Herausforderungen begegnen zu können. Der EU-Haushalt sollte nicht als Bürde, sondern als intelligentes Mittel betrachtet werden, um Skaleneffekte zu erzielen, Kosten zu senken sowie Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung anzuhebeln.

Darüber hinaus könnten durch zusätzliche Finanzierungsmittel noch weitere Ressourcen mobilisiert werden. Der EWSA unterstützt das Handeln der EIB, die langfristige Finanzierungen für Investitionen in die Realwirtschaft verfügbar macht und zusätzliche private Finanzierungen anzieht. Der EWSA begrüßt die Schwerpunktlegung auf Projekte mit großen Auswirkungen auf das Potenzial für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung (Projekte für KMU, Wissenswirtschaft, Humankapital, Energieeffizienz und Klimaschutz) und drängt darauf, die aufgestockten Finanzmittel für die EIB rasch zum KMU-Sektor zu kanalisieren. Der EWSA begrüßt auch, dass die EIB Garantien für private Investitionen in die energieeffiziente Gebäuderenovierung verwendet.

Der EWSA unterstützt zudem die Einführung von projektbezogenen EU-Anleihen, um die Finanzierung zentraler Infrastrukturprojekte in den Bereichen Verkehr, Energie und IKT anzuregen. Dies ist ein wichtiger erster Schritt hin zu einem dringend benötigten EU-Investitionsprogramm für die kommenden Jahre.

4.2.11

Der EWSA macht auf die Bedeutung der Kohäsionspolitik für die Erreichung der wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Konvergenz in der ganzen EU im Einklang mit der Europa-2020-Strategie aufmerksam. Der EWSA wiederholt seine Forderungen nach einer Kohäsionspolitik, die homogen und einheitlich ist, die Zivilgesellschaft aktiv einbezieht, stärker auf echte nachhaltige Ergebnisse ausgerichtet ist und die weniger entwickelten und von der Krise am stärksten betroffenen EU-Mitgliedstaaten unterstützen kann (26).

4.2.12

Der EWSA begrüßt die Bedeutung, die im Jahreswachstumsbericht der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung beigemessen wird. Nach Auffassung des EWSA bedeutet dies u.a., das öffentliche Auftragswesen als Triebfeder für Innovation zu nutzen, Korruption zu bekämpfen, die Effizienz der Steuereintreibung zu verstärken, adäquate Finanzmittel zu gewährleisten und die Fähigkeit zur Aufnahme von Strukturfonds zu erhöhen.

Schaffung von Arbeitsplätzen und Verbesserung von Qualifikationen

4.2.13

Im Jahreswachstumsbericht 2013 wird eingeräumt, dass „nach mehreren Jahren schwachen Wachstums […] die sozialen Folgen der Krise mittlerweile unübersehbar“ sind und dass „die Arbeitslosigkeit […] deutlich gestiegen [ist] und Not und Armut [zu]nehmen“. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind stärker betroffen als der Durchschnitt: junge Menschen, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund (27).

Es muss alles unternommen werden, um sowohl öffentliche als auch private Instrumente zur Beschäftigungsförderung zu mobilisieren. Der EWSA hat wiederholt ein europäisches Anreizpaket mit umfassenden arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen in Höhe von 2 % des BIP gefordert (28). Der EWSA hat ebenfalls einen „sozialen Investitionspakt“ gefordert, um die Krise nachhaltig anzugehen und in die Zukunft zu investieren (29).

Der EWSA bekräftigt seine Forderung, die Erwerbsbeteiligung zu steigern, die Qualifikationsniveaus zu verbessern, die Mobilität zu erleichtern, die Dienste der öffentlichen Beschäftigungsagenturen zu verbessern, verstärkt aktive Arbeitsmarktmaßnahmen zu ergreifen und Unternehmertum und selbstständige Tätigkeit zu fördern. Für bestimmte Regionen oder Wirtschaftszweige stimmt der EWSA überein mit der Beschreibung der Kommission, der zufolge eine Kluft besteht zwischen hohen Arbeitslosenquoten einerseits und nachweislichen Engpässen und Fehlanpassungen bei den Qualifikationen andererseits.

Darüber hinaus schlägt er Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Dialogs über die Verteilung der Arbeitszeit auf der dafür geeigneten Ebene vor.

Der EWSA begrüßt das jüngst von der Kommission veröffentlichte Jugendbeschäftigungspaket (30). Seine Vorschläge, darunter die Umsetzung einer Jugendgarantie, sollten rechtzeitig und verbindlich sein und mit angemessenen Mitteln unterlegt werden. Alle Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, diese Vorschläge anzunehmen.

4.2.14

Der EWSA fordert weiterhin Investitionen in schulische und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen (einschließlich innerbetrieblicher Ausbildungsmaßnahmen und des dualen Systems zur Lehrlingsausbildung), wobei die Problematik der Qualifikationsengpässe und der Nichtübereinstimmung von Angebot und Nachfrage angegangen werden muss (31).

4.2.15

Der Europäische Sozialfonds, ergänzt durch den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung, muss sich auf den Schutz benachteiligter Personengruppen vor den Auswirkungen der Krise konzentrieren (32), und es sollte ein spezifischer Jugendsolidaritätsfonds geschaffen werden (33).

Notwendigkeit eines ausgewogenen Ansatzes für Arbeitsmarktreformen

4.2.16

Der EWSA stellt fest, dass im Jahreswachstumsbericht 2013 Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt propagiert wird, wobei die Dimension der Sicherheit kaum oder gar nicht berücksichtigt wird.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Vermeidung von Segregation auf dem Arbeitsmarkt durch die Verringerung der Unterschiede beim Beschäftigungsschutz zwischen verschiedenen Arten von Arbeitsverträgen zu höheren Beschäftigungsniveaus beitragen kann.

Der EWSA weist diesbezüglich allerdings auf seine frühere Stellungnahme (34) hin, in der er die Auffassung vertrat, dass es eine Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit zu gewährleisten gilt. „Das Flexicurity-Konzept [steht] nicht für eine einseitige und ungerechtfertigte Beschneidung der Arbeitnehmerrechte“. Er hat wiederholt darauf hingewiesen, dass „es eines starken und lebendigen sozialen Dialogs [bedarf], an dem die Sozialpartner aktiv beteiligt sind und in dessen Rahmen sie über die Konzipierung und Gestaltung der Flexicurity verhandeln, sie beeinflussen und verantworten sowie die Umsetzung bewerten können“ (35). Zudem bekräftigt er, dass zur Lösung des Problems segmentierter Arbeitsmärkte „angemessene Sicherheit für Arbeitnehmer in allen Vertragsverhältnissen“ geschaffen werden muss (36).

Der EWSA betont, dass sich die bei der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage gemachten Fehler durch Flexibilität nicht korrigieren lassen und diese die Lage verschlimmern kann, wenn stabile, gute Arbeitsplätze durch unsichere Arbeitsverhältnisse ersetzt werden; darüber hinaus kann die Entfernung von „Stoßdämpfern“ (Arbeitsplatzschutz, Arbeitslosenunterstützung) die Wirtschaft wesentlich anfälliger für negative wirtschaftliche Schocks machen.

Strukturelle Reform im Bereich der Löhne

4.2.17

Der EWSA weist darauf hin, dass Reformen der Lohnverhandlungsverfahren nur in Gesprächen der Sozialpartner auf der nationalen Ebene beschlossen werden können. Dabei muss eine Balance zwischen ausreichender Nachfragestärkung, Preisstabilität, Eindämmung hoher und/oder steigender Ungleichheiten und Wahrung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit gefunden werden. Der EWSA ist besorgt, dass die Strukturreformen im Bereich der Löhne zu einem Senkungswettlauf zwischen den Mitgliedstaaten führen, wodurch die interne Nachfrage in der EU verringert und durch einen erhöhten außenwirtschaftlichen Überschuss des Euroraums zu einer ausgeprägteren Überbewertung des Euro beigetragen wird. Die ILO (37) bestätigt diese Tendenz und warnt vor den weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen.

Der im Jahreswachstumsbericht verfolgte Ansatz für Mindestlöhne, dem zufolge „beim Mindestlohnniveau […] auf die richtige Balance zwischen Beschäftigungsförderung und angemessener Entlohnung geachtet werden“ muss, spiegelt den allgemeinen Gedanken wider, dass ein Trade-off bzw. Zielkonflikt besteht zwischen Beschäftigung und verschiedenen Faktoren wie der Arbeitsplatzqualität und der Bereitschaft zur Annahme eines Arbeitsplatzangebots. Der EWSA fragt sich, inwiefern es Belege für einen solchen Zielkonflikt gibt, wurde doch laut der ILO-Forschung zu den Erfahrungen mit Mindestlöhnen in der EU kein Beweis für die Behauptung gefunden, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten (38). Der EWSA erinnert an das Prinzip „Arbeit muss sich lohnen“, das – obwohl vor der Krise aufgestellt – nach wie gelten muss.

Der EWSA fordert die Kommission eindringlich auf, ihren Standpunkt zu Löhnen, Inflation und Produktivität klar darzulegen. Während in der Mitteilung der Kommission zum Beschäftigungspaket (39) klargestellt wurde, dass Reallöhne an Produktivitätsentwicklungen ausgerichtet werden sollten, versäumt es der Jahreswachstumsbericht 2013, zu ermitteln, ob Nominal- oder Reallöhne an der Produktivität ausgerichtet werden sollen. Der Unterschied dieser beiden Ansätze ist ausschlaggebend, da im letzteren Fall die Möglichkeit besteht, dass bei den Nominallöhnen nur die Produktivität und nicht mehr die Inflation berücksichtigt wird. Eine solche „Regel“ würde die Gefahr mit sich bringen, dass eine Nullinflation bei negativen wirtschaftlichen Schocks zu Deflation führt.

Förderung der sozialen Gerechtigkeit

4.2.18

Generell ist der EWSA der Ansicht, dass den Fragen der Fairness und der sozialen Gerechtigkeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Um Vertrauen aufzubauen und eine wirksame Umsetzung der Maßnahmen zu gewährleisten, sind die Kosten und Nutzen von Wirtschaftspolitik und Strukturreformen gerecht auf alle (Arbeitnehmer, Haushalte, Unternehmen) zu verteilen. Der EWSA sieht die Bedeutung, die im Jahreswachstumsbericht auf Transparenz und Fairness hinsichtlich der Folgen für die Gesellschaft gelegt wird, und fordert die Kommission auf, zu überwachen, ob die einzelstaatlichen Regierungen dem bei ihrer Politikgestaltung in ihren Reformprogrammen Rechnung tragen.

Förderung der sozialen Eingliederung und Armutsbekämpfung

4.2.19

Der EWSA unterstützt den im Jahreswachstumsbericht geäußerte Forderung nach zusätzlichen Anstrengungen zur Sicherstellung einer wirksamen Abfederung der Krisenfolgen durch die Sozialschutzsysteme und zur Stärkung der sozialen Eingliederung sowie die Umsetzung einer „aktiven Eingliederungsstrategie“ zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarkts und Bekämpfung der Armut.

Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen

4.2.20

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gleichstellungsperspektive, die in keiner der sieben Leitinitiativen der Europa-2020-Strategie angegangen wurde, nunmehr in den Prozess des Europäischen Semesters (d.h. in die nationalen Reformprogramme) eingegliedert werden muss, da sie für die Erreichung der Europa-2020-Kernziele wesentlich ist (40).

4.3   Bedeutung der Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in das Europäische Semester

4.3.1

Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit, die demokratische Rechenschaftspflicht und Transparenz der einzelnen Prozesse des Europäischen Semesters und die Abstimmung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik zu stärken. Angesichts des derzeitigen Verlusts von Vertrauen in die Fähigkeit der europäischen Institutionen, Ergebnisse zu erzielen, ist es ausnehmend wichtig, den Institutionen, die die Bürger, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft repräsentieren, eine wichtigere Rolle zu geben, um dadurch die Legitimation und die Identifikation zu verbessern. Der vertikale und der horizontale Dialog sind von wesentlicher Bedeutung (41), und die in Artikel 11 EUV enthaltenen Bestimmungen zur partizipativen Demokratie müssen zügig umgesetzt werden (42).

Der EWSA erachtet die Sprache, die im Jahreswachstumsbericht in Bezug auf die Rolle des sozialen Dialogs verwendet wird, als unzureichend. Strukturreformen sollten gegebenenfalls in enger Zusammenarbeit und Abstimmung – und nicht nur Konsultation – mit den Sozialpartnern in Angriff genommen werden. Dem Dialog mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft, wie etwa Verbraucherorganisationen, kommt im Hinblick auf die richtige Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen und Reformen zentrale Bedeutung zu. Sie können die Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz der Reformen verbessern, da Konsens und Vertrauen zum Engagement der Interessenträger und zum Erfolg der Reformen beitragen können Die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft können die Auswirkungen der Maßnahmen beurteilen und gegebenenfalls rechtzeitige Warnungen aussprechen. Auf vielen Gebieten sind die sozialen Organisationen und insbesondere die Sozialpartner diejenigen, die politische Vorschläge in die Praxis umsetzen müssen (43).

Der EWSA fordert eine Aufwertung der Rolle der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft auf der europäischen und einzelstaatlichen Ebene. Sie sollten wirksam und rechtzeitig im Rahmen des Europäischen Semesters, in die Ausarbeitung der Jahreswachstumsberichte, der Beschäftigungsleitlinien, der Grundzüge der Wirtschaftspolitik (die zusammen die „integrierten Leitlinien zu Europa 2020“ bilden) sowie in die länderspezifischen Empfehlungen eingebunden werden. Auf einzelstaatlicher Ebene sollten die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft besser in die Ausarbeitung der nationalen Reformprogramme einbezogen werden, und der EWSA wird mit seinem Netz der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen zusammenarbeiten, um den europäischen Politikverantwortlichen Informationen über deren Einbindung auf einzelstaatlicher Ebene bereitzustellen. Eine stärkere Einbindung der Sozialpartner sollte eine erfolgreichere Umsetzung gewährleisten.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 8-15.

(2)  Gemeinsame Erklärung zur Europa-2020-Strategie, EGB, BUSINESSEUROPE, UEAPME und CEEP, 4. Juni 2010.

(3)  Stellungnahme des EWSA zu der Mitteilung der Kommission Junge Menschen in Beschäftigung bringen, COM(2012) 727 final) (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(4)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94–101.

(5)  ABl. C 211/48 vom 19.8.2008, S. 48-53.

(6)  EUCO 76/12, S. 7-15.

(7)  Bericht des Präsidenten des Europäischen Rates Herman Van Rompuy, 5. Dezember 2012.

(8)  COM(2012) 777 final/2 vom 30.11.2012.

(9)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 34-38.

(10)  Eurostat, Statistics in focus 39/2012, Europe 2020 Strategy – towards a smarter, greener and more inclusive EU economy?

(11)  COM(2012) 750 final.

(12)  Eurostat, Pressemitteilung 4/2013 vom 8. Januar 2013.

(13)  Eurostat-Tabelle http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=0&language=en&pcode=t2020_50.

(14)  ILO 2012, Eurozone job crisis: trends and policy responses, z.B. S. 11.

(15)  Vereinte Nationen, World economic situation and prospects 2013 – global outlook, herausgegeben im Dezember 2012, S. 28.

(16)  – 0,9 % im Jahr 2013, – 2,1% im Jahr 2014, – 3,3 % im Jahr 2015.

(17)  IMF 2012, World Economic outlook, Coping with High Debt and Sluggish Growth, Oktober 2012, z.B. S. 21 oder Kasten 1.1 auf S. 41.

(18)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 8-15.

(19)  IMF Fiscal Monitor, Taking stock – a progress report on fiscal adjustment, Oktober 2012.

(20)  Die 3 % entsprechen der Veränderung des strukturellen Haushaltsdefizits zwischen 2010 und 2012. Dieses strukturelle Defizit errechnet sich unter Extrapolierung der Auswirkungen des Konjunkturzyklus und muss korrigiert werden.

(21)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 51-68, Ziffer 16.

(22)  ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 24-30.

(23)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 24-29.

(24)  Europa-2020-Ziele: Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2020 um 20 % unter die Werte von 1990, 20 % der Energie aus erneuerbaren Quellen bis 2020 und Erhöhung der Ressourceneffizienz um 20 % bis 2020.

(25)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 32-38 und ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 75-80.

(26)  ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 76-82.

(27)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94-101.

(28)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 65-70.

(29)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 23-28

(30)  COM(2012) 728 final – zu dem der EWSA derzeit eine Stellungnahme erarbeitet (SOC/474 – CES2419-2012_00_00_TRA_APA).

(31)  Der EWSA erarbeitet derzeit eine Stellungnahme (SOC/476 – CES658-2013_00_00_TRA_APA) zu der Mitteilung der Kommission Neue Denkansätze für die Bildung: bessere sozioökonomische Ergebnisse durch Investitionen in Qualifikationen, COM(2012) 669 final.

(32)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 82-87.

(33)  ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 65-70.

(34)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 48-53.

(35)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 108-113, Ziffer 1.3.

(36)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 48-53, Ziffer 1.1.1.

(37)  ILO 2012, Global wage report 2012/2013 – Wages and equitable growth.

(38)  ILO 2010, The minimum wage revisited in the enlarged EU, S. 26.

(39)  COM(2012) 173 final.

(40)  ABl. C 76 vom 14.3.2013, S. 8-14.

(41)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 122-127.

(42)  EWSA-Stellungnahme zum Thema Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen zur Umsetzung von Artikel 11 Absatz 1 und Artikel 11 Absatz 2 des Vertrags von Lissabon, ABl. C 11 vom 15.1.2013, S. 8.

(43)  EWSA-Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission Maßnahmen für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung, COM(2012) 299 final, ABl. C 44 vom 15.2.2013, S. 153.


9.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 133/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen

COM(2012) 499 final — 2012/0237 (COD)

2013/C 133/16

Berichterstatter: Henri MALOSSE

Mitberichterstatter: Georgios DASSIS und Luca JAHIER

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 10. Oktober bzw. am 22. Oktober 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen

COM(2012) 499 final – 2012/0237 (COD).

Der Ausschuss setzte gemäß Artikel 19 Absatz 1 seiner Geschäftsordnung am 15. November 2012 einen Unterausschuss für die Vorarbeiten ein.

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss „Finanzierung europäischer politischer Parteien“ nahm seinen Entwurf einer Stellungnahme am 30. Januar 2013 an. Berichterstatter war Henri MALOSSE, Mitberichterstatter waren Georgios DASSIS und Luca JAHIER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 487. Plenartagung am 13. und 14. Februar 2013 (Sitzung vom 13. Februar) mit 155 Stimmen gegen 1 Stimme bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht, ebenso wie die Kommission und das Parlament, dass eine bessere Arbeitsweise der Europäischen Union voraussetzt, dass bekanntere und stärker anerkannte sowie repräsentativere und bürgernähere politische Parteien und Stiftungen auf europäischer Ebene vertreten sind.

2.

Der EWSA unterstützt die Einführung eines einheitlichen Rechtsstatus der europäischen politischen Parteien und Stiftungen sowie eine Überprüfung der Kontrolle ihrer Arbeitsweise, um die Bedingungen für ihre interne demokratische Funktionsweise, Effizienz, Öffentlichkeitswirksamkeit, Transparenz und Rechnungsführung zu verbessern.

3.

Dabei dringt der EWSA ganz besonders darauf, dass die Parteien und Stiftungen, denen dieser Rechtsstatus zuerkannt wird, die Ziele des europäischen Aufbauwerks und die ihm zugrundeliegenden zentralen Werte vertreten, die in den europäischen Verträgen und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.

3.1

In Bezug auf die Ziele des europäischen Aufbauwerks ist der EWSA der Auffassung, dass ein solcher Status das Eintreten für die Förderung des Friedens, für die Zusammenarbeit von Staaten und Völkern, für die Förderung wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und des Bürgerwohls sowie für eine demokratische Ausübung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und eine freie Debatte impliziert.

3.2

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit, die auf europäischer Ebene garantierten zentralen Werte zu wahren, die in den europäischen Verträgen, vor allem in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union, und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind. In Artikel 21 der Grundrechtecharta ist insbesondere das Verbot jeglicher Diskriminierung niedergelegt. Der Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen, der ebenfalls in Artikel 23 der Charta verankert ist, sollte im Übrigen in allen Leitungsgremien der europäischen politischen Parteien und Stiftungen konkret umgesetzt werden.

3.3

Der EWSA empfiehlt, dass die Wahrung der vorgenannten Grundprinzipien von den politischen Parteien und Stiftungen, die den europäischen Status erhalten wollen, durch eine entsprechende Erklärung anerkannt wird. Es obliegt dem Europäischen Parlament und insbesondere seinem Ausschuss für konstitutionelle Fragen die Wahrung der in den europäischen Verträgen verankerten Prinzipien und Grundrechte zu überwachen und Verletzungen anzuprangern.

3.4

Der EWSA verweist auch auf die Schlüsselrolle, die der Gerichtshof der Europäischen Union bei der Überwachung der Einhaltung dieser Prinzipien spielen muss, indem insbesondere eine Anrufung des Gerichtshofs im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ermöglicht wird.

4.

Der EWSA betont außerdem die Notwendigkeit, abgesehen von den bereits bestehenden europäischen politischen Parteien und Stiftungen auch die Gründung und Entwicklung neuer derartiger Parteien und Stiftungen zu unterstützen, sofern sie die erforderlichen Kriterien im Hinblick auf Arbeitsweise, Werte und Repräsentativität erfüllen.

4.1

Die zusätzliche Bedingung für den Anspruch auf Finanzierungen, das Kriterium, durch ein Mitglied des Europäischen Parlaments vertreten zu sein, scheint kaum geeignet, insbesondere da die Wahlmodalitäten und damit die Erfolgsbedingungen je nach Mitgliedstaat sehr unterschiedlich sind.

4.2

Der EWSA schlägt deshalb vor, die Repräsentativität in einer Art und Weise heranzuziehen, die eher geeignet ist, willkürliche Diskriminierungen zu vermeiden. Er regt an, sich dazu auf die Kriterien zu stützen, die für die europäische Bürgerinitiative gelten, und die Bedingung aufzustellen, bei den letzten Europawahlen mindestens eine Million Stimmen aus mindestens sieben unterschiedlichen Ländern errungen zu haben.

4.3

Finanzierung und Haushaltspläne der europäischen Parteien und Stiftungen sowie Schenkungen an sie müssen transparent und öffentlich sein. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht und die Pflicht, über die Finanzierungsmodalitäten der Parteien und Stiftungen sowie die von ihnen getätigten Ausgaben informiert zu sein. Eventuelle Sanktionen und/oder Aussetzungen der Finanzierung müssen in den Medien veröffentlicht werden.

5.

Zudem verweist der EWSA anlässlich der Prüfung dieses Verordnungsvorschlags erneut nachdrücklich auf die weiterhin bestehende und sich tendenziell noch verstärkende Ungleichbehandlung zwischen einerseits politisch ausgerichteten europäischen Parteien und Stiftungen und andererseits Verbänden und Stiftungen, die auf europäischer Ebene Ziele von allgemeinem Interesse (z.B. wirtschaftliche, gewerkschaftliche, soziale, humanitäre, kulturelle, ökologische oder sportliche) verfolgen.

5.1

In Artikel 11 des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags von Lissabon, ist die partizipative Demokratie und damit die Bedeutung der Verbände und Stiftungen verankert, die dafür sorgen, dass in der EU eine öffentliche Debatte stattfindet. Der EWSA unterstreicht, dass diese europäischen Netze von Verbänden in Zeiten des allgemeinen Internetzugangs wachsende, manchmal sogar entscheidende Bedeutung haben. Bereits jetzt spielen sie als neue Träger einer partizipativen Demokratie eine wesentliche und zunehmend wichtigere Rolle für Information, öffentliche Diskussion und Meinungsbildung in der europäischen Öffentlichkeit. Dadurch bereichern und ergänzen sie sinnvoll die Strukturen der repräsentativen politischen Demokratie. Dieser Mehrwert ist auf europäischer Ebene besonders offensichtlich, da sich diese partizipative Demokratie ganz natürlich über die Staatsgrenzen hinweg vielfach verzweigt.

5.2

Angesichts der durch die Krise wachsenden Kluft zwischen Bürgerinnen und Bürgern und europäischen politischen Führern und Entscheidungsträgern warnt der EWSA die Kommission vor nachteiligen und kontraproduktiven Folgen eines unangemessenen Ansatzes, der nur auf die besonderen und autonomen Rechte der europäischen politischen „Verbände“ ausgerichtet wäre, ohne den anderen europäischen Verbänden gleichwertige Rechte zuzuerkennen. Der EWSA weist insbesondere darauf hin, dass ein politisches Europa nach wie vor nicht von einem Europa der Bürger und der Zivilgesellschaft zu trennen ist, die sich auf Verbände und Organisationen stützen, die auf dieser Ebene über geeignete, effiziente und einheitliche Rechtsinstrumente verfügen.

5.3

Einmal mehr kritisiert der EWSA die von der Kommission vor einigen Jahren getroffene Entscheidung, den Entwurf eines Statuts des europäischen Vereins zurückzuziehen. Der von der Kommission angeführte Grund, es sei nicht möglich gewesen im Rat eine politische Einigung zu erzielen, scheint dem EWSA angesichts des Themas weder an sich hinnehmbar noch selbst heute konkret nachvollziehbar.

5.4

Außerdem zeigt sich der EWSA über die fortbestehenden Hindernisse besorgt, die der Gründung von Gesellschaften mit europäischem Statut im Wege stehen, sei es die fehlende Attraktivität des bestehenden Statuts, das ein echtes Fiasko ist, oder seien es die Verzögerungen und andauernden Blockaden eines vereinfachten Statuts, das endlich einer signifikanten Zahl von Unternehmen aller Größenordnungen offenstünde.

6.

Darüber hinaus bekräftigt der EWSA seine Unterstützung des Projekts eines Statuts der Europäischen Stiftung, wie in seiner Stellungnahme vom 18. September 2012 (1) dargelegt, und dringt auf die Notwendigkeit, jegliche Diskriminierung ihrer Stellung im Vergleich zu den europäischen politischen Stiftungen zu vermeiden.

7.

Somit bestätigt der EWSA zwar sein Einverständnis mit einem einheitlichen Rechtsstatus für die europäischen politischen Parteien und Stiftungen, fordert die Kommission mit Blick auf seine verschiedenen Bemerkungen und gemäß dem durch die Europäische Union garantierten Diskriminierungsverbot jedoch auf, in Kürze eine gleichwertige europäische Verordnung über das Statut und die Finanzierung europäischer, nicht politisch ausgerichteter Stiftungen vorzulegen und die Arbeiten zur Annahme der Verordnung über das Statut der europäischen Stiftung zu beschleunigen.

Brüssel, den 13. Februar 2013

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 57.