ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.351.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 351

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
15. November 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

483. Plenartagung am 18. und 19. September 2012

2012/C 351/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Intelligentes und integratives Wachstum (Initiativstellungnahme)

1

2012/C 351/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein Rechtsrahmen für an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung (Initiativstellungnahme)

6

2012/C 351/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rechte gefährdeter Gruppen am Arbeitsplatz — Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung (Initiativstellungnahme)

12

2012/C 351/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund zur Wirtschaft der EU (Initiativstellungnahme)

16

2012/C 351/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen (Initiativstellungnahme)

21

2012/C 351/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Korruptionsbekämpfung in den südlichen Mittelmeerländern (Initiativstellungnahme)

27

2012/C 351/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken und Verhinderung der durch soziale Netzwerke verursachten Probleme (Initiativstellungnahme)

31

2012/C 351/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Für eine aktualisierte Analyse der Kosten des Nicht-Europa (Initiativstellungnahme)

36

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

483. Plenartagung am 18. und 19. September 2012

2012/C 351/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Abbau grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse in der EUCOM(2011) 864 final

42

2012/C 351/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Ausschuss der Regionen und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Aktionsplan zur Verbesserung des Finanzierungszugangs für KMUCOM(2011) 870 final

45

2012/C 351/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Ein integrierter europäischer Markt für Karten-, Internet- und mobile Zahlungen (Grünbuch)COM(2011) 941 final

52

2012/C 351/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Stiftung (FE)COM(2012) 35 final — 2012/0022 (APP)

57

2012/C 351/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von DienstleistungenCOM(2012) 131 final — 2012/0061 COD

61

2012/C 351/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Innovationen für eine nachhaltige Zukunft — Aktionsplan für Öko-Innovationen (Öko-Innovationsplan)COM(2011) 899 final

65

2012/C 351/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Strategie für ein besseres Internet für KinderCOM(2012) 196 final

68

2012/C 351/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über elektronische Identifizierung und Treuhanddienste für elektronische Transaktionen im BinnenmarktCOM(2012) 238 final

73

2012/C 351/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Handel, Wachstum und Entwicklung — Eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionspolitik für die bedürftigsten LänderCOM(2012) 22 final

77

2012/C 351/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 des RatesCOM(2012) 298 final — 2012/0158 (COD)

83

2012/C 351/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über Anrechnungsvorschriften und Aktionspläne für die Emissionen und den Abbau von Treibhausgasen infolge von Tätigkeiten im Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und ForstwirtschaftCOM(2012) 93 final — 2012/0042 (COD) und zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Anrechnung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) im Rahmen der Klimaschutzverpflichtungen der EUCOM(2012) 94 final

85

2012/C 351/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der Gemeinsamen FischereipolitikCOM(2012) 277 final — 2012/143 (COD)

89

2012/C 351/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 des Rates über ein Gemeinschaftssystem zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten FischereiCOM(2012) 332 final — 2012/162 (COD)

90

2012/C 351/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2008/971/EG des Rates in Bezug auf die Aufnahme von forstlichem Vermehrungsgut der Kategorie qualifiziert in den Geltungsbereich der genannten Entscheidung sowie die Aktualisierung von Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen BehördenCOM(2012) 355 final — 2012/172 (COD)

91

2012/C 351/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2003/17/EG des Rates durch Verlängerung ihrer Geltungsdauer und Aktualisierung des Namens eines Drittlands und der Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen BehördenCOM(2012) 343 final — 2012/0165 (COD)

92

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

483. Plenartagung am 18. und 19. September 2012

15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Intelligentes und integratives Wachstum“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/01

Berichterstatter: Etele BARÁTH

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Intelligentes und integratives Wachstum“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 140 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Nach Ansicht des EWSA ist dauerhaftes, nachhaltiges und intelligentes Wachstum ohne einen Anpassungsprozess nicht möglich. Deshalb sind die drei Ziele der Europa-2020-Strategie, "intelligentes", "nachhaltiges" und "integratives" Wachstum, grundlegend angemessen; allerdings sind für ihre Realisierung ein ausgewogener makroökonomischer Policy-Mix, strukturelle Reformen sowie mehr und bessere Instrumente erforderlich.

1.2

In dieser von zahlreichen großen Herausforderungen gekennzeichneten Zeit ist die intelligente Umsetzung der Strategie umso wichtiger. Zielführend ist es, diese Strategie zu vervollständigen, zu präzisieren und an die veränderte politische, wirtschaftliche und soziale Situation anzupassen. Es muss ein neues Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität gefunden werden.

1.3

Im Rahmen dieser erforderlichen Kurskorrektur sollte die EU zeigen, dass sie den entsprechenden politischen Willen und eine konkrete Vorstellung von der substanziellen Vertiefung der Integration hat. Daneben müssen auch die Formen der Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen zwischen Mitgliedstaaten und Regionen ausgebaut werden, um "mehr Europa" und ein "besseres Europa" zu erreichen.

1.4

Der EWSA möchte die wirtschafts- und entwicklungspolitische Governance gestärkt, die Vielfalt und Menge der öffentlichen Mittel erhöht und die strukturellen Reformen der Mitgliedstaaten beschleunigt sehen.

1.5

Der EWSA begrüßt den allgemeinen Ansatz und die Ausrichtung der Regelungsvorhaben für die Umsetzung der Europa-2020-Strategie, wie den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und den Gemeinsamen Strategischen Rahmen.

1.6

Gleichzeitig betont der EWSA, dass die Maßnahmen zur Stärkung von Stabilität, Wachstum und Beschäftigung sowie zur Verringerung der Armut nicht ausreichen und die bestehenden Instrumente unbedingt erweitert werden müssen.

1.7

Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten muss klar definiert werden. Die zur Stärkung der Wachstumsgrundlagen getroffenen Maßnahmen wie die europäische Bankenunion (Regulierung, Überwachung, Rettung und Garantie der europäischen Bankeinlagen) oder die Emission von Projektanleihen stellen eine wichtige Etappe dar und ihre Umsetzung sollte beschleunigt werden. Die Rolle der Europäischen Zentralbank sollte gestärkt werden.

1.8

Nach Auffassung des EWSA genügt es nicht, lediglich "Rahmen" für die Politik wirtschaftlicher Entwicklung festzulegen. Die Erreichung der Ziele lässt sich durch die Erhöhung gezielter Investitionen sowie die Durchführung europaweiter, bereichsübergreifender und mehrdimensionaler Programme beschleunigen. Wenn in zahlreichen Ländern derzeit die Vollendung der strukturellen Reformen die entscheidende Frage ist, dann muss die Politik wirtschaftlicher Entwicklung diese dort unterstützen.

1.9

"Intelligentes" und "integratives" Wachstum kann u.a. durch das Ziel des Beschäftigungswachstums und durch die Unterstützung einer Vernetzung garantiert werden, die eine breite Tätigkeitspalette abdeckt. Dazu muss der Wettbewerb in mehreren Bereichen des Binnenmarkts verstärkt werden.

1.10

Allerdings darf die Kohäsionspolitik nicht einseitig auf Wirtschaftsförderung und Wettbewerbsfähigkeit konzentriert bleiben. Alle Fonds und Programme müssen stärker auf die sozialen Ziele der Europa-2020-Strategie ausgerichtet werden, wie etwa Beschäftigungsschaffung, soziale Dienstleistungen, Armutsbekämpfung oder Aus- und Weiterbildung.

1.11

Der EWSA ist der Meinung, dass bestimmte Vorschläge für den Zeitraum 2014-2020, wie z.B. die Konzipierung regionaler Strategien auf Makroebene, durch entsprechende Instrumente unterstützt werden müssen.

1.12

Ein gutes Beispiel verstärkter Integration könnte die Ausdehnung des Programms "Connecting Europe" auf weitere gemeinsame europäische Ziele, einschließlich der Ressourcen des Privatsektors, sein.

1.13

Die Harmonisierung der Europa-2020-Strategie und der Kohäsionspolitik erfordert auch ein territoriales Konzept auf europäischer Ebene und ein entsprechendes Instrumentarium. Die Vorbereitung einer europäischen Strategie zur territorialen Entwicklung muss beschleunigt werden.

1.14

Nach Auffassung des EWSA ist es unabdingbar, Sachverständige und Öffentlichkeit wesentlich mehr in die Vorbereitung von Entscheidungen einzubinden. Deshalb schlägt er die Festlegung eines zwölften thematischen Ziels innerhalb des gemeinsamen strategischen Rahmens vor, um "die Kommunikation und den Dialog mit der Zivilgesellschaft" zu konsolidieren.

2.   Einleitung

2.1

In den vergangenen Jahren ist die Union – zum einen aufgrund der weltweiten Veränderungen und zum anderen aufgrund der Erweiterung sowie der Krise und der Reaktion der EU darauf – zu einem komplexeren Gebilde mit de facto mehreren Geschwindigkeiten geworden. Außerdem haben sich die Interessensunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verstärkt.

2.2

Die Gefahr gesellschaftspolitischer Konflikte und die Rolle extremistischer politischer Kräfte sind gewachsen. Es ist damit zu rechnen, dass die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Sozial- und Solidaritätskrise noch bis Mitte des Jahrzehnts die Hauptaufgabe der EU sein wird. Leider sinkt die Produktion in zahlreichen Mitgliedstaaten vorerst deutlich. Die Stabilisierung der Finanzen behindert das Wachstum. Und ohne Wachstum geht das Bemühen um Stabilität auch zulasten der Solidarität.

2.3

Die Europa-2020-Strategie wurde nicht auf dieser Grundlage konzipiert. Sie trägt der Krise Rechnung, aber es wurde nicht von einem solchen Ausmaß und einer solchen Dauer der Krise ausgegangen.

2.4

Die EU braucht sowohl Haushaltskonsolidierung als auch ein effizientes Wachstumsprogramm. Es besteht eine gewisse Hoffnung, dass der Nachfrageentzug, der durch die unabdingbare Haushaltskonsolidierung entsteht, langfristig kompensiert werden kann, wenn die Konsolidierung intelligent und ausgewogen konzipiert wird.

2.5

Nach Ansicht des EWSA ist der von der Kommission für den Zeitraum 2014-2020 vorgeschlagene mehrjährige Finanzrahmen (MFR) ein weitgehend akzeptabler Kompromiss. Wenn es gelingt, die Eigenmittel der EU zu erhöhen, sie wirksamer und effizienter einzusetzen und sie gemäß den Zielen der Europa-2020-Strategie und den strukturellen Reformen umzuschichten, dann kann dies der wirtschaftlichen Entwicklung dienen.

2.6

Andererseits werden die Probleme im Zusammenhang mit dem Anpassungsprozess und die sozialen Spannungen in dem Vorschlag nicht ausreichend thematisiert. Durch ihre (unzweifelhaft erhebliche) finanzielle Unterstützung der sich in Haushaltsschwierigkeiten befindlichen Länder haben die Geberländer ihre Kapazitäten erschöpft.

2.7

Die Kohäsionspolitik darf nicht einseitig auf Wirtschaftsförderung und Wettbewerbsfähigkeit konzentriert bleiben. Alle Fonds und Programme müssen stärker auf die sozialen Ziele der Europa-2020-Strategie ausgerichtet werden, wie Beschäftigungsschaffung, soziale Dienstleistungen, Armutsbekämpfung, Aus- und Weiterbildung etc.

2.8

In der Kohäsionspolitik stehen relativ wichtige Änderungen bevor. Der Schwerpunkt wird künftig auf der Verbesserung der makro- und mikroökonomischen Bedingungen sowie auf der territorialen Konvergenz liegen. Um integratives Wachstum in Übereinstimmung mit der Europa-2020-Strategie erreichen zu können, ist jedoch ein Paradigmenwechsel erforderlich. Die für die Kohäsionspolitik aufgewandten Mittel sind weder "Spenden" noch "Beihilfen", sondern Teil der europäischen Anlage- und Investitionspolitik und müssen deshalb effizient eingesetzt werden.

2.9

Im Interesse eines integrativen und nachhaltigen Wachstums werden neben den herkömmlichen Kriterien bestimmte "weiche" Faktoren immer wichtiger (z.B. die gesundheitliche und demografische Situation oder Niveau und Dynamik der allgemeinen und beruflichen Bildung), und das Erfordernis einer gesunden Umwelt wird dringlicher. In den jüngsten Dokumenten wird die Möglichkeit, diesem Bereich die nötigen EU-Hilfen zukommen zu lassen, kaum erörtert.

2.10

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag zur Öffnung des Arbeitsmarktes unterbreitet mit dem Ziel, nachteilige Tendenzen umzukehren. Beihilfen können sowohl die Nachfrage als auch das Angebot beleben. Besonders wichtig ist, für die Übertragbarkeit der Renten zu sorgen und die verschiedenen rechtlichen, administrativen und steuerlichen Hindernisse zu beseitigen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die mit der Europa-2020-Strategie angestrebte dynamische Entwicklung wird nicht angemessen durch die Vereinfachung des institutionellen Gefüges, die Steigerung seiner Effizienz sowie die entsprechende Ausweitung geeigneter Mittel widergespiegelt.

3.2

In ausgesprochen schwierigen Situationen ist es unabdingbar, die geistigen Ressourcen maximal auszuschöpfen. Es ist sinnvoll, die neben den Legislativ- und Exekutivorganen tätigen, ständigen bzw. zeitweiligen Gremien für Analyse, Beratung, Überwachung und Prognosen zu konsolidieren. Beispielsweise sollte über Folgendes nachgedacht werden:

die Folgen der Verschiebung der globalen Machtzentren;

die Neudefinition des Zusammenspiels von Wettbewerb, Zusammenarbeit und Solidarität, die Grundprinzipien der EU sind;

die Einführung einer Regierungsführung, die auf Entwicklung und Wachstum ausgerichtet ist;

die Schaffung der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen (makroökonomisches Gleichgewicht, Besteuerung, Geldpolitik, Makroaufsicht), die für eine effiziente Wirtschaftsunion notwendig sind;

die Klarstellung der Verantwortlichkeiten im derzeitigen, bereits etwas undurchsichtigen institutionellen System.

3.3

Es ist von grundlegender Bedeutung, die Transparenz der Funktionsweise der Union sicherzustellen und die partizipative Demokratie zu stärken. Es sollten wesentlich häufiger Internetforen genutzt oder – wenn der persönliche Meinungsaustausch besser ist – große Konferenzen mit hochrangigen Persönlichkeiten veranstaltet und/oder unterstützt sowie parallel Debatten in den nationalen Parlamenten geführt werden. Es wird empfohlen, die Kommunikation der EU auszubauen und bestimmte EU-Verhandlungen öffentlich zu machen: in einer begrenzten Zahl von Fällen sollten diese von allen per Internet verfolgt und Abstimmungen eingesehen werden können.

3.4

Das dreifache Ziel der Europa-2020-Strategie ist ausgesprochen ehrgeizig. Wie der EWSA in mehreren Stellungnahmen hervorgehoben hat, steht der festgelegte Zeithorizont in keinerlei Verhältnis zu den verfügbaren Ressourcen, insbesondere mit Blick auf die "historischen" Erfahrungen, die sowohl negativ – wie im Fall der ersten sogenannten Lissabon-Strategie – als auch positiv – wie im Fall der bereits genannten raschen und wirksamen ordnungspolitischen Maßnahmen – waren.

3.5

Was Verfahren und Umsetzung betrifft, tragen die Maßnahmen und Regelungsvorhaben für die Realisierung der Ziele der Europa-2020-Strategie und die Nutzung der Struktur- und des Kohäsionsfonds den Lehren aus dem Programmplanungszeitraum bis 2013 nur in groben Zügen Rechnung.

3.6

Die im gemeinsamen strategischen Rahmen angeführten Grundsätze und thematischen Vorschläge bieten gute Chancen für mehr und ein besseres Europa. Aber das genügt nicht, damit die Chancen auch Realität werden. Um die Details ausarbeiten zu können, müssten einige Mitgliedstaaten ihr Programmplanungskonzept ändern.

3.7

In den vergangenen Jahrzehnten ist ein breit angelegtes, auch auf regionaler Ebene anwendbares europäisches Konzept entstanden, das vor allem Forschung und Entwicklung und die großen Infrastrukturinvestitionen (in letzterem Fall liegt ein solches Konzept in der Natur der Sache) betrifft. Die Strategien der EU, einschließlich der elf thematischen Ziele, sind im Hinblick auf die sektorale Wirtschaftspolitik und die mehrdimensionalen Programme für territoriale Entwicklung unvollständig.

3.8

Für die künftige Strategie zur territorialen Entwicklung sollten Ziele und Instrumente festgelegt werden, die auch die makroregionale wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit fördern, insbesondere in folgenden Bereichen:

Verknüpfung der Forschungs- und Innovationsinfrastruktur (siehe "Forschungsbereiche") unter Privilegierung der Kompetenzzentren, um die europäischen Exzellenzzentren miteinander zu verbinden und die europäischen Entwicklungspole zu dynamisieren;

Investitionen in Forschung und Innovation der Unternehmen, Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen usw., Internationalisierung der lokalen Produktionssysteme (Cluster), Förderung der europaweiten Vernetzung;

TEN-V-Infrastrukturnetze jenseits des Verkehrsaspekts (Wasserwirtschaft, Umweltschutz, Energie, Informations- und Kommunikationssysteme usw.);

das institutionelle Gefüge und die Entwicklung der makroregionalen und transnationalen Ebene der öffentlichen Verwaltungssysteme, die von unten nach oben organisiert sind, usw.

3.9

Das letzte Jahrzehnt war einerseits von den durch die städtischen Systeme eröffneten Möglichkeiten und andererseits von den dort immer stärker spürbaren und beinahe nicht mehr zu handhabenden Spannungen geprägt.

3.10

Die Vernetzung der einzelnen europäischen Agglomerationen, Pole und Zentren von im Zusammenhang mit dem Exzellenzbegriff entwickelten Spitzenaktivitäten könnten gute Beispiele für eine dynamische und integrative, aber nachhaltige Entwicklung sein.

3.11

Indem die Infrastrukturelemente um die für die politische, institutionelle, wirtschaftliche und soziale Integration erforderlichen thematischen Leitlinien erweitert werden, könnte die Vision eines vernetzten Europas – die Teil der makroregionalen Strategien ist – zu einer spürbaren makroökonomischen Effizienzsteigerung führen. Diese Erweiterung stünde nicht im Widerspruch zu einer ausgewogenen und gerechten Ressourcenverteilung.

3.12

Der EWSA hat bereits in einer früheren Stellungnahme die Festlegung eines neuen europäischen Finanzrahmens für die Konzipierung integrierter Projekte "von besonderem europäischen Interesse" empfohlen.

3.13

Die Vollendung der europäischen Energiegemeinschaft scheint erwägenswert. Im Fall einer politischen Unterstützung könnte die EU in globalen Einrichtungen "mit einer Stimme" sprechen und zudem die strategischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Aspekte besser vertreten.

3.14

Ohne konzeptuelle Fortschritte auf europäischer Ebene wird die Festlegung von Regelungsvorhaben und Finanzrahmen für den Zeitraum 2014-2020 erneut einen Druck erzeugen, der die Mitgliedstaaten nach individuellen, häufig weniger wirksamen Lösungen suchen lassen wird.

3.15

Der EWSA könnte seiner Rolle gerecht werden, wenn er – dank seiner Zusammensetzung – bewusst und methodisch fundiert Wissen vermittelt, das den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Interessen, sozialen Werten und Nachhaltigkeitskriterien für das Wachstum widerspiegelt.

4.   Weitere Empfehlungen

4.1

Die Europa-2020-Strategie, das Regelsystem für die Umsetzung des Kohäsionsfonds nach 2014 sowie der gemeinsame strategische Rahmen sind Beispiele für ein Bewusstsein dessen, was integrierte Entwicklung beinhaltet.

4.2

Allerdings ist der EWSA der Auffassung, dass der globale Wettbewerb über dieses Bewusstsein hinaus auch die Konzipierung und Umsetzung konkreterer und breiter angelegter Programme erfordert.

4.3

Hauptziel des von der Europa-2020-Strategie angestrebten intelligenten und integrativen Wachstums auf Makroebene ist die Steigerung der Produktions- und Aufnahmekapazität der EU, während auf Mikroebene auf der Grundlage von mehr und besseren Arbeitsplätzen eine beständige und nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität der Unionsbürger sichergestellt werden muss.

4.4

Im Sinne von Effektivität und Effizienz ist bei der Planung der Nutzung der europäischen Mittel darauf zu achten, dass miteinander verknüpfbare und voneinander abhängige Aktivitäten bestehen, die als spezieller, mehrdimensionaler, integrierter Cluster dargestellt werden können.

4.4.1

Im Fall solcher branchenübergreifenden Ziele, die als der Makroebene zugehörig betrachtet werden können und deshalb die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union mit beeinflussen, ist bei der Planung auf diejenigen Organisationen zu achten, die am Entwicklungsprozess beteiligt oder direkt davon beeinflusst sind und in einem Produktions- oder Dienstleistungsverhältnis stehen.

4.4.2

Außerdem muss dabei den (regionalen und lokalen) territorialen Netzen der von dem Prozess Betroffenen (Begünstigten) und ihrem Beziehungssystem Rechnung getragen werden.

4.5

Die Analyse und Planung der beiden vorgenannten interdependenten Systeme sowie ihre Unterstützung auf Unionsebene wird auch die kombinierte Wirkung intelligenten und integrativen Wachstums ermöglichen.

4.6

Im letzten Jahrzehnt hat sich die territoriale Struktur dieser Produktionsprozesse in Europa - nicht zuletzt dank der mit Hilfe von EU-Mitteln entwickelten Infrastruktur - grundlegend geändert, was in den rückständigsten Regionen zur Entwicklung von Produktionsmitteln und einer Produktionskultur, zur Reform von allgemeiner und beruflicher Bildung, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie zur Erhöhung der Einkommen und des Verbrauchs geführt hat.

4.7

Die Entwicklung der territorialen Struktur der Wirtschaft wird durch Bedingungen bestimmt, die sich auf Mikroebene sicherstellen lassen und eng mit dem in der Strategie festgelegten Kriterium der "Nachhaltigkeit" verknüpft sind.

4.8

Ausschlaggebend sind Faktoren wie Qualifizierung, Alter und Fachausbildung der Arbeitskräfte, das Niveau der Arbeitskultur ganz allgemein, Beschäftigungszuwachs und Qualität der Dienstleistungen. Wichtig sind die Gesundheit der lokalen Bevölkerung und die Qualität der Umwelt, aber natürlich auch die kommerzielle und materielle Infrastruktur sowie der Entwicklungsstand der Logistiksysteme.

4.9

Die europäische Wettbewerbsfähigkeit hängt in hohem Maße von einer solchen koordinierten Entwicklung ab, die die Verknüpfung der Makro- und der Mikroebene ermöglicht.

4.10

Vorausgesetzt die Mittel werden effektiv und effizient eingesetzt, lässt sich ihre Reallokation folgendermaßen begründen:

erstens führen die aus dem EU-Haushalt stammenden Investitionen dank fortschrittlicher technologischer Transfers, eines hohen Anteils von Importen an den Investitionen, qualifizierter Arbeitskräfte, der Vorteile einer kostengünstigeren Infrastruktur und auf einer modernen Infrastruktur aufbauender, finanziell geförderter Investitionen auf Makroebene nachweislich zu einer überdurchschnittlich starken Steigerung der finanziellen Ergebnisse und des gesamtwirtschaftlichen Outputs der EU;

zweitens tragen die Erweiterung des Binnenmarkts, der freie Dienstleistungsverkehr, die weiter verbreiteten Aktivitäten und das Wachstum der Wissensbasis schon für sich genommen erheblich zu den Innovationstätigkeiten bei und fördern den Anpassungsprozess;

drittens bedeuten die über die Strukturfonds verfügbaren Finanzmittel auf Mikroebene insbesondere für den Sektor der KMU entweder einen neuen Markt oder Marktzugang oder eine Entwicklungsressource und sie ermöglichen gleichzeitig die Schaffung von Arbeitsplätzen;

viertens können sich die Integration und der Anpassungsprozess möglicherweise äußerst positiv auf die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen auswirken, die auf verschiedene Weise vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.

4.11

Es ist allgemein anerkannt, dass die den Wirtschaftssektoren gewährten europäischen Beihilfen (vor allem wenn die Mittel nicht zurückgezahlt werden müssen) am meisten für innovative Aktivitäten kleiner und mittlerer Unternehmen sowie für im Niedergang befindliche Industriezweige, die einem strukturellen Wandel unterworfen sind, benötigt werden. Im Interesse eines sowohl intelligenten als auch integrativen bzw. kohäsiven Wachstums erfordert der Begriff "Unternehmen" in einigen rückständigen Regionen oder Gemeinden im Fall von Produktionsnetzen möglicherweise die Aufstockung der Unterstützung für KMU.

4.12

Im Fall gut funktionierender Innovationsketten, Cluster und lokaler Produktionssysteme stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, sowohl den großen, territorial verwurzelten Unternehmen als auch den Zulieferern mehr Flexibilität zu garantieren und ihnen verschiedene Arten kombinierter Finanzierung zu bieten.

4.13

Die Erarbeitung mehrdimensionaler Strategien lässt sich am Beispiel des Gesundheitswesens aufzeigen. Das Netz der Gesundheitsindustrie erstreckt sich von der Umwelterziehung über die Ausbildung bis hin zu den verschiedenen angrenzenden Produktionssektoren unter Beteiligung der Umwelt- und Gesundheitsindustrie, des Gesundheitstourismus, der biologischen Forschung, der Herstellung von Ausrüstungen und der entsprechenden Hochschulbildung, der Innovationspole und der darin tätigen kleinen und mittleren Unternehmen sowie den damit in Verbindung stehenden Bereichen. Hier spielt die "Seniorenwirtschaft" eine immer größere Rolle.

4.14

Der EWSA hat in mehreren Studien die Bedeutung der Sozialwirtschaft als entscheidender Faktor bei Maßnahmen für ein integratives Wachstum analysiert.

4.15

Die wirtschaftliche und finanzielle Wechselwirkung zwischen Aktivitäten der als Beispiel genannten Netze könnte sich entscheidend auf die Neustrukturierung der Haushaltspläne der Mitgliedstaaten auswirken, was wiederum die Einstellung und das Verhalten der Gesellschaft verändern könnte.

4.16

Der makroregionale Entwicklungsansatz würde die polyzentrische europäische territoriale Neustrukturierung stärken, wodurch einerseits die erforderliche Konzentration der Aktivitäten und andererseits dank der Nutzung der Vorteile der unterschiedlichen lokalen Situationen die Arbeitsteilung innerhalb eines Netzes konsolidiert werden könnte, was dem Ideal der Nachhaltigkeit entspräche.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein Rechtsrahmen für an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/02

Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Ein Rechtsrahmen für an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 130 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Ziel dieser Stellungnahme ist es, auf Gemeinschaftsebene zur Information und Diskussion über rechtliche und andere Maßnahmen und zur möglichen Vertiefung dieser Maßnahmen beizutragen, die zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor bestimmten Formen der Werbung ergriffen werden können, bei denen Kinder auf unangemessene Weise eingesetzt werden oder die sich auf schädliche Weise an Kinder richten oder Kinder Botschaften aussetzen, die deren körperliche, geistige und sittliche Entwicklung beeinträchtigen könnten.

1.2

Es geht um den Schutz der grundlegenden Kinderrechte in der EU, die in der Konvention der Vereinten Nationen, in Artikel 24 der Europäischen Charta der Grundrechte sowie Artikel 3 Absatz 3 EUV verankert sind und in verschiedenen Dokumenten der Kommission – "Mitteilung im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie" [COM(2006) 367 final], "Mehrjähriges Gemeinschaftsprogramm zum Schutz der Kinder bei der Nutzung des Internet und anderer Kommunikationstechnologien" [COM(2008) 106 final] (1) und "Eine EU-Agenda für die Rechte des Kindes" [COM(2011) 60 final] – richtig erfasst werden.

1.3

Werbung, bei der Kinder missbräuchlich für Zwecke eingesetzt werden, die keinen unmittelbaren Bezug zu Kindern haben, verstößt gegen die Menschenwürde, gefährdet die körperliche und geistige Unversehrtheit von Kindern und muss daher verboten werden.

1.4

Die an Kinder gerichtete Werbung bringt je nach Altersgruppe erhöhte Risiken mit sich, die schädliche Folgen für ihre körperliche, geistige und moralische Gesundheit haben. Besonders gravierend ist die Verleitung zu übermäßigem Konsum, der zu Verschuldung führt, sowie zum Konsum von Nahrungsmitteln und anderen Produkten, die für die körperliche und geistige Gesundheit schädlich oder gefährlich sein können.

1.5

Generell beeinflusst eine bestimmte Art von Werbung aufgrund ihrer besonders gewalttätigen, rassistischen, fremdenfeindlichen, erotischen oder pornografischen Inhalte die körperliche, geistige, moralische und staatsbürgerliche Entwicklung auf mitunter irreversible Weise und führt zu gewalttätigem Verhalten und einer frühzeitigen Erotisierung.

1.6

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Fragen auf EU-Ebene eingehend untersucht und im Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geregelt werden müssen – nicht nur, weil der Schutz der Grundrechte wirksam gewährleistet werden muss, sondern auch, weil die vielfältigen einzelstaatlichen Regelungen das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gefährden. Er empfiehlt daher, auf EU-Ebene ein generelles Mindestalter für speziell an Kinder gerichtete Werbung festzulegen.

1.7

Nach Ansicht des EWSA muss von frühester Jugend an besonders auf die Förderung der Eigenverantwortung sowie die Information und Schulung der Kinder über die richtige Nutzung der Informationstechnologien und die Interpretation von Werbebotschaften geachtet werden; diese Themen sollten auf sämtlichen Ebenen in die schulischen Lehrpläne aufgenommen werden. Auch sollten die Eltern in die Lage versetzt werden, ihre Kinder beim Begreifen von Werbebotschaften zu unterstützen.

1.8

Die Bürger im Allgemeinen und die Familien und Lehrkräfte im Besonderen müssen nach Auffassung des EWSA ebenfalls entsprechend informiert und geschult werden, um ihrem Schutzauftrag gegenüber den Minderjährigen besser gerecht werden zu können.

1.9

Der EWSA fordert die Werbungtreibenden und Sponsoren auf, im Rahmen von bestehenden und künftigen Selbst- und Koregulierungsinitiativen ein möglichst hohes Schutzniveau für die Kinderrechte festzulegen und anzuwenden und seine Einhaltung durchzusetzen.

1.10

Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass der gemeinschaftliche Rechtsrahmen den aktuellen Erfordernissen hinsichtlich der Wahrung der Kinderrechte in Bezug auf Werbemitteilungen – insbesondere wenn sie über audiovisuelle Medien, das Internet und soziale Netzwerke verbreitet werden – nicht gerecht wird, und ersucht die Kommission, dringend die Notwendigkeit von restriktiveren übergreifenden Maßnahmen zu prüfen, um diese Rechte wirksam zu gewährleisten.

1.11

Der EWSA appelliert an das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, entschlossen an der seit langem praktizierten Verteidigung der Kinderrechte in diesem speziellen Bereich festzuhalten.

2.   Auswirkungen von Werbung auf Kinder

2.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss spricht sich für eine soziale Marktwirtschaft aus, die entsprechend reguliert wird, um einen gesunden und fairen Wettbewerb und ein hohes Verbraucherschutzniveau zu fördern. Ziel ist die Schaffung eines Binnenmarkts als Instrument zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Bürgerinnen und Bürger unter Achtung der Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit und unter Einhaltung der Menschenrechte.

2.2

Vor diesem Hintergrund erkennt der EWSA an, dass die Werbung in all ihren Erscheinungsformen eine sehr wichtige Rolle spielt, die von der International Advertising Association (IAA) zusammengefasst wurde, wobei insbesondere folgende Aspekte zu nennen sind: Verbreitung von Innovation, Anregung zu Kreativität und Unterhaltung, Wettbewerbsanreize und Erhöhung der Wahlmöglichkeiten. Der EWSA erkennt gleichfalls an, dass die Werbung eine wichtige Funktion bei der Information und Aufklärung der Verbraucher erfüllt, was der Grund und die Basis für ihre Regulierung auf Gemeinschaftsebene ist.

2.3

In einer Stellungnahme dieser Art und mit dieser Zielsetzung wäre es natürlich angezeigt, dem generellen Einfluss der Medien ein gesondertes Kapitel zu widmen, insbesondere dem des Fernsehens, des Internets und der sozialen Netzwerke, die sich zu den wichtigsten Trägern von Werbebotschaften an Kinder und Jugendliche in ihrer Rolle als Nutzer oder bloße passive Zuschauer entwickelt haben. Es wäre auch wichtig zu untersuchen, wie Kinder je nach Alter oder sozialer Herkunft unterschiedlich mit den sozialen Medien umgehen, einschließlich des bekannten Phänomens der Wahl von "Idolen" und "sozialen Verhaltensmustern" bzw. "Lebensstilen" als Mittel zur Definition ihrer Persönlichkeit, die durch Werbemethoden ausgenutzt werden (2). Allerdings müssen aus Platzgründen alle mit dem Thema verknüpften Aspekte als vertraut, bekannt und unstrittig vorausgesetzt werden, vor allem was die gegenwärtige Rolle der vorgenannten Medien bei der Information, allgemeinen und schulischen Bildung und Unterhaltung von Jugendlichen sowie die von Jugendlichen dafür aufgebrachte Zeit betrifft; einige dieser Themen werden in anderen bereits ausgearbeiteten bzw. in Arbeit befindlichen Stellungnahmen des EWSA behandelt (3).

3.   Werbung, bei der Kinder als Träger verschiedenartiger Werbebotschaften eingesetzt werden

3.1

In Bezug auf Werbung, bei der Kinder eingesetzt werden, sind die Aspekte der Menschenwürde und der Rechte des Kindes herauszustellen, die insbesondere in einer Reihe von auf internationaler und EU-Ebene geschlossenen Konventionen verankert sind, namentlich in der Charta der Grundrechte (Art. 1 und 2 c) und vor allem Art. 24 und 32).

3.2

Nach Auffassung des EWSA besteht die Notwendigkeit einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene mit dem Ziel eines allgemeinen Verbots von Werbung, bei der Bilder von Kindern auf unangemessene Weise und missbräuchlich in Themenbereichen eingesetzt werden, die keinen Bezug zu Kindern haben.

4.   Besonders an Kinder gerichtete Werbung

4.1

Kinder nehmen bis zu einem bestimmten Alter Werbebotschaften ungefiltert auf, insbesondere dann, wenn ein und derselbe Werbespot immer und immer wieder wiederholt wird; sie neigen deshalb dazu, alle Botschaften für wahr zu halten, und können so zum Konsumzwang verleitet werden. Diese Wirkung ist umso stärker, je mehr ein Kind durch sein wirtschaftliches und soziales Milieu benachteiligt ist. Auch die in Werbung enthaltenen Mitteilungen und Warnungen werden von Kindern nicht verstanden und können somit nicht als Präventions- und Abschreckungsfaktor angesehen werden.

4.2

Andererseits variiert die Wahrnehmung von Werbung in Abhängigkeit von der Altersgruppe. Bis zum Alter von fünf Jahren sind Kinder nicht im Stande, die Unterschiede zwischen Sendungen und Werbespots zu begreifen, und selbst jenseits dieses Alters erkennen sie nicht die persuasive Funktion von Werbung. Diese Fähigkeit entwickelt sich erst mit ungefähr acht Jahren, und das auch nicht bei allen Kindern. Dies bedeutet aber nicht, dass sie verstehen können, dass Werbebotschaften tendenziös sind, weil sie nur die positiven Aspekte eines Produkts herausstellen und dessen negativere Aspekte ausklammern.

4.3

Wenn ältere Kinder einen Werbespot als Unterhaltungsfaktor betrachten, ist die Wirkung noch stärker, und ihre größere Fähigkeit zur Verarbeitung von Werbebotschaften macht sie nicht zwangsläufig für Werbung und deren Intentionen unempfänglich, da ihr Verhalten mit anderen raffinierteren und ebenso wirksamen Persuasionstechniken beeinflusst werden kann.

4.4

Die Entwicklung kognitiver und interpretativer Fähigkeiten mithilfe von Bildungsprogrammen zur Förderung der Medienkompetenz wirkt sich positiv auf den Umgang mit Werbung aus. Eine größere Medienkompetenz und ein besseres Verständnis der Mechanismen und Wirkungen von Werbung aufseiten von Kindern und Eltern ist jedoch kein Allheilmittel für sämtliche schädlichen Auswirkungen von an Kindern gerichteter Werbung. Es ist entscheidend, Kinder von frühester Jugend an mittels Förderung ihrer Medienkompetenz und Eigenverantwortung auf ihre Rolle als künftige Verbraucher vorzubereiten. Dies löst jedoch nicht unmittelbar das Problem übermäßiger und repetitiver Werbung, und ebenso wenig können damit alle Kinder erreicht werden, besonders nicht diejenigen, die aus einem wirtschaftlich und sozial besonders benachteiligten Milieu stammen und von der schädlichen Wirkung von Werbung besonders stark betroffen sind.

4.5

Studien haben gezeigt, dass die Mittlerrolle der Familie wichtig ist, um die Folgen von Werbung abzuschwächen. Allerdings haben immer mehr Kinder, insbesondere sehr jungen Alters, in ihrem Zimmer Zugang zu Fernsehen und Internet, was die Nutzung dieser Medien zu einer einsamen und unkontrollierten Aktivität werden lässt. Ein anderer Faktor, der dazu führt, dass Kinder zunehmend Werbebotschaften und Marketingtechniken ausgesetzt sind, ist die wachsende Präsenz des Internets im Alltag auch sehr junger Kinder. In dem Entwurf eines Berichts, den das EP derzeit ausarbeitet, heißt es zu Recht: "Das Internet ist Spielgefährte der jungen Leute, und zwar oft mehr als Familie, Schule und Freunde" (4). Neuere Studien wie beispielsweise "KIDS ON LINE" haben gezeigt, dass 38 % der Kinder von 9 bis 12 Jahren schon Profile im Netz haben und dass dieser Prozentsatz für die 13- bis 16-Jährigen auf 78 % ansteigt. Viele Spielzeug- und Unterhaltungsfirmen verfügen über Internetportale, wo Kinder online spielen und Spaß haben können, sie aber auch zum Ziel von Überzeugungs- und Markenbindungsstrategien werden.

4.6

Insbesondere hinsichtlich der Verleitung zu übermäßigem Konsum, der zu Verschuldung führt, kann die auf Kinder ausgerichtete Werbekommunikation mitunter exzessive Verbrauchsgewohnheiten fördern, wobei Wünsche, die nicht den realen Notwendigkeiten entsprechen, künstlich geweckt und ein falscher Glücksbegriff geschaffen werden. Statistiken zufolge fühlen sich 54 % der Heranwachsenden dem Druck ausgesetzt, Produkte zu kaufen, nur weil ihre Freunde diese auch haben; mit anderen Worten: der Konsum wird schließlich zum Faktor für soziale Akzeptanz.

4.7

Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass Kinder bestimmter Werbung ausgesetzt sind, und der Tatsache, dass sie ihre Eltern um Anschaffungen bitten. Familiäre Konflikte in diesem Zusammenhang entstehen in allen Familien, aber vor allem in Familien mit sehr niedrigem sozioökonomischem Status, in denen Kinder die meiste Zeit vor dem Fernseher verbringen. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel oder geringerer Dialogfähigkeit sind es die einkommensschwachen Familien, die die Auswirkungen der Werbung letztlich am stärksten treffen.

4.8

Ein durch Werbung angeregtes übersteigertes Konsumverhalten hat auch zur Folge, dass sich Kinder und Jugendliche in großer Zahl bestimmten Marken zuwenden, was problematische Situationen für diejenigen schafft, die keinen Zugang zu diesen Marken haben. Zu diesen Situationen gehört der Markenzwang (brand bullying) an Schulen, der ernste Folgen für Kinder hat, die bestimmte Marken nicht verwenden. Hier kann es aufgrund der dadurch möglicherweise ausgelösten Verhaltensauffälligkeiten und starken Frustrationen unter Umständen zu Ausgrenzung, Gewalttätigkeit und einem großen Leidensdruck kommen, was wiederum zum Einstieg in die Kriminalität in Form von Diebstahl oder Raub führen kann.

4.9

In Bezug auf Werbung zur Anregung des Konsums von ungesunden Nahrungsmitteln und anderen Produkten, die für die körperliche und geistige Gesundheit schädlich oder gefährlich sein können, ist der Einfluss von Kindern auf die Entscheidungen über den Kauf von Lebensmitteln, insbesondere ihre Präferenz für Fertig- oder Schnellgerichte (fast food), hervorzuheben. Der Aufruf zu schlechten Ernährungsgewohnheiten ist eine Konstante in der Werbung für Kinder. Adipositas bei Kindern ist bereits ein enormes Problem. Consumers International zufolge ist jedes zehnte Kinder auf der Welt übergewichtig oder fettleibig; 22 Mio. Kinder unter fünf Jahren werden derzeit als übergewichtig eingestuft, wofür hauptsächlich der Verzehr von Produkten mit hohem Verarbeitungsgrad und Zucker- und Fettgehalt verantwortlich zu machen ist.

4.10

Zahlen belegen, dass Kinder insbesondere in Kinderprogrammen in hohem Maße Werbung ausgesetzt sind, die sich auf Lebensmittel bezieht, und sich dieser Trend verstärkt, weil die Kinder zunehmend Fernsehen, Internet oder soziale Netzwerke nutzen. Zum anderen hat sich die Art der Werbebotschaften verändert, weil sie nun auf raffinierteren Produktvermarktungsmethoden beruhen und damit "überzeugender" sind (5).

4.11

Werbung kann auch Konsequenzen im Hinblick auf Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie haben. Kinder oder Heranwachsende sind mit dem Körper- und Erscheinungsbild der in der Reklame gezeigten jungen Menschen konfrontiert. Der Einfluss der Darstellung schlanker Körper auf Jugendliche – vor allem Mädchen – verstärkt ein Schönheitsideal, das ein mitunter lebensgefährliches Essverhalten fördert.

4.12

Der Amerikanische Psychologenverband ist sogar der Auffassung, dass an Kinder unter acht Jahren gerichtete Werbung eingeschränkt (oder verboten) werden sollte, weil Kinder in diesem Alter nicht in der Lage sind, die persuasive Intention der Werbung zu verarbeiten. Ziel dieses Verbots wäre die Begrenzung der negativen Folgen von Werbung hinsichtlich der Förderung eines ungesunden Essverhaltens, der Auseinandersetzungen zwischen Eltern und ihren Kindern über die Anschaffung der beworbenen Produkte und der Gewaltdarstellung (6).

4.13

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Anliegen, die sich bereits in den Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten (7) und nichteuropäischer Länder niedergeschlagen haben, auf Gemeinschaftsebene aufgegriffen werden sollten. Dabei sollte ein Mindestalter für speziell an Kinder gerichtete Werbung festgelegt werden, wie dies bereits in dem Bericht von MdEP Kyriacos Triantaphyllides (8) vorgeschlagen und in der Entschließung des EP vom 22. Mai 2012 (9) bekräftigt wurde.

5.   Werbung, die sich auf Kinder auswirkt

5.1

In Bezug auf Werbung, die – auch wenn sie nicht speziell an diese Zielgruppe gerichtet ist – gravierende Auswirkungen auf die psychische und moralische Entwicklung von Kindern haben kann, sind die Fälle von Werbung, die zu Gewalt oder zu gewissen gewalttätigen Verhaltensweisen anregt, herauszustellen, z.B. Werbung für den Verkauf von gewaltverherrlichenden Spielzeugen oder Spielen.

5.2

Zuverlässige Studien zeigen die schädlichen Wirkungen der Gewaltdarstellung in bestimmten über die audiovisuellen Medien verbreiteten Werbespots, die insbesondere ein aggressives Verhalten, eine größere Gewaltbereitschaft und eine gesteigerte Streitsucht fördert. Die Aufnahme von Gewaltdarstellungen kann die mentale Gesundheit beeinträchtigen und Beklemmungen, Ängste, Schlafstörungen und Hyperaktivität zur Folge haben.

5.3

In der Werbung für Produkte, die gesundheitsschädlich sein können, z.B. Alkohol oder Tabak, werden immer mehr Prominente eingesetzt. Die Verbindung zwischen einem als attraktiv geltenden Lebensstil und diesen Produkten fördert die Konsumbereitschaft und lässt diese Produkte in einem positiven Licht erscheinen.

5.4

Werbung mit erotischen oder pornografischen Inhalten, die einem perversen, pervertierten oder exzessiven Sexualverhalten Vorschub leistet, hat ebenfalls Auswirkungen auf die normale geistige und moralische Entwicklung von Kindern. Ein wesentliches Element der Werbung ist der sexuelle und sexistische Aspekt und die Darstellung von Frauen als Lustobjekte – oft in einer Position der Unterlegenheit oder Unterwerfung, wenn nicht sogar der Unterdrückung. Zudem führen die sexuellen oder erotischen und sogar pornografischen Inhalte zu einer frühzeitigen Sexualisierung von Kindern. Obgleich bereits einige renommierte Marken dazu gezwungen wurden, Reklamen zurückzuziehen, weil sie die Übersexualisierung von Kindern förderten und weil die missbräuchliche Verwendung der Körper von Minderjährigen von der Zivilgesellschaft geächtet wird, existiert auf EU-Ebene keine klare rechtliche Definition für derartige Fälle.

5.5

Dieser Bereich ist zwar bereits in einigen Mitgliedstaaten geregelt, aber auf eine sehr unterschiedliche Weise, was das einwandfreie Funktionieren des Binnenmarktes behindert und nicht durch grundlegende kulturelle Unterschiede gerechtfertigt ist; er muss daher ebenfalls auf Gemeinschaftsebene Berücksichtigung finden.

6.   Der gemeinschaftliche Rechtsrahmen und seine offensichtlichen Defizite

6.1

Im Hinblick auf den bestehenden Rechtsrahmen muss festgestellt werden, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und die in der Werbebranche angewandten Verfahren im Bereich der Werbung (d.h. der kommerziellen Kommunikation im weitesten Sinne) in Bezug auf Kinder in den einzelnen Mitgliedstaaten alles andere als einheitlich sind.

6.2

Der gemeinschaftliche Rechtsrahmen seinerseits ist unnötig komplex und zu verworren und wurde in den meisten Fällen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich in nationales Recht umgesetzt und angewendet, wie die Kommission selbst in ihrer Mitteilung "Ein kohärenter Rahmen zur Stärkung des Vertrauens in den digitalen Binnenmarkt für elektronischen Handel und Online-Dienste" (10), ihrem Bericht "Schutz der Kinder in der digitalen Welt" (11) und ihrer Mitteilung "Europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder" (12) einräumt. Die meisten Mitgliedstaaten haben sich auf eine minimalistische Umsetzung der EU-Richtlinien beschränkt; in anderen (13) finden strengere Rechtsvorschriften Anwendung, die bis zum Verbot der Werbung für Minderjährige reichen (14).

6.3

Richtigerweise ist in keiner dieser Bestimmungen die Durchführung von Vorabkontrollen zum Schutz Minderjähriger und der Menschenwürde im Einklang mit den Grundprinzipien der Meinungsfreiheit vorgesehen, wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anwendung der einschlägigen Europäischen Konvention fest verankert.

6.4

Der grundlegende Fehler geht jedoch auf die Empfehlung des Rates von 1998 zur "Verwirklichung eines vergleichbaren Niveaus in Bezug auf den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde" zurück, in der die "Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industriezweigs der audiovisuellen Dienste und Informationsdienste" in den Vordergrund gestellt wird. Darin werden der Europäischen Union keine legislativen Befugnisse für ein Tätigwerden bei audiovisuellen oder Online-Inhalten eingeräumt, die Minderjährigen schaden oder die Menschenwürde verletzen (15), und derartige Aspekte letztlich als "Fragen der guten Sitten und des Anstands" angesehen, die nicht in den Geltungsbereich der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften fallen (16).

6.5

Als allgemein verbindliche Regelung wird den Mitgliedstaaten lediglich vorgeschrieben, dass Fernsehsendungen (die hier dem Verständnis nach auch Werbemitteilungen umfassen) keine Programme enthalten dürfen, die die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Minderjährigen schwer beeinträchtigen können, insbesondere solche, die Szenen mit Pornografie oder grundlosen Gewalttätigkeiten zeigen, es sei denn, ihre Ausstrahlung wird durch "akustische Zeichen" angekündigt oder durch "optische Mittel" kenntlich gemacht, mit Ausnahme der Sendungen, bei denen durch die "Wahl der Sendezeit" oder durch "sonstige technische Maßnahmen" dafür gesorgt wird, "dass diese Sendungen von Minderjährigen im Sendebereich üblicherweise nicht gesehen oder gehört werden".

6.6

Mit dem Argument, dass es "zunehmend Möglichkeiten für die Zuschauer [gibt, …] Werbung zu umgehen", und unter Vernachlässigung der besonderen Merkmale eines Kindes als passiver Zuschauer sehen die geltenden Vorschriften keine Beschränkungen von Werbeeinschüben mehr vor, sofern sie den Gesamtzusammenhang der Programme nicht schwer beeinträchtigen.

6.7

Auf Gemeinschaftsebene ausdrücklich verboten ist heute lediglich die Werbung für Tabakerzeugnisse, für Arzneimittel und medizinische Behandlungen, die nur auf ärztliche Verordnung erhältlich sind, und die "Schleichwerbung" und die "unterschwellige Werbung". Nicht untersagt ist jedoch die "Produktplatzierung" (obgleich es heißt, sie "sollte grundsätzlich verboten sein"), "sofern die Zuschauer angemessen auf das Bestehen einer Produktplatzierung hingewiesen werden", und die Werbung für alkoholische Erzeugnisse, die strengen Kriterien unterworfen ist.

6.8

Lediglich hinsichtlich des letzten Aspekts ist festgelegt, dass sich die Werbung nicht speziell an Minderjährige richten darf. Im Hinblick auf alle anderen Aspekte der Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung von Minderjährigen, wie zum Beispiel Werbung, die Kinder direkt (oder ihre Eltern indirekt) zum Kauf der beworbenen Güter oder Dienstleistungen unter Ausnutzung ihrer Unerfahrenheit oder Leichtgläubigkeit veranlasst, oder Werbung in "Kindersendungen […, die] Lebensmittel und Getränke betrifft, die Nährstoffe oder Substanzen mit ernährungsbezogener oder physiologischer Wirkung enthalten, insbesondere solche wie Fett, Transfettsäuren, Salz/Natrium und Zucker", wird in den geltenden Rechtsvorschriften nur auf allgemeine Empfehlungen oder auf "Verhaltenskodizes" verwiesen.

6.9

Auch muss betont werden, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zwar eine Bestimmung zum Schutz "einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern" vorsieht, die insbesondere aufgrund von "Alter oder Leichtgläubigkeit" für derartige Geschäftspraktiken anfällig sind, jedoch weder als Rechtsvorschrift zur Verhinderung solcher Praktiken ausgelegt, noch in diesem Sinne in den Mitgliedstaaten umgesetzt und angewandt wird (17).

6.10

Neben diesen Bestimmungen des EU-Rechts werden in anderen Rechtsinstrumenten wie Konventionen die Grundprinzipien definiert, auf die sich ihrerseits die jüngsten Entwicklungen des Unionsgrundrechts (Lissabon-Vertrag und Grundrechtecharta) stützen.

6.11

Gleichzeitig haben die Vertreter der Werbebranche sowohl auf internationaler Ebene als auch in den einzelnen Mitgliedstaaten eine Reihe von Bestimmungen zur Selbstregulierung für ihre Geschäftspraktiken erlassen und damit deutlich ihr Engagement für den Kinderschutz unter Beweis gestellt, was insbesondere für die European Advertising Standards Alliance (EASA) gilt (18). Dies tut jedoch der in internationalen und EU-Gremien wiederholt bekräftigten Forderung keinen Abbruch, dass Kinder in hohem Maße respektiert und geschützt werden müssen, um – unter Berücksichtigung ihrer Belange, ihres Wohlergehens und des Erhalts des familiären Umfelds und Zusammenhalts – ihre körperliche, geistige und sittliche Entwicklung sicherzustellen.

7.   Werbung für Kinder und Jugendliche und Verwirklichung des Binnenmarkts

7.1

Werbung und Marketing sind in Europa ein stark wettbewerbsgeprägter Markt, der den Schwankungen von Modetrends unterliegt und besonders sensibel auf die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise reagiert. Deutliche Unterschiede in den nationalen Rechtsvorschriften über Werbung können nicht nur die Ergebnisse beeinflussen, sondern auch eine Hürde für die Tätigkeit auf dem Binnenmarkt und eine Quelle für Diskriminierung und weniger fairen Wettbewerb sein. Insbesondere im Bereich der Werbung für Kinder und Jugendliche, der derzeit stark expandiert, führen deutliche Unterschiede in den nationalen Rechtsvorschriften und unterschiedliche Anforderungen dazu, dass die Werbeunternehmen unter ungleichen Bedingungen arbeiten, weshalb sie mehr Geld für die Anpassung ihrer Kampagnen an die verschiedenen gesetzlichen Anforderungen und Bedingungen ausgeben müssen. Dies leistet zudem weniger fairen Wettbewerbspraktiken zur Umgehung der genannten Schwierigkeiten und zur Gewinnung von Marktanteilen Vorschub. Eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften durch Festlegung europaweit gleichartiger Bedingungen zwecks Verwirklichung des Binnenmarkts in diesem Bereich kann entscheidend zu einem transparenteren Markt beitragen, in dem alle Werbeunternehmen ihre Geschäftstätigkeit entwickeln und sich dabei auf ihre Kompetenzen und Fähigkeiten zur wirksamen Befriedigung der Verbraucherbedürfnisse stützen können, anstatt die rechtlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zulasten eines gesunden und fairen Wettbewerbs auszunutzen.

8.   Rechtsgrundlage für ein abgestimmtes Vorgehen auf Gemeinschaftsebene im Bereich der Werbung für Kinder und Jugendliche

8.1

Bislang wurden als Rechtsgrundlage für die gemeinschaftlichen Richtlinien zur Regelung der Werbung in der Europäischen Union im Allgemeinen die Bestimmungen des Vertrags herangezogen, die sich auf die Vollendung des Binnenmarktes beziehen (heute sind dies – allerdings in stark veränderter Form – Artikel 26 und 114). Dies ist ein wichtiges Anliegen, sollte aber nicht das einzige sein. Für andere gemeinschaftliche Rechtsetzungsinitiativen, die spezifischer auf Fernsehsendungen abzielen, wurden als Rechtsgrundlage dagegen jene Bestimmungen herangezogen, die seinerzeit für das Niederlassungsrecht und für Dienstleistungen galten und die den heutigen Artikeln 49 ff. und 56 ff. (allerdings in stark veränderter Form) entsprechen. Bei den Initiativen jüngeren Datums im Bereich Kinderschutz und Kinderpornografie, die aber bereits vor dem Vertrag von Lissabon ergriffen wurden, dienten die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in Strafsachen als Rechtsgrundlage.

8.2

Es soll daran erinnert werden, dass im jetzigen Lissabon-Vertrag wesentliche Änderungen in all diesen Aspekten festgeschrieben wurden und der Vertrag ein ganzes Spektrum neuer Möglichkeiten für ein Tätigwerden der Gemeinschaft bietet, die es auszulegen und anzuwenden gilt. Die wichtigste Neuerung war die Aufnahme der Europäischen Charta der Grundrechte in das EU-Primärrecht, gefolgt von der Änderung der Rechtsnatur der Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen und schließlich von den Änderungen an zahlreichen Bestimmungen des Vertrags, z.B. denen bezüglich der Vollendung des Binnenmarktes, des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Menschenwürde. Erst vor kurzem stützte sich die Kommission bei ihrem Verordnungsvorschlag im Bereich des Datenschutzes auf die Europäische Grundrechtecharta und die angeführten neuen Bestimmungen des Lissabon-Vertrags.

8.3

Die Frage der Werbung für Kinder und Jugendliche betrifft in erster Linie die Rechte der Bürger und den Schutz der Grundrechte, wobei die bereits angeführten Artikel 1, 3, 24, 33 und 38 der Charta als materielle Rechtsgrundlage für die Notwendigkeit eines Handelns auf Gemeinschaftsebene bei weitem ausreichen. Dazu sollten sicherlich auch die Artikel 2, Artikel 3 Absatz 5 und Artikel 6 EUV sowie die Artikel 4, 9 und 10 AEUV hinzugerechnet werden.

8.4

Auf diesem Gebiet spielen neben den Regierungen der Mitgliedstaaten, die sowohl auf der Ebene des Rates als auch im Bereich der Verstärkten Zusammenarbeit (nach Art. 20 AEUV) agieren, auch die nationalen Parlamente eine wichtige Rolle gemäß Artikel 12 AEUV – und diese sollten sie wahrnehmen.

8.5

Die Vollendung des Binnenmarktes gehört ebenfalls zu den Hauptzielen in diesem Bereich, was durch Artikel 3 Absatz 3 EUV und die Artikel 26 und 114 ff. AEUV abgedeckt wird. Darüber hinaus bieten Artikel 12 und 169 AEUV neue Möglichkeiten im Hinblick auf den Verbraucherschutz. In Bezug auf Verfahrensfragen liefern Artikel 67 ff. und insbesondere die Artikel 81 und 82 AEUV die Grundlagen für einen zivil- und strafrechtlichen Rahmen, mit dem die Rechtsvorschriften über den Kinder- und Jugendschutz in diesem Bereich vervollständigt werden können.

8.6

Abschließend ist festzustellen, dass eine Regelung dieses Bereichs auf Gemeinschaftsebene insofern die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wahrt (Artikel 5 Absatz 3 und 4 EUV), als dieses Ziel wegen des grenzüberschreitenden Charakters nicht in ausreichendem Maße durch die Mitgliedstaaten verwirklicht werden kann. Das Ziel dieser Initiative lässt sich daher im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip besser auf Unionsebene erreichen. Außerdem sollte sich der Geltungsbereich der Initiative auf die Aspekte beschränken, bei denen konkrete Probleme bestehen, und jene Fragen aussparen, die durch nationale Rechtsvorschriften angemessener geregelt werden können, womit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprochen würde.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Dieser Vorschlag führte zur Verabschiedung von Beschluss Nr. 1351/2008/EG – ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 118.

(2)  Unter einer Vielzahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema, die hier nicht aufgeführt werden sollen, verdient ein Dokument aufgrund seiner Wichtigkeit besondere Beachtung, nämlich die von der Generaldirektion Interne Politikbereiche der Union des Europäischen Parlaments vorgelegte Studie zum Thema "Das Werberecht und seine Auswirkungen im Zeichen der neuen Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste"(04/2009).

(3)  Siehe die Stellungnahmen ABl. C 287 vom 22.9.1997, S. 11; ABl. C 407 vom 28.12.1998, S. 193; ABl. C 48 vom 21.2.2002, S. 27; ABl. C 61 vom 14.3.2003, S. 32; ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 52; ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 136; ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 87; ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65; ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 61; ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 8; ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 69; ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 138; ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 154; ABl. C 43 vom 15.2.2012, S. 34; ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90; Stellungnahmen "Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken", (Siehe Seite 31 dieses Amtsblatts), und Stellungnahmen "Europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder", (Siehe Seite 68 dieses Amtsblatts).

(4)  Entwurf eines Berichts vom 2.4.2012 über den Schutz von Minderjährigen in der digitalen Welt, Ausschuss für Kultur und Bildung des EP, Berichterstatterin: Sílvia Costa, (PE486.198v01-00), abzurufen unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+COMPARL+PE-486.198+01+DOC+WORD+V0//DE&language=DE.

(5)  In Australien sehen laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 Kinder zwischen 5 und 12 Jahren im Durchschnitt pro Woche 96 Werbespots für Nahrungsmittel, davon 63 für Nahrungsmittel mit einem hohen Fett- oder Zuckergehalt (Kelly, B. P., Smith, B. J., King, L., Flood, V. M. & Bauman, A. (2007) "Television food advertising to children: the extent and nature of exposure", Public Health Nutrition, Bd. 10, Nr.. 11, S. 1234-1240. Copyright Cambridge University Press.) In den Vereinigten Staaten hat eine 2007 durchgeführte Studie gezeigt, dass sich 27,2 % der TV-Inhalte außerhalb des eigentlichen Programms auf Nahrungsmittel beziehen, d.h. durchschnittlich 23 Werbespots pro Tag (Powell L.M., Szczypka G., Chaloupka F.J. (2007) "Exposure to Food Advertising on Television Among US Children", Archives of Pediatric and Adolescent Medicine, Bd. 161, S. 553-560).

(6)  http://www.apa.org/pi/families/resources/advertising-children.pdf.

(7)  Fünf Mitgliedstaaten verbieten derzeit Werbung in Kindersendungen. Vier Mitgliedstaaten haben ein teilweises Verbot oder andere Beschränkungen für Werbung in Kindersendungen erlassen, entweder zu bestimmten Sendezeiten oder für bestimmte Produkte, und sieben Mitgliedstaaten untersagen, dass in Kindersendungen die Logos von Sponsoren gezeigt werden. Vgl. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:52012DC0203:DE:NOT.

(8)  A7 – 0369/2011 vom 21.10.2011.

(9)  A7-0155/2012, insbesondere die Ziffern 24, 28 und 29 (Berichterstatterin: Maria IRIGOYEN PÉREZ).

(10)  COM(2011) 942 final vom 11.1.2012.

(11)  COM(2011) 556 final vom 13.9.2011.

(12)  COM(2012) 196 final vom 2.5.2012.

(13)  Siehe Fußnote 6.

(14)  Im Falle Schwedens übrigens Gegenstand eines EuGH-Urteils vom 9. Juli 1997, in dem die Vereinbarkeit mit dem EU-Recht bestätigt wurde (Rechtssache Konsumentombudsmannen gegen De Agostini (Svenska) Förlag AB und TV-Shop i Sverige AB (C-34/95 und C-35/95)).

(15)  In seiner im ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 87, veröffentlichten Stellungnahme wendet sich der EWSA ganz klar gegen diese Auffassung.

(16)  Siehe Richtlinie 2005/29/EG vom 11. Mai 2005, siebter Erwägungsgrund (ABl. L 149 vom 11.6.2005).

(17)  Richtlinie 2005/29/EG vom 11. Mai 2005, Art. 5 Absatz 3 (ABl. L 149 vom 11.6.2005). Laut einer unlängst veröffentlichten begrüßenswerten Mitteilung scheint die Kommission jedoch zu erwägen, sich mit der "Verwendung dubioser oder unzulässiger Werbebotschaften" zu beschäftigen, wobei zu hoffen ist, dass dabei auch die hier angeprangerten Praktiken berücksichtigt werden (COM(2011) 942 final vom 11.1.2012).

(18)  Diesbezüglich ist das von der GD CNECT der Europäischen Kommission bekundete Interesse an der Aufstellung eines EU-weiten Verhaltenskodexes (19.3.2012) hervorzuheben.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/12


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Rechte gefährdeter Gruppen am Arbeitsplatz — Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/03

Berichterstatter: Thomas JANSON

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Rechte gefährdeter Gruppen am Arbeitsplatz — Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 130 gegen 4 Stimmen bei 14 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedeutet eine Gefahr sowohl für die auf den Menschenrechten basierende Demokratie als auch für die Wirtschaftsentwicklung in der Europäischen Union. Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) hat die EU die Verantwortung, hinsichtlich der Zielsetzungen der diesbezüglichen Bemühungen einen koordinierten Ansatz zu verfolgen (1).

1.2   Eine wirksame Bekämpfung von Diskriminierung erfordert aktive Maßnahmen, die auf der Teilhabe der verschiedenen Akteure gründen und bei denen die Vertreter diskriminierter Gruppen mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten.

1.3   Der EWSA stellt in dieser Stellungnahme fest, dass hinsichtlich der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung intensivere Bemühungen erforderlich sind, um die Gefahr zu verringern, ihr zum Opfer zu fallen. Dies umfasst die Bereitstellung von mehr Ressourcen für die Erforschung von Diskriminierung am Arbeitsplatz sowie die Aufstellung eines Fahrplans für das Erreichen des Ziels der Nichtdiskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung.

1.4   Die Wirtschafts- und Sozialkrise hat ganz eindeutig schwerwiegende Konsequenzen für benachteiligte Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Durch die derzeit vorgenommenen Einschnitte bei den Sozialsystemen in der EU steigt die Arbeitslosigkeit, und auch die Gefahr von Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und anderen diskriminierenden und verletzenden Aussagen und Handlungen nimmt zu. Nach Auffassung des EWSA sollten die EU und die Mitgliedstaaten die Risiken für benachteiligte Gruppen aufgrund der aktuellen Kürzungen besser und offener einschätzen und Maßnahmen zu ihrer Verringerung ergreifen.

1.5   Der EWSA stellt fest, dass innerhalb der Union große Unterschiede in Bezug auf die Behandlung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen (LGBT) (2) bestehen, und ist angesichts ihrer Diskriminierung ernsthaft besorgt. Diese Diskriminierung bedroht die grundlegenden Werte der Europäischen Union und die Freizügigkeit.

1.6   Der EWSA fordert die Kommission auf, einen Fahrplan gegen die Diskriminierung von LGBT-Personen aufzustellen, und betont die Bedeutung der Integration der LGBT-Perspektive in alle Politikbereiche.

1.7   Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und den Regierungen, um Stereotype zu bekämpfen und ein größeres Bewusstsein für die Rechte von LGBT-Personen zu schaffen. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung und der Geschlechtszugehörigkeit muss in den Diskussionen und Verhandlungen der Sozialpartner berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang möchte der EWSA auf die Möglichkeiten zur Netzwerkbildung hinweisen, die Chancengleichheit und Offenheit am Arbeitsplatz fördern können.

1.8   Der EWSA betont, dass es wichtig ist zu wissen, was in den Gesetzen und Rechtsvorschriften der EU über Diskriminierung am Arbeitsplatz sowohl für den Einzelnen als auch für Arbeitgeber und Gewerkschaften ausgesagt wird. Fast 45 % der EU-Bürgerinnen und -Bürger wissen nicht, dass es Gesetze gibt, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verbieten. Der EWSA sieht hier einen Bedarf an gezielten Informationskampagnen, um dieses Problem zu überwinden.

1.9   Der EWSA ist sich der spezifischen Problematik bewusst, mit der viele Transgender-Personen konfrontiert sind, und sieht die Notwendigkeit, diese spezifische Problematik in einer gesonderten Stellungnahme aufzugreifen.

2.   Gründe für die Bekämpfung von Diskriminierung

2.1   Die Europäische Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie sowie auf der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Mit Artikel 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erhielt die Europäische Union eine Rechtsgrundlage für "geeignete Vorkehrungen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung". Die Bekämpfung und Prävention aller Formen von Diskriminierung ist für die Legitimität der EU von größter Bedeutung. Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält das Verbot von Diskriminierungen u.a. wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung.

2.2   Zur Durchführung der Ziele des Vertrags wurden einige Richtlinien erlassen, z.B. die Richtlinie 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und die Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft. Der Schutz vor Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts oder der Rasse ist viel umfassender als der Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Religion und der Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung und der sexuellen Ausrichtung, was die Entscheidung eines Menschen in Bezug auf Beruf, Studium oder auch Reisen in ein anderes EU-Land beeinflussen kann.

2.3   Bei der Gleichbehandlung geht es vor allem um die Förderung der Menschenrechte, daneben aber auch darum, alle Ressourcen in der Europäischen Union bestmöglich zu nutzen. Diskriminierung bedeutet eine Verschwendung von Ressourcen und führt für die betroffenen Gruppen zu sozialer Ausgrenzung. Durch die aktuelle tiefgreifende Wirtschafts- und Sozialkrise in der EU, in der viele Staaten Kürzungen in ihrem Wohlfahrtssystem und bei den Löhnen vorgenommen haben, wird die Lage der am stärksten gefährdeten Gruppen erschwert. Die verschiedenen Antidiskriminierungsrichtlinien der EU sind daher von wesentlicher Bedeutung für den Schutz von diskriminierungsgefährdeten Gruppen und die Förderung ihrer Integration in den Arbeitsmarkt. Den Mitgliedstaaten obliegt die große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Intentionen der Antidiskriminierungsrichtlinien in die Tat umgesetzt werden.

2.4   Der EWSA hat in einer Reihe von Stellungnahmen seine Standpunkte zu den einzelnen Diskriminierungsgründen vorgetragen. Er begrüßte den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (2000/43/EG) (3). Der Ausschuss unterstützte auch die Idee, eine auf Beschäftigung und Beruf beschränkte spezifische Richtlinie vorzuschlagen, in der Diskriminierung aufgrund der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten wird. Der Ausschuss vertrat ferner den Standpunkt, dass für alle in den Mitgliedstaaten Ansässigen ein Mindestmaß an Schutz und Rechtsbehelfen gegen Diskriminierung gewährleistet werden muss. Er sprach sich für eine eingehendere Untersuchung und Entwicklung der wirtschaftlichen Argumente für eine Nichtdiskriminierung aus. Er bedauerte, dass diskriminierende Anweisungen oder die Ausübung von Druck zur Diskriminierung aus den angegebenen Gründen in der Richtlinie nicht erwähnt wurden.

2.5   Die Rahmenrichtlinie deckt sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierung ab. Mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn Personen in der Praxis aufgrund einer scheinbar nicht diskriminierenden Bestimmung bzw. eines scheinbar neutralen Kriteriums oder einer solchen Verfahrensweise benachteiligt werden können (4).

2.6   Der EWSA legte auch eine Stellungnahme zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung" (5) vor, deren Annahme immer noch aussteht. Der EWSA begrüßte den Richtlinienvorschlag, weil er zu EU-weit einheitlichen Schutzstandards gegen Diskriminierung aus allen Gründen nach Artikel 13 EGV (jetzt Artikel 19 AEUV) führen sollte. Er bedauerte jedoch, dass das Problem der Mehrfachdiskriminierung nicht ausreichend in der Richtlinie berücksichtigt wurde, und forderte die Kommission auf, eine Empfehlung zu dieser Frage vorzulegen. Der EWSA fordert den Rat auf, einen Beschluss in dieser Frage zu fassen, um die Rechte gefährdeter Personen zu stärken.

2.7   In seinen verschiedenen Stellungnahmen zu Diskriminierungsaspekten (z.B. in Bezug auf das Alter, Drittstaatsangehörige und Roma) hob der EWSA u.a. Folgendes hervor (6):

Es ist wichtig, die Antidiskriminierungsbemühungen in alle Handlungsbereiche zu integrieren und sie sowohl im EU-Haushalt als auch in den einzelstaatlichen Haushalten zu berücksichtigen.

Indikatoren sind erforderlich, um ein Bild der tatsächlichen Lage zu erhalten.

Die Durchführung der Antidiskriminierungsbemühungen sollte mit der Europa-2020-Strategie verknüpft werden.

Auf europäischer wie auch auf einzelstaatlicher Ebene sollten adäquate und effektive Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen ermittelt werden.

Eine quantitative und qualitative Verbesserung der Beschäftigung ist nötig, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit gefährdeter Gruppen sicherzustellen und zu verbessern.

Die familiären und häuslichen Verantwortlichkeiten müssen gerecht zwischen den Geschlechtern aufgeteilt und das Recht auf soziale Sicherheit individualisiert werden.

Institutionelle Strukturen sind aufzubauen, z.B. ein europäischer Ausschuss für Behindertenfragen.

Die Gefahr besteht, dass die Wirtschafts- und Sozialkrise in ganz Europa Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie verschärft.

Integration ist ein komplexer und langfristiger gesellschaftlicher Prozess mit mehreren Dimensionen und vielen Betroffenen, insbesondere auf lokaler Ebene.

2.8   Weder der EWSA noch die Kommission haben sich eingehend und spezifisch mit Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung beschäftigt. Es gibt auch keinen Fahrplan für die Verringerung der Diskriminierungsgefahr von LGBT-Personen. Der Schwerpunkt dieser Stellungnahme liegt auf dem Diskriminierungsgrund der sexuellen Ausrichtung, da der EWSA einen Bedarf an politischer Gestaltungsarbeit in diesem Bereich sieht. Gleichzeitig ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es mehrere weitere gefährdete Gruppen gibt, die von den Diskriminierungsgründen nicht erfasst werden, aber dennoch Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt einzutreten bzw. sich dort zu halten. Dies sollte in genereller Form Eingang in die gesamte Politikgestaltung finden.

3.   Die Lage von LGBT-Personen auf dem Arbeitsmarkt

3.1   Das Problem der Anwendung von Rechtsvorschriften  (7)

3.1.1

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat die Lage von LGBT-Personen 2009 in zwei Berichten (8) analysiert. Nachstehend einige Schlussfolgerungen der Grundrechteagentur: Eine erste Schlussfolgerung lautet, dass bei den Diskriminierungsgründen eine Hierarchie vorliegt, da der Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse und der ethnischen Herkunft stärker ist als vor anderen Diskriminierungsgründen. Trotzdem ist in den Mitgliedstaaten die Tendenz festzustellen, dass vor allen Diskriminierungsgründen gleichermaßen geschützt wird.

3.1.2

Der Grundrechteagentur zufolge sind 18 EU-Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Gleichbehandlungsrichtlinie bezüglich der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung über die Mindestanforderungen hinausgegangen. Die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat also Rechtsvorschriften eingeführt, die vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung außerhalb von Arbeit und Beruf schützen. In ca. 20 Mitgliedstaaten wurde eine Gleichstellungsstelle eingerichtet, die für die Behandlung von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung zuständig ist.

3.1.3

Die Grundrechteagentur greift in den Berichten auch die Möglichkeiten der Freizügigkeit für LGBT-Personen auf, die ein wichtiger Bestandteil des gemeinsamen Arbeitsmarkts in der EU ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Familienrecht in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt, was bedeutet, dass von Land zu Land unterschiedliche Vorschriften für gleichgeschlechtliche Paare gelten. Zudem gibt es in den einzelnen Ländern unterschiedliche Traditionen in Bezug auf die Einstellung z.B. zu gleichgeschlechtlichen Ehen und Partnerschaften. Dies bringt jedoch auch mit sich, dass es Probleme bei der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit geben kann.

3.1.4

Der Grundrechteagentur zufolge bestehen große Hindernisse für gleichgeschlechtliche Paare, wenn es darum geht, Rechte bezüglich der Freizügigkeit in Anspruch zu nehmen, egal ob sie verheiratet sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft bzw. in einer dauerhaften, stabilen Beziehung leben. Die Agentur macht darauf aufmerksam, dass dies in vielen Fällen mit einer unmittelbaren Diskriminierung verbunden ist und dass die Pflichten der Mitgliedstaaten im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie (9) geklärt werden müssten.

3.2   Gerichtshof der Europäischen Union

3.2.1

Der Gerichtshof hat in zwei Fällen unter Verweis auf Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung geurteilt: in der Rechtssache Römer und in der Rechtssache Maruko. In der Rechtssache Römer kam der Gerichtshof zu dem Urteil, dass die Gleichbehandlungsrichtlinie verbietet, dass ein in einer Lebenspartnerschaft lebender Versorgungsempfänger Zusatzversorgungsbezüge in geringerer Höhe erhält als ein verheirateter Versorgungsempfänger und dass eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung vorliegt, weil sich der genannte Lebenspartner im nationalen Recht hinsichtlich dieser Bezüge in einer rechtlichen und tatsächlichen Situation befindet, die mit der einer verheirateten Person vergleichbar ist.

3.2.2

In der Rechtssache Maruko urteilte der Gerichtshof auf ähnliche Weise, dass die Richtlinie einer Regelung entgegensteht, wonach der überlebende Partner nach Versterben seines Lebenspartners keine Hinterbliebenenversorgung entsprechend einem überlebenden Ehegatten erhält. Der Gerichtshof argumentierte jedoch auch, dass es Sache des nationalen Gerichts ist zu prüfen, ob sich ein überlebender Partner in einer mit der Situation eines Ehegatten oder einer Ehegattin vergleichbaren Situation befindet. Ferner wies der Gerichtshof auf die große Verschiedenartigkeit der Rechtsvorschriften in der Union sowie darauf hin, dass eine allgemeine Gleichstellung der Ehe mit den übrigen Formen gesetzlicher Lebenspartnerschaften fehlt.

3.3   Probleme mit Diskriminierung am Arbeitsplatz

3.3.1

Schwierigkeiten im Umgang mit der sexuellen Ausrichtung am Arbeitsplatz: Aus Untersuchungen geht hervor, dass LGBT-Personen häufig "unsichtbar" auf dem Arbeitsmarkt sind. Der Hauptgrund ist die Angst vor Repressalien, was in vielen Fällen auch dazu führt, dass der soziale Kontakt zu Kollegen vermieden wird, um nicht "geoutet" zu werden. Besonders groß war die Angst, die Vorgesetzten am Arbeitsplatz über die sexuelle Ausrichtung zu informieren. In bestimmten Bereichen, z.B. im Militär oder in der Kirche, ist die Offenheit erheblich geringer als im Durchschnitt.

3.3.2

Spezifische Probleme, die die Arbeit erschweren: LGBT-Personen nehmen auf dem Arbeitsmarkt eine Sonderstellung im Vergleich zu anderen gefährdeten Gruppen ein, da Offenheit in Bezug auf ihre sexuelle Ausrichtung Auswirkungen auf ihr Arbeitsleben hat. Häufig entwickeln LGBT-Personen Strategien, um ein "Outing" zu vermeiden, z.B. indem sie das Gesprächsthema wechseln oder eine Unterhaltung am Arbeitsplatz abbrechen. Aus Untersuchungen geht hervor, dass solch ständiges Lavieren am Arbeitsplatz Auswirkungen auf die Gesundheit und die Produktivität hat. Die negative Diskriminierung der Gruppe der Homosexuellen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der EU führt zu einer durch Scham begründeten, emotionalen sozialen Ausgrenzung. Dies wiederum hat Konsequenzen für den Einzelnen wie auch für die Teilhabe am Arbeitsmarkt. Der EWSA hält aktive Bemühungen der einzelnen EU-Institutionen für erforderlich, um dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken.

3.3.3

Probleme bei der Ausübung von Arbeitnehmerrechten: Wenn jemand aufgrund seiner sexuellen Ausrichtung diskriminiert wird, ist es wichtig, dass er Zugang zu Beschwerdemechanismen sowie zu einer nationalen Behörde hat, die mit der Behandlung von Beschwerden wegen einer solchen Diskriminierung betraut ist. In vielen Mitgliedstaaten ist eine solche Behörde schlicht und einfach nicht vorhanden.

3.3.4

Scheu vor der Beschwerdeerhebung: Die Zahl der dokumentierten Fälle von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung ist bemerkenswert gering. Wahrscheinlich ist dies darauf zurückzuführen, dass LGBT-Personen davor zurückscheuen, sich öffentlich zu outen, und möglicherweise darauf, dass sie ihre Rechte nicht kennen. Eine Beschwerde kann auch die Gefahr des Arbeitsplatzverlusts bergen. In manchen Fällen ist es wichtig, dass die Person, die Beschwerde erhebt, Schutz durch die Gesellschaft erhält, um negativen Folgen einer Beschwerde entgegenzuwirken.

3.3.5

Kenntnismangel: Aus einer Eurobarometer-Untersuchung ging hervor, dass das Wissen über Antidiskriminierungsvorschriften lückenhaft ist. Beinahe die Hälfte (45 Prozent) der EU-Bürgerinnen und -Bürger weiß nicht, dass es Gesetze gibt, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung bei der Einstellung neuer Mitarbeiter verbieten. Eine Studie des EGB zeigte auch bei Gewerkschaften einen Kenntnismangel über die Politik und die Maßnahmen bezüglich LGBT auf. Mangelndes Bewusstsein für Arbeitnehmerrechte spiegelt sich auch in einem generellen Informations- und Datenmangel über die Lage und Erfahrungen von Personen mit einer anderen sexuellen Ausrichtung wider. Aus Untersuchungen ging hervor, dass das Bewusstsein für die sexuelle Ausrichtung und die Geschlechtsidentität am Arbeitsplatz sehr gering ausgeprägt ist. Dieses generell gering ausgeprägte Bewusstsein hat zur Folge, dass es für Personen mit einer anderen sexuellen Ausrichtung sehr schwer ist, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften über Geschlechtsidentität oder Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung zu reden. Daher sind vor allem in den Bereichen, in denen der Kenntnisstand gering ist, Sensibilisierungsbemühungen erforderlich, um ein größeres Bewusstsein für die Rechte als EU-Bürger zu schaffen.

3.3.6

Rechtsschutz und andere Maßnahmen zur Verringerung von Diskriminierung. In einigen Ländern haben die Einführung eines Rechtsschutzes und eine bessere Förderung der Chancengleichheit auf der nationalen Ebene dazu beigetragen, das Bewusstsein in der gesamten Gesellschaft zu schärfen, was sich auch positiv auf Gewerkschaften und Arbeitgeber ausgewirkt hat. In der Untersuchung der Grundrechteagentur ist kaum von der Verantwortung der Arbeitgeber die Rede, was die Bedeutung der Verantwortung der Führungsebene unterstreicht. Diversity-Management und eine offene Kultur haben in Bezug auf LGBT-Personen einen positiven Einfluss auf den Arbeitsplatz. Diversity-Management verhindert Diskriminierung vielleicht nicht unbedingt, aber es ist ein wichtiger erster Schritt in einer Organisation.

3.3.7

Ausmaß der Diskriminierung: Einige Studien wurden durchgeführt, um das Ausmaß der Diskriminierung von LGBT-Personen auf dem Arbeitsmarkt zu ermitteln. Das Fazit lautet, dass fast die Hälfte dieser Gruppe am Arbeitsplatz bezüglich ihrer sexuellen Ausrichtung nicht offen ist und dass zwischen einem Drittel und der Hälfte derjenigen, die offen waren, unmittelbare Diskriminierung oder verletzende Äußerungen und Vorurteile am Arbeitsplatz erfahren hat.

3.3.8

In der EU wurden einige Projekte durchgeführt, an denen Arbeitgeber, Gewerkschaften und Ehrenamtliche beteiligt waren. Finanziell unterstützt wurden diese Projekte von der Kommission, was deren Legitimität unterstrichen hat. In Frankreich haben Gewerkschaften und Arbeitgeber in einer Branche ein Abkommen über die Frage der Gleichberechtigung gleichgeschlechtlicher Familien geschlossen, das "Accord sur l'égalité des droits des familles homoparentales". Der schwedische Gewerkschaftsverband Vision bietet eine Fortbildung zu LGBT-Fragen an, durch die für Diskriminierung am Arbeitsplatz sensibilisiert werden soll. Die Erfahrung zeigt, dass es gemeinsam durchaus möglich ist, die Lage von Personen mit einer anderen sexuellen Ausrichtung auf dem Arbeitsmarkt zu ändern. Der Ausschuss stellt mit Bedauern fest, dass derartige Maßnahmen eine Seltenheit sind, und ersucht deshalb die Europäische Kommission, die bewährten Methoden zu verbreiten, sowie die Sozialpartner, der Diskriminierung von LGBT-Personen am Arbeitsplatz deutlich aktiver entgegenzuwirken.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet: "Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten."

(2)  LGBT = lesbian, gay, bisexual, and transgender people.

(3)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 102.

(4)  Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.

(5)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 19.

(6)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 69, ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 1, ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 19; ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 81; ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 19; ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 102; ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 72, ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 26; ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 128; ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 115, ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 50; ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 95; ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 93.

(7)  Dieser Abschnitt basiert auf Berichten der Agentur für Grundrechte (FRA) und des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB).

(8)  "Homophobie und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung sowie der Geschlechtsidentität in den EU-Mitgliedstaaten: Teil I – Rechtliche Analyse" und "Homophobie und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung sowie der Geschlechtsidentität in den EU-Mitgliedstaaten: Teil II - Die soziale Lage".

(9)  Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund zur Wirtschaft der EU“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/04

Berichterstatterin: Brenda KING

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund zur Wirtschaft der EU“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 135 gegen 2 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   In den letzten zehn Jahren sind in der EU immer mehr Unternehmer mit Migrationshintergrund tätig geworden. Sie tragen zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bei, wobei sie häufig für eine Renaissance in Vergessenheit geratener Handwerksberufe sorgen und in zunehmendem Maße Mehrwertgüter und -dienste bereitstellen. Überdies schlagen sie wichtige Brücken zu internationalen Märkten und sind für die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt von Bedeutung, da sie nicht nur für sich selbst, sondern zunehmend auch für Einwanderer und Einheimische Arbeitsplätze schaffen (1).

1.2   Der wesentliche Beitrag, den Unternehmer mit Migrationshintergrund zu nachhaltigem Wachstum und nachhaltiger Beschäftigung leisten können, wird von der EU ausdrücklich gewürdigt. Diese Würdigung sollte jedoch nicht isoliert oder losgelöst von den unmittelbaren Schwerpunkten der politischen Entscheidungsträger der EU betrachtet werden. Vielmehr sollte die dynamische, nachhaltige und wachstumsorientierte Wirtschaftstätigkeit der Unternehmer mit Migrationshintergrund Teil der Strategie für Beschäftigung und Wachstum, der Initiative für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Europa (Small Business Act), der Europa-2020-Strategie und des neuen Programms für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und für KMU (COSME) sein, da bei diesen Maßnahmen die zentrale Bedeutung wachstumsstarker, Mehrwert schaffender kleiner und mittlerer Unternehmen für eine auf nachhaltiges Wachstum ausgerichtete EU-Wirtschaft bereits anerkannt wird.

1.3   Unternehmer mit Migrationshintergrund verbessern zudem die sozialen Chancen von Einwanderern, sorgen für mehr soziale Aktivität, sind gesellschaftliche Vorbilder insbesondere für junge Menschen, steigern das Selbstwertgefühl und fördern den sozialen Zusammenhalt durch die Neubelebung von Straßen und Wohnvierteln.

1.4   Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung der Kommission (2), in der es heißt, dass "den Migranten, die als Unternehmer sowie als Triebfeder der Kreativität und Innovation eine wichtige Rolle spielen können, eine entsprechende Tätigkeit erleichtert werden" sollte. Ebenfalls positiv bewertet der EWSA die Aussagen, dass "[d]ie Unterstützung transnationaler Unternehmen durch eine dynamischere Strategie […] sowohl in EU-Staaten als auch in Partnerländern tätigen Unternehmern zugutekommen [wird]" und dass "[s]olche Unternehmen […] Arbeitsplätze in ihren Heimatländern schaffen und sowohl die Integration der Migranten als auch den Handel zwischen den Ländern stimulieren [können]".

1.5   Da die steigende Arbeitslosigkeit die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze zu einer absoluten Priorität für die EU hat werden lassen, ist es nun noch wichtiger, dass die politischen Entscheidungsträger der EU erkennen, welch bedeutenden Vorteil für die Wirtschaft der EU die Unternehmen von Zuwanderern darstellen, und zwar sowohl vor Ort als auch in zunehmendem Maße auf den internationalen Märkten, auf denen Waren und Dienstleistungen aus der EU weiterhin nachgefragt werden. Dies stimmt mit der Strategie der Kommission überein, KMU bei der Ausweitung ihrer Tätigkeit auf Märkte außerhalb der EU zu unterstützen, da internationale Aktivitäten das Wachstum stärken, die Wettbewerbsfähigkeit verbessern und die langfristige Tragfähigkeit der Unternehmen in der EU sichern.

1.6   Um, wie in der Kommissionsmitteilung ausgeführt, das kreative und innovative Potenzial von Unternehmern mit Migrationshintergrund zu stärken, empfiehlt der EWSA spezielle Maßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten sowie auf lokaler Ebene. Das Ziel besteht darin, Diskriminierung auszuräumen und gleiche Bedingungen für alle zu schaffen, damit sie einen Beitrag zu integrativem Wachstum und hochwertigen Arbeitsplätzen leisten können.

1.6.1

Auf EU-Ebene sollten die politischen Entscheidungsträger

das Potenzial von Unternehmern mit Migrationshintergrund für mehr Wirtschaftswachstum im Rahmen der Europa-2020-Strategie anerkennen,

das Potenzial von Unternehmern mit Migrationshintergrund für die Schaffung von Arbeitsplätzen anerkennen, indem sie diesen Tätigkeitsbereich in die Europäische Beschäftigungsstrategie aufnehmen, deren bisheriger Schwerpunkt einzig auf abhängiger Beschäftigung als Mittel für die Integration von Zuwanderern liegt,

Unternehmer mit Migrationshintergrund in der EU-Zuwandererintegrationspolitik berücksichtigen,

zuverlässige und einheitliche statistische Daten zum wirtschaftlichen und sozialen Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund in der gesamten EU gemeinsam mit Eurostat und den Mitgliedstaaten definieren und erheben. Dies kann der EU bei der Konzipierung einer besseren Einwanderungspolitik helfen,

weiterhin öffentliche Unterstützung für Unternehmer ermöglichen, damit Innovation, Unternehmertum und Unternehmenswachstum nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass tragfähige Unternehmen keinen Zugang zu angemessenen Finanzierungsmöglichkeiten haben,

einen Referenzrahmen festlegen, um bewährte Verfahren aufzuzeigen, die auf den Kapazitätsaufbau und die Tragfähigkeit von Unternehmern mit Migrationshintergrund gerichtet sind, und den Austausch derartiger Verfahren zu fördern,

strategische Beziehungen zu denjenigen Herkunftsländern aufbauen, die nun ihre Diasporagemeinschaften in der EU aktiv und unmittelbar zur Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit anregen, sei es im Herkunftsland oder in der EU,

gegebenenfalls mithilfe von Handelsabkommen auf Gemeinschaftsunternehmen hinwirken, bei denen in der EU ansässige Unternehmer mit Migrationshintergrund mit ihren Heimatländern zusammenarbeiten. Dies wird die EU-Strategie zur Unterstützung von KMU bei der Ausweitung ihrer Tätigkeit auf Märkte außerhalb der EU verstärken.

1.6.2

Die EU-Mitgliedstaaten sollten

unternehmerische Tätigkeit unter Zuwanderern als Bestandteil umfassenderer Integrationsstrategien anerkennen und fördern,

den rechtlichen und strukturellen Rahmen für die Gründung von Unternehmen im Allgemeinen überprüfen, indem unnötiger Verwaltungsaufwand, der ein Hindernis für Unternehmensgründungen sein kann, verringert wird,

die Gefahr der illegalen Einwanderung und insbesondere der illegalen Beschäftigung durch die Umsetzung der Richtlinie 2009/52/EG (3) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 verringern. Gemäß Artikel 14 dieser Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten "sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet wirksame und angemessene Inspektionen durchgeführt werden",

zur Erhöhung der Quote langfristiger Beschäftigungsverhältnisse beitragen, indem bereits bestehende Migrantenunternehmen – insbesondere von Frauen und jungen Menschen geführte Unternehmen – stärker unterstützt werden, um deren Tragfähigkeit zu steigern,

zwischengeschaltete Stellen wie Berufsverbände, Handelskammern und Genossenschaften sensibilisieren und ihre Kapazitäten stärken, damit sie diese Unternehmen bei der Erfüllung gesetzlicher Auflagen, wie z.B. arbeits- und steuerrechtlicher Vorschriften, unterstützen können.

1.6.3

Die Kommunen und die Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner sollten

Programme zur Verbesserung des Human- und Sozialkapitals von Unternehmern mit Migrationshintergrund fortsetzen, indem verschiedene Dienste angeboten werden, wie etwa Beratung und Information, Schulung, Vernetzung und Betreuung,

Unternehmern mit Migrationshintergrund neue oder bessere Möglichkeiten bieten, indem sie ihren Vereinigungen den Zugang zu übergeordneten Vereinigungen erleichtern,

die Tragfähigkeit von Firmen steigern, die von Unternehmern mit Migrationshintergrund geführt werden, wobei mehr Augenmerk auf die bestehenden Unternehmen dieser Art und insbesondere auf diejenigen gelegt werden sollte, die in Branchen mit hohem Mehrwert tätig sind, statt allein auf Neugründungen zu achten,

in Anbetracht der Tatsache, dass die Verfügbarkeit von Krediten für die unternehmerische Tätigkeit außerordentlich bedeutsam ist, die Maßnahmen zur Erhöhung des Finanzkapitals von Unternehmern mit Migrationshintergrund verstärken, indem sie

diese auf Finanzierungsquellen hinweisen,

ihnen spezielle Schulungen anbieten,

dieser speziellen Geschäftsklientel dabei helfen, mehr Wissen und Sachkenntnis über Kreditinstitute zu erwerben und diese besser zu verstehen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Die EU muss sich einem einschneidenden demografischen Wandel stellen: In vielen Regionen geht die Bevölkerung merklich zurück, der Altersdurchschnitt steigt erheblich und die Geburtenraten sinken. Jedoch nahm die Gesamtbevölkerung in der EU zwischen 2004 und 2008 hauptsächlich infolge der Wanderungsbilanz jährlich um ca. zwei Millionen Menschen zu. Zuwanderer tragen auf mannigfaltige Weise zum Wirtschaftswachstum der Aufnahmeländer bei: Sie bringen neue Fähigkeiten und Talente mit, helfen Arbeitskräfteengpässe verringern und gründen als Unternehmer neue Firmen und Betriebe.

2.2   Der Wirtschaftsbeitrag, den Einwanderer durch die unmittelbare Gründung neuer Unternehmen leisten, wurde bislang wenig beachtet. Durch diese Stellungnahme soll der Kenntnisstand über Unternehmer mit Migrationshintergrund erweitert werden, und es sollen Empfehlungen abgegeben werden, wie der Erfolg dieser Unternehmer gefördert und gewürdigt sowie ihr Beitrag zum Wirtschaftswachstum weiter gesteigert werden kann.

2.3   Die unternehmerische Tätigkeit der Zuwanderer und die Zahl der von ihnen EU-weit geschaffenen Arbeitsplätze lassen sich nur schwer vergleichen, da in den einzelnen Staaten unterschiedliche Daten verfügbar sind und keine weltweit gültige Definition eines Unternehmers mit Migrationshintergrund vorliegt.

2.4   Dieses Dokument basiert weitgehend auf den Ausführungen im Rahmen der Anhörung der Ständigen Studiengruppe "Einwanderung und Integration" des EWSA zum Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund zur Wirtschaft der EU am 24. November 2011 (4).

2.5   Ein Unternehmer mit Migrationshintergrund wird definiert als ein außerhalb der EU geborener Inhaber eines Unternehmens, der durch die Schaffung oder den Ausbau von Wirtschaftstätigkeiten eine Wertschöpfung anstrebt (5). Er kann entweder selbstständig sein oder außer sich selbst weiteres Personal beschäftigen (6).

2.6   In dieser Stellungnahme stehen selbstständige Unternehmer im Mittelpunkt, wobei Daten der Arbeitsmarkterhebung für Vergleiche der Mitgliedstaaten untereinander sowie zwischen Unternehmern mit Migrationshintergrund und einheimischen Unternehmern genutzt werden Überdies liegt der Schwerpunkt, wie in der Forschung über das Unternehmertum allgemein üblich, auf nicht in der Landwirtschaft tätigen Unternehmern.

3.   Merkmale von Unternehmern mit Migrationshintergrund

3.1   Einwanderer zeigen mehr Unternehmergeist

3.1.1

Aus der EU-Arbeitskräfteerhebung (7) wird ersichtlich, dass der Grad der unternehmerischen Tätigkeit unter Zuwanderern in der EU schwankt. Der Anteil von Unternehmern mit Migrationshintergrund an der Gesamterwerbstätigenzahl liegt im Vereinigten Königreich sowie in Frankreich, Belgien, Dänemark und Schweden 1,5 bis 2,9 % über dem der einheimischen Unternehmer, während er in Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Irland, Deutschland und Österreich darunter liegt.

3.1.2

Regional betrachtet ist die Gesamtselbstständigenquote unter Einheimischen und Zuwanderern in Süd- sowie Mittel- und Osteuropa höher. In Mittel- und Osteuropa jedoch sind tendenziell mehr Einwanderer als Einheimische beruflich selbstständig, während es sich in Südeuropa andersherum verhält.

3.1.3

Der überdurchschnittliche Anteil selbstständiger Migranten in Polen, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn ist zum Teil den verhältnismäßig flexiblen Visumsbestimmungen für Unternehmer mit Migrationshintergrund und der Beschäftigungslage in diesen Ländern geschuldet. Der geringere Anteil an Unternehmern mit Migrationshintergrund in Südeuropa ist eventuell darin begründet, dass die Einwanderer in diesen Ländern keine Zeit hatten, das für eine Unternehmensgründung notwendige Human-, Finanz- und Sozialkapital aufzubauen, weil sie möglicherweise die Landessprache nicht fließend sprechen oder Probleme bei der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse haben.

3.1.4

Daten zur Zahl der Neuunternehmer pro Jahr legen auch den Schluss nahe, dass Zuwanderer unternehmerisch aktiver sind als Einheimische. Von 1998 bis 2008 hat sich die Zahl der jährlich im Durchschnitt neu hinzukommenden Unternehmer mit Migrationshintergrund in Deutschland (auf mehr als 100 000 pro Jahr) und dem Vereinigten Königreich (auf knapp 90 000 pro Jahr) verdoppelt. Der jährliche Durchschnitt ist in Spanien um ein Sechsfaches (auf über 75 000 pro Jahr) und in Italien um ein Achtfaches (auf 46 000) gestiegen. In Frankreich war über den gleichen Zeitraum ein leichter Anstieg (auf 35 000) zu beobachten (8).

3.1.5

Zudem sind Zuwanderer im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung unternehmerisch aktiver als Einheimische. Im Vereinigten Königreich beispielsweise machen Zuwanderer 8 % der Gesamtbevölkerung aus, doch ihnen gehören ca. 12 % aller britischen KMU.

3.1.6

Dies deckt sich mit den Feststellungen einer unlängst in den USA durchgeführten Studie, der zufolge der Anteil der Zuwanderer unter den Inhabern kleiner Unternehmen 18 % beträgt, während sie 13 % der Gesamtbevölkerung und 16 % der Erwerbstätigen stellen (9).

3.2   Tragfähigkeit von Zuwandererunternehmen

3.2.1

Zwar nehmen mehr Zuwanderer pro Jahr eine unternehmerische Tätigkeit auf, doch es geben auch mehr auf. Diese geringere Durchhaltequote deutet entweder darauf hin, dass die Selbstständigkeit als Vorstufe einer abhängigen Beschäftigung genutzt wird, oder darauf, dass die Misserfolgsquote unter Zuwandererfirmen höher ist. In Frankreich z.B. bestanden fünf Jahre nach ihrer Gründung nur noch 40 % der Unternehmen mit ausländischen Inhabern gegenüber 54 % der Unternehmen mit französischen Inhabern (10). Aus einer OECD-Studie (11) geht hervor, dass das Scheitern von Zuwandererunternehmen selbst nach Überprüfung der Qualifikationen, der Erfahrung und weiterer Faktoren um 27 % wahrscheinlicher ist als das Scheitern einheimischer Unternehmen.

3.3   Branchen mit hoher Wertschöpfung

3.3.1

Unternehmer mit Migrationshintergrund sind in den jeweiligen Aufnahmeländern auf ebenso vielen Geschäftsfeldern tätig wie einheimische Unternehmer. Zuvor bedienten ihre Unternehmen hauptsächlich die Bedürfnisse ihrer jeweiligen ethnischen Klientel, und dieser Wandel ist zum Teil die Folge des steigenden Bildungsniveaus der Zuwanderer sowie der veränderten Wirtschaftsstrukturen in postindustriellen Gesellschaften.

3.3.2

Obwohl in Europa ein großer Anteil der Unternehmer ausländischer Herkunft in traditionell mit Zuwanderern in Verbindung gebrachten Branchen tätig ist (etwa im Groß- und Einzelhandel), gibt es doch viele Unternehmer mit Migrationshintergrund, die in anderen Wirtschaftszweigen wirken: knapp 18 % im Baugewerbe, etwa 8 % in den freien Berufen sowie in Wissenschaft und Technik, ca. 6 % im Fertigungsgewerbe und weitere 6 % im Gesundheits- und Sozialwesen.

3.4   Profil

3.4.1

Das allgemeine Profil von Unternehmern mit und ohne Migrationshintergrund ist insofern ähnlich, als es sich zumeist um qualifizierte Männer handelt, wobei mehr als 75 % älter als 35 Jahre sind. Der Altersdurchschnitt ist bei Unternehmern mit und ohne Migrationshintergrund höher als bei Lohn- oder Gehaltsempfängern. Dies könnte daran liegen, dass sie vor der Unternehmensgründung zunächst genug Sozial- und Finanzkapital sowie Erfahrung zusammentragen müssen.

3.4.2

Das Bildungsniveau von Unternehmern mit Migrationshintergrund liegt im Durchschnitt über dem ihrer einheimischen Pendants: 30-40 % von ihnen verfügen über Hochschulbildung.

3.4.3

Fast zwei Drittel der Unternehmer mit Migrationshintergrund hält sich seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmeland auf. Bei den zugewanderten Lohnempfängern sind es knapp über 50 %.

3.4.4

Bei Zuwanderern ist die Neigung zur Unternehmensgründung je nach ihrer Herkunftsregion unterschiedlich stark ausgeprägt, bei Migranten aus Asien am stärksten, bei Migranten aus Lateinamerika und Afrika am schwächsten. Diese unterschiedlich starke unternehmerische Initiative der Migrantengruppen lässt sich zu einem großen Teil aus dem Bildungs- und Wohlstandsgefälle herleiten. Eine weitere Erklärung ist die, dass in der Wirtschaft mancher Herkunftsländer der Unternehmeranteil traditionell höher ist und dass aus diesen Ländern Zugewanderte mit größerer Wahrscheinlichkeit Unternehmen im Aufnahmeland gründen.

3.4.4.1

Für Zuwanderer aus derselben Region ergibt sich jedoch kein einheitliches Bild. So belegen etwa Zahlen aus dem Vereinigten Königreich, dass im Falle einer gleich hohen Beschäftigungsquote unter pakistanischen und indischen Zuwanderern der Anteil der erwerbstätigen pakistanischen Männer um 24 % und der der pakistanischen Frauen um 136 % anstiege, was einem Plus von 96 000 Erwerbstätigen entspräche.

4.   Der EU-Kontext

4.1   Im Stockholmer Programm wird die Agenda für die Maßnahmen der Europäischen Union in den Bereichen Justiz und Inneres für den Zeitraum 2010-2014 festgelegt; ein Aspekt ist die erfolgreiche Integration von Zuwanderern zur Stärkung demokratischer Werte und des sozialen Zusammenhalts sowie zur Förderung des interkulturellen Dialogs auf allen Ebenen.

4.2   Mit einem Budget von 825 Mio. EUR für den Zeitraum 2007-2013 werden aus dem Europäischen Fonds zur Integration von Drittstaatsangehörigen nationale und EU-Initiativen zur Eingliederung dieser Zielgruppe in die europäische Gesellschaft unterstützt, u.a. auch durch Projekte im Bereich der unternehmerischen Tätigkeit und der Unternehmerausbildung für Zuwanderer (12).

4.3   Zwar wird in der Mitteilung der Kommission zum Thema "Europäische Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen" (13) die wichtige Rolle von Unternehmern mit Migrationshintergrund gewürdigt, doch wird ihr potenzieller Beitrag zu nachhaltigem Wachstum und nachhaltiger Beschäftigung in EU-Leitinitiativen wie z.B. im Rahmen der Europa-2020-Strategie nicht berücksichtigt.

4.4   Im EU-Beschäftigungspaket wird auf die abhängige Erwerbstätigkeit als prioritäres Mittel zur Integration von Zuwanderern gesetzt. Außer Acht gelassen wird dabei jedoch die Rolle der Unternehmer mit Migrationshintergrund, die zur Schaffung hochwertiger und nachhaltiger Arbeitsplätze beitragen sowie die wirtschaftliche und soziale Integration von Bürgern mit und ohne Migrationshintergrund erleichtern.

4.5   Die politischen Entscheidungsträger der EU sollten die unternehmerische Tätigkeit von Zuwanderern aktiv und durchgehend in EU-Strategien berücksichtigen. Darüber hinaus sollte die Rolle der Unternehmer mit Migrationshintergrund bei der Strategie zur Integration von Zuwanderern anerkannt und gefördert werden.

5.   Beitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund

5.1   Arbeitsmarkt

5.1.1

In der EU-Arbeitskräfteerhebung (1998-2008) wird der positive Beschäftigungsbeitrag von Unternehmern mit Migrationshintergrund hervorgehoben, obwohl die meisten Unternehmer mit und ohne Migrationshintergrund Selbstständige sind, die keine weiteren Personen beschäftigen.

5.1.2

Unternehmer mit Migrationshintergrund schaffen im Durchschnitt 1,4 bis 2,1 zusätzliche Arbeitsplätze. Der Vergleich mit einheimischen Unternehmern legt jedoch nahe, dass Unternehmer mit Migrationshintergrund im Verhältnis weniger Arbeitsplätze schaffen; eine Ausnahme bilden die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei und das Vereinigte Königreich, wo das Gegenteil der Fall zu sein scheint.

5.1.3

Ihr Beitrag zur Gesamtbeschäftigung ist mit der Zeit größer geworden. Von 1998 bis 2008 hat die Zahl der von Unternehmern mit Migrationshintergrund Beschäftigten in Spanien, Italien, Österreich, Deutschland und den Niederlanden zugenommen, während sie im Vereinigten Königreich und Frankreich auf demselben Niveau blieb. So gaben z.B. sowohl 2007 als auch 2008 Unternehmer mit Migrationshintergrund pro Jahr in Deutschland mehr als 750 000, im Vereinigten Königreich und Spanien rund einer halben Million, in Frankreich knapp 400 000 und in Italien ca. 300 000 Menschen Arbeit.

5.1.4

Im Verhältnis betrachtet entspricht dies einem Anteil von 1,5 bis 3 % der Gesamterwerbsbevölkerung. Die Staaten, in denen Zuwanderer am meisten zur Gesamtbeschäftigung beitragen, sind Luxemburg (8,5 %) und Irland (4,9 %). Aufgrund der schwachen Datenlage lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob Zuwanderer hauptsächlich andere Zuwanderer beschäftigen oder nicht, jedoch haben einige Studien ergeben, dass sie sowohl Einheimischen als auch anderen Zuwanderern Arbeit geben.

5.2   Wirtschaft

5.2.1

Unternehmer mit Migrationshintergrund schaffen aber nicht nur Arbeitsplätze, sie tragen auch zum Gesamtwirtschaftswachstum des Aufnahmelandes bei. Ihr tatsächlicher Beitrag zur EU-Wirtschaft lässt sich nur sehr schwer statistisch belegen, doch Angaben aus dem Vereinigten Königreich zufolge liegt ihr Beitrag zur Wirtschaft des Landes bei schätzungsweise 25 Mrd. GBP pro Jahr, d.h. 6 % der Bruttowertschöpfung der KMU insgesamt (430 Mrd. GBP im Jahr 2007) (14).

5.2.2

Demgegenüber hat eine US-Studie ergeben, dass kleine Unternehmen, bei denen die Eigentümer mindestens zur Hälfte Zuwanderer sind, pro Jahr schätzungsweise 776 Mrd. USD zur Wirtschaft beisteuern, d.h. 13 % des Gesamtbeitrags der kleinen Unternehmen (6 Bio. USD im Jahr 2007).

5.2.3

Auch aus Frankreich liegen Daten vor, denen zufolge Einwanderer in Frankreich im Jahr 2009 47,9 Mrd. EUR vom französischen Staat erhielten (Sozialfürsorge-, Unterbringungs-, Bildungsleistungen), jedoch 60,3 Mrd. EUR zum Haushalt beitrugen. In anderen Worten heißt dies, dass Zuwanderer 12,4 Mrd. EUR netto zum Staatshaushalt beisteuerten (15).

5.2.4

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Beitrag der Unternehmer mit Migrationshintergrund in der EU höher sein könnte, wenn diejenigen, die bisher in der informellen Wirtschaft tätig sind, die notwendige Unterstützung erhalten könnten, um den Übergang in die formelle Wirtschaft zu vollziehen.

5.3   Handel

5.3.1

Es gibt auch Belege dafür, dass Unternehmer mit Migrationshintergrund ihrem Aufnahmeland neue Handelsmöglichkeiten eröffnen, und zwar durch die Senkung der Transaktionskosten für den Handel mit ihren Herkunftsländern, indem sie ihre geschäftlichen Kontakte und ihre Kenntnis der dortigen Märkte nutzen. So zielen z.B. 22 % der schwedischen Unternehmen mit ausländischen Inhabern mit ihren Waren und Dienstleistungen zumindest teilweise auf den Weltmarkt ab (im Vergleich zu 15 % der Unternehmen mit einheimischen Inhabern) (16). Zudem gibt es Belege dafür, dass ein zehnprozentiger Anstieg der Anzahl der Zuwanderer in Schweden im Durchschnitt mit 6 % mehr Ausfuhren und 9 % mehr Einfuhren einhergeht (17). Daraus lässt sich folgern, dass Zuwanderer eine wichtige Vermittlerrolle im Außenhandel spielen, da sie implizite Hindernisse im Handel mit ihren Herkunftsländern abbauen.

5.3.2

Ein weiteres Beispiel ist das Vereinigte Königreich. Unternehmer mit Migrationshintergrund haben eine wachsende Diaspora mit einem verfügbaren Einkommen von mehr als 30 Mio. britischen Pfund unmittelbar erschlossen und gleichzeitig neue Geschäftsmöglichkeiten auf globalen Märkten wie Indien und China sowie in Afrika, der Karibik und Lateinamerika eröffnet.

5.4   Doch die unternehmerische Tätigkeit von Zuwanderern dient nicht nur der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Wirtschaft – sie kann auch die sozialen Chancen von Einwanderern verbessern sowie durch die Neubelebung von Straßen und Wohnvierteln für mehr soziale Aktivität, ein höheres Selbstwertgefühl und besseren sozialen Zusammenhalt unter den Bürgerinnen und Bürgern sorgen.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Rath, J., Eurofound (2011), "Promoting ethnic entrepreneurship in European cities" ("Förderung der Unternehmertätigkeit ethnischer Minderheiten in europäischen Städten"), Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(2)  "Europäische Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen" – COM(2011) 455 final und SEC(2011) 957 final.

(3)  http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:168:0024:0032:DE:PDF.

(4)  http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.events-and-activities-migrant-entrepreneurs-contribution-present.

(5)  Allgemein anerkannte OECD-Begriffsbestimmung eines Unternehmers, OECD 2008.

(6)  Rath, J., Eurofound (2011), "Promoting ethnic entrepreneurship in European cities" ("Förderung der Unternehmertätigkeit ethnischer Minderheiten in europäischen Städten"), Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(7)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/employment_unemployment_lfs/data/database.

(8)  Link zur Statistik: http://dx.doi.org/10.1787/888932442104.

(9)  http://www.fiscalpolicy.org/immigrant-small-business-owners-FPI-20120614.pdf.

(10)  Breem, Y. (2009), "Les entreprises créées en 2002 par des ressortissants des pays tiers: de plus grandes difficultés à survivre", Infos Migrations, No. 13, Département des statistiques, des études et de la documentation (DSED), Ministère de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du Développement solidaire.

(11)  Open for Business: Migrant Entrepreneurship in OECD Countries, 2010.

(12)  http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/financing/fundings/migration-asylum-borders/integration-fund/index_en.htm.

(13)  COM(2011) 455 final und SEC(2011) 957 final.

(14)  http://www.bis.gov.uk/assets/biscore/enterprise/docs/b/11-515-bigger-better-business-helping-small-firms.

(15)  http://www.europeanvoice.com/article/imported/time-to-value-migrants-contribution/74527.aspx

(16)  Schwedische Agentur für wirtschaftliches und regionales Wachstum (2007).

(17)  Hatzigeorgiou in der OECD-Studie aus dem Jahr 2010.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/05

Berichterstatter: Mário SOARES

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 24. Mai 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 138 Stimmen gegen 3 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Bereits 2006 machte der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema häusliche Gewalt gegen Frauen (1) deutlich, dass die Zivilgesellschaft dieses Problem mit Sorge betrachtet. Die seinerzeit ausgesprochenen Empfehlungen haben nach wie vor Gültigkeit und sollen daher in dieser Stellungnahme nicht wiederholt werden.

1.2

Der EWSA ist sich als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft dessen bewusst, dass die geschlechtsspezifische Gewalt und damit auch die häusliche Gewalt uns alle angeht, und bekräftigt seine Entschlossenheit, diese Geißel der Gesellschaft mit allen Mitteln zu bekämpfen; er erwägt u.a., im zweijährigen Abstand eine Debatte über diese Problematik durchzuführen.

1.3

Der EWSA empfiehlt den Institutionen und den Mitgliedstaaten der EU:

1.3.1

Menschenrechte: geschlechtsspezifische Gewalt im häuslichen Umfeld als Frage der Menschenrechte zu behandeln, um einen ganzheitlichen und bereichsübergreifenden Ansatz für diese Problematik zu ermöglichen;

1.3.2

Sicherheits- und Risikoparadigma: einen Paradigmenwechsel in den Fragen der Sicherheit und Gefährdung anzustreben, um stärker ins Bewusstsein zu rücken, dass die häusliche Gewalt gegen Frauen kein individuelles, isoliertes Problem ist, das in die Privatsphäre fällt, sondern eine Frage der öffentlichen Sicherheit und Ordnung;

1.3.3

Prävention: durch die Schaffung interdisziplinärer Hilfseinrichtungen, die mit entsprechenden Mitteln und Fachkräften ausgestattet werden, und durch ministerienübergreifende Aktionspläne zur Einbindung von Männern und Jugendlichen in die Strategien zur Beseitigung der häuslichen Gewalt eine Politik zur Prävention von häuslicher Gewalt zu betreiben;

1.3.4

Schutzmaßnahmen: für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, prioritären Zugang zu Wohnraum, wirtschaftlicher Unterstützung, Ausbildung sowie einer menschenwürdigen Arbeit zu gewährleisten, für die der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gilt;

1.3.5

Vereinheitlichung der statistischen Kriterien: die Vereinheitlichung der Kriterien für die Erfassung von geschlechtsspezifischer Gewalt fortzusetzen, damit die erhobenen Daten miteinander vergleichbar sind;

1.3.6

Bildung: sicherzustellen, dass die Bildung zu einem Umdenken beiträgt, indem u.a. echte Koedukationsprogramme durchgeführt werden, der sexistische Sprachgebrauch in den Lehrbüchern aufgegeben wird und die Problematik der geschlechtsspezifischen Gewalt, u.a. auch im häuslichen Bereich, in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer aufgenommen wird;

1.3.7

Kommunikationsmittel: die wirksame Einhaltung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (2) zu gewährleisten, um das negative Frauenbild auszuräumen, das in den Medien und insbesondere in der Werbung vermittelt wird;

1.3.8

Gesundheit: das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen ein Risikofaktor für die Gesundheit ist;

1.3.9

Mitverantwortung: Maßnahmen zur Förderung der gemeinsamen Verantwortung von Männern und Frauen bei der Betreuung von Kindern, älteren Angehörigen oder Angehörigen mit besonderen Bedürfnissen zu verstärken und zu unterstützen;

1.3.10

Zivilgesellschaftliche Organisationen: Hilfsorganisationen für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen und Sensibilisierungs-/Bildungsmaßnahmen zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt zu fördern;

1.3.11

Europäisches Jahr zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt: der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt ein Europäisches Jahr zu widmen;

1.3.12

Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt: Der EWSA ruft die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten auf, dieses vom Europarat 2011 angenommene Übereinkommen zu unterzeichnen, zu ratifizieren und umzusetzen.

2.   Einleitung

2.1

Jede Form der Gewalt gegen einen Menschen ist ein Angriff auf seine Würde und seine körperliche und seelische Unversehrtheit sowie ein Verstoß gegen die Menschenrechte und die Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft.

2.2

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Rechte ihrer Bürger zu wahren, zu schützen und zu fördern, und müssen daher erhebliche öffentliche Mittel in entsprechende Dienstleistungen und fachlich geschultes Personal investieren, um dieser Verpflichtung nachzukommen.

2.3

Gewalt in der Öffentlichkeit ist gesellschaftlich geächtet, und staatliche Maßnahmen zur Abschreckung und Bestrafung derjenigen, die sie ausüben, werden von der Gesellschaft unterstützt.

2.4

Es gibt jedoch noch eine andere, häufig totgeschwiegene Form der Gewalt, die hinter verschlossenen Türen stattfindet und die Opfer vielleicht noch grausamer verletzt: die häusliche Gewalt. Alle Mitglieder einer Familie können vorübergehend oder fortgesetzt Opfer unterschiedlicher Formen von Gewalt werden, die zum Tode führen kann.

2.5

Sie alle verdienen Beachtung, Sorge und Hilfe seitens der Behörden, aber in Wahrheit sind die Frauen die am häufigsten betroffene Gruppe – Gewalt im häuslichen Umfeld ist eine der Haupttodesursachen bei Frauen. Diese Stellungnahme konzentriert sich daher auf die häusliche Gewalt gegen Frauen.

2.6

Die Europäische Union definiert Gewalt gegen Frauen als "jeden Akt der Gewalt gegen Frauen, der physische, sexuelle oder psychologische Schäden oder Leiden bei Frauen verursacht oder verursachen kann, einschließlich der Androhung solcher Gewaltakte, von Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung, ob im öffentlichen oder im Privatleben" (3).

2.7

Trotz der jahrzehntelangen Bemühungen von Behörden und verschiedenen – organisierten und auch nichtorganisierten – Kreisen der Gesellschaft wird diese Form der Gewalt nach wie vor als ein privates Problem betrachtet, obwohl es sich in Wirklichkeit um ein öffentliches Problem handelt.

2.8

Häusliche Gewalt ist ein Verbrechen und muss gesetzlich unter Strafe gestellt werden. Der EWSA erkennt die Bemühungen einiger EU-Mitgliedstaaten an, die Täter härter zu bestrafen. Es müssen aber auch die tieferen Ursachen dieses Phänomens erforscht und Strategien zu seiner Überwindung, u.a. auch durch ein besseres Verständnis dieses Phänomens aufseiten der Männer, aufgezeigt werden.

2.9

Gleichzeitig wird die Sozialpolitik in vielen EU-Mitgliedstaaten durch die Wirtschaftskrise erheblich beeinträchtigt. Grundlegende öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsfürsorge, Bildung und soziale Dienste werden zu einem Zeitpunkt zurückgefahren, zu dem die Familien und insbesondere die Frauen am dringendsten auf sie angewiesen sind. Hilfsdienste speziell für Frauen werden eingestellt, Frauenhäuser geschlossen, die Haushaltsmittel für nationale Gleichstellungsstellen gekürzt, Präventionsvorhaben und Informationskampagnen gestrichen usw.

2.10

Das Fortbestehen von Geschlechterstereotypen und einer patriarchalischen Gesellschaft in Verbindung mit der wirtschaftlichen Benachteiligung und der Diskriminierung von Frauen in Bereichen wie Beschäftigung, Entlohnung oder Zugang zu anderen wirtschaftlichen Ressourcen wie auch die fehlende wirtschaftliche Unabhängigkeit schränken die Handlungsfähigkeit von Frauen ein und erhöhen ihre Gefährdung durch häusliche Gewalt.

2.11

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die vermeintlich zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen wie auch die Liberalisierung der Wirtschaft und die Privatisierung des öffentlichen Sektors verstärken nicht nur die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, sondern führen auch zu einer Zunahme der Ungleichheiten und damit zur Verschärfung der Bedingungen, unter denen Gewalt entsteht.

2.12

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) (4) hat festgestellt, dass sich die Globalisierung negativ auf die sozialen Strukturen auswirkt. Eine ungeregelte Globalisierung kann zu verschärften Formen der Gewalt gegen Frauen führen, u.a. auch in Form von Menschenhandel.

2.13

Frauen, die Minderheiten angehören, einen Migrationshintergrund haben, von Armut betroffen sind und in ländlichen oder abgelegenen Gemeinschaften leben, inhaftiert sind, sich in Einrichtungen aufhalten oder körperlich oder geistig behindert sind, haben ebenso wie ältere Frauen ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden.

2.14

In dieser Stellungnahme soll versucht werden, eine Bilanz der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Europa zu ziehen, einen Gesamtüberblick über die ergriffenen Maßnahmen zu geben und das gesellschaftliche Bewusstsein für dieses Problem zu schärfen.

2.15

Der EWSA als Stimme der organisierten Zivilgesellschaft erklärt sich bereit, gemeinsam mit in diesem Bereich aktiven Organisationen ein Diskussionsforum zu schaffen, um Vorschläge zur Beseitigung der häuslichen Gewalt zu erörtern und bewährte Verfahren für wirksame Präventivmaßnahmen auszutauschen.

3.   Das Europaratsübereinkommen muss ratifiziert und eingehalten werden

3.1

Der Europarat nahm 2011 ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt an (5). Es handelt sich dabei um das erste international verbindliche Rechtsinstrument, mit dem ein umfassender rechtlicher Rahmen mit dem Ziel geschaffen wird, Gewalt zu verhüten, die Opfer zu schützen und die Täter zu verurteilen. Darin wird mehr Gleichheit zwischen Frauen und Männern angemahnt, da Gewalt gegen Frauen tief in der geschlechtsbedingten Ungleichbehandlung verwurzelt ist und aufgrund einer patriarchalisch geprägten Kultur, in der diese Realität schlicht ignoriert wird, fortbestehen kann.

3.2

In diesem Übereinkommen werden alle Formen der Gewalt (körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Belästigung, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen, Belästigung, Zwangssterilisierung und Zwangsabtreibung) berücksichtigt, ungeachtet des Alters, der ethnischen oder nationalen Herkunft, der Religionszugehörigkeit, der sozialen Herkunft, des Migrantenstatus oder der sexuellen Ausrichtung des Opfers.

3.3

Bislang wurde dieses Übereinkommen lediglich von einem Land ratifiziert (6) und von 20 Ländern unterzeichnet (7), von einigen unter Vorbehalt (Deutschland, Serbien und Malta). Der EWSA appelliert an die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten, das Übereinkommen von Istanbul so schnell wie möglich zu unterzeichnen, zu ratifizieren und umzusetzen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

45 % der Frauen in der EU geben an, schon einmal Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden zu sein. Zwischen 40 und 45 % waren nach eigenen Angaben sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt. Pro Tag sterben in Europa schätzungsweise sieben Frauen an den Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt (8).

4.2

Von großer Bedeutung sind auch die wirtschaftlichen Auswirkungen: Schätzungen zufolge verursacht die Gewalt gegen Frauen in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats jährliche Kosten in Höhe von mindestens 32 Mrd. EUR.

4.3

Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus 2010 handelt es sich hierbei um ein weithin bekanntes (98 % der Befragten) und häufig auftretendes Phänomen (25 % der Befragten geben an, eine Frau zu kennen, die Opfer häuslicher Gewalt wurde, und 20 % kennen einen Täter).

4.4

Bereits 1980 wurde auf der Zweiten UN-Weltfrauenkonferenz festgestellt, dass Gewalt gegen Frauen weltweit dasjenige Verbrechen ist, das am häufigsten totgeschwiegen wird. Dreizehn Jahre später wurden auf der UN-Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien die Rechte von Frauen als Menschenrechte anerkannt. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichteten sich zur Einhaltung der grundlegenden Ziele der Aktionsplattform von Peking von 1995.

4.5

Laut der Schlusserklärung des zweiten Europäischen Gipfeltreffens "Women in Power" (Frauen in Führungspositionen) (Cadiz, März 2010) (9), an dem 25 Ministerinnen und zahlreiche weitere Spitzenpolitikerinnen aus der ganzen EU teilnahmen, ist die Geschlechtergleichstellung immer noch nicht Realität und Gewalt gegen Frauen ein nach wie vor ungelöstes Problem, das eine schwere Menschenrechtsverletzung darstellt. In der Erklärung wird bekräftigt, dass sexistische Stereotype weiterhin zu Diskriminierung führen, und vor einer Wiederholung sexistischer Verhaltensweisen bei den jüngeren Generationen gewarnt.

4.6

Die EU-Organe haben verschiedene Analyse- und Aktionspapiere vorgelegt, u.a.:

4.6.1

Europäischer Rat:

Schlussfolgerungen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen Union (8. März 2010), in denen der Rat die Kommission und die Mitgliedstaaten aufruft, die Bemühungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fortzusetzen und für deren Finanzierung zu sorgen.

4.6.2

Europäisches Parlament:

Entschließung zu den Prioritäten und Grundzügen einer neuen EU-Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (2011).

Im September 2011 befürwortete das Europäische Parlament die Einführung der Europäischen Schutzanordnung für die Opfer von geschlechterbezogener Gewalt, Belästigung, Entführung, Stalking oder Mordversuchen. Dies war ein wichtiger Schritt hin zu einem europaweiten Opferschutz ohne Grenzen.

4.6.3

Europäische Kommission:

Charta für Frauen (2009), Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms (2010), Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015.

Diverse Studien über Gewalt gegen Frauen zur Verbesserung des diesbezüglichen Kenntnisstands.

Am 18. Mai 2011 Annahme eines Pakets von Vorschlägen zur Stärkung der Opferrechte (horizontale Richtlinie mit Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten; Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen).

Finanzierung von speziellen Programmen wie Daphne III sowie von europäischen Organisationen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen (Europäisches Frauenforum).

4.7

Die Mitgliedstaaten haben ihrerseits – wenn auch nicht alle – entsprechende Rechtsvorschriften geschaffen, um häusliche Gewalt unter Strafe zu stellen, drastischere Maßnahmen gegen die Täter zu ergreifen, häusliche Gewalt als von Amts wegen verfolgte Straftat einzustufen usw.

4.8

Obgleich auf nationaler und europäischer Ebene verlässliche und vergleichbare Statistiken über häusliche Gewalt fehlen, sind die vorliegenden Zahlen doch so alarmierend, dass hinsichtlich des Ausmaßes des Problems kein Zweifel besteht (10).

4.9

Trotz der vorliegenden Zahlen und der Schaffung strengerer Rechtsvorschriften herrscht in der Bevölkerung weiterhin die allgemeine Wahrnehmung vor, dass wir in einer egalitären Gesellschaft leben, wodurch die Debatte nicht nur über häusliche Gewalt, sondern auch über andere Formen der Gewalt und der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in puncto Entlohnung, beruflicher Aufstieg usw. verfälscht werden kann.

4.10

Eine dabei vergessene, weil in der Außenwelt nicht wahrgenommene Erscheinungsform von Gewalt ist die psychische Gewalt. Es ist an der Zeit, das Schweigen zu brechen und anzuerkennen, dass psychische Gewalt eine Menschenrechtsverletzung ist und in die Rechtsvorschriften über die geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen werden muss.

4.11

Frauen, die psychische Gewalt überlebt haben, sind häufig für den Rest ihres Lebens schwer traumatisiert und benötigen eine ganzheitliche multidisziplinäre Hilfe in einem sicheren Rehabilitationsumfeld. Da sie gezwungen waren, in völliger sozialer Isolation zu leben, und keine greifbaren Beweise für die Gewalt vorweisen können, befürchten sie, dass ihnen niemand glauben wird. Die Rehabilitation erfordert daher vor allem, dass diejenigen, die ihnen helfen sollen, ihnen glauben.

4.12

Häusliche Gewalt hat nicht nur Auswirkungen unmittelbar auf das Opfer selbst, sondern auch auf alle, die dabei Zeuge werden oder darüber Bescheid wissen. Besonders stark trifft sie die Kinder, die aufgrund ihrer emotionalen Verletzlichkeit besonders empfänglich für solche Eindrücke sind, die ein Leben lang nachwirken können.

4.13

Zwar beschränken sich die Straftaten im häuslichen Umfeld keineswegs auf Übergriffe gegen Frauen, aber es stellt sich die Frage, weshalb andere im häuslichen Bereich begangene Straftaten – wie z.B. Pädophilie, wo in 90 % der Fälle Familienangehörige die Täter sind – als abstoßend eingestuft werden, während bei häuslicher Gewalt noch Ursachenforschung bezüglich der Auslöser der Aggression betrieben wird.

5.   Besondere Bemerkungen und Vorschläge für Maßnahmen

5.1

Es stellt sich die grundlegende Frage, weshalb solche Vergehen häufig in der Gesellschaft entschuldigt werden oder der Grund für die Gewalt bei der misshandelten Frau gesucht wird. Die häufig ins Feld geführten sozialen und kulturellen Gründe sind nicht nur falsch, sondern führen auch zur Beibehaltung des Status quo.

5.2

Die Vorstellung, dass häusliche Gewalt ihre Ursachen in einer veralteten Kultur und Tradition hat, stützt sich auf die irrige Annahme, dass es sich bei Kultur um eine unveränderliche Gesamtheit von Überzeugungen und Praktiken handelt. Kultur unterliegt jedoch einem ständigen Prozess des Entstehens und der Veränderung. Gerade weil Kultur ein heterogenes Gebilde ist und konkurrierende Werte in sich vereint, kann sie sich weiterentwickeln.

5.3

Kultur hängt eng mit der Ausübung von Macht zusammen: Es gelten die Gesetze und Werte derjenigen, die Macht und Einfluss haben.

5.4

Auch die Frauen sind Träger von Kultur und beeinflussen die Kultur, in der sie leben. Ihre gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ist von entscheidender Bedeutung, um eine Änderung derjenigen Denkweisen, Sitten und Gebräuche zu bewirken, die dem Bild und der Lage der Frau abträglich sind.

5.5

Es muss daher über die Unterrepräsentation der Frauen auf den verschiedenen Ebenen der Macht nachgedacht werden. Solange dieses Problem nicht zur Genüge gelöst ist und die Frauen wirtschaftlich, sozial und politisch nicht so vertreten sind, wie es ihnen aufgrund ihrer Zahl und ihrer Fähigkeiten zusteht, wird auch das Problem der Gewalt gegen Frauen nur schwer oder nicht schnell genug zu lösen sein. Politische Maßnahmen gegen die geschlechterspezifische Gewalt sind zwar wichtig, aber nur durch den paritätischen Zugang der Frauen zur Macht lässt sich das traditionelle Rollenbild der Frau in der Gesellschaft ändern.

5.6

Die geschlechtsspezifischen Identifikationsmodelle, nach denen über die Jahrhunderte hinweg Passivität, Hingabe und Unterwerfung als weibliche Tugenden und Aggressivität, Stärke und Tatkraft als männliche Tugenden galten, hatten ein Konzept der Liebesbeziehung zur Folge, das der Frau jahrhundertelang eine Position der Unterlegenheit und Abhängigkeit zuwies.

5.7

Beziehungen auf der Basis von Identifikationsmodellen, die voraussetzen, dass sich ein Individuum einem anderen unterwirft, sind nicht mehr hinnehmbar; Männer und Frauen müssen sich daher fragen, wie sie zu diesen Modellen stehen. Diese Hinterfragung muss sich auf das Bekenntnis zu Werten wie Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung stützen.

5.8

Bei Femizid (11) haben die Opfer vielfach bereits zuvor Anzeige wegen Gewalttätigkeiten oder Drohungen erstattet. Dies zeigt, wie wichtig Prävention ist. In allzu vielen Fällen werden keine Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz des Opfers vor dem Täter ergriffen.

5.9

Die Prävention kann und muss Folgendes einschließen:

eine Therapie des Täters oder des potenziellen Täters. Es geht nicht darum, nach einer Rechtfertigung bzw. mildernden Umständen für die Gewalttätigkeit zu suchen oder das Opfer unkontrollierten Situationen auszusetzen, sondern darum, an den Ursachen zu arbeiten und beim Täter eine Verhaltensänderung zu bewirken, was für alle Beteiligten von Nutzen ist;

die Auflegung ministerienübergreifender Aktionspläne für die Früherkennung und Prävention über ein Verweis- und Informationssystem im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen;

die Einbeziehung von Männern und Jungen in Strategien zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen;

die Einbindung junger Menschen mittels einer Aufklärungskampagne für einen ganzheitlichen Ansatz für die Prävention und Frühintervention sowie eine bessere Ausbildung der unmittelbar mit jungen Menschen arbeitenden Berufsgruppen;

die Überwachung im Falle der Trennung von Paaren aufgrund von häuslicher Gewalt, um die Frauen zu schützen, die von Belästigung oder Nachstellung bedroht sind, die häufig tödlich enden.

5.10

Einrichtungen, die auf den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt spezialisiert sind, müssen mit speziell dafür ausgebildetem Personal und entsprechenden Mitteln ausgestattet werden, die die Einhaltung der beschlossenen Maßnahmen gewährleisten, da diese ansonsten nicht greifen.

5.11

Es müssen multidisziplinäre Hilfseinrichtungen geschaffen werden, in denen man den Frauen zuhört, sie versteht und ihnen glaubt. Bei dem Phänomen der häuslichen Gewalt spielen psychologische, kulturelle und religiöse Faktoren und seit Jahrhunden tief verwurzelte Gewohnheiten zusammen. Man kann das Problem nicht auf eine einzige Ursache zurückführen und nicht allein mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln bekämpfen. Ein grundlegendes Element für ihre Bekämpfung ist eine koordinierte multidisziplinäre Hilfe, mit der verhindert wird, dass eine Frau wiederholt Gewalt ausgesetzt ist. Besondere Aufmerksamkeit muss Frauen mit Behinderung und Frauen mit Migrationshintergrund geschenkt werden, da diese stärker gefährdet sind. Derartige Hilfseinrichtungen müssen sich auch systematisch um die indirekt betroffenen Opfer von Gewalt kümmern, insbesondere Kinder.

5.12

Beim Sicherheitsparadigma ist ein Umdenken erforderlich – es wird zu sehr mit organisiertem Verbrechen, Terrorismus, Angriffen auf Personen und Sachen oder Drogenhandel in Verbindung gebracht, aber fast nie mit den Gefahren, denen viele Frauen zu Hause oder am Arbeitsplatz ausgesetzt sein können. Wenn bei der Sicherheit weitere Kriterien einbezogen worden wären, bei denen Menschenwürde und vor allem auch Prävention im Vordergrund stehen, hätten viele Menschenleben gerettet werden können. Die neuen Technologien ermöglichen einen verbesserten Schutz, z.B. durch elektronische Fußfesseln, die bei Bestehen eines Kontaktverbots dafür sorgen, dass sich ein auf freiem Fuß befindlicher Täter seinem Opfer nicht nähert.

5.13

Da das Phänomen der häuslichen Gewalt in den Statistiken nicht genau erfasst wird, ist es nicht möglich, das tatsächliche Ausmaß des Problems zu bestimmen. Die Kriterien für die Erfassung von häuslicher Gewalt müssen daher dringend vereinheitlicht werden, damit die Daten auf europäischer Ebene vergleichbar sind.

5.14

Die Regierungen müssen die Arbeit der in diesem Bereich tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Frauenverbände, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften usw.) aufwerten und – auch finanziell – unterstützen, ohne diese kontrollieren oder ihre Unabhängigkeit beschneiden zu wollen.

5.15

Ein besonders wichtiger Bereich ist die Bildung. Sie entscheidet darüber, ob diskriminierende Modelle und Praktiken weiterbestehen können oder ob auf individueller und kollektiver Ebene ein Umdenken und eine Verhaltensänderung in Gang gesetzt wird. Die Schule muss eine nicht-sexistische, koedukative Bildung fördern, die auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit basiert, die volle persönliche Entfaltung frei von Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen anstrebt und jeglicher Diskriminierung zu Lasten der Frauen eine Absage erteilt. Die Schule kann als Instrument dienen, um das stereotype Männer- und Frauenbild aufzubrechen, das in den Medien generell verbreitet wird. Die Schule eignet sich bestens als Beobachtungsstelle für geschlechterspezifische Gewalt.

5.16

Damit die Schule diese positive Rolle spielen kann, muss die Problematik der geschlechtsspezifischen Gewalt, u.a. auch der Gewalt im häuslichen Bereich, in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer aufgenommen werden. Eine regelmäßige Überprüfung der Lehrpläne und Lehrbücher muss gängige Praxis werden, um jede Art sexistischen Sprachgebrauchs auszumerzen.

5.17

Von entscheidender Bedeutung ist auch das Gesundheitswesen. Durch gezielte gesundheitspolitische Strategien für Frauen und Heranwachsende kann das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass häusliche Gewalt gegen Frauen kein isoliertes Problem, sondern ein Risikofaktor ist.

5.18

Die Verfahren für die Erfassung und Weitermeldung müssen regelmäßig und systematisch überprüft werden, wobei Lösungen, die bürokratischen Aufwand verursachen und weder flexibel noch nachhaltig sind, zu vermeiden sind. Diese Verfahren müssen es ermöglichen, dieses Problem als einen Risikofaktor für die Gesundheit zu erfassen (z.B. bei Beratungsgesprächen für die Familienplanung oder Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen), und zugleich die Erfordernisse im städtischen und ländlichen Bereich klar differenzieren.

5.19

In allen Bereichen, die die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen, muss für eine wirksame und realitätsnahe Sensibilisierung und Ausbildung gesorgt werden. Hierfür müssen die notwendigen Mittel bereitgestellt und regelmäßige Kartierungen (mapping) durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass die vermittelten Informationen der Realität entsprechen.

5.20

Was den Bereich Sensibilisierung und Ausbildung angeht, muss differenziert werden zwischen Sensibilisierung (die sich an das gesamte Personal der betreffenden Einrichtung richtet), Schulung (für alle, die Kontakt zu Opfern haben und zur Aufdeckung von Problemfällen beitragen können) und Spezialausbildung (die alle erhalten müssen, die Opfer betreuen). Der Ausbildung von Polizisten und Richtern muss aufgrund der Rolle, die sie bei der Aufnahme der Strafanzeigen und der Verurteilung der Täter spielen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Durch die Art, wie sie vorgehen, können sie dazu beitragen, dass aus einer traumatisierenden Erfahrung neue Hoffnung erwächst. Außerdem müssen die Strafvollzugsanstalten interne Programme für die weiblichen Überlebenden und die männlichen Täter geschlechtsspezifischer Gewalt entwickeln, und in der gesamten EU muss das Bewusstsein des Strafvollzugspersonals für diese Problematik geschärft werden.

5.21

Durch die Einstufung von häuslicher Gewalt gegen Frauen als Frage der Menschenrechte schließlich können die Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht genommen werden, was die Prävention, Beseitigung und Verfolgung dieser Form von Gewalt angeht, und besser zur Rechenschaft über die Erfüllung ihrer diesbezüglichen Verpflichtungen gezogen werden.

5.22

Indem der Bezug zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt und den Menschenrechten hergestellt wird, greift ein wichtiges Instrumentarium, um mithilfe der Menschenrechtsvertragsorgane, der internationalen Gerichtshöfe sowie des europäischen Systems zur Wahrung der Menschenrechte (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte als Instrument des Europarats) die Mitgliedstaaten auf internationaler und europäischer Ebene in die Pflicht zu nehmen.

5.23

Die Behandlung der Gewalt gegen Frauen als eine Frage der Menschenrechte gewährleistet einen ganzheitlichen, bereichsübergreifenden Ansatz, durch den die in sämtlichen Bereichen geleistete Arbeit eine Menschenrechtsdimension erhält. Dies zwingt uns, Initiativen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in allen Bereichen zu verstärken und voranzutreiben, u.a. in der Justiz und im Gesundheitswesen, in der lokalen und regionalen Entwicklungspolitik und bei der humanitären Hilfe.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 89.

(2)  Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010.

(3)  http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/16173.de08.pdf.

(4)  "WHO Multi-Country Study on Women’s Health and Domestic Violence Against Women: Initial Results on Prevalence, Health Outcomes and Women’s Responses" (WHO, Genf, 2005).

(5)  Übereinkommen des Europarats, am 11. Mai 2011 in Istanbul (Türkei) angenommen (http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/convention-violence/texts/Convention%20210%20German%20version%20&%20explanatory%20report.pdf).

(6)  Türkei.

(7)  Albanien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Luxemburg, Malta, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Ukraine und Vereinigtes Königreich.

(8)  Barometer 2011, "National Action Plan on Violence against Women in the EU", European Women’s Lobby (Europäisches Frauenforum), August 2011 (www.womenlobby.org).

(9)  http://www.igualdad.us.es/pdf/Docuemta_Otros_Cumbre.pdf.

(10)  Siehe Bericht "Bekämpfung von Ehrenverbrechen in Europa", vorgelegt am 8. März 2012 anlässlich des Weltfrauentags von Fondation SURGIR (gemeinnützige Stiftung mit Sitz in der Schweiz).

(11)  Nach der Definition der Vereinten Nationen bezeichnet "Femizid" die Tötung einer Frau einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau ist. Femizid wurde festgelegt als fortgesetzte Gewalt gegen eine Frau innerhalb oder außerhalb der Familie, die zu ihrem Tod führt. Untersuchungen zum Femizid in den verschiedenen Ländern belegen, dass diese Verbrechen am häufigsten im privaten Bereich bei intimen Beziehungen auftreten.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Korruptionsbekämpfung in den südlichen Mittelmeerländern“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/06

Berichterstatter: Juan MORENO PRECIADO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Korruptionsbekämpfung in den südlichen Mittelmeerländern“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 5. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 149 gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Korruption ist ein weltweites Problem, das gravierende Beeinträchtigungen für die Bürgerinnen und Bürger mit sich bringt. Im südlichen Mittelmeerraum war sie jüngst einer der Auslöser für die Revolutionen, die als "Arabischer Frühling" bezeichnet werden. Die Zivilgesellschaft, die eigentliche Triebfeder dieser Revolutionen, hat zur Verurteilung der Korruption aufgefordert.

1.2   In vielen Ländern ist die Korruptionsbekämpfung sowohl eine der größten Herausforderungen als auch ein Barometer zur Messung des Grades an Transparenz und Qualität der neuen governance in den Rechts- und Regierungsinstitutionen sowie in den öffentlichen Behörden.

1.3   Die Rechtsvorschriften und Instanzen, die in einigen Ländern zur Korruptionsbekämpfung geschaffen wurden, müssen ausgebaut und gefestigt werden. Die Existenz repräsentativer und unabhängiger ziviler und sozialer Organisationen ist für die Kontrolle der Regierungs- und Verwaltungssysteme durch die Bürger von wesentlicher Bedeutung.

1.4   Die demokratischen Veränderungen fördern positive Reformen, die es zu vertiefen gilt. Über die institutionellen Reformen hinaus ist es notwendig, den Kampf gegen die Korruption in öffentlichen Dienstleistungsbereichen wie Verkehr und öffentliche Arbeiten, Bildung, Gesundheit und Gefängniswesen aufzunehmen. Es sollte vermieden werden, dass sich die Medien ausschließlich dem Thema Sicherheit widmen – zulasten der Korruptionsbekämpfung.

1.5   Um das Niveau der Beziehungen zu ihren Nachbarländern zu bestimmen, muss die EU im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) berücksichtigen, ob die demokratischen Werte wirklich geachtet werden. Der EWSA fordert die EU dazu auf sicherzustellen, dass die Aktionspläne diesen Vorgaben entsprechen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen in der Korruptionskämpfung sowohl intern als auch in den Beziehungen zu den Partnerländern ein moralisches Vorbild sein.

1.6   Der EWSA ersucht die EU darum, von ihren Partnern insbesondere die Wahrung von ideologischem und religiösem Pluralismus, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Chancengleichheit von Männern und Frauen sowie der Vereinigungsfreiheit zu verlangen.

1.7   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Prioritäten der ENP auch bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Migration, Asyl, Visumpolitik, Maßnahmen gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität, Drogen- und Waffenschmuggel, Geldwäsche und Finanz- und Wirtschaftsdelikte erfüllt werden müssen. Durch die Aktionspläne müssen die Reformen der Gerichts- und Strafvollzugssysteme und die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit gefördert werden.

1.8   Darüber hinaus hält der EWSA die effektive Einhaltung der grundlegenden ILO-Übereinkommen über "menschenwürdige Arbeit" durch die Euromed-Länder für vorrangig.

1.9   Der EWSA verpflichtet sich dazu, die Organisationen der Zivilgesellschaft im südlichen Mittelmeerraum weiterhin zu unterstützen, und ist der Auffassung, dass die Regierungen der Partnerländer mit Unterstützung der EU Bildungsprogramme auflegen sollten, um die Schaffung und Stärkung der zivilen und sozialen Organisationen anzuregen. Besonders gilt es, den sozialen Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Rolle der Frauen auf Wirtschafts- und Unternehmensebene zu fördern.

2.   Korruption: ein Hindernis für Entwicklung und Justiz

2.1   Im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen die Länder des südlichen Mittelmeerraums. Gleichwohl erstreckt sich die Korruption in Politik und Verwaltung auf alle Kontinente (einschließlich der EU-Mitgliedstaaten), wie verschiedene anerkannte Agenturen und Organisationen bestätigen und es täglich in Medienberichten festgestellt wird.

2.2   Der EWSA kann und muss den Organisationen der Zivilgesellschaft im südlichen Mittelmeerraum in ihrer derzeitigen Aufbauphase Unterstützung und Solidarität anbieten. Die EU muss ihrerseits über bilaterale Assoziierungsmechanismen und Instrumente der ENP und der Mittelmeerunion einen wirksamen Beitrag zur Verwirklichung der demokratischen Prinzipien leisten, die in der Erklärung von Barcelona von 1995 verankert sind.

2.3   Die Sozialpartner und zivilgesellschaftlichen Organisationen des Mittelmeerraums können entscheidend daran mitwirken, dass sich diese neue Etappe der Demokratisierung durch Transparenz und Verfahren der guten Regierungsführung auszeichnet.

2.4   Die Korruption im Sinne des unrechtmäßigen, mangelhaften oder missbräuchlichen Regierens auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene hat in verschiedenen Ländern zugenommen, namentlich in Ländern mit hohen Armutsraten und ganz besonders in diktatorisch regierten Ländern.

2.4.1   Die Anhäufung wirtschaftlicher Privilegien seitens der herrschenden Eliten, Vetternwirtschaft, Bestechung, unmittelbare Aneignung von Vermögen durch den Staat und dessen Umleitung auf private Konten bzw. in private Investitionen gehören zu den Missbräuchen, die jahrzehntelang den politischen Führungsstil der vor Kurzem gestürzten Diktatoren und anderer, noch herrschender Machthaber geprägt haben.

Neben der systematischen Korruption, auf die sich diese Stellungnahme im Wesentlichen bezieht, haben sich in den Ländern des südlichen Mittelmeerraums korrupte Praktiken in bestimmten Privatsektoren und Personengruppen entwickelt. Einige Praktiken fallen in den Bereich der gewöhnlichen Kriminalität, z.B. der Mafianetzwerke, die basierend auf Korruption und Gewalt eine Parallelgesellschaft außerhalb jedes institutionellen Rahmens aufbauen möchten.

2.4.2   Korruption ist ein auf der Welt weitverbreitetes Phänomen, wie die Organisation Transparency International (TI) in ihrer Jahresuntersuchung (1) feststellt: Darin klassifiziert sie 183 Länder auf einer Skala von 0 Punkten (ausgesprochen korrupt) bis 10 Punkten (sehr transparent); über zwei Drittel der klassifizierten Länder erhalten weniger als 5 Punkte. Die nordafrikanischen Länder befinden sich im unteren Mittelfeld oder am Ende der Rangliste.

2.5   In einigen Ländern wird die Wirksamkeit der geltenden Antikorruptionsgesetze durch die Praktiken der Bestechung und der politischen Kontrolle selbst eingeschränkt. Noch können die Folgen der jüngsten politischen Veränderungen nicht abgeschätzt werden, doch sind sie in bestimmten Fällen bereits offenkundig.

2.6   Das Problem der politischen Korruption berührt verschiedene öffentliche und private Bereiche des Alltags dieser Länder und beeinflusst die Lebensqualität der Bürger: Es führt zum Verlust von Rechten, zur Diskriminierung von Gruppen und zum Schwund von Mitteln infolge von Bestechung oder Einschränkung des rechtmäßigen Zugangs zu Beschäftigung, Information und Repräsentation.

2.7   Im öffentlichen Sektor sind ein Mangel an Transparenz seitens der Behörden und politischen Parteien in Bezug auf die öffentlichen Mittel, Undurchsichtigkeit bei der Kontenführung von Unternehmen, Hürden bei der Kontrollausübung durch die Massenmedien sowie Methoden der Bestechung von Justiz- und Verwaltungsbeamten zu beobachten.

2.7.1   Die dürftigen Mittel der Justizbehörden (und deren Missbrauch bzw. Unterschlagung) hat das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) als einen negativen Faktor bezeichnet, der menschenwürdige Mindestbedingungen in Gefängnissen verhindert und zur Zunahme der Kriminalität beiträgt.

3.   Korruption: ein weitverbreitetes Problem in den Ländern des südlichen Mittelmeerraums

3.1   In den Ländern des südlichen Mittelmeerraums ist Korruption mittlerweile eine gängige Verhaltensweise. Bestimmte Praktiken werden bedenkenlos und nahezu offen angewandt. Korruption betrifft die gesamte Gesellschaft, einschließlich des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens; sie hat sich so ausgebreitet, dass sie fester Bestandteil der Traditionen und Gebräuche ist.

3.2   Korruption wird von der Bevölkerung der südlichen Mittelmeerländer in hohem Maße wahrgenommen, wie Untersuchungen verschiedener nichtstaatlicher Organisationen zeigen.

3.2.1   Es werden drei Arten der Korruption wahrgenommen, die entsprechend ihrer gesellschaftlichen Ablehnung klassifiziert werden können:

a)

Korruptionspraktiken, die von allen verurteilt werden;

b)

Korruptionspraktiken, die nur von einem Teil der Bevölkerung verurteilt werden;

c)

Korruptionspraktiken, die von der Bevölkerung weitgehend toleriert werden.

3.2.2   Beamte und Politiker zählen zu den korruptesten gesellschaftlichen Gruppen.

3.2.3   Das Gesundheitswesen ist einer der Bereiche, in denen die Bürger am häufigsten auf Korruption zurückgreifen, da sie vielfach vor der Wahl stehen, entweder "Schmiergelder" zu zahlen oder nicht die notwendige Versorgung zu erhalten, auch wenn es sich um eine öffentliche Dienstleistung handelt.

3.2.4   In dem für die Gesellschaft und Wirtschaft so wesentlichen Bereich der Justiz betrifft die Korruption sowohl die Einheimischen als auch die ausländischen Investoren. In vielen Ländern werden ausländische Direktinvestitionen durch Korruption im Rechtswesen behindert.

3.2.5   Der öffentliche Dienst ist eine Brutstätte für Korruption. Es werden Systeme entwickelt, durch die Menschen, die nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, im Zuge von Auswahlverfahren eine Stelle im öffentlichen Dienst erhalten können.

3.3   Andere Formen der Korruption

3.3.1   "Gelegentliche" Korruption: Sie dient dazu, eine bestimmte Dienstleistung zu erhalten. Es handelt sich um Korruption durch den Nutzer (eine natürliche oder juristische Person), der sich gezwungen sieht, für den Zugang zu einer Dienstleistung zu bezahlen. Diese teilweise tolerierte "kleine Korruption" richtet ebenfalls erheblichen gesellschaftlichen Schaden an.

3.3.2   "Massenhafte" Korruption: Es handelt sich um eine Korruption, die nicht förmlich verlangt wird. Diejenigen, die sie anwenden, wissen, dass Geschenke und bestimmte Gefälligkeiten den Kontakt und den Zugang zu einer Dienstleistung erleichtern können.

3.3.3   "Institutionalisierte" Korruption: Es handelt sich um eine hartnäckige, tiefsitzende Korruption, die praktisch jeder kennt. Der Nutzer ist im Bilde und kennt im Vorhinein den Preis, den er für den Zugang zu einer Dienstleistung zu zahlen hat.

3.3.4   "Ausgehandelte" Korruption: Sie kommt in bestimmten rechtlichen und wirtschaftlichen Sachbereichen vor, z.B. im öffentlichen Beschaffungswesen oder bei der gütlichen Einigung in Steuerangelegenheiten.

3.3.5   Korruption durch "vollendete Tatsachen": Träger von Wirtschaftsprojekten sind häufig Opfer dieses Typs der Korruption. Wenn sie eine bestimmte Stufe in der Verwirklichung ihres Projekts erreichen, sehen sie sich gezwungen zu zahlen, um ihr Projekt fortsetzen zu können. Auch ausländische Investoren sind mit dieser Art der Korruption konfrontiert: Dann müssen sie zahlen oder sich in bestimmten Fällen mit einem "Würdenträger" zusammentun, um ihre Unternehmung fortführen zu können.

3.3.6   Die Unternehmer sind der Ansicht, dass Korruption eines der Haupthemmnisse für die Unternehmensentwicklung im südlichen Mittelmeerraum ist. In mehreren Ländern nehmen trotz anhaltend hoher öffentlicher Nachfrage nur sehr wenige Unternehmen an öffentlichen Ausschreibungen teil. Die meisten Unternehmen sind der Auffassung, dass die Auftragsvergabe bereits eine "abgemachte Sache" ist.

3.3.7   Korruption des Typs "Dienstleistung gegen Dienstleistung": Hier geht es nicht um die Zahlung von Bargeld, sondern um die Kompensation mittels einer Dienstleistung oder eines Privilegs.

3.3.8   "Pyramidische" Korruption: In bestimmten Dienstleistungsbereichen gibt es eine pyramidisch aufgebaute Korruption. Jede Ebene der Hierarchiepyramide, beginnend bei der untersten, beansprucht einen "Korruptionsanteil", der mit jeder Ebene bis zur Spitze der Pyramide zunimmt. Im Allgemeinen kann in derartigen Bereichen die Ernennung für einen Posten in Höhe des Schätzwerts des "Korruptionsanteils" erkauft werden.

3.3.9   "Mittel- und langfristig geplante" Korruption: Es handelt sich um eine Art "Korruptionswissenschaft". In einem bestimmten Land kann eine Person für einen (sehr) hochrangigen Posten ernannt werden, um einen auf Korruption basierenden Plan zur persönlichen Bereicherung zu erstellen. Dies wird durch die Umleitung der öffentlichen Mittel im ausschließlichen Interesse einer Person oder Gruppe erreicht.

3.3.10   "Parteipolitische Korruption": In vielen Ländern werden bei Wahlen Stimmen gekauft. Wahlkampagnen bieten Einkunftsmöglichkeiten für viele Menschen, insbesondere in ärmeren Gegenden.

3.3.11   Korruption kommt auch in der Privatwirtschaft vor, auch wenn man bei diesem Thema in der Regel ausschließlich auf den öffentlichen Sektor verweist. Der Privatsektor ist durchaus auch von Korruption betroffen. Beispielsweise erhalten die Angestellten in Kliniken eine finanzielle Gegenleistung, die von ihrem Grad der Verantwortung abhängt. In privaten Unternehmen gibt es Korruption bei Vertragsabschlüssen.

3.4   Die Bevölkerung im südlichen Mittelmeerraum sieht der Korruptionsbekämpfung nicht untätig zu:

Man ist sich der Tatsache bewusst, dass Korruption kein "notwendiges Übel" ist und es Länder und Systeme auf der Welt gibt, die ohne Korruption auskommen;

derzeit entstehen Vereinigungen, die nicht nur die Korruption anprangern, sondern auch den Bürgern deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung vor Augen führen;

mehrere Länder haben neue Rechtsvorschriften erlassen, die der Korruptionsbekämpfung Rechnung tragen;

die Bevölkerung ist sich darüber im Klaren, dass die Rechtstaatlichkeit weiter entwickelt werden muss sowie Integrität bei der Bekämpfung von Korruption und Privilegien notwendig ist;

es treten Mandatsträger, einschließlich Vertreter von Minderheiten, in Erscheinung, die die Korruptionsbekämpfung auf die politische Tagesordnung setzen;

es gibt symbolische Verurteilungen von Personen, die sich der Korruption schuldig gemacht haben;

in mehreren Ländern wurden Antikorruptionsstellen eingerichtet.

4.   Korruption: Auslöser für den Bürgeraufstand und Herausforderung für den arabischen Demokratisierungsprozess

4.1   Der sog. Arabische Frühling wurde von der Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Korruption (24.-28. Oktober 2011, Marrakesch) als klare Ablehnung der Korruption und als Aufruf zu Integrität und Demokratie bezeichnet.

4.2   Die Demokratisierungsbewegung hat bislang weder alle arabischen Länder erreicht, noch hat sie sich in den Ländern, deren autoritäre Regierung gestützt wurde, gefestigt. Dennoch hat die schnelle Einführung des politischen Pluralismus das westliche Klischee Lügen gestraft, dass die arabischen Völker keine Demokratie möchten oder auf diese noch nicht vorbereitet sind. Die Zivilgesellschaft engagiert sich in fast allen diesen Ländern, indem sie an den Übergangsprozessen mitwirkt oder einen noch umfassenderen Wandel fordert.

4.3   Trotz der Weite und der Vielfalt der arabischen Welt haben gemeinsame sprachliche, politische und kulturelle Elemente die Verbreitung der Demokratiebewegung, die Ende 2010 in Tunesien begann und unmittelbar darauf nach Ägypten überschwappte, in der gesamten Region erleichtert.

4.4   Diese Prozesse des Wandels haben nicht alle dieselbe Gestalt gehabt noch dieselben Folgen gezeitigt. In mehreren Ländern wurden erstmalig pluralistische Wahlen abgehalten und auf dem Willen des Volkes beruhende Regierungen eingesetzt, was einem tiefgreifenden politischen Wandel gleichkommt. In anderen Ländern haben die friedlichen Proteste zwar keinen Regimewechsel, aber wichtige politische Reformen bewirkt. In Syrien geht die Diktatur weiterhin mit Gewalt gegen die Opposition vor, was unzählige Opfer in der Bevölkerung zur Folge hat.

4.5   Auch die Organisationen der Zivilgesellschaft, die die Hauptakteure der Protestbewegungen sind, versuchen, sich neu zu organisieren und die neuen Chancen oder Versprechen des Wandels zu nutzen.

4.5.1   Beispielsweise sind in Libyen, wo sich das politische System vollständig gewandelt hat, Organisationen entstanden wie der Freie Libysche Arbeiterbund, ein unabhängiger Gewerkschaftsverband, der an die Stelle der offiziellen Gewerkschaftsstruktur des Gaddafi-Regimes getreten ist. In ähnlicher Weise ist in Ägypten das Gewerkschaftsmonopol der zentralen ETUF durch die Gründung neuer Verbände wie EFITU und EDLC zerbrochen.

4.6   Vor dem Aufkommen der Demokratisierungsbewegungen hatte der EWSA bereits erklärt, dass die Vereinigungsfreiheit in den südlichen Mittelmeerländern nicht gewährleistet ist und das Erstarken der Zivilgesellschaft durch politische und administrative Hindernisse erschwert wird.

4.6.1   Es muss sichergestellt werden, dass die früheren Widersprüche zwischen der Ratifizierung der von den Regierungen unterzeichneten internationalen Übereinkommen und den einzelstaatlichen Gesetzen, die diese in der Praxis einschränken oder verhindern, beseitigt werden.

5.   Die Rolle der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft insgesamt in den Demokratisierungsprozessen und den Antikorruptionssystemen

5.1   In der Schlusserklärung des Europa-Mittelmeer-Treffens der Wirtschafts- und Soziaräte und vergleichbarer Einrichtungen (16.-18. November 2011, Istanbul) wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, den demokratischen Übergangsprozess in den südlichen Mittelmeerländern durch die Einrichtung von Regierungsinstitutionen, die Gründung unabhängiger Gerichte und die Unterstützung der Medienfreiheit sowie durch verstärkte Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu fördern und zu festigen.

5.2   Es gilt, die Hindernisse bei der Gründung von Verbänden aus dem Weg zu räumen und vor allem die korrupte Praktik zu beenden, regierungsnahe Personen zu Verbandsvorsitzenden zu machen, um ihre repräsentative Funktion zu untergraben.

5.3   Die Förderung von Tarifverhandlungen im Rahmen des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist von grundlegender Bedeutung.

Über die bloße (wenngleich wichtige) Ratifizierung der ILO-Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit hinaus ist mehr für deren tatsächliche Umsetzung zu tun. Die Regierungen müssen sich daran halten, und sie müssen Gegenstand der Konzertierung zwischen dem Staat und den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen sein.

5.4   Zur Kanalisierung der gemeinsamen Vorschläge der unabhängigen und repräsentativen Verbände sind beratende Institutionen unabdingbar, so wie sie bereits in mehreren Ländern existieren.

5.5   In mehreren Ländern wurden institutionelle Kanäle zur Bekämpfung der Korruption eingerichtet, wie etwa die 2007 geschaffene Zentralstelle zur Korruptionsprävention (Instance centrale de prévention de la corruption) in Marokko, in der die Zivilgesellschaft mitwirkt. Die Organisationen der Verbraucher, Endnutzer, Landwirte, Unternehmer, Frauen, Gewerkschaften und weiterer betroffener Branchen und Gruppen sollten sich ebenfalls an den Gremien zur Kontrolle des Gesundheitswesens, der Preisgestaltung, der Wasserwirtschaft, der Einwanderung, der Sozialdienstleistungen usw. beteiligen.

5.6   Im Allgemeinen spielen die gesellschaftlichen und bürgerschaftlichen Akteure (Gewerkschaften, Unternehmer, Verbände, Nichtregierungsorganisationen) eine grundlegende Rolle – vor allem wenn es sich um unabhängige Organisationen handelt, die in vielen Fällen noch am Anfang stehen.

5.7   Im Kampf gegen die Korruption variiert die Rolle der Sozialpartner (2) zwischen einzelnen Ländern. Ihre Einbindung gestaltet sich in den südlichen Mittelmeerländern unterschiedlich.

5.8   In bestimmten Ländern wurden Ausbildungs- und Sensibilisierungsprogramme entwickelt. Deshalb ist es gegenwärtig notwendig, ein breit angelegtes Programm zur Stärkung der Korruptionsbekämpfung zu fördern und zu unterstützen.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) 2011, veröffentlicht 2011.

(2)  Im Forum für den sozialen Dialog hat man sich grundsätzlich auf eine Kampagne mit dem Titel "Sozialpartner gegen Korruption und für verantwortungsvolles Regieren" geeinigt.


15.11.2012   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/31


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken und Verhinderung der durch soziale Netzwerke verursachten Probleme“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/07

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken und Verhinderung der durch soziale Netzwerke verursachten Probleme“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 173 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Auswirkungen der sozialen Netzwerke auf Einzelpersonen und Gesellschaft, ihre künftige Entwicklung und ihre Folgen machen es erforderlich, dass die EU-Institutionen dringend im Einklang mit der Digitalen Agenda verbindliche und freiwillige supranationale Maßnahmen zur Selbst- oder vorzugsweise zur Koregulierung in Betracht ziehen, um in einem dynamischen digitalen Binnenmarkt einen verantwortlichen und intelligenten Umgang mit diesen sozialen Netzwerken sicherzustellen und den damit verbundenen Problemen und Risiken vorzubeugen. Nach Meinung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sollten idealerweise Mustergesetze als Grundlage für eine weltweite Regelung geschaffen werden. Solange dies nicht möglich ist, sollte zumindest eine Lösung auf Unionsebene gefunden werden.

1.2

Sollten Selbst- oder Koregulierungsbestimmungen erlassen werden, müssen diese in ihrer Anwendung stets zeitlich begrenzt sein und regelmäßig überprüft werden. Bei mangelnder Anwendung müssen verbindliche Bestimmungen angenommen werden.

1.3

Konkret sollte die Europäische Kommission im Rahmen der Förderung der digitalen Kompetenzen Sensibilisierungskampagnen und Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, insbesondere zugunsten der schutzbedürftigen Personenkreise, durchführen, um die negativen Auswirkungen eines unsachgerechten Umgangs mit den sozialen Netzwerken zu verhindern bzw. abzumildern. Auch müssen gezielte Erziehungsmaßnahmen im Hinblick auf elterliche Aufsicht und Begleitung entwickelt werden, und die Internet-Hotlines, die es ermöglichen, illegale Inhalte im Internet anzuzeigen, sollten auch für den unsachgerechten Umgang mit sozialen Netzwerken zuständig sein und entsprechend ausgebaut werden.

1.4

Um diese Initiativen zum Erfolg zu führen, ist es außerdem nötig, allgemein eine gute Praxis in den Bereichen Erfüllung der Durchführungsverpflichtungen seitens der Provider, Kontrolle von Werbung und Beaufsichtigung des Zugangs der jüngsten Nutzer zu fördern, da diese Maßnahmen zusammenwirkend dazu beitragen können, unerwünschte Auswüchse der sozialen Netzwerke zu verhindern und vielmehr die damit verbundenen Chancen und Synergiepotenziale deutlich zu machen. Darüber hinaus ist auch auf das Phänomen der Abhängigkeit von sozialen Netzwerken hinzuweisen, über das die Nutzer stärker informiert und die Eltern von Jugendlichen, für die die Gefahren am größten sind, aufgeklärt werden sollten.

1.5

Angesichts der Eingriffe in die Privatsphäre im Rahmen der Arbeitsbeziehungen und durch die Nutzung der neuen Technologien, insbesondere der sozialen Netzwerke, sollte das Recht auf Schutz der Privatsphäre gestärkt werden, indem diese Frage von den Sozialpartnern in entsprechenden Vereinbarungen geregelt wird.

1.6

Der Ausschuss wiederholt (1), dass er auf die Veröffentlichung eines Kodex der EU-Online-Rechte baut, in dem die Rechte aller digitalen Nutzer in der EU klar und verständlich zusammengefasst sind und sich auch auf den verantwortlichen Umgang mit den sozialen Netzwerken und die Verhinderung der damit verbundenen Probleme sowie unfairen oder schädlichen Praktiken, insbesondere im Zusammenhang mit kontextsensitiver Werbung, erstrecken.

2.   Einleitung

2.1

Mit dieser Initiativstellungnahme werden dreierlei Ziele verfolgt:

a)

Fortentwicklung auf der Grundlage vorhandener Studien, Mitteilungen (Mitteilung über künftige Netze und das Internet, COM(2008) 594 final (SEC(2008) 2507 und SEC(2008) 2516)) und Stellungnahmen (2);

b)

Aufwertung der Selbstregulierungsvereinbarung "Grundsätze für sichere soziale Netze in der EU" (10. Februar 2009);

c)

Vorschläge für Maßnahmen im Rahmen der Digitalen Agenda für Europa (COM(2010) 245 final/2).

2.2

Das allgemeine Wachstum der digitalen Gesellschaft in den letzten Jahren und insbesondere die kontinuierliche Ausweitung der Online-Communities haben die Notwendigkeit verdeutlicht, durch geeignete politische Maßnahmen einen verantwortlichen Umgang mit sozialen Netzwerken zu fördern und den damit verbundenen Gefahren und Problemen vorzubeugen bzw. angemessene Schutzvorkehrungen zu treffen.

2.3

Aufgrund ihrer kontinuierlichen Weiterentwicklung und ihrer inhärenten Sozialraumdimension müssen die sozialen Netzwerke ständig neu definiert und folglich auch der Umgang damit neu überdacht werden. Es kann aber an bestimmten grundlegenden und wichtigen Eigenschaften angesetzt werden, um relevante Handlungsbereiche abzustecken.

2.4

Demnach beruhen soziale Netzwerke als komplexes Geflecht freiwilliger sozialer Interaktion auf einem dynamischen Austausch in einem offenen, durch positive Rückkopplungen geprägten System.

2.5

Die Veränderlichkeit der Netzarten und -anwendungen sowie der Nutzerprofile und der Inhalte hat daher zur Folge, dass die Entwicklung nie abgeschlossen ist und immer weitergeht, weshalb genaue allgemeine Regeln für die Funktionsweise der Netze aufgestellt werden müssen. Deshalb sollte regelmäßig Feldforschung betrieben werden, um dieser Notwendigkeit gerecht zu werden und außerdem die Nutzung von einem oder mehreren sozialen Netzwerken zu untersuchen, so dass letztlich auch Orientierungshilfe für technologisch neutrale Vorschriften gegeben werden kann, die der notwendigen flexiblen Herangehensweise gerecht werden.

2.6

Des Weiteren begünstigen die in dieser Stellungnahme vorgeschlagenen Maßnahmen das in der Europa-2020-Strategie (COM(2010) 2020 final) festgeschriebene Ziel eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums. In diesem Sinn muss dafür Sorge getragen werden, dass die sozialen Netzwerke in sich die Wissensgesellschaft und Crowdsourcing, die Förderung aktiverer und verantwortungsvollerer Akteure und einen effizienten virtuellen Markt, Zusammenarbeitsstreben und soziale Integration vereinen.

2.7

Es geht darum, nicht nur die Infrastrukturen im Hinblick auf einen schnellen, sicheren, barrierefreien und inklusiven Zugang zu verbessern und die digitale Mündigkeit der Bürger zu fördern, sondern den Bürgern eine Reihe von Rechten zu garantieren, die für das digitale Umfeld von Bedeutung sind (z.B. Meinungs- und Informationsfreiheit, Schutz der personenbezogenen Daten und der Privatsphäre, Transparenzanforderungen, Universaldienst für Telefon- und funktionale Internetdienste sowie Mindestanforderungen an die Dienstqualität) (COM(2010) 245 final/2).

2.8

Die Privatsphäre ist ein wesentlicher Aspekt bei der Nutzung der sozialen Netzwerke. Der Ausschuss hat bereits zu dem Vorschlag für eine Datenschutz-Grundverordnung Stellung genommen und das "Recht auf Vergessenwerden" und den Schutz der Privatsphäre durch die Standardeinstellungen entschieden befürwortet, d.h., es darf nicht von stillschweigender Zustimmung ausgegangen werden, sondern diese muss ausdrücklich erteilt werden.

2.9

Internetsuchmaschinen müssten durch standardmäßige Sicherheits- und Privatsphäreneinstellungen eine Profilindexierung verhindern und besonders sensible Daten schützen.

2.10

Außerdem muss eine bessere Marktgovernance in diesem Sektor erreicht werden, indem die Provider eingebunden werden und gleichzeitig konkrete und bindende Auflagen erfüllen müssen, beispielsweise hinsichtlich der Kontrolle von Werbung, der Verwendung der verfügbaren Informationen oder der Generierung damit zusammenhängender Geschäftsnischen (z.B. Versicherung von Risiken für die Online-Rechte der Nutzer sozialer Netzwerke).

2.11

Im Rahmen der Mitverantwortung müssen die Nutzer jedoch die Hinweise und Leitlinien der zuständigen Einrichtungen für einen intelligenten und verantwortlichen Umgang mit den sozialen Netzwerken ("soziale Verantwortung der Nutzer") befolgen, um über die ursprünglichen Zielsetzungen der verschiedenen Netzwerke hinaus eine optimale Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu ermöglichen und größtmögliche Vorteile aus der Informationsverbreitung und Transparenz im Interesse gemeinsamen Lernens und multikultureller Bereicherung zu ziehen. Allerdings bauen Rechtmäßigkeitsanforderungen auf einer Fehlannahme, und zwar der Existenz eines ausreichend informierten und sensibilisierten Nutzers, auf, denn statistisch gesehen lesen in Wirklichkeit weniger als 0,001 % der Nutzer die Nutzungsbedingungen.

3.   Dynamisches Wachstum der sozialen Netzwerke

3.1

Die Entwicklung der sozialen Netzwerke hat sich in den letzten beiden Jahren beschleunigt, wodurch die Zahl der Nutzer spektakulär angestiegen ist. 2010 war die Rede von knapp 1 Milliarde Nutzer weltweit, ein Anstieg um 23 % an zumeist jugendlichen Nutzern im Vergleich zum Vorjahr. Informationen über die nach Ländern aufgeschlüsselten Kennzahlen der sozialen Netzwerke lassen sich aus den zu diesem Zweck erstellten Weltkarten ablesen, die die Verbreitung sozialer Netzwerke veranschaulichen.

3.2

Der Anteil jugendlicher Nutzer ist weitaus größer als der Anteil anderer Altersgruppen. Eurostat zufolge gehörten im Jahr 2010 in Europa vier Fünftel der Internetnutzer zwischen 16 und 24 Jahren einem sozialen Netzwerk an, gegenüber zwei Fünftel in der Altersgruppe der 25-54-Jährigen und weniger als ein Fünftel in der Altersgruppe der 55-74-Jährigen (vgl. die Erhebung im Auftrag der Europäischen Kommission Risks and safety on the internet). Der Ausschuss verweist in diesem Zusammenhang auf seine in Erarbeitung befindliche Stellungnahme zum Thema "Ein Rechtsrahmen für an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung".

3.3

Soziale Netzwerke bieten ihren Nutzern viele verschiedene Möglichkeiten. Ein soziales Netzwerk ermöglicht es seinen Nutzern, mit weit entfernten Freunden oder Familienmitgliedern zu kommunizieren, neue Freundschaften zu schließen, Multimedia-Informationen auszutauschen, Arbeitsbeziehungen zu pflegen, Projekte vorzustellen, persönliche und berufliche Kontakte zu knüpfen, Ideen zu verbreiten oder sich für eine Sache zu engagieren usw. In den jüngsten sozialen Netzwerken wie Instagram, Pinterest und Tumblr, die bereits mehr Nutzer als YouTube, LinkedIn oder Google+ zählen, wurden diese Möglichkeiten in Bereichen wie der Übertragung von Bildern, Infografiken und Videos noch erheblich ausgebaut

3.4

Vor allem aber schätzen die Nutzer, Inhalte unmittelbar mit einer großen Anzahl Kontakte teilen zu können, und zwar in erster Linie mit nicht netzwerkabhängigen Kontakten (Familie, Freunde, Bekannte), doch werden die sozialen Online-Netzwerke auch genutzt, um neue Bekanntschaften zu schließen.

3.5

Durch die sozialen Netzwerke entsteht ein neues Beziehungsmodell mit verschiedenen positiven Merkmalen, insbesondere bezüglich seines Beitrags zur (3)

Gewährleistung und Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Situationen;

Bildung und Entwicklung von Netzgemeinschaften;

(Wieder)Auffinden von Freunden und Familienangehörigen und Schaffung einer Möglichkeit der Kommunikation mit ihnen;

Verhütung von Gefahrensituationen für Minderjährige und Artikulationsmöglichkeiten für hilfesuchende Minderjährige;

Werbung für Güter und Dienstleistungen und Zunahme des elektronischen Handels

und nicht zuletzt einer neuen Sichtweise sozialer Netzwerke als mobilitätsfördernd.

3.6

Die Anwendbarkeit der sozialen Netzwerke erstreckt sich entsprechend den ihrer Nutzung zugrundeliegenden Beweggründen auf immer mehr Bereiche, u.a. familiäre und gesellschaftliche Kommunikation, geschäftlicher und spielerischer Informationsaustausch, Unterhaltung und Freizeitgestaltung, persönliche Beziehungen, Wissensvermittlung und Lernen, Arbeits- und Berufsumfeld, bürgerliche Partizipation und Freiwilligenarbeit, Diskussionen über Meinungen und Ideen usw.

3.7

Es ist zu bedenken, dass virtuelle Gemeinschaftsräume im Internet wie reale Gemeinschaftsräume in der physischen Welt aufgebaut und zu verstehen sind, in denen die Nutzer auch nicht die Spielregeln festlegen. Wer sich anmeldet, akzeptiert vom Diensteanbieter festgelegte vertragliche Bestimmungen, wobei der Anschein der Unentgeltlichkeit erweckt wird. Allerdings hat sehr wohl ein Handel stattgefunden: die Übertragung persönlicher Daten. Wer sich in einem sozialen Netzwerk anmeldet, überprüft im Allgemeinen nicht die rechtlichen Informationen und weiß folglich nicht, was im weiteren Verlauf mit den persönlichen Daten passieren kann, wie die Umgebung konfiguriert ist, und wer die Informationen zu welchem Zweck abrufen kann (El Derecho Fundamental a la Protección de Datos: Guía del Ciudadano, Agencia Española de Protección de Datos, Januar 2011 (https://www.agpd.es/portalwebAGPD/index-ides-idphp.php).

3.8

Dennoch haben die Nutzer der sozialen Netzwerke das Gefühl, sich diese virtuellen Räume angeeignet und die Kontrolle über geschaffene Inhalte und angegebene Informationen zu haben. Diese Netze vermitteln ihren Nutzern das Gefühl, selbst Protagonist und frei zu sein, und verbauen ihnen damit häufig die Einsicht, dass es andere sind, die die Spielregeln festlegen und kontrollieren und somit in Wirklichkeit über die Programme und sämtliche Inhalte verfügen und nur die ihnen genehmen Einschränkungen vorschlagen (wie beispielsweise Altersbeschränkungen, die den Zugang überhaupt nicht verhindern).

3.9

Zwar gibt es Bemühungen, einen Ethik-Kodex festzulegen, um eine angemessene Nutzung der sozialen Netzwerke im Einklang mit den Zielsetzungen sicherzustellen, sei es durch freiwillige Selbstregulierung, sei es durch einen partnerschaftlichen Regulierungsansatz zur Steuerung der Tätigkeiten.

3.10

Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Nutzer der sozialen Netzwerke sich diversen Risiken aussetzen, die sich aus ebendieser Nutzung ergeben. Einige der Risiken bestehen allgemein bei der Benutzung des Internet und treten in ähnlicher Weise bei anderen Anwendungen auf; im Falle der sozialen Netzwerke jedoch spitzen sich diese Probleme aufgrund bestimmter Sachverhalte zu wie der Anhäufung von Daten von Millionen Bürgern, der überwiegend jugendlichen Nutzergemeinde, die keinerlei vorherige Anleitung im intelligenten und verantwortlichen Umgang mit sozialen Netzwerken oder Warnung vor den damit verbundenen Gefahren erhalten (zumal Eltern und Lehrer im Allgemeinen nicht aufgrund eigener Kenntnisse und Erfahrungen Regeln für einen angemessenen Umgang vorgeben können), sowie der Unkenntnis der Probleme und Herausforderungen, die bei einer so neuartigen und schwindelerregenden Entwicklung wie den sozialen Netzwerken entstehen können, bei der die Internetnutzer praktisch Teil eines Experiments sind.

3.11

Eine neue, sich rasch verändernde Technologie und neue Sozialräume für Jugendliche, mit denen die Eltern keine Erfahrung haben, rufen gesellschaftliche Ängste hervor, bilden aber auch den Nährboden für Sensationalismus, Mythen und potenziell unangemessene politische Reaktionen (UNICEF-Bericht Child Safety Online: Global Challenges and Strategies).

3.12

U.a. wären folgende Risiken zu nennen: psychologische Traumata aufgrund von Beschimpfungen über dieses Medium; sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen (Cyber-Mobbing und Cyber-Grooming); wiederholtes Mobbing in einer Organisation durch Vorgesetze, Kollegen oder Untergebene; Mobbing am Arbeitsplatz durch Eindringen der Unternehmen in die Privatsphäre ihrer Arbeitnehmer oder exzessive Smartphone-Nutzung; Verbreitung von Fotos oder Videos, in denen sich Jugendliche selbst oder andere Jugendliche nackt oder halbnackt zeigen (Sexting); explizite Werbung für Prostitution und "Begleitdienste"(Escort); vorzeitige Sexualisierung von Kindern in sozialen Netzwerken; wiederholte Verletzung der Privatsphäre sowie der persönlichen Ehre und Würde; Angriffe auf die körperliche oder geistige Gesundheit der Nutzer; Aufrufe zu Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; Verbreitung von totalitären faschistischen Ideologien oder Verherrlichung des Nazismus; Selbstmord von Jugendlichen, vermutlich als Folge einer öffentlichen Verbreitung bestimmter intimer Details über diese Netze.

3.13

Juristen zufolge beinhalten die allgemeinen Nutzungsbedingungen vieler dieser sozialen Netzwerke die Zustimmung der Nutzer zur Verwendung der von ihnen eingestellten Inhalte durch die betreffende Plattform, was die meisten Internetnutzer sich nicht klarmachen.

3.14

Hieraus ergibt sich das Risiko einer insbesondere Jugendliche gefährdenden unlauteren oder schädlichen Nutzung der sozialen Netzwerke seitens anderer Nutzer. Hinzu kommen die Risiken, die sich aus dem individuellen Gebrauch der sozialen Netzwerke ergeben, der den Alltag der Nutzer auf persönlicher, familiärer, beruflicher oder sozialer Ebene beeinträchtigen kann. Nicht zu vergessen ist auch das Risiko von Online-Zahlungssystemen, durch die Kinder zum Kauf von Produkten angestiftet werden können.

3.15

Ferner besteht das Risiko, dass Nutzer sich in betrügerischer Absicht oder im Zustand der Selbsttäuschung oder durch Fantasie beflügelt eine fiktive Identität schaffen. In jedem Fall aber können leicht die Grenzen zwischen Intim- und Privatsphäre und öffentlichem Bereich verschwimmen und Aufmerksamkeit heischenden, narzisstischen Verhaltensweisen oder gar Realitätsverlust Vorschub geleistet werden (Enrique Echeburúa y Paz de Corral). Wie bereits erwähnt kann virtuelle Kommunikation im Übermaß zur Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen führen, indem stabile und unmittelbare Beziehungen durch schwächere und häufig unsichere Beziehungen ersetzt werden. Dies kann zu Vereinsamung und sogar zur Flucht ins virtuelle Leben führen.

3.16

Die Nutzer sozialer Netzwerke lassen nicht genug Vorsicht walten, wenn sie Freundschaftsanfragen von Fremden annehmen und binnen weniger Stunden Chat bereits sensible, intime und private Informationen mit ihnen teilen wie Adresse, Telefonnummer, Familienname usw. – Informationen eben, die üblicherweise bei der Passwort-Wiederherstellung abgefragt werden. Und dann steht der Preisgabe weiterer vertraulicher Informationen über beispielsweise den Arbeitsplatz, Zukunftspläne oder verwendete Software eigentlich nichts mehr im Wege.

3.17

Zusammengefasst lässt sich, auf einschlägige Studien gestützt, sagen, dass die Nutzer sozialer Netzwerke Freundschaftsanfragen Unbekannter annehmen, wobei sie sich lediglich auf ein gutes Profilbild stützen, und schon nach kurzem Online-Chat bereitwillig alle möglichen privaten Informationen preisgeben. Da nun den meisten dieser Netzwerke die Prämisse zugrunde liegt, dass diese sogenannten Freunde uneingeschränkt auf alle Informationen und Daten aller Mitglieder zugreifen können, liegt auf der Hand, dass als praktische Folge der allgemeinen und wahllosen Zulassung jedweden Bekannten oder Unbekannten als "Freund" alle in ein soziales Netzwerk eingestellten Informationen frei zugänglich sind.

3.18

Deshalb sollten im Rahmen des Programms "Mehr Sicherheit im Internet" präventive Sensibilisierungskampagnen durchgeführt werden, um folgendes zu vermitteln: Vor der Verwendung der verschiedenen Dienste sind die einschlägigen Nutzungsbestimmungen und Privatsphäre-Einstellungen zu lesen; die Einstellung von Informationen sollte überlegt erfolgen; Passwortsicherheit; es will gut überlegt sein, welche Informationen veröffentlicht werden und wer darauf zugreifen darf; Kontaktliste; Virenschutz. Insbesondere muss darüber informiert werden, welche Hilfe Opfern regelwidriger Verhaltensweisen in sozialen Netzwerken offensteht. Ferner müssen Lehrerfortbildungsinitiativen durchgeführt und pädagogische Materialien für eine frühzeitige Förderung sozialer und digitaler Kompetenz bereitgestellt werden.

3.19

In diesem Zusammenhang ist die Unterstützung von Nutzerverbänden und NGO, die eine echte unabhängige Drittpartei gegenüber den Behörden und der Wirtschaft sind und auf demokratischer Grundlage arbeiten, durch die Programme der Europäischen Kommission von großer Bedeutung.

4.   Probleme aufgrund einer unangemessenen Nutzung sozialer Netzwerke

4.1

Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge leidet jede vierte Personen an einem Problem, das auf eine übermäßige Nutzung der neuen Technologien zurückzuführen ist. Kinder und Jugendliche als zwar sachkundigste, aber eben auch unreife Nutzer sind am meisten durch Internet-Abhängigkeit gefährdet.

4.2

Diese Art Sucht wird auch als "nicht toxisch", "nichtstofflich" oder "nicht chemisch" bezeichnet. Auch wenn manche Experten der Meinung sind, dass es sich nicht um Sucht im eigentlichen Sinn handelt (wie in den Bezeichnungen "neue Suchtformen", "soziale Sucht", "nichtstoffliche Sucht" oder "nicht chemische Sucht" anklingt), sondern eher um Missbrauch, unangemessene Verwendung oder Abhängigkeit, vertreten andere den Standpunkt, dass der Begriff in Anlehnung an beispielsweise Arbeits-, Kauf- und Sexsucht durchaus angemessen ist.

4.3

Die übermäßige Nutzung der virtuellen sozialen Netze kann zu Vereinsamung, Leistungseinbrüchen, Desinteresse an anderen Dingen, Verhaltensstörungen, wirtschaftlichen Verlusten sowie Bewegungsmangel und Übergewicht führen. Kurz gesagt, die Abhängigkeit von und die Einengung des Lebensstils auf eine/r bestimmte/n Handlungsweise machen die Sucht aus. Das Suchtpotenzial der sozialen Netzwerke ergibt sich demnach nicht aus dem Verhalten der Nutzer in diesen Netzen, sondern aus der Beziehung der Nutzer zu diesen Netzen (Alonso-Fernández, 1996; Enrique Echeburúa y Paz de Corral, 2009).

4.4

Die Sucht wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus und ruft Angstzustände, Depressionen, Obsessionen, Schlafstörungen und Persönlichkeitsveränderungen hervor, die häufig wiederum zu Misshandlungen, Streit, Verkehrs- und Arbeitsunfällen und Selbstverletzung führen können.

4.5

Hinzu kommen körperliche Beschwerden wie HWS-Syndrom, Sehnenscheidenentzündungen, Karpaltunnelsyndrom und Sehstörungen. Das äußere Erscheinungsbild verwahrlost, Schlafmangel tritt auf, und die Ernährungsgewohnheiten verändern sich.

4.6

Internetgebrauch und übermäßige Internetnutzung sind eng mit psychosozialen Gegebenheiten verknüpft, z.B. der psychologischen Anfälligkeit, den Stressfaktoren und dem familiären und sozialen Umfeld. Für die übermäßige Verwendung der sozialen Netzwerke seitens Jugendlicher sind spezifische Risikofaktoren bestimmend.

4.7

Verschiedene Alarmzeichen kündigen an, wenn eine Vorliebe in Sucht umzuschlagen droht – Schlafverzicht, Vernachlässigung anderer wichtiger Tätigkeiten, Beschwerden einer nahestehenden Person über die Internetnutzung, ständiges Denken ans Internet, wiederholtes Scheitern von Versuchen, das Nutzungsausmaß zu reduzieren, Verlust des Zeitgefühls usw. Eine frühzeitige Beachtung dieser Alarmzeichen und die Entwicklung von Beurteilungs- und Diagnoseinstrumenten kann die rechtzeitige Entdeckung und anschließende Behandlung erleichtern.

4.8

Notwendig ist die Bereitstellung öffentlicher Mittel und die Durchführung präventiver Maßnahmen (Informations- und Sensibilisierungskampagnen, Erziehungsprogramme, Vermittlung digitaler Kompetenzen, psychologische Hilfe, Rückverfolgbarkeit und Meldung von Risiken usw.), wobei das Augenmerk vorrangig auf die spezifischen Bedürfnisse der am stärksten schutzbedürftigen Gruppen gerichtet werden sollte.

4.9

Es sind physische und psychische Entzugserscheinungen zu beobachten – Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Ungeduld, Unruhe, Traurigkeit, Angst –, wenn die Internetverbindung unterbrochen werden muss, die Nutzer eine Internettätigkeit nicht beenden können oder die Verbindung langsam ist (Estévez, Bayón, De la Cruz y Fernández-Liria, 2009; García del Castillo, Terol, Nieto, Lledó, Sánchez, Martín-Aragón, et al., 2008; Yang, Choe, Balty and Lee, 2005).

4.10

Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Gefühlszustände erhöhen die Suchtanfälligkeit: Impulsivität, Dysphorie (Gemütszustand, bei dem die Stimmung des Betroffenen bedrückt bis gereizt ist), Stressintoleranz, sowohl physisch (Schmerz, Schlaflosigkeit oder Müdigkeit) als auch psychisch (Aversionen, Sorgen, Verantwortlichkeiten), und die Suche nach dem ultimativen Adrenalin-Kick (Estévez, Bayón, De la Cruz y Fernández-Liria, 2009; García del Castillo, Terol, Nieto, Lledó, Sánchez, Martín-Aragón, et al., 2008; Yang, Choe, Balty and Lee, 2005).

4.11

Suchtauslöser können aber auch Persönlichkeitsstörungen sein, so z.B. extreme Schüchternheit, niedriges Selbstwertgefühl oder negatives Körpergefühl, oder eine Überforderung mit Alltagsproblemen. Ferner erhöhen frühere Störungen (Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Sozialphobie und Feindseligkeit) das Risiko, eine Internetabhängigkeit zu entwickeln (Estévez, Bayón, De la Cruz y Fernández-Liria, 2009; García del Castillo, Terol, Nieto, Lledó, Sánchez, Martín-Aragón, et al., 2008; Yang, Choe, Balty and Lee, 2005).

4.12

Im Rahmen der Vorbeugung kommt Eltern und Lehrern eine Schlüsselrolle zu, um gesunde Verhaltensweisen im Umgang mit sozialen Netzwerken zu fördern. Auch die Mitwirkung von Peergroups (sachkundige und risikobewusste Freunde, die Gleichaltrigen oder Jüngeren beibringen, die Gefahren zu erkennen und zu vermeiden) als Online-Beschützer ist sinnvoll.

4.13

Schlussendlich geht es darum, durch einen vernünftigen Gebrauch die vielfältigen Möglichkeiten der sozialen Netzwerke zu nutzen, die auch gesellschaftlich wichtige Bereiche wie Beschäftigung und Verbrauch berühren (Salcedo Aznal Alejandro, ¿Sociedad de consumo o redes de consumidores? Esbozo para un análisis social del consumidor actual, 2008), was aber nicht Gegenstand dieser Stellungnahme ist. Daher sollten die notwendigen Reformen durchgeführt werden, um zu verhindern, dass bei der Anwendung des Arbeitsrechts aufgrund der Nutzung der neuen Technologien (Mobiltelefon, E-Mail, soziale Netzwerke usw.) unzulässige Eingriffe in die Privatsphäre erfolgen. Diesbezüglich sollten die Sozialpartner Vereinbarungen ausarbeiten, die auf den Grundsätzen der einschlägigen Empfehlung des Europarats beruhen.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(2)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 69.

(3)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 69.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/36


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine aktualisierte Analyse der Kosten des Nicht-Europa“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/08

Berichterstatter: Georgios DASSIS

Mitberichterstatter: Luca JAHIER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Für eine aktualisierte Analyse der Kosten des Nicht-Europa

(Initiativstellungnahme).

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss "Kosten des Nicht-Europa" nahm seine Stellungnahme am 19. Juni 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 154 gegen 5 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1

Nahezu ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung des Cecchini-Berichts 1988 wird die Frage nach den "Kosten des Nicht-Europa" wieder aufgeworfen. Diese berechtigte und interessante Frage kann der Ausgangspunkt einer Debatte darüber sein, wie es mit der europäischen Integration weitergehen soll. Während dieses Thema im Cecchini-Bericht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Binnenmarkts angegangen wurde, ist es heute unumgänglich, weit darüber hinauszugehen und über die Kosten einer Nichtvollendung der wirtschaftlichen und politischen Union in Europa zu diskutieren. Diese Kosten sind bereits jetzt äußerst hoch und könnten noch steigen, wenn nichts unternommen wird.

1.2

Vor dem Hintergrund dessen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten – unter dem Druck der Finanzmärkte, aber auch neuer verbindlicher institutioneller Regeln – gezwungen sein werden, ihre Entschuldungsbemühungen zu verstärken, stellt sich das Problem in aller Schärfe. Wie sollen sie dies bewerkstelligen, ohne das Wachstum zu opfern, das die Finanzmärkte im Übrigen fordern? Die richtige Vorgehensweise, um eine endlose Abwärtsspirale zu verhindern und einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Europas nicht zu Armut und Elend zu verdammen, wären die Vergemeinschaftung eines gewissen Teils der Ausgaben auf europäischer Ebene und eine ehrgeizigere europäische Politik. Dies würde es der Union ermöglichen, einen positiven Kreislauf des Wachstums einzuleiten, sich eine starke wirtschaftliche, industrielle und technologische Identität in dem globalisierten Umfeld zu schaffen und unser Sozialmodell zu wahren, das in großem Maße dazu beigetragen hat, Europa zu dem zu machen, was es heute ist.

1.3

Die in dieser Stellungnahme vorgeschlagene Herangehensweise an die Frage der Kosten des Nicht-Europa weist sicher einige methodisch-technische Nachteile auf, doch besteht ihr hauptsächlicher Vorteil darin, dass Argumente zur Bewältigung der aktuellen Krise und Vollendung der wirtschaftlichen und politischen Union in Europa vorgebracht werden, die rational schwer anfechtbar sind. Im Grunde genommen geht es darum, mit schlüssigen Argumenten die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Probleme dadurch zu lösen sind, dass der Subsidiaritätszeiger auf mehr Europa und auf ein besseres Europa gestellt wird, während gewisse politische Kräfte versuchen, Europa zum Sündenbock zu machen.

1.4

In dieser Hinsicht enthält die Europa-2020-Strategie sehr interessante Elemente. Ihr Ziel, insbesondere mit Hilfe gemeinsamer politischer Maßnahmen und Vorgaben sowie einer verstärkten Abstimmung unter den Mitgliedstaaten auf allen Ebenen und in den Bereichen, in denen ein europäisches Vorgehen inexistent oder rudimentär ist, eine wahrhaftige Konvergenz zu fördern, ist zu begrüßen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Strategie ausreicht, um die große Aufgabe zu bewältigen, eine echte wirtschaftliche und politische Union zu schmieden, mit der sich die Stellung Europas im globalisierten Umfeld stärken lässt, und ob ihr in ihrer jetzigen Form ein besseres Schicksal beschieden sein wird als der Lissabon-Strategie.

1.5

Es erscheint dem Ausschuss notwendig, noch weiter zu gehen und sich an den geplanten halbjährlichen Debatten der Staats- und Regierungschefs der 17 Euro-Länder und der 27 EU-Mitgliedstaaten zu beteiligen und die Staats- und Regierungschefs und die Öffentlichkeit zu der Einsicht zu bringen, dass eine kopernikanische Revolution im Verhältnis zwischen den Staaten, der EU und der Welt herbeigeführt werden muss. Sich zu überlegen, welche Kosten ein "Nicht-Europa" uns heute und in Zukunft beschert, ist eine sehr gute Art, darauf hinzuarbeiten. Durch den Nachweis der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Vorteile muss den Euroskeptikern widersprochen und die Öffentlichkeit als Zeuge gewonnen werden: Europa ist nicht das Problem, sondern Europa muss die Lösung sein.

1.6

Ein solcher Ansatz birgt den Vorteil, die Kosten zu senken, die Ausgaben zu optimieren und mehr Chancen zu schaffen, um angemessen auf die aktuellen Herausforderungen reagieren zu können und einen für alle günstigen Ausstieg nach oben zu finden.

1.7

Angesichts dessen müssen die Kosten des Nicht-Europa in einer deutlich breiter angelegten Analyse untersucht werden, als dies im Rahmen der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen "Studie über die Kosten des Nicht-Europa: die unausgeschöpften Potenziale des europäischen Binnenmarkts" vorgeschlagen wird. Wir brauchen nicht noch eine x-te Studie (so gut sie auch sein mag), die in unseren Bücherregalen verstaubt und von Zeit zu Zeit von einigen hochspezialisierten Kennern hervorgezogen wird.

1.8

Der EWSA fordert dementsprechend die Kommission auf, in einem ersten Schritt eine möglichst genaue Schätzung sämtlicher in dieser Stellungnahme angesprochenen Kosten des Nicht-Europa und ihrer Wirkung auf die Beschäftigung und das Wachstum vorzunehmen. Er schlägt vor, in einem zweiten Schritt in die Europa-2020-Strategie konkret bezifferte Ziele für die Senkung dieser Kosten mit einem klaren Aktionsplan und einer systematischen Bewertung der bei dessen Umsetzung erzielten Fortschritte aufzunehmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Die Frage der Kosten des Nicht-Europa wurde vom EWSA in den letzten Jahren in mehreren Stellungnahmen unter verschiedenen Blickwinkeln aufgeworfen (1). Ende 2010 wurde die Debatte über ein Nicht-Europa vom Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission wieder angefacht. Letztere hat ferner eine ambitionierte Studie in Auftrag gegeben, um die Arbeiten des Cecchini-Berichts zu aktualisieren (2)  (3).

2.2

Die Kommission und das Europäische Parlament ließen sich offenbar bei der Wahl der Methode und des Gegenstands stark von den Vorbereitungen der Binnenmarktakte II leiten, obgleich sie in ihren Mitteilungen auch die Notwendigkeit hervorhoben, das Thema genau einzugrenzen und sich auf "wissenschaftliche Erkenntnisse" (4) zu stützen, die ein solches Vorgehen bieten würde. Mit den relativ komplexen Modellbetrachtungen des Cecchini-Berichts war damals ein Zugewinn von zwischen 4,5 % und 7 % des gemeinschaftlichen BIP (der damals 12 Mitgliedstaaten) und eine voraussichtliche Schaffung von 2 bis 5 Mio. neuen Arbeitsplätzen in der EU errechnet worden. Diese Schätzungen stützten sich jedoch auf einen methodischen Ansatz und zugrundegelegte Annahmen, die nicht über eventuelle Kritik oder Anfechtung erhaben sind. Des Weiteren wurde aus diesen Untersuchungsergebnissen trotz ihrer Aussagekraft unseres Wissens nie eine fundierte Bilanz gezogen, aufgrund derer ihre Richtigkeit nachträglich hätte bestätigt werden können (5).

2.3

Der EWSA begrüßt, dass dieses Thema erneut in den Brennpunkt rückt, selbst wenn dies erstaunlicherweise erst nahezu ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung des Cecchini-Berichts geschieht. Doch ist die Herangehensweise an das Thema, d.h. das Übernehmen derselben Methode und die erneute Bezifferung der potenziellen wirtschaftlichen Auswirkung einer Beseitigung der Handelshemmnisse innerhalb des Binnenmarkts ein Ansatz, der aus zwei komplementären Gründen bestenfalls einengend und schlimmstenfalls einfach unangemessen erscheint.

2.4

Der erste Grund ist die Gefahr, in einer rein technischen (um nicht zu sagen technokratischen) Debatte über die Kosten des Nicht-Europa hängenzubleiben, obwohl – ungeachtet der äußerst komplexen Instrumente, die eingesetzt werden könnten – die technische Seite in den Sozialwissenschaften häufig nur ein äußerer Anschein ist.

2.5

Der zweite, noch gewichtigere Grund besteht darin, dass die heutige Epoche eine völlig andere ist. 1988 stand im Wesentlichen der Stand der Verwirklichung des gemeinsamen Markts, der in "Binnenmarkt" umbenannt wurde, im Mittelpunkt der Debatte. Insofern war der Cecchini-Bericht wirklich nützlich, denn in ihm wurden durchaus die Hindernisse und Verzögerungen in diesem Bereich angeprangert und quantifiziert. Dadurch hat er die Rechtfertigung für ein Konjunkturprogramm geliefert und eine positive Dynamik gefördert, die insbesondere im Delors-Programm und seinem Ziel für 1992 resultierte.

2.6

2012 bildet nicht mehr der Entwicklungsstand des Binnenmarkts den Kern des Problems. Nicht nur wurden beim Aufbau des europäischen Binnenmarkts im vergangenen Vierteljahrhundert große Fortschritte gemacht, sondern es hat sich vor allem der Kontext erheblich gewandelt, mit mindestens fünf neuen Merkmalen im Vergleich zur Situation Ende der 80er Jahre: 1) einer deutlich fortgeschrittene Globalisierung und dem Eintritt von Schwellenländern wie Brasilien, Indien und vor allem China in den Weltmarkt, wohingegen Europa in den 80er Jahren vor allem mit Industrieländern konkurrierte; 2) einer EU mit 27 Mitgliedstaaten, deren Entwicklungsniveau, Wirtschaftsstrukturen und gesellschaftliche Systeme heterogener sind, als es in den 80er Jahren der Fall war; 3) einer deutlich vertieften europäischen Integration mit neuen Kernelementen wie dem Euro und der EZB; 4) einer Wirtschaftskrise, wie sie die Welt seit den 30er Jahren nicht erlebt hat und welche in Form der Staatsschuldenkrise weiterhin andauert und schließlich 5) der zwingenden Notwendigkeit einer Entschuldung der EU-Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren.

2.7

Ausgehend von diesen Überlegungen wird vorgeschlagen, die Frage nach den Kosten des Nicht-Europa auf eine ganz andere Weise zu stellen. Die Handicaps, unter denen die EU heute leidet, betreffen weniger die Verzögerungen in der Errichtung des Binnenmarktes (der im Übrigen sowohl den Konkurrenten Europas als auch den Europäern selbst zugutekommt). Sie beruhen vor allem auf der Schwierigkeit, eine starke wirtschaftliche, industrielle und technologische Identität für Europa in einer globalisierten Welt zu schaffen, die multipolar geworden ist, was einen stetig schärfer werdenden Wettbewerb, insbesondere durch die sogenannten Schwellenländer, mit sich bringt, und dies inmitten einer systemischen Krise ungekannten Ausmaßes.

2.8

Daher müssen sich die Überlegungen auf die Gesamtheit der "Kosten des Nicht-Europa" richten, welche aus der Unvollendetheit der europäischen Einigung resultieren. Diese Kosten stehen in keinem Verhältnis zu denen, die durch bis heute fortbestehende eventuelle Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel entstehen könnten. Der EWSA ist sich der Schwierigkeiten bewusst, die eine so breit angelegte und grundsätzlich politische Herangehensweise aufwerfen kann, aber sie ist die einzige, die in unserer aktuellen Lage einen Sinn hat (6).

3.   Die Errungenschaften Europas

3.1

Vor 60 Jahren wurde dank der Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaft, der EGKS, die Hoffnung der Europäer auf ein Leben in Frieden Wirklichkeit. Bis 1992 schritt die Integration langsam, aber stetig voran. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre war die Erweiterung der Union auf 27 Mitgliedstaaten zwar ein unbestreitbar bedeutsamer Fortschritt, allerdings auch der einzige wirklich abgeschlossene Fortschritt. Die bereits zu Beginn der 80er Jahre angekündigte Vertiefung der Union wurde dabei vergessen. Die gemeinsame Währung, der Binnenmarkt und die Kohäsionspolitik oder auch die GAP sind zwar sicher wichtige Errungenschaften, aber sie sind unvollständig und reichen vor allem nicht aus, um eine echte Union zu schaffen.

3.2

Über den Gegenstand der Debatte hinaus muss natürlich auch eine begriffliche Debatte geführt werden. Was bedeutet "Kosten"? Was bedeutet "Nicht-Europa"? Und was beinhaltet das "Nicht"? Grundsätzlich kann man unter Europa oder Nicht-Europa alles Mögliche verstehen. Es ist objektiv schwer, die betreffenden Instrumente/Maßnahmen/öffentlichen Güter zu bestimmen, ihre Wirkung einzugrenzen, zu ermitteln, auf welcher Ebene (europäischer/nationaler/ lokaler) sie am wirksamsten wären, zu entscheiden, wie die Kosten/Vorteile ausgedrückt oder aber auf welchen Zeitraum hin sie analysiert werden sollten (und damit sind noch gar nicht alle Schwierigkeiten genannt). Angesichts dessen ist es kein leichtes Unterfangen, sich auf einen strengen methodischen Ansatz zu einigen und über allgemeine, konsensfähige Aussagen hinauszugehen. Die Mitteilung des Europäischen Parlaments zu den methodischen Aspekten enthält wertvolle Erläuterungen zu dieser Frage und zeigt deren außergewöhnliche Komplexität sehr gut auf.

3.3

Unabhängig vom gewählten Ansatz kann selbst mit den am breitesten gefassten Begriffsbestimmungen ein Teil der grundlegenden öffentlichen Güter (wie der Friede oder die Freizügigkeit der Unionsbürger), die die europäische Integration seit einem guten halben Jahrhundert sichert, nicht in die Debatte einbezogen werden.

3.4

Ohne den Versuch unternehmen zu wollen, ihren Beitrag zum Wohl der EU-Bürger zu beziffern oder Spekulationen über einen anderen Verlauf der Geschichte anzustellen (was wäre passiert, wenn sich die europäische Integration nicht in ihrer aktuellen Form vollzogen hätte?), ist es dennoch sinnvoll, – nun, da Überlegungen über die "Kosten Europas" immer mehr in Mode kommen –, darauf hinzuweisen, dass die Geschichte unseres Kontinents nicht immer so verlaufen ist, wie wir sie seit 1945 kennen. Friede, Wohlstand, die (in der EU-Charta verankerten (7) Grundrechte, die Freizügigkeit der Personen und der freie Warenverkehr, die Möglichkeit, über die Grenzen hinweg dieselbe Währung benutzen zu können, die Preisstabilität und andere Vorteile, die Teil unseres Alltags sind, sind heute für viele Europäer (vor allem die junge Generation) absolute Normalität, eine Art Naturzustand: Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze würden als lästige Absonderlichkeit betrachtet, während das Schreckgespenst eines Krieges zwischen europäischen Ländern als schlechter Witz gälte. Es lässt sich natürlich nur schwer oder überhaupt nicht mit Sicherheit sagen, wie die heutige Lage wäre, wenn Europa ein rein nationalstaatliches Gebilde geblieben wäre. Dennoch scheint die Behauptung, dass das europäische Aufbauwerk zumindest das Entstehen dieser öffentlichen Güter erleichtert und dafür gesorgt hat, dass sie allen derart selbstverständlich und natürlich erscheinen, nicht unangemessen.

3.5

Bedeutet dies, dass sie ewig weiterbestehen werden? Dies ist nicht sicher. Die Möglichkeit eines Bruderkrieges wäre einem Jugoslawen in den 80er Jahren genauso absurd und unwahrscheinlich vorgekommen, was allerdings nicht die äußerst blutigen Kriege nach dem Auseinanderbrechen des Landes verhindern konnte. Die übrigen, über Jahrzehnte erzielten Errungenschaften können wieder abgeschafft werden: Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen oder das Infragestellen der Euro-Zone sind Perspektiven, die nunmehr hier und da heraufbeschworen werden, sowohl von Kommentatoren als auch von euroskeptischen und/oder populistischen Parteien, aber auch – immer häufiger – von traditionellen politischen Bewegungen.

3.6

Ohne mit dem Schlimmsten rechnen zu wollen: An der Frage über die Kosten eines "Nicht-Europa" wird man nicht vorbeikommen, falls bestimmte Kernelemente, wie die Gemeinschaftswährung, ganz oder teilweise zerschlagen werden. Eine kürzlich durchgeführte Studie der Bank UBS (8), so kritikwürdig ihre Methodik an vielen Stellen auch sein mag, ergab, dass sich die Kosten eines Ausstiegs aus dem Euro bei einem "schwachen" Land allein im ersten Jahr auf 40-50 % des BIP belaufen würden. Selbst im Falle des Ausstiegs eines "starken" Landes (beispielsweise Deutschlands) würden die Kosten im ersten Jahr 20-25 % des BIP, also 6 000 bis 8 000 EUR pro Einwohner ausmachen. Selbstverständlich sind in diesen Untersuchungen die destabilisierenden Auswirkungen auf politischer Ebene, etwaige Währungskämpfe mit kaskadenartigen Abwertungen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, das Wiederaufkommen von nationalem Protektionismus und die potenziell katastrophale Wirkung auf die Erwartungen der Wirtschaftsakteure nicht miteingerechnet. Diese Phänomene könnten Europa in eine jahrelange Rezession stürzen. Niemand kann die Folgen solcher Ereignisse vorhersehen, aber es ist mit bedeutenden Bewegungen einer geopolitischen Neuordnung zu rechnen, die zu neuen Allianzen führen würden, die auf Europa als politischem und wirtschaftlich geeintem Block destabilisierend wirken könnten.

4.   Keine Europäische Union ohne eine echte Wirtschaftsunion

4.1

Im Gegensatz zu den demagogischen Vorstellungen, die in zahlreichen Ländern der EU von gewissen politischen Strömungen insbesondere seit dem Ausbruch der Krise von 2008/2009 mit ihren seitherigen vielfältigen Erscheinungsformen verbreitet werden, sind die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme nicht auf "Exzesse der Brüsseler Eurokraten" zurückzuführen, sondern darauf, dass die europäische Integration grundsätzlich noch nicht vollendet ist. Das erklärte Ziel, eine Währungs- und Wirtschafts union zu schaffen, wurde in Wirklichkeit nie erreicht. Das schuldhafte Desinteresse der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen, die ständig die für eine echte Wirtschaftsintegration erforderlichen Arbeiten aufschieben, aber auch die für eine legitime und demokratische Beschlussfassung in den Mitgliedstaaten unerlässlichen Prozesse (von denen einige auf großes Echo in den Medien stießen) haben schließlich – aufgrund eines unglaublich heftigen asymmetrischen externen Schocks – eine Spirale des Misstrauens der Märkte nach sich gezogen. Für diese Situation zahlen sämtliche EU-Mitgliedstaaten einen immer höheren Preis im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstum, die Beschäftigung, den sozialen Zusammenhalt und sogar die demokratische Legitimität auf europäischer Ebene.

4.2

Die Grenzen der Schaffung einer Währungsunion ohne echte Wirtschaftsunion sind offenbar geworden, denn sie hat am Ende nicht zu Konvergenz, sondern zu Divergenz geführt. Europa hat in historischer Hinsicht heute keine Zeit mehr, abzuwarten, bis sich die Dinge in einer fernen Zukunft auf natürliche Weise von selbst ergeben. Es bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen rasch Fortschritte erzielt werden, um für die Vollendung einer echten europäischen Wirtschaftsunion zu sorgen, die über einen wirksamen Mechanismus verfügt, der es ermöglicht, asymmetrischen Schocks standzuhalten, oder es müssen die möglicherweise explosiven Kosten einer Zukunft ohne Union getragen werden.

4.3

Die derzeitigen Schwierigkeiten des Euro – einer im Kern "unvollständigen" Währung – spiegeln diese Situation wider. Der relative Stand der Staatsschulden in der Euro-Zone als Ganzes, ja sogar der meisten als "bedroht" angesehenen europäischen Länder, ist niedriger als der anderer, so genannter "fortschrittlicher" Länder, wie USA, Großbritannien oder Japan. Während der Dollar, das Pfund Sterling und der Yen als Währungen echter "vollwertiger" Staatsmächte gelten, leidet der Euro unter seinem Image als einer Währung, bei der nicht ganz klar ist, zu welchem Hoheitsraum sie gehört (9), und krankt an dem restriktiven Mandat der Europäischen Zentralbank und an dem Fehlen einer echten wirtschaftspolitischen Steuerung auf europäischer Ebene. Aus all diesen Gründen muss unbedingt eine tatsächliche europäische Wirtschaftsunion mit klaren, vor allem durchsetzbaren Regeln und Zuständigkeiten auf den einzelnen Ebenen herbeigeführt werden. Dies wäre aber ohne grundlegende politische Reformen, die einer solchen Union die nötige Legitimität verleihen würden, undenkbar.

4.4

Die Kosten, die durch dieses Misstrauen der Märkte verursacht werden, dem darüber hinaus in großem Maße die aktuelle Rezession zuzurechnen ist, lassen sich nur schwer in ihrer Gesamtheit messen. Die "Kosten des Nicht-Europa" für die Staatshaushalte könnten sich jedoch, allein aufgrund der in der aktuellen Situation von einigen Staaten verlangten Risikozulagen, schätzungsweise auf zwischen 0,4 % und 1,5 % des BIP im Jahr 2012 (d.h. 9 bis 36 Mrd. EUR) und in den Jahren 2013 und 2014 auf bis zu jeweils 1,8 % und 2,4 % des BIP (d.h. 42 bzw. 56 Mrd. EUR) innerhalb der gesamten Eurozone belaufen, natürlich mit sehr starken Unterschieden zwischen den einzelnen Staaten (10).

4.5

Bei einer erfolgreich abgeschlossenen wirtschaftlichen Integration, die insbesondere eine strengen Bedingungen und Kontrollen unterworfene stärkere haushalts- und finanzpolitische Integration umfasst, hätten sich diese Risikozulagen mit der Einführung von Mechanismen der gegenseitigen Stützung (wie Euroanleihen u.a.) auf europäischer Ebene anstelle der ständigen Improvisiererei und Flickschusterei mit Dringlichkeitsmaßnahmen, die spontan ergriffen werden, wenn die Situation unhaltbar wird, vermeiden lassen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen den Mut aufbringen, statt eine reaktive Haltung an den Tag zu legen, einen Plan mit Maßnahmen und kohärenten institutionellen Reformen zu beschließen, um eine umfassende Antwort auf die aktuelle Krise mit einer wirklich glaubwürdigen Perspektive zu finden.

4.6

In jüngster Zeit wurden einige Schritte in diese Richtung unternommen. Bedauerlicherweise werden sie nicht den Herausforderungen gerecht.

5.   Die von der Europäischen Union erwarteten Vorteile

5.1

Die jüngsten Maßnahmen, die auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 9. Dezember 2011 beschlossen wurden und an die Vorgaben des Stabilitätspakts von Maastricht anknüpfen, beinhalten eine drastische Senkung der Haushaltsdefizite der Staaten durch Einführung nunmehr automatischer Sanktionen für den Fall einer Verletzung der "goldenen Haushaltsregel". Die Staaten werden folglich unter dem Druck der Finanzmärkte, aber auch der neuen zwingenden Regelungen verpflichtet sein, ihre Anstrengungen zum Schuldenabbau zu verstärken.

5.2

Die grundlegende Frage, die sich den politischen Entscheidungsträgern mehrerer europäischer Länder angesichts ihrer Staatsverschuldung stellt, kommt einer Quadratur des Kreises gleich: Wie lässt sich die Bewältigung des Misstrauens der alles verlangenden Märkte mit dem Gegenteil, nämlich einem drastischen Schuldenabbau und – praktisch gleichzeitig – der Wiederankurbelung der Konjunktur vereinbaren? Ein Weg zur Auflösung dieser unlösbaren Gleichung wäre die Vermeidung unnötiger Arbeitsüberschneidungen der Mitgliedstaaten, indem sie gemeinsam größenbedingte Kosteneinsparungen anstreben, und die Schaffung einer Grundlage für künftige fiskalpolitische Impulse auf europäischer Ebene. Hierdurch könnten vor allem die dämpfenden Effekte einer Sparpolitik, bei der "jeder für sich" agiert, vermieden oder zumindest begrenzt werden, ohne die Qualität der öffentlichen Dienste für die Bürger zu schmälern. Zugleich könnte dies eine Antwort auf das Problem der Verschwendung aufgrund von 27 unterschiedlichen – häufig nicht aufeinander abgestimmten – Politiken in denselben Bereichen sein. Es liegt auf der Hand, dass diese Idee nicht mit einem auf 1 % des BIP begrenzten EU-Haushalt umsetzbar ist und in völligem Widerspruch zu dem Vorschlag steht, die Haushaltsausgaben überall, auch auf europäischer Ebene, zu reduzieren.

5.3

So belief sich die Gesamtsumme der Verteidigungsausgaben der EU-Staaten 2010 auf knapp 200 Mrd. EUR, doch viele Experten halten die Politik der einzelnen Staaten in diesem Bereich für bruchstückhaft und allgemein wenig effizient (11). Trotz zahlreicher Initiativen auf europäischer und nationaler Ebene sind die Mittel für Ausrüstungsgüter und Forschungs- und Entwicklungsprogramme im Verteidigungssektor (mit knapp 20 % des Gesamthaushalts) nahezu der einzige Bereich, in dem von einem wirklich gemeinsamen Ausgabenverhalten gesprochen werden kann; doch selbst dort waren es laut EDA im Jahr 2010 nur 22 % (12). Untersuchungen zu dieser Frage zeigten allein für diese Posten im Falle einer Ausgabenbündelung ein Einsparungspotenzial von 32 %, also 13 Mrd. EUR (13).

5.4

Die gleichen Überlegungen könnten bezüglich anderer hoheitlicher Befugnisse der Staaten angestellt werden, z.B. im diplomatischen Dienst, beim Zoll, Grenzschutz, Katastrophenschutz, bei der Betrugsbekämpfung usw. Eine Senkung der Kosten in all diesen Bereichen ist ungeachtet der möglichen Uneinigkeit über ihre genaue Bezifferung eine reine Frage des politischen Willens.

5.5

Die Steuerausfälle im Falle eines Nicht-Europa wirken als direkte Folge zusätzlich belastend auf den Haushalt. Der Steuerwettbewerb unter den Mitgliedstaaten wurde nicht dem Rahmen gemeinsamer europäischer Interessen unterworfen. Hieraus resultiert eine Unterbesteuerung mobiler, verlagerbarer und eine Überbesteuerung anderer Steuerobjekte, was Steuermindereinnahmen (und somit Kosten) für die EU und die Mitgliedstaaten mit sich bringt. Dies führt zudem zu Ungleichgewichten, Ungerechtigkeiten und vor allem zu hohen sozialen Kosten, was in der Öffentlichkeit auf großen Unmut stößt.

5.6

Im sozialen Bereich ist die Debatte um die "Kosten des Nicht-Europa" keineswegs neu. Der Grundsatz des freien Handels, bei dem die Wettbewerbspolitik und das Wohl der Verbraucher Vorrang vor allem anderen haben und eine Harmonisierung der sozialen Standards auf kleinstem gemeinsamen Nenner bewirken, reicht allein nicht als Grundlage für die europäische Integration aus. Es ist darauf hinzuweisen, dass auch hier – ungeachtet der häufigen Beschuldigungen hinsichtlich des vermeintlichen "europäischen Diktats" – das Problem in zu wenig und nicht zu viel Europa liegt. Abgesehen von den empfundenen Ungerechtigkeiten und den – vor allem im aktuellen Kontext – äußerst hohen sozialen Kosten zeigen die Ergebnisse mehrerer Studien, dass ein Nicht-Europa in diesem Bereich auch hohe volkswirtschaftliche Kosten mit sich bringt (14). So geht aus den vorliegenden empirischen Daten hervor, dass eine gerechte und wirksame Sozialpolitik zu einer makroökonomischen Stabilisierung beiträgt, vor allem indem sie das Ausmaß zyklischer Phänomene reduziert und eine bessere Verteilung der Ressourcen begünstigt, aber auch generell das Wohlergehen der Bürger fördert (15). Des Weiteren trägt eine gute Sozialpolitik zur Verringerung von Problemen der "Negativauslese", zur Internalisierung bestimmter externer Effekte und zu einer besseren Qualität der Arbeitskräfte und des "sozialen Kapitals" im weiteren Sinne bei. Mit der Europäischen Sozialcharta sollten einige für alle Mitgliedstaaten geltende, einschlägige Grundregeln eingeführt werden. Derzeit scheint es notwendig, weiter zu gehen und einen strukturierten Rahmen für eine Konvergenz der Sozialpolitiken in Erwägung zu ziehen, um die viel zu großen Unterschiede zu verringern und zu vermeiden, dass eine Verschärfung sozialer Ungleichgewichte und eine allgemeine Zunahme der Armut sich letztlich zu erheblichen Hemmnissen für ein starkes, ausgewogenes und nachhaltiges Wachstum entwickeln.

5.7

Der nur sehr begrenzt regulierte steuerliche und soziale Wettbewerb in einem Wirtschaftsraum mit wenigen Hindernissen für den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr führt zudem zu weiteren Tendenzen, die in einer zunehmend globalisierten Wirtschaftslandschaft besonders schädlich sind. Die fortschreitende Deindustrialisierung in mehreren europäischen Ländern ist eine unbestreitbare Realität, die nicht nur starken Widerstand in der Bevölkerung auslöst, sondern auch zu strategischen Problemen für die betroffenen Staaten führt, denn es handelt sich um besonders bedeutsame Entwicklungen, die kurz- und mittelfristig kaum umkehrbar sind und somit weitreichende Konsequenzen haben (16). Die wachsenden Inkohärenzen, die durch den Vorrang einer nationalen Ausrichtung im Bereich der Industriepolitik hervorgerufen werden, führen zu nicht-kooperativen, suboptimalen und zum Teil gar kontraproduktiven (17) Lösungsansätzen in einem Moment, in dem die Schwellenländer eine "bedenkenlose" Industriepolitik betreiben, bei der ihnen eine schwache Währung und eine aktive öffentliche Unterstützung zugutekommen (18). Statt ihre Ressourcen zusammenzulegen oder wenigstens deren Nutzung zu koordinieren, um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind mehrere große europäische Staaten mehr und mehr gezwungen, mangels einer "Europäischen Energiegemeinschaft" (19) bilaterale Abkommen mit Drittländern zu schließen, selbst in Schlüsselbereichen wie Energie oder Forschung und Entwicklung (20). Es liegt auf der Hand, dass eine gemeinsame europäische Politik ohne Zweifel eine deutlich wirkungsvollere Lösung wäre.

5.8

Der FuE-Haushalt der Union für den Zeitraum 2014-2020 beträgt 0,08 % ihres BIP, 20 bis 30 Mal weniger als die nationalen Haushalte. Eine Studie kommt indes zu dem Schluss, dass jeder zusätzliche, vom öffentlichen Sektor in die europäische Forschung und Entwicklung investierte Euro 0,93 EUR aus dem Privatsektor anzieht (21). Das siebte Forschungsrahmenprogramm der EU (7. RP, 2007-2013), das mit Mitteln in Höhe von 50,5 Mrd. EUR ausgestattet ist, zeigt, dass es sich hierbei nicht um einen frommen Wunsch handelt und eine gemeinsame Politik in diesem Bereich möglich ist. Dieses Programm hat bedeutende Auswirkungen: Jeder Euro des Rahmenprogramms führt letztlich zu einer Steigerung des industriellen Mehrwerts von schätzungsweise 7 bis 14 EUR. Langfristig gesehen wird in den von der GD Forschung durchgeführten makroökonomischen Analysen prognostiziert, dass dank des siebten Rahmenprogramms bis 2030 900 000 Arbeitsplätze – davon 300 000 Stellen für Forscher – geschaffen werden. In demselben Zeitraum wird das Programm infolge einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit eine Zunahme der Ausfuhren der EU um rund 1,6 % und eine Senkung der Einfuhren um etwa 0,9 % mit sich bringen.

5.9

Die gemeinsame Industriepolitik muss ferner notwendigerweise Umweltfragen berücksichtigen und eng auf die Energiepolitik der Union abgestimmt sein. Es kann kurz- oder mittelfristig leichter erscheinen, Energiefragen auf nationaler Ebene anzugehen, doch kann sich dies langfristig auch als äußerst kostspielig erweisen, da es zu einer starken Abhängigkeit von den Erdöl- und Erdgas-Förderländern und einer sehr hohen Energierechnung führt. Die Lösung könnte darin liegen, in den Ausbau der Energieinfrastrukturen und die Verbreitung neuer Energieträger dank europäisch betriebener FuE zu investieren (22). Einer von Accenture für die GD Energie durchgeführten Studie zufolge ließe sich durch eine mit dem Verbund der nationalen Energieversorgungsnetze gekoppelte Nutzung erneuerbarer Energieträger, wie der Windkraft in Großbritannien oder der Sonnenenergie in Spanien, die Rechnung der europäischen Energiekunden bis 2020 um etwa 110 Mrd. EUR senken.

5.10

In der gegenwärtigen Krise steigt das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit mit einer möglichen Dauerarbeitslosigkeit als Folge. Das kann dazu führen, dass sich viele Menschen am Arbeitsplatz nicht mehr entfalten können und die europäische Wirtschaft ihr Potenzial nicht mehr nutzen kann. Diese Lage steht im Widerspruch zu den Bemühungen um ein integratives Wachstum und erfordert eine intensive Suche nach dauerhaften Lösungen, die unter anderem darin bestehen können, integrative Beschäftigung aus öffentlichen Mitteln zu unterstützen mit dem Ziel, die Gewohnheit zu arbeiten aufrechtzuerhalten und Umschulungsmaßnahmen zu fördern, damit die Betroffenen in die Lage versetzt werden, den künftigen Anforderungen des Arbeitsmarktes zu genügen.

Schlusswort

"Es geht nicht mehr um leere Worte, sondern um eine mutige Tat, um eine Gründungstat."

Diese Worte, die Robert Schuman am 9. Mai 1950 gesprochen hat, sind heute aktueller denn je. Ihr Entscheidungsträger, tut etwas! Die Bürger wünschen sich Frieden und Würde. Nutzt das enorme Potenzial von 500 Millionen Europäern. Ihr dürft sie nicht enttäuschen.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe beispielsweise die Stellungnahme des EWSA zum Thema "Die Erneuerung der Gemeinschaftsmethode (Leitlinien)" vom 21. Oktober 2010 oder die Stellungnahme zu der "Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die nationalen Parlamente: Überprüfung des EU-Haushalts" vom 16. Juni 2011.

(2)  Dieser Bericht hatte zum Ziel, die mögliche wirtschaftliche Wirkung einer Beseitigung innergemeinschaftlicher Handelshemmnisse unter den Mitgliedstaaten zur damaligen Zeit zu beziffern. Die neue Studie dürfte der gleichen Methodik folgen, angepasst an die aktuellen Anliegen und Herausforderungen.

(3)  Am 15. Dezember 2010 wurde vom Europäischen Parlament ein ausführlicher Bericht über die Kosten des "Nicht-Europa" angefordert. Nach vorangegangener Ausschreibung vergab die Europäische Kommission den Auftrag zur Durchführung der Studie an ein Konsortium unter Leitung der London School of Economics. Diese Studie dürfte die Debatten im Rahmen der Vorbereitung der Binnenmarktakte II untermauern.

(4)  Dies betont auch der Vermerk zur Methodik der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Europäischen Parlaments vom 21. Februar 2011: Grundsätzlich spiegelt die Motivation, die es rechtfertigen würde, diese Kosten/Vorteile zu schätzen, den Willlen wider, Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verschiedenen Begriffen oder Prinzipien (der guten Finanzverwaltung, der Effizienz, der Effektivität oder der Nachhaltigkeit) zu treffen, um so die Transparenz und die Verantwortung der Politik gegenüber den Bürgern zu gewährleisten (Hervorhebung im Original).

(5)  Abgesehen von einem obskuren Analysevermerk, dessen Verfasser unbekannt sind und der zwanzig Jahre später verfasst wurde und auf www.oboulo.com zu finden ist. Darin heißt es, dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden, jedoch die Qualität der Prognosen im Großen und Ganzen zufriedenstellend war (siehe The Cecchini Report – 20 years later, 16.1.2009).

(6)  Die Kommission und das Parlament sind sich der Bedeutung dieser Fragen bewusst. In dem Vermerk des Europäischen Parlaments wird zwar anerkannt, dass die mit der externen Dimension dieser gemeinsamen Politikbereiche verbundenen Kosten hoch ausfallen können, doch wird darin der Schluss gezogen, dass sich eine solche Untersuchung wegen der Abhängigkeit von Beschlüssen internationaler Institutionen und aufgrund der Schwächen der multilateralen Governance als äußerst komplex und die Ergebnisse als zu ungewiss erweisen könnten (a.a.O., S. 15). Was die internen Herausforderungen anbelangt, wird in dem Vermerk vorgeschlagen, die Problematik mit Hilfe der Europa-2020-Strategie anzugehen, und es werden zwölf Bereiche angeführt, in denen auf EU-Ebene durchgeführte politische Maßnahmen nutzbringend sein könnten (a.a.O., S. 15-17).

(7)  Die Grundrechtecharta umfasst die Grundrechte der EU-Bürger und die in der Sozialcharta des Europarats und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthaltenen wirtschaftlichen und sozialen Rechte.

(8)  UBS Investment Research, Euro Break-up - the Consequences, www.ubs.com/economics, September 2011.

(9)  Die berühmte Frage, die Henry Kissinger in den 1970er Jahren gestellt haben soll: "Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?" ist leider immer noch aktuell.

(10)  Vause N., von Peter G. (2011), "Euro Area Sovereign Crisis Drives Global Markets", BIS Quartely Review, Dezember 2011, http://www.bis.org/publ/qtrpdf/r_qt1112a.pdf#page=4.

(11)  Heuninckx B. (2008), “A Primer to Collaborative Defence Procurement in Europe: Troubles, Achievements and Prospects”, Public Procurement Law Review, Band 17, Ausgabe 3.

(12)  Dieser Wert ist im Vergleich zu 2009 rückläufig. Siehe "Defence Data: EDA participating Member States in 2010", 18. Januar 2012.

(13)  Siehe z.B. Dufour N. et al. (2005), Intra-Community Transfers of Defence Products, Unisys.

(14)  Fouarge, D., The Cost of non-Social Policy: Towards an Economic Framework of Quality Social Policies - and the Cost of not Having Them, Bericht für die GD Beschäftigung und Soziales, 2003, Brüssel.

(15)  Zu dem Verhältnis zwischen Ungleichheiten und Wohlergehen siehe auch Wilkinson und Pickett (2009), "The Spirit Level. Why Equal Societies Almost Always Do Better", Allen Lane, London.

(16)  Hier ist das Beispiel der EGKS zu nennen, deren Auflösung den Niedergang der europäischen Stahlindustrie beschleunigt hat, oder auch die erheblichen Verzögerungen beim Projekt Galileo, das aufgrund einer mangelnden öffentlichen Steuerung auf europäischer Ebene in Schwierigkeiten bei der Projektlenkung und -finanzierung steckt.

(17)  Zum Beispiel im Hinblick auf die Regeln und Programme zur Finanzierung der Energiepolitik auf nationaler Ebene.

(18)  Während in der Lissabon-Strategie Ausgaben für FuE in Höhe von mindestens 3 % des BIP vorgesehen waren, steht die EU derzeit bei 1,84 % gegenüber 3 % in den USA und 8 % in China.

(19)  Gemeinsame Erklärung der Strategiegruppe "Notre Europe" und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Ziel einer Europäischen Energiegemeinschaft vom 21. Februar 2012.

(20)  Eines der jüngsten Beispiele ist eine Reihe von Abkommen, die Deutschland und China am 27. Juli 2011 über die Forschung und Investitionen in grüne Technologien, insbesondere in Elektrofahrzeuge und Systeme zur Kohlenstoffabscheidung und –speicherung geschlossen haben (Peel Q., Anderlini J., "China and Germany launch green initiative", The Financial Times, 28. Juli 2011).

(21)  Mitteilung der Europäischen Kommission "Die Schaffung des EFR des Wissens für Wachstum", COM(2005) 118 final vom 6. April 2005.

(22)  Syndex, Eine Industriepolitik für eine CO2-arme Wirtschaft als Ausweg aus der Krise in Europa, für den EWSA erstellter Bericht, März 2012, Brüssel.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

483. Plenartagung am 18. und 19. September 2012

15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Abbau grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse in der EU“

COM(2011) 864 final

2012/C 351/09

Berichterstatter: Vincent FARRUGIA

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Abbau grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse in der EU

COM(2011) 864 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 4. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 135 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Unionsbürger, die in anderen Mitgliedstaaten belegene Vermögenswerte erben, sehen sich häufig mit Steuerforderungen aus zwei oder mehreren Mitgliedstaaten (d.h. Doppel- oder Mehrfachbesteuerung) und steuerlicher Diskriminierung konfrontiert. Diese Schwierigkeiten verursachen oft unverhältnismäßige Härten für die Bürger und behindern die Erfüllung der Europa-2020-Ziele. Als Ansatz zur Lösung dieser Probleme hat die Kommission 2011 eine Mitteilung mit begleitender Empfehlung vorgelegt.

1.2

Der EWSA spricht sich für die Beseitigung von Doppel- und Mehrfachbesteuerung sowie steuerlicher Diskriminierung aus und begrüßt den von der Kommission gewählten Ansatz, bei dem die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten gewahrt bleibt, gleichzeitig aber eine bessere Verzahnung der nationalen Steuersysteme gefordert wird.

1.3

Der EWSA ist allerdings der Ansicht, dass die Kommission die eigentlichen Ziele dieser Maßnahme effizienter verfolgen könnte, und zwar

durch Vorschlagen und Umsetzen praktischer Verfahren, durch die die effiziente Verzahnung der nationalen Steuersysteme im Erbschaftsteuerbereich in angemessener Zeit gewährleistet würde, während die Mitgliedstaaten gleichzeitig angeregt würden, effizientere und flexiblere Verfahren zur Steuerentlastung im Falle von Doppel- oder Mehrfachbesteuerung einzuführen und anzuwenden;

durch Rechtsetzungsverfahren, um die Doppel- oder Mehrfachbesteuerung von Erbschaften für Unionsbürger zu beseitigen;

indem nicht nur Fragen grenzüberschreitender Besteuerung, sondern auch die potenziell verzerrenden Auswirkungen der unterschiedlichen Konzeption von Bemessungsgrundlagen für die Erbschaftsteuer der verschiedenen nationalen Steuerregelungen berücksichtigt werden; hier könnten gemeinsame Grundsätze geschaffen werden, die – auf der Grundlage gerechter Netto-Vermögensbewertungen – in der gesamten EU anzuwenden wären, und die die Unternehmenseinheit zur Fortführung des Geschäftsbetriebs gewährleisten;

durch die aktive Förderung wirksamerer, effizienterer und bürgerfreundlicher Steuersysteme bei möglichst geringer Belastung der Steuerzahler;

durch die Untersuchung der Auswirkungen grenzübergreifender Erbschaftsteuern auf die Unionsbürger;

durch die Suche nach Möglichkeiten, die Besteuerung grenzübergreifender Erbschaften mit Hilfe eines Systems zu vereinfachen, bei dem die Steuer nur einmal und nur dort erhoben wird, wo sich der Vermögenswert befindet.

1.4

Die EU-Beobachtungsstelle für Besteuerung, deren Einrichtung unter der Aufsicht der Kommission vom EWSA in mehreren Stellungnahmen (1) angeregt wurde, und die sich mit mehrfacher und diskriminierender Besteuerung befasst, könnte als Instrument zur Umsetzung der oben genannten Empfehlungen dienen.

2.   Inhalt und Hintergrund des Vorschlags

2.1

Unionsbürger, die ausländische Vermögenswerte erben, sehen sich häufig mit Steuerforderungen aus mehreren Mitgliedstaaten konfrontiert (Mehrfachbesteuerung). Darüber hinaus belegen einige Mitgliedstaaten Erbschaften im Ausland mit einer höheren Steuer als Erbschaften im Inland (Steuerdiskriminierung). In solchen Fällen bringt das Erbe für die Bürger manchmal unverhältnismäßige Härten mit sich. Insbesondere bei kleinen Unternehmen kann der Tod des Inhabers zu Schwierigkeiten bei der Übereignung führen.

2.2

Zum Schutz der Bürger vor Steuerdiskriminierung existieren Rechtsbehelfe, die allerdings aufgrund extrem hoher Kosten oft unwirksam sind. Sind mehrere Mitgliedstaaten berechtigt, Steuern zu erheben, gibt es keine Rechtsmittel zum Schutz der Bürger vor Mehrfachbesteuerung (2).

2.3

All dies ist in einem Kontext zu sehen, in dem die Zahl der innerhalb der EU in ein anderes Land gezogenen EU-Bürger zwischen 2005 und 2010 um 3 Mio. auf 12,3 Mio. gestiegen ist und grenzübergreifender Immobilienbesitz in der EU zwischen 2002 und 2010 um bis zu 50 % zugenommen hat (3). Darüber hinaus ist eine deutlich steigende Tendenz zu grenzübergreifenden Wertpapieranlagen zu verzeichnen. Während die Bürger zum Teil erheblich unter mehrfacher oder diskriminierender Besteuerung ihrer Erbschaft zu leiden haben, macht der Anteil der Erbschaftsteuern in den Mitgliedsländern weniger als 0,5 % des gesamten Steueraufkommens aus; nochmals wesentlich kleiner ist der Anteil grenzübergreifender Fälle.

2.4

Dieser Sachverhalt ist ein schwerwiegendes Hindernis für die Freizügigkeit von Personen und Kapital auf dem Binnenmarkt und damit ein Hemmschuh für die Erreichung der Europa-2020-Ziele. Er steht außerdem im Widerspruch zu den Rechten aus der Unionsbürgerschaft.

2.5

In der Mitteilung der Kommission und der sie begleitenden Empfehlung wird zur Lösung dieser Probleme Folgendes vorgeschlagen:

Probleme bei der Besteuerung grenzübergreifender Erbschaften könnten ohne Harmonisierung der Erbschaftsteuervorschriften in den EU-Mitgliedstaaten gelöst werden.

Mehrfachbesteuerung soll durch ein effizienteres Zusammenwirken der nationalen Steuerrahmen vermieden werden, indem ein System für Steuerentlastungen unter den Mitgliedstaaten, die Steueransprüche geltend machen könnten, geschaffen wird.

In Bezug auf unbewegliches Vermögen sollte der Mitgliedstaat, in dem dieses Vermögen belegen ist, Vorrecht bei der Besteuerung haben, andere beteiligte Mitgliedstaaten sollten Steuerentlastungen gewähren.

Bei beweglichem Vermögen, das zu einer Betriebstätte gehört, sollte der Mitgliedstaat, in dem die Betriebstätte belegen ist, das Vorrecht bei der Besteuerung haben. Andere Mitgliedstaaten sollten nach Maßgabe der Besteuerung in diesem ersten Staat Steuerentlastungen gewähren.

Der Staat des Erblassers sollte das vorrangige Besteuerungsrecht haben, und der Staat des Erben sollte Nachlass in Höhe der bereits im Staat des Erblassers entrichteten Steuern gewähren.

Sollten Erblasser oder Erbe Verbindungen zu mehreren Mitgliedstaaten haben, würde mit Hilfe der "Tie-Breaker"-Regeln (auf der Grundlage von Wohnort, gewöhnlichem Aufenthalt bzw. Staatsangehörigkeit) ermittelt werden, zu welchem Staat die engeren Verbindungen bestehen.

Fälle von Steuerdiskriminierung werden in einer Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen (4) behandelt, um Bürger und Mitgliedstaaten anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung über wünschenswerte Merkmale einer diskriminierungsfreien Besteuerung von Erbschaften zu informieren, damit sie Rechtsbehelfe besser in Anspruch nehmen können.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA spricht sich für die Beseitigung mehrfacher und diskriminierender Besteuerung aus, um die Bürgerrechte zu wahren und den Binnenmarkt zu fördern. Er hat dies in mehreren Stellungnahmen deutlich gemacht und empfiehlt insbesondere, mehrfache und diskriminierende Besteuerung der Unionsbürger zu beseitigen und die Verwaltungsverfahren in grenzübergreifenden Fällen zu vereinfachen (5).

3.2

Daher begrüßt der EWSA die Mitteilung der Kommission zu den grenzübergreifenden Erbschaftsteuerhindernissen, denn

in der Mitteilung werden die Probleme benannt, die vor allem Bürger und kleinere Unternehmen betreffen, aber im jeweiligen nationalen Steueraufkommen kaum ins Gewicht fallen;

es werden Verfahren vorgeschlagen, mit denen die Mitgliedstaaten im Fall von Mehrfachbesteuerung Steuerentlastungen gewähren können;

die Mitteilung enthält Informationen, die für die Beseitigung steuerlicher Diskriminierung nützlich sein können.

3.3

Der EWSA begrüßt darüber hinaus den in der Mitteilung vertretenen Ansatz, die Steuerhoheit der einzelnen Mitgliedstaaten zu wahren, und empfiehlt diesen eine bessere Verzahnung der nationalen Steuersysteme bei gleichzeitiger Beseitigung von Steuerdiskriminierung innerhalb der nationalen Steuerregelungen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Allerdings ist der EWSA der Ansicht, dass die Kommission die endgültigen Ziele dieser Maßnahme effizienter verfolgen könnte, und zwar

durch Benennung und Durchsetzung geeigneter Legislativmaßnahmen, um erbschaftsteuerliche Diskriminierung zwischen Unionsbürgern wirksam zu beseitigen. Dies ist nicht als Verstoß gegen die steuerliche Souveränität der Mitgliedstaaten zu betrachten, sondern entspricht lediglich dem Grundsatz des Rechts der Unionsbürger auf Eigentum jenseits der Grenzen des eigenen Staats;

durch Vorschlagen und Umsetzen praktischer Verfahren, durch die in angemessener Zeit eine effiziente Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuersystemen gewährleistet würde; die bloße Bereitstellung von Empfehlungen zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten könnte sich in der Praxis als nicht wirksam genug erweisen. Darüber hinaus ist es anerkanntermaßen wünschenswert, dass, wie die Kommission vorschlägt, einzelne Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Steuerentlastungsverfahren bei Mehrfachbesteuerung umgehend wirksamer und flexibler zu handhaben; die Kommission würde währenddessen in den nächsten drei Jahren die Entwicklungen beobachten, um erforderlichenfalls mit Hilfe einer Richtlinie eine entschiedenere Gangart einzulegen;

langfristig und in einem umfassenderen Blickwinkel, der über die grenzübergreifende Besteuerung hinausgeht. Die Kommission sollte ihre Maßnahmen bezüglich der Besteuerung von Erbschaften auf die potenziellen Verzerrungseffekte aufgrund unterschiedlicher Bemessungsgrundlagen der nationalen Steuergesetzgebungen ausdehnen, wobei die einzelstaatliche Steuerhoheit – insbesondere bei der Festlegung der der Steuersätze – zuwahren ist. Bei der Konzeption der Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuern sollten indes gemeinsame Maßstäbe für alle Mitgliedstaaten angelegt werden. Diese sollten idealerweise auf fairen Grundsätzen für die Bewertung des Nettovermögenswerts basieren und die Unternehmenseinheit zur Fortführung des Geschäftsbetriebs sicherstellen;

durch Untersuchungen zu Umfang und Auswirkungen von Sachverhalten mehrfacher Nichtbesteuerung mit Hilfe komplexer Finanzinstrumente; der EWSA sieht weiteren diesbezüglichen Konsultationen und Initiativen der Kommission erwartungsvoll entgegen;

durch die aktive Förderung wirksamerer, effizienterer und bürgerfreundlicherer Steuersysteme, mit denen die oft langwierigen und komplizierten Verfahren in Erbschaftsteuersachen zeitnah und sinnvoll abgewickelt werden können, wobei die Belastung der Steuerzahler so gering wie möglich zu halten ist;

durch Untersuchung der Frage, in welchem Maße sich grenzübergreifende Erbschaftsteuerangelegenheiten für die Unionsbürger auf globaler Ebene negativ auswirken, sowie die Suche nach Lösungsansätzen;

durch die Erwägung der Möglichkeit, eine einfachere Methode der Besteuerung von Erbschaften einzuführen, bei der die Steuer nur einmal und nur dort erhoben wird, wo sich der Vermögenswert befindet.

4.2

Des Weiteren könnte die Kommission erwägen, eine EU-Beobachtungsstelle für Besteuerung mit diesen Aufgaben zu betrauen, deren Einrichtung unter der Aufsicht der Kommission der EWSA bereits in seinen Stellungnahmen zu mehrfacher und diskriminierender Besteuerung (6) angeregt hat. Diese Beobachtungsstelle würde durch Forschung und Untersuchungen fortlaufend zu einer wirksameren Beseitigung grenzübergreifender Erbschaftsteuerhindernisse beitragen und Foren bereitstellen, auf denen Vertreter der einzelstaatlichen Steuerverwaltungen sich beraten, zusammenarbeiten und untereinander abstimmen könnten.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zu einer "Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)", ABl C 24 vom 28.1.2012, S. 63, die Stellungnahmen "Beseitigung grenzübergreifender steuerlicher Hindernisse für die Bürgerinnen und Bürger der EU", ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 95 und "Doppelbesteuerung im Binnenmarkt", ABl. C 181, 21.6.2012, S. 40 (ECO/304).

(2)  Rechtssache Block (C-67/08).

(3)  Studie von Copenhagen Economics: Inheritance Taxes in EU Member States and Possible Mechanisms to Resolve problems of Double Inheritance Taxation in the EU (Erbschaftssteuern in den EU-Mitgliedsstaaten und Ansätze zur Lösung der Doppelbesteuerung von Erbschaften in der EU), August 2010.

(4)  SEC(2011) 1488.

(5)  Siehe Fußnote 1.

(6)  Siehe Fußnote 1.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Ausschuss der Regionen und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Aktionsplan zur Verbesserung des Finanzierungszugangs für KMU“

COM(2011) 870 final

2012/C 351/10

Berichterstatterin: Anna Maria DARMANIN

Mitberichterstatter: Ronny LANNOO

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Ausschuss der Regionen und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Aktionsplan zur Verbesserung des Finanzierungszugangs für KMU

COM(2011) 870 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 174 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA begrüßt den Aktionsplan der EU zur Verbesserung des Finanzierungszugangs für KMU, der zu einem Zeitpunkt vorgelegt wird, da viele europäische Länder mit unsicheren Konjunkturaussichten konfrontiert sind. Der EWSA ist der Auffassung, dass sich Europa wirtschaftlich nur erholen kann, wenn Maßnahmen für KMU ganz oben auf der Agenda seiner politischen Entscheidungsträger stehen. Er unterstützt deshalb nachdrücklich die Anstrengungen der EU-Institutionen zur Erhöhung der Stabilität des Finanzsystems, damit es in den Dienst der Realwirtschaft gestellt werden kann.

1.2   Der EWSA verweist darauf, dass solche Maßnahmen nur dann erfolgreich sein werden, wenn sie unter deutlicher Beteiligung der Mitgliedstaaten ergriffen werden. Deswegen fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, den Aktionsplan umzusetzen und alle denkbaren Instrumente zur Unterstützung der KMU-Finanzierung zu mobilisieren, indem sie sich auf die Prioritäten der Strategie Europa 2020 konzentrieren. Die Mitgliedstaaten sollten beispielsweise Garantiefonds aufbauen und die Strukturfonds besser für Finanzinstrumente nutzen.

1.3   Der EWSA räumt ein, dass die Finanzierung durch Kredite auch in Zukunft eines der am häufigsten genutzten Instrumente für die KMU-Entwicklung sein wird. Von daher unterstützt er voll und ganz die ordnungs- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Stärkung der Kreditfinanzierung- und Garantieinstrumente für das KMU-Wachstum.

1.4   Der Ausschuss betont, dass die Basel-III-Vorschläge im Wege der anstehenden CRD-IV-Richtlinie in Europa ordnungsgemäß umgesetzt werden müssen, um nachteilige Folgen für die Finanzierung der Realwirtschaft zu verhindern.

1.5   Der EWSA begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Förderung von Risikokapital in Europa. Der europäische Markt für Risikokapital muss entscheidende Impulse erhalten, damit Marktdefizite und regulatorische Hemmnisse überwunden werden können und dieses Marktsegment für private Investoren attraktiver wird.

1.6   Die europäischen KMU sind vielfältig und uneinheitlich. Die Initiativen zur Verbesserung des Finanzierungszugangs müssen ein umfassendes Spektrum an unterschiedlichen und innovativen Maßnahmen umfassen, mit denen diese heterogene Gruppe von Akteuren wirksam angesprochen wird und deren konkreten Besonderheiten berücksichtigt werden. Sozialunternehmen und freie Berufe beispielsweise unterscheiden sich in ihren Rechtsformen und Betriebsarten von "herkömmlichen" Unternehmen, was ihren Zugang zu Finanzierung zusätzlich erschwert, da die Finanzakteure diese Rechtsformen und Betriebsarten nicht immer anerkennen oder verstehen.

1.7   Auch Hybridkapital, das eine Alternative zu Bankdarlehen darstellt, muss gefördert werden. Das Auftreten neuer Finanzakteure und neuer Intermediäre, die sowohl innovative Finanzlösungen als auch Unternehmensberatung bieten, ist zu unterstützen. Die Fremdfinanzierung durch eine Vielzahl anonymer Kapitalgeber (Crowdfunding) ist ein gutes Beispiel, und auch die Tätigkeit von Beteiligungsbanken wäre denkbar.

1.8   Der EWSA betont, dass die EIB-Gruppe in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission einen entscheidenden Beitrag zu Investitionen in KMU leisten muss, indem sie ein umfassendes Spektrum an allgemeinen und gezielten Instrumenten einsetzt. Was die EIB-Darlehen für KMU betrifft, so werden die EIB-Intermediäre aufgefordert, in Zusammenarbeit mit den KMU-Verbänden ihre Informationsmaßnahmen zur Bekanntmachung dieses Finanzprogramms bei den KMU zu intensivieren.

1.9   Der EWSA nimmt den Vorschlag zur Kenntnis, die nächste Generation der Finanzierungsinstrumente (EU-Kreditfinanzierungsinstrument und EU-Beteiligungsfinanzierungsinstruments) im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens einfacher und transparenter zu gestalten. Der EWSA unterstützt die Vorschläge, da beide Programme einen starken Hebeleffekt haben werden.

1.10   Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, den Dialog zwischen den verschiedenen Interessenvertretern zu fördern, mit dem Ziel, die Marktentwicklungen zu überwachen und Empfehlungen abzugeben, wie der Finanzierungszugang für KMU verbessert werden kann. Der EWSA hofft, dass er zum Meinungsaustausch und zur Unterbreitung konkreter Vorschläge, wie die finanziellen Probleme der KMU abgemildert werden können, regelmäßig zu dem KMU-Finanzforum eingeladen wird.

1.11   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass konkrete Schulungen für Unternehmer wie Programme zur Unterstützung der Investitionsbereitschaft gefördert werden sollten.

1.12   Der EWSA betont, dass die EU-Programme zur Unterstützung der KMU-Finanzierung, die über europäische, nationale oder regionale Intermediäre umgesetzt werden, für KMU leichter zugänglich gemacht werden müssen. Der Schlüssel zum Erfolg sind transparente, verständliche und einheitliche Verfahren auf sämtlichen Ebenen.

2.   Vorschlag der Kommission

2.1   In dem Aktionsplan wird untersucht, welche Hindernisse der Förderung der Finanzierung von KMU hauptsächlich entgegenstehen, wie z.B.:

Zugang zu Krediten,

Zugang zu Risikokapital,

Zugang zu den Kapitalmärkten.

2.2   Außerdem werden in dem Dokument die Maßnahmen beschrieben, die zwischen 2007 und 2012 ergriffen wurden, damit die Finanzierungsmöglichkeiten auch bei den KMU ankommen:

das Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP),

von der EIB für die Darlehensvergabe an KMU bereitgestellte Mittel,

Kohäsionsfondsmittel,

das Risikoteilungsinstrument des FP7.

2.3   Die Kommission nennt eine Reihe von Maßnahmen, um die KMU-Finanzierung zu erleichtern. Dazu gehören

Regulierungsmaßnahmen,

Maßnahmen zur Verbesserung der Kreditvergabe und des Zugangs zu Risikokapital in der gesamten EU,

Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für KMU.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Europäische Zentralbank (EZB) veröffentlicht in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission regelmäßig die Ergebnisse der Erhebungen über den Zugang von KMU des Euroraums zu Finanzierungsmöglichkeiten (1). Laut den Ergebnissen der jüngsten Erhebung hat der Bedarf an Fremdfinanzierung bei KMU im Euroraum zwischen Oktober 2011 und März 2012 zugenommen. Zugleich zeigen die Ergebnisse der Erhebung, dass sich der Zugang zu Bankdarlehen immer schwieriger gestaltet, wobei es Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten gibt (2). Alles in allem gaben die Unternehmen eine abnehmende Verfügbarkeit von Bankkrediten an. Darüber hinaus wird aus den Ergebnissen der Erhebung deutlich, dass immer mehr Kreditgesuche abgelehnt werden. Allerdings ist der Anteil der Befragten, die den Zugang zu Finanzierung als ihr Hauptproblem bezeichnen, im Wesentlichen unverändert geblieben. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, dafür zu sorgen, dass alternative Möglichkeiten des Finanzierungszugangs umfassend genutzt werden können.

3.2   Der EWSA betont, dass jede Erhebung sorgfältig ausgewertet werden muss, damit durch entsprechende konkrete Maßnahmen rasch reagiert werden kann. Ergänzt werden kann dies durch Informationen, die auf dem KMU-Finanzforum, in den Mitgliedstaaten und von den Verbänden der KMU eingeholt werden. Dies sollte durch die Kommission unter Beteiligung des EWSA und der Zivilgesellschaft erfolgen.

3.3   Der EWSA unterstützt die Untersuchung, die die Kommission zur Bewertung der Definition von KMU durchführt, und fordert insbesondere, dabei speziell auf Klein- und Kleinstunternehmen zu achten. Angesichts der Vielfalt und Größe von KMU (3) (z.B. Familienunternehmen, freie Berufe und Sozialunternehmen) erinnert der EWSA die Kommission daran, dass maßgeschneiderte finanzielle Unterstützungsmaßnahmen für diese Unternehmen Vorrang haben müssen. Die Kommission wird deshalb aufgefordert, bei der Vorbereitung der Finanzierungsprogramme zur Unterstützung der KMU-Entwicklung deren Besonderheiten zu berücksichtigen und besonderes Augenmerk auf Kleinstunternehmen zu legen. Die Kommission muss jegliche Diskriminierung vermeiden, da es keine Einheitslösung für alle KMU-Bedürfnisse geben kann.

4.   Besondere Bemerkungen und Anmerkungen zu den Regulierungsmaßnahmen

4.1   Risikokapitalverordnung

4.1.1

Der EWSA unterstützt die Einführung einer einheitlichen Regelung für die grenzübergreifende Tätigkeit von Risikokapitalfonds. Der Vorschlag ist zu begrüßen, da er dank der Einführung eines Europäischer Passes, mit dessen Hilfe die EU-Risikokapitalfonds ihre Produkte vertreiben und in ganz Europa Kapital aufnehmen können, einen Abbau der Marktdefizite bewirken dürfte. Der EWSA hat in seiner früheren Stellungnahme zum Thema Risikokapital (4) eine Reihe von Bemerkungen vorgetragen und fordert die Kommission auf, diese zu berücksichtigen.

4.1.2

Der EWSA befürwortet nachdrücklich die Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen Aufsichtsregulierung und Risikokapitalinvestitionen von Banken und Versicherungsunternehmen, die die Kommission 2012 durchführen will. Im Rahmen dieser Untersuchung sollte geprüft werden, ob diese Instrumente zu einem Oligopol großer internationaler Banken führen und mittel- oder langfristig geändert werden sollten.

4.1.3

Da die Mehrzahl der KMU kleine Unternehmen sind (weniger als 10 Beschäftigte), fordert der EWSA die Kommission auf, Risikokapitalfonds für solche Unternehmen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Fonds investieren in Unternehmen, deren Vorhaben einerseits nicht attraktiv genug für die üblichen Risikokapitalgeber sind, andererseits jedoch zu groß oder zu riskant, um Kapital aus traditionellen Darlehensquellen anzuziehen. Solche Fonds stärken die Kapitalbasis eines Unternehmens und begünstigen die Entwicklung unternehmerischer Fähigkeiten, indem während des gesamten Investitionszeitraums eine entsprechende Betreuung stattfindet (5). Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, Instrumente wie konkrete steuerliche Maßnahmen vorzuschlagen, die die Entwicklung dieser Fonds und somit die Schließung der Finanzierungslücke begünstigen könnten.

4.2   Steuerreformen

4.2.1

Die Vorschläge der Kommission zur Reform der Besteuerung grenzübergreifender Risikokapitalinvestitionen sind zu begrüßen. Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten zugleich auf, deutliche Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerumgehung und -hinterziehung vorzuschlagen.

4.2.2

Neben der Beseitigung der steuerlichen Hemmnisse für grenzübergreifende Transaktionen sollte die Kommission auch dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten Steuerreformen für KMU-Finanzierungsprogramme in ihren eigenen Ländern fördern.

4.2.3

Es sollten vorbildliche Verfahren, die in einigen Mitgliedstaaten bereits bestehen, geprüft und in der gesamten EU verbreitet sowie auf KMU übertragen werden (6). In einer Reihe von Ländern gibt es bereits Pakete mit steuerlichen Anreizen. Ein Beispiel ist Belgien/Flandern, wo vor einigen Jahren ein Win-win-Kredit eingeführt wurde: So können Privatpersonen Geld an KMU verleihen und erhalten dafür eine Steuervergünstigung. Ein weiteres gutes Beispiel sind die Niederlande mit ihrem Tante-Agaath-Kredit (7).

4.2.4

Auch Steuerbefreiungsregelungen wie das französische ISF-PME-Gesetz (8) (Nachlässe bei der Solidaritätssteuer auf Vermögen bei Investitionen in KMU) können für KMU mit hohen Wachstumsraten von echtem Nutzen sein. Der EWSA begrüßt solche Regelungen, solange sich die Steuerbefreiungen in vertretbarer Höhe bewegen und sich nicht negativ auf Beiträge für andere, gleichfalls wichtige Bereiche auswirken.

4.3   Regeln für staatliche Beihilfen

4.3.1

Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur geplanten Modernisierung des EU-Beihilfenrechts, mit dem die geltenden Regeln für staatliche Beihilfen für KMU vereinfacht werden sollen. Er nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung und verschiedene Leitlinien für staatliche Beihilfen, unter anderem für Risikokapital, überprüfen wird, um die Ziele von Europa 2020 zu verwirklichen. Diese Regeln müssen nach Ansicht des EWSA unbedingt verbessert, vereinfacht und klarer gefasst werden. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass staatliche Beihilfen nur eingesetzt werden, um Marktversagen zu beheben.

4.4   Sichtbarere KMU-Märkte und börsennotierte KMU

4.4.1

Der EWSA begrüßt, dass in der MiFID-Richtlinie vorgesehen wird, homogene KMU-Wachstumsmärkte zu schaffen und diese dank einer Registrierung als KMU-Wachstumsmarkt für Investoren attraktiv zu machen. Der EWSA schlägt jedoch vor (9), konkrete Bestimmungen und Maßnahmen festzulegen, die eine effiziente und effektive Umsetzung ermöglichen.

4.5   Entlastung börsennotierter KMU bei der Rechnungslegung

4.5.1

Die Kommission und die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, für börsennotierte KMU in Europa die Rechnungslegungsvorschriften zu vereinfachen und den Aufwand für die Rechnungslegung zu reduzieren. Der Ausschuss erkennt an, dass die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Vereinfachung und Änderung der Rechnungslegungsrichtlinien sowie gleichzeitig einen Vorschlag zur Änderung der Transparenzrichtlinie vorgelegt hat. Der EWSA fordert die Kommission auf, seine zwei diesbezüglichen Stellungnahmen aus dem Jahr 2012 (10) zu berücksichtigen, und ist der Auffassung, dass die KMU Ressourcen freisetzen müssen, um in ihr Unternehmen zu investieren und weiter wachsen zu können.

4.6   Künftige Umsetzung von Basel III und Folgen für die KMU-Finanzierung

4.6.1

Die EU muss bei der Umsetzung der international vereinbarten Reformen der Finanzregulierung weiterhin vorangehen. Der EWSA stellt jedoch fest, dass die verschiedenen Eigenkapitalvorschriften zur Umsetzung von Basel III in der EU, die gegenwärtig diskutiert werden und dann in Kraft treten sollen (CRD IV/CRR), zu diversen Problemen für KMU (11) führen könnten.

4.6.2

Der EWSA unterstützt die Anstrengungen der EU-Institutionen zur Erhöhung der Stabilität des Finanzsystems, um künftigen Krisen vorzubeugen. Allerdings darf eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte nicht auf Kosten der Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen gehen. Der EWSA befürwortet voll und ganz den Bericht Karas, den das Europäische Parlament im Mai 2012 angenommen hat und der ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, nämlich hin zu einer vernünftigen und praktikablen Umsetzung der Basel-III-Eigenkapitalvorschriften in der EU, ist.

4.6.3

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission innerhalb von 24 Monaten nach Inkrafttreten der neuen Richtlinie (CRD IV) die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) anhören wird und die EBA einen Bericht über die Kreditvergabe an KMU und natürliche Personen erstellen wird. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, ihn umfassend in die Überprüfung der Risikogewichtung einzubinden, sprich ihm Gelegenheit zu geben, sich zu dem Bericht zu äußern, der dem Rat und dem Europäischen Parlament vorgelegt wird.

4.7   Zahlungsverzugsrichtlinie

4.7.1

Die Kommission sieht die Umsetzung der Richtlinie bis zum 16. März 2013 vor. Der EWSA drängt die Mitgliedstaaten, dahingehend tätig zu werden, dass die KMU rascher von der Regelung profitieren können. Es ist auch sehr wichtig, dass die Kommission die fristgemäße Umsetzung der Richtlinie in allen Mitgliedstaaten überwacht. Zudem muss die Kommission genau verfolgen, wie die Mitgliedstaaten Artikel 4 Absatz 5 umsetzen, der ihnen die Möglichkeit gibt, das Überprüfungsverfahren auf über 30 Tage auszudehnen, sofern dies für den Gläubiger nicht grob nachteilig ist. Die Kommission sollte die Mitgliedstaaten genau beobachten, damit sie diesen Artikel nicht zur künstlichen Verzögerung von Zahlungen missbrauchen, zumal der Zahlungsverzug durch öffentliche Stellen erhebliche Auswirkungen auf das Cash-Flow-Management und die Liquidität von KMU hat.

4.7.2

Der EWSA fordert die EU-Institutionen auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und Zahlungen an ihre Vertragspartner pünktlich zu entrichten und ihnen keine unnötigen administrativen und finanziellen Belastungen aufzuerlegen.

4.8   Europäische Sozialinvestitionsfonds

4.8.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über Europäische Sozialinvestitionsfonds und macht die Kommission darauf aufmerksam, dass ein verbesserter Zugang zu angemessenem Kapital für Sozialunternehmen ganz oben auf der Agenda stehen muss. Der EWSA hat im Jahr 2012 bereits eine Stellungnahme (12) zu diesem Thema abgegeben. Eine der Herausforderungen liegt darin, dass die sozialen Auswirkungen von Portfolio-Unternehmen und ihr Einfluss auf die Gesellschaft gemessen werden müssen und hierüber Bericht erstattet werden muss. Der EWSA empfiehlt eine gemeinsame Untersuchung auf EU-Ebene zur Festlegung von Kriterien und Hinweisen, um diesbezügliche Probleme angehen zu können. Der Ausschuss weist die Kommission darauf hin, dass solche Fonds nur eines von vielen dringend benötigten Finanzinstrumenten sein können, die es noch zu schaffen gilt.

4.8.2

Der EWSA fordert auch die Mitgliedstaaten auf, die Anerkennung der verschiedenen Formen von Sozialunternehmen zu verbessern. Wenn diese Unternehmen mehr Anerkennung genössen, würde die Risikogewichtung für die ihnen gewährten Kredite sinken und sie wären im Vergleich zu herkömmlichen Unternehmen diesbezüglich nicht länger benachteiligt.

5.   Besondere Bemerkungen und Anmerkungen zu den Finanzierungsmaßnahmen der EU für KMU

5.1.   Der Ausschuss ist sich voll und ganz darüber im Klaren, dass zahlreiche KMU, vor allem kleinere Unternehmen, bei Fremdfinanzierung auch weiterhin hauptsächlich auf Kredite angewiesen sein werden.

5.2   Der EWSA begrüßt die Kontinuität der EIB-Darlehen für KMU als eines der wichtigsten Darlehensinstrumente für KMU auf EU-Ebene und weist auf die finanziellen Vorteile hin, die an die KMU weitergegeben werden, da die Kreditkosten durch solche über Finanzintermediäre vergebenen Darlehen sinken. Der EWSA fordert die EIB auf, an der effiziente Umsetzung festzuhalten und regelmäßig über die erzielten Ergebnisse Bericht zu erstatten. Um die angestrebten Ergebnisse zu erreichen, werden die Intermediärbanken aufgefordert, in enger Zusammenarbeit mit den KMU-Verbänden ihre Informationsmaßnahmen zur Bekanntmachung dieser Darlehen bei den KMU zu verstärken.

5.3   Auch ist es wichtig, das Entstehen neuer Formen von Intermediären zu unterstützen, die der vielfältigen Wesenscharakteristik der KMU oftmals besser entsprechen. Die Erfahrungen von Genossenschaftsbanken und sozialen Banken sind wertvoll, da diese maßgeschneiderte finanzielle Unterstützung oft in Verbindung mit anderen unterstützenden Dienstleistungen bieten.

5.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, die Risikoteilungsinstrumente für Beteiligungsinvestitionen und beteiligungsähnliche Investitionen in enger Zusammenarbeit mit der EIB-Gruppe auszudehnen und die Herausgabe von gebündelten Unternehmensanleihen zu unterstützen. Mit Blick auf den Markt für beteiligungsähnliche Investitionen fordert der EWSA insbesondere die Kommission und die EIB-Gruppe auf, Möglichkeiten zu erwägen, wie die Mezzanine-Finanzierung verbessert werden kann, und neue Mezzanine-Produkte wie Garantien für Mezzanine-Kredite ins Visier zu nehmen.

5.5   Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, die EU-Finanzierungsprogramme bei den KMU-Verbänden weiterhin besser bekannt zu machen, um mehr Öffentlichkeitswirksamkeit und eine rasche Nutzung dieser Instrumente zu erreichen, vor allem bei Mitgliedstaaten, die diesbezüglich hinterherhinken. Da die wirksame Finanzierung von KMU als eines der wichtigsten Instrumente des Wachstumspakts betrachtet werden kann, sollte dieses Thema in den nationalen Reformprogrammen substanziell angegangen werden.

5.6   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass der Unterstützung von KMU im Wege der Eigenkapitalinstrumente und Schuldtitel des Programms für Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und für KMU (COSME) sowie des Programms Horizont 2020 besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollten. Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Erhöhung der Obergrenze der Darlehensgarantie-Fazilität im Rahmen von COSME (150 000 EUR), wie bereits in einer früheren Stellungnahme zum Programm für Wettbewerbsfähigkeit (13) gefordert.

5.7   Der EWSA betont, dass kohäsionspolitische Regelungen nötig sind, die eine reibungslose und effiziente Umsetzung der KMU-Programme garantieren, was unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht in ausreichendem Maße gewährleistet ist. Der EWSA bedauert, dass die EU-Finanzvorschriften gegenwärtig zu schwerfällig und zu komplex sind und deshalb Probleme für die nationalen Intermediäre, die für ihre Umsetzung zuständig sind, mit sich bringen. Es ist unbedingt nötig, den Einsatz der kohäsionspolitischen Finanzinstrumente besser zu überwachen (14).

5.8   Ferner ist es wichtig, von der Projektfinanzierung zu nachhaltigeren Finanzierungsinstrumenten überzugehen, um eine Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung zu vermeiden. Hier sollte die Kommission für bewährte Verfahren bei der Kombination und Hebelung von Finanzinstrumenten aus verschiedenen Quellen in allen Entwicklungsphasen von KMU machen.

5.9   Der EWSA nimmt den Vorschlag zur Kenntnis, den Finanzierungszugang für KMU mit Hilfe neuer Finanzinstrumente im mehrjährigen Finanzrahmen in Form eigener Plattformen langfristig zu erleichtern (EU-Kreditfinanzierungsinstrument und EU-Beteiligungsfinanzierungsinstruments). Indem sie Mittel aus verschiedenen Quellen bündeln, können Finanzierungsinstrumente nach Auffassung des EWSA in Bereichen, in denen die einzelnen Mitgliedstaaten die erforderliche kritische Masse nur schwer erreichen können, Investitionen für ermittelte Marktdefizite mobilisieren, Größenvorteile erzielen und/oder das Ausfallrisiko minimieren. Der EWSA fordert die Kommission deshalb auf, die neue Generation von Finanzinstrumenten auf der Grundlage der Erfahrungen mit den bestehenden Instrumenten (Finanzinstrumente des CIP, Fazilität für Finanzierungen auf Risikoteilungsbasis) anzuwenden. Wichtig ist, geeignete Regeln, Vorgaben und Standards im Einklang mit den Markterfordernissen und bewährten Verfahren festzulegen, um im Interesse einer größeren Effizienz und Finanzdisziplin Überschneidungen zu vermeiden und die Umsetzungsmodalitäten zu vereinfachen. Der EWSA betont, dass eine angemessene Überwachung, Berichterstattung, Rechnungsführung und verantwortungsbewusste Lenkung äußerst wichtig sind, damit die EU-Mittel auch tatsächlich entsprechend ihrer Zweckbestimmung verwendet werden.

6.   Besondere Bemerkungen und Anmerkungen zu den Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für KMU

6.1   Bessere Information für KMU

6.1.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, die Information von Intermediären zu verbessern und Banken und Finanzinstitute aufzurufen, ihren Kunden sämtliche erforderlichen Instrumente zur Verfügung zu stellen, die ihnen den Zugang zu Finanzierung erleichtern. Der EWSA ist darüber hinaus der Auffassung, dass die Vermittlung von Finanzwissen bei den KMU verstärkt betrieben werden muss. Den Mitgliedstaaten wird nachdrücklich nahegelegt, sich an diesem Unterfangen zu beteiligen, indem sie in enger Zusammenarbeit mit den KMU-Verbänden Programme zur Unterstützung der Investitionsbereitschaft für KMU fördern.

6.1.2

Für die große Mehrheit der KMU ist eines der Hauptprobleme der Zugang zu maßgeschneiderter Beratung. Der EWSA unterstützt den Grundsatz und die Aufgaben des Enterprise Europe Network (EEN), ist indes der Auffassung, dass dessen Potenzial voll ausgeschöpft werden sollte (15). Der EWSA schlägt deshalb vor, die Beratungskapazitäten des EEN im Finanzbereich zu stärken. Er betont jedoch, dass die KMU-Verbände eng in diese Kampagne eingebunden werden müssen und die Kampagne auf die Vielfalt der KMU zugeschnitten sein sollte.

6.2   Bessere Beobachtung und Datenerfassung des KMU-Finanzierungsmarkts

6.2.1

Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass sich die Kommission bereits mit diesem Thema beschäftigt hat (Erhebungen zum Finanzierungszugang für KMU und KMU-Finanzierungsindex). Er begrüßt den Vorschlag der Kommission, enger mit den Bankenverbänden zusammenzuarbeiten und Rat von anderen Institutionen (EZB, EBA)einzuholen. Der EWSA empfiehlt, auch die KMU-Verbände und –Institutionen auf nationaler Ebene einzubeziehen. Der EWSA bedauert, dass im Aktionsplan nicht auf die Stärkung der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie der OECD bei der Erstellung von Daten und Statistiken (16) über den Finanzierungszugang Bezug genommen wird.

6.3   Qualitative Ratings

6.3.1

Rein quantitative Ratingmodelle sind für die Bewertung von KMU oft nicht geeignet, weil sie zu streng sind. Die Heranziehung qualitativer Faktoren zusätzlich zur üblichen quantitativen Analyse ist daher uneingeschränkt zu begrüßen. Die Banken könnten deshalb erwägen, ihre Bewertungsverfahren für die Kreditwürdigkeit von KMU so zu gestalten, dass genügend Raum für ‧persönlichen Bankservice‧ bleibt. Diesbezüglich sollte auch ein Austausch bewährter Verfahren erfolgen. Der EWSA bedauert, dass einige Banken von dieser Idee offenbar eher abrücken, als sie zu fördern.

6.4   Business Angels und andere in einer frühen Phase tätige Akteure

6.4.1

Der EWSA hält es beispielsweise für wichtig, die Verbindungen zwischen Business Angels und in der Frühphase aktiven Risikokapitalfonds sowie in einer späteren Phase tätigen Risikokapitalfonds auszubauen, damit eine robuste Kette zur Finanzierung von Innovationen gewährleistet ist. Darüber hinaus sind Initiativen zur Förderung eines besseren Dialogs auf regionaler Ebene zwischen Business Angels, Risikokapitalfonds und lokalen Unternehmern nachdrücklich zu fördern.

6.4.2

Innovative Konzepte für die Risikokapitalfinanzierung sollten geprüft und umgesetzt werden. Dazu gehört auch das Crowdfunding, bei dem Bürger, und nicht etwa Banken oder Spezialisten, mittels einer Online-Plattform statt der Börse in KMU investieren.

6.4.3

Maßgeschneiderte Formen des Hybridkapitals (17) mit Elementen von Darlehen, Eigenkapital und Fremdkapital (wie Darlehen mit Gewinnbeteiligung) sollten gefördert werden, weil sie für KMU sowohl in der Frühphase als auch in allen Entwicklungsphasen besser geeignet sind.

7.   Weitere Empfehlungen zur Gewährleistung der KMU-Finanzierung

7.1   Bewährte Verfahren im Bankensektor

7.1.1

Nach Ansicht des EWSA sollte die Schaffung von Rahmenbedingungen erwogen werden, bei denen die Kreditvergabe durch Institute, die aus einer Philosophie der Risikokoteilung und Gewinnbeteiligung heraus handeln, angeregt wird, da die KMU hiervon auf jeden Fall profitieren können. Modelle wie Beteiligungsbanken sollten von der Kommission sorgfältig geprüft werden. Der EWSA legt der Kommission nahe, als Grundlage für eine Diskussion über Beteiligungsbanken auf europäischer Ebene ein Grünbuch vorzulegen. Eigene Initiativen von Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg und Malta sind zwar zu begrüßen, könnten jedoch eine weitere Integration des Finanzdienstleistungssektors in der EU verhindern. Darüber hinaus dürften eigene unkoordinierte Initiativen nicht die wirkungsvollsten Ergebnisse erzielen, die diese Art von Finanzierung erreichen kann, wie etwa Risikoteilung, Gewinnbeteiligung und eine sozial verantwortliche Finanzierung. Die Förderung der Mikrokreditfinanzierung mit besonderen Investitionsmaßnahmen, wie sie beispielsweise islamische Banken praktizieren, könnte auch zu neuen unternehmerischen Tätigkeiten führen und zugleich in bestimmten Regionen zur Bekämpfung der Armut beitragen. In diesem Zusammenhang sollte die Kommission eine Mitteilung über die Auslotung, Einführung und Förderung alternativer Finanzierungsmethoden vorlegen, um zu gewährleisten, dass diese die gleichen Ausgangsbedingungen herrschen wie für konventionelle Finanzierungsformen.

7.1.2

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission die Tätigkeit und die Ergebnisse von Kreditmediatoren sowie die Probleme von KMU bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten geprüft hat (18). Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, eine solche Funktion zu schaffen, um den Prozess der Kreditvergabe transparenter zu gestalten. Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass Artikel 145 Absatz 4 der Eigenkapitalrichtlinie (CRD III) sowie Artikel 418 Absatz 4 der vorgeschlagenen Eigenkapitalverordnung (CRD IV) Bestimmungen enthalten, nach denen KMU verlangen können, dass Banken ihnen Auskunft über ihr Rating und ihre Bewertung erteilen. Wichtig wäre, dass diese Bestimmungen voll in die Praxis umgesetzt werden.

7.1.3

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Situation zu prüfen und dafür Sorge zu tragen, dass es im Bankensektor in und zwischen den Mitgliedstaaten bei Finanzprodukten für KMU genügend Wettbewerb gibt. So besteht beispielsweise das Problem der Vorfälligkeitsentschädigung (siehe unten). Zudem sind die Zinssätze für Überziehungskredite für kleine Unternehmen nach wie vor sehr hoch, obwohl die Refinanzierungszinssätze der EZB auf einem historisch niedrigen Stand liegen. Große Unternehmen haben Alternativen (z.B. kurzfristige, tilgungsfreie Festzinskredite, sog. straight loans), die kleinen Unternehmen jedoch nicht offenstehen.

7.1.4

Vorfälligkeitsentschädigung: In vielen Mitgliedstaaten müssen Unternehmen eine Entschädigung an die Bank zahlen, wenn sie ihren Kredit vorzeitig zurückzahlen wollen. Wenn ein Kredit früher als in der Kreditvereinbarung vorgesehen zurückgezahlt wird, verlangt die Bank eine Vorfälligkeitsentschädigung, weil sie diese Mittel möglicherweise zu einem niedrigeren Zinssatz reinvestieren muss, als sie ihn erzielt hätte, wenn der Kredit nicht früher als erwartet zurückgezahlt worden wäre.

7.1.5

Das Problem besteht jedoch darin, dass diese Vorfälligkeitsentschädigungen oft sehr hoch sind. Außerdem sind sie in den Verträgen oft nicht sonderlich deutlich ausgewiesen, was auch für künftige, d.h. zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch unbekannte, Zinssätze gilt. Deshalb ist es für Unternehmen sehr schwierig, mögliche Vorfälligkeitsentschädigungen bei vorzeitiger Rückzahlung von Krediten einzuschätzen. Vielen Unternehmen ist nicht einmal klar, dass sie eine solche Vorfälligkeitsentschädigung zahlen müssen.

7.1.6

Es ist deshalb wichtig, dass die Banken klarer über diese Entschädigungen informieren, bevor eine Kreditvereinbarung unterzeichnet wird. Außerdem sollte die Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung begrenzt und angemessen sein.

7.2   Öffentlichkeitswirksamkeit und Verwaltung von EU-Programmen zur KMU-Finanzierung

7.2.1

Der EWSA unterstützt die Schaffung einer einheitlichen mehrsprachigen Online-Datenbank der verschiedenen Finanzierungsquellen, in der europäische, nationale und regionale Maßnahmen erfasst sind, um KMU den Zugang zu Finanzierung zu erleichtern. Der Ausschuss fordert die Kommission zu einer weiter Verbreitung ihres Leitfaden (19) mit Informationen über den Zugang zu 50 Mrd. EUR öffentlicher Mittel in den 27 Mitgliedstaaten auf.

7.2.2

Der EWSA ist der Auffassung, dass beim Programm Horizont 2020 ein gezieltes Budget in Höhe von 15 % des Gesamtmittelausstattung des Programms sowie eine Verwaltungsstruktur eigens für die KMU von entscheidender Bedeutung sind, um das Innovationspotenzial von KMU optimal zu nutzen. Verfahrensmäßig sind Verbesserungen in Finanz- und Verwaltungsfragen erforderlich. So haben viele KMU, die an EU-finanzierten Forschungsprojekten teilnehmen, nach wie vor enorme Probleme mit der Mehrwertsteuer in ihren jeweiligen Ländern. Sehr oft ist dies von Anfang an einer der größten Stolpersteine für die teilnehmenden Unternehmen. In allen Mitgliedstaaten sollten eindeutige Regelungen angewandt werden, um die KMU diesbezüglich zu entlasten. Die Mehrwertsteuer sollte bei EU-finanzierten Projekten stets rückerstattet werden.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Die Erhebung "Survey on the access to finance of small and medium-sized enterprises (SMEs) in the euro area" wurde zwischen dem 29. Februar und dem 29. März 2012 bei 7 511 Unternehmen im Euroraum durchgeführt.

(2)  Ebenda, siehe Angaben auf S. 14/15.

(3)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22, ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 51.

(4)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 72.

(5)  Siehe beispielsweise Financités: http://www.financites.fr.

(6)  Siehe EBAN-Bericht: Tax Outlook 2010 Executive Summary - http://www.eban.org/resource-center/publications/eban-publications.

(7)  Tante Agaath regeling (http://www.tanteagaath.nl/agaath_regeling.htm).

(8)  http://pme.service-public.fr/actualites/breves/reduction-isf-pour-investissements-pme.html.

(9)  ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 80.

(10)  ABl C 143 vom 22.05.2012, S. 78, ABl. C 181 vom 21.06.2012, S. 84.

(11)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 39.

(12)  ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 55.

(13)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 125.

(14)  Sonderbericht Nr. 2/2012 "Finanzinstrumente für KMU mit Kofinanzierung aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung" – Bericht des Europäischen Rechnungshofes - http://eca.europa.eu/portal/pls/portal/docs/1/13766748.PDF.

(15)  ABl C 376 vom 22.12.2011, S. 51 - ABl. C 181 vom 21.06.2012, S. 125.

(16)  Siehe beispielsweise "Finanzierung von KMU und Unternehmern 2012: vergleichende Untersuchung der OECD" (http://www.oecd-ilibrary.org/industry-and-services/financing-smes-and-entrepreneurship_9789264166769-en).

(17)  http://www.schwabfound.org/pdf/schwabfound/SocialInvestmentManual.pdf.

(18)  http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/10/1186&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=de.

(19)  Abschlussbericht, Evaluation of Member State Policies to facilitate Access to Finance for SMEs – Juni 2012 http://ec.europa.eu/enterprise/policies/finance/guide-to-funding/indirect-funding/files/evaluation-of-national-financing-programmes-2012_en.pdf.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein integrierter europäischer Markt für Karten-, Internet- und mobile Zahlungen (Grünbuch)“

COM(2011) 941 final

2012/C 351/11

Berichterstatter: Stasys KROPAS

Die Europäische Kommission beschloss am 11. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Ein integrierter europäischer Markt für Karten-, Internet- und mobile Zahlungen (Grünbuch)

COM(2011) 941 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 157 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative der Kommission zur Schaffung eines EU-weiten sicheren, transparenten und innovativen Umfelds für die Abwicklung von Zahlungen. Effizientere, moderne und sicherere Zahlungsmittel sind notwendig, um die Vorteile des Binnenmarkts weiter zu mehren und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf dem globalen Markt zu stärken.

1.2

Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgeschlagene breit angelegte Diskussion über wichtige Themen der gegenwärtigen und absehbaren Zahlungslandschaft in der EU. Um ein umfassendes Bild zu gewinnen, sollten jedoch Barzahlungen stärker berücksichtigt werden. Obwohl solche Zahlungen allmählich zurückgehen, ist Bargeld auf bestimmten Märkten nach wie vor das vorherrschende Zahlungsmittel. In den Mitgliedstaaten mehren sich die Belege dafür, dass Bargeld prinzipiell weniger effizient ist und wertvolle Ressourcen eingespart werden könnten, wenn die Verbraucher zum elektronischen Zahlungsverkehr übergingen. Bestimmte Mitgliedstaaten haben auf dem Weg zu einer bargeldlosen Gesellschaft bereits echte Fortschritte erzielt. Nach Überzeugung des EWSA ist die Allgemeinheit allerdings über die tatsächlichen Kosten der Barzahlung noch nicht hinreichend informiert. Darüber hinaus gilt Bargeld als Schmiermittel der Schattenwirtschaft. Daher sollten kostengünstigere und sicherere Zahlungsmethoden, die zur Zurückdrängung der Schattenwirtschaft beitragen, von allen Beteiligten gefördert werden. In Betracht gezogen werden sollten in diesem Zusammenhang zum einen die mannigfaltigen Vorteile für alle Beteiligten, zum anderen aber auch die Notwendigkeit vertretbarer Kosten für diejenigen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die ihren Kunden solche Zahlungsmethoden anbieten. Hier bedarf es zusätzlicher Initiativen in den Mitgliedstaaten mit klarer Unterstützung durch die Kommission.

1.3

Kartenzahlungen sind in der EU und weltweit das am weitesten verbreitete Mittel des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. In der Wirtschaftsfachliteratur besteht ein zunehmender Konsens darüber, dass bargeldlose Zahlungen steuerlich und wirtschaftlich transparenter und zudem für die Gesamtgesellschaft billiger, bequem, sicher und innovativ sind. Der EWSA bestärkt daher die Kommission in ihrem Vorsatz, sie dazu zu nutzen, um die Vorteile einer stärkeren Marktintegration zu erschließen. Die durch den Binnenmarkt eröffneten Chancen werden allerdings noch nicht vollständig ausgeschöpft, weil historisch bedingte Hemmnisse bestehen, es an Normierung und Interoperabilität fehlt und es Asymmetrien und Mängel in der Nutzung öffentlicher Informationen gibt, die durch den breiteren Einsatz von Zahlungskarten, des Internets oder von Mobiltelefonen im Zahlungsverkehr beseitigt werden können. Dadurch wird das Potenzial von Wettbewerb, Innovation und Effizienz nur unvollständig genutzt. Der EWSA fordert Marktinitiativen, damit so bald wie möglich gangbare Lösungen vorgeschlagen werden, insbesondere solche, die gleichzeitig die finanzielle und digitale Inklusion fördern.

1.4

Die gegenwärtige Rechtsunsicherheit hinsichtlich auf Interbankenentgelten fußender Geschäftsmodelle beeinträchtigt die weitere Verbreitung von Karten-, elektronischen und mobilen Zahlungen sowie die Ersetzung von Bargeld. Für Investitionen in Zahlungssysteme und Innovationen in diesem Bereich ist Klarheit eminent wichtig. Der EWSA fordert die Kommission auf, das Geschäftsumfeld für alle Betreiber zu stabilisieren. Im Einklang mit den Zielen des Einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums (SEPA) sollten keine Unterschiede zwischen Entgelten und anderen Forderungen für nationale und grenzüberschreitende Zahlungen bestehen.

1.5

Beim Zugang zu Informationen über die Verfügbarkeit von Bankguthaben sind viele Aspekte sorgfältig zu berücksichtigen, darunter Sicherheit, Datenschutz, Verbraucherrechte, Wettbewerb und Entschädigungen für die kontoführenden Banken. Nach Ansicht des EWSA sollten alle Einrichtungen, die Zugang zu solchen Informationen wünschen, einer Regelung und Beaufsichtigung entsprechend ihrem Risikoprofil unterliegen. Die Pflichten und Verantwortlichkeiten der Beteiligten sollten im europäischen Rechtsrahmen klar und deutlich festgehalten werden.

1.6

In vielen Ländern werden die Verbraucher voraussichtlich nicht bereit sein, Mehrgebühren zu zahlen, und zu Barzahlungen übergehen, weil sie diese für kostenlos halten. Zwar sollen die Verbraucher ab dem 13. Juni 2014 durch die Richtlinie über Verbraucherrechte vor Gebührenwucher geschützt werden, doch ist unklar, wie dieser Schutz im hochgradig dynamischen Internet gewährleistet werden kann.

1.7

Der elektronische Zahlungsverkehr wird auf den nationalen Märkten gut angenommen. Europaweite Lösungen auf der Grundlage von Internet-Bankgeschäften stehen noch aus; dies erschwert die Entfaltung des elektronischen Geschäftsverkehrs. Der EWSA fordert die Betreiber der entsprechenden Systeme auf, die Interoperabilität in offener und transparenter Zusammenarbeit zu verbessern und Lücken im elektronischen Geschäftsverkehr so bald wie möglich zu schließen.

1.8

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, dafür zu sorgen, dass bei Zahlungen per Mobilfunk ("M-Zahlungen") vom Frühstadium ihrer Entwicklung an bestimmte Grundsätze befolgt werden: der offene Zugang zu Plattformen, die Übertragbarkeit der Anwendungen, die Sicherheit sowie die Vermeidung doppelter Kosten für Betreiber, die bereit sind, solche Zahlungen zu akzeptieren.

1.9

Der EWSA erkennt die Fortschritte an, die die Marktteilnehmer bei den Maßnahmen gegen Betrug an Bank- und Geldautomaten bereits erzielt haben. Die größte Gefahr geht derzeit vom Online-Betrug aus. Hier sollten zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen eingeführt werden, die allerdings nicht zu Lasten der Nutzerfreundlichkeit gehen dürfen. Sicherheitsmaßnahmen auf Vorschlag öffentlicher Stellen sollten technisch so neutral wie möglich gestaltet werden.

1.10

Der EWSA begrüßt die derzeit laufenden Bemühungen um die Stärkung der Verwaltung SEPA und unterstützt die Absicht, die Zuständigkeit für den SEPA unter einem gemeinsamen Dach zusammenzufassen, zum Beispiel unter dem des SEPA-Rates. Allerdings fordert der EWSA die Kommission und die Europäische Zentralbank auf, so bald wie möglich die Einzelheiten zu klären, da der derzeit bestehende faktisch rechtsfreie Raum die Durchführung behindert.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Die Vollendung des Einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraumes (SEPA) ist eine der Prioritäten der Kommission auf dem Weg zur Vollendung des Binnenmarkts. Das bei der Standardisierung und Interoperabilität Erreichte kann zusammen mit dem harmonisierten Rechtsrahmen von den Betreibern in Form von SEPA-Überweisungen und SEPA-Lastschriften bereits genutzt werden – die bisherigen Systeme des Euroraums werden dadurch zum 1. Februar 2014 ersetzt.

2.2

Die Tragweite von SEPA ist jedoch noch größer und hat weitere Pfeiler. Einer dieser Pfeiler sind die Kartenzahlungen, das wichtigste Zahlungsmittel in der Europäischen Union und weltweit. Ein weiterer Pfeiler ist der elektronische Zahlungsverkehr, d.h. Käufe über das Internet. Bisher entfällt auf solche Zahlungen nur ein Bruchteil des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, aber es wird von zweistelligen Wachstumsraten ausgegangen. Der Europäische Zahlungsverkehrsausschuss (EPC), das Koordinierungs- und Entscheidungsgremium der europäischen Bankenindustrie für den Zahlungsverkehr, hat die Maßnahmen der Zusammenarbeit auf E-Zahlungen ausgeweitet und den SEPA-Rahmen für elektronischen Zahlungsverkehr entwickelt. Vor kurzem übermittelte die GD Wettbewerb der Kommission ein Auskunftsverlangen zum EPC.

2.3

Der neueste Pfeiler sind Zahlungen per Mobilfunk (M-Zahlungen). Der EPC hat gemeinsam mit anderen Betreibern koordinierte Maßnahmen zu M-Zahlungen umgesetzt, indem er technische Unterlagen zu Leitlinien für die Interoperabilität vorbereitete und mehrere Weißbücher herausgab. M-Zahlungen befinden sich zwar noch in einem frühen Entwicklungsstadium, bezüglich ihres zukünftigen Status werden aber hohe Erwartungen an sie geknüpft. Während sich Kartenzahlungen, E- und M-Zahlungen im Bezug auf ihren Entwicklungsstand, ihre Verbreitung und ihre Geschäftsmodelle unterscheiden, herrscht bei den europäischen Institutionen und Marktteilnehmern Einigkeit darüber, dass auf den Gebieten Integration, Transparenz und Wettbewerbsfähigkeit weitere Fortschritte erforderlich sind. Es besteht die Gefahr, dass die Nachteile, die bei den bestehenden Geschäftsmodellen zu beobachten sind, auch bei künftigen M-Zahlungen auftreten.

2.4

Jeder Bürger, Gewerbetreibende oder Vertreter der öffentlichen Verwaltung hat es mit Zahlungsvorgängen zu tun, die entweder auf traditionelle Weise (z.B. in bar) oder durch moderne Zahlungsdienstleistungen (z.B. elektronisch) abgewickelt werden. Nach einer Statistik der Europäischen Zentralbank (1) wurden 2010 in der Europäischen Union insgesamt 86,4 Mrd. bargeldlose Zahlungsvorgänge gezählt, das sind 4,4 % mehr als im Vorjahr, von denen die meisten (39 % bzw. 33,9 Mrd.) auf Kartenzahlungen entfielen. Der Gesamtwert der Kartenzahlungen lag bei 1,8 Billionen EUR, 6,7 % höher als im Vorjahr, d.h. mehr als das Dreifache des Wachstums des realen BIP in der Eurozone um 1,8 %. Zwar gibt es bei der Kartennutzung signifikante Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern, aber im Allgemeinen geht der Trend zu Kartenzahlungen als einem der dynamischsten Mittel des bargeldlosen Zahlungsverkehrs.

2.5

Wie aus einem Informationsbericht des Europäischen Systems der Zentralbanken (2) hervorgeht, wird die Festlegung und Anwendung der Interbankenentgelte in der Europäischen Union nicht einheitlich gehandhabt. Die Auswahl, Struktur und Höhe der Interbankenentgelte ist sehr unterschiedlich und von zahlreichen Variablen abhängig. Die Händlergebühren bestehen zum größten Teil aus Interbankenentgelten. Die Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden haben Interbankenentgelte unter Wettbewerbsaspekten geprüft und eine Reihe von Beschlüssen gefasst, einige davon zu grenzübergreifenden Tätigkeiten, während andere auf die nationale Ebene beschränkt waren.

2.6

Transparenz der Gebühren: zu den Kosten für die Verbraucher wurden bislang leider weder offizielle Umfragen noch vollständige nationale Statistiken veröffentlicht, die einen Ländervergleich zuließen, etwa zu den unterschiedlichen Gebühren, die in unmittelbarem Zusammenhang mit verschiedenen Zahlungsmitteln stehen. Diese Angaben stehen zwar den nationalen Aufsichtsbehörden zur Verfügung, werden jedoch von diesen zumeist nicht einmal teilweise veröffentlicht.

2.7

Trotz laufender privater Initiativen zur Standardisierung ist der Markt nach wie vor vielfach fragmentiert: zwischen den Händlerbanken und Unternehmen, die Zahlungskarten ausgeben, zwischen den Kartenausgebern und den Bank- bzw. Geldautomatenbetreibern sowie zwischen diesen und den Händlerbanken. Da die Interessen oft auseinanderlaufen und vielfach keine klaren Zeitpläne für die Durchführung vorliegen, haben diese Initiativen kaum konkrete Ergebnisse hervorgebracht.

2.8

Die bedeutenden Investitionen und Anstrengungen aller Anbieter und Betreiber beim Übergang vom Magnetstreifen zur EMV-Chip-Technologie haben dazu beigetragen, den Kartenbetrug bei materiellen Zahlungsvorgängen zurückzudrängen. Nach neueren Tendenzen ist jedoch bereits heute bei Kartenfernzahlungen, obwohl sie nur einen geringen Anteil aller Kartentransaktionen ausmachen, das Betrugsrisiko am höchsten. Aufsichtsbehörden und Überwachungsinstanzen sind auf dieses Problem aufmerksam geworden und haben sich 2011 unter dem Dach der Europäischen Zentralbank zum sogenannten SecuRe-Pay-Forum zusammengeschlossen, um die Sicherheit zu erhöhen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in elektronische Zahlungsmittel und -dienstleistungen zu stärken. 2012 wird das Forum eine Reihe technisch neutraler Empfehlungen für die Sicherheit von Internetzahlungen vorlegen.

2.9

In dem Grünbuch der Kommission wird eine Reihe von Fragen zum Thema Zahlungsverkehr angesprochen, deren erfolgreiche Lösung die Grundlage für bessere Integration und Sicherheit für den Zahlungsverkehr schaffen würde, und zwar sowohl in traditionellen Geschäften als auch im sich rasch entwickelnden elektronischen Umfeld. Mit mehr Wettbewerb, mehr Wahlmöglichkeiten und Transparenz für Verbraucher, mehr Innovation, verbesserter Sicherheit für Zahlungen und mehr Vertrauen von Seiten der Kunden hat Europa die Chance, bei der Abwicklung jeder Art von Zahlungen des 21. Jahrhunderts an vorderster Stelle zu stehen.

2.10

Die Kommission beschreibt die Vision eines integrierten Marktes; sie untersucht, welche Lücken zwischen der aktuellen Situation und dieser Vision bestehen und auf welche Hemmnisse diese Lücken zurückgehen. Sie benennt fünf umfassende Maßnahmen zur Beschleunigung der Integration des Zahlungsmarkts und überlegt, wie deren Umsetzung gesteuert werden kann. Der erste Themenkreis enthält die meisten Fragen und umfasst Marktfragmentierung, Marktzugang und grenzübergreifende Themen. Bei den übrigen geht es um transparente und kosteneffiziente Preise, Standardisierung, Interoperabilität und Sicherheitsprobleme. Die Steuerungsleitlinien sollten auf bestehende SEPA-Systeme für Überweisungen (SCT), Lastschriftverfahren (SDD) sowie auf Karten, elektronischen Zahlungsverkehr und M-Zahlungen angewandt werden.

3.   Kommentare und Bemerkungen

3.1

Eine EU-weite Positionierung zu seit Langem diskutierten und in Zukunft wichtigen Themen im Bereich des Zahlungsverkehrs – über SEPA-Überweisungen und -Lastschriften hinaus – steht weiterhin aus und ist von übergreifender Bedeutung für alle Anbieter auf dem Binnenmarkt. Der EWSA begrüßt das Grünbuch der Kommission und erwartet angemessene Folgemaßnahmen zur Behebung der derzeitigen Defizite. Er fordert, dass ein Verbraucherinteresse an sicheren, wirksamen, bequemen und raschen Zahlungen besteht, das bei jeder Zahlungstransaktion im Mittelpunkt stehen sollte.

3.2

Im Grünbuch liegt der Schwerpunkt auf dem elektronischen Zahlungsverkehr, jedoch wird die nach wie vor dominante Rolle der Barzahlungen vernachlässigt, die 80 % aller Transaktionen in der EU ausmachen. Eine bessere Kostentransparenz ist sowohl bei elektronischen als auch bei Barzahlungen wichtig, und sie sollte bei der Untersuchung unbarer Zahlungsmittel als primärer Bezugspunkt dienen. In der breiten Öffentlichkeit ist immer noch die Vorstellung verbreitet, Bargeld sei umsonst. Würden die Zahlenden ihre Gewohnheiten ändern und zu modernen, kostengünstigeren Zahlungsmitteln greifen, ließe sich die Effizienz beträchtlich steigern. Im Übrigen bestehen Anzeichen für das Bestehen einer positiven Wechselwirkung zwischen dem Verbreitungsgrad von Barzahlungen und der Ausprägung der Schattenwirtschaft, da Barzahlungen schwer nachzuverfolgen sind. Daher begrüßt der EWSA die zusätzlichen Initiativen, die die Mitgliedstaaten mit klar ersichtlicher Unterstützung durch die Kommission unternehmen, um den Stellenwert des Bargeldes in der modernen Wirtschaft zu überdenken.

3.3

Nach Meinung des EWSA sollten zusätzliche und vor allem verbindliche Maßnahmen zur Steigerung der Transparenz in Betracht gezogen werden, um die Verbraucher nicht mit Informationen zu überhäufen, die, wenn sie zum unpassenden Zeitpunkt (etwa in Spitzenzeiten) oder in komplizierten Formaten bereitgestellt werden, für Verwirrung beim Einkaufen sorgen und die Kassiervorgänge der Händler stören könnten.

3.4

Das Geschäftsmodell der internationalen und einiger nationaler Kartensysteme gründet auf Interbankenentgelten, gegen die sowohl die nationalen Wettbewerbsbehörden als auch die Kommission in unterschiedlichem Maße vorgegangen sind. Der Kommissionsbeschluss von 2007, durch den MasterCard die Erhebung einer grenzüberschreitenden Abwicklungsgebühr untersagt wurde, wurde jüngst vom Gericht bestätigt. Der EWSA weist darauf hin, dass auf Interbankenentgelten fußende Geschäftsmodelle bislang nicht den SEPA-Zielvorgaben (keine unterschiedlich hohen Gebühren für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen) entsprechen. Zudem steht der Selbstregelungsmechanismus zur Gewährleistung geringerer Interbankenentgelte bei höheren Transaktionsvolumina ebenso aus wie alternative Lösungen für die Kostenanlastung bei Kleinbetragszahlungen. Der EWSA fordert die Kommission auf, das Geschäftsumfeld für alle Betreiber langfristig zu stabilisieren und dabei auch die Erfahrungen anderer Regionen (z.B. Australien) zu berücksichtigen, die einschlägige Regelungen erlassen haben, sowie gleiche Wettbewerbsbedingungen für verschiedene Geschäftsmodelle von Kartensystemen zu gewährleisten.

3.5

Durch das gleichzeitige Aufbringen verschiedener Akzeptanzmarken entweder auf Plastikkarten oder auf den künftigen mobilen Plattformen sollten weder das Recht der Verbraucher auf die freie Wahl zwischen verschiedenen Marken ausgehöhlt noch mögliche Anreize für Händler eingeschränkt werden. Diese Verknüpfung ("Co-Badging") ist wichtig für neue Kartensysteme auf dem Markt und sorgt sowohl für mehr Wahlmöglichkeiten als auch für mehr Wettbewerb. Vereinzelt erlegen Marken zusätzliche verbindliche Anforderungen für über ihre Netze getätigte Transaktionen selbst dann auf, wenn diese von einer anderen Marke veranlasst werden. Nach Ansicht des EWSA sollte Sorge dafür getragen werden, dass einzelne Marken derlei Verarbeitungsanforderungen nicht auferlegen können.

3.6

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Trennung der Systemverwaltung von der Verarbeitung entscheidend dazu beiträgt, einen wettbewerbsorientierten Markt für Kartenzahlungen zu schaffen, da sogenannte vertikale Silos die Quersubventionierung beim Wettbewerb mit unabhängigen Verarbeitern ausnutzen könnten. Überdies wirkt sich die gegenwärtige Gliederung ungünstiger auf die angestrebten Initiativen zur Förderung der Interoperabilität unter den Verarbeitern aus. Deshalb würden durch eine derartige, idealerweise auf Unternehmensebene vollzogene Trennung der Bereiche die Integration in den Binnenmarkt und der Wettbewerb auf diesem Binnenmarkt verbessert.

3.7

Nach dem geltenden Rechtsrahmen ist Zahlungs- und E-Geld-Instituten der Zugang zu Zahlungssystemen im Sinne der Richtlinie über die Wirksamkeit von Abrechnungen (Finalitätsrichtlinie) verwehrt; diese Systeme wurden im Wesentlichen für Großbetrags- und Massenzahlungen geschaffen. Falls die Kommission Änderungen dieses Rechtsrahmens vorschlägt, ersucht der EWSA sie eindringlich darum, die von diesen neuen Teilnehmern (Zahlungs- und E-Geld-Institute) ausgehenden Risiken für die bestehenden Zahlungssysteme (Infrastruktur) zu berücksichtigen, u.a. weil diese Teilnehmer keinen Zugang zu Finanzmitteln der Zentralbanken haben.

3.8

Die von anderen Anbietern erarbeiteten Geschäftsmodelle sollten durch das ursprünglich vom Europäischen Zahlungsverkehrsausschuss (EPC) entwickelte Rahmenwerk für die Abwicklung von SEPA-Kartenzahlungen nicht eingeschränkt werden. Im Kontext der neuen SEPA-Verwaltungsstruktur bedarf das Rahmenwerk einer gründlichen Überarbeitung, bei der die Beiträge aller Interessengruppen berücksichtigt werden.

3.9

Der EWSA ist besorgt darüber, dass Unternehmen um Zugang zu den sensiblen Informationen über Bankkonten ersuchen, die weder reguliert noch überwacht werden. Darüber hinaus werden Pflichten und Zuständigkeiten der beteiligten Anbieter werden im Rechtsrahmen der EU nicht angemessen berücksichtigt, was unerwartete Folgen für die Verbraucher in Form von Datenmissbrauch oder Betrug haben könnte. Der Zugang bankfremder Unternehmen zu Informationen über die Verfügbarkeit von Bankguthaben sollte unter Berücksichtigung von Aspekten wie Sicherheit, Datenschutz, Verbraucherrechten, Wettbewerb und Entschädigungen für die kontoführenden Banken sorgfältig untersucht werden.

3.10

Mit Aufschlägen können Händler neben dem Transaktionswert Zusatzgebühren für die Verwendung einer Karte verlangen. Dies gilt seit der Verabschiedung der Zahlungsdiensterichtlinie in der gesamten EU, es sei denn, ein Mitgliedstaat verbietet Aufschläge ausdrücklich. Die bisherigen Erfahrungen mit Aufschlägen in bestimmten Fällen lassen zumindest auf kurze Sicht keine eindeutigen Schlüsse zu. Anfang 2005 beispielsweise reagierte die dänische Bevölkerung heftig auf die Erhebung von Gebühren für inländische Debitkartentransaktionen, die in der Folge stark zurückgingen, während Barabhebungen am Geldautomaten zunahmen. Umfragen auf anderen Märkten bestätigen diese Tendenz. Zwar sollen die Verbraucher ab dem 13. Juni 2014 durch die Richtlinie über Verbraucherrechte vor Gebührenwucher geschützt werden, doch es ist unklar, wie dieser Schutz im hochgradig dynamischen Internet gewährleistet werden kann. Der EWSA ist der Ansicht, dass Aufschläge als europaweite Praxis nicht gefördert werden sollten.

3.11

Kennzeichen der Kartenzahlungsbranche ist ein Mangel an Normung bzw. Interoperabilität. So muss sich z.B. ein Terminalanbieter bis zu sieben Zertifizierungsverfahren unterziehen, um EU-weit tätig sein zu können. Der EWSA fordert die Privatwirtschaft auf, ihre Kräfte zu bündeln und konkrete Ergebnisse, u.a. hinsichtlich des Umsetzungsrahmens, innerhalb ehrgeiziger Fristen zu liefern. Lassen marktgestützte Lösungen jedoch auf sich warten, sollte die Kommission Legislativvorschläge vorlegen.

3.12

Die Möglichkeit von E-Zahlungen ist zumeist auf die nationale Ebene beschränkt. Der EWSA fordert die Betreiber der entsprechenden Systeme auf, die Interoperabilität in offener und transparenter Zusammenarbeit zu verbessern und Lücken im elektronischen Geschäftsverkehr so bald wie möglich zu schließen. Liefert der Markt jedoch nicht die erwarteten Ergebnisse, sollte die Kommission Rechtsvorschriften für den EU-weiten Zugang zu E-Zahlungssystemen ins Auge fassen.

3.13

Der EWSA fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass bei Zahlungen per Mobilfunk ("M-Zahlungen") vom Frühstadium ihrer Entwicklung an bestimmte Grundsätze befolgt werden: der offene Zugang zu Plattformen, die Übertragbarkeit von Anwendungen, die Sicherheit sowie die Vermeidung doppelter Kosten für Betreiber, die bereit sind, solche Zahlungen zu akzeptieren. Darüber hinaus sollten die Datenschutzbehörden die Betreiber bei der Entwicklung nutzerfreundlicher Lösungen unterstützen.

3.14

Das für das Vertrauen der Öffentlichkeit in Zahlungsinstrumente grundlegende Problem der Sicherheit sollte idealerweise bereits in der Gestaltungsphase angegangen werden. Für die Sicherheit ist die angemessene Regulierung und Überwachung aller Anbieter in der Zahlungswertschöpfungskette von wesentlicher Bedeutung. Der EWSA erkennt die Fortschritte an, die die Marktteilnehmer bei den Maßnahmen gegen Betrug an Bank- und Geldautomaten bereits erzielt haben, stellt jedoch fest, dass die Anbieter im Online-Bereich Betrug ausgesetzt sind. Soweit sie von öffentlichen Stellen vorgeschlagen werden, sollten die Sicherheitsmaßnahmen nicht zulasten des Komforts der Verbraucher gehen und in technischer Hinsicht so neutral wie möglich gestaltet werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Empfehlungen der am "SecuRe-Pay-Forum" über die Sicherheit von Internetzahlungen teilnehmenden Einrichtungen sowie deren Anstrengungen, elektronische Zahlungsdienste sicherer zu machen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Dienste zu vergrößern. Die ordnungsgemäße Umsetzung dieser Empfehlungen sollte von den einschlägigen Behörden weiter überwacht werden.

3.15

Maßnahmen gegen Betrug müssen jedoch von zusätzlichen Schritten der einschlägigen Behörden in den Mitgliedstaaten flankiert werden. Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA, dass unter dem Dach von Europol ein Europäisches Zentrum zur Eindämmung der Computerkriminalität errichtet wird, das seine Tätigkeit am 1. Januar 2013 aufnimmt und hoffentlich das Kompetenzzentrum bei der EU-Betrugsbekämpfung wird. Der EWSA hatte diese Initiative bereits in einer am 23. Oktober 2008 verabschiedeten Initiativstellungnahme zum Thema "Bekämpfung von Betrug und Fälschung im bargeldlosen Zahlungsverkehr" (3) (INT/417) befürwortet. Er weist darauf hin, dass in der betreffenden Stellungnahme weitere Maßnahmen festgelegt wurden, die nach wie vor von großem Belang sind und ebenfalls erwogen werden sollten.

3.16

An Zahlungen sind viele Akteure beteiligt, und ihren Interessen, so widerstreitend sie bisweilen auch sein mögen, sollte bei der Gestaltung der künftigen Zahlungslandschaft Rechnung getragen werden. Bei diesem im Aufbau begriffenen, ehrgeizigen Vorhaben dürfte die neue SEPA-Verwaltung Offenheit und Transparenz ebenso gewährleisten wie gleiche Wettbewerbsbedingungen. Der EWSA begrüßt die laufenden Bemühungen der Kommission, die Zuständigkeit für den SEPA unter einem gemeinsamen Dach zusammenzufassen, zum Beispiel unter dem des SEPA-Rates. Dennoch dringt der EWSA darauf, den Prozess zu beschleunigen, da der derzeit faktisch vorhandene rechtsfreie Raum der Umsetzung im Wege steht.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  http://www.ecb.int/press/pr/date/2011/html/pr110912.en.html.

(2)  http://www.ecb.int/pub/pdf/scpops/ecbocp131.pdf?4cce20956bed7b7e5f454a4ea77f7c9b.

(3)  ABl C 100 vom 30.4.2009, S. 22.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Stiftung (FE)“

COM(2012) 35 final — 2012/0022 (APP)

2012/C 351/12

Berichterstatterin: Mall HELLAM

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Mai 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Stiftung (FE)

COM(2012) 35 final — 2012/0022 (APP).

Die mit Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 132 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Stiftung, mit der die Einrichtung der Europäischen Stiftung (Fundatio Europaea) ermöglicht wird. Der EWSA hatte ein solches Statut (1) gefordert, mit dem die grenzübergreifende Tätigkeit und Zusammenarbeit gemeinnütziger Stiftungen in der Europäischen Union erleichtert und ein Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der EU geleistet werden soll.

1.2

Der EWSA empfiehlt eine unverzügliche Annahme des Vorschlags durch das Europäische Parlament und den Rat. Stiftungen sind mehr denn je mit Aufgaben befasst, die über nationale Grenzen hinausreichen und eine effiziente Organisationsform erfordern. Stiftungen auf europäischer Ebene, die in den Bereichen Wissenschaft, Forschung und gesellschaftliche Fragen tätig sind, brauchen eine Rechtsform, die in allen EU-Mitgliedstaaten anerkannt wird.

1.3

Das Stiftungswesen selbst sowie seine Vertretungsorganisationen und Netzwerke auf nationaler und europäischer Ebene haben sich wiederholt für ein Statut für die Europäische Stiftung als kosteneffizienteste Lösung zur Bewältigung grenzübergreifender Hindernisse ausgesprochen, mit der zudem auch die Stiftungstätigkeit in ganz Europa gefördert würde.

1.4

Lokale und nationale Rechtsvorschriften werden durch die optionale Fundatio Europaea (FE) nicht aufgehoben. Eine in ihrem Ursprungsland anerkannte Stiftung, die sich für dieses Konzept entscheidet, erhält somit die Möglichkeit, in allen EU-Mitgliedstaaten tätig zu sein, ohne lokale Strukturen aufbauen zu müssen.

1.5

Der EWSA ist der Auffassung, dass die vorgeschlagene Maßnahme voll und ganz mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht. Die EU muss tätig werden, um die nationalen Hindernisse und Einschränkungen, denen länderübergreifend in der EU tätige Stiftungen derzeit begegnen, aus dem Weg zu räumen. Die derzeitige Situation macht deutlich, dass einzelstaatliche Maßnahmen das Problem nicht angemessen lösen und dass der länderübergreifende Charakter des Themas einen europäischen Rahmen erfordert, mit dem sich der Ausbau der Stiftungen, die auf europäischer Ebene tätig sein wollen, sicherstellen lässt. Um diesem Ziel gerecht zu werden, ließen sich mit einer einzelnen Maßnahme eines Mitgliedslandes im Hinblick auf das Binnenmarktprinzip keine optimalen Ergebnisse gewährleisten.

1.6

Begründet ist der Vorschlag durch die Schaffung eines innovativen Rechtsrahmens, der neben den bestehenden nationalen Rechtsvorschriften gelten soll, deren Form und Geltungsbereich aber unverändert bleiben. Mitgliedstaaten werden nach wie vor die Möglichkeit haben, an nationalen Stiftungsformen festzuhalten.

1.7

Der EWSA befürwortet, dass für diesen Vorschlag die Form der Verordnung gewählt wurde. Die Verordnung ist das Rechtsinstrument, mit dem am besten für ein einheitliches Statut in allen Mitgliedstaaten gesorgt und durch eine direkte und einheitliche Anwendung der Vorschriften größeres Vertrauen geschaffen werden kann. Gestärkt wird dieser Ansatz durch Artikel 47 und 48 zur Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsbehörden bzw. zwischen diesen und den Finanzämtern.

1.8

Der EWSA erklärt sich einverstanden mit den zentralen Punkten des Vorschlags der Europäischen Kommission zu einem Statut einer Europäischen Stiftung, mit dem ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden soll zwischen einer leichteren Gründung von Stiftungen einerseits und einer großen Vertrauenswürdigkeit durch Transparenz und Rechenschaftspflicht andererseits.

1.9

Der Vorschlag umfasst steuerliche Aspekte, mit denen kein neuer rechtlicher Rahmen geschaffen, sondern die Europäische Stiftung automatisch gemeinnützigen Einrichtungen auf nationaler Ebene gleichgesetzt wird. Um die dringend erforderliche Annahme der vorgeschlagenen Verordnung nicht zu gefährden, sollte dieser Abschnitt des Vorschlags sorgfältig geprüft werden.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1

Der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen die gemeinnützigen Einrichtungen in der EU ihre Tätigkeit ausüben, kann nicht auf EU-Ebene harmonisiert werden. Die Gründung und die Arbeit von Stiftungen werden durch schätzungsweise mindestens 50 Rechtsvorschriften in der gesamten EU geregelt. Durch unterschiedliche zivilrechtliche und steuerrechtliche Bestimmungen in den Mitgliedstaaten wird eine grenzübergreifende Tätigkeit dieser Einrichtungen kostspielig und umständlich. Zudem wird die grenzübergreifende Arbeit durch rechtliche, steuerliche und administrative Hindernisse beeinträchtigt. Infolgedessen fließen über solche Einrichtungen nur wenige Mittel und Zuwendungen für gemeinnützige Zwecke in andere Mitgliedstaaten.

2.2

Um diesen Problemen zu begegnen, hat die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung einer neuen europäischen Rechtsform vorgelegt, mit der die Gründung von Stiftungen und deren Tätigkeit im Binnenmarkt erleichtert werden soll. Durch diese Rechtsform werden Stiftungen private Gelder für gemeinnützige Zwecke leichter innerhalb der EU transferieren können. Auf diese Weise dürften mehr Mittel für gemeinnützige Tätigkeiten zur Verfügung stehen, was sich wiederum auf das Gemeinwohl der europäischen Bürger und die Wirtschaft der EU insgesamt positiv auswirken dürfte.

2.3

In dem Vorschlag werden die wichtigsten Merkmale der Europäischen Stiftung, ihre Gründungsweise und die Vorschriften bezüglich ihrer Organisation dargelegt. Zudem ist vorgesehen, dass unter bestimmten Bedingungen eine Europäische Stiftung in eine gemeinnützige Einrichtung zurückverwandelt oder abgewickelt werden kann.

2.4

In der Verordnung werden für die Aufsichtsbehörden in den einzelnen Mitgliedstaaten Mindestaufsichtsbefugnisse festgelegt, damit diese die Tätigkeit der Europäischen Stiftungen, die in dem jeweiligen Land registriert sind, wirksam überwachen können. Ferner ist vorgesehen, dass die Europäischen Stiftungen und ihre Spender automatisch dieselben Steuervergünstigungen wie inländische gemeinnützige Einrichtungen erhalten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

In seiner früheren Stellungnahme hat der EWSA den bedeutenden Beitrag gewürdigt, den Stiftungen in vielen Bereichen wie etwa Menschenrechte, Minderheitenschutz, Beschäftigung und sozialer Fortschritt, Umweltschutz und europäisches Erbe sowie zur Förderung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts leisten. Sie spielen ferner eine zentrale Rolle beim Erreichen der Zielvorgaben der Europa-2020-Strategie, die auf ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum ausgerichtet sind.

3.2

Die Freizügigkeit für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EU gilt jedoch nicht generell für Tätigkeiten und Finanzmittel, die für gemeinnützige Zwecke vorgesehen sind. Diese Lücke ist der Grund für die Schaffung der Europäischen Stiftung als einer neuen, optionalen Rechtsform neben den bereits in den EU-Mitgliedstaaten bestehenden Rechtsformen.

3.3

Nach Ansicht des EWSA werden Stiftungen durch das Statut der Europäischen Stiftung insofern von einheitlicheren Bedingungen innerhalb der EU profitieren, als nur noch ein Rechtsinstrument und eine in allen Mitgliedstaaten ähnliche Lenkungsstruktur zum Zuge kommt, was, größere Rechtssicherheit gibt und mit geringeren Kosten für die Einhaltung der Rechtsvorschriften verbunden ist.

3.4

Mit dem Statut wird auch die gemeinsame Nutzung und Weiterentwicklung von Fachwissen und finanziellen Mitteln erleichtert werden. Eine erkennbare europäische Form für Stiftungen wird zudem grenzübergreifende Initiativen und Schenkungen befördern. Es ist anzunehmen, dass innerhalb der einzelstaatlichen Volkswirtschaften mehr Mittel für wichtige Bereiche wie Forschung und Bildung, soziale Dienstleistungen und medizinische Versorgung, Kultur und Umweltschutz zur Verfügung stehen werden.

3.5

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass sich der Vorschlag der Europäischen Kommission nur auf gemeinnützige Stiftungen bezieht. Er weist darauf hin, dass die unter Artikel 5 angeführte Definition von "gemeinnützigem Zweck" auf einer Liste der in den meisten Mitgliedstaaten am häufigsten vorzufindenden gemeinnützigen Zwecke beruht. Damit ergibt sich eine größere Rechtssicherheit in Bezug auf den Begriff der Gemeinnützigkeit; eine Aktualisierung kann sich allerdings als sehr schwierig erweisen, da diese sich erst bei der ersten Überarbeitung der Verordnung auf einstimmigen Beschluss des Rates und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments sieben Jahre nach Inkrafttreten durchführen ließe.

3.6

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass die Vorgabe, "dem Gemeinwohl im weiteren Sinn" zu dienen in der Verordnung näher erläutert werden und mit dem Hinweis versehen werden könnte, dass die Europäische Stiftung einen oder mehrere erkennbare gemeinnützige Zwecke verfolgen muss und dem öffentlichen Interesse allgemein und/oder einem Teil der Öffentlichkeit dient. Der EWSA empfiehlt ferner, bei der Beurteilung darüber, ob eine Einrichtung dem Gemeinwohl dient oder dienen will, die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:

(a)

in welchem Verhältnis

(i)

ein tatsächlicher oder möglicher Nutzen, der einer der Einrichtung angehörenden Person oder einer anderen Person (nicht aber der Öffentlichkeit) entsteht und

(ii)

ein tatsächlicher oder möglicher Schaden, der der Öffentlichkeit durch die Tätigkeit der Einrichtung entsteht

zu dem tatsächlichen oder möglichen Nutzen dieser Tätigkeit für die Öffentlichkeit steht und

(b)

ob bei der Erzielung eines tatsächlichen oder möglichen Nutzens für einen Teil der Öffentlichkeit die Voraussetzungen hierfür (einschließlich Abgaben und Gebühren) nicht unangemessen restriktiv sind.

3.7

Der EWSA begrüßt auch die folgenden, in der vorgeschlagenen Verordnung genannten Merkmale der Europäischen Stiftung, für die er sich bereits in einer früheren Stellungnahme ausgesprochen hatte:

a)

Die europäische Dimension der Europäischen Stiftung erfordert die Beteiligung von mindestens zwei Mitgliedstaaten. Dieser grenzübergreifende Bezug sollte eine Voraussetzung für die Registrierung und für das Bestehen der Europäischen Stiftung sein.

b)

Eine Europäischen Stiftung kann entweder ex nihilo, durch Verschmelzung einzelstaatlicher Stiftungen oder durch deren Umwandlung in eine Europäische Stiftung gegründet werden. Die Gründung einer Europäischen Stiftung soll juristischen oder natürlichen Personen vorbehalten sein, die auf europäischer Ebene tätig sind oder tätig sein wollen. Die Mitgliedstaaten erhalten damit die Sicherheit, dass die Besonderheiten des nationalen Rahmens für Stiftungen beibehalten werden;

c)

Das Mindestvermögen der Stiftung (25 000 EUR) soll die Rechte der Gläubiger stärken, ohne die Gründung kleinerer Initiativen zu verhindern;

d)

Europäische Stiftungen sollen über weitreichende Rechts- und Geschäftsfähigkeit verfügen, die auch das Recht auf den Besitz von beweglichem oder unbeweglichem Eigentum sowie den Empfang und Besitz von Schenkungen oder Zuwendungen jeglicher Art, einschließlich Aktien und anderer handelbarer Instrumente, aus jeder rechtmäßigen Quelle umfasst und

e)

im Rahmen der gemeinnützigen Zielsetzung der Europäischen Stiftung die Möglichkeit der Durchführung von Wirtschaftsaktivitäten haben, entweder direkt oder durch eine andere juristische Person, vorausgesetzt, dass sämtliche Erträge oder Überschüsse zur Verfolgung ihrer gemeinnützigen Zwecke verwendet werden.

3.8

Der EWSA weist darauf hin, dass die Umsetzung der jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (2) über die Möglichkeit länderübergreifender Schenkungen an Europäische Stiftungen und die Besteuerung von Europäischen Stiftungen als gemeinnützige Stiftungen nach der örtlichen Abgabenregelung mit der Verordnung erleichtert werden soll. Der EWSA ist der Meinung, dass der Europäischen Stiftung aus steuerlichen Gründen standardmäßig der Status einer Organisation ohne Erwerbscharakter verliehen und die Zuständigkeit und Praxis der Steuerbehörden des Mitgliedstaates, in dem die Stiftung steuerpflichtig ist, zur Bestimmung ihrer steuerlichen Behandlung entsprechend den auf nationaler Ebene geltenden Steuervorschriften voll und ganz respektiert werden soll. Die Mitgliedstaaten dürfen Europäische Stiftungen nicht anders behandeln als inländische gemeinnützige Einrichtungen, da dies dem EU-Vertrag und der Rechtsprechung des EuGH widersprechen würde, Wahlfreiheit haben sie hingegen bezüglich des anzuwendenden Steuersystems. Die Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus festlegen, welches Steuersystem auf Europäische Stiftungen angewandt werden soll, wenn ihre Rechtsprechung für Organisationen ohne Gewinnorientierung mehrere Regelungen enthält.

3.9

Schließlich sollten mit der vorgeschlagenen Verordnung die Empfehlungen der Stiftungen in vollem Umfang berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass das Instrument in seiner endgültigen Form zum einen eine echte europäische Dimension aufweist und nicht allzu sehr auf nationale Bestimmungen bezogen ist, und zum anderen im Interesse einer künftigen maximalen Inanspruchnahme sowohl flächendeckend als auch unkompliziert ist.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Wie bereits in der oben genannten Stellungnahme des EWSA dargelegt, würde sich eine Europäische Stiftung auf die vier Bereiche Effizienz und Vereinfachung, Rechenschaftspflicht, wirtschaftlicher Nutzen sowie Vorteile für die Politik und die Bürger positiv auswirken. Der EWSA ist der Auffassung, dass mit der vorgeschlagenen Verordnung zwar für ein Gleichgewicht zwischen diesen Aspekten gesorgt wird, dass aber einige der Vorschläge im folgenden Sinne weiterentwickelt werden könnten:

4.2

Der EWSA möchte auf die Übersetzung der in dem Vorschlag verwendeten spezifischen Begriffe hinweisen, insbesondere auf den Begriff der "Gemeinnützigkeit" (public benefit), der in manchen Sprachen als "öffentlicher Nutzen" oder "allgemeines Interesse" übersetzt werden könnte und auf eine sehr spezifische nationale Rechtsform mit entsprechenden Rechten und Anforderungen verweist. Ohne eindeutige Präzisierungen seitens der Mitgliedstaaten könnte dies zu Verwirrung darüber führen, welche nationalen gemeinnützigen Einrichtungen überhaupt in eine Europäische Stiftung umgewandelt werden können.

4.3

Der EWSA ist der Auffassung, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist festzulegen, welche gemeinnützigen Einrichtungen und Stiftungen in eine Europäischen Stiftung umgewandelt oder zu einer Europäischen Stiftung zusammengefasst werden können. Einrichtungen ohne eigene Rechtspersönlichkeit, wie etwa Treuhandfonds wären damit per Definition ausgeschlossen, Stiftungen mit gemeinnützigen Zielen hingegen, die in einigen Mitgliedstaaten rechtlich unselbständige Fonds umfassen, sowie gemeinnützige Stiftungsfonds, wären einbegriffen.

4.4

Der EWSA ist der Auffassung, dass auf unbegrenzte Zeit gegründete Europäische Stiftungen aufgrund ihres gemeinnützigen Charakters und ihres steuerrechtlichen Status ihre Jahreseinkommen in einem angemessenen Zeitraum ausgeben (etwa innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren) und zugleich für Möglichkeiten sorgen sollten, einen Teil ihres Vermögens (etwa ein Drittel) zur Werterhaltung und/oder Wertsteigerung ihrer Stiftung einzusetzen. Letzteres würde nicht für Europäische Stiftungen gelten, die für einen begrenzten Zeitraum gegründet werden und auch nicht für Verbrauchsstiftungen.

4.5

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass die in dem Vorschlag der Europäischen Kommission gestellten Anforderungen in Bezug auf Transparenz und insbesondere externe Betriebsprüfungen im Verhältnis zum erforderlichen Vermögensumfang strenger sind als die derzeit für einzelstaatliche Stiftungen in der EU geltenden Vorschriften. Dies könnte für die Gründung einer Europäischen Stiftung ein Hindernis sein. Die Rechnungsprüfungspflicht sollte erst oberhalb bestimmter Schwellenwerte (z.B. 150 000 EUR) und/oder bei durchschnittlich mindestens 50 Angestellten wirksam werden. Für Europäische Stiftungen mit einem Kapital von weniger als den vorgeschlagenen 150 000 EUR könnte anstelle eines Rechnungsprüfers ein unabhängiger Sachverständiger eingesetzt werden. Die derzeitige Praxis zeigt, dass in acht Mitgliedstaaten keine externe Rechnungsprüfung erforderlich ist, und dass in den Mitgliedstaaten, die eine solche Prüfung verlangen, die Schwellenwerte von 15 000 EUR (Estland) bis zu über 2,5 Mio. EUR (Polen) und mehr als 50 Beschäftigten reicht (3). Der Ansatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Rechnungsprüfung entbindet die Europäische Stiftung nicht von anderen Transparenz- und Rechenschaftspflichten, wie sie in der Verordnung insbesondere hinsichtlich der regelmäßigen (jährlichen) Berichtsveröffentlichung festgelegt sind.

4.6

Während Europäische Stiftungen in der Lage sein sollten, wesensähnliche Wirtschaftstätigkeiten auszuüben, d.h. Tätigkeiten, die in Zusammenhang mit ihrer gemeinnützigen Aufgabe stehen, ist der Begriff der "zweckfremden Wirtschaftstätigkeit" schwieriger zu definieren. Eventuell würde es für mehr Klarheit sorgen, wenn Europäischen Stiftungen lediglich indirekt zweckfremde Wirtschaftstätigkeiten durch eine andere juristische Person durchführen dürften.

4.7

Verfügt eine Europäische Stiftung über eine beträchtliche Anzahl von Arbeitnehmern in verschiedenen Mitgliedstaaten, so muss die Verordnung nach Ansicht des EWSA Bestimmungen enthalten, die das Recht der in der Stiftung Beschäftigten auf Unterrichtung und Anhörung auf der entsprechenden länderübergreifenden Ebene garantieren.

a)

Hinsichtlich der sozialen Aspekte sollte die Verordnung im Allgemeinen auf die Rechtsgrundsätze des Ortes Bezug nehmen, an dem die Arbeitnehmer ihre Arbeit ausüben,

b)

die praktischen Modalitäten für die länderübergreifende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer sollten vorzugsweise im Wege einer Vereinbarung zwischen den Parteien in der Europäischen Stiftung festgelegt werden,

c)

falls keine solche Vereinbarung besteht, sollten die unter Artikel 38 der Verordnung dargelegten Bestimmungen zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer angewandt werden und

d)

das Ziel sollte letztendlich sein, die Rechte, in deren Genuss Arbeitnehmer in einzelstaatlichen Stiftungen kommen, zu wahren und ein übermäßig kompliziertes System zu vermeiden.

4.8

Der EWSA ist der Auffassung, dass mit der Verordnung in ihrer derzeitigen Form de facto einige vollkommen neue Bestimmungen für ehrenamtlich Beschäftigte geschaffen werden, während es für diese keinen europäischen Status bzw. eine Rechtsdefinition oder eine Beschreibung ihrer Rechten und Pflichten gibt. Da diese grundlegenden Elemente fehlen, sollten nach Meinung des EWSA die Unterrichtung und Anhörung der bei Europäischen Stiftungen ehrenamtlich Beschäftigten entsprechend den nationalen Gesetzen erfolgen. Die praktischen Modalitäten für die länderübergreifende Information und Konsultation der ehrenamtlich Beschäftigten sollten vorzugsweise im Wege einer Vereinbarung zwischen den Parteien in der Europäischen Stiftung festgelegt werden. Dabei sollten bestehende Rechtsvorschriften zu ehrenamtlich Beschäftigten und deren Status nicht umgangen und die Nutzung Europäischer Stiftungen nicht durch zusätzliche Anforderungen, die einer realen Grundlage entbehren, verkompliziert und erschwert werden. Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass das Recht ehrenamtlich Beschäftigter auf Unterrichtung und Anhörung nicht vergleichbar ist mit dem Recht der Angestellten, da hierdurch juristische Präzedenzfälle und rechtliche Schwierigkeiten entstehen würden.

4.9

Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass in der vorgeschlagenen Verordnung seinen ursprünglichen Empfehlungen aufgegriffen werden, die Aufsicht über die Europäischen Stiftungen an dafür benannte zuständige Behörden in den Mitgliedstaaten zu übertragen, wobei als Grundlage die gemeinsam vereinbarten und in der Verordnung zu einer Satzung der Europäischen Stiftung festgeschriebenen Normen in Bezug auf die Eintragungs-, Berichterstattungs- und Überwachungsanforderungen herangezogen würden. Falls solche Behörden noch nicht bestehen, könnten die für die Eintragung in das Unternehmensregister zuständigen Stellen diese Aufgabe übernehmen. Nach Meinung des ESWA sollte im Ermessen der Mitgliedstaaten bleiben, je nach Bedarf und der üblichen Praxis eine oder mehrere Behörden zu benennen.

4.10

Sollten die EU-Gesetzgeber in der endgültigen Verordnung steuerliche Aspekte beibehalten wollen, so sollte nach Ansicht des EWSA der von Stiftungsexperten empfohlene Ansatz angemessen berücksichtigt werden. Dies könnte zum Beispiel eine Kombination aus dem zivilrechtlichen Instrument (EG-Verordnung) und von den Mitgliedstaaten als wichtig erachteten steuerrechtlichen Anforderungen (z.B. die Ausgabe des Jahreseinkommens in einem angemessenen Zeitraum) beinhalten.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA: ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 30.

(2)  "Persche" (Rechtssache C-318/07), "Stauffer" (Rechtssache C-386/04), "Missionswerk" (Rechtssache C-25/10).

(3)  Siehe "Rechtliche und steuerliche Profile von Stiftungen in der EU", European Foundation Centre 2011.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/61


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen“

COM(2012) 131 final — 2012/0061 COD

2012/C 351/13

Berichterstatter: Thomas JANSON

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 18. April bzw. am 25. April 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen

COM(2012) 131 final — 2012/0061 COD.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Juni 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 219 gegen 2 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Durchsetzung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern ist einer der Vorschläge, mit denen zum einen die Vorschriften für die Entsendung von Arbeitnehmern gestärkt und zum anderen die bestehenden Rechtsvorschriften bezüglich des Rechts auf kollektive Maßnahmen in grenzüberschreitenden Fällen kodifiziert werden sollen. Diese Vorschläge sind eine Reaktion auf die Debatte, die durch vier Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (Viking-Line, Laval, Rüffert und Luxemburg) über das ausgewogene Verhältnis zwischen sozialen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten ausgelöst wurde.

1.2

Der EWSA hat in zwei Stellungnahmen eine Stärkung der Vorschriften für die Entsendung von Arbeitnehmern gefordert, u.a. durch eine Klarstellung und Verbesserung der Bestimmungen der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten. Der EWSA begrüßt die Ziele des Kommissionsvorschlags für eine Durchsetzungsrichtlinie, unterstreicht jedoch die Bedeutung der Gewährleistung des Schutzes entsandter Arbeitnehmer, wobei die verschiedenen Arbeitsmarktmodelle in den Mitgliedstaaten zu achten und Sozialdumping sowie unlauterem Wettbewerb entgegenzuwirken sind. Der EWSA ist daher der Ansicht, dass die EU mehr Gewicht auf soziale Aspekte legen sollte.

1.3

Der EWSA begrüßt die Absicht, die bestehende Richtlinie durchzusetzen und dabei besonders auf eine bessere Umsetzung und eine wirksame Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu achten. Die ursprüngliche Richtlinie spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung eines fairen Wettbewerbsklimas zwischen allen Dienstleistungserbringern (einschließlich jener aus anderen Mitgliedstaaten), da sie den Dienstleistungserbringern, den Dienstleistungsempfängern und den zur Erbringung der Dienstleistungen entsandten Arbeitnehmern gleiche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit garantiert.

1.4

Der Ausschuss hält es für wichtig, dass der Vorschlag den Schutz entsandter Arbeitnehmer gewährleistet, die unterschiedlichen Arbeitsmarktmodelle in den Mitgliedstaaten respektiert und gleichzeitig die Möglichkeiten für den grenzüberschreitenden Handel erweitert werden, insbesondere durch die Vermeidung unnötiger Verwaltungskosten.

1.5

Zur Förderung der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen in einem Umfeld des fairen Wettbewerbs müssen gleiche Mindestbedingungen für die Beschäftigung gegeben sein, die nationalen Rechtsvorschriften und Tarifvereinbarungen entsprechen.

1.6

Die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie aufgeführten Elemente sollten nicht als erschöpfende Liste, sondern als Teil einer Gesamtbeurteilung angesehen werden, bei der alle relevanten Faktoren berücksichtigt werden.

1.7

Die Richtlinie sollte dafür sorgen, dass die Autonomie der Sozialpartner und ihre Rolle in den einzelnen Arbeitsmarktmodellen stärker respektiert werden. Der EWSA erinnert die Mitgliedstaaten an ihre Verantwortung für die Sicherstellung wirksamer Kontrollen und hält eine Überprüfung der Liste der Kontrollmaßnahmen nach drei Jahren für sehr wichtig.

1.8

Zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ausländische Dienstleistungserbringer zur Benennung einer Kontaktperson zu verpflichten, die befugt ist, im Auftrag des Unternehmens zu verhandeln. Artikel 11 Absatz 3 sollte sicherstellen, dass Gewerkschaften des Aufnahmelands und andere Akteure die Rechte entsandter Arbeitnehmer im Einklang mit der nationalen Praxis verteidigen können.

1.9

Der EWSA hält den Vorschlag bezüglich der gesamtschuldnerischen Haftung bei Unteraufträgen für einen wesentlichen Punkt in der vorgeschlagenen Richtlinie. Diese Haftung bietet Arbeitnehmern in dem Sektor, in dem Unteraufträge am häufigsten sind, Schutz, und gleichzeitig wird dem Erfordernis Rechnung getragen, dass die Arbeitgeber Sicherheit in Bezug auf ihre Haftung benötigen. Der EWSA betont jedoch, dass der Vorschlag in den Mitgliedstaaten vorhandene gesamtschuldnerische Haftungssysteme respektieren muss. Er empfiehlt nachdrücklich denjenigen Mitgliedstaaten, die über kein solches System verfügen, ein solches System nach Absprache mit den Sozialpartnern einzuführen. Der EWSA fordert die Kommission auf, gemeinsam mit den Sozialpartnern eine genauere Definition der Sorgfaltspflicht aufzustellen, wie dies in einigen Mitgliedstaaten bereits geschehen ist. Ohne dem sozialen Dialog auf nationaler Ebene vorgreifen zu wollen, fasst der EWSA das Konzept der Sorgfaltspflicht so auf, dass Unternehmen, die angemessene Prüfungen und Kontrollen der Unterauftragnehmer durchführen, nicht haftbar gemacht werden sollten.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

2.1

Der Vorschlag der Kommission für eine Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie ist Teil eines Vorschlagspakets. Neben der Durchsetzungsrichtlinie hat die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, mit dem die bestehenden Rechtsvorschriften in Bezug auf das Streik- und Konfliktrecht in grenzüberschreitenden Fällen kodifiziert werden sollen (1). Mit beiden Vorschlägen verfolgt die Kommission das Ziel, mehr und bessere Arbeitsplätze zu schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU durch eine Aktualisierung des Binnenmarkts und die Verbesserung seines Funktionierens zu steigern, ohne dadurch die Arbeitnehmerrechte zu beschneiden.

2.2

Der Vorschlag der Kommission für eine Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie besteht u.a. aus folgenden Elementen:

In Kapitel I wird ein Rahmen zur Verhinderung von Missbrauch und Umgehung aufgestellt. Die Vorschläge enthalten Bestimmungen in Bezug darauf, ob ein Unternehmen tatsächlich wesentliche Tätigkeiten ausübt, die über rein interne Management- und/oder Verwaltungstätigkeiten hinausgehen. Es werden eine indikative Beschreibung der Bestandteile des Konzepts der Entsendung im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen sowie die Kriterien dafür gegeben, was die tatsächliche Niederlassung eines Dienstleistungserbringers in einem Mitgliedstaat ausmacht. Hierdurch sollen eine falsche Entsendung oder Briefkastenfirmen vermieden werden.

In Kapitel II werden Regeln für den Zugang zu Informationen aufgestellt, d.h. es geht um den Informationsbedarf von Arbeitnehmern und Unternehmen bezüglich ihrer Rechte und Pflichten. Artikel 5 enthält ausführlichere Maßnahmen, um Informationen über die Arbeitsmarktregelungen generell zugänglich zu machen, auch wenn diese Bedingungen in Tarifverträgen festgelegt sind.

Kapitel III enthält Bestimmungen zur Zusammenarbeit zwischen den für Entsendung zuständigen nationalen Behörden. Die allgemeinen Grundsätze, Regeln und Verfahren für eine wirksame Verwaltungszusammenarbeit und Amtshilfe werden in Artikel 6 festgelegt, während die Pflichten des Mitgliedstaats, von dem aus die Entsendung erfolgt, in Artikel 7 behandelt werden.

In Kapitel IV geht es um die Überwachung der Entsendung. Dieses Kapitel enthält auch nationale Kontrollmaßnahmen, wobei die Mitgliedstaaten nur bestimmte Verwaltungsvorschriften und Kontrollmaßnahmen anwenden dürfen.

Kapitel V bezieht sich auf die Mechanismen für die Durchsetzung und die Sicherstellung der praktischen Anwendung sowie die Erhebung von Beschwerden und das Recht, Gerichts- oder Verwaltungsverfahren einzuleiten. In Artikel 12 wird der Schutz der Rechte der Arbeitnehmer durch die gesamtschuldnerische Haftung im Baugewerbe für die Löhne der entsandten Arbeitnehmer sowie durch ein besseres Beschwerdeverfahren geregelt. Die Bestimmungen gelten nur für das Baugewerbe, gemäß der Definition der Liste der im Anhang der Richtlinie 96/71/EG genannten Tätigkeiten. Sie umfassen die Entsendung durch Zeitarbeitsfirmen, unter der Voraussetzung, dass es sich um eine Tätigkeit im Baugewerbe handelt. Die Mitgliedstaaten können diese Bestimmungen jedoch, falls sie dies wünschen, auf andere Sektoren ausweiten.

Kapitel VI enthält Vorschriften für die grenzüberschreitende Durchsetzung sowie Verwaltungsstrafen und Sanktionen. In Kapitel VII schließlich werden die Sanktionen und Bestimmungen in Bezug auf die Nutzung des Binnenmarkt-Informationssystems behandelt.

3.   Hintergrund des Kommissionsvorschlags

3.1

Der Kommission zufolge ist der Anteil entsandter Arbeitnehmer an der gesamten Erwerbsbevölkerung der EU gering, doch weisen einige Mitgliedstaaten eine signifikante Zahl entsandter Arbeitnehmer auf, so dass sich das Phänomen zunehmend ausbreitet. Zwar fehlen verlässliche Angaben, Schätzungen zufolge werden jedoch jedes Jahr ca. eine Million Arbeitnehmer entsandt. Entsendungen betreffen also nur einen kleinen Teil der gesamten Erwerbsbevölkerung – weniger als ein Prozent in den betreffenden Ländern –, im Rahmen der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität machen Entsendungen jedoch ca. 20 Prozent aus. Am stärksten betroffen sind Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Polen.

3.2

Der Vorschlag der Kommission schließt sich an Urteile des EuGH in vier Rechtssachen (Viking-Line, Laval, Rüffert und Luxemburg) an, die eine intensive Debatte über das ausgewogene Verhältnis zwischen sozialen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten ausgelöst haben. Im Oktober 2008 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung als Reaktion auf die Urteile des Gerichtshofs an. Die europäischen Sozialpartner haben auf Ersuchen der Kommission und des französischen Ratsvorsitzes im zweiten Halbjahr 2008 eine gemeinsame Untersuchung der EuGH-Urteile vorgenommen.

3.3

Der von Prof. Mario Monti 2010 vorgelegte Bericht zur Wiederbelebung des Binnenmarktes befasst sich ebenfalls mit diesen Fragen. In dem Bericht wurde empfohlen, die Ausübung des Streikrechts zu gewährleisten und klarzustellen sowie einen Mechanismus zur informellen Beilegung von Tarifstreitigkeiten hinsichtlich der Anwendung der Richtlinie einzuführen.

3.4

Der EWSA hat sich in zwei Stellungnahmen zu den Urteilen des EuGH zur Entsenderichtlinie geäußert: "Die soziale Dimension des Binnenmarktes" (2) und "Binnenmarktakte – Zwölf Hebel" (3).

Der EWSA erhob darin folgende Forderungen:

Klarstellung und Verbesserung der Bestimmungen der Entsenderichtlinie

eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten

Anwendung des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes auf Arbeitsbedingungen und Löhne

Konsultation der Sozialpartner

Nichtdiskriminierung von Unternehmen im Binnenmarkt.

4.   Bemerkungen des EWSA

4.1

Der EWSA nimmt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Kenntnis, mit der die Durchsetzung der Entsenderichtlinie verbessert werden soll, indem die Bedingungen für entsandte Arbeitnehmer geklärt und die Möglichkeiten für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten sowie den Unternehmen und Arbeitnehmern verbessert werden. Der Ausschuss hält es für wichtig, dass der Vorschlag den Schutz entsandter Arbeitnehmer gewährleistet, die unterschiedlichen Arbeitsmarktmodelle in den Mitgliedstaaten respektiert werden, er seinem Ziel des Entgegenwirkens von Sozialdumping und unlauterem Wettbewerb wirksam gerecht wird und die Möglichkeiten für den grenzüberschreitenden Handel erweitert werden, im Besonderen durch die Vermeidung unnötiger Verwaltungskosten. Zur Förderung der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen in einem Umfeld des fairen Wettbewerbs müssen gleiche Mindestbedingungen für die Beschäftigung gegeben sein, die nationalen Rechtsvorschriften und Tarifvereinbarungen entsprechen.

4.2

Der EWSA hält Rechtssicherheit für äußerst wichtig und weist auf die Rechtsunsicherheit bezüglich ausländischer Arbeitnehmer hin, die von einem Leiharbeitsunternehmen entsandt werden. Diese Arbeitnehmer sind sowohl von der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern als auch von der Richtlinie über Leiharbeit betroffen. Um diese Unklarheit zu beseitigen, schlägt der EWSA vor, in der Durchsetzungsrichtlinie festzulegen, dass Leiharbeitnehmer in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, wenn keine günstigeren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nach Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie über Leiharbeit vereinbart werden.

4.3

Der Ausschuss vertritt die Haltung, dass die grenzübergreifende Erbringung von Dienstleistungen von großer Bedeutung für die Entwicklung des Binnenmarkts ist. Um politische Akzeptanz für die EU herzustellen und die Solidarität in der Union zu stärken, muss die EU bei ihren Maßnahmen größeres Gewicht auf die sozialen Aspekte legen. Um das Potenzial des Binnenmarkts voll auszuschöpfen, muss die EU die soziale Dimension stärken. Der Vorschlag für eine Richtlinie ist ein Schritt in die richtige Richtung, reicht jedoch nicht aus, um die Forderungen des Ausschusses zu erfüllen. Hierzu wären weitere Klarstellungen und Verstärkungen des Richtlinienvorschlags erforderlich.

4.4

Der EWSA begrüßt die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie zum Ausdruck gebrachte Absicht, das Problem der sog. Briefkastenfirmen anzugehen, d.h. Unternehmen, die in dem Staat ihrer Niederlassung keine tatsächlichen Tätigkeiten ausüben, sondern nur bestehen, um Verpflichtungen im Aufnahmestaat zu vermeiden. Um Klarheit, Rechtssicherheit und Kohärenz mit Artikel 3 Absatz 2 zu schaffen, sollte die Beurteilung, ob ein Unternehmen tatsächlich wesentliche Tätigkeiten in dem Staat seiner Niederlassung ausübt, über eine Gesamtbeurteilung erfolgen, in der relevanten Faktoren berücksichtigt werden. Dies beinhaltet auch, dass die Auflistung nicht als erschöpfend angesehen werden sollte.

4.5

Mit Artikel 3 Absatz 2 des Vorschlags für eine Richtlinie soll verdeutlicht werden, wann ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat ausübt. Die Unterscheidung, ob eine Tätigkeit vorübergehend im Aufnahmeland ausgeübt wird oder nicht, ist von großer Bedeutung, da sie entscheidend dafür ist, welches Arbeitsrecht welchen Landes angewandt wird und ob es sich überhaupt um eine Entsendung handelt. Der EWSA begrüßt die in dem Vorschlag enthaltenen Erläuterungen, insbesondere den Hinweis darauf, dass eine objektive Gesamtbewertung erforderlich ist.

4.6

Der EWSA begrüßt die neuen Informationsbestimmungen, vertritt jedoch die Ansicht, dass in Artikel 5 Absatz 4 auch die umfassende Achtung der Autonomie der Sozialpartner und ihre Rolle in den einzelnen Arbeitsmarktmodellen zum Ausdruck kommen sollten. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass die verwaltungsmäßige Zuständigkeit für die Finanzierung von z.B. Übersetzungen nicht den Sozialpartnern aufgebürdet wird. Initiativen, die von Sozialpartnern einzelner Branchen zur Informationsverbreitung ergriffen wurden, sollten unterstützt werden.

4.7

Hinsichtlich der Kontrollen (Artikel 7) ist zu beachten, dass die Behörden des Aufnahmestaats die Gesamtverantwortung für die Kontrolle von Missbrauch haben, wenn ein entsandter Arbeitnehmer seine Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Land ausübt, und dass die Behörden des Herkunftslandes mit den Behörden des Aufnahmestaats zusammenarbeiten. Diese Kontrollen sollten auch auf Initiative der Behörde des Aufnahmestaates durchgeführt werden können und nicht nur auf Initiative der Behörden des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen niedergelassen ist.

4.8

Durch Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe d) erhalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ausländische Dienstleistungserbringer zur Benennung einer Kontaktperson zu verpflichten, die erforderlichenfalls für den Arbeitgeber mit den einschlägigen Sozialpartnern im Aufnahmemitgliedstaat gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verhandelt. In manchen Ländern kann die Benennung einer Kontaktperson ausreichend sein, weil hier durch die Behörden sichergestellt werden kann, dass Gesetze und Vereinbarungen eingehalten werden. In anderen Ländern mit einem anderen Arbeitsmarktmodell muss die Kontaktperson mit der Befugnis ausgestattet sein, das Unternehmen gegenüber Behörden und Gewerkschaften vertreten zu dürfen. Daher sollte die Richtlinie den unterschiedlichen Arbeitsmarktmodellen Rechnung tragen. Artikel 11 Absatz 5 Buchstabe b) sollte die Anforderung enthalten, dass über Sozialversicherungsabgaben/Steuern und darüber, wo sie entrichtet wurden, Buch zu führen ist.

4.9

In Artikel 11 Absatz 3 wird ausgesagt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass sich Gewerkschaften und andere Organisationen, die ein rechtmäßiges Interesse an der Einhaltung der Bestimmungen der Richtlinie haben, im Namen der entsandten Arbeitnehmer oder ihrer Arbeitgeber an Gerichts- oder Verwaltungsverfahren beteiligen können. Der Artikel sollte sicherstellen, dass Gewerkschaften und andere Akteure des Aufnahmestaates die Rechte entsandter Arbeitnehmer im Einlang mit der nationalen Praxis verteidigen können.

4.10

Der EWSA hält den Vorschlag bezüglich der gesamtschuldnerischen Haftung bei Unteraufträgen für einen wesentlichen Punkt in der vorgeschlagenen Richtlinie. Diese Haftung bietet Arbeitnehmern in dem Sektor, in dem Unteraufträge am häufigsten sind, Schutz, und gleichzeitig wird dem Erfordernis Rechnung getragen, dass die Arbeitgeber Sicherheit in Bezug auf ihre Haftung benötigen. Der EWSA betont jedoch, dass der Vorschlag in den Mitgliedstaaten vorhandene gesamtschuldnerische Haftungssysteme respektieren muss. Er empfiehlt nachdrücklich denjenigen Mitgliedstaaten, die über kein solches System verfügen, ein solches System nach Absprache mit den Sozialpartnern einzuführen. Der EWSA fordert die Kommission auf, gemeinsam mit den Sozialpartnern eine genauere Definition der Sorgfaltspflicht aufzustellen, wie dies in einigen Mitgliedstaaten bereits geschehen ist. Ohne dem sozialen Dialog auf nationaler Ebene vorgreifen zu wollen, fasst der EWSA fasst das Konzept der Sorgfaltspflicht so auf, dass Unternehmen, die angemessene Prüfungen und Kontrollen der Unterauftragnehmer durchführen, nicht haftbar gemacht werden sollten.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Der Ausschuss erarbeitet eine separate Stellungnahme zu diesem Vorschlag.

(2)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 90.

(3)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 99.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Innovationen für eine nachhaltige Zukunft — Aktionsplan für Öko-Innovationen (Öko-Innovationsplan)“

COM(2011) 899 final

2012/C 351/14

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Innovationen für eine nachhaltige Zukunft — Aktionsplan für Öko-Innovationen (Öko-Innovationsplan)

COM(2011) 899 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 29. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 141 gegen 5 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Der EWSA begrüßt die Vorlage des Öko-Innovationsplans. Der im Aktionsplan integrierte Ansatz, bestehende Hemmnisse zu ermitteln und abzubauen sowie die Triebfedern positiver Entwicklungen zu stärken, wird vom Ausschuss besonders hervorgehoben.

1.2

Eine allgemein gültige Definition des Begriffes "Öko-Innovation" kann es nicht geben, weil es innerhalb der Gesellschaft (und zwischen unterschiedlichen Kulturen) sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was "innovativ" bzw. fortschrittlich ist. Die Kommission sollte deshalb möglichst klare qualitative oder – falls möglich – sogar quantitative Vergabekriterien für die unterschiedlichen Bereiche, in denen sie aktiv werden will, festlegen.

1.3

Unternehmen, die aus dem zukünftigen Aktionsplan profitieren werden, sollte zur Auflage gemacht werden, in einer kleinen Zusatzstudie kurz zu beschreiben, wo sie selbst die größten Hemmnisse bei der Umsetzung bzw. Markteinführung ihrer Technologien sehen.

1.4

Von der EU geförderte Öko-Innovationen müssen im gesamten Lebenszyklus ressourcenschonend, fair und nachhaltig sein. Die Förderung von Öko-Innovationen muss an die Kriterien für die EU-Nachhaltigkeitsstrategie gekoppelt werden.

1.5

Besondere Aufmerksamkeit sollte sog. kleinen, angepassten Umwelttechnologien gewidmet werden. Bereits in seiner Stellungnahme "Realitäten und Chancen für angepasste Umwelttechnologien in den Beitrittsländern" (1) hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass es vielfach Alternativen zu großen, zentralen Lösungen gibt bzw. dass solche entwickelt werden sollten. Angepasste, dezentrale und kleintechnische Lösungen liegen häufig außerhalb der Interessen von Forschungseinrichtungen bzw. Investoren, da damit kein oder nur wenig Geld verdient werden kann, weil sie eben billig sind, aber dennoch effektiv. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die damals in der Stellungnahme formulierten Empfehlungen in den neuen Aktionsplan einzubauen.

1.6

Vorhandene Richtlinien und Verordnungen, aber auch die Förderkriterien der Strukturfonds und der Agrarpolitik müssen in regelmäßigen Abständen dahingehend überprüft werden, ob diese an neuere umwelttechnologische Innovationen angepasst werden müssen.

1.7

Ebenso muss die Kommission endlich die Liste umweltschädlicher Subventionen erarbeiten und diese sukzessive abschaffen. Mit viel Aufwand Öko-Innovationen zu fördern und gleichzeitig selbst durch verfehlte Subventionspolitik zur Umweltzerstörung beizutragen, ist heute nicht mehr adäquat.

2.   Inhalte des Kommissionsdokuments

2.1

Zur Umsetzung und Konkretisierung der Europa-2020-Strategie, dem derzeitigen politischen Planungs- und Gestaltungsinstrument der Kommission, wurden bekanntlich sieben Leitinitiativen initiiert, nämlich:

Innovationsunion;

Jugend in Bewegung;

Digitale Agenda für Europa;

Ressourceneffizientes Europa;

Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung;

Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie

Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut.

2.2

Die Leitinitiative "Innovationsunion" soll u.a. mit dem "Aktionsplan für Öko-Innovationen (Öko-Innovationsplan)" mit Leben erfüllt werden, wobei allerdings auch andere Leitinitiativen vom Aktionsplan angesprochen werden wie z.B. die Initiative "Ressourceneffizientes Europa" sowie die "Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten".

2.3

In dem Aktionsplan wird darauf hingewiesen, dass mit Umweltschutztechnologien einerseits rasant wachsende Märkte erschlossen und andererseits viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.

2.4

Der Aktionsplan baut auf dem alten "Aktionsplan für Umwelttechnologie (ETAP)" aus dem Jahr 2004 auf. Sein Fokus besteht aber nicht mehr allein auf der klassischen Forschung bzw. der Entwicklung neuer "grüner" Techniken und Technologien. Der neue Aktionsplan soll vielmehr als ein Maßnahmenpaket eines umfassenden Konzepts der Öko-Innovation verstanden werden, in dem auch hinterfragt wird, worin die Hindernisse bzw. die Triebfedern bei der Umsetzung neuer Technologien bestehen und wie diese abgebaut bzw. befördert werden können.

2.5

Dazu werden im Kommissionsdokument interessante Umfrageergebnisse wiedergegeben, die diese Hemmnisse bzw. Triebfedern beschreiben und gewissermaßen quantifizieren.

2.6

Als die beiden größten Hemmnisse werden die unsichere Nachfrage aus dem Markt und der unsichere "Return on Investments" benannt, während hohe Energie- und Materialpreise, neue Regelungen und Normungen sowie Zugang zu Wissen zu den wichtigsten positiven Triebfedern gehören.

2.7

Es wird beschrieben, dass "abgesehen von dem durch die Energie- und Klimaschutzpolitik geförderten Bereich der erneuerbaren Energien Öko-Innovationen bislang relativ langsam vermarktet worden [sind]. Dies liegt unter anderem daran, dass Marktpreise die Umweltkosten und -vorteile nicht genau widerspiegeln, aber auch an starren Wirtschaftsstrukturen, Infrastrukturen und Verhaltensweisen sowie schädlichen Anreizen und Subventionen". Daraus wird abgeleitet, dass umweltschädliche Subventionen abgeschafft gehören, um Öko-Innovation zu stärken.

2.8

Mit dem Aktionsplan sollen Öko-Innovationen insgesamt, also in allen Wirtschaftsektoren, mittels zielgerichteter Aktionen beschleunigt werden. Zur Schaffung einer stärkeren und stabileren Marktnachfrage nach Öko-Innovationen sollen zukünftig Maßnahmen in den Bereichen regulatorische Anreize, privates und öffentliches Beschaffungswesen sowie Normung vorgeschlagen werden; zur Verbesserung der Investitionsbereitschaft und der Vernetzungsmöglichkeiten sollen KMU unterstützt werden.

2.9

Der Öko-Innovationsplan setzt somit bei Angebot und Nachfrage, bei Forschung und Industrie sowie bei Politik- und Finanzierungsinstrumenten an. Die grundlegende Bedeutung des Umweltrechts als Triebfeder für Öko-Innovationen wird bekräftigt, die Überprüfung der einschlägigen Rechtsvorschriften und Normungen für den Fall vorgesehen, dass diese sich als Hindernis erweisen.

2.10

Auch die internationale Dimension der Öko-Innovation und eine effizientere politische Koordinierung mit internationalen Partnern werden hervorgehoben.

2.11

Insgesamt werden für den Aktionsplan 7 Aktionsfelder aufgelistet und jeweils "Meilensteine" dazu beschrieben:

1.

Nutzung von Umweltpolitik und Umweltrecht als Triebfeder für die Förderung von Öko-Innovationen;

2.

Unterstützung von Demonstrationsprojekten und Partnerschaften, um vielversprechende, intelligente und ambitionierte einsatzfähige Technologien auf den Markt zu bringen;

3.

Entwicklung neuer Normen, um Öko-Innovationen anzukurbeln;

4.

Mobilisierung von Finanzierungsinstrumenten und Unterstützungsleistungen für KMU;

5.

Förderung der internationalen Zusammenarbeit;

6.

Unterstützung der Herausbildung neuer Kompetenzen sowie der Schaffung neuer Arbeitsplätze und entsprechender Ausbildungsprogramme im Einklang mit den Erfordernissen des Arbeitsmarkts;

7.

Förderung von Öko-Innovationen durch die Leitinitiative "Innovationsunion".

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der EWSA unterstützt den Aktionsplan, er erscheint logisch strukturiert und durchdacht.

3.2

Öko-Innovation ist eine zentrale, wenn nicht die zentrale Aufgabe, um dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben und um Nachhaltigkeitsziele zu verwirklichen, aber auch um bislang weniger entwickelten Regionen Wege aufzuzeigen, wie wirtschaftliche und Wohlstandsentwicklung ohne Umweltbelastung aussehen kann.

3.3

Eine nicht unbedeutende Frage ist allerdings, was unter "Öko-Innovation" zu verstehen ist. Was von einer Person oder einem Kulturkreis als innovativ und fortschrittlich bewertet wird, mag bei anderen Personen oder Kulturkreisen eher Widerstand auslösen. Am deutlichsten lässt sich dieser Umstand z.B. an der Gentechnik oder der Nutzung der Atomkraft festmachen. Daraus wird schon klar: es gibt keine allgemein gültige Definition von "Öko-Innovation".

3.4

Die Kommission versucht allerdings in ihrem Aktionsplan sehr zu Recht, eine Art Definition zu finden. Für sie ist "Öko-Innovation jede Form der Innovation, die wesentliche und nachweisbare Fortschritte zur Erreichung des Ziels der nachhaltigen Entwicklung herbeiführt oder anstrebt, indem sie Umweltbelastungen verringert, die Widerstandsfähigkeit gegen Umweltbelastungen stärkt oder eine effizientere und verantwortungsvollere Nutzung natürlicher Ressourcen bewirkt". Wobei allerdings unklar bleibt, was wiederum "wesentliche und nachweisliche" Fortschritte bei der Eindämmung von Umweltbelastungen sind. Der Kommission wird deshalb vom EWSA empfohlen, im später vorzulegendem Umsetzungsplan die einzelnen Schwerpunktbereiche näher zu beschreiben und sicherzustellen, dass die EU-Finanzierung für "Öko-Innovation" auf Vorhaben ausgerichtet ist, die am wirksamsten zur Erreichung der sektorspezifischen Umweltziele beitragen.

3.5

Der EWSA empfiehlt der Kommission zudem zu überlegen, innerhalb des Aktionsplans Schwerpunktbereiche zu definieren, die vorrangig zu fördern wären. Dies könnten jene Sektoren der Umweltpolitik sein, in denen a) Europa seit vielen Jahren nur extrem wenig Fortschritte macht, b) absehbar ist, dass bestimmte Umweltziele nur schwer zu erreichen sind, bzw. c) Technik sich immer noch als teuer erweist.

3.6

Dem EWSA ist der Hinweis wichtig, dass eine besondere Aufmerksamkeit auch und besonders sog. kleinen, angepassten Umwelttechnologien gewidmet werden sollte. Bereits in seiner Stellungnahme "Realitäten und Chancen für angepasste Umwelttechnologien in den Beitrittsländern" (NAT/203 vom 31. März 2004) hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass es vielfach Alternativen zu großen, zentralen Lösungen gibt bzw. dass solche entwickelt werden sollten. Angepasste, dezentrale und kleintechnische Lösungen liegen häufig außerhalb des Interesses von Forschungseinrichtungen bzw. Investoren, da damit kein oder nur wenig Geld verdient werden kann, weil sie eben billig sind, aber dennoch effektiv. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die damals in der Stellungnahme formulierten Empfehlungen in den neuen Aktionsplan einzubauen.

3.7

Öko-Innovationen sind somit neben neuen Technologien, die sich an Märkten durchsetzen, auch Ideen und Konzepte, deren Umsetzung ohne größere Investitionen geschehen können, deren Entwicklung aber deshalb weniger von Unternehmen ausgehen, die sich an Märkten behaupten müssen bzw. die neue Märkte erschließen wollen.

3.8

Die Entwicklung solcher angepasster Lösungen u.a. für ländliche Räume oder für weniger entwickelte Regionen/Länder sollten daher mit mindestens gleicher Intensität vorangetrieben werden wie Forschungs- und Entwicklungsprojekte von Unternehmen.

3.9

Insgesamt wird der Aktionsplan vom Ausschuss unterstützt, wobei die Ankündigung, die Hemmnisse besonders unter die Lupe zu nehmen, besonders begrüßt wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Unklar bleibt allerdings, wie der angesprochene Hemmnisabbau umgesetzt werden könnte. Denn zunächst müssen die Hemmnisse bei Innovationen (technischer und nicht technischer Art) identifiziert werden. Hierin liegt eine wichtige Aufgabe.

4.2

Dazu ein konkretes Beispiel: im Rahmen des 7. Forschungsprogramms hat die EU ein "2nd Generation Vegetable Oil"-Projekt gefördert. Es galt innerhalb des Projektes herauszufinden, ob mit dezentral hergestellten, nicht raffinierten Pflanzenölen landwirtschaftliche Zugmaschinen betrieben werden können, die gleichzeitig die europäischen Umwelt- und Klimaschutznormen erfüllen. Das Ergebnis: die heutigen High-Tech-Motoren können das leisten, bei gleichzeitiger Treibhausgasreduktion von bis zu 60 %, einem Wert, der über den in der Erneuerbare-Energien-Richtlinie gesetzten Mindestwerte liegt!

4.3

Doch wird sich diese eindeutig als Öko-Innovation zu bezeichnende Technologie in der EU so lange nicht durchsetzen können, wie fossiler Dieselkraftstoff steuerlich begünstigt wird, die CO2-Komponente bei der geplanten Energiebesteuerung so gering wie geplant ausfällt oder die Verwendung von Pflanzenöl rechtlich schlichtweg verboten wird.

4.4

Die Kommission sollte deshalb überlegen, allen Förderprojekten aufzuerlegen, eine kleine Zusatzstudie zu erstellen, in denen entsprechende Hinweise auf mögliche oder reale Hemmnisse gegeben werden. Dabei sollte es sich nicht um hochwissenschaftliche Abhandlungen handeln, sondern allein um Hinweise, die den politisch Handelnden aufzeigen sollen, wo zusätzlicher Umsetzungsbedarf besteht.

4.5

Gleichzeitig ist es erforderlich, dass die Kommission in regelmäßigen Abständen alle ihre vorhandenen Richtlinien und Verordnungen, aber auch ihre Förderkriterien bei den Strukturfonds und der Gemeinsamen Agrarpolitik dahingehend überprüft, ob diese an neuere umwelttechnologische Innovationen angepasst werden müssten.

4.6

Der EWSA möchte abschließend darauf hinweisen, dass auch in diesem Aktionsplan – wie in vielen anderen Dokumenten auch – sehr zu Recht darauf hingewiesen wird, dass umweltschädliche Subventionen abgebaut werden müssen. Umso ärgerlicher empfindet es der EWSA, dass die Kommission trotz mehrfacher Aufforderung durch den Ausschuss eine entsprechende Liste umweltschädlicher Subventionen bisher nicht vorgelegt hat, obwohl sie dies seit mehr als 5 Jahren verspricht. Wenn zwischen Wort und Tat solche Lücken klaffen, muss man an dem ernsthaften Willen der Kommission zweifeln.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 112 von 30.4.2004, S. 83.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder“

COM(2012) 196 final

2012/C 351/15

Berichterstatter: Antonio LONGO

Die Europäische Kommission beschloss am 2. Mai 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Europäische Strategie für ein besseres Internet für Kinder

COM(2012) 196 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 134 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt die Mitteilung der Kommission zur Kenntnis, die die Umsetzung einer der Verpflichtungen der EU-Agenda für die Rechte des Kindes (Aktion 9) anstrebt, nämlich die Gefahrenprävention auszuweiten und die Kinder bei der Internet-Nutzung stärker zur Eigenverantwortung und Mithilfe zu erziehen im Sinne einer positiven Sichtweise des Internet als ein Ort, der den Kindern "Chancen bietet, der es ihnen erleichtert, Zugang zu Wissen zu erlangen, zu kommunizieren, ihre Kompetenzen zu entwickeln und ihre Berufsaussichten und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern" (1).

1.2

Ein wichtiger Aspekt der Mitteilung betrifft die Verpflichtung, neue Kompetenzen auf hohem Niveau in den Bereichen Sicherheit, Qualität der Inhalte und neue Anwendungen zu entwickeln. Dies ist wichtig, da der europäische Markt nicht groß genug ist, um ausreichende Investitionen zu mobilisieren.

1.3

Die Mitteilung entwirft eine Gesamtstrategie, in der sämtliche Akteure zur Mitwirkung an der Schaffung dieses "neuen Ökosystems" aufgefordert werden. Dieses System wird für die kommenden Jahrzehnte grundlegend sein und verdient daher auch eine entsprechende Berücksichtigung.

1.4

Der EWSA weist jedoch auch auf heikle Punkte und Mängel hin und fordert die Kommission diesbezüglich auf, einige Punkte zu korrigieren und neue Vorschläge in die Strategie aufzunehmen.

Der EWSA hat vor allem grundlegende Bedenken gegen den allgemeinen Ansatz der Mitteilung, wo das Wachstum der Branche wichtiger zu sein scheint als die Schaffung eines besseren Internet für Kinder, das diesen den bestmöglichen Schutz bietet.

1.5

Der EWSA ist der Überzeugung, dass in erster Linie ein kohärenter Rahmen aus Schutzmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen für Minderjährige notwendig ist, d.h. Leitlinien für sämtliche Beteiligten festgelegt werden müssen. Aus dieser Sicht ist die Mitteilung nicht konkret und detailliert genug.

1.6

Ein weiterer heikler Punkt betrifft die Wirksamkeit der Selbstregulierung. Der Ausschuss ist der festen Überzeugung, dass zu den wichtigsten Fragen, z.B. dem Schutz personenbezogener Daten, der Wahrung der Privatsphäre und der Bekämpfung der Kinderpornografie, klare und strenge Regeln festgelegt und angemessene Sanktionen verhängt werden müssen, die bis hin zur sofortigen Schließung der Websites und zum Widerruf der Genehmigungen reichen können.

1.7

Ein besonderes Augenmerk muss auf die Online-Werbung gerichtet werden (2). Die Kommission erkennt zwar die Schutzbedürftigkeit der Kinder an, geht aber nur allgemeine Verpflichtungen ein. Der EWSA hält diese Strategie für vage und unzureichend und fordert konkretere und verbindlichere Auflagen für sämtliche Akteure der Branche.

1.8

Der Ausschuss stellt außerdem fest, dass jeglicher Verweis auf die Nahrungsmittelwerbung fehlt, die Anlass zu ernster Sorge bezüglich Problemen wie Fettleibigkeit und Essstörungen gibt. Der EWSA hofft, dass die Kommission ihre Ankündigung konsequent umsetzt und dafür sorgt, dass "für die Werbung auf Websites für Kinder Normen gelten, die ein Schutzniveau gewährleisten, das mit dem bei der Werbung in audiovisuellen Diensten vergleichbar ist".

1.9

Der EWSA hat nichts gegen die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften zur Entwicklung hochwertiger Inhalte einzuwenden, solange die Freiheit und Unabhängigkeit der NGO sichergestellt wird und die Partnerschaften von den Unternehmen nicht zu Werbezwecken genutzt werden.

1.10

In Bezug auf die Einbeziehung der Minderjährigen in die Schaffung neuer hochwertiger Inhalte begrüßt der EWSA jegliche Maßnahme, die die Kreativität junger Menschen fördert, hat aber ernste Vorbehalte gegen den vorwiegend kommerziellen Ansatz der Maßnahmen, bei dem die Schutzmaßnahmen an zweiter Stelle stehen.

1.11

Der Ausschuss teilt die Besorgnis über die Cyberkriminalität wie Kinderpornografie oder "Grooming" und begrüßt das Vorhaben der Kommission, die Hotlines auszubauen und erfolgreiche EU-Programme wie "Safer Internet" fortzuführen.

1.12

Es müssen mehr präventive Maßnahmen gegen einige Aspekte der Internet-Nutzung mit betrügerischer Absicht im Bereich der auf Mobiltelefone oder Tablet-Computer herunterladbaren Inhalte (etwa Klingeltöne oder Apps) ergriffen werden, indem strengere EU-Normen eingeführt und die nationalen Regulierungsbehörden an ihre Verantwortung erinnert werden.

1.13

In Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten hat der EWSA bereits in mehreren Stellungnahmen seine Bedenken und Forderungen zu diesem heiklen Thema zum Ausdruck gebracht (3) und fordert strengere Regeln, nicht nur für europäische Unternehmen, sondern auch für alle anderen Akteure des europäischen Marktes.

1.14

Zudem stellt der EWSA fest, dass in der Mitteilung jeglicher Hinweis und jegliche Maßnahme bezüglich der Gefahren für die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder, v.a. Suchtgefahren, fehlen. Der EWSA würde es begrüßen, wenn zu diesem wichtigen Punkt Maßnahmen in die Strategie aufgenommen oder ein neues Dokument hierzu ausgearbeitet würde.

1.15

Schließlich fordert der EWSA die Kommission auf, die Beziehung der Kinder zum Internet kontinuierlich, umfassend und tiefgreifend zu überwachen, da diese Daten die Grundlage für jegliche Handlungsinitiative bilden (4).

2.   Inhalt der Mitteilung

2.1

Gemäß den Schlussfolgerungen des Rates vom 28. November 2011 zum Schutz der Kinder in der digitalen Welt ist die Schaffung eines besseren Internet für Kinder nur durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen auf europäischer, nationaler und sektoraler Ebene möglich, die sich in eine Gesamtstrategie einreihen, welche grundlegende Anforderungen vorgibt und eine Fragmentierung verhindert.

2.2

Die Kommission ist der Auffassung, dass Regulierungsmaßnahmen weiterhin eine Option darstellen, dass man aber der Selbstregulierung der Akteure sowie den Erziehungs- und Befähigungsmaßnahmen zur Internet-Nutzung Vorrang einräumen sollte.

2.3

Die Kommission beginnt ihre Untersuchung mit den sogenannten "gegenwärtigen Lücken und Problemen": die Marktfragmentierung, das Marktversagen bei der europaweiten Gewährleistung von Schutzmaßnahmen und hochwertigen Inhalten, die Schwierigkeiten des Risikomanagements zur Stärkung des Vertrauens und die Feststellung, dass Kinder mangelnde digitale Kenntnisse, ja sogar ein regelrechtes Defizit in diesem Bereich aufweisen.

2.4

In der Mitteilung werden eine Reihe von Leitlinien vorgeschlagen, die der Kommission, den Mitgliedstaaten und der Branche über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg eine Richtung vorgeben soll gemäß einer Gesamtstrategie, die auf vier "Hauptpfeilern" beruht, die sich gegenseitig verstärken:

Förderung hochwertiger Online-Inhalte für junge Leute

verstärkte Sensibilisierung und Befähigung

Schaffung eines sicheren Online-Umfelds für Kinder

Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern

2.5

Das Endziel der erheblichen, wegweisenden Anstrengungen, zu denen die Kommission die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und die Dienste- und Inhalteanbieter aufruft, ist die Schaffung eines "neuen Ökosystems" mittels des folgenden 10-Punkte-Programms:

Produktion kreativer und edukativer Online-Inhalte

Förderung positiver Erfahrungen

Vermittlung von digitalen Fähigkeiten und Medienkompetenz sowie Unterrichtung der Online-Sicherheit in Schulen

Sensibilisierung und Mitwirkung der Jugend

einfache und belastbare Instrumente zur Meldung schädlicher Inhalte

altersgerechte Datenschutzeinstellungen

Verbreitung und Zuverlässigkeit elterlicher Kontrollmöglichkeiten

Nutzung von Inhaltsklassifizierungssystemen (PEGI-Einstufungssystem)

Online-Werbung und Ausgabenkontrolle (Klingeltöne für Mobiltelefone usw.), Online-Glücksspiele

Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung (Online-Material, internationale Zusammenarbeit usw.)

3.   Allgemeine Bemerkungen

a)   Begrüßenswerte Aspekte

3.1

Mit großem Interesse nimmt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss diese Mitteilung zur Kenntnis, die ihre Rechtsgrundlage im Wesentlichen in Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags von Lissabon findet, in dem explizit die Förderung des Schutzes der Rechte des Kindes (siehe auch Art. 24 der EU-Grundrechtecharta) verankert ist.

3.2

Außerdem verkörpert es eine der in der EU-Agenda für die Rechte des Kindes (5) formulierten Verpflichtungen der Kommission (Aktion 9), die Mitgliedstaaten und sonstigen Akteure dabei zu unterstützen, "noch mehr vorbeugende Maßnahmen zu treffen, Kinder noch stärker zu Eigenverantwortung und Mithilfe zu erziehen, damit sie Online-Technologien bestmöglich nutzen können, und sie vor Cyber-Bullying, schädlichen Inhalten und sonstigen Online-Gefahren zu schützen."

3.3

Zu begrüßen ist auch der allgemeine Ansatz einer positiven Sichtweise des Internet, das als ein Ort angesehen wird, der den Kindern "Chancen bietet, der es ihnen erleichtert, Zugang zu Wissen zu erlangen, zu kommunizieren, ihre Kompetenzen zu entwickeln und ihre Berufsaussichten und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern (6)".

3.4

Das Internet wird demnach als eine große Chance betrachtet, für deren Nutzung aber ein gewisses Maß an Fähigkeiten, Problembewusstsein und Informationen notwendig ist, um Schwierigkeiten und Gefahren zu umgehen. "Im Netz surfen" ist eine treffende und bedeutungsvolle Metapher, da das Internet als natürliches, physiologisches, nichtpathologisches Umfeld betrachtet wird, als ein "Meer", in dem man lernen muss, wie man sich am besten bewegt, um die Möglichkeiten und Reichtümer voll auszuschöpfen, und in dem man bestimmte Verhaltensregeln beachten und sich vor Gefahren in Acht nehmen muss.

3.5

Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, die Koordinierung der einzelstaatlichen Maßnahmen zu einem Thema zu übernehmen, das in einer sich wandelnden Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt.

3.6

Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Möglichkeit, neue Kompetenzen auf hohem Niveau in den Bereichen Sicherheit, Qualität der Inhalte und neue Anwendungen zu entwickeln.

3.7

Dies ist eine wichtige Entscheidung, da sich der Markt in Europa noch schwertut, die entsprechenden finanziellen Mittel für die Bereitstellung hochwertiger Inhalte zu binden, und der europäische Markt nicht groß genug ist, um ausreichende Investitionen zu mobilisieren.

3.8

Gleichzeitig muss man gegen das verbreitete Kompetenzdefizit unter europäischen Kindern vorgehen, die zwar zur "digitalen Generation" gehören, aber von sich behaupten, nicht über die notwendigen Computerkenntnisse zu verfügen, um ausreichend für den Arbeitsmarkteintritt qualifiziert zu sein.

3.9

Schließlich ist der Mitteilung auch deshalb die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen, weil sie eine Strategie entwirft, bei der sämtliche Akteure in die Schaffung dieses für die kommenden Jahrzehnte grundlegenden "neuen Ökosystems" einbezogen werden.

b)   Heikle Punkte und Mängel

3.10

Der EWSA hat jedoch grundlegende Bedenken gegen den allgemeinen Ansatz der Mitteilung und weist auf Mängel bei einigen spezifischen Punkten hin.

Bereits in den ersten Zeilen der Mitteilung wird klar, dass darin das Wachstum der Branche vorrangiges Ziel bzw. der Schaffung eines besseren Internet für Kinder, das diesen den bestmöglichen Schutz bietet, bestenfalls gleichrangig ist.

3.11

Die Kommission führt diesen Gedanken im Übrigen in Punkt 1.1 unumwunden aus: "Die Beachtung der Wünsche und Anforderungen der Kinder eröffnet vielfältige Geschäftsmöglichkeiten". Gleiches gilt für Punkt 1.2 über die "gegenwärtigen Lücken und Probleme", in dem die Sorge um die "Marktfragmentierung" und das "Marktversagen" im Vordergrund steht und erst danach das "Risikomanagement zur Stärkung des Vertrauens" und die "mangelnden Kenntnisse" der Kinder und Jugendlichen zur Sprache gebracht werden.

3.12

Der Ausschuss stimmt der Kommission in ihrer Aussage zu, dass in den vergangenen Jahren ein kohärenter Rahmen fehlte und Maßnahmen mit allzu spezifischen Zielen ergriffen wurden, von Medienkanälen bis hin zu technologischen Plattformen. Es war demnach eine entscheidende Wende erforderlich, um einen digitalen Binnenmarkt von ansehnlicher Größe zu schaffen, der auf internationaler Ebene wettbewerbsfähig ist.

Insbesondere in diesem letzten Punkt hat sich der EWSA bereits in mehreren Stellungnahmen positiv zum Vorgehen der Kommission geäußert.

3.13

Aber es war und ist noch weitaus wichtiger, einen kohärenten Rahmen aus Schutzmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen für Kinder festzulegen, d.h. Leitlinien für sämtliche Beteiligten auszuarbeiten, von den Mitgliedstaaten über die Aufsichtsbehörden und -einrichtungen bis hin zu den Unternehmen, Schulen und Familien. Aus dieser Sicht ist die Mitteilung eine verpasste Chance.

3.14

Ein weiterer heikler Punkt betrifft die Wirksamkeit der Selbstregulierung. Die Entscheidung für ein Instrument (Gesetze, Verordnungen, Kontrollen oder Selbstregulierung) zur Vorbeugung und Bekämpfung potenziell für die psychologische Entwicklung des Kindes schädlicher Online-Inhalte oder gar asozialer oder krimineller Inhalte muss auf der Grundlage des Alters der Kinder, des Kontextes und der Wirksamkeit des jeweiligen Instruments getroffen werden, da jedes Instrument auf seine Art nützlich und wirksam sein kann (7).

3.15

Aufgrund der globalen Reichweite des Internet ist es einfach, Websites in Ländern anzulegen, die nicht den europäischen Rechtsvorschriften unterliegen, oder sie dorthin zu verlagern. Die Selbstregulierung könnte die wirksamste und schnellste Art zu handeln sein, bis ein internationales Übereinkommen getroffen wurde. In Erwartung einer Regelung wäre sie als eine vorübergehende Lösung denkbar. Es steht jedoch außer Frage, dass sich die Selbstregulierung oftmals als Mogelpackung erweist und von denselben Unternehmen missachtet wird, die sie eingeführt haben. Daher wäre es angebracht, die Selbstregulierung durch regelmäßige Kontrollen und Sanktionen zu stärken, welche den nationalen Regulierungsbehörden obliegen könnten.

3.16

Der Ausschuss ist der festen Überzeugung, dass zu den wichtigsten Fragen, z.B. dem Schutz personenbezogener Daten, der Wahrung der Privatsphäre und der Bekämpfung illegaler kinderpornografischer Inhalte, klare und strenge Regeln festgelegt und angemessene Sanktionen verhängt werden müssen, die bis hin zur sofortigen Schließung der Websites und dem Widerruf der Genehmigungen reichen können.

3.17

Ein besonderes Augenmerk muss auf die Online-Werbung gerichtet werden. Wie die Kommission in Punkt 2.3.4 selbst anerkennt, haben "Kinder […] noch nicht die Fähigkeit erworben, sich kritisch mit Werbebotschaften auseinanderzusetzen". Als Beispiele nennt sie Online-Käufe, Online-Glücksspiele oder Klingeltöne für Mobiltelefone, die allesamt "hohe Kosten verursachen" können. Doch dann geht die Kommission nur allgemeine Verpflichtungen ein: mehr Kontrollen bei der Beachtung der EU-Vorschriften, Bewertungen der Wirksamkeit der Selbstregulierungs-Standards, ausführlichere Behandlung in der Verbraucheragenda usw.

Der EWSA hält diese Strategie für vage und unzureichend und fordert konkretere und verbindlichere Auflagen für sämtliche Akteure der Branche.

3.18

Zu diesem Punkt stellt der Ausschuss außerdem fest, dass jeglicher Verweis auf die Nahrungsmittelwerbung fehlt, die Anlass zu ernster Sorge bezüglich Problemen wie Fettleibigkeit und Essstörungen gibt.

4.   Besondere Bemerkungen

a)   Hochwertige Inhalte, Kompetenzen und Schule

4.1

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es in den Schulen an gutem Online-Lehrmaterial fehlt, und hat grundsätzlich nichts einzuwenden gegen die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften unter Einbeziehung der Eltern, der Lehrkräfte und von NGO, die sich für den Schutz von Minderjährigen und die Förderung ihrer Rechte einsetzen, solange die Freiheit und Unabhängigkeit dieser NGO sichergestellt wird und die Partnerschaften von den Unternehmen nicht zu Werbezwecken genutzt werden.

4.1.1

Es ist wichtig, die derzeit in vielen Ländern laufenden, zahlreichen Experimente möglichst weit zu verbreiten, z.B. die interaktive Erstellung von Lehrbüchern nach der "Wiki-Methode" (8), die Gründung virtueller Schulgemeinschaften zum Austausch von Erfahrungen oder auch die Bereitstellung von Online-Modulen zum selbstständigen Fernunterricht.

4.1.2

In Bezug auf die Einbeziehung der Minderjährigen in die Schaffung neuer hochwertiger Inhalte begrüßt der EWSA jegliche Maßnahme, die die Kreativität der Jugendlichen fördert, da er sich bewusst ist, dass ihnen einige der größten Innovationen der vergangenen Jahre zu verdanken sind, von Google über Facebook bis hin zu den Apple-Anwendungen. Er ist jedoch besorgt über die in mehreren Punkten der Strategie mehr oder weniger deutlich hervortretende Tendenz der Kommission, die zu unterstützenden Maßnahmen vorwiegend unter einem kommerziellen Blickwinkel zu betrachten und die Schutzmaßnahmen fast als nebensächlich zu behandeln.

4.1.3

Es wäre sinnvoll, in die Erstellung hochwertiger edukativer und interaktiver Inhalte für Kinder hochrangige Expertengruppen einzubeziehen (Entwicklungspsychologen, Erziehungswissenschaftler usw.), damit diese das für die einzelnen Altersgruppen am besten geeignete Material und die ggf. auszulösenden Entwicklungsprozesse empfehlen, kurze Veröffentlichungen für Lehrkräfte und Eltern vorbereiten und bei der Alterseinstufung für Internetseiten und Videospiele sowie bei der Schaffung von Internetportalen mit hochwertigen anregenden Inhalten mitwirken können.

4.1.4

Die Bemühungen um die Schaffung solcher Inhalte könnten durch Vergünstigungen auf EU-Ebene und Steuererleichterungen auf nationaler Ebene unterstützt werden. Wünschenswert wäre außerdem die Schaffung eines europäischen Programms für hochwertige Inhalte und Anwendungen, das insbesondere die Gründung von Jungunternehmen – bekanntermaßen die Schlüsselakteure der Innovation im Bereich Internet – fördern könnte.

4.1.5

Der EWSA ruft die Kommission bei dieser Gelegenheit dazu auf, ihre Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen über das Webportal EUROPA durch gezielt auf diese Altersgruppen zugeschnittene Inhalte, insbesondere über die Gefahren des Internet, zu verbessern.

b)   Ausbau der digitalen Fähigkeiten der Erwachsenen

4.2

In dieser "Übergangszeit", in der es Generationen gibt, die in der digitalen Welt groß geworden sind, aber auch Generationen, die nur zum Teil von der passiven Nutzung (Fernseher, Presse, Kino) zur aktiven Nutzung der Medien übergegangen sind, aber für den Schutz der Minderjährigen vor möglichen Schäden verantwortlich sind, ist die beste Lösung der kontinuierliche Ausbau der digitalen Fähigkeiten der Erwachsenen, insbesondere derer, die für die Erziehung der Minderjährigen zuständig sind, von den Schulen über die Familien bis hin zu den Verbänden. Unsere Kinder dürfen nicht zu "digitalen Waisen" werden, die keine Begleiter an ihrer Seite haben, die sie leiten und ihnen helfen können, Herr über ihre eigenen Entscheidungen zu sein.

4.2.1

In diesem Punkt könnte das Programm der Kommission ausführlicher sein, ebenso wie in dem Abschnitt, in dem es um das Internet als Instrument zur Entwicklung der Kreativität und der Lernfähigkeit geht. Beide Aspekte müssen miteinander verknüpft werden, um den Eltern eine positive Grundeinstellung zu vermitteln (9).

c)   Verbotene und betrügerische Inhalte

4.3

Die Gefahrenprävention und die Förderung des Internet als Instrument für die Entwicklung des Kindes sind zwei untrennbare Elemente eines einzigen Prozesses, der eine wirksame Prävention gewährleisten soll. Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen der natürlichen Neugier des Kindes und den Verbotsschranken zu finden, welche den Weg ins Erwachsenwerden und in die Selbstständigkeit verzögern oder in falsche Bahnen lenken können.

4.3.1

Um Cyberkriminalität wie Kinderpornografie oder "Grooming" vorzubeugen und Cyber-Bullying zu bekämpfen, müssen Eltern in der Lage sein, die Anzeichen von Bedrücktheit zu deuten. Zu diesem Zweck erscheint es erforderlich, Experten (Entwicklungspsychologen, Kinderneuropsychiater, Kinderärzte, geschulte psychologische Berater und Allgemeinärzte) in die Vorbereitung von Kursen und die Ausarbeitung von Material für Eltern und Erzieher einzubeziehen.

4.3.2

Außerdem könnte die technische Möglichkeit geprüft werden, ein intuitiv erkennbares grafisches Symbol – das mittels einer entsprechenden Werbekampagne bekannt gemacht werden müsste – mit "Notruf"-Funktion in jeden Browser aufzunehmen, um einen verdächtigen Link in Echtzeit bei der zuständigen Strafverfolgungsbehörde zu melden.

4.3.3

Es müssen auch verstärkt präventive Maßnahmen gegen einige Aspekte der Internet-Nutzung mit betrügerischer Absicht ergriffen werden, von denen in erster Linie Kinder und Jugendliche betroffen sind. Insbesondere im Bereich der auf Mobiltelefone und Tablet-Computer herunterladbaren Inhalte (z.B. Klingeltöne oder Apps) müssen strengere EU-Normen eingeführt und die nationalen Regulierungsbehörden an ihre Verantwortung erinnert werden.

Der EWSA unterstützt die in Punkt 2.3.4 von der Kommission eingegangene Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass "für die Werbung auf Websites für Kinder Normen gelten, die ein Schutzniveau gewährleisten, das mit dem bei der Werbung in audiovisuellen Diensten vergleichbar ist".

4.3.4

Besondere Aufmerksamkeit muss den Kosten der Jugendschutzsoftwares und der Softwares zur Gewährleistung der Computer-Sicherheit (Filter, Antivirus-Programme, elterliche Kontrollmöglichkeiten usw.) zukommen. Es muss vermieden werden, dass sich eine "Risikoschere" öffnet, d.h. dass aufgrund der teuren Software-Programme die finanziell schlechter gestellten Kinder, Familien und Schulen größeren Computergefahren ausgesetzt sind.

4.4

Unabdingbar und von zentraler Bedeutung – wichtiger noch als gegensteuernde Maßnahmen – ist jedoch die Prävention durch die Erziehung in der Familie und der Schule. Die Ausbildung der Lehrkräfte muss ausgeweitet und die Vermittlung von Internet-Kenntnissen auch in die Lehrpläne aufgenommen werden. Außerdem könnte es sinnvoll sein, eine Art "Benimmregeln" für die Nutzung von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken in Schulen festzulegen und zu verbreiten, mit gemeinsamen Regeln für Schüler, Lehrer und Familien.

d)   Schutz personenbezogener Daten

4.5

Zum Schutz personenbezogener Daten hat der EWSA in den vergangenen Jahren in mehreren Stellungnahmen seine Bedenken und Forderungen zum Ausdruck gebracht. Er ist der Auffassung, dass nicht nur europäische Unternehmen, sondern auch alle anderen Akteure des europäischen Marktes künftig strengeren Regeln unterliegen müssen. In Bezug auf die sozialen Netzwerke muss dabei insbesondere gegen die augenscheinlich "vereinfachenden" Maßnahmen von Google und Facebook vorgegangen werden, die in Wirklichkeit eher eine Art "Freifahrtschein" für die kommerzielle Nutzung der personenbezogenen Daten aus den Profilen der Nutzer sind. Da es sich um Minderjährige handelt, ist in diesen Fällen noch größere Vorsicht geboten (10).

e)   Gesundheit und Suchten

4.6

Es fehlt in der Mitteilung jeglicher Hinweis und jegliche Maßnahme bezüglich der Gefahren für die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, im Internet zu surfen oder mit unterschiedlichen Datenträgern zu spielen. Zu nennen sind hier etwa Muskel- und Knochenschäden, Haltungsschäden, Augenschäden, Fettleibigkeit, psychische Abhängigkeit (11), Neigung zur Isolation und zur Realitätsflucht.

Es wäre wünschenswert, Maßnahmen zu diesem wichtigen Punkt aufzunehmen oder ein Ad-hoc-Dokument hierzu auszuarbeiten sowie regelmäßige Kontrollen durchzuführen. Die derzeit verfügbaren europäischen Statistiken zu diesem Thema sind überholt, während sich das Phänomen rasch ausbreitet.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Schutz der Kinder bei der Nutzung des Internet", ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 61; EWSA-Stellungnahme zum Thema "Die Auswirkungen von sozialen Netzwerken im Internet auf Bürger und Verbraucher", ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 69.

(2)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Ein Rechtsrahmen für an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung" (Siehe Seite 6 dieses Amtsblatts).

(3)  EWSA-Stellungnahme zur "Daten-Grundschutzverordnung", ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90.

(4)  Die EUROSTAT-Statistiken gehen auf das Jahr 2009 zurück, es sind jedoch aktuellere Untersuchungen auf nationaler Ebene in den unterschiedlichen Ländern verfügbar. Von Bedeutung ist die Untersuchung "EU Kids Online", die seit 2006 im Rahmen des Programms "Safer Internet" durchgeführt wird und nun bereits bei Bericht III 2011-2014 mit Daten über insgesamt 33 Länder angelangt ist.

(5)  COM(2011) 60 final vom 15. Februar 2011.

(6)  Hauptprioritäten der IKT-Kompetenz-Strategie der EU "IKT-Kompetenzen für das 21. Jahrhundert", COM(2007) 496.

(7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Proaktives Recht: ein weiterer Schritt zu einer besseren Rechtsetzung auf EU-Ebene", ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26).

(8)  Die "Wiki-Methode" bezieht sich auf die Modalitäten der Erstellung von Wikipedia, einer kostenlos im Internet abrufbaren, digitalen Enzyklopädie, die das Ergebnis der Zusammenarbeit tausender freiwilliger Experten ist.

(9)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Verbesserung der digitalen Kompetenzen, Qualifikationen und Integration", ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9).

(10)  EWSA-Stellungnahme zur "Daten-Grundschutzverordnung"ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 90; EWSA-Stellungnahme zum Thema "Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken" (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(11)  Die Studien zur Internet-Abhängigkeit gehen auf das Jahr 1995 zurück, als die Professorin Kimberly Young in den USA das erste "Zentrum für Internet-Abhängige" gründete (www.netaddiction.com). Wichtige Untersuchungen zu diesem Thema wurden in den vergangenen Jahren in Deutschland, Italien und Tschechien durchgeführt.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über elektronische Identifizierung und Treuhanddienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt“

COM(2012) 238 final

2012/C 351/16

Berichterstatter: Thomas McDONOGH

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 15. Juni bzw. 25. Juni 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über elektronische Identifizierung und Treuhanddienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt

COM(2012) 238 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 6. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 144 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Kommissionsvorschlag für eine "Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt". Durch die Steigerung der Vertrauenswürdigkeit und Benutzerfreundlichkeit sicherer und nahtloser grenzüberschreitender elektronischer Transaktionen soll der Binnenmarkt gestärkt werden.

1.2

Der Ausschuss tritt nachdrücklich für die Entwicklung des Binnenmarkts ein und ist der Überzeugung, dass dank der Verordnung die Wirksamkeit öffentlicher und privater Online-Dienstleistungen, des elektronischen Geschäftsverkehrs und des elektronischen Handels in der EU zum Nutzen der in einem anderen Mitgliedstaat arbeitenden oder studierenden Unionsbürger erhöht wird. Sie wird außerdem für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beim Ausbau grenzübergreifender Aktivitäten von Nutzen sein.

1.3

Der Ausschuss begrüßt den in der Verordnung vorgeschlagenen technologieneutralen und für Innovationen offenen Ansatz.

1.4

Gleichwohl ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Kommission bei der Verordnung hätte weitergehen sollen und die Entwicklung einer europäischen elektronischen Identifizierung (eID) für bestimmte Dienste de facto und de jure hätte voranbringen können.

1.5

Wenngleich dem EWSA bewusst ist, dass gesetzliche Regelungen bezüglich der Identität in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen und das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren sind, legt er der Kommission nahe, jetzt zu prüfen, wie eine unionsweit standardisierte elektronische Identifizierung für alle Unionsbürger auf freiwilliger Basis eingeführt werden könnte. Ein allen Bürgern zur Verfügung stehendes europäisches eID-System würde die Verwirklichung eines echten Binnenmarkts für Waren und Dienstleistungen ermöglichen und wesentliche Vorteile für Gesellschaft und Dienstleistungen bieten. Außerdem würde ein höherer Schutz vor Betrug, größeres Vertrauen zwischen den Wirtschaftsakteuren, geringere Kosten der Dienstleistungserbringung und höherwertige Dienste sowie ein besserer Schutz der Bürger erreicht werden.

1.6

Der EWSA empfiehlt der Kommission, eine EU-Norm für elektronische Identifizierung – analog zu den vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) entwickelten Normen – zu erarbeiten. Eine EU-Norm für eID würde die Parameter für eine elektronische Identifizierung in der Europäischen Union festlegen und einen Ansatzpunkt für die Harmonisierung der verschiedenen nationalen eID-Systeme bieten. Außerdem wäre es ein Modell für jedes neue eID-System in Ländern, die bislang noch kein solches System haben.

1.7

Der EWSA empfiehlt der Kommission zu erwägen, ob nicht die Einführung einer EU-weiten elektronischen Identifizierung für alle Bürger auf freiwilliger Basis gestartet werden könnte, indem ein Grundsystem für eine offizielle unionsweite eID für eine begrenzte Anzahl von Verbrauchertransaktionen im elektronischen Handel geschaffen wird.

1.8

Da es derzeit in keinem der 27 Mitgliedstaaten gut entwickelte nationale Systeme der elektronischen Identifizierung für Unternehmen (juristische Personen) gibt, fordert der Ausschuss die Kommission auf, sich – unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – für die rasche Einführung eines freiwilligen eID-Systems der EU für juristische Personen einzusetzen, das bestimmte Parameter für alle Unternehmen in der EU beinhaltet.

1.9

Der Ausschuss begrüßt die in dem Verordnungsvorschlag vorgesehene Website-Authentifizierung. Er ist der Auffassung, dass eine rasche Umsetzung dieser Bestimmungen zu einem durch großes Vertrauen zwischen Verbrauchern und Unternehmen geprägtem Klima führen würde, das für den digitalen Binnenmarkt immens wichtig ist.

1.10

Der Ausschuss fordert die Kommission erneut auf, Vorschläge für die Einführung eines Europäischen Vertrauenssiegels für Unternehmen zu machen. Wie in früheren Stellungnahmen des EWSA betont, würde ein Europäisches Vertrauenssiegel für Unternehmen das Vertrauen der Verbraucher in den grenzüberschreitenden Online-Handel stärken.

1.11

Der EWSA begrüßt, dass im Verordnungsvorschlag die zahlreichen Stellungnahmen des Ausschusses berücksichtigt wurden, in denen er eine grenzüberschreitende Harmonisierung der elektronischen Identifizierungssysteme, der elektronischen Signatur und der Vertrauensdienste fordert. Er begrüßt auch, dass das Anliegen des Ausschusses, die Rechte der Bürger auf Schutz der Privatsphäre und Sicherheit im Internet zu wahren, berücksichtigt wurde (1). Der Ausschuss nimmt mit Freude zur Kenntnis, dass in den Verordnungsentwurf die Bestimmung aufgenommen wurde, der zufolge die Mitgliedstaaten für ihre teilnehmenden Systeme verantwortlich sind.

1.12

Der Ausschuss stellt fest, dass im Verordnungsvorschlag den im Rahmen der STORK-Projekte (2) geleisteten Arbeiten Rechnung getragen wird. Diese dienen der technischen Normung und Prozessentwicklung zwecks Schaffung einer europäischen Interoperabilitätsplattform für die elektronische Identifizierung und der Umsetzung eines konkreten Systems, das einen Binnenmarkt für elektronische Signaturen und damit verbundene grenzübergreifende Online-Vertrauensdienste schaffen wird. Der Ausschuss legt der Kommission nahe, dieses grundlegende Engagement zu unterstützen und jedwede zur Beschleunigung der Arbeiten erforderliche Unterstützung zu leisten.

1.13

Der EWSA empfiehlt, dass das Inkraftsetzen der vorgeschlagenen Verordnung mit einer Informationskampagne für die Bürger einhergehen sollte, um ihnen zu erklären, wie die praktischen Modalitäten für die grenzübergreifende elektronische Identifizierung und elektronische Signatur praktisch funktionieren, und etwaige Bedenken in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre und die Sicherheit auszuräumen.

1.14

Da sich die digitale Gesellschaft weiterentwickelt und immer mehr sensible Dienstleistungen über das Internet erbracht werden, betont der Ausschuss, dass die Kommission die Unterstützung für Strategien zur Beschleunigung der digitalen Inklusion in der Union keinesfalls aus den Augen verlieren darf.

1.15

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Passagen des Vorschlags, in denen auf den Einsatz delegierter Rechtsakte verwiesen wird, zu überarbeiten und dem Ausschuss mitzuteilen, wieso der Rückgriff auf diese Befugnisse für die Umsetzung der betreffenden Artikel unentbehrlich ist.

2.   Hintergrund

2.1

Die Richtlinie über elektronische Signaturen ist vor über 12 Jahren in Kraft getreten. Sie weist Lücken auf – wie z.B. die nicht näher definierte Pflicht der nationalen Kontrolle der Dienstleistungserbringer –, die der grenzüberschreitenden Nutzung elektronischer Signaturen im Wege stehen. Außerdem geht sie nicht auf die vielen neuen Technologien ein.

2.2

Alle EU-Mitgliedstaaten besitzen Rechtsvorschriften für elektronische Signaturen, allerdings weisen diese Unterschiede auf, was de facto grenzüberschreitende elektronische Transaktionen unmöglich macht. Dasselbe gilt für Vertrauensdienste wie Zeitstempel, elektronische Siegel, elektronische Zustelldienste und die Website-Authentifizierung, denen es an einer europaweiten Interoperabilität mangelt. Daher werden in dieser Verordnung allgemeine Regeln und Praktiken für diese Dienstleistungen vorgeschlagen.

2.3

Der Verordnungsentwurf enthält die drei folgenden Schlüsselelemente:

i.

Sie schafft einen aktualisierten Rechtsrahmen für elektronische Signaturen, der die geltende einschlägige Richtlinie ersetzt. Es wird bspw. die Möglichkeit einer Signatur per Mobiltelefon vorgesehen, es wird eine verstärkte Haftung für die Sicherheit gefordert und es werden klare und strengere Vorschriften für die Kontrolle von elektronischen Signaturen und damit zusammenhängender Dienstleistungen vorgesehen.

ii.

Die gegenseitige Anerkennung der verschiedenen nationalen elektronischen Identifizierungssysteme (und nicht deren Harmonisierung oder Zentralisierung) wird zur Auflage gemacht, wodurch deren Kapazitäten, d.h. die von ihnen gebotenen Möglichkeiten, erweitert werden und sie in der gesamten EU operieren können.

iii.

Die Verordnung enthält erstmals noch weitere Vertrauensdienste, wodurch ein klarer Rechtsrahmen und mehr Garantien dank der Organe für eine strenge Überwachung der Erbringer folgender Dienstleistungen eingeführt werden: elektronische Siegel, Zeitstempel, elektronische Dokumente, elektronische Zustelldienste und Website-Authentifizierung.

2.4

Im Verordnungsvorschlag ist nicht vorgesehen,

den EU-Mitgliedstaaten die Pflicht aufzuerlegen, nationale Personalausweise, elektronische Personalausweise oder sonstige Instrumente für die elektronische Identifizierung einzuführen, oder den Bürgern die Pflicht, sich diese zu verschaffen;

eine europäische elektronische Identifizierung oder irgendeine Art europäischer Datenbank einzuführen;

die Fähigkeit oder Pflicht, personenbezogene Informationen mit Dritten zu teilen.

2.5

Die Dienstleistungen, für die der Vorteil einer breiteren Nutzung der elektronischen Identifizierung voraussichtlich am größten sein wird, sind die Online-Steuererhebung, Bildungsmaßnahmen und andere soziale Dienstleistungen, das elektronisches Beschaffungswesen und elektronische Gesundheitsdienste.

2.6

Mit den STORK-Projekten, an denen 17 Mitgliedstaaten beteiligt sind, haben die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten unter Beweis gestellt, dass eine grenzübergreifende gegenseitige Anerkennung der elektronischen Identifizierung funktioniert.

2.7

Der vorliegende Verordnungsentwurf ist die letzte der zwölf in der Binnenmarktakte (3) vorgesehenen Schlüsselaktionen und gehört zu den Vorschlägen des eGovernment-Aktionsplans (4) 2011-2015, dem Fahrplan der EU für Stabilität und Wachstum (5) und der Digitalen Agenda für Europa (6).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Schaffung eines vollständig integrierten digitalen Binnenmarkts ist von zentraler Bedeutung für die Umsetzung der Digitalen Agenda für Europa, das Wohlergehen der Unionsbürger und den Erfolg der europäischen Unternehmen, insbesondere der 21 Mio. KMU. Heute arbeiten 13 Mio. Bürgerinnen und Bürger in einem anderen EU-Land und 150 Mio. Menschen tätigen Einkäufe über das Internet. Gleichwohl kaufen nur 20 % von ihnen Waren und Dienstleistungen in einem anderen Land der EU. Die Schaffung von harmonisierten und interoperablen unionsweiten Diensten für elektronische Identifizierung, elektronische Signaturen und Vertrauensdiensten (einschließlich Website-Authentifizierung, Zeitstempel und elektronische Siegel) ist für die Weiterentwicklung des digitalen Binnenmarkts entscheidend.

3.2

Die Entwicklung des elektronischen Beschaffungswesens und Verbesserungen in puncto Wirksamkeit, Transparenz und Wettbewerbsfähigkeit müssen unbedingt gefördert werden. Der Ausbau des elektronischen Beschaffungswesens erfolgt derzeit viel zu langsam, lediglich 5 % aller Vergabeverfahren in der EU können elektronisch abgewickelt werden.

3.3

Es ist zu bedauern, dass aufgrund des Fehlens eines Systems für eine EU-Karte zur elektronischen Identifizierung zahlreiche und unterschiedliche nationale Systeme entwickelt worden sind. Der EWSA anerkennt, dass die von der Kommission nun mit diesem Verordnungsvorschlag vorgelegte Politik zur Schaffung eines vollständig integrierten digitalen Binnenmarkts bis 2015 (7) auf die gegenseitige rechtliche Anerkennung der unterschiedlichen nationalen notifizierten eID-Systeme und die Verwirklichung der konkreten technischen Interoperabilität aller notifizierten Systeme abzielt.

3.4

Der Ausschuss nimmt den evolutionären Ansatz der Kommission bei der Erarbeitung dieser Verordnung zur Kenntnis, die auf der Richtlinie über elektronische Signaturen (8) beruht, um sicherzustellen, dass Privatpersonen und Unternehmen ihre eigenen nationalen elektronischen Identifizierungssysteme verwenden können, um in anderen EU-Ländern, in denen eID-Systeme verfügbar sind, auf öffentliche Dienstleistungen zuzugreifen.

3.5

Der Ausschuss ist jedoch der Überzeugung, dass die EU ein standardisiertes europäisches System für elektronische Identifizierung für alle Bürger und Unternehmen benötigt und bedauert, dass in der Verordnung nicht der Versuch unternommen wird, die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen eID-Systems vorzuschlagen. Wenngleich mit der Verordnung allen Mitgliedstaaten auferlegt wird, alle nach der Verordnung notifizierten nationalen eID-Systeme anzuerkennen, so können die Länder dennoch frei entscheiden, ob sie ihre nationalen Systeme notifizieren lassen oder nicht, ferner werden die Präferenzen der Mitgliedstaaten ohne nationale eID-Systeme respektiert.

3.6

Auch wenn die vorgeschlagene Verordnung im Einklang mit dem Grundsatz der nationalen Souveränität steht und darin nicht allen EU-Bürgern der Besitz einer elektronischen Identität zur Auflage gemacht wird, sollte die Nützlichkeit eines universellen europäischen eID-Systems geprüft werden. Mit der Zeit werden die Bürger ohne elektronische Identität benachteiligt sein. Um Chancengleichheit zu haben, wird jeder Bürger eine elektronische Identität benötigen, die überall in der EU verwendet werden kann.

3.7

Die Umsetzung von Interoperabilitätssystemen in der EU ist von entscheidender Bedeutung für die erfolgreiche Durchführung nahtloser elektronischer Transaktionen auf der Grundlage von elektronischer Identifizierung und Vertrauensdiensten. Bis zur Realisierung einer vollständigen europäischen eID-Interoperabilitätsplattform muss noch viel getan werden.

3.8

Es sollte ein europaweites Informationsprogramm eingeführt werden, um den Bürgern Ratschläge hinsichtlich des Gebrauchs der elektronischen Identifizierung, der elektronischen Signatur und von Vertrauensdiensten zu geben, damit sie ihre Privatsphäre und Sicherheit im Internet angemessen schützen können. Die Sensibilisierungs- und Informationskampagne sollte im Rahmen einer Kommunikation mit Bürgern stattfinden, die den unterschiedlichen Informationsbedürfnissen und Computerkenntnissen gerecht wird.

3.9

Viele Bürger haben Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre und Sicherheit bei Geschäftstransaktionen mithilfe digitaler Dienste. Diese Bedenken werden noch verstärkt, wenn sie nicht die hinter diesen Diensten stehenden Technologien verstehen, was unnötige Ängste und Widerstand schürt. Die Behörden und Mitgliedstaaten müssen stärkere Anstrengungen unternehmen, um zu erklären, auf welche Weise bei der Nutzung von Technologien für die notifizierte elektronische Identifizierung und der elektronischen Signatur die persönliche Privatsphäre und Sicherheit geschützt werden. In diesem Zusammenhang stellt der EWSA fest, dass das vorgeschlagene System für Vertrauensdienste so konzipiert wurde, dass nicht unnötigerweise Daten preisgegeben oder ausgetauscht werden und eine Zentralisierung der Informationen vermieden wird.

3.10

Der Ausschuss hat die Kommission bereits in früheren Stellungnahmen dazu aufgefordert, Vorschläge für die Einführung eines EU-Zertifizierungssystems – eines Europäischen Vertrauenssiegels – für Unternehmen im Online-Geschäft vorzulegen. Ein Europäisches Vertrauenssiegel würde die Gewähr bieten, dass das Unternehmen mit dem EU-Recht voll und ganz übereinstimmt und dass die Rechte des Verbrauchers geschützt werden. Ein solches System würde das Vertrauen der Verbraucher in den elektronischen Geschäftsverkehr stärken.

3.11

Da mit dem Einsatz von elektronischer Identifizierung und Vertrauensdiensten Europa immer stärker digital vernetzt wird, hält des der Ausschuss für sehr wichtig, dass alle Bürger Zugang zu den erforderlichen Technologien und Kompetenzen haben, um in gleicher Weise von der digitalen Revolution profitieren zu können. Digitale Inklusion ist nach wie vor ein wichtiges Thema für die EU, in der ein Viertel der Bevölkerung niemals im Internet war. Alter, Geschlecht und Bildung sind diesbezüglich nach wie vor von zentraler Bedeutung.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Der EWSA fordert die Kommission auf zu untersuchen, wie – unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips – eine EU-Karte zur elektronischen Identifizierung für alle Unionsbürger eingeführt werden könnte. Dies könnte eventuell durch die Festlegung bestimmter Parameter erreicht werden, die in alle einzelstaatlichen eID-Systeme aufgenommen werden könnten, um ihnen den EU-Status bezüglich der elektronischen Identifizierung zu gewähren. Ebenso könnte eine von der EU authentifizierte eID für spezifische Dienstleistungen eingeführt werden. So könnten Bürger auf freiwilliger Basis eine europäische eID beantragen, wenn keine diesbezüglichen einzelstaatlichen Systeme bestehen.

4.2

Der Ausschuss legt der Kommission nahe, die Einführung eines europäischen Systems für elektronische Identifizierung zu erwägen, indem ein Basissystem mit einer auf Unionsebene authentifizierten eID für Verbrauchertransaktionen im elektronischen Handel geschaffen wird. Die Authentifizierung dieser europäischen eID könnte zentral geregelt werden durch eine unter der Kontrolle der EU stehenden Behörde, die das von den Verbrauchern und Händlern geforderte hohe Maß an Vertrauen und Sicherheit gewährleisten würde.

4.3

Da es derzeit in keinem der 27 Mitgliedstaaten gut entwickelte einzelstaatliche Systeme der elektronischen Identifizierung für Unternehmen (juristische Personen) gibt, fordert der Ausschuss die Kommission auf, die Gelegenheit zu ergreifen und jetzt die zügige Einführung eines europäischen eID-Systems für juristische Personen zu betreiben. Die Konzeption eines solches Systems sollte natürlich dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Wenn die EU jetzt tätig wird, könnte sie Harmonisierungsprobleme aufgrund einer Vielzahl von unterschiedlichen einzelstaatlichen eID-Systeme für Bürger vermeiden, die aufgrund einer fehlenden einheitlichen europäischen eID-Karte entstehen würden. Ferner würde die Einführung einer europäischen eID-Regelung für juristische Personen den 21 Mio. europäischen KMU sofort wirtschaftliche Vorteile bieten, da grenzübergreifende Geschäfte zunehmen werden.

4.4

Der Ausschuss stellt fest, dass in 16 der insgesamt 42 Artikel des Verordnungsvorschlags die Kommission ermächtigt wird, delegierte Rechtsakte (9) zu erlassen. Wenngleich der EWSA versteht, dass delegierte Rechtsakte erforderlich sind, um die Umsetzung einiger technischer Aspekte der Verordnung zu erleichtern und der Kommission diesbezüglich Flexibilität zu gewähren, ist er doch angesichts eines derart umfassenden Rückgriffs auf diese Befugnisse besorgt. Der EWSA befürchtet, dass die Garantien bezüglich des Rückgriffs auf delegierte Rechtsakte (10) möglicherweise nicht angemessen sind um sicherzustellen, dass der Rat und das Europäische Parlament die effektive Kontrolle über die Ausübung dieser Befugnisse durch die Kommission haben werden, was sich auf die Rechtssicherheit des Instruments auswirkt.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 27,

ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 66,

ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 178,

ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58,

ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 105,

ABl. C 229 vom 31.7.2012, S. 1.

(2)  www.eid-stork.eu/.

(3)  COM(2011) 206 final.

(4)  COM(2010) 743 final.

(5)  COM(2011) 669 final.

(6)  COM(2010) 245 final.

(7)  EUCO 2/1/11 und EUCO 52/1/11.

(8)  Richtlinie 1999/93/EG.

(9)  Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(10)  Garantien, wie sie in Artikel 290 AEUV und in der Vereinbarung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission über die Funktionsweise von Artikel 290 AEUV enthalten sind.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: ‚Handel, Wachstum und Entwicklung — Eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionspolitik für die bedürftigsten Länder‘“

COM(2012) 22 final

2012/C 351/17

Berichterstatterin: Evelyne PICHENOT

Die Europäische Kommission beschloss am 27. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Handel, Wachstum und Entwicklung — Eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionspolitik für die bedürftigsten Länder

COM(2012) 22 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 5. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 127 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Rückblick

Nach zehn Jahren zielgerichteter politischer Maßnahmen, die Handel und Entwicklung miteinander verknüpften, zieht die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung von 2012 "Eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionspolitik für die bedürftigsten Länder" (1) eine eher bescheidene Bilanz in einer Welt, die tiefgreifende Umwälzungen erlebt. Mehr als 50 % des Welthandels entfallen heutzutage auf die Entwicklungsländer. In den kommenden Jahren wird der Süd-Süd-Handel das größte Wachstumspotenzial aufweisen. Auch die Handelshemmnisse haben sich geändert und bestehen stärker als bisher aus nichttarifären Hemmnissen, was ein erhebliches Problem für die Ausfuhren der Entwicklungsländer darstellt.

In diesem Zusammenhang hebt der EWSA die Bedeutung einer besseren Eingliederung der Entwicklungsländer in den regionalen und internationalen Handel hervor. Er unterstützt das Engagement der EU für Multilateralismus sowie den raschen Abschluss eines WTO-Abkommens zugunsten der am wenigsten entwickelten Länder (LDC). Der EWSA erinnert jedoch daran, dass der Handel immer noch Mittel zum Zweck ist und kein Selbstzweck. In einer Welt im Wandel, in der der Umweltdruck so groß ist wie nie zuvor und die Ungleichheiten zunehmen, besteht die Herausforderung heute in der Ausrichtung der handelspolitischen Maßnahmen auf ein neues, integrativeres und nachhaltigeres Entwicklungsmodell.

1.2   Positive Aspekte der Mitteilung

Die neue Mitteilung über Handel, Investitionen und Entwicklung ist als das Ergebnis einer effizienten Zusammenarbeit zwischen Generaldirektionen der Europäischen Kommission zu begrüßen. Der EWSA schätzt die hochwertige Einbindung der Zivilgesellschaft in die öffentliche Konsultation, die stichhaltige Beurteilung sowie das Bemühen um Kohärenz und Anwendung der handelsbezogenen Aspekte der Agenda für den Wandel (2). Er ist insbesondere erfreut über das Interesse an der Wirkung, Überwachung und Bewertung der handelspolitischen Maßnahmen, die bessere Ausgangspunkte für einen pragmatischen Ansatz zur Verknüpfung von Handel und Entwicklung liefern. Der EWSA bringt sich mit seinen Partnern in diese Überwachung ein und fordert eine Bewertung der Handels- und Investitionshemmnisse, von denen einige Entwicklungsländer betroffen sein könnten.

Der Ausschuss hält den Zugang privater Akteure (v.a. Kleinstunternehmen und KMU) zu Krediten und Handelshilfen sowie die Unterstützung des lokalen und regionalen Handels zwischen Kleinbauern ebenfalls für sinnvoll. Der EWSA erinnert die politische Führung der Entwicklungsländer daran, wie wichtig die Schaffung eines sicheren Investitionsklimas in ihrem Land ist und welch eine zentrale Rolle das Angebot auf der Produktionsseite für die Entwicklung spielt.

Der EWSA unterstützt die Initiative der Generaldirektion Entwicklung und Zusammenarbeit der Europäischen Kommission (DEVCO) zum Aufbau eines strukturierten Dialogs über die Entwicklung ("Policy Forum for Development") in der Übergangsphase bis 2013.

1.3   Kritik an der Mitteilung

In Anbetracht der tiefgreifenden Umwälzungen in der Welt, der drängenden Klimafragen und der zunehmenden Kluft zwischen Schwellenländern und "Nicht-Schwellenländern" begnügt sich die Mitteilung mit einer Anpassung der Maßnahmen, u.a. einer nachträglichen Rechtfertigung der Reform des allgemeinen Präferenzsystems (APS). Die Ausarbeitung eines neuen Entwicklungskonzepts muss zur Priorität werden, sowohl für die EU als auch für ihre Partner, deren Kapazitäten mit Blick auf eine integrative und nachhaltige Entwicklung gestärkt werden müssen. Der EWSA fordert eine breite Debatte mit der Zivilgesellschaft, um in diese Richtung zu arbeiten.

Zudem kommen in der Mitteilung einige wichtige Themen zu kurz. Insbesondere werden darin nicht alle Lehren aus den Untersuchungen zur Fragmentierung des Handels gezogen. Es wird zwar bestätigt, dass heute im Handel drei Länderkategorien unterschieden werden, nämlich die am wenigsten entwickelten Länder ("LDC-Länder"), deren Anteil am Welthandel weiterhin marginal ist, die schnell wachsenden Schwellenländer und eine "Zwischengruppe" von Ländern, die zwischen diesen beiden Kategorien einzuordnen ist. Da der Schwerpunkt der Mitteilung auf den "bedürftigsten" Ländern liegt, werden darin die Handelsbeziehungen zu den Ländern der Zwischengruppe nur ansatzweise behandelt, dabei machen diese den Großteil der Entwicklungsländer aus. Ein restriktiveres APS-System kann kein Ersatz für eine Entwicklungsstrategie sein.

Schließlich warnt der EWSA vor den Grenzen einer alleinigen Differenzierung der Länder aufgrund ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die EU muss die vielversprechenden laufenden Bemühungen, zur besseren Differenzierung zwischen den Entwicklungsländern über das Kriterium des Nationaleinkommens hinauszugehen (cf. LDC-Länder), auch weiterhin in internationalen Gremien fördern. Dieses Thema könnte die EU fortan in die Gespräche über die Millenniums-Entwicklungsziele für die Zeit nach 2015 und die Ziele der nachhaltigen Entwicklung (SDG) aufnehmen.

1.4   Empfehlungen des EWSA

Der EWSA weist auf die Notwendigkeit hin, Entwicklungsstrategien sui generis auszuarbeiten, bei denen innen- und handelspolitische Maßnahmen mit Blick auf ein nachhaltiges und integratives Wachstum kombiniert werden. Nationale Maßnahmen zur Stärkung des Rechtsstaates, zur Behebung von Marktversagen und zum Schutz des wirtschaftlichen und menschlichen Umfelds sind grundlegende Bestandteile der Entwicklungsstrategien. Ohne diese Elemente kann der Handel nur eine marginale und begrenzte Wirkung auf die Entwicklung haben, insbesondere im Agrarsektor.

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, die Nachhaltigkeitsprüfungen auf eine breitere Basis der Folgenabschätzung handelspolitischer Maßnahmen von der Ex-ante- bis zur Ex-post-Phase zu stellen, die auch den europäischen Zielen der Europa-2020-Strategie gerecht wird.

Der EWSA fordert die Europäische Union auf, die Schlussfolgerungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von Juni 2012 zum Mindestniveau für den Sozialschutz stärker in ihre Handelsstrategie für Entwicklungsländer zu integrieren.

Der EWSA schlägt vor, die Bestimmungen bezüglich der nachhaltigen Entwicklung in eine Gesamtbewertung der Freihandelsabkommen durch regelmäßige, im EWSA durchgeführte Überwachungsverfahren und Ex-post-Untersuchungen dieser Abkommen aufzunehmen. Ferner sollten die Bestimmungen zur nachhaltigen Entwicklung in sämtlichen Handelsabkommen ein gezieltes Engagement für die Überwachung und Bewertung der Auswirkungen eines umfassend en Abkommens auf die nachhaltige Entwicklung beinhalten.

Die Europäische Union sollte den zoll- und kontingentfreien Zugang zu Erzeugnissen aus LDC-Ländern noch stärker auf multilateraler Ebene fördern. Eine weitere Priorität der EU könnte auch die Stärkung der Verhandlungskapazitäten der LDC-Länder zur Unterzeichnung von Süd-Süd-Handelsabkommen werden.

Der EWSA ruft die Europäische Union dazu auf, sich angesichts der festgefahrenen Situation Gedanken über die Zukunft der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zu machen. Der EWSA möchte eng in diese Überlegungen einbezogen werden und hält es für sinnvoll, den Besonderheiten der Länder der sogenannten ‧Zwischengruppe‧ in diesen Überlegungen stärker Rechnung zu tragen.

2.   Lehren aus der Fragmentierung des Welthandels

2.1   Seit 2006 und zum ersten Mal seit der industriellen Revolution entfallen mehr als 50 % des Welthandels auf die Entwicklungsländer. Seit nunmehr zehn Jahren lässt sich in Ansätzen eine Annäherung zwischen den Einkommen der Entwicklungs- und der Industrieländer erkennen, eine "Aufholjagd". Beide Phänomene hängen mit dem weltweiten Abbau der Zollschranken und der Rolle der Schwellenländer (namentlich China) im Welthandel zusammen. Die "Landkarte" des industriellen Handels verschiebt sich in Richtung Asien. Der Agrarhandel verlagert sich nach Brasilien. Gleichzeitig verändert sich die Zusammensetzung des Handels. Neben dem Handel mit Gütern gibt es den Handel mit Leistungen: Das Gros der weltweit gehandelten Produkte sind Zwischen- und keine Endprodukte. Dabei sind drei Ländergruppen zu unterscheiden: die LDC-Länder, deren Anteil am Welthandel immer noch marginal ist, die schnell wachsenden Schwellenländer und dazwischen eine "Zwischengruppe", zu der die meisten Entwicklungsländer gehören.

2.2   Diese kürzlich in Gang gekommene wirtschaftliche Aufholjagd täuscht jedoch über die erheblichen Diskrepanzen bei der Geschwindigkeit der Angleichung zwischen den Ländern hinweg, bei der die Entwicklungsländer, die nicht zu den Schwellenländern gehören, hinterherhinken. Dies ist der erste Aspekt, unter dem der Handel zwischen den ärmsten Ländern und den anderen Ländern ungleich ist. Obwohl von einem Handel gemeinhin jedes Land profitiert, sind einige Schwerpunktbereiche lukrativer als andere, und im Wesentlichen fallen immer noch die (im Vergleich) unrentabelsten Schwerpunktbereiche den ärmsten Ländern zu. Diese sind "gefangen" in der Erschließung einiger weniger Bodenschätze und tropischer Agrarerzeugnisse, die ihnen zwar einen absoluten Vorteil im Handel bringen, doch die damit erzielten Einnahmen nehmen im Laufe der Zeit im Vergleich zu denjenigen im Industrie- und Dienstleistungsgewerbe tendenziell ab.

2.3   Der anhaltende Kursanstieg von Bergbau- und Agrarrohstoffen, v.a. aufgrund der steigenden Nachfrage der Schwellenländer, scheint auf den ersten Blick ein "Geschenk des Himmels" für die diese Erzeugnisse exportierenden Entwicklungsländer zu sein, doch er birgt ganz im Gegenteil die Gefahr, dass die Länder auf die Spezialisierung auf Rohstoffe festgenagelt sind und dem "Fluch der Rohstoffe" (geringe Widerstandsfähigkeit gegen Schocks, instabile Exporteinnahmen und öffentliche Haushalte, Tendenz zur Erwirtschaftung von Renten und zur Finanzierung bewaffneter Konflikte), überbewerteten Währungen und dem großflächigen Ankauf von Land ausgesetzt werden. Für die nachhaltige Entwicklung einer Volkswirtschaft ist eine Diversifizierung der Exporte notwendig. Die Märkte drohen jedoch die historische Abhängigkeit der aufstrebenden Volkswirtschaften von diesen Produkten zu zementieren.

2.4   Die wirtschaftliche Aufholjagd geht ebenfalls mit einer Zunahme der Ungleichheiten innerhalb der Länder selbst einher. Es liegt in der Verantwortung des Staates, die Gewinne der Handelsöffnung landesweit und auf die gesamte Volkswirtschaft gerecht zu verteilen. Die Gewinne des Handels und des Wachstums verteilen sich nicht automatisch auf alle Wirtschaftsakteure, insbesondere nicht auf die schwächsten Segmente. Daher ist es wichtig, Entwicklungsstrategien sui generis auszuarbeiten, bei denen innenpolitische und handelspolitische Maßnahmen mit Blick auf ein allen zugute kommendes Wachstum kombiniert werden. Mit ihrer schmalen Steuergrundlage und ihren geringeren Haushaltskapazitäten stehen die Entwicklungsländer hier vor einer zweiten Erschwernis.

2.5   So wie sich die Landkarte und die Zusammensetzung des Handels verschieben, so wandeln sich auch die Industrie- und die Handelspolitik. Seit zehn Jahren verändert sich die Integration der Entwicklungsländer in den internationalen Handel durch die schwindende Bedeutung der Handelspräferenzen und die Häufung regionaler und bilateraler Verträge. In ihrem Arbeitspapier stellt die Kommission eine anhaltende Marginalisierung der LDC-Länder im Welthandel fest. Der proaktive Ansatz der Mitteilung von 2002, die mit Blick auf einen Abschluss der Doha-Entwicklungsrunde ausgearbeitet wurde, hat nicht ausgereicht, um zu einer entscheidenden Integration der LDC-Länder in den Welthandel zu führen: Fast der gesamte Handel findet weiterhin "ohne sie" statt.

2.6   Der Wettbewerb erfolgt nicht mehr an den Grenzen, sondern in den Ländern selbst. Bis auf einige Zolltariflinien bestehen die Handelshemmnisse im Wesentlichen zunehmend aus nichttarifären Hemmnissen, wie Normen, Verfahrensvorschriften, Subventionen und Regelungen. In dieser Hinsicht ist das Aufstreben der BRICS-Staaten im internationalen Handel weniger das Ergebnis der alleinigen Handelsöffnung als vielmehr klarer und geplanter, angemessener und eigenständiger Entwicklungsstrategien, bei denen zielgerichtete staatliche Maßnahmen und Marktanreize kombiniert wurden. Auf der anderen Seite stellen das Fehlen einer Entwicklungsstrategie und die mangelnde Fähigkeit, sich in die Globalisierung einzuschalten, einen dritten Nachteil für die am wenigsten entwickelten Länder dar.

2.7   Die durch die Handelsspezialisierung bedingten Einkommensungleichheiten, die Ungleichheiten bei den Finanzierungskapazitäten für ein grünes und integratives Wachstum und schließlich die Ungleichheiten bei den politischen Kompetenzen für die Gestaltung, Planung und Verwaltung einer Entwicklungsstrategie sind die drei Ungleichheiten, von denen die am wenigsten entwickelten Länder im "modernen" Handel betroffen sind. Sie sind miteinander verwoben und werden unweigerlich weiter zunehmen, wenn nicht geeignete gemeinsame Maßnahmen ergriffen werden, bei der entsprechend dem Millenniums-Entwicklungsziel 8 handels- und investitionspolitische Maßnahmen mit Maßnahmen zur Entwicklungszusammenarbeit kombiniert werden.

3.   Die Notwendigkeit eines europäischen Strategiekonzepts in einer Welt im Wandel im Einklang mit der Europa-2020-Strategie

3.1   In ihrer Mitteilung über Handel, Wachstum und Entwicklung bekräftigt die Kommission im Wesentlichen die in der Mitteilung von 2002 formulierten Grundprinzipien, betont aber auch, dass zwischen den Entwicklungsländern differenziert werden muss, um gezielt die bedürftigsten Länder ins Blickfeld zu rücken. Ausgehend von dieser Feststellung führt die Kommission sechs Prioritäten für das laufende Jahrzehnt auf: stärker zielführende Handelspräferenzen, effizientere Handelshilfen, Förderung und Schutz ausländischer Direktinvestitionen, eine je nach Einkommen der Länder flexibel gestaltbare Aushandlung umfassender Freihandelsabkommen, Förderung der guten Regierungsführung (einschließlich der nachhaltigen Entwicklung) und schließlich Stärkung der Widerstandsfähigkeit der am stärksten gefährdeten Länder gegen externe und interne Schocks.

3.2   Der EWSA unterstützt diese auf Kontinuität ausgelegten Prioritäten, weist aber darauf hin, dass sie nur zum Teil den drei großen aktuellen Entwicklungsherausforderungen gerecht werden. Die neue Mitteilung über Handel, Wachstum und Entwicklung baut auf dem äußerst nützlichen Material auf, das während der bemerkenswerten öffentlichen Konsultation zu dieser Thematik im Jahr 2011 zusammengetragen wurde, und ist als das Ergebnis einer effizienten Zusammenarbeit zwischen Generaldirektionen zu begrüßen. Sie ist eine Ergänzung zur Mitteilung über Handel, Wachstum und Weltgeschehen, die für das Verhältnis zwischen Handel und Europa-2020-Strategie immer noch die maßgebliche Referenz ist. Abgesehen von den Neuerungen dieser spezifischen Mitteilung, etwa der verstärkten Differenzierung zwischen den Entwicklungsländern und einem zunehmenden Interesse an den privaten Akteuren, fehlt es der Mitteilung über die Verknüpfung von Handel und Entwicklung an einem neuen, zukunftsorientierten Konzept.

3.3   Wie aus der Mitteilung und der ihr vorangegangenen Studie hervorgeht, ist die Integration in den Weltmarkt weder ein Selbstzweck noch eine hinreichende Voraussetzung für Entwicklung. Handelsöffnung und Marktzugang stellen keine Entwicklungsstrategie, sondern lediglich eine Teilkomponente eines solchen Konzepts dar. Nationale Maßnahmen zur Stärkung des Rechtsstaates, zur Behebung von Marktversagen und zum Schutz des wirtschaftlichen und menschlichen Umfelds sind unerlässliche Bestandteile von Entwicklungsstrategien und Grundvoraussetzungen für Handelsgewinne, insbesondere im Agrarsektor.

3.4   Ohne ein gemeinsames Entwicklungskonzept konnten die von der Europäischen Union eingerichteten politischen Initiativen für einen bevorrechtigten Zugang zu den Auslandsmärkten, z.B. das APS und die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA), nicht den erhofften Wachstumsschub auslösen. Am besorgniserregendsten ist dabei nicht der geringe wirtschaftliche Nutzen dieser Initiativen für die Entwicklungsländer, sondern der schwache politische Wille, der von den betreffenden Entwicklungsländern für solche Initiativen an den Tag gelegt wurde. Die Europäische Union sollte die genaue Größenordnung der durch den Abbau der tarifären und nichttarifären Hemmnisse erwarteten Gewinne sowohl für die EU selbst als auch für ihre Partnerländer deutlicher beziffern. Und schließlich ist es Aufgabe der Europäischen Union zu beweisen, dass ihre im Bereich des Handels bevorzugt regional ausgerichtete Außenpolitik bezüglich der AKP-Staaten (WPA) (3) kohärent ist, wenngleich die entwicklungs- und wachstumspolitischen Maßnahmen in den entsprechenden Regionen weiterhin auf nationaler Ebene stattfinden.

3.5   Auf multilateraler Ebene zeigt sich ein ähnliches Bild. Im Gegensatz zu dem, was bei den Verhandlungen über den Klimawandel zu beobachten ist, wo sich die Entwicklungsländer, allen voran die "Nicht-Schwellenländer", auf die Problematiken der Verhandlung einlassen, ist die politische Einbindung dieser "Nicht-Schwellenländer" in die Doha-Runde immer noch sehr gering oder gleich null. Überdies sind die Prioritäten und Bedürfnisse der Handelshilfeempfänger nach wie vor schlecht definiert, da in diesen Ländern die erforderlichen Kapazitäten und der entsprechende politische Raum fehlen, um nachhaltige Entwicklungsstrategien entwickeln zu können.

3.6   Zur Entlastung der Europäischen Union ist anzuführen, dass die internationale Entwicklungszusammenarbeit immer noch auf der Grundlage von Übereinkommen zwischen souveränen Nationalstaaten stattfindet. In der Praxis findet dieser diplomatische Akt jedoch mit fragilen Ländern mit begrenzten Kapazitäten statt. Dies hat zur Folge, dass der Handel heutzutage in den Entwicklungsstrategien und der Planung der Hilfe zu kurz kommt. Die Schaffung eines neuen Entwicklungskonzepts muss zur Priorität werden, sowohl für die EU als auch für ihre Partner, deren Kapazitäten hierfür gestärkt werden müssen. Die Durchführung nationaler politischer Maßnahmen ist der Schlüssel, um den Handel zu einem der Entwicklungsfaktoren zu machen. Auf kurze Sicht müssen daher Pragmatismus, Erkundung und Erprobung die Maßnahmen der EU im Bereich des Handels für Entwicklung leiten und zum Entwurf dieses Konzepts im Einklang mit der Europa-2020-Strategie beitragen.

4.   Eine pragmatische Herangehensweise bei Handel und Investitionen im Dienste eines Entwicklungskonzepts

4.1   Ausbau der Kapazitäten und Mechanismen zur Überwachung und Bewertung der Auswirkungen des Handels

4.1.1

Da die Verbindung zwischen Handel und Entwicklung von der Wesenscharakteristik her auf Erfahrungswerten beruht, muss eine pragmatische Herangehensweise in der Handelspolitik im Sinne des Experimentierens und des Lernens entwickelt werden. Ob ein Handelsabkommen gut ist für die Entwicklung oder nicht, lässt sich nicht im Voraus bestimmen oder behaupten. Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung aus einer früheren Stellungnahme, die Nachhaltigkeitsprüfungen auf eine breitere Basis der Folgenabschätzung handelspolitischer Maßnahmen von der Ex-ante- bis zur Ex-post-Phase zu stellen, die den europäischen Zielen der Europa-2020-Strategie gerecht wird.

4.1.2

Überwachung und Bewertung sind insbesondere bei den flankierenden Maßnahmen zu den Handelsabkommen wichtig, um deren Leistungen durch sukzessive Überarbeitungen zu verbessern. Ebenso wichtig sind sie aber auch für die Überprüfung der Bestimmungen zur nachhaltigen Entwicklung, deren Aufnahme in sämtliche EU-Handelsabkommen der EWSA fordert. Der EWSA schlägt vor, die Bestimmungen bezüglich der nachhaltigen Entwicklung in eine Gesamtbewertung der Freihandelsabkommen durch regelmäßige, im EWSA durchgeführte Überwachungsverfahren und Ex-post-Untersuchungen dieser Abkommen aufzunehmen. Ferner sollten die derzeit verhandelten Bestimmungen zur nachhaltigen Entwicklung ein gezieltes Engagement für die Überwachung und Bewertung der Auswirkungen eines umfassenden Abkommens auf die nachhaltige Entwicklung beinhalten.

4.1.3

Die regelmäßige Bewertung der Effizienz und der Nutzwirkung der Handelserleichterungen und der einzelnen Marktzugangsverfahren, die die EU den Entwicklungsländern bietet (differenzierte Sonderbehandlung, WPA, APS usw.), muss aber auch dazu beitragen, die heutigen Kernelemente der EU-Politik zu stärken. Die wissenschaftliche und unabhängige Folgenabschätzung steht im Mittelpunkt der Neugestaltung der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA). Die Handelshilfe mit über 10 Mrd. EUR im Jahr 2010 wäre noch effizienter und leistungsfähiger, würden Indikatoren zur Auswertung ihrer Auswirkungen geschaffen.

4.1.4

Neben dem allgemeinen Präferenzsystem bleiben immer noch Handlungsspielräume ungenutzt, die die Entwicklungsländer nutzbringend in Anspruch nehmen könnten. Wie bereits in einer früheren Stellungnahme bekundet, unterstützt der EWSA jegliche Initiative der EU, die die Entwicklungsländer zur Nutzung der für die Lebensmittelsicherheit zur Verfügung stehenden Mechanismen ermuntert. Es ist besonders wichtig, auf multilateraler, regionaler und bilateraler Ebene den Zugang dieser Länder zu den verfügbaren Handelsmechanismen zu vereinfachen (z.B. durch die Schutzmaßnahmen, mit denen sie auf starke Zunahmen der Einfuhren reagieren können, wenn diese die lokale Lebensmittelerzeugung bedrohen (4) sowie die entsprechenden Auswirkungen zu messen.

4.1.5

Der EWSA bekräftigt seine in einer früheren Stellungnahme (5) formulierte Empfehlung, die Verbesserung der Transparenz, Überwachung und Glaubwürdigkeit des fairen Handels mit Ressourcen und Regelungen zu unterstützen. Der EWSA befürwortet überdies die systematische Bewertung der Auswirkungen des fairen Handels nicht nur für die vorgesehenen Empfänger, sondern auch für die Regionen, die die gleichen Erzeugnisse herstellen, aber keine Empfänger sind.

4.1.6

Im Einklang mit dem Arbeitsprogramm 2010-2013 für Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung ist es absolut notwendig, die Kohärenz der die EU betreffenden Handelsmechanismen zu bewerten, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Arzneimitteln, den Rechten an geistigem Eigentum und menschenwürdiger Beschäftigung. Der EWSA fordert die Europäische Union auf, die Schlussfolgerungen der ILO von Juni 2012 zum Mindestniveau für den Sozialschutz stärker in ihre Handelsstrategie für Entwicklungsländer zu integrieren.

4.1.7

Der EWSA unterstützt die Ausweitung der Überwachung und Bewertung der Handels- und Investitionshemmnisse, von denen auch bestimmte Entwicklungsländer betroffen sein könnten.

4.1.8

Damit der Lern- und Bewertungsprozess wirkungsvoll ist und zu einer Reform der Handelspolitik zugunsten der Entwicklung führt, muss die Zivilgesellschaft umfassend (und stärker als bisher) in diesen Prozess eingebunden werden, insbesondere in die Überwachungsmechanismen der Handels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen.

4.2   Unterstützung für die privaten Akteure in den Entwicklungsländern

4.2.1

Der EWSA würdigt, dass im Fokus der Mitteilung die zentrale Rolle der privaten Akteure, insbesondere der Kleinbauern und Kleinunternehmer, steht, die in vielen Entwicklungsländern die tragende Säule der Wirtschaft bilden. Er unterstreicht die Notwendigkeit, eine verantwortungsvolle Unternehmensführung zu fördern, Partnerschaften zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor zu unterstützen und die unterschiedlichen Formen des Unternehmertums, wie Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und andere sozialwirtschaftliche Unternehmensformen, anzuerkennen (6). Er erkennt an, wie wichtig die Schaffung eines sicheren Investitionsklimas, eines stabilen Handelsrechts, einer fairen Besteuerung und einer wirksamen und vorhersehbaren Rechtsordnung zur Gewährleistung der Rechtssicherheit der nationalen und ausländischen Investitionen ist. Der EWSA hebt die Bedeutung der Infrastrukturen und Dienstleistungen des Online-Handels für die Stärkung und Diversifizierung des Exportangebots hervor.

4.2.2

Der EWSA unterstützt die Maßnahmen zur Vereinfachung des Zugangs von Kleinbauern und Kleinunternehmern zu den Handelshilfen, damit diese einen Nutzen aus den Handelsgewinnen ziehen können, sowie zur Förderung der politischen Verfahren, die einen Wechsel vom informellen Sektor zu registrierten Tätigkeiten bewirken. In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die Aktualität der Schlussfolgerungen des gemeinsamen Berichts der ILO und der WTO (7) hin, in dem es heißt, dass die tiefgreifenden Auswirkungen der informellen Beschäftigung in den Entwicklungsländern diese daran hindern, von der Handelsöffnung zu profitieren, da die Arbeitnehmer in der Übergangsphase in der Armutsfalle gefangen sind. Maßnahmen zugunsten der Gleichstellung der Geschlechter und die Unterstützung der Beschäftigung von Frauen werden sich positiv auf einen derartigen Wechsel vom informellen Sektor zu registrierten Tätigkeiten auswirken. Der Kampf gegen die Korruption und der Ausbau der Infrastruktur müssen auch weiterhin eine Priorität sein. Die Zusammenarbeit bei der Korruptionsbekämpfung zwischen den Sozialpartnern und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen der Euromed-Partnerschaft könnte Material für den Lernprozess liefern.

4.2.3

Der komparative Vorteil der EU bei der Unterstützung der privaten Akteure, unabhängig von der jeweiligen Unternehmensform, muss im Vergleich zum Vorteil anderer (nationaler und multilateraler) Einrichtungen ausgebaut werden, um die Wirksamkeit der Handelshilfe-Mechanismen der EU, insbesondere angesichts des zunehmenden Süd-Süd-Handels, zu verbessern. Die EU muss ihre Delegationen in den Drittstaaten personell so ausstatten, dass sie den Herausforderungen gerecht werden können, und sie auch stärker in die Nutzanwendung der vor Ort gesammelten Erfahrungen einbeziehen.

4.2.4

Die im Privatsektor sehr aktiven Berufsverbände können bei der Ermittlung des Bedarfs an Zusammenarbeit der Partnerländer einen wichtigen Beitrag leisten. Die direktere Konsultation dieser Verbände mittels des EWSA dürfte zu einer Annäherung von Angebot und Nachfrage bei der Zusammenarbeit führen. Durch die vorausgegangene Aushandlung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und die Ausarbeitung der Strategiedokumente zur Armutsbekämpfung unter der Federführung der Weltbank konnten die Berufsverbände in den Entwicklungsländern konsolidiert und strukturiert werden.

4.2.5

Der EWSA begrüßt den von der Kommission hervorgehobenen Gedanken, dass die soziale Verantwortung der Unternehmen zur Förderung weltweit fairer Wettbewerbsbedingungen im Handel und bei Investitionen beiträgt. Es steht außer Frage, dass Großunternehmen aus Europa durch internationale Rahmenabkommen unter Einschluss der Subunternehmer eine Vorreiterrolle bei der Einführung sozialer, ökologischer und der guten Regierungsführung dienlicher Handelsregelungen gespielt haben. Die Anerkennung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen ist daher ein guter Vorschlag, der den Vorteil hat, dass für Streitfälle ein Beschwerdemechanismus vorhanden ist. Außerdem wird in diesen Leitsätzen auch die jährliche Veröffentlichung wichtiger, zuverlässiger und überprüfbarer Unternehmensinformationen gefordert, die generell eingeführt werden sollten.

4.3   Vorbereitung von Reformen der Weltordnung

4.3.1

Das Kooperationsangebot im Bereich Handel und Entwicklung sollte ausgeweitet werden und neben den OECD-Ländern, die seit jeher öffentliche Entwicklungshilfe bereitstellen und einen vereinfachten Marktzugang bieten, auch die Schwellenländer einschließen. Den größten Handlungsspielraum haben heute die Schwellenländer. Der EWSA ruft die EU insbesondere auf, den effektiven, zoll- und kontingentfreien Zugang zu Erzeugnissen aus LDC-Ländern auf multilateraler Ebene (v.a. im Rahmen der G20), aber auch in seinen bilateralen Beziehungen zu den Schwellenländern stärker zu fördern. Eine weitere Priorität der EU könnte auch die Stärkung der Verhandlungsposition der LDC-Länder bei Süd-Süd-Handelsabkommen werden.

4.3.2

Nach Auffassung des EWSA müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, damit die Doha-Verhandlungsrunde über Entwicklungsfragen doch noch zum Abschluss kommt, zumindest in Form eines vorgezogenen Übereinkommens ausschließlich zugunsten der LDC-Länder, das eine weitreichende Verpflichtung der Geldgeber vorsieht (unabhängig davon, ob diese dem Ausschuss für Entwicklungshilfe (DAC) angehören oder nicht). Der EWSA spricht sich erneut dafür aus, das Jahr 2015, Zieldatum für die Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele (MDG), der internationalen Zusammenarbeit zu widmen. Parallel zu den Konsultationen wird er die Bilanz der Millenniums-Entwicklungsziele und die auf dem Rio+20-Gipfel über nachhaltige Entwicklung eröffnete Perspektive in einer Stellungnahme thematisieren.

4.3.3

Gleichzeitig beschränkt sich die Handels- und Entwicklungsstrategie der EU nicht nur auf mehr Reziprozität mit den Schwellenländern einerseits und einem zollfreien Zugang für Erzeugnisse aus LDC-Ländern andererseits. Die Länder zwischen diesen beiden Kategorien, nämlich die Entwicklungsländer, die nicht zu den Schwellenländern gehören, sind Partner, mit denen die EU beidseitige Interessen vertiefen könnte. Sie könnten wichtige Verbündete bei der Förderung einer besseren Regierungsführung, dem Kernziel der Europäischen Union, sein. Dadurch, dass sich die Mitteilung auf die bedürftigsten Länder konzentriert, fehlt ihr eine klare Strategie, die sich nicht nur auf ein restriktiveres APS-System beschränkt.

4.3.4

Die laufenden Bemühungen, zur besseren Differenzierung der Entwicklungsländer über das alleinige Kriterium des Nationaleinkommens hinauszugehen (cf. LDC-Länder), sind äußerst vielversprechend, um die Effizienz der differenzierten Sonderbehandlung zu steigern und die Handelshilfe zu verbessern. Dieses Thema könnte die EU fortan in die Gespräche über die Millenniums-Entwicklungsziele für die Zeit nach 2015 und die Ziele der nachhaltigen Entwicklung (SDG) einbringen.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  "Handel, Wachstum und Entwicklung – Eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionspolitik für die bedürftigsten Länder", COM(2012) 22 final.

(2)  "Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel", COM(2011) 637 final.

(3)  Siehe die Abschlusserklärung von Santo Domingo im Rahmen des 12. Regionalseminars der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen AKP/EU, Santo Domingo, 5./6. Juli 2012, http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.events-and-activities-acp-eu-twelfth-regional-seminar-fd.24031.

(4)  EWSA-Stellungnahme zu der "Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Handel, Wachstum und Weltgeschehen – Handelspolitik als Kernbestandteil der Strategie Europa 2020", COM(2012) 612 final, ABl. C 43 vom 15.2.2012.

(5)  EWSA-Stellungnahme zu der "Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung: Die Rolle des Fairen Handels und handelsbezogener nichtstaatlicher Nachhaltigkeitssicherungskonzepte", COM(2009) 215 final, ABl. C 339 vom 14.12.2010.

(6)  EWSA-Stellungnahme zum Thema "Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika", ABl. C 143 vom 22.5.2012.

(7)  Gemeinsamer Bericht der WTO und der ILO mit dem Titel "Globalization and informal jobs in developing countries" (Globalisierung und informelle Beschäftigung in den Entwicklungsländern), 2009.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/83


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 des Rates“

COM(2012) 298 final — 2012/0158 (COD)

2012/C 351/18

Hauptberichterstatter: Brian CURTIS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 5. Juli bzw. am 10. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 des Rates

COM(2012) 298 final — 2012/0158 (COD).

Das Präsidium beauftragte die Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz am 10. Juli 2012 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) Brian CURTIS zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 122 gegen 1 Stimme bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Da die Geltungsdauer der technischen Übergangsmaßnahmen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 des Rates am 31. Dezember 2012 endet, stimmt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) dem Vorschlag der Kommission zu, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, solange sich die geplante neue Verordnung über technische Erhaltungsmaßnahmen als Teil der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik noch in Ausarbeitung befindet.

1.2

Diese technischen Maßnahmen sind für eine nachhaltige Fischerei wichtig, und ihre Fortführung muss daher gewährleistet sein. Eine Aussetzung dieser Maßnahmen (selbst vorübergehend) hätte verheerende Folgen für die Erhaltung der Bestände wie auch für empfindliche Tiefsee-Habitate, einschließlich einer Reihe von Natura-2000-Gebieten. Eine Aussetzung würde auch bedeuten, dass mehrere berechtigte und akzeptierte Ausnahmen von den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 850/98 nicht länger gelten würden.

1.3

Der Ausschuss schlägt vor, an dem bisherigen Vorgehen festzuhalten und die Geltung der technischen Maßnahmen aus der Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 für einen zusätzlichen Zeitraum von 18 Monaten zu verlängern, anstatt sie in die Verordnung (EG) Nr. 850/98 aufzunehmen.

2.   Hintergrund

2.1

Am 4. Juni 2008 unterbreitete die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen (1), mit dem die Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates zur Erhaltung der Fischereiressourcen durch technische Maßnahmen zum Schutz von jungen Meerestieren ersetzt und die Durchführung der technischen Maßnahmen, die im Rahmen der jährlichen Verordnung über die Fangmöglichkeiten immer nur vorübergehend galten, dauerhaft festgeschrieben werden sollten.

2.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss formulierte zu dieser Vorlage eine Stellungnahme, die nach den einschlägigen Verfahren auf der 451. Plenartagung des Ausschusses am 25. Februar 2009 verabschiedet wurde (2).

2.3

Die Behandlung der mit diesem Vorschlag verknüpften Verordnung durch die Kommission wurde 2009 durch die Verhandlungen über die Annahme des Vertrags von Lissabon erschwert.

2.4

In der Zwischenzeit wurde angesichts der Dringlichkeit die Verordnung (EG) Nr. 43/2009 angenommen, in der die Fangmöglichkeiten und begleitenden Fangbedingungen für bestimmte Fischbestände und Bestandsgruppen für 2009 festgelegt wurden (3).

2.5

Während also die Behandlung der Verordnung des Rates über technische Maßnahmen im Jahr 2009 noch in vollem Gange war, lief die Geltungsdauer der in Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 43/2009 vorgesehenen Maßnahmen ab.

2.6

Deshalb und aus Gründen der Rechtssicherheit sowie im Hinblick auf eine auch künftig angemessene Erhaltung und Bewirtschaftung der Fischereiressourcen wurde die Verordnung (EG) Nr. 1288/2009 des Rates zur Festlegung technischer Übergangsmaßnahmen für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 30. Juni 2011 (4) erlassen, der zufolge die vorübergehenden technischen Maßnahmen nach Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 43/2009 für eine Übergangszeit von 18 Monaten weiterhin Anwendung finden.

2.7

Angesichts der neuen Anforderungen des Vertrags von Lissabon zog die Kommission 2010 den Vorschlag aus dem Jahr 2008 zurück.

2.8

Ein weiteres Mal um 18 Monate verlängert wurde die Anwendung der Übergangsmaßnahmen mit der Verordnung (EU) Nr. 579/2011, da es bis dahin nicht gelungen war, die Maßnahmen bis zum 30. Juni 2011 in die bestehende Verordnung (EG) Nr. 850/98 über technische Maßnahmen (oder in eine neue Verordnung, die letztere ersetzen würde) einzubauen.

2.9

Die Kommission beabsichtigt, die Verordnung (EG) Nr. 850/98 nach Abschluss und im Einklang mit der derzeit erörterten Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik zu überarbeiten. Daher wird eine neue Verordnung über technische Maßnahmen nicht rechtzeitig vorliegen, um zum 1. Januar 2013 in Kraft zu treten. Folglich ist eine weitere Zwischenlösung erforderlich, die gewährleistet, dass die vorübergehenden technischen Maßnahmen auch nach dem 31. Dezember 2012 gelten und dass ein zeitlicher Spielraum für die Ausarbeitung eines neuen rechtlichen Rahmens eingeräumt wird.

2.10

Ergebnis dieser Erwägungen ist der in dieser Stellungnahme des EWSA behandelte Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 850/98 des Rates, um die betreffenden technischen Maßnahmen aufzunehmen.

3.   Bemerkungen

3.1

Artikel 34b würde an Klarheit gewinnen, wenn Absatz 3 auf Absatz 1 folgen würde: Die Ausnahmeregelungen sollten unmittelbar auf das allgemeine Verbot folgen, so wie im Falle der Verordnung (EG) Nr. 43/2009. Das Erfordernis einer speziellen Fangerlaubnis für Stellnetze (Absatz 2 des derzeitigen Vorschlags) sollte erst danach genannt werden.

3.2

Die Ausnahmeregelung in Absatz 9.12, Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 43/2009, die bis zum 31. Dezember 2012 gilt, sollte verlängert werden. So geht aus Forschungen, die im letzten Quartal 2011 und im ersten Halbjahr 2012 in Tiefen von mehr als 600 m durchgeführt wurden, hervor, dass nur in geringem Umfang Beifänge von Haien zu verzeichnen sind. Daher sollte diese Ausnahmeregelung auf die Kiemennetz-Flotte für den Fang von Seeteufeln Anwendung finden, sobald die Stichhaltigkeit des Berichts durch den Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsausschuss für die Fischerei bestätigt wurde.

3.3

Die Absätze 1, 2, 4, 5a, 5b, 5c, 5d, 17 und 18 aus Anhang III der bis zum 31. Dezember 2012 geltenden Verordnung (EG) Nr. 43/2009 werden in dem Vorschlag nicht aufgegriffen. Die Kommission gab zur Erklärung an, dass die Absätze 5a, 5c und 5d ab dem 1. Januar 2010 überflüssig seien; die Absätze 1 und 2 seien gestrichen worden und würden auf Antrag Dänemarks auch nicht wieder aufgenommen; die Absätze 17 und 18 würden unter Absatz 6 bzw. 3 in den Vorschlag einfließen.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2008) 324 final.

(2)  ABl. C 218 vom 11.9.2009.

(3)  ABl. L 22 vom 26.1.2009, S. 1.

(4)  ABl. L 347 vom 24.12.2009, S. 6.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über Anrechnungsvorschriften und Aktionspläne für die Emissionen und den Abbau von Treibhausgasen infolge von Tätigkeiten im Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft“

COM(2012) 93 final — 2012/0042 (COD)

und zu der

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Anrechnung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) im Rahmen der Klimaschutzverpflichtungen der EU“

COM(2012) 94 final

2012/C 351/19

Berichterstatter: Ludvik JÍROVEC

Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 12. März bzw. 15. März bzw. 26. März 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

 

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über Anrechnungsvorschriften und Aktionspläne für die Emissionen und den Abbau von Treibhausgasen infolge von Tätigkeiten im Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft

COM(2012) 93 final — 2012/0042 (COD)

und

 

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Anrechnung von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) im Rahmen der Klimaschutzverpflichtungen der EU

COM(2012) 94 final.

Die mit den Vorarbeiten der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 29. August 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 19. September) mit 185 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission, der seiner Meinung nach ehrgeizig ist und der Notwendigkeit Rechnung trägt, ein konsequenteres Anrechnungssystem zu schaffen, mit dem Empfehlungen aus internationalen Übereinkünften in die EU-Rechtsvorschriften übernommen werden. Bei der Vorbereitung und Erarbeitung von Rechtsakten sollte die Europäische Kommission dafür sorgen, dass die einschlägigen Dokumente dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Zivilgesellschaft zeitgleich, rechtzeitig und ordnungsgemäß übermittelt werden. Bei der Aktualisierung ihrer Begriffsbestimmungen im Einklang mit den von den UNFCCC- (Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen) oder den Kyoto-Gremien oder von Gremien im Rahmen eines anderen multilateralen klimaschutzrelevanten Übereinkommens angenommenen Änderungen sollte die Europäische Kommission angemessene Konsultationen einschl. auf Expertenebene durchführen. Es ist sehr wichtig, die Kohärenz dieses Vorschlags mit den auf UNFCCC-Ebene getroffenen Entscheidungen zu gewährleisten.

1.2

Da bis 2015 ein rechtlich verbindliches globales Klimaschutzübereinkommen ausgehandelt werden soll, das nach den bisherigen Planungen dann 2020 in Kraft treten würde, sollte die EU zur Unterstützung dieser Verhandlungen ihre Bemühungen nun auf die Erarbeitung fairer und klimagerechter Modelle ausrichten, die dem Klimaschutz förderlich sind. Dabei spielt LULUCF eine wichtige Rolle, weshalb es wichtig ist, gemeinsame Vorschriften über die Berechnung sowohl von Emissionen als auch Emissionssenken zu haben.

1.3

Nach Meinung des Ausschusses ist eine umfassende Bewertung für die Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft erforderlich, in der alle Treibhausgasströme (Emissionen wie Abbau) aus Acker- und Weidebewirtschaftung sowie land- und viehwirtschaftlichen Tätigkeiten berücksichtigt werden. Hingegen sind Berichterstattung und Anrechnung von Treibhausgasemissionen aus Land- und Viehwirtschaft bereits im Kyoto-Protokoll verpflichtend vorgeschrieben und auch in den Emissionsgrenzwerten der Lastenteilungsentscheidung erfasst (1).

1.4

Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass diese komplexe Thematik im breiteren Kontext der Klimaschutzpolitik der EU und in Bezug auf den Energiebedarf der EU eingehender beleuchtet werden muss. Er schlägt vor, die Sichtbarkeit der Klimaschutzmaßnahmen in Land- und Forstwirtschaft und in verwandten Industrien zu verbessern, einen Grundstein für die Schaffung adäquater politischer Anreize zu legen, beispielsweise in der Gemeinsamen Agrarpolitik, und die Ausgangsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen.

1.5

Die Europäische Kommission sollte alle möglichen und nicht nur die Umwelt und die Natur betreffenden Maßnahmen berücksichtigen und durch die Verzahnung dieser Maßnahmen Synergien schaffen.

1.6

Die Forstwirtschaft wird weder in ihrer Gesamtheit betrachtet noch wird ihre Multifunktionalität, namentlich als Erzeuger von Biomasse für erneuerbare Energie, berücksichtigt. Der Ausschuss begrüßt den EU-Vorschlag zur Aufnahme geernteter Holzprodukte (HWP) in die Anrechnungsvorschriften. Durch die Anrechnung des Kohlenstoffvorrats in diesen Produkten wird die Bedeutung von Holz und Holzprodukten bei der Bewertung und Überprüfung der Klimaauswirkungen gestärkt.

1.7

Der Ausschuss begrüßt die Aufstellung nationaler Aktionspläne, weil darin die in Ziffer 1.4 geforderte "Sichtbarkeit" möglicher Maßnahmen extrem gut zum Ausdruck kommen kann. Dabei müssen jedoch drei grundlegende Prinzipien beachtet werden:

1)

Die Aktionspläne müssen zwingend mit anderen politischen Maßnahmen flankiert bzw. mit bestehenden kombiniert werden, damit Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den Grundeigentümern und Bewirtschaftern ermöglichen, entsprechend wirksame LULUCF-Maßnahmen in wirtschaftlich sinnvoller Weise – und nicht allein zu deren Lasten – umzusetzen. Denn so wie heute vielfach Naturschutzmaßnahmen Geld kosten und keines erwirtschaften, also ökonomisch unattraktiv sind, sind auch Klimaschutzmaßnahmen (wie die Erhaltung von Feuchtflächen mit hohem organischen Anteil) ökonomisch oft uninteressant. Ein von der EU zu erarbeitender Rahmen muss den Erzeugern in der EU Anreize bieten und Impulse geben, um die vereinbarten Ziele zu erreichen, ähnlich wie es das Emissionshandelssystem tun soll, in das die EU den LULUCF-Bereich bewusst nicht integrieren möchte.

2)

Sowohl die Aktionspläne als auch die Kontroll- und Berichterstattungsverfahren müssen so konzipiert werden, dass sie sowohl von den Grundeigentümern und Bewirtschaftern als auch den behördlichen Stellen mit minimalistischem Verwaltungsaufwand umgesetzt werden können.

3)

Sämtliche von der EU gesetzten Vorgaben und Maßnahmen müssen zweifelsfrei mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang stehen.

1.8

Nach Ansicht des Ausschusses müssen das Klimaschutzpotenzial des LULUCF-Sektors gefördert und die Klimaschutzbemühungen der Landwirte sichtbarer gemacht werden. Dieser Sektor sollte nicht für sich allein, sondern in einem integrierten Ansatz unter Nutzung von Synergien mit bestehenden politischen Strategien auf EU- und auf nationaler Ebene betrachtet werden. Der Ausschuss hebt hervor, dass unnötiger Verwaltungsaufwand oder Doppelarbeit vermieden und den einzelstaatlichen Gegebenheiten und Zuständigkeiten auf jeder Ebene Rechnung getragen werden muss. Die EU-Klimaschutzpolitik sollte auf der aktiven Bewirtschaftung und Nutzung der EU-Wälder sowie einer verstärkten Nutzung des erneuerbaren und nachhaltigen Rohstoffs Holz als kosteneffiziente Mittel für den Klimaschutz aufbauen.

1.9

Der Ausschuss begrüßt den Willen der EU, über die Vereinbarungen von Kopenhagen, Cancún und Durban hinauszugehen, und ihr Angebot, die Treibhausgasemissionen um 30 % zu reduzieren, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt werden, fordert gleichzeitig jedoch, sehr behutsam Rücksicht auf die derzeitige wirtschaftliche Lage in der EU zu nehmen. Außerdem muss die EU Druck auf die anderen Vertragsparteien der UN-Klimarahmenkonvention zur Durchführung vergleichbarer Maßnahmen ausüben, um die Verlagerung von CO2-Emissionen ("carbon leakage") in Regionen zu vermeiden, die aus ökologischer Sicht noch sensibler als die EU sind.

1.10

Angesichts der laufenden Vorbereitungen für die Gestaltung eines zweckdienlichen GAP-Rahmens für den kommenden Finanzierungszeitraum sollte abschließend darauf hingewiesen werden, dass dieser Vorschlag sorgfältig mit der Gemeinsamen Agrarpolitik und weiteren EU-Politiken verbunden werden muss. Der im Boden gebundene Kohlenstoff wurde in den politischen Bewertungen schrittweise stärker berücksichtigt, sodass Klimaschutz bzw. Anpassung an den Klimawandel auch in der Land- und Forstwirtschaft verstärkt ein Thema geworden sind. Der Ausschuss begrüßt ausdrücklich, dass der Vorschlag keine Verpflichtungen zur Emissionsminderung für die Land- und Forstwirtschaft enthält, die einseitig zu Lasten der Land- und Forstwirte gehen würden. Für eine Verbesserung der nationalen Verzeichnisse werden nur geringfügige Investitionen in den Mitgliedstaaten notwendig sein.

2.   Der politische Hintergrund

2.1

Der Kommissionsvorschlag enthält neue Elemente in Bezug auf das Kyoto-Protokoll und die Ergebnisse von Durban (2).

2.1.1

Die Sachlage ist heute so, dass die Emissionen und der Abbau von Treibhausgasen im LULUCF-Sektor zwar nicht auf das THG-Emissionsreduktionsziel (20 %) der EU für 2020 angerechnet werden, jedoch zum Teil unter das quantifizierte Emissionsbegrenzungs- und -reduktionsziel der Union gemäß Artikel 3 Absatz 3 des Kyoto-Protokolls fallen. Deshalb ist es notwendig, gemeinsame Berechnungsmethoden aufzustellen, um sowohl die Emissionsmengen als auch die Emissionssenken genau zu berechnen und in die Berichterstattungspflichten der EU einzubauen.

2.1.2

Daher muss jeder Legislativvorschlag für eine verpflichtende Berichterstattung über Acker- und Weidebewirtschaftung den Beschlüssen entsprechen, die die Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen auf ihrer 17. Vertragsstaatenkonferenz (COP 17) in Durban getroffen haben.

2.1.3

In Bezug auf "Waldbewirtschaftung" war eine Anrechnung seitens der Mitgliedstaaten vor der COP 17 nicht verpflichtend, da von der sofortigen Oxidation aller geernteten Biomasse ausgegangen wurde. Der Ausschuss begrüßt den EU-Vorschlag zur Aufnahme geernteter Holzprodukte (HWP) in die Anrechnungsvorschriften, d.h. die Nutzung des Kohlenstoffvorrats des HWP-Speichers. Dadurch kann der Beitrag von Holz und Holzprodukten zum Klimaschutz ausgeweitet werden.

2.1.4

Zur Erhöhung des (im Kommissionsvorschlag anerkannten) Potenzials der Forstwirtschaft für die Förderung des Klimaschutzes können Maßnahmen wie längere Umtriebszeiten, Vermeidung von Kahlschlägen (wie in der Begründung erläutert) und Umstellungen naturbelassener Wälder nicht allgemein angewendet werden, da sie von der Art und der Alterung des Baumbestandes im Rahmen einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung abhängen. Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass dieser Aspekt in dem Legislativvorschlag derzeit nicht berücksichtigt wird.

2.1.5

Kork ist ein sehr wichtiges Produkt in der Kategorie der "geernteten Holprodukte" (HPW), da er mehrere Vorteile bietet: Kork ist ein Naturprodukt, das auf umweltfreundliche Weise aus erneuerbaren Ressourcen gewonnen wird, ohne Bäume zu fällen; die Bedeutung der Korkindustrie für die Gewährleistung der ökologischen Stabilität des sensiblen und gefährdeten Ökosystems im Mittelmeerraum ist hinreichend bewiesen; und die Korkindustrie ist ein wichtiger Arbeitgeber und eine bedeutende Einnahmequelle.

2.2

In dem Kommissionsvorschlag ist festgehalten, dass die Mitgliedstaaten Konten führen, in denen alle Treibhausgasemissionen und der gesamte Treibhausgasabbau infolge von Tätigkeiten bei der Ackerbewirtschaftung erfasst werden.

2.2.1

Die Liste der "Kohlenstoffspeicher" umfasst laut Leitlinien des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und sonstige Landnutzung (agriculture, forestry and other land use, LULUCF) "überirdische Biomasse". Das Problem bei der Anrechnung "überirdischer Biomasse" aus Ackerland beruht auf der Unterscheidung zwischen Grünpflanzen (ausschließlich Anrechnung des Kohlenstoffbestands im Boden) und Holzpflanzen (Anrechnung der Biomasse). Somit wird zwar der hohe Wert von Dauerkulturen wie Oliven- und Obstbäumen sowie Weinstöcken anerkannt, jedoch der CO2-Abbau durch einjährige Kulturen ausgeklammert, da als Referenzwert die Veränderungen des Kohlenstoffbestands seit 1990 herangezogen werden. Die Bedeutung landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Raps (als Nahrungs- und Futtermittel sowie Treibstoff), Futterrüben (als Futtermittel und Treibstoff) oder Gemüse (als Nahrungsmittel) wird daher nicht berücksichtigt, da sie durch eine Änderung im Kohlenstoffbestand gefährdet werden könnte. Dies ist darauf zurückzuführen, dass einjährige Kulturen gemäß dem Weltklimarat und dem Kyoto-Protokoll als CO2-neutral gelten.

2.2.2

In den landwirtschaftlichen Bereichen, in denen das Potenzial zur Steigerung des Abbaus nicht – wie etwa bei der Nutzung geernteter Holzprodukte – ins Gewicht fällt, könnte die Anrechnung für landwirtschaftliche Flächen in einigen Fällen problematisch sein und sich negativ auswirken. Daher muss die Anrechnung sowohl von Emissionen als auch von Kohlenstoffspeichern eindeutig festgelegt werden.

2.2.3

In bestimmten Gebieten mit klimabedingten Beeinträchtigungen, in denen eine von Regen bewässerte Landwirtschaft den Lebensunterhalt der Landwirte sichert und die ländliche Bevölkerung unterstützt, oder in Gebieten, in denen einige Dauerkulturen aufgrund ihrer niedrigen Rentabilität gefährdet sind (z.B. Olivenbäume in Südeuropa), könnte das Risiko eines Nullwachstumspotenzials auch zu Flächenstilllegung und Desinteresse an der weiteren Landbewirtschaftung führen. In Anhang IV des Kommissionsvorschlags sind Maßnahmen enthalten, die für die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Aktionspläne in Frage kommen. Überschneidungen mit Maßnahmen wie den "Agrarumweltmaßnahmen" im Rahmen der zweiten Säule der GAP müssen vermieden werden, indem diese messbar gemacht werden.

2.2.4

Der Ausschuss begrüßt die Aufstellung nationaler Aktionspläne, weil darin die in Ziffer 1.4 geforderte "Sichtbarkeit" möglicher Maßnahmen extrem gut zum Ausdruck kommen kann. Dabei müssen jedoch drei grundlegende Prinzipien beachtet werden:

1)

Die Aktionspläne müssen zwingend mit anderen politischen Maßnahmen flankiert bzw. mit bestehenden kombiniert werden, damit Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den Grundeigentümern und Bewirtschaftern ermöglichen, entsprechend wirksame LULUCF-Maßnahmen in wirtschaftlich sinnvoller Weise – und nicht allein zu deren Lasten – umzusetzen. Denn so wie heute vielfach Naturschutzmaßnahmen Geld kosten und keines erwirtschaften, also ökonomisch unattraktiv sind, sind auch Klimaschutzmaßnahmen (wie die Erhaltung von Feuchtflächen mit hohem organischem Anteil) ökonomisch oft uninteressant. Ein von der EU zu erarbeitender Rahmen muss den Erzeugern in der EU Anreize bieten und Impulse geben, um die vereinbarten Ziele zu erreichen, ähnlich wie es das Emissionshandelssystem tun soll, in das die EU den LULUCF-Bereich bewusst nicht integrieren möchte.

2)

Sowohl die Aktionspläne als auch die Kontroll- und Berichterstattungsverfahren müssen so konzipiert werden, dass sie sowohl von den Grundeigentümern und Bewirtschaftern als auch den behördlichen Stellen mit minimalistischem Verwaltungsaufwand umgesetzt werden können.

3)

Sämtliche von der EU gesetzten Vorgaben und Maßnahmen müssen zweifelsfrei mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang stehen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Ziel des Kommissionsvorschlags ist die Einführung eines konsequenteren Anrechnungssystems, mit dem Empfehlungen aus internationalen Übereinkünften in die EU-Rechtsvorschriften übernommen werden. Der Vorschlag spiegelt die wichtigsten Elemente der überarbeiteten Anrechnungsvorschriften für LULUCF wider, die im Dezember 2011 in Durban vereinbart worden waren und die ab Beginn eines zweiten Verpflichtungszeitraums des Kyoto-Protokolls gelten werden. Einige seiner Vorschriften weichen jedoch von den in Durban getroffenen Entscheidungen ab, so beispielsweise die verbindliche Anrechnung von Tätigkeiten zur Bewirtschaftung von Acker- und Weideflächen und Bestimmungen in Bezug auf die Anrechnung im Falle natürlicher Störungen.

3.2

Der Vorschlag für die verbindliche vollständige Anrechnung von THG-Emissionen und -Abbau aufgrund von Acker- und Weidebewirtschaftung durch die Mitgliedstaaten bedeutet zum einen eine Erhöhung des Verwaltungsaufwands auf nationaler Ebene und zum anderen eine erhebliche Anstrengung seitens der Europäischen Kommission zur Überwachung in den Mitgliedstaaten. Die in diesem Vorschlag enthaltenen Anrechnungsvorschriften und Referenzwerte sind von grundlegender Bedeutung für die korrekte Durchsetzung dieses Beschlusses. Der Ausschuss befürchtet mögliche Überschneidungen zwischen den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der UN-Klimarahmenkonvention und den EU-Rechtsvorschriften.

3.3

Die EU-Wälder bieten wesentliche sozioökonomische Vorteile und grundlegende Ökosystemdienstleistungen, und sie stärken die Kapazität zur Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung an seine Auswirkungen, da sie jährlich 10 % aller CO2-Emissionen in der EU abbauen. Sie liefern eine breite Palette nachhaltiger und intelligenter biobasierter Produkten. Darüber hinaus wird die erneuerbare Energie in der EU zu 50 % aus Holz erzeugt. Der Ausschuss unterstreicht die multifunktionale Rolle der EU-Wälder in der Gesellschaft und fordert die Europäische Kommission auf, einen umfassenden Ansatz für diese Thematik sowohl unter dem Aspekt Klimaschutz als auch unter Berücksichtigung der in der EU praktizierten nachhaltigen Forstwirtschaft auszuarbeiten. Wälder sind weitaus mehr als nur Kohlenstoffspeicher; dies sollte in Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden.

4.   Anmerkungen

4.1

Der Ausschuss weist darauf hin, dass Land- und Fortwirtschaft über das Potenzial zur Abfederung des Klimawandels verfügen. Allerdings ist dieses Potenzial durch natürliche Gegebenheiten und Störungen, Sättigungsgefahr, komplexe Flüsse, unzureichende Kapazitäten zur Emissionsüberwachung und erhebliche Ungewissheiten in Bezug auf die Anrechnungsmethoden begrenzt.

4.2

Der Ausschuss nimmt die Ergebnisse der von der Gemeinsamen Forschungsstelle durchgeführten Studie zur Kenntnis und respektiert deren Standpunkt zur Durchführbarkeit; dennoch müssen wissenschaftliche Erkenntnisse und Überwachungsmethoden präzisiert werden, um das Vertrauen in Treibhausgasinventare in Verbindung mit land- und forstwirtschaftlichen Böden zu stärken. So müssen ihre Genauigkeit und Kohärenz erhöht werden. Außerdem müssen Klimaschutzoptionen in einer ganzheitlichen Betrachtung und unter Anwendung eines integrierten Ansatzes untersucht werden. In diesem Zusammenhang verweist der Ausschuss auf die Erfahrungen einiger Mitgliedstaaten wie Dänemark und Portugal, deren Berichterstattung in Bezug auf landwirtschaftliche Tätigkeiten voll im Einklang mit der UN-Klimarahmenkonvention steht. Er erachtet es als notwendig, auf die Komplexität der Emissionsmessung im LULUCF-Sektor hinzuweisen, und kann sich nicht der eindeutigen Überzeugung anschließen, dieser Sektor sollte in die Reduktionsziele der EU einbezogen werden sollte.

4.3

Der Kommissionsvorschlag enthält keine Festlegung, den LULUCF-Sektor zum jetzigen Zeitpunkt in die Klimaschutzverpflichtungen der EU einzubeziehen, er wird vielmehr als erster Schritt in diese Richtung dargestellt, indem ein geeigneter politischer Rahmen festgelegt wird. Der Ausschuss bedauert, dass die Effekte aus Land- und Forstwirtschaft durch das Ersetzen fossiler Brennstoffe und nichterneuerbarer Materialien durch Biokraftstoffe und Biomasse in dem Vorschlag ausgeklammert werden; dies sollte in den Folgeetappen geschehen, die auch Bioökonomie und Energieprozesse in Verbindung mit dem LULUCF-Sektor zum Gegenstand haben sollten. Dieser Bereich sollte nicht für sich allein, sondern in einem integrierten Ansatz unter Nutzung von Synergien mit bestehenden politischen Strategien auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene betrachtet werden. Die Mitgliedstaaten können selbst am besten über geeignete Maßnahmen beschließen.

Brüssel, den 19. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Entscheidung Nr. 406/2009/EG.

(2)  Konferenz der Vertragsparteien des Kyoto-Protokolls, COP 17, Dezember 2012, Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen.


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/89


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik“

COM(2012) 277 final — 2012/143 (COD)

2012/C 351/20

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 14. Juni 2012 bzw. am 15. Juni 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik

COM(2012) 277 final — 2012/143 (COD).

Da der EWSA dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 148 Ja-Stimmen bei 8 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 des Rates über ein Gemeinschaftssystem zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei“

COM(2012) 332 final — 2012/162 (COD)

2012/C 351/21

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 2. Juli 2012 bzw. am 10. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 des Rates über ein Gemeinschaftssystem zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei

COM(2012) 332 final — 2012/162 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 141 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 7 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/91


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2008/971/EG des Rates in Bezug auf die Aufnahme von forstlichem Vermehrungsgut der Kategorie ‚qualifiziert‘ in den Geltungsbereich der genannten Entscheidung sowie die Aktualisierung von Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen Behörden“

COM(2012) 355 final — 2012/172 (COD)

2012/C 351/22

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen jeweils am 5. Juni 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2008/971/EG des Rates in Bezug auf die Aufnahme von forstlichem Vermehrungsgut der Kategorie ‚qualifiziert‘ in den Geltungsbereich der genannten Entscheidung sowie die Aktualisierung von Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen Behörden

COM(2012) 355 final — 2012/172 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 145 gegen 3 Stimmen bei 5 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/92


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2003/17/EG des Rates durch Verlängerung ihrer Geltungsdauer und Aktualisierung des Namens eines Drittlands und der Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen Behörden“

COM(2012) 343 final — 2012/0165 (COD)

2012/C 351/23

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 5. Juni 2012 bzw. am 23. Juli 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Entscheidung 2003/17/EG des Rates durch Verlängerung ihrer Geltungsdauer und Aktualisierung des Namens eines Drittlands und der Namen der für Zulassung und Kontrolle der Erzeugung zuständigen Behörden

COM(2012) 343 final — 2012/0165 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 142 gegen 3 Stimmen bei 8 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON