ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.229.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 229

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
31. Juli 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

481. Plenartagung am 23. und 24. Mai 2012

2012/C 229/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der digitale Markt als Wachstumsmotor (Sondierungsstellungnahme)

1

2012/C 229/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt (Initiativstellungnahme)

7

2012/C 229/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Horizont 2020: Fahrpläne für das Älterwerden (Initiativstellungnahme)

13

2012/C 229/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Monitoringbericht 2011 zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie: Bewertung des EWSA (Initiativstellungnahme)

18

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

481. Plenartagung am 23. und 24. Mai 2012

2012/C 229/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen RaumCOM(2011) 782 final

24

2012/C 229/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020COM(2011) 398 final — 2011/0177 (APP) und der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Haushalt für Europa 2020COM(2011) 500 final

32

2012/C 229/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Partnerschaften im Bereich Forschung und InnovationCOM(2011) 572 final

39

2012/C 229/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Initiative für soziales Unternehmertum — Schaffung eines Ökosystems zur Förderung der Sozialunternehmen als Schlüsselakteure der Sozialwirtschaft und der sozialen InnovationCOM(2011) 682 final

44

2012/C 229/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Kleine Unternehmen — große Welt: Eine neue Partnerschaft, um KMU zu helfen, ihre Chancen im globalen Kontext zu nutzen COM(2011) 702 final

49

2012/C 229/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Europäische Fonds für soziales UnternehmertumCOM(2011) 862 final — 2011/0418 (COD)

55

2012/C 229/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein zusätzliches Forschungsprogramm für das ITER-Projekt (2014-2018)COM(2011) 931 final — 2011/0460 (NLE)

60

2012/C 229/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG und zur Koordinierung der Rechts– und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und der Richtlinie 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds im Hinblick auf den übermäßigen Rückgriff auf RatingsCOM(2011) 746 final — 2011/0360 (COD)

64

2012/C 229/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union (Neufassung) COM(2012) 64 final — 2012/0027 (COD)

68

2012/C 229/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG)COM(2011) 735 final

72

2012/C 229/15

Stellungnahme der Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)COM(2011) 681 final

77

2012/C 229/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das DrogenproblemCOM(2011) 689 final

85

2012/C 229/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)COM(2012) 11 final — 2012/011 (COD)

90

2012/C 229/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in EuropaCOM(2011) 900 final

98

2012/C 229/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen SicherheitCOM(2011) 841 final

103

2012/C 229/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Strategie der Europäischen Union für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012-2015COM(2012) 6 final

108

2012/C 229/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der Bestandserhaltung gegenüber Ländern, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassenCOM(2011) 888 final — 2011/0434 (COD)

112

2012/C 229/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2000/60/EG und 2008/105/EG in Bezug auf prioritäre Stoffe im Bereich der WasserpolitikCOM(2011) 876 final — 2011/0429 (COD)

116

2012/C 229/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Heimtieren zu anderen als HandelszweckenCOM(2012) 89 final — 2012/0039 (COD) und dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/65/EWG des Rates hinsichtlich der tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel innerhalb der Union mit Hunden, Katzen und Frettchen und deren Einfuhr in die UnionCOM(2012) 90 final — 2012/0040 (COD)

119

2012/C 229/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine europäische Perspektive für Reisende: Mitteilung über die Rechte der Benutzer aller VerkehrsträgerCOM(2011) 898 final

122

2012/C 229/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Energiefahrplan 2050COM(2011) 885 final

126

2012/C 229/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel / Der künftige Ansatz für die EU-Budgethilfe an DrittstaatenCOM(2011) 637 final und COM(2011) 638 final

133

2012/C 229/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/66/EG über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren hinsichtlich des Inverkehrbringens von Cadmium enthaltenden Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sindCOM(2012) 136 final — 2012/0066 (COD)

140

2012/C 229/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1999/4/EG, 2000/36/EG, 2001/111/EG, 2001/113/EG und 2001/114/EG in Bezug auf die der Kommission zu übertragenden BefugnisseCOM(2012) 150 final — 2012/0075 (COD)

143

2012/C 229/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von RindfleischCOM(2012) 162 final — 2011/0229 (COD)

144

2012/C 229/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen GebrauchCOM(2012) 147 final — 2012/0074 (NLE)

145

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

481. Plenartagung am 23. und 24. Mai 2012

31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der digitale Markt als Wachstumsmotor“ (Sondierungsstellungnahme)

2012/C 229/01

Berichterstatterin: Laure BATUT

Der dänische Ratsvorsitz beschloss am 11. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:

Der digitale Markt als Wachstumsmotor

(Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 141 gegen 7 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Die digitale Wirtschaft verändert tiefgreifend alle Gewohnheiten und berührt das gesamte wirtschaftliche und soziale Gefüge unserer Gesellschaften. In der digitalen Wirtschaft kommt es auf Sicherheit und Interoperabilität an. Die Digitale Agenda ist eine Leitinitiative im Rahmen der Europa-2020-Strategie. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich bereits in zahlreichen Stellungnahmen zu den Auswirkungen der digitalen Medien in unserer Gesellschaft geäußert (1).

1.2   Im Bewusstsein der Problematik hat der dänische Ratsvorsitz den Ausschuss ersucht, zu ergründen, was getan werden muss, damit die digitalen Medien zum Wachstumstreiber werden. Nach Meinung des Ausschusses müssen der soziale und der zivile Dialog integraler Bestandteil der Überlegungen, Beratungen und Partnerschaften im Zusammenhang mit der digitalen Wirtschaft sein.

1.3   Der Markt kann nicht Selbstzweck sein (2). Die digitalen Medien müssen in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden, ohne die wirtschaftlichen, sozialen, menschlichen und kulturellen Errungenschaften zu gefährden. Onlineproduktion, Internethandel und die Entwicklung der digitalen Wirtschaft verändern den Arbeitsmarkt. Der Ausschuss plädiert für erhöhte Sichtbarkeit, für mehr Informationen für Unternehmer und Verbraucher und für einschlägige Garantien für alle.

1.4   Die EU hat den Anschluss verloren – bei Entwicklung und Internetdiensteangebot liegen die USA vorn, bei der Herstellung Asien. Sie müsste schleunigst ihre digitale Strategie komplett umsetzen und in ihrem Ansatz sowohl den kurzfristigen Herausforderungen (wie Rechte des geistigen Eigentums) und langfristigen Problemen (Bevölkerungsalterung) Rechnung tragen. Vorrang gebührt nach Ansicht des Ausschusses der gezielten Förderung von wirtschaftlicher Intelligenz, dem Aufbau europäischer marktführender Unternehmen, deren Entscheidungs-zentralen, Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in der EU angesiedelt sind, und die letztlich allen Bürgern zugute kommen, dem Aufbau von Vertrauen, der Steigerung der Kapazitäten aller, der Entwicklung der Produktivität und der Einbeziehung der digitalen Medien in die Strategie für nachhaltiges Wachstum.

Der Ausschuss spricht folgende Empfehlungen aus:

2.   Digitale Medien als Wachstumstreiber

2.1   Im gesamten EU-Gebiet einschließlich der überseeischen Länder und Gebiete müssen rasch die notwendigen Infrastrukturen auf- bzw. ausgebaut werden (3). Die Netzbetreiber müssen für alle, auch abgelegene Gebiete, universellen Internetzugang gewährleisten. Die Mitteilung der Kommission zur Stärkung des Vertrauens in den digitalen Binnenmarkt (COM(2011) 942 final) wird womöglich nicht ausreichen.

2.2   Der barrierefreie Zugang zu Soft- und Hardware für alle  (4) und eine entsprechende Schulung im Umgang damit sind grundlegende Voraussetzungen. Ein Viertel der Bevölkerung hat das Rentenalter erreicht. Ihrem Wirtschaftspotenzial muss Rechnung getragen werden. Der barrierefreie Zugang muss ein vorrangiger Punkt auf der Agenda sein.

2.3   Für die IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) sollten unter Mitwirkung der Industrie, der KMU und aller weiteren Interessenträger der Zivilgesellschaft (5) Normen festgelegt werden, um die vollständige Interoperabilität und Kompatibilität der IKT-Dienste und –Anwendungen sicherzustellen und eine modernisierte IKT-Normungspolitik zur Unterstützung der EU-Politiken zu ermöglichen (Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Oktober 2010 zur Zukunft der europäischen Normung, Punkt 69 und 72 (6). Der Ausschuss hält es für sinnvoll, die an der Entwicklung von Normen beteiligten KMU und gesellschaftlichen Akteure finanziell zu unterstützen.

2.4   Der Verbund der europäischen Netze muss bewerkstelligt werden, um die digitale Wirtschaft voranzubringen und das Waren- und Dienstleistungsangebot zu erweitern (Stellungnahme CESE 490/2012, TEN/469).

2.5   Die Interoperabilität des Angebots muss auf EU-Ebene geregelt werden. Durch eine Normung können sich die europäischen Interessenträger neue globale Märkte erschließen.

2.6   Der Ausschuss hat sich bereits für ein offenes Internet und Netzneutralität ausgesprochen (7).

2.7   Der Binnenmarkt muss alle möglichen Nutzungsgarantien bieten, um das Nachfragepotenzial über die Nutzung von freier und Open-Source-Software freizusetzen.

2.8   Der Ausschuss befürwortet die Entwicklung gemeinsamer Schnittstellenstandards.

2.9   Der Ausschuss hält es für unabdingbar, eine gute Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen und grenzüberschreitende öffentliche elektronische Behördendienste einzurichten, was durch eine generelle Nutzung des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI) erleichtert werden könnte. Diese Entwicklung erfordert eine europäische multilaterale Steuerung (8).

2.10   Dem Internethandel wäre eine Angleichung der nationalen Mehrwertsteuersätze förderlich: Dies wäre nach Meinung der Ausschusses ein echter Vorteil für Unternehmen und Verbraucher, sofern nicht eine Angleichung nach oben betrieben wird.

2.11   Betreiber und Verbraucher müssen auf einfache Weise Zugang zu allen Informationen über ihre Rechte finden, um unbesorgt grenzübergreifende Geschäfte tätigen zu können.

2.12   Der Ausschuss hält es für erforderlich, dass die Vertreter der Zivilgesellschaft (im Einklang mit der Europa-2020-Strategie „Beteiligte und Zivilgesellschaft“) am Aufbau der europäischen digitalen Wirtschaft mitwirken und in den Dialog und die partnerschaftliche Zusammenarbeit einbezogen werden. Die digitale Wirtschaft erfasst alle Gesellschaftsbereiche. Jedes Projekt sollte eine digitale und eine soziale Dimension haben.

2.13   Die Entwicklung der digitalen Gesellschaft begünstigt eine Dienstleistungswirtschaft, die zu Deindustrialisierung und letztlich zum Verlust von Arbeitsplätzen führen kann. Auf der Suche nach neuen Märkten muss in Europa technologische Innovation und Fertigung im Verbund erfolgen. Die Start-up-Unternehmen im IKT-Bereich sollten in der Lage sein, ihr Potenzial für rasches Wachstum selbst auszuschöpfen. Nach Ansicht des Ausschusses sollte dringend geklärt werden, an was es mangelt, um große europäische Internetdiensteanbieter und weltweit bekannte Internet-Verkaufsportale hervorzubringen.

2.14   Fortbildung und lebensbegleitendes Lernen machen Arbeitsplätze sicherer. Digitale Medien können dabei hilfreich sein, insbesondere in abgelegenen Gebieten oder in Situationen der Hilfsbedürftigkeit. Geeignete Schulungen im Umgang mit den digitalen Medien sind allgemein erforderlich.

2.15   Bis 2015 werden 95 % aller Arbeitsplätze E-Kompetenzen voraussetzen. Der Ausschuss setzt sich dafür ein, dass negative Auswirkungen auf das Arbeitsleben vermieden werden, wie bspw.:

die Belastung der Arbeitnehmer durch fortwährende „Dringlichkeit“ und ihre quasi-polizeiliche Überwachung;

Telearbeit zu Niedrigstpreisen unter Umgehung des sozialen Dialogs, der Gewerkschaften und der Tarifverträge zum Nachteil der Beschäftigten.

In der digitalen Wirtschaft sollte wie in allen anderen Bereichen auch für menschenwürdige Arbeitsplätze gesorgt werden, da dies letztlich die Nachfrage fördert.

3.   Wachstumsgrundlage Vertrauen in die digitale Wirtschaft

3.1   Grundrechte

3.1.1   Der Ausschuss plädiert für den Schutz der Grundrechte und der Sicherheit der Bürger, ohne dass dadurch ihre Freiheit eingeschränkt wird. 2012 steht die Ausarbeitung einer gesamteuropäischen Strategie für die Internetsicherheit an. Dem Europäischen Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität, dessen Errichtung bis 2013 geplant ist, wird eine besondere Bedeutung zukommen. Der Ausschuss fordert schließlich, dass die EU die Entwicklung einer großen europäischen Internet-Suchmaschine nach dem Vorbild von „Google“ fördert.

3.1.2   Der Ausschuss befasst sich in einer Stellungnahme mit dem Schutz personenbezogener Daten, einem Thema von großer Tragweite (COM(2012) 10 final). Er hat bereits das Recht auf Vergessen befürwortet (9) und sich zu den Rechten der Internetnutzer, insbesondere der Kinder und Jugendlichen und der schutzbedürftigen Personenkreise geäußert. Er hofft, dass der Vorschlag der Kommission baldmöglichst angenommen und seinen Bemerkungen Rechnung getragen wird, auch wenn sich bereits Widerstände bei Internetdiensteanbietern aus Drittstaaten regen.

3.1.3   Der Ausschuss erwartet, dass die EU Innovation fördert und das eigene kreative Schaffen schützt. Das europäische Patent, eine Chance für den digitalen Binnenmarkt, muss schleunigst eingeführt werden.

3.2   Entwicklung des elektronischen Handels

3.2.1   Beim Warenangebot muss die Marktzersplitterung beendet und grenzüberschreitende Online-Einkäufe müssen gefördert werden, um Käufern und Verkäufern Zugang zu wettbewerbsfähigen Preisen zu bieten (fünftes Verbraucherbarometer der EU-Kommission http://ec.europa.eu/consumers/consumer_research/editions/cms6_en.htm).

3.2.2   Die Interoperabilität des Angebots muss auf EU-Ebene geregelt werden. Durch eine Normung können sich die europäischen Interessenträger neue globale Märkte erschließen.

3.2.3   Der Ausschuss hält es für dringend erforderlich, die Probleme im Zusammenhang mit Online-Einkäufen zu lösen und Ungleichbehandlungen aufgrund der Nationalität oder des Wohnorts zu beseitigen und allen das gleiche Recht auf Zugang zu gewähren.

3.2.4   Die Anwender müssen einfachen Zugang zu Informationen über ihre Rechte (COM(2011) 794 final - Online-Streitbeilegung) und die möglichen Rechtsbehelfe haben. Die Einrichtung zentraler Online-Anlaufstellen ist eine Notwendigkeit. Der Ausschuss (10) begrüßt, dass durch ein solches System weder gerichtliche Verfahren ersetzt noch Verbrauchern oder Unternehmern das Recht genommen wird, den Schutz ihrer Rechte vor Gericht einzufordern. Die Kommission sollte die intelligenten Schnittstellen wie BATNA (Best Alternative to a Negotiated Agreement – ermittelte beste Alternative zu einem geplanten Verhandlungsziel) in ihre Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr 2000/31/EG aufnehmen, um die Normen der ersten Generation zu aktualisieren. Die Möglichkeit für Verbraucher, eine wirksame Beilegung der Streitigkeiten  (11) zu erreichen, die im Rahmen von Geschäftsbeziehungen entstehen können, ist wichtig, um die Online-Nachfrage zu steigern. Die Anwender sollten klar und verständlich über ihre Rechte informiert werden. Alle Arten von Online-Streitigkeiten sollten erfasst werden.

3.2.5   Die europäischen Rechtstexte müssen den Verbrauchern ein ebenso hohes Vertrauen in den digitalen Markt einflößen, wie sie es in ihrem Mitgliedstaat voraussetzen könnten. Aufgeklärte Verbraucher benötigen Informationen über den Markt. Die Verbreitung eines Verbraucherleitfadens über digitale Medien wäre diesbezüglich hilfreich.

Mit Blick auf die geplante Richtlinie 2011/942, fordert der Ausschuss die EU-Behörden auf, Initiativen in folgenden Bereichen zu ergreifen:

Information der Internetdiensteanbieter und Schutz der Internetnutzer,

sichere Zahlungs- und Liefersysteme,

Bekämpfung der übermäßig häufigen Missbrauchsfälle.

3.2.6   Mittel wie:

die gesicherte elektronische Signatur;

der elektronische Zeitstempel auf Dokumenten;

die Interoperabilität der elektronischen Signatursysteme;

die gegenseitige Anerkennung der Zertifizierungsgremien (SSCD - „Secure Signature Creation Devices“) und der Zulassung der Zertifizierungsdiensteanbieter;

das System zur Zusammenarbeit im Verbraucherschutz (CPCS) und die Harmonisierung der Rechtsbehelfe (Richtlinie 2011/83/EU und Dokument COM(2012) 100 final)

der Bericht über die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden;

die Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz.

dürften, wenn sie allgemein eingeführt werden, ein Vertrauensklima fördern.

3.2.7   Der Ausschuss befürwortet nach wie vor kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren, um in den Fällen kollektive Rechtsbehelfe zu ermöglichen, in denen zahlreiche Verbraucher vom selben Rechtsverstoß betroffen sind. Dadurch würde der bestehende Rechtsschutz durch alternative gerichtliche Streitbeilegungsverfahren ergänzt (12) (s. Richtlinie 98/27/EG vom 19. Mai 1998). Im Binnenmarkt muss ein redlicher Wettbewerb gewährleistet werden (AEUV, Präambel, 4. Absatz). Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert (Artikel 47).

3.2.8   Der Ausschuss begrüßt die Mitteilung der Kommission über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht  (13). Die Verbraucher benötigen Rechtssicherheit. Der Ausschuss ist erfreut darüber, dass die Kommission das von ihm vorgeschlagene fakultative zweite Vertragsrecht aufgegriffen hat, hätte jedoch zwei getrennte Rechtstexte bevorzugt (B2B zum einen, B2C zum anderen).

3.2.9   Der Ausschuss erwartet mit Spannung die von der Kommission (COM(2011) 777 final/2) angekündigte Europäische Verbraucheragenda, in deren Mittelpunkt unter anderem die Auswirkungen der digitalen Revolution auf das Verbraucherverhalten stehen werden. Ein gesamteuropäischer Rahmen für die gegenseitige Anerkennung der elektronischen Identifizierung und Authentifizierung sowie über digitale Signaturen ist erforderlich, um das Volumen des elektronischen Handels zu verdoppeln und sein Potenzial als Wachstumstreiber freizusetzen. (COM(2011) 942 final).

3.3   Sicherung des Handels

3.3.1   Zur Bekämpfung von Piraterie und Nachahmungen sollen im Rahmen des Aktionsprogramms für Zoll und Steuern „FISCUS“ (14) Online-Kontrollen in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden. Nach Meinung des Ausschusses müssen die Zollverwaltungen personalmäßig verstärkt und mehr Kontrollen durchgeführt werden. Das Profil der Europäischen Beobachtungsstelle für Marken- und Produktpiraterie könnte geschärft werden, indem ihre Handlungsmöglichkeiten den wirtschaftlichen Herausforderungen und den öffentlichen Sicherheitsbelangen entsprechend erweitert werden.

3.3.2   Das geltende Recht sollte die Verwaltungsbehörden dabei unterstützen, suspekte finanzielle Transaktionen im Internet zu untersuchen. Die Zollverwaltungen können beauftragt werden, das kulturelle und immaterielle europäische Erbe zu schützen und die Unterstützung der KMU über die Datenbank zum Marktzugang (MADB), den Export-Helpdesk oder das einheitliche virtuelle Informationsportal zu verstärken.

3.4   Für die Bürger wünscht der Ausschuss eine Charta der Governance und Transparenz. Er erachtet die Regulierung des elektronischen Handels mitsamt den elektronischen und mobilen Zahlungssystemen als dringlich.

3.4.1   Die Sicherheit der neuen digitalen Zahlungssysteme muss durch öffentliche Normen gewährleistet werden. Derzeit haben nur private Akteure (Betreiber) Einfluss auf die von ihnen festgelegten Normen und ihre Interoperabilität. Der Ausschuss erachtet die Möglichkeit, dass ein Drittland sämtliche europäischen Zahlungsvorgänge kontrollieren kann, als nachteilig.

4.   Förderung von Produktivität und inklusivem Wachstum

4.1   Wachstumsfreundliches Umfeld

4.1.1   Der digitale Binnenmarkt benötigt eine europäische Governance, die gerecht ist und die Bürgerrechte achtet. Ab 2015 sollte die zentrale Anlaufstelle für Waren und Dienstleistungen den Akteuren der europäischen Wirtschaft Unterstützung bieten. Die Unternehmen der digitalen Wirtschaft müssen den CSR-Grundsätzen genügen und am sozialen Dialog teilnehmen.

4.1.2   Der digitale Binnenmarkt ist nach wie vor in nationale Segmente zersplittert. Einheitliche Rechtsvorschriften würden den wirtschaftlichen Akteuren Effizienzgewinne verschaffen. Nach Meinung des Ausschusses sollte die Kommission das Synergiepotenzial ihrer Dienststellen zum Tragen bringen und dadurch die notwendige Führungskraft entfalten, um die Entwicklung der digitalen Medien in der EU voranzutreiben und alle Entwicklungsrückstände aufzuholen; die EU sollte schleunigst eine europäische Entsprechung zum „Silicon Valley“ ins Leben rufen, wo sich konzentriert Talente und öffentliches und privates Kapital ansiedeln können, um aussichtsreiche Joint Ventures zu wagen.

4.1.3   Der Ausschuss verweist auf seine Stellungnahme zum inklusiven digitalen Binnenmarkt, in der er erläutert, wie die Ungleichheiten beim Zugang zum Internet überwunden werden können; er fordert die EU auf, den Zugang zu Hard- und Software als Grundrecht anzuerkennen und die digitalen Medien als Inklusionsinstrument zu begreifen.

4.2   Die Unternehmen und der Wachstumstreiber digitale Medien

4.2.1   Die digitale Wirtschaft muss ein rasches BIP-Wachstum zum Ziel haben, insbesondere durch die Finanzierung von Start-up-Unternehmen. Ein gewisses amerikanisches Start-up-Unternehmen hat mittlerweile einen Wert von ca. 75 Mrd. EUR …. Die Förderung von Innovation setzt ein wissensbasiertes Wirtschaftsmodell voraus und begünstigt die Zunahme der Online-Angebote.

4.2.2   Die Marktakzeptanz neuer Dienste hängt von der E-Kompetenz der KMU  (15) und ihren Interoperabilitätsvoraussetzungen ab. Daher sollten ihre einschlägigen Vorhaben unterstützt werden. Der Ausschuss ersucht den Ratsvorsitz, Bilanz folgender Maßnahmen zu ziehen:

der Partnerschaft zwischen Behörden und führenden IKT-Akteuren;

der Bereitstellung von 300 Mio. EUR für Unternehmen, die energiesparende Infrastrukturen und damit verbundene intelligente Technologien entwickeln.

4.2.3   Elektronische und mobile Bezahldienste: Europa sollte in diesen Bereichen eine marktbestimmende Position einnehmen, wie schon bei der Chipkarte, deren Einführung einen starken Rückgang der Betrugsfälle zur Folge hatte.

4.2.4   Das Projekt SEPA (Single Euro Payments Area – einheitlicher Euro-Zahlungsverkehrsraum; die Verordnung vom Februar 2012 legt den Auslauftermin für die nationalen Zahlverfahren für Überweisungen und Lastschriften und ihre Ersetzung durch europäische Verfahren auf den 1. Februar 2014 fest) erfasst alle wichtigen Zahlungsinstrumente des Massenzahlungsverkehrs. Nach Meinung des Ausschusses sollten Entgelte zwischen Kreditinstituten und Mitgliedstaaten angeglichen werden. Wettbewerb darf keine Innovationen hemmen und auch keine Zusatzkosten für die Verbraucher verursachen.

4.2.5   Der Ausschuss hält es für erforderlich, die KMU durch geeignete Rahmenbedingungen zu unterstützen, um ihnen den Zugang zum digitalen Markt ebenso wie zu anderen Märkten zu ermöglichen.

a)

auf Ebene des Binnenmarkts:

4.2.6.1

Auf europäischer Ebene sollte der Umfang der digitalen Wirtschaft definiert und in Rechnungslegungstandards gefasst werden. Sie könnte digitale und digitalisierbare Güter sowie Güter umfassen, die auf digitale Medien angewiesen sind.

4.2.6.2

Die Unternehmen sollten ihre digitalen Güter in ihrer Bewertung berücksichtigen.

4.2.6.3

Die Messung des realen Einflusses der IKT auf die Unternehmen und den nationalen Wohlstand sollte auf einheitlichen europäischen Kriterien beruhen.

4.2.6.4

Das Statut der Europäischen Privatgesellschaft (2008) (16) (Verordnungsvorschlag COM(2008) 396 final) würde die Entwicklung der KMU durch die Erleichterung ihrer grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeiten fördern.

b)

auf globaler Ebene:

4.2.7.1

Ein industrielles Förderumfeld begünstigt die wissensbasierte Wirtschaft. Es erleichtert Investitionen, den grenzüberschreitenden Einsatz von IKT und die Nutzung der digitalen Medien. Aber die KMU leiden zunächst unter der rechtlichen und technischen Fragmentierung, dem Mangel an Transparenz und häufig ungeeigneten Lieferverfahren.

4.2.7.2

Erfolgsbeispiele wie DiSCwise oder der Aktionsplan Güterverkehrslogistik könnten anderen Unternehmen als Anregung dienen und so zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum (intelligente Verkehrssysteme) beitragen.

4.2.7.3

Globalisierung: Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Erzeugnisse mit hohem Mehrwert zu sichern, müssen in der EU Exportkonsortien und Cluster zur Unterstützung von F+E gegründet werden, die in den Mitgliedstaaten anerkannt sind, um die Internationalisierung der KMU zu fördern (http://ec.europa.eu/enterprise/newsroom/cf/itemlongdetail.cfm?item_id=4968).

4.2.8   Cloud Computing kann für KMU von Vorteil sein (17), wenn die Datensicherheit, ein kritischer Punkt bei den Netz-Giganten und den Internetdienstleistern, wirklich gewährleistet wird. Die Europäische Kommission sollte Cloud Computing-Lösungen für KMU fördern und KMU beim Zugang zum Cloud Computing behilflich sein (Schulungen, Finanzierung).

4.2.9   Die EU sollte verstärkt auf die Information der Unternehmen über Finanzierungsmöglichkeiten setzen und für das Konzept der projektbezogenenen Anleihen werben (18).

4.2.9.1   Der Ausschuss empfiehlt, Risikokapitalinvestitionen zur Förderung von Forschern und innovativen Unternehmen zu erleichtern (COM(2011) 702 final – Mitteilung über „Kleine Unternehmen – große Welt“).

4.2.10   Der Ausschuss empfiehlt ferner, einen Leitfaden für den Zugang der Unternehmen zur grenzüberschreitenden digitalen Wirtschaft aufzustellen.

4.3   Geistiges Eigentum

4.3.1   Nach Meinung des Ausschusses ist es wesentlich, dass die EU das kreative Schaffen als Garant ihrer Zukunftsfähigkeit auf dem Binnenmarkt und auf globaler Ebene schützt. Die kulturelle Ausnahme muss erhalten bleiben, da sie europäische Vielfalt sichert. Die aktuell erörterten Schutzmaßnahmen dürfen sie nicht zugunsten amerikanischer Produktionen beeinträchtigen.

4.3.2    sichert nun Artikel 118 AEUV den Schutz der Rechte des geistigen Eigentums in der Union, aber die 27 Mitgliedstaaten üben eine unterschiedliche Kontrolle über die Nutzung des Internet aus.

4.3.3    überprüft die EU erneut die Durchsetzung der Rechte an geistigem Eigentum in Drittländern auf der Grundlage von Gegenseitigkeit und multilateralen Verhandlungen, so z.B. im Rahmen des Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommens ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement, ein separates Abkommen im Rahmen der WHO, das im Januar 2012 von der Europäischen Kommission und 22 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde).

4.3.4   In seiner Stellungnahme zu den Rechten des geistigen Eigentums warnt der Ausschuss vor einem rein vermögens- und finanzorientierten Ansatz (19).

4.3.4.1   Mit Blick auf den für 2012 angekündigten Legislativvorschlag der Kommission besteht der Ausschuss darauf, dass im Vorfeld die Verbände, die solche Rechte und Interessen vertreten, konsultiert werden (20). Er fordert die Transparenz und Kontrolle der Verwertungsgesellschaften der Urheberrechte und verwandter Schutzrechte. Der Ausschuss erachtet die Abgabe für Privatkopien als ungerecht, da diese fester Bestandteil des Fair Use (einer angemessenen Verwendung) sind. Es muss ein Unterschied gemacht werden zwischen Bürgern, die ein Werk zum persönlichen Gebrauch downloaden, und Personen, die für gewerbliche Zwecke Piraterie in großem Stil betreiben. Die Kulturindustrie darf nicht zur Geldmaschine werden und das Internet nicht zum Privatisierungsinstrument für Kultur und Wissen.

4.3.4.2   Dem Europäischen Parlament wurde eine europäische Petition mit über zwei Millionen Unterschriften vorgelegt (Avaaz.org), in dem es dazu aufgerufen wurde „für ein freies und offenes Internet einzustehen und die Ratifizierung des Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) abzulehnen“. Es muss darauf hingewiesen werden, dass China, Russland, Brasilien und Indien, Länder also, aus denen zahlreiche gefälschte Produkte stammen, das ACTA-Abkommen nicht unterzeichnet haben.

Der Ausschuss hat den Eindruck, dass seine Bemerkungen zum ACTA-Abkommen ungehört verhallt sind (21). Sollte das Abkommen ratifiziert werden, dann sollte die Kommission über den Schutz der Freiheit und der schöpferischen Fähigkeit der Bürger wachen.

4.3.5   Um Datenstromumleitungen und Dumping zu vermeiden und dennoch die Urheberrechte zu schützen, ist der Ausschuss der Ansicht (22), dass die Schaffung eines Europäischen Urheberrechtskodexes für Klarheit darüber sorgen könnte, welche Steuervorschriften anwendbar sind.

4.4   Der öffentliche Sektor

4.4.1   Auch öffentliche Aufträge, die 20 % des BIP ausmachen, müssen gesichert werden.

4.4.2   Nach Meinung des Ausschusses müssen die öffentlichen Verwaltungen online durch sichere elektronische Identifizierung und Signatur für alle – Privatpersonen, Verwaltungen, Unternehmen, öffentliche Aufträge – rasch erreichbar sein.

4.4.3   Für den öffentlichen Sektor führen die Mitgliedstaaten zusammen mit der Kommission im Zuge der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie eine gegenseitige Evaluierung durch. Der Ausschuss empfiehlt, die Dienstleistungsrichtlinie unter dem Gesichtspunkt der Förderung des digitalen Binnenmarkts zu bewerten.

4.4.3.1   Der Ausschuss ist überzeugt davon, dass der digitale Binnenmarkt durch Rechtssicherheit und Technologie zur Verbesserung der öffentlichen Vergabe beitragen kann: Die Einsparungen, die durch intelligente öffentliche Dienste erzielt werden, können in die Einführung eines nahtlosen elektronischen grenzüberschreitenden Auftragswesens fließen.

4.4.4   Die von der Kommission in Angriff genommene Überarbeitung der Richtlinie (23) über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors (PSI-Richtlinie) kann die Arbeit von Unternehmen und Privatpersonen erleichtern (s. Stellungnahme TEN/478 – in Erarbeitung).

5.   IKT als Träger nachhaltigen Wachstums

5.1   Der Aufbau einer nachhaltigen und außerordentlich wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft erfordert kreatives Schaffen und Innovation in der EU. Die IKT sind dabei ein Mittel und ein Wert mit nicht nur kommerzieller Dimension.

5.2   Nach Ansicht des Ausschusses fehlt eine individualisierte Strategie zur Gewährleistung der Nachhaltigkeit des digitalen Binnenmarkts.

5.3   Der CO2-Fußabdruck der in der digitalen Wirtschaft expandierenden Unternehmen sollte untersucht werden. Durch intelligente Technologien kann der globale Energieverbrauch optimiert und damit der CO2-Ausstoß verringert werden.

5.4   Elektronikwerkstoffe müssen dekarbonisiert werden; der sachgerechte Umgang mit Elektronikschrott (einschl. Recycling wertvoller Metalle) in Europa ist ein wichtiger potenzieller Markt, der zur Vermeidung von Umweltverschmutzung in Drittländern beitragen könnte.

5.5   Der Ausschuss fordert den Ratsvorsitz auf, 2012 als Europäisches Jahr für aktives Altern zu nutzen, um für die Vorteile der IKT in der medizinischen und sozialen Pflege, vor allem vor dem Hintergrund der demografischen Alterung, zu werben: Verbleib im Beschäftigungssystem durch Erleichterung von Arbeitserschwernissen, und allgemein Kommunikation, Bekämpfung von Ausgrenzung, Telemedizin, Robotik, Sicherheitslösungen für ältere Menschen. All diese Bereiche bieten Marktchancen und Beschäftigungs- und Wachstumspotenzial.

5.6   Voraussetzung für einen echten digitalen Binnenmarkt der EU ist die Fertigstellung der Weltraum-Baustellen. Dafür müssen die notwendigen Mittel bereitgestellt werden. Der Ausschuss bedauert, dass Galileo und das globale Satellitennavigationssystem GNSS noch nicht einsatzbereit sind und alle Welt das amerikanische GPS nutzt (24).

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Wesentliche einschlägige Stellungnahmen des Ausschusses:

ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 20 - ABl. C 157 vom 25.5.1998, S. 1ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 62ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 69ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 99ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 105ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 144ABl. C 97 vom 28.4.2004, S. 21ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 91ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 60ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 36ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 85ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 72ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 58ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 44ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 53ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 58ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 92ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 120.

(2)  ABl. C 175 vom 28.07.2009, S. 43.

(3)  ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 178.

(4)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9.

(5)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 69.

(6)  ABl. C 70E vom 8.3.2012, S. 56.

(7)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139.

(8)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 92.

(9)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 120.

(10)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1.

(11)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten (Verordnung über Online-Streitbeilegung)“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(12)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1.

(13)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht“ und der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht zur Erleichterung grenzübergreifender Geschäfte im Binnenmarkt“ (ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 75.).

(14)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 48.

(15)  ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 67.

(16)  ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 100.

(17)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 40.

(18)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S 116 und ABl. C 143 vom 22.5.2012, S 134.

(19)  ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 28.

(20)  Siehe vorherige Fußnote.

(21)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 139.

(22)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S 69.

(23)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/98/EG über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors“ (ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 129).

(24)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend den Aufbau und den Betrieb der europäischen Satellitennavigationssysteme“ (ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 179).


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 229/02

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Mitberichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Finanz- und Steueroasen, eine Bedrohung für den EU-Binnenmarkt.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 144 gegen 30 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die EU muss mit allen Mitteln ihre Maßnahmen im Rahmen der G-20, der OECD und der Financial Action Task Force (FATF) intensivieren, um intransparenten Steuergebieten alsbald ein Ende zu setzen, und die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung der Kriminalität verpflichten, die in vielen dieser Gebiete ihre Basis hat.

1.2   Die Fortschritte, die innerhalb internationaler Foren wie der OECD und den G-20 bei den Standards für ein verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich erzielt worden sind, sollten die Europäische Union nicht daran hindern, höhere Standards anzuwenden, um die Beitreibung von rechtswidrig zum Nachteil des Binnenmarktes ins Ausland verbrachtem Kapital zu erleichtern.

1.3   Der EWSA fordert die EU-Institutionen auf, Maßnahmen zu beschließen, die den Missbrauch des „Sitzstaatprinzips“ durch künstliche Sitz- und Eigentumsregelungen verhindern, welche es Holdings ohne konkrete Aktivität oder Briefkastenfirmen ermöglichen, die wirtschaftlichen Eigentümer von der Zahlung von Steuern in ihrem Wohnsitzland abzuschirmen. Er begrüßt den Entschluss der Kommission, bis Ende des Jahres einen neuen Vorschlag bezüglich Steuer- und Finanzoasen vorzulegen, und hofft, dass die Widerstände einiger Mitgliedstaaten gegen ein wirksames Durchgreifen bei Aktivitäten zur Steuerumgehung und Steuerhinterziehung innerhalb der nationalen Steuersysteme überwunden werden können.

1.4   Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag [COM(2012) 85 final] veröffentlicht, in dem erstmals eine Regelung über die Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union vorgeschlagen wird. Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die Einbeziehung von Steuervergehen im Zusammenhang mit der Nutzung von Steueroasen in den Anwendungsbereich der Richtlinie in Erwägung zu ziehen. Dieser Vorschlag ist Teil einer umfassenderen strategischen Initiative, die auf den Schutz der legalen Wirtschaft vor krimineller Unterwanderung gerichtet ist, und stützt sich auf Artikel 82 Absatz 2 sowie Artikel 83 Absatz 1 AEUV.

1.5   Bekanntlich handelt es sich bei den Steueroasen um eine beträchtliche Anzahl von Gebieten – insgesamt 44 – die der hoheitlichen Gewalt eines souveränen Staates unterliegen bzw. selbst souveräne Staaten sind. Selbst wenn sie keine souveräne Staaten sind, verfügen sie über eine weitreichende Verwaltungsautonomie und wenden hinsichtlich der Inhaberschaft und der Herkunft des Kapitals sowie der Funktionsweise der auf ihrem Gebiet niedergelassenen Finanzinstitute und Handelsunternehmen undurchsichtige Regelungen zur Steuerbefreiung und -ermäßigung an.

1.6   Besonders bedauerlich und gravierend sind nach Auffassung des EWSA jedoch die Praktiken von Rechts- und Steuerberatern und bestimmten Beratungsfirmen, die u.a. mithilfe von Werbung die Schaffung von juristischen Personen anbieten, um die Vorteile von Steuer- und Finanzoasen zu nutzen und so die für in Europa operierende Unternehmen geltenden Auflagen zu umgehen, insbesondere was deren Verpflichtungen zur Zahlung von Körperschaftssteuer sowie zur Transparenz der betrieblichen und finanziellen Transaktionen angeht.

1.7   Steueroasen verursachen Verzerrungen im Binnenmarkt: Sie erfordern daher ein gemeinschaftliches Handeln, das es ermöglicht, Steuergerechtigkeit zu gewährleisten und die durch diese Steueroasen ermöglichte destabilisierende Undurchsichtigkeit, Steuerhinterziehung und Korruption zu unterbinden. Auch die mögliche Einführung von Straftatbeständen in diesem Bereich darf nicht ausgeschlossen werden.

1.8   Sämtliche Hindernisse für den automatischen Informationsaustausch zwischen den Banken müssen ausgeräumt werden, damit die tatsächlichen Urheber bzw. Begünstigten der Transaktionen und Inhaber der Bankkonten leicht ermittelt werden können. Außerdem muss für die internationalen Unternehmen die Aufstellung eines nach Ländern aufgeschlüsselten Jahresabschlusses gefordert werden, in dem das Volumen der Geschäftstätigkeit, der Beschäftigten und der jeweils erzielten Gewinne für die einzelnen Länder ausgewiesen werden.

1.9   In sämtlichen genannten Bereichen müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, unbeschadet eventueller weiterer Fortschritte aufgrund weltweiter Initiativen innerhalb internationaler Organisationen, insbesondere der UNO und der OECD. Die betreffenden Maßnahmen müssen in einem Rahmen des Vertrauens und im Bemühen um gleichwertige Rechtsvorschriften verfolgt werden, wobei neue, höhere Standards für die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Steueroasen angestrebt werden müssen.

1.10   Der EWSA dringt auf eine mit den wichtigsten Ländern – in erster Linie den Vereinigten Staaten – abgestimmte Initiative für einen möglichst globalen Ansatz zur Regulierung dieses Bereichs. Zugleich weist er jedoch darauf hin, dass die Schwierigkeit, ein einvernehmliches internationales Vorgehen festzulegen, die Maßnahmen der Europäischen Union keinesfalls hemmen oder verzögern darf. Die europäischen Standards – z.B. die der EU-Sparrichtlinie – zählen zu den besten der Welt. Das US-Gesetz „The Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) ist ein wichtiger Schritt der zuständigen US-Instanzen, um eine stärkere Einhaltung der Steuergesetze durch diejenigen US-Bürger zu gewährleisten, die ausländische Finanzinstrumente und Auslandskonten halten. Der amerikanische Fiskus verlangt von den ausländischen Finanzinstituten, die personenbezogenen Daten der Bürger mit finanziellen Interessen im Ausland „automatisch“ zu melden.

1.11   Unter den europäischen Ländern besitzt Belgien sehr ausgefeilte Rechtsvorschriften, die sich an dem Grundsatz „Vertraulichkeit geht vor Verbrechensbekämpfung“ orientieren. Das Bankgeheimnis wird vorgeschoben, um die steuerpolitische Agenda und die Entwicklung einer Strategie zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung hintanzustellen.

1.12   Es ist notwendig, integrierte politische Maßnahmen zu entwickeln und die verschiedenen Handlungsbereiche miteinander zu verknüpfen. Die internationalen Rechnungslegungsstandards wurden zum Schutz der Interessen der Investoren und des Marktes ersonnen: jetzt muss der Schwerpunkt auch auf den Interessen der Bürger liegen. Die Rolle des International Accounting Standards Board (IASB), bei dem es sich um eine private Einrichtung handelt, wie auch dessen Funktion hinsichtlich der Festlegung von Rechnungslegungsvorschriften sollte überdacht und sehr viel einfacher, klarer und transparenter gestaltet werden.

1.13   Der EWSA hält mit Bedauern fest, dass sich die Justiz-, Wirtschafts- und Polizeibehörden bereits seit langem darüber im klaren sind, dass die Korruptionsfälle mit öffentlichen Geldern, die illegalen Transaktionen unter Ausnutzung von Steueroasen zum Schaden der öffentlichen Finanzen, die Verheimlichung von Vermögen mittels Strohmännern sowie Geldwäsche und Bestechung größtenteils nicht möglich wären, wenn die dafür verantwortlichen Netzwerke sich nicht auf eine technisch-rechtliche Struktur stützen könnten, die ihnen Schutz im Austausch für erhebliche Vorteile bietet und die sich in einigen Fällen letztendlich an die Spitze dieser Netzwerke setzen kann. Dieser Sachverhalt erfordert ein Eingreifen der Union.

1.14   Der EWSA dringt auf die Förderung einer koordinierten Strategie zur besseren Bekämpfung des Steuerbetrugs und vor allem der „mißbräuchlichen Praktiken“ sowie zur Einschränkung der Niederlassungsfreiheit im Falle von rein künstlichen Konstrukten allein zu steuerlichen Zwecken.

2.   Einleitung

2.1   Steueroasen sind Gebiete, wo Spitzenmanager der wichtigsten Finanz- und Industrieunternehmen der Welt, Persönlichkeiten des künstlerischen oder gesellschaftlichen Jetsets und Multimillionäre, die Geschäft und Vergnügen miteinander kombinieren, auf mehr oder weniger zwielichtige Persönlichkeiten treffen, die dieselben Finanzressourcen nutzen, um Kapital in Umlauf zu bringen und zu nutzen, das nicht nur auf Kosten der Legalität erzielt wurde, sondern auch durch Wirtschaftsdelikte und kriminelle Handlungen, die von schwersten Straftaten wie Tötungsdelikten bis hin zu Erpressung, Drogen- oder Waffenhandel, Fälschung, Betrug und Täuschung, Frauenhandel und Glücksspiel reichen. Diese Gebiete sind durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten gekennzeichnet wie z.B. ihre undurchsichtige Funktionsweise sowie ein niedriges Steuerniveau für Gebietsfremde, die überdies keine Wirtschaftstätigkeit in dem betreffenden Gebiet ausüben. Auf diese Weise wird ein schädlicher Wettbewerb mit einer heimlichen Struktur geschaffen, die zu einem absolut intransparenten Rechtsstatus führt.

2.2   Das Thema Steueroasen muss unter den drei folgenden grundlegenden Aspekten untersucht werden: die Steuervorschriften und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Steuerhinterziehung; die Lücken im Steuerrecht und die damit verbundene Bedrohung für die Finanzstabilität; die Undurchsichtigkeit der Informationen mit der Gefahr, dass die Steueroasen für kriminelle Machenschaften genutzt werden. Der gemeinsame Nenner bei diesen Aspekten, für die jeweils die OECD, der Rat für Finanzstabilität (FSB) und die Financial Action Task Force (FATF) zuständig sind, ist die Vertraulichkeit der Informationen und der schwierige Zugang zu ihnen. Durch die Beseitigung bzw. Reduzierung der intransparenten Informationslage könnten die Probleme und Gefahren von Steueroasen erheblich verringert werden. Die gegenwärtige Debatte in der OECD über die Standards sollte fortgesetzt werden mit dem Ziel, den Aufwand für die Steuerbehörden und die Gerichte zu verringern. Es besteht wirklich die Gefahr, dass zu schwache und zu komplizierte Standards vereinbart werden, nur um der öffentlichen Meinung zu gefallen (Window dressing). Die einfachste Lösung für dieses Problem wäre der automatische Informationsaustausch.

2.3   Das Phänomen von Steuer- und Finanzoasen ist eng mit der Geschichte des Kapitalismus verknüpft, die Beispiele reichen bis ins späte Mittelalter zurück. Die Französische Revolution und die industrielle Revolution markieren einen entscheidenden Meilenstein für das Entstehen und die Entwicklung von Steueroasen.

2.4   Das Phänomen hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg enorme Ausmaße angenommen und sich auf der ganzen Welt verbreitet – im pazifischen und karibischen Raum und auf Atlantikinseln, aber auch in kleinen und kleinsten europäischen Staaten. Allein in den Steuer-, Finanz- und Unternehmerparadiesen im geografischen Gebiet Europas wurden schätzungsweise 1 Mio. Firmen plus die doppelte Anzahl von Trusts gegründet. Laut Raymond Baker, Direktor von Global Finance Integrity, sind allein auf den Britischen Jungferninseln 619.916 Unternehmen registriert, d.h. 20 pro Einwohner.

2.5   Der derzeitige wirtschaftliche Rahmen ist gekennzeichnet durch die Globalisierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, den freien Kapitalverkehr und die massive Nutzung neuer Technologien auch für internationale Finanz- und Handelstransaktionen. Obwohl es in den meisten Finanzinstituten eine für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zuständige „Compliance“-Abteilung gibt, sind die tagtäglich in enormen Mengen anfallenden Transaktionen nicht ausreichend geregelt.

2.6   Der europäische Binnenmarkt, die Finanz- und Handelsmärkte im Hinblick auf ihr reibungsloses Funktionieren und die Wirtschaft im Hinblick auf ihre geordnete Entwicklung im Einklang mit gemeinsamen Regeln zur Wahrung des Gemeinwohls haben es mit enorme Geldmengen zu tun, die in entgegenkommenden Gebieten und Ländern geparkt sind, beschützt von mächtigen Interessen, die ganze Verwaltungen korrumpieren und gefügig machen können.

2.7   Die Steueroasen verursachen Verzerrungen sowohl auf makro- als auch mikroökonomischer Ebene. Auf makroökonomischer Ebene können sie die Stabilität der Finanzsysteme bedrohen. Darüber hinaus wird durch die Möglichkeit der Umgehung oder Hinterziehung der Steuern auf Immobilien- und/oder Finanzinvestititionen das Steueraufkommen der Staaten verringert, was unvermeidlich durch die Besteuerung der Einkünfte aus Arbeit wettgemacht werden muss: Steueroasen verzerren somit das korrekte Gleichgewicht der Besteuerung von Kapital und Arbeit. Auf mikroökonomischer Ebene findet eine Verzerrung zwischen Groß-, Klein- und Kleinunternehmen statt: die durch Steueroasen eröffneten Möglichkeiten der Steuerumgehung oder gar der aggressiven Steuerplanung nehmen bei diesen drei Unternehmenstypen in der Reihenfolge ihrer Nennung immer weiter ab.

2.8   In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts wurden infolge der beiden Katastrophen in den Vereinigten Staaten von Amerika – den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington sowie der mit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 ausgelösten Finanzkrise –, konzertierte Aktionen der internationalen Gemeinschaft zur Regulierung der so genannten Steuer- und Finanzoasen gefördert.

3.   Finanz- und Steueroasen

3.1   Die unerwünschten Folgen derartiger Systeme haben vielfach zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Finanzierung des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität, wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche geführt; sie haben Systemrisiken auf den Finanzmärkten bewirkt und die Grundprinzipien des freien Wettbewerbs beschädigt.

3.2   Infolge dessen wurden, wie oben ausgeführt, in den letzten Jahren weltweite Maßnahmen angestoßen, und es wurde die Einrichtung geeigneter Strukturen und Mechanismen beschlossen, um gemeinsam auf die Bedrohungen für die nationale Sicherheit der Staaten und das Wohlergehen ihrer Bürger zu reagieren.

Bei den verschiedenen auf internationaler Ebene gefassten Beschlüssen wurde mit dem Übereinkommen des Gipfeltreffens der G-20 vom 2. April 2009 in London vielleicht ein entscheidender Durchbruch gegenüber den früheren Ansätzen erzielt.

3.3   Der EWSA befürwortet die Einführung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug und anderen illegalen Aktivitäten zu Lasten der finanziellen Interessen der EU und der Mitgliedstaaten sowie zur Gewährleistung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden durch den Austausch von Informationen in Steuerfragen; er spricht sich außerdem dafür aus, der EU die Genehmigung zu erteilen, Verhandlungen mit Blick auf den Abschluss eines Abkommens zwischen der Europäischen Union einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Bekämpfung von direktem Steuerbetrug und direkter Steuerhinterziehung und zur Gewährleistung der Verwaltungszusammenarbeit durch den Austausch von Informationen in Steuerfragen aufzunehmen.

3.4   Gemäß dem vorgenannten Übereinkommen des G20-Gipfels wird die Methode der Analysen und Empfehlungen in der bisherigen Vorgehensweise der mit diesem Problem konfrontierten Organisationen und Foren aufgegeben und eine Verurteilung der „nicht kooperierenden Gebiete“, einschließlich sämtlicher Steuer- und Finanzparadiese, gefordert. Vorgeschlagen werden außerdem unilaterale, bilaterale und multilaterale Sanktionen, die schrittweise Abschaffung des Bankgeheimnisses sowie die regelmäßige Veröffentlichung von Listen der zuwiderhandelnden Gebiete.

3.5   Die anschließende Umsetzung dieser Verpflichtungen der G-20 ist jedoch sehr enttäuschend. Hierfür sind verschiedene Gründe anzuführen.

3.6   Viele Gebiete konnten sich von der Einstufung als nicht kooperierendes Rechtsgebiet freimachen, indem sie einfach mindestens 12 bilaterale Steuerabkommen unterzeichneten, nämlich untereinander (beispielsweise das Abkommen zwischen Liechtenstein und Monaco).

3.7   Kurz, es reicht aus, dass auf Ersuchen der für die Durchführung der einschlägigen Maßnahmen zuständigen Behörden (Finanzämter, Strafverfolgungsbehörden usw.) ein Informationsaustausch gewährleistet wird, ohne dass die Behörden des ersuchten Gebietes dies unter Berufung auf das nationale Interesse, das Bankgeheimnis oder ähnliche Gründe ablehnen können.

3.8   In diesen Fällen offenbart sich die Unwirksamkeit des bilateralen Vorgehens, weshalb auf die Verbesserung des Vorgehens auf internationaler (multilateraler) und auf den supranationalen Ebenen hingewirkt werden sollte.

Das Netzwerk Steuergerechtigkeit hat dies in seinem Bericht vom 4. Oktober 2011 bestätigt, in dem fast alle seit 2009 aufgesetzten bilateralen Abkommen als unwirksam eingestuft werden. Diese Organisation hat einen Schattenfinanzindex für mangelnde Steuertransparenz auf der Grundlage zweier Kriterien erstellt: Behinderung von Auskunftsersuchen zuständiger Behörden anderer Länder und Gewicht des vermutlich intransparenten Rechtsgebiets auf dem Weltmarkt.

3.9   Andererseits zeigen auch verschiedene Fachberichte (wie der der Organisation „Global Financial Integrity“), dass die illegalen Kapitalströme immer größer werden und um jährlich mehr als 10 % zunehmen, was verheerende Folgen hat, wie die Verschärfung der Staatsschuldenkrisen in vielen Ländern der internationalen Gemeinschaft und insbesondere in einigen EU-Mitgliedstaaten.

3.10   Leider hat nur die EU einen glaubhaften Handlungsrahmen in diesem Bereich abgesteckt, der allerdings auch nur unzureichend umgesetzt wird.

3.11   Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Umsetzung der Richtlinie 2003/48/EG im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (natürlicher Personen) in anderen Mitgliedstaaten.

3.12   Seit Inkrafttreten dieser Richtlinie wurden allerdings Verfahren für den automatischen Austausch von Steuerdaten zwischen allen Mitgliedstaaten eingerichtet und auf die Unterzeichnung von Abkommen mit den vier Staaten hingewirkt, die als größte Finanz- und Steueroasen in Europa eingestuft werden (Andorra, Liechtenstein, Fürstentum Monaco und San Marino).

3.13   Doch diese Staaten wie auch die Schweiz unterhalten jeweils unterschiedliche Beziehungen zur Europäischen Union, wodurch sich die Anwendung dieser Abkommen sehr kompliziert gestaltet. So ist zum Beispiel Liechtenstein zwar Unterzeichner des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, in Zivil- und Handelssachen jedoch nicht verpflichtet, auf dem gleichen Niveau mit den jeweiligen Verwaltungsbehörden zu kooperieren, da das Land nicht Vertragspartei des Lugano II-Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist.

3.14   Es steht zu hoffen, dass diese Änderung des Rechtsstatus bald die erwarteten Veränderungen bewirkt, da mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, namentlich Artikel 8 Absatz 2 EUV (und die entsprechende Erklärung zu diesem Artikel, Nr. 3) die Schaffung struktureller Verbindungen mit den kleinen Nachbarstaaten unterstützt wird.

3.15   Zur Regelung dieser Frage sollte idealerweise eine multilaterale Partnerschaft unterzeichnet werden, um diese nicht kooperierenden Rechtsgebiete in ein einheitliches Modell innerhalb des natürlichen geopolitischen und wirtschaftsrechtlichen Raums aufzunehmen.

3.16   Ebenso hat die Europäische Kommission beim Gerichtshof Klage gegen vier Mitgliedsstaaten wegen unterbliebener Umsetzung der Richtlinie 2005/60/EG bezüglich des Einfrierens von Vermögenswerten eingereicht.

3.17   Um ein Vorgehen mit echter supranationaler Wirkung zu fördern, muss sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss der entschiedenen Haltung anschließen, die das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom April 2011 (1) bezogen hat, in der unter anderem die Verbesserung der Bekämpfung mangelnder Transparenz bei den Informationen über grenzüberschreitende Finanztransaktionen gefordert wird. Denkbar ist auch ein Instrument zur Anzeige ähnlich der Kronzeugenregelung im Wettbewerbsrecht, um einen Anreiz für die Anzeige derartiger Verhaltensweisen zu schaffen, wobei die anzeigenden Akteure durch Herabsetzung der zu verhängenden Strafe wirtschaftlich belohnt werden.

3.18   Darüber hinaus wird in Ergänzung der vorstehenden Maßnahmen auf die dringende Notwendigkeit abgestimmter Verfahren auf G-20-Ebene hingewiesen, um Gesetzeslücken im Offshore-Bereich zu schließen, mit denen die geltenden steuerlichen Rechtsvorschriften in den wichtigsten Finanzzentren der Welt derzeit umgangen werden.

3.19   Auch innerhalb der Zuständigkeitsbereichs der EU müssen dringend verbindliche Ad-Hoc-Vorschriften des Sekundärrechts erlassen werden, die unter anderem Bestimmungen enthalten, wonach natürliche bzw. privatrechtliche Personen, die Vermögenswerte oder Gesellschaften mit Sitz in Steuer- und Finanzoasen kontrollieren, keine öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen dürfen.

3.20   2009 schätzte die OECD das in diesen Oasen angelegte Kapital auf 7 bis 11 Billionen US-Dollar und legte eine entsprechende Liste vor, die der G-20-Gruppe als Grundlage für die Einleitung eines härteren Vorgehens gegen die Staaten diente, die die internationalen Übereinkommen über Transparenz im Bank- und Steuerwesen ganz oder teilweise nicht einhalten.

3.21   Der Bericht der OECD rief eine Protestwelle insbesondere in der Schweiz, in Luxemburg und natürlich in Uruguay hervor. Auch der Fall des US-Bundesstaates Delaware wurde heftig diskutiert.

3.22   Dass Delaware eine Art Steueroase ist, wissen die Amerikaner sehr wohl: Fast die Hälfte aller an der Wall Street und im Nasdaq notierten Gesellschaften haben ihren Sitz in diesem Bundesstaat (aus dem übrigens der Vizepräsident der Vereinigten Staaten Joe Biden kommt), um weniger lokale Steuern zu zahlen, da Gewinne dort nicht besteuert werden. Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass dieser kleine US-Bundesstaat südlich von Pennsylvania Offshore-Gesellschaften große Steuervorteile gewährt und sich damit als Alternative zu den Cayman-Inseln oder den Bermudas präsentiert, was Branchenkenner allerdings seit langem wissen. Gewinne von Gesellschaften mit Sitz in Delaware werden aus Transparenzgründen den Eigentümern zugeschrieben, die, wenn sie keine amerikanischen Bürger sind und die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft außerhalb der USA stattfindet, nicht der Besteuerung in den USA unterliegen.

3.23   Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Korruption und Veruntreuung von Geldern sind die wichtigsten und verbreitetsten Triebkräfte für diese Oasen. Diese sind Ausgangspunkt für die Angriffe auf in Schwierigkeiten geratene Staatsanleihen und auch für die groß angelegten Kampagnen zum Schutz eines uneingeschränkten freien Kapitalverkehrs, bei denen Medien, Parteien und Vertreter der Institutionen mitmachen.

3.24   Eine schlechte Steuerpolitik leistet Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Vorschub und hat erhebliche Auswirkungen auf die nationalen Haushalte und das Eigenmittelsystems der EU.

3.25   Ein großer Teil der multinationalen Unternehmen ist so strukturiert, dass sie in den verschiedenen Rechtsgebieten, in sie tätig sind, Vorteile durch Steuerumgehung erzielen. Die unterschiedliche steuerliche Behandlung in den einzelnen Rechtsgebieten bevorteilt große internationale oder gut etablierte Unternehmen gegenüber kleinen nationalen oder noch jungen Firmen. Diese Strategien der Steuerumgehung stehen in Widerspruch zu den Grundsätzen des fairen Wettbewerbs und der Unternehmensverantwortung. Zudem werden diese Gebiete zur Operationsbasis für Organisationen und Unternehmen, die Waren ohne die von der EU geforderten Ursprungsbescheinigungen und Garantien in den Binnenmarkt einführen, was zum großen Schaden der Verbraucherinteressen und mitunter auch der öffentlichen Gesundheit geschieht. Zu diesem Zweck wird zum Beispiel das so genannte „transfer pricing“ missbraucht, bei dem die Preise für Transaktionen innerhalb einer Unternehmensgruppe auf der Grundlage von Bewertungskriterien festgelegt wird, die an die Steuerlast der Gruppe gekoppelt sind, statt für die Bewertung die normalen Marktbedingungen anzusetzen.

3.26   Multinationale Unternehmen verfügen mit Sicherheit über die erforderlichen Ressourcen, um ohne größeren Verwaltungsaufwand folgende Kennziffern nach Ländern aufgeschlüsselt öffentlich ausweisen zu können: Umsatz, Geschäftsgewinn, Transaktionen innerhalb der Gruppe, Gewinn vor Steuern, Steuer. Wenn auf diese Informationen öffentlich zugegriffen werden könnte, würde deutlicher, wer missbräuchliches transfer pricing oder eine aggressive Steuerplanung praktiziert.

3.27   Das Fehlen steuerlicher Kontrollen oder die Existenz schwacher Aufsichtsvorschriften, die mangelnde Transparenz der Informationen zur Ermittlung der natürlichen und juristischen Personen oder beliebige andere rechtliche oder administrative Umstände ermöglichen den von diesen Gebieten aus operierenden Unternehmen eine fast völlige Straffreiheit und nicht zu tolerierende Wettbewerbsvorteile sowie Schutz vor dem Vorgehen der Gerichte und Behörden von Drittstaaten.

3.28   Der EWSA verurteilt ausdrücklich die Rolle der Steueroasen bei der Förderung und Ausnutzung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung sowie Kapitalflucht. Die EU muss ihr eigenes Vorgehen gegen diese Erscheinungen intensivieren und konkrete Strafmaßnahmen beschließen.

3.29   Die internationale Gemeinschaft ist sich des schweren Schadens bewusst, die diese Gebiete dem Welthandel, den öffentlichen Finanzen in den einzelnen Staaten, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und, wie die sich seit 2008 hinziehende Krise zeigt, auch der unmittelbaren Stabilität der Finanzsysteme zufügen, und hat deshalb einige zögerliche Maßnahmen zur Ermittlung und schrittweisen Abschaffung solcher Gebiete eingeleitet.

3.30   Die Ergebnisse der vereinten Anstrengungen von G-20 und UNO sowie der Bemühungen im Rahmen der OECD reichen nach wie vor nicht aus, um den Problemen im Zusammenhang mit Steueroasen und extraterritorialen Finanzzentren zu begegnen. Ihnen müssen deshalb entschlossene, wirksame und konsequente Maßnahmen folgen.

3.31   Die Aktionen der G-20-Gruppe, der Financial Action Task Force (FATF) und der OECD haben die schwere Last der durch Steueroasen und Finanzparadiese verursachten Schäden bislang jedoch nur geringfügig erleichtert.

3.32   Es gilt, die nicht kooperierenden Staaten und Gebiete zu ermitteln, die Einhaltung der Vorschriften zu bewerten und abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung zu fördern. Der Ausschuss ist zudem der Ansicht, dass der OECD-Rahmen für die Bekämpfung von Steueroasen unbefriedigend ist, wobei das Kriterium, nach dem ein Staat als kooperierend eingestuft wird, verbessert und qualitativ aufgewertet werden muss. Überdies sollte die OECD es nicht zulassen, dass Staaten allein deshalb von ihrer schwarzen Liste genommen werden, weil sie die Einhaltung der Grundsätze des Informationsaustausches versprochen haben, ohne aber eine wirksame Anwendung dieser Grundsätze vorzusehen.

3.33   Es gibt hinreichende Anhaltspunkte um anzunehmen, dass die Finanzkrise zum Teil durch komplexe und kaum transparente Transaktionen von Akteuren mit Sitz in Staaten und Gebieten verursacht wurde, in denen das Steuergeheimnis gilt, wodurch den Anlegern und den Käufern dieser Finanzprodukte erhebliche Schäden entstanden sind. Steueroasen sind Fluchtorte für außerbilanzmäßige Geschäfte der Finanzinstitute und für komplexe Finanzprodukte, die nicht zur Innovation des Finanzsektors beigetragen haben und dessen Stabilität gefährden. Es gibt ausreichende Beweise dafür, dass zahlreiche ausländische Direktinvestitionen insbesondere in den Entwicklungsländern aus Steueroasen stammen.

3.34   Die Europäische Union ist sich der Lage bewusst und einige ihrer Institutionen haben deshalb regelmäßig derartige Praktiken verurteilt. Leider ist es der EU nicht gelungen, einen supranationalen verwaltungstechnischen Rechtsrahmen zu fördern, der den Spielraum der Straflosigkeit einengt.

3.35   Das Vorgehen der EU richtete sich vor allem auf die Abschaffung von ungefähr 100 schädlichen steuerlichen Regelungen in Rechtsgebieten ihrer Mitgliedstaaten mit schwacher finanzieller Kontrolle oder in Drittstaaten außerhalb der EU. In diesem Zusammenhang hat die Europäische Union 2009 und 2010 zwei Mitteilungen und einen Verhaltenskodex über verantwortungsvolles Handeln im Steuerbereich veröffentlicht. Zudem gibt es in diesem Bereich drei EU-Richtlinien, eine über die Einnahmen aus Vermögenswerten, die wegen Steuerhinterziehung beschlagnahmt wurden, eine über die Verwaltungszusammenarbeit und eine über die Besteuerung von Zinserträgen (die derzeit überarbeitet wird). Darüber hinaus ist es gängige Praxis, dass die EU in ihre mit Drittstaaten geschlossenen Abkommen über Assoziierung, Handel und Kooperation Klauseln über die Einhaltung verantwortlicher Vorgehensweisen aufnimmt.

3.36   Dessen ungeachtet gibt es nur wenige Fortschritte, weil die Zuständigkeiten im Bereich der Untersuchung und der Sanktionen bei den Mitgliedstaaten liegen.

3.37   Nach Ansicht der Banken hat das besagte US-Gesetz deutlich gezeigt, dass der einseitige Erlass derartiger Maßnahmen den Finanzinstituten unüberwindliche Probleme bereitet, die sich aus der Unvereinbarkeit der durch das FATCA aufgestellten Pflichten für Mitteilung, Einbehaltung und Rechnungsabschluss mit der EU-Gesetzgebung und/oder dem innerstaatlichen Recht des Landes, in dem das Finanzinstitut seinen Sitz hat, ergeben.

3.38   Am 4. März 2009 hielt der damalige britische Premierminister eine wichtige Rede vor dem amerikanischen Kongress, in der er die amerikanischen Partner aufrief, sich gemeinsam für ein global reguliertes Wirtschaftssystem als Gegenentwurf zur Ausnutzung der Finanzsysteme zur bloßen persönlichen Bereicherung einzusetzen.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. April 2011 zu dem Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und der Betrugsbekämpfung – Jahresbericht 2009 (2010/2247(INI).


31.7.2012   

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C 229/13


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Horizont 2020: Fahrpläne für das Älterwerden“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 229/03

Berichterstatterin: Renate HEINISCH

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Horizont 2020: Fahrpläne für das Älterwerden

(Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 184 gegen 3 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Um die großen Herausforderungen zu bewältigen und die Chancen zu nutzen, die mit dem demografischen Wandel für zukünftige soziale und wirtschaftliche Entwicklungen verbunden sind, müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den kommenden Jahren verstärkt geeignete Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen und in einer Vielzahl von Bereichen ergreifen.

1.2   Eine koordinierte Forschung kann entscheidend zu geeigneten Maßnahmen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene beitragen, indem sie fundierte Planungs- und Entscheidungsgrundlagen bereitstellt.

1.3   Der EWSA schließt sich uneingeschränkt der schon wiederholt geäußerten Forderung an, dass europäische Forschung im Bereich Altern und Demografischer Wandel langfristig und interdisziplinär, länderübergreifend oder zumindest vergleichbar durchgeführt werden sollte.

1.4   Für eine exzellente europäische Forschung ist auch eine entsprechende Infrastruktur und eine integrierende Koordination der Forschungsaktivitäten eine zentrale Voraussetzung. Eine zentrale Koordination ist auch in Bezug auf die Schaffung eines Budgets und die Verteilung der Mittel erforderlich. Der Ausschuss empfiehlt daher die Einrichtung eines europäischen Zentrums für Alternsforschung, das die Koordinierungsaufgaben übernehmen könnte.

1.5   Fahrpläne zur Konzeption langfristiger Forschungsprogramme sind nützliche Instrumente, um Schwerpunkte für zukünftige Forschung zu setzen. Aktuelle Roadmaps zu Altern und Demografischem Wandel haben bereits wichtige Aspekte herausgearbeitet, die für „Horizont 2020“ (1) relevant sind.

1.6   Der Ausschuss begrüßt, dass im Schwerpunktbereich „Gesellschaftliche Herausforderungen“ des RP 8 eine Forschungspriorität „Gesundheit, demografischer Wandel und Wohlergehen“ vorgesehen ist (2).

1.7   Über die in den aktuellen Roadmaps und dem „Horizont 2020“ genannten aktuellen Forschungsschwerpunkte hinaus ermutigt der Ausschuss dazu, mit der zukünftigen europäischen Forschung auch noch deutlich innovativere und möglicherweise problematischere Bereiche des Alterns und des Demografischen Wandels zu adressieren. Dazu gehören Themen wie Gesunderhaltung und Rehabilitation, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die Anforderungen an ein zunehmend selbst- und mitverantwortliches Leben, das Lernen für ein langes Leben, die Auswirkungen der zunehmenden Technisierung von Lebensbereichen und die Fragen, die sich angesichts des demografischen, gesellschaftlichen und technischen Wandels für die europäische Gesellschaft stellen.

2.   Begründung / Allgemeine Bemerkungen

2.1   Zur Bewältigung der Herausforderungen und Nutzung der Chancen, die mit dem demografischen Wandel verbunden sind, müssen in den kommenden Jahren dringend gut fundierte Planungs- und Entscheidungsgrundlagen für richtungweisende Maßnahmen zur Verfügung stehen. Solche Grundlagen werden insbesondere durch geeignete Forschung bereitgestellt. Ergebnisse aus Europäischen Forschungsprogrammen der vergangenen Jahre wie zum Beispiel dem 5., 6. und 7. Forschungsrahmenprogramm (3), dem gemeinsamen Programm „Umgebungsunterstütztes Leben“ (4) (AAL JP) (5), dem Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) (6) und den ERA-Net Aktivitäten haben die Nützlichkeit von Forschung bereits deutlich unter Beweis gestellt. Forschung kann damit entscheidend zur Bewältigung des demografischen Wandels und der Nutzung seiner positiven Potenziale auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene beitragen.

2.2   Fahrpläne (Roadmaps) dienen der Konzeption langfristiger Forschungsprogramme. Sie eignen sich dazu, mögliche zukünftige Entwicklungspfade oder Szenarien aufzuzeigen, auf notwendige sektorübergreifende Verflechtungen hinzuweisen, relevante Kooperationspartner und Akteure zu identifizieren, politische Handlungsspielräume und Finanzierungsoptionen auszuloten sowie Strategien für die Umsetzung der Prozesse und Ergebnisse zu entwickeln.

2.3   Forschungsbezogene Fahrpläne wurden in den letzten Jahren in vielen Bereichen entwickelt und eingesetzt. Aus der Vielzahl der aktuellen nationalen und internationalen Roadmaps seien hier nur einige wenige beispielhaft erwähnt: Die Schweizer Roadmap für Forschungsinfrastrukturen (7); das deutsche BMBF-Projekt „Roadmap Umwelttechnologien 2020“ (8); die Roadmap der US-amerikanischen Republikaner zur Zukunft Amerikas (9); die ERA-Roadmaps zur Entwicklung energieeffizienter Gebäude (10); die VPH-FET (Virtual Physiological Human-Future and Emerging Technologies) Forschungsroadmap (11).

2.4   Fahrpläne für zukünftige Forschung und Innovation im Bereich Altern und Demografischer Wandel wurden schwerpunktmäßig zu Gesundheitsaspekten im weitesten Sinne entwickelt. Dazu gehören unter anderen die Roadmaps aus den europäischen Projekten Future BNCI: Future Directions in Brain/Neuronal Computer Interaction (BNCI) Research (2010-2011); DIAMAP: Road Map for Diabetes Research in Europe (2008-2010); ROAMER: A Roadmap for Mental Health Research in Europe (2011-2014); WhyWeAge: A road map for molecular biogerontology (2008-2010) (12), aber auch nationale Fahrpläne wie beispielsweise die Roadmap für das Gesundheitsforschungsprogramm der deutschen Bundesregierung (13).

2.5   Auch die thematisch breiter angelegten Fahrpläne im Bereich Altern und Demografischer Wandel, nämlich die in den europäischen Projekten FUTURAGE – A Road Map for Ageing Research (14) und BRAID: Bridging Research in Ageing and ICT Development (2010-2012) (15) entwickelten Roadmaps, benennen jeweils auch Gesundheitsaspekte als Forschungsprioritäten. Die FUTURAGE Roadmap führt drei gesundheitsbezogene Schwerpunkte auf: „Healthy Ageing for More Life in Years“, „Maintaining and Regaining Mental Capacity“ und „Biogerontology: from Mechanisms to Interventions“ (16). Im BRAID Projekt ist es das Setting „Health and Care in Life“.

2.6   Die Kommission will mit öffentlich-privaten und öffentlich-öffentlichen Partnerschaften (17) weitere Instrumente zur Bewältigung der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen bereitstellen (18). Zu den gemeinsamen Initiativen gehören insbesondere die Europäischen Innovationspartnerschaften (EIP), darunter die Europäische Innovationspartnerschaft für Aktivität und Gesundheit im Alter (EIP AHA) (19), die Digitale Agenda für Europa (20), die JPI „Länger und besser leben – Möglichkeiten und Probleme des demografischen Wandels“ (MYBL) (21) sowie das geplante Programm „Horizont 2020“ (22).

2.7   Trotz dieser notwendigen und wichtigen Ansätze zur Bildung von Forschungs- und Innovationspartnerschaften bedarf es jedoch dringend weitergehender Forschungsaktivitäten. Die Welt – die Gesellschaft – die Technik – die Medizin – die alternden Menschen verändern sich kontinuierlich weiter. Deshalb wird immer wieder neue Forschung gebraucht, um sich mit entsprechenden (politischen) Maßnahmen rechtzeitig auf die neuen Gegebenheiten einstellen zu können und der Entwicklung nicht hinterher zu hinken.

2.8   Der EWSA begrüßt deshalb die Unterstützung der Europäische Kommission für gemeinsame Programmplanungsinitiativen und zur Entwicklung von Fahrplänen für zukünftige Forschungstätigkeiten im Bereich Altern und Demografischer Wandel (23) sowie die Planung einer Forschungspriorität „Gesundheit, demografischer Wandel und Wohlergehen“ im Schwerpunktbereich „Gesellschaftliche Herausforderungen“ von „Horizont 2020“ (24).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Erforderliche Infrastruktur

3.1.1   Seit langem wird gefordert, dass europäische Forschung langfristig und interdisziplinär, länderübergreifend oder zumindest vergleichbar durchgeführt werden sollte (25). Diese Forderungen können an dieser Stelle uneingeschränkt übernommen und wiederholt werden. Dass bei einer vergleichenden Forschung die jeweiligen strukturellen Bedingungen berücksichtigt werden müssen, ist selbstverständlich.

3.1.2   Forschung zum Themenbereich Altern muss zudem alle Akteure einbeziehen, die mit dieser Thematik befasst sind. Dazu gehören Natur-, Lebens- und Sozialwissenschaftler, Ingenieure und Designer, Produzenten und Dienstleister, politisch Verantwortliche, Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner, Vertreter der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft und insbesondere die alternden Menschen selbst. Die geplante Integration verschiedener europäischer Förderinstrumente (ERA-Net, ERA-Net Plus und INNOVA und PRO INNO) zu einem flexibleren ERA-Net Instrument zur Vereinfachung der Teilnahme relevanter Akteure ist deshalb zu begrüßen.

3.1.3   Für eine exzellente europäische Forschung in einem Europäischen Forschungsraum (EFR) ist eine entsprechende Infrastruktur und eine integrierende Koordination der Forschungsaktivitäten eine zentrale Voraussetzung. Eine zentrale Koordination ist auch in Bezug auf die Schaffung eines Budgets und die Verteilung der Mittel erforderlich. Dadurch werden Forschungsaktivitäten auf Länderebene keinesfalls überflüssig. Erstrebenswert ist jedoch eine höchstmögliche Kompatibilität der solitären nationalen Forschungen, damit Ergebnisse vergleichend analysiert und ausgewertet werden können. Der Ausschuss empfiehlt daher die Einrichtung eines europäischen Zentrums für Alternsforschung, das die Koordinierungsaufgaben übernehmen könnte.

3.2   Weiterer Forschungsbedarf

3.2.1   Über die genannten generellen Anforderungen hinaus zeichnen sich Themenfelder ab, die in Zukunft verstärkt erforscht werden müssen. Derzeit erleben wir nicht nur einen nie da gewesenen demografischen Wandel, sondern auch technische Entwicklungen, die das soziale Leben, die Gesundheitsversorgung und unser Verhältnis zur Umwelt nachhaltig verändern können.

3.2.2   Gesunderhaltung

Ein erster großer Forschungsbereich sollte alle Fragen umfassen, die mit dem Thema Gesunderhaltung zusammenhängen, da physische und mentale Gesundheit zentrale Voraussetzungen für die Verwirklichung eines selbstverantwortlichen und aktiven Lebens im Alter sind. Entsprechende Forschungsfragen sind zum Beispiel:

Wie können Menschen von Kindheit an zur Realisierung eines gesunden Lebensstils motiviert werden?

Welche Strategien sind erforderlich, um eine gezielte Unterstützung und den Ausbau von Präventionsmaßnahmen zu erreichen?

Welche Behandlungs- und Rehabilitationsarten haben sich im internationalen Vergleich als besonders erfolgreich erwiesen? In welchen Bereichen besteht Nachholbedarf oder weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf?

Wie kann Patientenkompetenz gesteigert werden?

Wie können länderübergreifende Gesundheitsgefahren, seltene Krankheiten sowie chronische Krankheiten, Demenz und andere neurodegenerative Erkrankungen vermieden oder zumindest früher erkannt und behandelt werden?

Nachholbedarf besteht an der Erforschung der Wirksamkeit von Medikamenten und ihren Wechselwirkungen bei älteren Menschen, vor allem auch bei alten Frauen. Bisher werden Medikamente überwiegend mit jüngeren Menschen erprobt, aber überwiegend von älteren eingenommen.

Wir sollten die Rolle der chronischen Schmerzen beim Gesundheitszustand der älteren Menschen hervorheben, insbesondere wie wir die Schmerzen/das Unwohl der alternden EU-Bevölkerung reduzieren können.

Bisher wenig erforscht sind auch Alkohol- und Drogenmissbrauch im Alter, ihre Ursachen sowie die physischen, psychischen und sozialen Folgen, die damit verbunden sind.

3.2.3   Ein längeres aktives Arbeitsleben

Ein längeres Verbleiben im Arbeitsleben wird angesichts der strukturellen Veränderungen des Altersaufbaus der Bevölkerung und der steigenden Lebenserwartung zu einer unumgänglichen Notwendigkeit. Daraus ergeben sich Forschungsfragen wie zum Beispiel:

Welche Einstellung besteht bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber einer Flexibilisierung der Altersgrenze? Wovon hängen die jeweiligen Einstellungen ab (z.B. Art der Arbeit / wohlfahrtsstaatliche Voraussetzungen / regionale Gegebenheiten usw.)?

Wie müssen bildungs- und präventionsbezogene Rahmenbedingungen beschaffen sein, um eine Flexibilisierung zu ermöglichen bzw. auszubauen? Welche Erfahrungen wurden schon in einzelnen Ländern gemacht und lassen sich nutzen?

Wie können Arbeitsplätze gestaltet, Arbeitszeiten organisiert und Arbeitsbelastungen gemildert werden, um Arbeitnehmern ein längeres aktives Arbeitsleben zu ermöglichen? Welche Rolle können technische Neuerungen dabei spielen?

Welche Möglichkeiten zur Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements werden in Unternehmen umgesetzt oder könnten umgesetzt werden, um zivilgesellschaftliches Engagement schon in Zeiten der Berufstätigkeit zu fördern? Welche Erfahrungen liegen aus den verschiedenen Ländern vor?

3.2.4   Selbstständig, selbstverantwortlich und mitverantwortlich leben

Durch den geringer werdenden Anteil jüngerer Menschen an der Bevölkerung werden auch personelle Unterstützungsmöglichkeiten für ältere Menschen abnehmen. Ältere werden deshalb zukünftig vermehrt selbst Verantwortung für den Erhalt ihrer Selbstständigkeit und gesellschaftlichen Partizipation übernehmen müssen. Damit verbundene Forschungsfragen sind unter anderem:

Welches Verständnis von Selbstverantwortung älterer Menschen ist in verschiedenen Ländern zu beobachten und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die systematische Stärkung und Förderung einer entsprechenden Lebensgestaltung?

Welches Verständnis von Mitverantwortung älterer Menschen (zum Beispiel für nachfolgende Generationen, für die Umwelt) ist in verschiedenen Ländern zu beobachten und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Wie organisieren sich ältere Menschen selbst, wie organisieren sie Angebote für ihre Generation und nachfolgende Generationen? Wie engagieren sie sich für ihre Mitmenschen, für ihre Nachbarschaft, für ihre Umwelt?

Welche Formen kommunaler Unterstützung sind dieser Selbstorganisation förderlich? Auch dies sollte in strukturell vergleichbaren (kommunalen, regionalen) Kontexten untersucht werden.

Generell sollte in unterschiedlichen, jeweils strukturell vergleichbaren Kontexten (z.B. in städtischen und ländlichen Regionen verschiedener Länder) untersucht werden, wie Kommunen eine aktive, verantwortungsbewusste Lebensführung älterer Menschen z.B. durch eine entsprechende Stadt-, Wohnungs- und Verkehrspolitik für Menschen jeden Alters fördern können.

Wie lassen sich „Sorgende Gemeinschaften“ als Ausdruck von geteilter Verantwortung schaffen und unterstützen? Wie arbeiten Familien, bürgerschaftlich engagierte Menschen und professionell tätige Menschen im Kontext der Pflege (zum Beispiel chronisch körperlich erkrankter oder demenziell erkrankter Menschen) bereits heute zusammen? Wie kann der Einsatz technischer Assistenzsysteme solche Gemeinschaften unterstützen? Wie gehen Unternehmen auf ihre Bedürfnisse ein? Welche Formen geteilter Verantwortung sind in den einzelnen Ländern erkennbar? Wie passen diese sorgenden Gemeinschaften in die Sozialpolitik der Länder und in die Sozial(struktur)planung der Kommunen?

Welche Wohn- und Lebensformen haben sich – wiederum im internationalen Vergleich – für ältere Menschen und dabei insbesondere für hochaltrige allein lebende oder demenzkranke Menschen bewährt und lassen sich übertragen?

3.2.5   Bildung

Es gilt inzwischen als selbstverständlich, dass eine alternde Gesellschaft von jedem Einzelnen lebenslanges Lernen erfordert. Daraus ergeben sich Forschungsfragen wie:

Wie kann lebenslanges Lernen zu einem Lernen für ein langes Leben werden?

Was für Lernangebote sind über berufliche Weiterbildungsangebote hinaus für eine alternde Bevölkerung bereitzustellen? Wie müssen solche Angebote gestaltet sein, damit sie zu aktivem Lernen anregen?

Was für spezifische Bildungsangebote werden für Menschen gebraucht, die sich bürgerschaftlich engagieren?

Welche Bedeutung hat ästhetische Bildung für die Erhaltung von kognitiver und emotionaler Plastizität sowie von Kreativität im Alter? Welche Folgerungen lassen sich aus einem internationalen Vergleich entsprechender Bildungsangebote ziehen?

Welche Rolle spielen unterschiedliche Bildungseinrichtungen (Universitäten, Volkshochschulen usw.) für die Stärkung unterschiedlicher Kompetenzen, z.B. für den Umgang mit neuen Technologien, für bürgerschaftliches Engagement, für Pflegetätigkeiten, für die Weitergabe von sozialem oder fachlichem Wissen usw.?

3.2.6   Die Technisierung aller Lebensbereiche

Die zunehmende technische Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche und die Notwendigkeit der Nutzung technischer Systeme zur Unterstützung eines selbstständigen, aktiven und partizipativen Lebens im Alter ist in ihren langfristigen Auswirkungen noch kaum erforscht. Daraus ergibt sich ein dringender Forschungsbedarf zu Fragen wie:

Welche technischen, organisatorischen, gestalterischen und Akzeptanz fördernden Maßnahmen sind erforderlich, damit das Potenzial von Tele-Monitoring, Tele-Health und Tele-Rehabilitation effizient und ethisch vertretbar zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung genutzt werden kann?

Welche organisatorischen, rechtlichen, datenschutztechnischen und ethischen Anforderungen stellen sich bei der flächendeckenden Einführung solcher Systeme für die Organisation und Regulierung auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene?

Welche langfristigen Auswirkungen hat der verstärkte Einsatz technischer Systeme auf die Beziehungen zwischen älteren Menschen und ihren Angehörigen, zwischen Patienten und Ärzten, zwischen Pflegebedürftigen und informellen oder professionellen Pflegenden?

Noch wenig erforscht sind auch die psychologischen, sozialen und ethischen Implikationen, die mit der immer weitreichenderen Implantation von Sensoren und anderen technischen Artefakten in den menschlichen Körper verbunden sind. Welche Auswirkungen haben diese Möglichkeiten auf das Selbstbild und die Identität der betroffenen Personen auf der einen und auf die gesellschaftliche Sichtweise von Krankheit, Gesundheit oder Behinderung auf der anderen Seite?

Ebenso wenig ist über die Möglichkeiten bekannt, wie ein würdevolles Lebensende beispielsweise durch Musik und Beleuchtung technisch – und dennoch emotional unterstützend – begleitet werden kann.

3.2.7   Die europäische Gesellschaft der Zukunft

Ein letzter Forschungsbereich sollte alle Fragen umfassen, die mit aktuellen und künftigen Veränderungen der europäischen Gesellschaften verbunden sind. Entsprechende Forschungsfragen betreffen unter anderem die Altersbilder, kulturellen Unterschiede, divergierenden Erfahrungen und bestehenden Ungleichheiten der Lebensverhältnisse in Europa:

Welche Vorstellungen von aktivem Altern und Alter treffen wir angesichts des demografischen Wandels in den verschiedenen europäischen Ländern an? Wie kann der Austausch zwischen den Ländern die Entwicklung realistischer anstelle stereotyper Altersbilder befruchten?

Wie altern die Menschen in den unterschiedlichen Kulturen, die in den Mitgliedsstaaten in zunehmender Vielfalt vertreten sind? Welche Bedeutung haben Alter, Krankheit und Tod in der jeweiligen Kultur? Wie kann der Austausch von Erfahrungen organisiert werden und zu gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Bereicherung beitragen?

Welche Bedeutung haben Musik und bildende Kunst im Prozess der Alterung in verschiedenen Kulturen? Welche Auswirkungen ergeben sich daraus und wie können positive Auswirkungen auch für andere nutzbar gemacht werden?

Wie können die Erfahrungen, die aufgrund der steigenden Lebenserwartung und des schnellen gesellschaftlichen und technischen Wandels immer stärker zwischen und innerhalb der Generationen divergieren, überbrückt werden? Wie wird unter diesen Umständen gegenseitiges Verstehen und Lernen möglich?

Ähnliche Fragen stellen sich in Bezug auf die bestehenden – teilweise sogar wachsenden – Ungleichheiten der Lebensverhältnisse zwischen und innerhalb der europäischen Länder.

Eine weitere ungeklärte Frage ist, wie sich der länderspezifisch unterschiedliche Umgang mit dem Sterben auf die einzelnen alternden Menschen und die Gesellschaft insgesamt auswirkt. Gerade in einer alternden Gesellschaft sollte diese Frage und die möglichen Konsequenzen, die damit verbunden sein können, nicht ausgeklammert werden.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 809 final.

(2)  Siehe Fußnote 1.

(3)  ABl L 26 vom 1.2.1999, S. 1, ABl. L 232 vom 29.8.2002, S. 1 und ABl. L 412 vom 30.12.2006, S. 1 sowie ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 9.

(4)  http://www.aal-europe.eu.

(5)  Siehe http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/10/1726&format=HTML&aged=1&language=DE.

(6)  ABl. L 310 vom 9.11.2006, S. 15, sowie ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 22.

(7)  Schweizerische Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Staatssekretariat für Bildung und Forschung SBF, Ressort Nationale Forschung, 2011: Schweizer Roadmap für Forschungsinfrastrukturen. Download: http://www.sbf.admin.ch/htm/dokumentation/publikationen/forschung/11.03.30.NFO.RoadmapForschungsinfrastrukturen_d.pdf.

(8)  Schippl, J. et al.: Roadmap Umwelttechnologien 2020 – Endbericht. Karlsruhe: Forschungszentrum Karlsruhe 2009 (Wissenschaftliche Berichte FZKA 7519).

(9)  http://www.roadmap.republicans.budget.house.gov.

(10)  http://www.eracobuild.eu.

(11)  https://www.biomedtown.org/biomed_town/VPHFET.

(12)  http://future-bnci.org; http://www.diamap.eu; http://www.roamer-mh.org; http://www.whyweage.eu.

(13)  Gesundheitsforschungsrat (GFR) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2007): Roadmap für das Gesundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung. Bonn/Berlin: BMBF.

(14)  http://futurage.group.shef.ac.uk/road-map.html.

(15)  http://www.braidproject.eu.

(16)  The Future of Ageing Research in Europe. A Roadmap.

(17)  Als Beispiele von P2P-Partnerschaften werden unter anderem ERA-NET und ERA-NET Plus, Artikel 185-Initiativen und die gemeinsame Planung (Joint Programming – JP) genannt. Zu PPP in FuI gehören beispielsweise Gemeinsame Technologie-Initiativen (JTI) und Künftiges Internet.

(18)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen (COM(2011) 572 final vom 21.9.2011).

(19)  Siehe IP/10/1288.

(20)  Siehe IP/10/581, MEMO/10/199 und MEMO/10/200.

(21)  Siehe http://www.jp-demographic.eu.

(22)  MEMO-11-435.

(23)  Siehe unter anderen ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 39 zu COM(2010) 546 final.

(24)  COM(2011) 809 final.

(25)  Siehe unter anderen ABl. C 74 vom 23.3.2005, S. 44.


31.7.2012   

DE

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C 229/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Monitoringbericht 2011 zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie: Bewertung des EWSA“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 229/04

Berichterstatter: Stefano PALMIERI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 25. Oktober 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Monitoringbericht 2011 zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie: Bewertung des EWSA“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 11. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 138 gegen 9 Stimmen bei 12 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass der Eurostat-Monitoringbericht (2011 monitoring report of the EU sustainable development strategy) ein nützliches und wichtiges Instrument ist, um

eine Bestandsaufnahme der bislang erzielten Fortschritte bei der Erreichung der Ziele der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung vorzunehmen;

die Ziele, Aktionen und Maßnahmen der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung zu überprüfen und zu optimieren und die derzeit eingesetzten Methoden und Instrumente zur Messung der nachhaltigen Entwicklung zu verbessern;

die neuen Herausforderungen, die sich insbesondere im Zusammenhang mit den Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Strategie für nachhaltige Entwicklung abzeichnen, zu bewältigen.

1.2   In diesem Zusammenhang bedauert der EWSA, dass die Kommission keinen Bericht über den Stand der Umsetzung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung erarbeitet hat, und fordert die Kommission und die anderen EU-Organe auf, auf die Ergebnisse des Eurostat-Berichts zu reagieren, der ein fester Bestandteil der Strategie selbst und ein wesentliches Instrument für eine politische Bewertung der bis dato umgesetzten Maßnahmen sowie für die Festlegung von Leitlinien für das künftige Vorgehen ist.

1.3   Der EWSA ist indes der Auffassung, dass für die Erreichung der Ziele der Strategie ein stärkeres politisches Engagement erforderlich ist. In erster Linie gilt es dabei, den Stand der nachhaltigen Entwicklung korrekt zu ermitteln, was sowohl eine wissenschaftliche als auch eine politische Bewertung der Wirksamkeit der ergriffenen politischen Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit umfasst.

1.4   Zu diesem Zweck wiederholt der EWSA seinen Appell, von den Anregungen und Überlegungen seiner Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung zu profitieren und der Zivilgesellschaft eine Stimme zu verleihen. Der Übergang zu einem nachhaltigeren Entwicklungsmodell wird nur dann gelingen, wenn demokratische Prozesse eingeleitet werden, die das Bewusstsein der Öffentlichkeit schärfen und ihre Mitwirkung an Entscheidungsprozessen fördern, und zwar durch die Entwicklung von Dialogstrukturen zwischen der Zivilgesellschaft und den zuständigen politischen Entscheidungsträgern.

1.5   Der EWSA betont, dass die Verbindung zwischen der Strategie für nachhaltige Entwicklung und den anderen politischen EU-Initiativen gestärkt werden sollte. Gerade der übergreifende und umfassende Charakter des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung macht eine enge Verknüpfung mit all den anderen politischen Prioritäten erforderlich (soziale Gleichheit, Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit, soziale Gerechtigkeit, effiziente Ressourcennutzung, Erhaltung des Naturkapitals, sozialer Zusammenhalt, Entwicklungszusammenarbeit).

1.5.1   Dieser Notwendigkeit einer Verbindung zwischen den verschiedenen politischen EU-Strategien kommt gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine besondere Bedeutung zu. In Anbetracht der schwerwiegenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise muss zwischen den Auswirkungen des weltwirtschaftlichen Konjunkturverlaufs und der Konzeption tiefgreifender und strukturierter Langzeitstrategien für nachhaltige Entwicklung unterschieden werden.

1.5.2   Insbesondere bekräftigt der EWSA die Notwendigkeit einer stärkeren Kooperation und Integration zwischen der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung und der Europa-2020-Strategie. Es muss gewährleistet werden, dass die Maßnahmen im Rahmen von Europa 2020 tatsächlich auf eine stärker nachhaltige Entwicklung ausgerichtet sind. Die Analyse und die Suche nach neuen Indikatoren ermöglicht es, die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Förderung nachhaltiger Verbrauchs- und Produktionsmodelle zu bewerten und zur Überwachung von Europa 2020 beizutragen.

1.6   Der EWSA empfiehlt eine Stärkung der sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung, insbesondere angesichts der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den sozialen Bereich (in erster Linie Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Ungleichheiten sowie erhöhtes Risiko sozialer Ausgrenzung), die am stärksten die am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten treffen, langfristige Folgewirkungen für die Lebensbedingungen der Bürger haben und auch den Spielraum für Umweltschutzmaßnahmen einschränken.

1.7   Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Förderung einer Wirtschaftsentwicklung, die in der Lage ist, Wirtschaftswachstum zu gewährleisten und gleichzeitig die negativen Umweltauswirkungen zu neutralisieren, und die den Grundprinzipien Gleichheit, Zusammenarbeit und soziale Gerechtigkeit Rechnung trägt (die wiederum dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung zugrunde liegen).

1.7.1   Der EWSA unterstützt das Konzept des grünen Wachstums und den Ausbau der grünen Wirtschaft im Rahmen der langfristigen nachhaltigen Entwicklung. Diese trägt zum Abbau der Ungleichheiten bzw. zur Angleichung der Voraussetzungen beim Übergang zu einem kohlenstoffarmen Entwicklungsmodell (1) bei.

1.7.2   In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bezüglich grüner Arbeitsplätze, wonach beim Übergang zur grünen Wirtschaft menschenwürdige Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (decent work) und hochwertige Arbeitsplätze gewährleistet werden müssen. Gleichzeitig wird so vermieden, dass der Übergang zur grünen Wirtschaft – wie bereits bei früheren Übergangsphasen zu beobachten – ein soziales Gefälle verursacht.

1.8   Beim Übergang zur Nachhaltigkeit sind höhere Investitionen in Forschung und Innovation, insbesondere im Energiebereich, von wesentlicher Bedeutung, um ein Entwicklungsmodell zu fördern, das sich stärker auf erneuerbare Energiequellen stützt, und um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und die Energieintensität der Wirtschaft weiter zu verringern. Sie sind aber auch aus Gründen positiver externer Effekte auf das Wachstum und der Beschäftigungsmöglichkeiten, die durch die Schaffung neuer Aktivitäten und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft entstehen können, unabdingbar.

1.9   Neben der Qualität von Forschung und technologischer Innovation spielt auch die Bildung eine überaus wichtige Rolle: Sie begleitet die Zivilgesellschaft auf ihrem Weg hin zu einem anderen Entwicklungsmodell, indem sie ihr angemessene Instrumente an die Hand gibt, um die mit dem Übergang einhergehenden Herausforderungen erfolgreich zu meistern, und ihre Rolle als aktiver Akteur des Wandels stärkt.

1.10   Vor diesem Hintergrund ist die Gewährleistung angemessener Sensibilisierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung ein unabdingbares Ziel, das mit der Umsetzung wirksamerer Parameter zur Messung der Fortschritte im Bereich einer stärkeren Nachhaltigkeit einhergehen muss.

1.11   Insbesondere ist es zweckmäßig, den vom EWSA eingeschlagenen Weg fortzuschreiten und sich dafür stark zu machen, dass zur Messung des wirtschaftlichen Fortschritts neue Indikatoren über das BIP hinaus (2) erarbeitet sowie die quantitative und die qualitative Dimension miteinander verknüpft werden und auch eine Erhebung zur Wahrnehmung und Beurteilung von Nachhaltigkeitsfragen durch die sozialen Akteure erwogen wird.

1.12   Nur im Rahmen eines gemeinsamen, von den Experten sowie den politischen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteuren mitgetragenen Prozesses wird es möglich sein, zu einer neuen politischen und sozialen Kultur zu gelangen, die in der Lage ist, ein neues Entwicklungskonzept zu entwickeln. Dabei werden die drei Bereiche (Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt), auf denen das Konzept der Qualität und der Nachhaltigkeit des menschlichen Fortschritts beruht, integriert und miteinander verknüpft werden.

2.   Einleitung

2.1   Der aktuelle Eurostat-Monitoringbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung 2011 (2011 monitoring report of the EU sustainable development strategy) enthält eine ausführliche Beschreibung der Lage der EU-Mitgliedstaaten zwei Jahre nach der Krise. Er ermöglicht daher eine kritische Bewertung sowohl des tiefgreifenden Wandels in unseren Gesellschaften als auch der laufenden Debatte darüber, dass der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft dazu beitragen kann, die Rezession zu bekämpfen, die Produktion anzukurbeln und dem Abbau von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken.

2.2   Aufgrund seiner Rolle als Brücke zwischen den EU-Organen und der organisierten Zivilgesellschaft will der EWSA zu den vom Monitoringbericht ausgelösten Überlegungen beitragen und die Beteiligung der die Bürger vertretenden Institutionen an der Bewertung der Themen und der Projekte fördern, die für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung von Bedeutung sind.

2.3   Die vorliegende Stellungnahme soll an die früheren Stellungnahmen anknüpfen, die der EWSA im Rahmen seiner Vorarbeit zur Konferenz der Vereinten Nationen zur Nachhaltigen Entwicklung im Juni 2012 (UN Conference on Sustainable Development, UNCSD) in Rio de Janeiro (Rio + 20) verabschiedet hat.

2.3.1   Diese Stellungnahme soll als Beitrag der Zivilgesellschaft zu den Verhandlungen des Rio + 20-Gipfels dienen, insbesondere in Bezug auf eine der beiden wichtigsten Herausforderungen, die im Mittelpunkt des Gipfels stehen werden: dem institutionellen Rahmen für die nachhaltige Entwicklung.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Analyse der Daten aus dem Bericht 2011 ergibt, dass sich einige Ergebnisse, die im Rahmen der Ziele der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung erzielt wurden, eher auf die derzeitige weltweite Wirtschaftskonjunktur zurückführen lassen und weniger die Folge langfristiger strukturierter Strategien zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung sind. Es ist von vorrangiger Bedeutung, die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede bei der Verwirklichung dieser Ziele zu analysieren und abzubauen.

3.1.1   Zu den positiven Entwicklungen seit 2000, die im Bericht genannt werden, zählen:

die Reduzierung der Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen (auch wenn der Anteil der erwerbstätigen Armen gestiegen ist);

die höhere Lebenserwartung und Verbesserung der allgemeinen öffentlichen Gesundheit (wobei es beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge nach wie vor Ungleichheiten gibt);

die Reduzierung der Treibhausgasemissionen und der stärkere Einsatz erneuerbarer Energieträger;

die Stabilität bei der Artenvielfalt in der Vogelwelt als ein gutes Kennzeichen für den Gesamtzustand der Biodiversität und der Integrität der natürlichen Systeme.

3.1.2   In Bezug auf negative Entwicklungen wird Folgendes verzeichnet:

ein gestiegener Rohstoffbedarf, wobei indes ein positiver Trend der erhöhten Ressourcenproduktivität festzustellen ist;

die Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte ist gestiegen, obgleich sie nach wie vor unter der für 2010 vorgesehenen Zielvorgabe liegt;

die Fischereitätigkeit liegt immer noch über dem Nachhaltigkeitsniveau für Fischbestände;

die Wirtschaftsentwicklung wurde bislang nur relativ vom Energieverbrauch im Verkehrsbereich entkoppelt und der Güter- und Personenverkehr wurde nicht auf umweltverträglichere Verkehrsträger verlagert;

das für 2010 vorgesehene Ziel von 0,56 % des Bruttonationaleinkommens für die offizielle Entwicklungshilfe wurde nicht erreicht.

3.2   In Bezug auf die Auswirkungen der Krise auf die positive/negative Entwicklung der im Eurostat-Bericht untersuchten Trends wird festgestellt, dass die Reduzierung umweltschädlicher luftseitiger Emissionen einerseits durch eine effizientere Energienutzung und einen stärkeren Einsatz kohlenstoffarmer Brennstoffe erzielt wurde, andererseits aber auch auf die negativen Auswirkungen der Krise auf die Konjunktur zurückzuführen ist.

3.2.1   Da Energie die Basis aller Wirtschaftstätigkeiten ist, erscheint sie als die am engsten mit dem Wirtschaftswachstum verknüpfte Variable, was daran ersichtlich ist, dass der Endenergieverbrauch parallel zum Rückgang des BIP abnimmt. Vor diesem Hintergrund ist es von wesentlicher Bedeutung, weitere Maßnahmen zur Loslösung des Wirtschaftswachstums von der Umweltbelastung durch eine Entkoppelung der Wohlstandsbildung vom Energieverbrauch zu ergreifen.

3.3   Letztlich geht aus dem Eurostat-Bericht hervor, dass die Europäische Union auf dem Weg zu einer ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Entwicklung bedeutende Fortschritte gemacht hat, dass jedoch die EU-Wirtschaft nach wie vor „energie- und kohlenstoffintensiv“ ist und deshalb die Bemühungen um tiefgreifende strukturelle Veränderungen intensiviert werden müssen, um einen langfristigen Übergangsprozess einzuleiten, der nicht von der aktuellen Weltwirtschaftskonjunktur beeinträchtigt wird.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Bei der Analyse der Indikatoren zur Messung der Dimension der sozioökonomischen Entwicklung von 2000 bis 2011 kommen die Auswirkungen der Rezession aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise besonders deutlich zum Tragen. Besonders offensichtlich ist dies bei der Prüfung des BIP, der Investitionen und der Arbeitsproduktivität.

4.1.1   Bei der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigung sind negative Entwicklungen zu verzeichnen. Im Bereich Jugendarbeitslosigkeit ist die Quote besonders besorgniserregend. Zu den positiven Trends gehören hingegen: höhere Ersparnisse der Haushalte als Reaktion auf die Krise, Zunahme der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, und Reduzierung der Energieintensität mit vollständiger Entkoppelung.

4.1.2   Im Bereich der sozioökonomischen Entwicklung werden die Fortschritte bei der Schaffung einer auf innovativer und ökologisch effizienter Wirtschaft basierenden Gesellschaft gemessen, die mit hohen Lebensstandards der Zivilgesellschaft einhergeht. Die Wirtschaftskrise hat sich in Bezug auf die Erreichung dieser Ziele negativ ausgewirkt. Die Entwicklung hin zu einer grünen Wirtschaft kann jedoch eine wirksame Hebelwirkung bei der Bewältigung der Rezession erzielen und zur Ankurbelung der Produktion und der Beschäftigung beitragen.

4.2   Die Analyse der Fortschritte bei der Förderung nachhaltiger Produktions- und Verbrauchsmuster ergibt widersprüchliche Entwicklungen. Obgleich die EU die Ressourcen nunmehr effizienter nutzt, steigt die Nachfrage nach Rohstoffen kontinuierlich an. Im Energiebereich nimmt der Stromverbrauch zu, während der Endenergieverbrauch sinkt. In Bezug auf die Abfallproblematik steigt einerseits die Erzeugung gefährlicher Abfälle, andererseits gibt es immer weniger nichtmineralische Abfälle und das Recycling nimmt zu. Darüber hinaus wird auf die kontinuierliche Zunahme des Kraftfahrzeugbestands verwiesen, wobei jedoch auch eine Reduzierung der Schadstoffemissionen verzeichnet wird, die zum großen Teil auf den Rückgang im Verkehrssektor und auf die Verbreitung leistungsfähigerer Motoren zurückzuführen ist.

4.2.1   Die Widersprüche, die bei der Indikatorenanalyse zu Tage treten, zeigen, dass trotz der erzielten Fortschritte weitere Anstrengungen erforderlich sind, um das Ziel zu erreichen, die Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcennutzung im Einklang mit der Tragfähigkeit der Umwelt zu durchbrechen. Darüber hinaus ist es von wesentlicher Bedeutung, die wechselseitige Abhängigkeit von Produktion und Verbrauch stärker zu berücksichtigen und das Konzept des Lebenszyklus von Produkten zu fördern. Deshalb muss mehr in Sensibilisierungsmaßnahmen zur Förderung umweltverträglicherer Produktions- und Verbrauchsmuster investiert werden.

4.3   Die Indikatoren im Bereich der sozialen Eingliederung zeugen von einem recht positiven Entwicklungstrend und einer Minderung des Risikos von Armut und sozialer Ausgrenzung. Dennoch ist für die Gruppe der 25- bis 49-Jährigen ein Anstieg des Armutsrisikos, und für die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ein Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit (auch wenn in geringerem Maße) zu verzeichnen. Reduziert wurden hingegen das Ausmaß der Armut, die Einkommensunterschiede, die Langzeitarbeitslosigkeit und die Kluft zwischen den Gehältern von Frauen und Männern.

4.3.1   Unter den negativen Trends lässt sich Folgendes beobachten: Der Anteil der erwerbstätigen Armen ist gestiegen, die Beteiligung am Prozess des lebenslangen Lernens konnte nicht ausreichend gesteigert werden, um das für 2010 vorgesehene Ziel zu erreichen, und die Schulabbrecherquote muss weiter reduziert werden.

4.3.2   Auch wenn sich aus dem Eurostat-Bericht ein ziemlich positives Bild ergibt, müssen die Ergebnisse in Bezug auf die Schulabbrecherquote und das lebenslange Lernen verbessert werden. Vom Armutsrisiko sind gerade Personen mit niedrigem Bildungsstand betroffen. Darüber hinaus kommt der beruflichen und der allgemeinen Bildung eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, von den Beschäftigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Ausbau der grünen Wirtschaft zu profitieren, die die Entwicklung neuer ökologisch effizienter Technologien und die Anpassung der Fähigkeiten an die Prozesse der technologischen Innovation voraussetzt. Ausbildungsmaßnahmen sind folglich von wesentlicher Bedeutung, sowohl um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen zu fördern, als auch um den Anforderungen jener gerecht zu werden, die bereits erwerbstätig sind und vor neuen Herausforderungen in Verbindung mit dem sich vollziehenden Wandel stehen.

4.4   Aus der Analyse des demografischen Wandels geht hervor, dass in Bezug auf die Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte, die Lebenserwartung nach 65 und die Minderung des Armutsrisikos bei den Über-65-Jährigen beträchtliche Verbesserungen erzielt werden konnten.

4.4.1   Solchen Verbesserungen gegenüber steht jedoch ein Anstieg des quantitativen und qualitativen Niveaus der Sozialfürsorgeausgaben und der öffentlichen Verschuldung. Angesichts des sich vollziehenden demografischen Wandels – insbesondere niedrigere Geburtenraten, längere Lebenserwartung und daraus resultierendes Ungleichgewicht zwischen den Generationen – ist es erforderlich, der Herausforderung der Schaffung einer integrativen Gesellschaft gerecht zu werden, indem ein tragfähiges Niveau der öffentlichen Ausgaben sichergestellt und die Sozialfürsorgeausgaben an die sich verändernden Anforderungen einer größeren Nachfrage nach Ruhegehältern, Gesundheitsfürsorge und Langzeitpflege angepasst werden.

4.5   Bei der Analyse der öffentlichen Gesundheit wurden Verbesserungen in Bezug auf ein längeres und gesünderes Leben festgestellt: Die Lebenserwartung steigt, die Zahl der Todesfälle durch chronische Erkrankungen und die Selbstmordrate sind rückläufig. Ferner wird auch ein Rückgang der Produktion schädlicher chemischer Stoffe, schwerer Arbeitsunfälle und der Lärmbelastung verzeichnet. Diesem positiven Trend gegenüber stehen die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten unter den verschiedenen sozioökonomischen Gesellschaftsgruppen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung.

4.5.1   Das Konzept der öffentlichen Gesundheit umfasst unterschiedliche soziale, wirtschaftliche und ökologische Aspekte der Entwicklung (Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Finanzierung der medizinischen Versorgung, Belastung durch Schadstoffe usw.). Diese ist somit eine der wichtigsten Herausforderungen der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung, die mehr Anstrengungen hin zu einem integrierten analytischen Ansatz erfordert, um die drei Bereiche der Nachhaltigkeit, die oftmals gesondert betrachtet werden, miteinander zu verknüpfen.

4.6   Bei der Analyse der Indikatoren in den Bereichen Klimawandel und Energie wurden einige beträchtliche Verbesserungen verzeichnet. Dennoch hatte die Wirtschaftskrise aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Energie und Wirtschaftsentwicklung beträchtliche Auswirkungen auf diese Trends. Zu den positiven Veränderungen zählen: die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, die die EU dem Ziel der Reduzierung um 20 % bis 2020 und dem Kyoto-Ziel 2012 näherbringt; die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energieträger – in diesem Bereich könnte bis 2020 das Ziel erreicht werden, 20 % des Bruttoinlandsenergieverbrauches durch erneuerbare Energieträger zu decken; und die stärkere Nutzung erneuerbarer Energien im Verkehrssektor. Darüber hinaus sinkt die Energienachfrage.

4.6.1   In Bezug auf die negativen Entwicklungen ist festzustellen, dass die Abhängigkeit von Energieeinfuhren in den Jahren 2000 bis 2009 gestiegen ist, der Anteil von 21 % der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern nicht erreicht wurde und bei der Kraft-Wärme-Kopplung und der Verlagerung der Steuerlast von der Arbeit auf die Ressourcennutzung nur bescheidene Fortschritte erzielt wurden.

4.6.1.1   Die Produktion und der Verbrauch von Energie verursachen die meisten CO2-Emissionen und haben damit weltweit die stärksten Umweltauswirkungen. Vor diesem Hintergrund ist die technologische Innovation im Energiebereich überaus wichtig. Darüber hinaus können die Entwicklung erneuerbarer Quellen und die Stärkung der Energieeffizienz nicht nur zur Eindämmung der umweltschädlichen Gasemissionen beitragen, sondern auch wirtschaftliche und soziale Vorteile schaffen. Sie gehen nämlich mit neuen Aktivitäten einher, die wiederum neue Arbeitsplätze schaffen, und verknüpfen die Erfordernisse des Umweltschutzes mit jenen des Wirtschaftswachstum und der Beschäftigung.

4.6.1.2   Zu diesem Zweck muss vermieden werden, dass die Wirtschaftskrise die derzeitige Entwicklung hin zu einer grünen Wirtschaft gefährdet, die in diesen Zeiten der wirtschaftlichen Rezession besonders anfällig erscheint.

4.7   Auch die im Bereich des nachhaltigen Verkehrs ermittelten Veränderungen sind teilweise auf die Folgen der Krise zurückzuführen. Aufgrund des daraus resultierenden geringeren Verkehrsvolumens wurden insbesondere weniger Straßenunfälle sowie eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen und des Energieverbrauchs verzeichnet, wobei indes nur eine relative Entkopplung festzustellen ist.

4.7.1   Zu den positiven Trends zählen sowohl die Fortschritte bei der Reduzierung der CO2-Emissionen von Neuwagen als auch bei der Verringerung der luftseitigen Schadstoffemissionen. In Bezug auf die negativen Trends lässt sich hingegen beobachten, dass sowohl im Bereich des Güterverkehrs als auch im Bereich der Personenbeförderung eine Verlagerung auf umweltverträglichere Verkehrsträger bislang ausgeblieben ist.

4.7.1.1   Der Verkehrsektor ist ein komplexer Bereich, dessen problematische Aspekte auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind, einschließlich unterschiedlicher Lebensstile und kulturbedingter Verbrauchsmuster. Vor diesem Hintergrund wird am Beispiel des Verkehrsektors deutlich, dass man sich bei der Bekämpfung des Klimawandels – sollte sie denn wirksam sein – nicht darauf beschränken darf, nur die politischen Maßnahmen und technischen Entscheidungen zu hinterfragen, sondern in erster Linie auch die Bürger mit ihren Alltagsgewohnheiten zu berücksichtigen sind.

4.8   Die Bemühungen um den Schutz der natürlichen Ressourcen haben zwar zu einigen positiven Ergebnissen geführt, es müssen jedoch noch weitere wichtige Schritte unternommen werden. Die Reichhaltigkeit und Vielfalt zahlreicher Vogelarten sind zwar stabil, es wird aber nach wie vor eine Überfischung der Fischbestände verzeichnet (3). Es werden zwar immer mehr Naturschutzzonen ausgewiesen, auf der anderen Seite ist aber eine Ausweitung der städtischen Gebiete zu Lasten landwirtschaftlicher Flächen und naturnaher Gebiete zu beobachten.

4.8.1   Die natürlichen Ressourcen sind nicht nur die Voraussetzung für die Entwicklung der Produktions- und Konsumaktivitäten der Menschen, sondern auch die Grundlage für ein Gleichgewicht der Ökosysteme, deren Veränderung unumkehrbare Folgen für unseren gesamten Planeten haben kann. Aus diesem Grund ist ein stärkeres Engagement erforderlich, um der Umweltzerstörung mittels die Erhaltung des Naturkapitals des Bodens und seiner Artenvielfalt Einhalt zu gebieten.

4.8.2   Es ist dringend notwendig, die bestehende Kluft in Bezug auf die umweltbezogenen Indikatoren mit zusätzlichen Indikatoren zu beseitigen, um den Zustand der biologischen Ressourcen und den aus den Ökosystemen resultierenden jetzigen und künftigen öffentlichen Nutzen besser wiederzugeben.

4.9   Trotz der negativen Auswirkungen der Krise auf die Handelsströme (infolge des Anstiegs der Einfuhren aus Entwicklungsländern und des Abbaus der EU-Agrarsubventionen) und die Finanzierung von Maßnahmen zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung und zur Verwaltung der natürlichen Ressourcen weist der Ausbau der globalen Partnerschaft seit 2000 positive Entwicklungen auf.

4.9.1   Andererseits ist der für die offizielle Entwicklungshilfe für Entwicklungsländer vorgesehene Anteil am Bruttonationaleinkommen nur geringfügig gestiegen, so dass die Zielvorgabe für 2010 nicht erreicht wird. Darüber hinaus hat sich im Bereich der CO2-Emissionen die Kluft zwischen der EU und den Entwicklungsländern verringert, da die Emissionen in den Entwicklungsländern zunehmen, während sie in den EU-Mitgliedstaaten sinken.

4.9.2   Die globale Partnerschaft ist eine wesentliche Dimension der EU-Nachhaltigkeitsstrategie: Die Bekämpfung der weit verbreiteten Armut, die Ungleichheiten und der fehlende Zugang zu Ressourcen in den am wenigsten entwickelten und den Entwicklungsländern sind die wichtigsten Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung. Aus diesem Grund besteht die Verpflichtung, die ärmeren Länder dabei zu unterstützen, mit dem Übergang zur Nachhaltigkeit in angemessener Weise Schritt zu halten und die Probleme im Zusammenhang mit dem weltweiten Bevölkerungswachstum, den steigenden Erwartungen an den Lebensstandard und dem zunehmenden Rohstoffverbrauch zu bewältigen.

4.10   Die Indikatoren zur Messung des Niveaus des verantwortungsvollen Regierens (good governance) zeigen sowohl positive als auch negative Trends. Bezüglich positiver Entwicklungen ist festzustellen: a) ein beträchtlicher Rückgang der Verstöße gegen das EU-Recht auf nationaler Ebene; b) zwischen 2007 und 2009 lag die Umsetzungsrate der europäischen Richtlinien über der Zielvorgabe von 98,5 %; c) zunehmende Verfügbarkeit von eGovernment in den grundlegenden öffentlichen Diensten und stärkere Inanspruchnahme durch die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten; d) die Hälfte der befragten Bürgerinnen und Bürgern hat Vertrauen in das Europäische Parlament. Zu den negativen Entwicklungen zählen hingegen: e) Rückgang der Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen sowie der Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament, die noch geringer ausfiel als die Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen (mehr als 20 % Unterschied in 27 Ländern; nur ein Land verzeichnet ein gegenläufiges Ergebnis), f) die ergriffenen Maßnahmen zur Verlagerung der Besteuerung hin zu einem größeren Anteil der Umweltsteuern an den Gesamtsteuereinnahmen sind nicht ausreichend.

4.10.1   Das Konzept des Regierens (Governance) hängt eng mit der nachhaltigen Entwicklung und mit dem Grundsatz der sozialen Gleichheit und der Generationengerechtigkeit zusammen. Deshalb müssen die Interessen der künftigen Generationen bei den Vereinbarungen der jetzigen Generationen berücksichtigt werden. Verantwortungsvolles Regieren erfordert den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft unter umfassender Beteiligung der Wirtschaft, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft durch die Schaffung von Dialogstrukturen zwischen den Bürgern und den politischen Entscheidungsträgern.

4.11   Die Mitwirkung und Teilhabe der Zivilgesellschaft ist nach Auffassung des EWSA für weitere Fortschritte bei der Verwirklichung der nachhaltigen Entwicklung und der Konsolidierung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie von entscheidender Bedeutung. Um die Beteiligung der Zivilgesellschaft zu gewährleisten und es ihr zu ermöglichen, zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung beizutragen, muss der Zugang zu Wissen und Informationen über Fragen der Nachhaltigkeit verbessert werden.

4.12   Zur Gewährleistung einer wirkungsvolleren Kommunikation sind darüber hinaus wirksamere Parameter zur Messung der Fortschritte bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung vonnöten. Insbesondere ist es zweckmäßig, den vom EWSA eingeschlagenen Weg fortzuschreiten und sich dafür stark zu machen, dass zur Messung des wirtschaftlichen Fortschritts neue Indikatoren über das BIP hinaus (4) erarbeitet werden, mit deren Hilfe die Bewertung der ökologischen und sozialen Qualität in die Bewertung der Wirtschaft einfließen würde. Darüber hinaus müssen die quantitative und die qualitative Dimension miteinander verknüpft werden und möglicherweise auch eine Erhebung zur Wahrnehmung und Beurteilung von Nachhaltigkeitsfragen durch die sozialen Akteure umfassen.

4.13   In der Tat ist die Entwicklung eines leistungsfähigen Informationssystems, das nicht nur eine bloße Wissensquelle wäre, Teil des Entscheidungs- und Politikgestaltungsprozesses und bildet die Grundlage für den Aufbau eines sozialen Präferenzsystems. Deshalb müssen die Überlegungen zur Bedeutung des sozialen und ökologischen Fortschritts und die daraus resultierende Suche nach neuen Indikatoren und Interpretationsinstrumenten unter aktiver Beteiligung von Experten sowie von politischen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteuren im Rahmen einer demokratischen Mitwirkung an der Entscheidungsfindung erfolgen.

4.14   Der EWSA stellt ferner fest, dass es keinen Bericht über die zu erwartenden Auswirkungen der Arbeit von Eurostat gibt, und fordert zu klären, wie die Entwicklung der künftigen politischen Maßnahmen und von Entwicklungstendenzen in die Arbeit der Kommission und der Mitgliedstaaten einfließen wird.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Standpunkt des EWSA zur Vorbereitung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio + 20)“, ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 39.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Das BIP und mehr – die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Auswahl zusätzlicher Indikatoren“, Berichterstatter: Stefano Palmieri.

(3)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 183.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Das BIP und mehr – die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Auswahl zusätzlicher Indikatoren“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

481. Plenartagung am 23. und 24. Mai 2012

31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen Raum“

COM(2011) 782 final

2012/C 229/05

Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 13. Juli 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Strategie der EU für den Atlantikraum“.

Die Europäische Kommission beschloss am 21. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen Raum

COM(2011) 782 final.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 6. Dezember 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme und wandelte die Initiativstellungnahme in eine Stellungnahme auf Befassung um.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 7. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 151 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die europäische Atlantikküste, die das westliche Tor Europas bildet, muss ihre zentrale Position unterstreichen, damit sie nicht Gefahr läuft, vom politischen und wirtschaftlichen Zentrum Europas abgekoppelt zu werden. Über den Atlantik unterhält Europa wirtschaftliche und politische Beziehungen mit Amerika und Afrika.

1.2   Die Makroregion „Atlantikraum“ umfasst die Regionen und Inseln der Atlantikseite Irlands, Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens und Portugals. Eingebunden werden muss auch Island, das den Beitritt zur EU beantragt hat, ebenso wie Norwegen, das dem EWR angehört, und auch Grönland und die Färöer-Inseln. Die Nordseeregionen haben zwar ebenfalls ein Interesse am Atlantikraum, könnten jedoch künftig zu einer eigenen Strategie finden.

1.3   Der europäische Atlantikraum verfügt über langjährige Erfahrungen mit der politischen Zusammenarbeit bei der Förderung von Maßnahmen von allgemeinem Interesse in Form von Projekten, die im Rahmen europäischer transnationaler Programme durchgeführt werden. An dieser Zusammenarbeit wirken sowohl die regionalen Gebietskörperschaften als auch die Zivilgesellschaft mit.

1.4   Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für den Atlantikraum im Rahmen der integrierten Meerespolitik, d.h. die Förderung neuer aufstrebender Wirtschaftszweige und eines neuen Impulses für traditionelle Branchen im Rahmen eines Nachhaltigkeitsansatzes.

1.5   Der EWSA schlägt allerdings einen ehrgeizigeren Ansatz vor: eine makroregionale Strategie, die neben einer maritimen Säule auch eine territoriale enthält, wobei den Erfahrungen der Regionen des Ostsee- und Donauraums Rechnung zu tragen ist.

1.6   Der EWSA schließt sich mit seinem Vorschlag dem Standpunkt des Europäischen Parlaments, der Regierungen der Regionen der Atlantikbogen-Kommission, der dem transnationalen Atlantiknetz angehörenden Wirtschafts- und Sozialräte sowie zahlreicher Akteure der Zivilgesellschaft (Unternehmer, Gewerkschaften, Handelskammern, Städte usw.) an.

1.7   Der EWSA sieht in dem in der Meeresstrategie für den atlantischen Raum vorgesehenen Atlantik-Forum einen ersten Schritt zur Umwandlung dieser Strategie in eine makroregionale Strategie. Das Forum wird sich, aufbauend auf den mit der Bearbeitung, Überwachung und Bewertung in maritimen Fragen gesammelten Erfahrungen, zu dem künftigen makroregionalen Forum weiterentwickeln, vom dem die gemeinsamen strategischen Handlungsleitlinien und die vorrangigen Projekte für den territorialen Zusammenhalt der Regionen des Atlantikraums festgelegt werden.

1.8   Der EWSA, der der Leadership Group of the Atlantic Forum angehört, hat vorgeschlagen, dass auch das transnationale Atlantiknetz der Wirtschafts- und Sozialräte an diesem Forum mitwirkt, da es sich hierbei um vor Ort tätige Akteure handelt, die für die Ermittlung und Durchführung der Projekte unerlässlich sind. Wenn der Aktionsplan Erfolg haben soll, müssen die wichtigsten sozialen und regionalen Akteure an seiner Aufstellung mitwirken.

1.9   Die vorrangigen Ziele der Makroregion „Atlantikraum“ müssen in die thematischen Säulen der Europa-2020-Strategie eingebettet sein. Der EWSA hält die Atlantikstrategie nicht nur für die betroffenen Regionen für sehr wichtig, sondern auch für die gesamte Europäische Union.

1.10   Die Atlantikstrategie muss sowohl in die sektorspezifischen Politikbereiche als auch in die Kohäsionspolitik einfließen, weshalb der EWSA vorschlägt, die Einschränkungen der „drei Nein“ aufzuheben, um zu gewährleisten, dass die makroregionalen Strategien künftig über angemessene Rechtsvorschriften, eigene Mittel und die erforderlichen Verwaltungsstrukturen verfügen.

2.   Die makroregionalen Strategien in der EU: neue Instrumente für die territoriale Zusammenarbeit und den territorialen Zusammenhalt

2.1   Die Europäische Kommission legte im Juni 2009 eine Strategie der Europäischen Union für den Ostseeraum (1) vor, mit der die territoriale Zusammenarbeit gefördert und mittels verschiedener spezifischer Ziele zur Lösung gemeinsamer Probleme ein multisektoraler und integrierter strategischer geografischer Rahmen festgelegt wird. Später kam die Strategie für den Donauraum hinzu (2).

2.2   Die Kommission beschreibt Makroregionen als ein Gebiet, das eine Reihe von Verwaltungsregionen umfasst, denen genügend Probleme gemein sind, um einen einheitlichen strategischen Ansatz zu rechtfertigen (3). Makroregionen werden auf der Grundlage eines geografischen Gebiets auf funktionaler Ebene definiert.

2.3   Die administrativen, rechtlichen und finanziellen Bedingungen basieren auf den „drei Nein“: keine zusätzlichen Mittel, keine neuen Verwaltungsstrukturen und keine neuen Rechtsvorschriften. Auch wenn dies die Mitgliedstaaten im Rat zur Bedingung gemacht haben, ist der EWSA mit diesen Einschränkungen nicht einverstanden.

2.4   An der Strategie für den Ostseeraum sind acht EU-Mitgliedstaaten und drei Nachbarstaaten beteiligt.

2.5   2011 führte die EU die Strategie für den Donauraum ein, an der acht EU-Mitgliedstaaten und sechs Drittstaaten mitwirken (4).

2.6   Aus der ersten Bilanz der Strategie für den Ostseeraum (5) geht hervor, dass dieses Instrument zufriedenstellende Resultate bei der Verbesserung der makroregionalen Zusammenarbeit und der Bewältigung von Herausforderungen und der Verwirklichung von Chancen, die die regionale und nationale Ebene übersteigen, erbringt und sehr hilfreich für das Ziel des territorialen Zusammenhalts und die Europa-2020-Strategie ist.

2.7   Der EWSA ist ebenfalls der Meinung, dass diese Art von Instrumenten auf andere Makroregionen ausgedehnt werden sollte, die einen Mehrwert erbringen können.

2.8   Der Lissabon-Vertrag, der neben dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt das Ziel des territorialen Zusammenhalts beinhaltet, hat neue Impulse für makroregionale Strategien gegeben.

2.9   In der im Mai 2011 in Gödöllő verabschiedeten Territorialen Agenda 2020 (6) wird ein innovativer, ortsbezogener Ansatz (place-based approach) verfolgt und den bereits existierenden makroregionalen Strategien Rechnung getragen.

2.10   Die Kohäsionspolitik ist das grundlegende Instrument, mit dem die territorialpolitischen Herausforderungen der EU angegangen werden und die endogene Entwicklung der Makroregionen gefördert wird.

2.11   Das Verfahren zur Festlegung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU und der Kohäsionspolitik für den Zeitraum 2014-2020 hat bereits begonnen.

2.12   Die territoriale Zusammenarbeit gehört auch weiterhin zu den Zielen der Kohäsionspolitik, für die mehr Mittel bereitgestellt würden. Sie wird durch eine Verordnung geregelt werden, und es sind explizit „neue, auf makroregionale Herausforderungen zugeschnittene Formen der territorialen Zusammenarbeit“ vorgesehen (7).

3.   Der Atlantikraum

3.1   Der europäische Atlantikbogen (Anhang I) ist ein ausgedehntes geografisches Gebiet auf einer Nord-Süd-Achse, dessen grundlegendes Bindeglied der Atlantische Ozean ist. Die Makroregion „Atlantikraum“ umfasst die Regionen und Inseln der Atlantikseite Irlands, Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens und Portugals. Auch Island, das derzeit Beitrittsverhandlungen führt, ist daran interessiert, ebenso wie Norwegen, das dem EWR angehört, und auch Grönland und die Färöer-Inseln.

3.2   Ihre Lage im Westen des europäischen Kontinents und ihre Öffnung zum Meer hin sind jahrhundertelang ein wichtiger Faktor für Dynamik und Wohlstand gewesen.

3.3   Die maritime Dimension ist ein wesentliches Merkmal des Atlantikraums, zu dessen wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Gemeinsamkeiten Aktivitäten wie Fischerei, Schiffbau, Metallverarbeitung, Ingenieurwesen, Forschung und Wissenschaft, Häfen, Handel und Seeverkehr gehören.

3.4   Die europäische Atlantikküste ist heute mehr und mehr vom politischen und wirtschaftlichen Zentrum Europas abgekoppelt. Hierzu kommen Erschwernisse in der Erreichbarkeit, mangelnde Verkehrs- und Energieinfrastrukturen sowie unzureichende Verbindungen zwischen den Atlantikregionen untereinander und zwischen ihnen und den wohlhabenderen Regionen Europas.

3.4.1   Die meisten Atlantikregionen haben ein Einkommensniveau, das unter dem EU-Durchschnitt liegt, und einige Regionen fallen unter das Konvergenzziel der Kohäsionspolitik (Anhang II).

3.4.2   Die Lage verschlechtert sich, denn es ist ein starker Rückgang der traditionellen Aktivitäten des Atlantikraums zu verzeichnen, z.B. in der Fischereiwirtschaft mit ihren Überkapazitäten, deutlich weniger Erwerbstätigen und rückläufigen Fangmengen, dem im Niedergang befindlichen Schiffbau und dem unausgelasteten See- und Hafenverkehr.

3.5   Andererseits verfügt der Atlantik über wertvolle, bislang unerschlossene Ressourcen, die Quellen für Wohlstand, wirtschaftliche Diversifizierung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Umwelt sein können, wie erneuerbare Energien aus dem Meer, unterseeische Bodenschätze, marine Biotechnologien, Wassersport und Mariner Tourismus usw.

3.6   Für den EWSA besteht der Atlantikraum aus heterogenen Regionen mit ihren eigenen entwicklungspolitischen Herausforderungen, deren Einheit und Besonderheit von ihrem maritimen Charakter, ihrer Öffnung zur Welt und ihrer mangelhaften Anbindung an die politischen und wirtschaftlichen Zentren Europas herrühren.

4.   Die MitteilungEntwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen Raum

4.1   Die Europäische Kommission veröffentlichte auf Ersuchen des Rates und des Europäischen Parlaments am 21. November 2011 die Mitteilung „Entwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen Raum“ (8).

4.2   In der Strategie, die dem vorrangigen Ziel der Förderung eines nachhaltigen Wachstums und einer nachhaltigen Beschäftigung dient, werden die Herausforderungen und Chancen des Atlantikraums in fünf miteinander zusammenhängende Themenbereiche unterteilt:

4.2.1

Umsetzung des Ökosystemansatzes, demgemäß die Aktivitäten, die Auswirkungen auf den Ozean haben, so zu steuern sind, dass ein gesundes und produktives Ökosystem aufrechterhalten wird; im Mittelpunkt der Strategie steht die Förderung von drei Bereichen: Fischerei, Aquakultur und Beobachtungssysteme;

4.2.2

Verringerung des CO2-Ausstoßes in Europa mit drei Abschnitten: Offshore-Windenergie, Meeres-Energieträger und Seeverkehr;

4.2.3

mit einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen des atlantischen Meeresbodens sollen die Nachhaltigkeit, die Forschung und die Kenntnisse gefördert werden;

4.2.4

die Reaktion auf Bedrohungen und Notfälle, seien sie verursacht durch Unglücke oder Naturkatastrophen, unter Verbesserung der Sicherheit und der Koordination;

4.2.5

ein sozial integratives Wachstum, da viele Gemeinden der Atlantikküste neue Arbeitsplätze in neuen Tätigkeitsbereichen schaffen müssen, um die rückläufigen traditionellen Aktivitäten zu ersetzen.

4.3   Die EU-Instrumente sind eine strategische Kombination aus den Finanz- und Rechtsinstrumenten der EU.

4.4   Zur Umsetzung der Strategie wird bis Ende 2013 ein Aktionsplan aufgestellt werden.

4.4.1   Folgende Instrumente sollen bei der Umsetzung genutzt werden: die politische Zusammenarbeit, gezielte Maßnahmen im Rahmen bestehender Vereinbarungen und Strukturen und eine Kombination aus Finanzierungs- und Rechtsinstrumenten.

4.4.2   Es soll ein Atlantik-Forum eingerichtet werden, an dem die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, die regionalen Behörden, die Zivilgesellschaft und die Vertreter bestehender und neu entstehender Industrien mitwirken werden. Das Forum, das seine Arbeit noch 2012 aufnehmen und 2013 aufgelöst werden soll, wird themenspezifische Workshops und eine Reflexionsgruppe umfassen.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1   Der EWSA begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission, die einen auf der europäischen integrierten Meerespolitik (IMP) basierenden Ansatz für das atlantische Becken vorschlägt. Die IMP bietet einen gemeinsamen Rahmen für alle sektorspezifischen Maßnahmen mit Auswirkungen auf das Meer, wodurch Inkohärenz und Ineffizienz vermieden werden.

5.2   Der EWSA ist der Ansicht, dass sich dank einer konkreten Anwendung der IMP im Atlantikraum ein neuer Ansatz für die Konzipierung meerespolitischer Maßnahmen entwickeln lässt und die Chancen genutzt werden können, die der Atlantik für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung bietet.

5.3   Der EWSA begrüßt den der Strategie zugrunde liegenden Ansatz: Aus einem Blickwinkel der nachhaltigen Entwicklung werden die neu entstehenden Wirtschaftssektoren gefördert, und den traditionellen Sektoren wird ein neuer Impuls gegeben.

5.4   Der Ausschuss schlägt vor, regenerativen Energien aus dem Meer die größtmögliche politische Unterstützung und eine finanzielle Unterstützung seitens der EU-Institutionen zuteilwerden zu lassen, da sie zu einer Verringerung des CO2-Ausstoßes in Europa beitragen und in ihrem Umfeld eine sehr wichtige Industrie- und Wirtschaftstätigkeit hervorbringen, die über die Hafenzonen in Windparknähe hinausgeht.

5.5   Die Strategie muss die Kapazitäten im Bereich Forschung, technische Entwicklung und Produktion des Meeresenergiesektors, der Zulieferindustrie und des logistischen Apparats in den Atlantikregionen ankurbeln. Dies würde sowohl eine Diversifizierung der Wirtschaft ermöglichen als auch Krisenbranchen neue Perspektiven eröffnen.

5.6   Bei diesen Kapazitäten geht es nicht nur um Windräder mit festem Fundament, sondern auch um schwimmende Windkraftanlagen.

5.7   Wellen und Gezeiten sind eine Energie- und Wirtschaftsressource mit hohem Potenzial, da der Atlantik zu den Gebieten mit den weltweit besten Gegebenheiten dafür gehört. Der EWSA meint, dass die Strategie für den Atlantikraum die Erforschung und Entwicklung dieser Techniken stärker fördern sollte.

5.8   Erneuerbare Energie aus dem Meer erfordert die Netzanbindung der wichtigsten Produktionsorte mit den Verbrauchszentren. Für die Nutzung des Energiepotenzials der Meere ist die Vernetzung der Erzeugungsstandorte und der Verbrauchsschwerpunkte unabdingbar. Daher sind Offshore-Stromnetze erforderlich, die an die terrestrischen Netze angebunden sein müssen.

5.9   Auch der Schiffbau gehört zu den traditionellen Wirtschaftstätigkeiten der Atlantikregionen und muss gefördert werden, allerdings auf einer neuen Grundlage. Der Bau von technisch fortschrittlichen, umweltfreundlicheren Schiffen, die strenge gesetzliche Normen für Emissionen und Schadstoffausstoß einzuhalten vermögen, und eine eigene Produktgruppe von Wasserfahrzeugen speziell für Meereswindparks sind neue, zukunftsträchtige Sektoren für die Werften an der Atlantikküste.

5.10   Die abgelegene geographische Lage zahlreicher Gegenden der Atlantikküste, insbesondere einiger Inseln, erfordert neue Kommunikationstechnologien, die die Entwicklung innovativer Wirtschaftstätigkeiten, den Aufbau von Netzen und den Kontakt mit den Märkten ermöglichen.

5.11   Der EWSA schlägt vor, verstärkt Maßnahmen für ein sozial integratives Wachstum in den Atlantikregionen zu ergreifen. Die Bildung, insbesondere der Jugend, ist von wesentlicher Bedeutung. Kenntnisse und Fähigkeiten müssen von Generation zu Generation weitergereicht werden. Die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Unternehmen und Bildungseinrichtungen des Sekundarbereichs muss verbessert werden. Es gilt, den sozialen Dialog zu verbessern.

5.12   Die Fischerei ist ein Wirtschaftszweig, in dem in den vergangenen Jahrzehnten sehr viele Arbeitsplätze verlorengegangen sind, weshalb traditionell von der Fischerei lebende Küstenorte aus Sicht des EWSA Diversifizierungs- und Anreizmaßnahmen für neue Wirtschaftstätigkeiten benötigen. Die handwerkliche Küstenfischerei, die Zucht von Meeresfrüchten und die Aquakultur sind die nachhaltigsten Tätigkeiten. Sie spielen eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung einiger Küstenregionen und haben eine große kulturelle Bedeutung.

5.13   Der EWSA schlägt vor, den Güterverkehr verstärkt von der Straße auf den Seeweg zu verlagern. Hochgeschwindigkeitsseewege müssen ausgebaut werden; dafür ist für eine bessere Intermodalität zwischen Häfen und Schiene zu sorgen.

5.14   Wie verschiedene Unfälle gezeigt haben, ist die Sicherheit bei Notfällen und Bedrohungen ein wichtiges Aufgabengebiet. Es müssen Mechanismen und Systeme für eine stärkere Überwachung und höhere Sicherheit eingerichtet werden. Der EWSA schlägt vor, der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs eine gewichtigere Funktion zu geben, die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern und geeignete Rechtsvorschriften zu erlassen, um die gegenwärtigen Risiken zu vermeiden.

5.15   Die Strategie für den Atlantikraum ist eine Chance für die betroffenen Regionen. Es muss konsequent gehandelt werden, um alle Kräfte zu mobilisieren.

5.16   Das Atlantik-Forum muss in geeigneter Weise die Mitwirkung aller an der strategischen Entwicklung des Atlantikraums Beteiligten ermöglichen. Es ist sehr wichtig, neben den Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen auch die regionalen Gebietskörperschaften und die Organisationen der Zivilgesellschaft einzubeziehen.

5.17   Der EWSA, der der Leadership Group of the Atlantic Forum angehört, hat vorgeschlagen, dass das transnationale Atlantiknetz der Wirtschafts- und Sozialräte an diesem Forum mitwirkt, da es sich hierbei um vor Ort tätige Akteure handelt, die für die Ermittlung und Durchführung der Projekte unerlässlich sind. Wenn der Aktionsplan Erfolg haben soll, müssen die wichtigsten sozialen und regionalen Akteure an seiner Aufstellung mitwirken.

5.18   Das Forum kann eine wichtige Rolle dabei spielen, die Umsetzung des Aktionsplans und der Strategie zu überwachen und zu bewerten, weshalb der Ausschuss bedauert, dass die Kommission vorsieht, es zu Beginn der operationellen Phase der Projektdurchführung aufzulösen. Der Ausschuss schlägt vor, das Atlantik-Forum seine Tätigkeit auch nach der Ausarbeitung des Aktionsplans fortsetzen zu lassen.

6.   Die atlantische Zusammenarbeit: transnationale Kooperationsnetze und -projekte

6.1   Zur Förderung einer ausgewogenen Entwicklung der EU wurden Netze von Regionen in Irland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal sowie Netze der Städte und der Zivilgesellschaft dieser Regionen aufgebaut: Wirtschafts- und Sozialräte, Handelskammern, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, sozialwirtschaftliche Verbände, nichtstaatliche Organisationen, Hochschulen usw.

6.2   Die Atlantikbogen-Kommission  (9) ist eine der sechs geografischen Kommissionen der Konferenz der peripheren Küstenregionen (KPKR). Ihr gehören 24 Regionen der Atlantikküste an. Sie ist ein politisches Forum zur Vertretung der Interessen der Regionen, das die länderübergreifende Zusammenarbeit im Atlantikraum bei gemeinsamen Projekten fördert. In ähnlicher Weise fördern die Städte des Atlantikraums im Rahmen der Konferenz der Städte des Atlantischen Bogens  (10) gleichgelagerte Ziele.

6.3   Das transnationale Atlantiknetz  (11) der wirtschaftlichen und sozialen Akteure, das Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen der britischen, französischen, spanischen und portugiesischen Atlantikküste umfasst, wurde 2003 als Kooperationsplattform der Zivilgesellschaft des Atlantikraums ins Leben gerufen. Es soll die Zusammenarbeit fördern und politische Maßnahmen anstoßen, die sich im Rahmen der europäischen Integration positiv auf die Entwicklung der Atlantikregionen auswirken, indem die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, der soziale und territoriale Zusammenhalt verbessert und die mit ihrer geografischen Lage verbundenen Nachteile überwunden werden.

6.4   Das Atlantiknetz hat verschiedene Studien und Vorschläge im Bereich Innovation und Technologietransfer sowie zur Intermodalität im Güterverkehr mit besonderem Schwerpunkt auf dem Seeverkehr, den Häfen und deren Hinterland sowie der Seeverkehrssicherheit im Atlantikraum ausgearbeitet. In letzter Zeit hat das Atlantiknetz an der Entwicklung erneuerbarer Meeres-Energieträger und an der europäischen Strategie für den Atlantikraum gearbeitet.

6.5   Es gibt noch weitere atlantische Netze, wie den Verband der Landwirtschaftskammern des Atlantikbogens (AC3A), und andere im akademischen Bereich. Seit 2007 wirken im Koordinierungsausschuss der Atlantikbogen-Kommission Vertreter all dieser Netze in einem gemeinsamen Forum an Beratungen über strategische Fragen des Atlantikraums mit.

6.6   Die Zusammenarbeit begann 1989 im Rahmen von INTERREG. Im aktuellen Programmplanungszeitraum werden derzeit integrative Großprojekte im Verkehrsbereich und zur Schaffung eines atlantischen Clusters für erneuerbare Energie aus dem Meer entwickelt.

6.7   Der EWSA teilt die Meinung der Beteiligten: Die atlantische Zusammenarbeit hat unter den Einschränkungen der transnationalen territorialen Zusammenarbeit im Allgemeinen, einer fehlenden strategischen Vision, einer mangelnden Abstimmung der Projekte mit dem sich daraus ergebenden Synergieverlust und der ausufernden Zahl nicht operationeller Projekte gelitten (12).

6.8   Nach dem Dafürhalten des EWSA bilden diese Erfahrungen mit einer dynamischen, vielfältigen Zusammenarbeit der Akteure des Atlantikraums eine sehr solide Grundlage für neue Ansätze einer ambitionierteren, strategischeren Zusammenarbeit.

7.   Der Vorschlag des EWSA: eine makroregionale Strategie für den Atlantikraum

7.1   Der EWSA hält die makroregionale Strategie für ein geeignetes Instrument für den Atlantikraum. Die Förderung der endogenen Entwicklung der atlantischen Makroregion mit Hilfe einer umfassenden Strategie wird den Atlantikraum im Hinblick auf die EU-Ziele und die Europa-2020-Strategie voranbringen.

7.2   Der Rat hat die Mitgliedstaaten und die Kommission aufgerufen, auch weiterhin die bestehenden makroregionalen Strategien voranzutreiben und die künftige Einführung weiterer Strategien in Erwägung zu ziehen.

7.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass das Ziel eines territorialen Gleichgewichts in der EU die Förderung einer makroregionalen Strategie im Atlantikraum rechtfertigt, mit der die länderübergreifenden Aufgabenstellungen dieses Raumes angegangen werden können. Die Lage des Atlantikbogens am Westrand Europas wird weiter akzentuiert dadurch, dass die Regionen im Norden und im Zentrum der EU durch die beiden existierenden makroregionalen Strategien einen Schub erhalten.

7.4   Die Vorbereitungen für den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 und die Politikgestaltung im neuen Programmplanungszeitraum bieten die Chance, nun die erforderlichen Weichen zu stellen.

7.5   Eine makroregionale Strategie bietet die Gelegenheit, die mit der Zusammenarbeit gesammelten reichen und umfassenden Erfahrungen zu nutzen und einen Qualitätssprung hin zu komplexeren und ambitionierteren Formen der Zusammenarbeit zu machen, denn der Atlantikraum muss gemeinsame Großprojekte entwickeln, die mit den derzeit verfügbaren Instrumenten nicht realisiert werden können.

7.6   Zwar liegen viele der Herausforderungen und Chancen des Atlantikraums in seiner Hinwendung zum Meer, doch schlägt der EWSA angesichts der grundlegenden Bedeutung seiner landseitigen Verbindung vor, neben der maritimen Dimension auch die territoriale zu berücksichtigen. Das Festland ist bestimmend für die Ordnung und Entwicklung des Hinterlandes, ohne die eine stärkere Erschließung des maritimen Potenzials aussichtslos wäre. Die Atlantikküste benötigt ein aktives und dynamisches Hinterland und Synergien, die eine kohärente Entwicklung der Region als Ganzes ermöglichen.

7.7   Das Europäische Parlament hat sich ebenfalls für einen makroregionalen Ansatz ausgesprochen, der die maritime und die territoriale Säule im Atlantikraum beinhaltet (13).

8.   Struktur und thematische Säulen

8.1   Der EWSA empfiehlt einen der Strategie für den Ostseeraum vergleichbaren Rahmen.

8.1.1   Ein klares und handlungsorientiertes Strategiepapier, das die thematischen Säulen enthält.

8.1.2   Ein Aktionsplan mit den vorrangigen Maßnahmen, die im Rahmen der thematischen Säulen und Leitprojekte entwickelt werden.

8.1.3   Der EWSA hält es für erforderlich, Systeme zur Bewertung der mit der Strategie erzielten Fortschritte einzuführen, da es sich um einen dynamischen und innovativen Prozess handelt, der Mechanismen zur Überwachung, Bewertung und Überarbeitung enthalten sollte.

8.2   Der EWSA schlägt vor, die makroregionale Strategie für den Atlantikraum auf die thematischen Pfeiler der Europa-2020-Strategie zu stützen. Hierdurch werden die thematischen Inhalte und die sektorspezifischen Politikbereiche in integrierter Form miteinander verwoben.

8.3   Internationale Dimension

8.3.1   Island und Norwegen sind zwei europäische Länder, die auch zum Atlantikraum gehören und an der makroregionalen Strategie mitwirken müssen, ebenso wie Grönland und die Färöer-Inseln. Auch die an der Nordsee liegenden Mitgliedstaaten können daran interessiert sein, eine makroregionale Strategie für dieses Gebiet ins Leben zu rufen.

8.3.2   In eine makroregionale Strategie für den Atlantikraum müssen seine geopolitische Lage, die historischen und kulturellen Bande und die Kooperationserfahrungen einfließen. Die transatlantische Dimension spielt eine entscheidende Rolle, denn die Beziehungen zu den USA, Mittel- und Südamerika sowie Afrika sind von strategischer Bedeutung für die EU.

8.4   Nachhaltiges Wachstum

8.4.1   Der Atlantikraum benötigt ein nachhaltigeres Verkehrssystem, mit dem sich die Abhängigkeit vom Straßenverkehr reduzieren lässt, der mehr CO2-Emissionen verursacht als andere Verkehrsträger. Der Verkehr muss auf den Seeweg verlagert werden, indem der Seeverkehr gefördert wird: Ausbau der Hochgeschwindigkeitsseewege und der landseitigen Hafenanbindungen mit Schwerpunkt auf dem Schienenverkehr. Dies beinhaltet die Planung von Hafengebieten, der Hafen-Stadt-Verbindungen und der Gesamtheit der Verkehrsnetze und –plattformen. Auch die Sicherheit des Seeverkehrs und die Zusammenarbeit bei Katastrophenvorbeugung und -abwehr müssen mitberücksichtigt werden.

8.4.2   Die Nachhaltigkeit der Meeresumwelt ist eng mit den Belastungen durch die verschiedenen menschlichen Aktivitäten verknüpft und diesen gegenüber äußerst empfindlich, darunter auch die Umweltbelastungen aus diffusen Verschmutzungsquellen auf dem Festland und die Binnengewässer, die in den Atlantik münden.

8.4.3   Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Küstenzonen und ein integriertes Küstenzonenmanagement sollte nicht nur der dortigen Wirtschaftstätigkeit und Umweltverschmutzung Rechnung getragen werden, sondern auch dem Phänomen einer starken Konzentration der Stadtentwicklung entlang der Küste und der Beziehung zwischen der Küste und dem Binnenland.

8.4.4   Auch Anpassungs- und Präventionsmaßnahmen im Hinblick auf den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf urbanisierte und natürliche Küstengebiete sollten mit aufgenommen werden.

8.4.5   Das Potenzial regenerativer Energien im Atlantikraum bietet eine gewaltige Quelle für saubere, autochthone Energie, die noch zuwenig erschlossen ist.

8.5   Intelligentes Wachstum

8.5.1   Die Verbindungen im Atlantikraum entlang seiner Nord-Süd-Achse und seine Anbindung an die mittel- und osteuropäischen Märkte sind ein Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit und sollten durch die Schaffung eines atlantischen Schienen-Hafen-Korridors bewerkstelligt werden. Auch die Luftverkehrsverbindungen sind im Atlantikraum unzureichend.

8.5.2   Die Nutzung der Ressourcen des Atlantiks, wie regenerativer Energien aus dem Meer, mariner Biotechnologien oder anderer Meeresbodenschätze eröffnet Chancen für den Aufbau florierender, sehr innovativer Wirtschaftszweige, in denen sich Wohlstand und Arbeitsplätze schaffen lassen.

8.5.3   Dies erfordert eine kraftvolle Mobilisierung von Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie aus Wissenschaft, Technik und Finanzwesen. In Bereichen wie Infrastruktur, Industrie, Bildung, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationspolitik, Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Technologiezentren und Unternehmen, Schaffung von Clustern usw. müssten Ziele festgelegt werden.

8.5.4   Die Forschung im Bereich moderner Umweltsysteme und -technologien ebnet den Weg für neue Strategien und Möglichkeiten für im Rückgang begriffene traditionelle Wirtschaftszweige des Atlantikraums, wie Fischerei und Schiffbau. Der nautische Sektor zeigt eine große Dynamik und ist Teil von Entwicklungsstrategien.

8.5.5   Der Meeres- und Ferientourismus ist ein attraktives Merkmal, auf das unter Aspekten des natürlichen und kulturellen Erbes stärker gesetzt werden sollte. Der Tourismus sorgt für wirtschaftliche Tätigkeit und Arbeitsplätze und trägt darüber hinaus zur Herausbildung einer atlantischen und europäischen Identität bei.

8.6   Inklusives Wachstum

8.6.1   Die Atlantikstrategie muss eine umfassende soziale Dimension besitzen. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung und Schaffung neuer Arbeitsplätze muss der in den Regionen des Atlantikraums lebenden Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ermöglicht werden, damit die Menschen das Gebiet nicht verlassen.

8.6.2   Die regionalen Gebietskörperschaften müssen den sozialen Dialog und die Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft fördern.

8.6.3   Eine Priorität ist die Verbesserung der Bildung im maritimen und nautischen Bereich sowie der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Ausbildungsstätten.

8.6.4   Die Informationstechnologien müssen weiterentwickelt werden, vor allem in den entlegensten Gebieten des Atlantikraums, deren Anbindung verbessert werden muss.

8.6.5   Mit einer integrierten Herangehensweise an den territorialen Zusammenhalt muss der Situation der kleinen Küstendörfer, der Inseln, der Städte und Ballungsräume sowie der ländlichen Gemeinden Rechnung getragen werden.

9.   Steuerung und Finanzierung

9.1   Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vertrag zahlreiche Rechtsgrundlagen bietet, auf die die Einführung dieser Maßnahmen gestützt werden kann, u.a. die Artikel 174 und 178 (Zusammenhalt), 38 und 39 (Landwirtschaft und Fischerei), 90 bis 100 (Verkehr), 170 und 171 (europäische Verkehrsnetze), 173 (Industrie), 191 bis 193 (Umwelt), 194 (Energie), 195 (Tourismus) und 349 (Regionen in äußerster Randlage).

9.2   Es muss eine europäische Strategie entstehen, die von der Kommission ausgearbeitet, vom Rat und vom Parlament gebilligt und vom EWSA und AdR unterstützt wird. Ihre Umsetzung verlangt ein starkes Engagement der an der Atlantikküste gelegenen Mitgliedstaaten.

9.3   Sie muss im Rahmen einer breit angelegten Konsultation und eines umfassenden Dialogs mit allen betroffenen Akteuren sowohl des institutionellen Bereichs als auch der organisierten Zivilgesellschaft auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene durchgeführt werden.

9.4   Die Mitwirkung verschiedener Akteure ist erforderlich. Sie lassen sich nur mit einem Ansatz der Politikgestaltung in einem Mehrebenensystem („Multi-Level-Governance“) mobilisieren, in dem alle Berücksichtigung finden und der ihre Einbeziehung und Mitwirkung auf ausgewogene und strukturierte Weise erleichtert.

9.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Einschränkungen der „drei Nein“ aufgehoben werden müssen, wobei den mit dem Ostsee- und dem Donauraum gesammelten Erfahrungen Rechnung zu tragen ist, weil künftig für die erfolgreiche Durchführung makroregionaler Strategien neue legislative, administrative und finanzielle Instrumente nötig sein werden.

9.6   Die Europäische Kommission sollte als Mittler und Koordinator der Maßnahmen fungieren.

9.7   Eine hochrangige Gruppe von Vertretern der Mitgliedstaaten sollte eingesetzt werden, zusammen mit Kommission, EP, EWSA und AdR.

9.8   Die einzelnen Kontaktstellen in den fünf betroffenen Mitgliedstaaten kümmern sich um die Koordinierung der im Rahmen der Strategie ergriffenen nationalen Maßnahmen.

9.9   Die Koordinatoren für die einzelnen Schwerpunktbereiche und die Projektkoordinatoren können sowohl aus zentralstaatlichen als auch regionalen oder lokalen Organen stammen.

9.10   Der EWSA will die Bedeutung des Atlantik-Forums hervorheben, das in einem Ansatz des Mehrebenenregierens zusammenkommen und die Einbeziehung und Mitwirkung aller betroffenen Akteure nicht nur bei der Konzipierung, sondern auch bei der Überwachung, Bewertung und Überarbeitung der Strategie kanalisieren sollte. Diesem Forum sollten regionale Behörden und Organisationen der Zivilgesellschaft angehören: Unternehmen, Gewerkschaften, Sozialwirtschaft, Hochschulen und Technologiezentren sowie andere Akteure sollten sich aktiv an seinen Arbeiten beteiligen.

9.11   Das Prinzip „keine zusätzlichen Mittel“ bedeutet, dass die kohäsionspolitischen Mittel die wichtigste Finanzierungsquelle für die makroregionale Strategie sind. Der EWSA ist allerdings der Auffassung, dass künftig eine spezifische Finanzierung erforderlich sein wird.

9.12   Der EWSA ist der Ansicht, dass die derzeit genutzten Fonds für die Finanzierung einer Reihe strategischer Projekte ihre Grenzen haben. Die Finanzierung muss auf eine breitere Grundlage gestellt werden, indem auch auf EU-Mittel für sektorspezifische Politikbereiche zurückgegriffen wird.

9.13   Konkrete Projekte lassen sich auch über die Europäische Investitionsbank finanzieren. Sie müssen mit nationalen, regionalen und kommunalen Mitteln sowie durch öffentlich-private Partnerschaften kofinanziert werden.

9.14   Der aktuelle Kontext mit der Aufstellung des mehrjährigen Finanzrahmens der EU und der Reform der Regionalpolitik der EU ist die passende Gelegenheit, die Fonds so zu regeln, dass sie eine Finanzierung der makroregionalen Strategien erlauben.

9.15   Zur Einbettung der Maßnahmen und Projekte der makroregionalen Strategie für den Atlantikraum in die Mittelplanung für den Zeitraum 2014-2020 müssen die entsprechenden Entscheidungen 2013 getroffen werden, damit die makroregionale Strategie zu Beginn des neuen Programmplanungszeitraums einsatzfähig ist.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 10. Juni 2009 zur Strategie der Europäischen Union für den Ostseeraum (COM(2009) 248 final).

(2)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum (COM(2010) 715 final).

(3)  Siehe Ziffer 1.

(4)  Siehe EWSA-Stellungnahmen zur „Strategie der Europäischen Union für den Donauraum“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 2 und ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 81.

(5)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Umsetzung der EU-Strategie für den Ostseeraum (COM(2011) 381 final).

(6)  „Territoriale Agenda der Europäischen Union 2020. Für ein integratives, intelligentes und nachhaltiges Europa der vielfältigen Regionen“ vom 19. Mai 2011.

(7)  Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit besonderen Bestimmungen zur Unterstützung des Ziels „Europäische territoriale Zusammenarbeit“ aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) (COM(2011) 611 final).

(8)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Entwicklung einer Meeresstrategie für den atlantischen Raum“ vom 21.11.2011, COM(2011) 782 final.

(9)  http://arcatlantique.org.

(10)  http://www.atlanticcities.eu.

(11)  Welsh Economic Forum, regionale Wirtschafts-, Sozial- und Umwelträte der Regionen Basse-Normandie, Bretagne, Pays de la Loire, Poitou-Charentes, Aquitaine, Centre und Limousin; Wirtschafts- und Sozialräte des Baskenlands, Kantabriens, Asturiens, Galiciens und der Kanarischen Inseln, Instituto de Soldadura e Qualidade de Lisboa, USALGARVE.

(12)  Schéma de Développement de l'Espace Atlantique (SDEA), Atlantikbogen-Kommission - KPKR.

(13)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. März 2011 zur europäischen Strategie für den atlantischen Raum.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/32


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020“

COM(2011) 398 final — 2011/0177 (APP)

und der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Haushalt für Europa 2020“

COM(2011) 500 final

2012/C 229/06

Berichterstatter: Stefano PALMIERI

Mitberichterstatter: Jacek KRAWCZYK

Die Europäische Kommission beschloss am 29. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlager zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Haushalt für Europa 2020

COM(2011) 500 final.

Der Rat beschloss am 19. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgende Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020

COM(2011) 398 final — 2011/0177 (APP).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 7. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 165 gegen 9 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) versteht, dass die Europäische Kommission in einem schwierigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontext beim neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) um einen Kompromiss zwischen zwei gegensätzlichen Anforderungen bemüht ist. Die erste Anforderung ist der Wille einiger Mitgliedstaaten, aufgrund der Krise die Bereitstellung öffentlicher Mittel einzuschränken, wobei dies unweigerlich die weitere Debatte und den Inhalt der abschließenden Einigung beeinflussen wird. Andererseits besteht die Anforderung, die großen Aufgaben, vor denen die EU steht und die sich aus dem Lissabon-Vertrag und der Europa-2020-Strategie ergeben, angemessen und wirksam anzugehen.

1.2   Europa befindet sich nämlich wegen der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise und mangels einer gemeinsamen Reaktion in den einzelnen Mitgliedstaaten in Schwierigkeiten. Dadurch wird nicht nur das Funktionieren der Europäischen Union bedroht, sondern sogar ihre Zukunftsperspektiven werden in Frage gestellt.

1.3   Der EWSA bekräftigt seinen bereits in früheren Stellungnahmen vertretenen Standpunkt, und stimmt hierin mit dem Europäischen Parlament und dem Ausschuss der Regionen überein, dass eine Aufstockung des EU-Haushalts angesichts derart ambitionierter Aufgaben für die Union nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig ist, um Wirtschaft und Beschäftigung wieder anzukurbeln. Der EWSA teilt die Botschaft, dass die Union mehr (und ein besseres) und nicht weniger Europa braucht. Den MFR auf dem derzeitigen Niveau (in realen Werten) einzufrieren hieße, auf einen großen Teil der in den nächsten Jahren für die EU anstehenden Herausforderungen zu verzichten.

1.4   Der Kommissionsvorschlag scheint sowohl hinsichtlich der Höhe der bereitgestellten Mittel als auch bezüglich der Gliederung des Haushalts zu stark auf die Beibehaltung des Status Quo ausgerichtet zu sein. Als Folge davon werden die verfügbaren Mittel nicht dem Umfang und der Qualität der neuen Herausforderungen für die EU gerecht, d.h. es gibt keine Entsprechung zwischen den ehrgeizigen Zielen der Union und den für ihre Verwirklichung zur Verfügung stehenden Mitteln.

1.5   Zudem vertritt der EWSA die Ansicht, dass es bei der Überprüfung des EU-Haushalts vor allem darum gehen sollte, wie der Haushalt dem heute durch die Krise stark infrage gestellten politischen Projekt der EU dient. Die Bewertung des MFR muss an Hand des Kriteriums erfolgen, inwieweit die EU angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, um ihre vorrangigen strategischen Ziele erreichen zu können, ohne die Steuerlast für Bürger und Unternehmen zu erhöhen, d.h. inwieweit bei gleichen Belastungen für die Unionsbürger ein Mehrwert (1) auf europäischer Ebene erzeugt wird.

1.6   Im Einzelnen stimmt der EWSA der Verbesserung und Vereinfachung der EU-Haushaltsstruktur zu, da dadurch die Debatte von den Themen angemessener Mittelrückfluss und horizontale Gerechtigkeit zwischen den Mitgliedstaaten weg wieder stärker auf die wirksame Umsetzung der strategischen Ziele der EU gelenkt werden kann.

1.7   Auf der Einnahmeseite ist die Einführung eines neuen Eigenmittelsystems mittels Änderung des Eigenmittels Mehrwertsteuer und Einführung der Finanztransaktionssteuer eine deutliche Neuerung. Der EWSA hat sich bereits mehrfach für eine Rückkehr zum Geiste der Römischen Verträge (2) ausgesprochen, damit eine tatsächliche Finanzautonomie der EU erreicht werden kann.

1.7.1   Der EWSA unterstützt die Änderung des MwSt-Eigenmittelsystems, insoweit diese zur Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktes beiträgt, wobei wirtschaftliche Verzerrungen innerhalb der Mitgliedstaaten vermieden werden müssen. Er betont jedoch, dass im Vorschlag der Kommission genaue Angaben zu den an der MwSt-Struktur vorgenommenen Änderungen und zu den Unterschieden bei den Beträgen für die einzelnen Mitgliedstaaten, die sich aus diesen Änderungen ergeben, fehlen. Der EWSA verweist auf die Notwendigkeit einer weltweiten Anwendung der Finanztransaktionssteuer, vertritt jedoch zugleich die Ansicht, dass durch die Einführung dieser Steuer auf europäischer Ebene (mit einem für alle Mitgliedstaaten geltenden Mindeststeuersatz) der Finanzsektor stärker an den Haushalten der EU und der Mitgliedstaaten beteiligt werden und die durch rein spekulative Geschäfte verursachte wirtschaftliche Volatilität eingedämmt werden könnten.

1.8   Um die Ziele der Europa-2020-Strategie verwirklichen zu können, sind weitaus mehr Mittel erforderlich als im MFR vorgesehen. Der EWSA empfiehlt deshalb, die mögliche Schaffung innovativer Finanzinstrumente zur Abdeckung von Investitionen (projektbezogene Anleihen) eingehender zu prüfen, allerdings erst nach umfassender Abschätzung der möglichen Folgen und Evaluierung der möglichen Verlagerung des Risikos auf die öffentliche Hand.

1.9   Auf der Ausgabenseite erfordern die von der Kommission ermittelten Prioritäten Antworten, die ausschließlich auf EU-Ebene konkretisiert werden können und die den eigentlichen europäischen Mehrwert ausmachen. Es geht um die Frage, wo ein auf EU-Ebene ausgegebener Euro mehr Nutzen bringt als ein auf nationaler Ebene ausgegebener Euro. Es handelt sich dabei um europäische Kollektivgüter, die auf nationaler Ebene nicht optimal erbracht werden können (wegen Marktversagen oder in einem einzelnen Mitgliedstaat nicht erzielbarer Größenvorteile) und bei denen deshalb ein wirksames Tätigwerden der EU notwendig ist.

1.10   Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA die Einleitung der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), mit der ein wirksames und effizient funktionierendes europäisches Landwirtschaftsmodell und zugleich ein wirklicher Mehrwert für die EU gewährleistet werden sollen. Der EWSA bekräftigt hier seine bereits geäußerte Überzeugung, dass die GAP – und mit ihr zusammen die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) – so gestaltet werden muss, dass die Verbindung zwischen Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei auf der einen und Umweltschutz und Nachhaltigkeit der natürlichen Ressourcen auf der anderen Seite gestärkt wird. Das wird – vor dem Hintergrund der großen Preisvolatilität bei Agrarrohstoffen – dazu beitragen, umweltgerechte Praktiken zu fördern, ohne die Förderung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe und der Fischer zu vernachlässigen.

1.11   In Bezug auf das System der Direktzahlungen betont der EWSA, dass die angestrebte Angleichung der Wettbewerbsbedingungen der europäischen Landwirte und verstärkte Integration der neuen Mitgliedstaaten mit einer sorgfältigen Abschätzung der potentiellen Folgen für alle Mitgliedstaaten einhergehen muss. Zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen, die soziale Auswirkungen haben können, muss gewährleistet sein, dass am Ende des Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020 kein Land weniger als 90 % des Durchschnitts aller 27 EU-Mitgliedstaaten an Direktzahlungen erhält.

1.12   Artikel 174 des Vertrags von Lissabon sollte als Leitprinzip der künftigen Kohäsionspolitik dienen: „Die Union setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern.“

1.13   Im Hinblick auf die Kohäsionspolitik hält der EWSA zwar die Schwerpunktsetzung auf wenige wichtige EU-Prioritäten für überzeugend, lehnt es jedoch ab, die Auszahlung von Kohäsionsfondsmitteln an die Einhaltung makroökonomischer Bedingungen zu knüpfen. Zudem darf die Einführung der neuen Kategorie „Übergangsregion“, die das gegenwärtige Phasing-out- und Phasing-in-System ablöst, nach Ansicht des EWSA nicht zulasten der Mittel für die Regionen mit dem größten Entwicklungsrückstand gehen. Außerdem darf der Kohäsionsfonds nicht in unzulässiger Weise für andere Funktionen eingesetzt werden, die seinem ursprünglichen Zweck nicht entsprechen. Allerdings können in Ausnahmefällen die Restbeträge aus dem Programmplanungszeitraum 2007-2013 zur Finanzierung eines europäischen Wachstumsplans eingesetzt werden, den die EU verabschieden müsste. Gleiches gilt auch (für einen begrenzten Zeitraum, z.B. die ersten drei Jahre) für die Mittel des nächsten Programmplanungszeitraums 2014-2020.

1.14   Der EWSA ist der Auffassung, dass der EU-Haushalt beispielhaft, effizient, wirkungsvoll und transparent sein muss, um die Ziele des neuen MFR erreichen zu können, bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern an Glaubwürdigkeit zu gewinnen und ihnen die Vorteile von Europa und die Kosten eines Verzichts auf Europa besser vor Augen zu führen. Vor diesem Hintergrund weist der EWSA darauf hin, dass in den einzelnen Bereichen Systeme für die Beobachtung und Bewertung der Ergebnisse aller Politikbereiche der Union eingeführt oder implementiert werden müssen, um deren soziale, wirtschaftliche und regionale Auswirkungen zu erfassen.

1.15   Der EWSA erachtet den Vorschlag der Kommission für eine Grundlage der laufenden Verhandlungen und verpflichtet sich bereits jetzt, nach Maßgabe der hier vorgebrachten Bemerkungen die Modalitäten der konkreten Umsetzung in Änderungen der Rechtsvorschriften zu überwachen und zu beeinflussen.

2.   Der Vorschlag der Kommission für den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020

2.1   Diese Stellungnahme gilt dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates COM(2011) 398 final, der durch Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020 die Mitteilung der Kommission „Ein Haushalt für Europa 2020“ vom 29. Juni 2011 (COM(2011) 500 final) und die damit zusammenhängenden Legislativvorschläge umsetzt.

2.2   Insgesamt wird ein mehrjähriger Finanzrahmen in Höhe von 1 025 Mrd. EUR vorgeschlagen, was 1,05 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU entspricht, zu denen 58,5 Mrd. EUR für sonstige, nicht im MFR enthaltene Ausgaben (Europäischer Entwicklungsfonds, Fonds für die Anpassung an die Globalisierung) hinzukommen. Inflationsbereinigt entspricht der Gesamtbetrag annähernd dem MFR des vorhergehenden Planungszeitraums (2007-2013) in Höhe von 994 Mrd. EUR.

2.3   Auf der Seite der Ausgaben gibt es folgende Änderungen:

Vereinfachung durch weniger Programme und Ziele, um so den Verwaltungsaufwand für die Begünstigten zu senken und die Folgenabschätzung zu erleichtern;

Senkung der Mittel für Strukturfonds (EFRE, ESF, Kohäsionsfonds) von 355 Mrd. EUR auf 336 Mrd. EUR (nettobereinigt um die Fazilität „Connecting Europe“), mit Einführung einer neuen Kategorie „Übergangsgebiete“, die das derzeitige System der Übergangsunterstützung (Phasing-out und Phasing-in) ersetzt;

Schaffung eines „gemeinsamen strategischen Rahmens für die Strukturfonds, ländliche Entwicklung und Fischerei“ sowie eines vergleichbaren Rahmens „Horizont 2020“ für Forschung und Entwicklung, in dem das Europäische Technologieinstitut eine wichtige Rolle spielt;

eine neue Fazilität „Connecting Europe“ für die großen Netze in den Bereichen Verkehr, Energie und IKT (40 Mrd. EUR zzgl. 10 Mrd. EUR aus dem Kohäsionsfonds);

Einleitung der GAP-Reform und, real gesehen (3), leichter Rückgang des Anteils der GAP-Mittel am Gesamthaushalt (60 Mrd. EUR jährlich), der sich hauptsächlich aus den Umweltauflagen („Ökologisierung“ der GAP-Ausgaben) und der Verpflichtung zu mehr Flexibilität ergibt;

Aufstockung der Mittel für Forschung und Entwicklung sowie allgemeine und berufliche Bildung (80 Mrd. EUR).

2.4   Auf der Einnahmenseite wird vorgeschlagen, den Haushalt schrittweise neu auszurichten: weg von der Dominanz der Beiträge auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens (BNE) hin zu einem vereinfachten Haushalt mit echten Eigenmitteln und mit geänderten Korrekturmechanismen. Die Kommission schlägt insbesondere vor, das bestehende Konzept der MwSt-Eigenmittel aufzugeben und statt dessen ab spätestens 2018 ein neues Eigenmittelsystem durch Einführung einer Finanztransaktionssteuer und einer neuen Mehrwertsteuer zu schaffen, um eine stärkere Harmonisierung der nationalen Systeme zu ermöglichen und Befreiungen und Ausnahmen abzuschaffen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Europäische Kommission ist offenbar bestrebt, in einer für die Funktionsweise und die Perspektiven der EU besonders schwierigen Zeit einen Kompromiss über den neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) zu finden. Die schwierige Lage ist durch die Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten über die gemeinsame politische Antwort Europas bedingt. Es handelt sich um einen Kompromiss zwischen zwei gegensätzlichen, jedoch in gleicher Weise dringenden Erfordernissen: einerseits dem sich aus der Krise ergebenden Sparkurs und dem entsprechenden Willen, die Bereitstellung öffentlicher Mittel einzuschränken, was unweigerlich die weitere Debatte und den Inhalt der abschließenden Einigung beeinflussen wird, und andererseits der Verfügbarkeit von angemessenen Mitteln, um die vor der EU stehenden großen Aufgaben wirksam angehen zu können.

3.2   Der Kommissionsvorschlag „Ein Haushalt für Europa 2020“ muss daher vor dem Hintergrund der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Phase gesehen werden. Einerseits muss in der Debatte über den künftigen EU-Haushalt die Frage nach der heutigen Rolle der europäischen Integration gestellt werden, um die neuen Herausforderungen einer im Wandel begriffenen Welt angehen zu können, andererseits gilt es zu verstehen, inwieweit die Mitgliedstaaten diese Rolle der EU auch tatsächlich zugestehen und sicherstellen.

3.2.1   Die mühsame Aushandlung des MFR 2007-2013, die schwierige Verabschiedung des EU-Haushalts 2011 und das Schreiben, das die Regierungschefs von neun Mitgliedstaaten im Sommer 2011 an Kommissionspräsident Barroso richteten (4), lassen den Schluss zu, dass zumindest eine beträchtliche Zahl von Mitgliedstaaten das finanzielle Engagement der EU auf ein Mindestmaß beschränken will, was auch diesmal zu heiklen und komplizierten Verhandlungen führen wird.

3.3   Vor dem Hintergrund, dass die vor der EU stehenden Herausforderungen (Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkrise, Wettbewerbsfähigkeit, Klimawandel usw.) in Umfang und Qualität eher zunehmen, scheint der Kommissionsvorschlag zu stark auf eine Beibehaltung des Status Quo ausgerichtet zu sein. So stimmen die in dem Vorschlag vorgesehenen Mittel nicht mit dem Umfang und der Qualität der neuen Herausforderungen für die EU überein, d.h. es gibt keine Entsprechung zwischen den ehrgeizigen Zielen der Union und den für ihre Verwirklichung zur Verfügung stehenden Mitteln.

3.4   Der EWSA hat bereits wiederholt den Standpunkt vertreten (5), dass eine Aufstockung des EU-Haushalts angesichts der Größe der Aufgaben und der Notwendigkeit einer gemeinsamen Antwort nicht nur wünschenswert, sondern notwendig ist, und bekräftigt hiermit diese Auffassung: „Bei der Überprüfung des EU-Haushalts geht es nicht in erster Linie um Zahlen, sondern sie ist ein Instrument zur Umsetzung eines politischen Projekts. Die Europäische Union verfügt derzeit weder über die Haushaltsmittel zur Umsetzung ihrer politischen Strategie noch über die Mittel zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen, die ihr aus dem Vertrag von Lissabon erwachsen.“

3.4.1   Der EWSA verweist hier auf den vom Europäischen Parlament vertretenen Standpunkt, wonach die Lösung für die Krise und die vor der EU stehenden Aufgaben mehr und nicht weniger Europa lauten muss. Für das Parlament würde ein Einfrieren des MFR auf dem derzeitigen Niveau (in realen Werten) bedeuten, auf einen großen Teil der in den nächsten Jahren für die EU anstehenden Herausforderungen zu verzichten. Aus diesem Grund hat das Parlament für den nächsten MFR 5 % mehr Mittel beantragt und den Rat für den Fall, dass er dem nicht stattgibt, aufgefordert, diejenigen politischen Prioritäten und Programme zu nennen, die ungeachtet ihres erwiesenen europäischen Mehrwerts im Planungszeitraum 2014-2020 aufgegeben werden sollen (6).

3.4.2   Der Ausschuss der Regionen seinerseits „ist der Auffassung, dass die vorgeschlagene Höhe der Mittel deshalb als absolutes Minimum anzusehen ist, damit die ehrgeizigen Ziele umgesetzt werden können, die die Mitgliedstaaten […] für die EU vereinbart haben“ und daher „insbesondere bei den einzelstaatlichen Finanzministerien dahingehend ein Perspektivwechsel erforderlich ist, dass die Wahrnehmung der Kernaufgaben der EU als Investition und nicht als finanzielle Belastung gesehen wird“ (7).

3.4.3   Aufgrund der mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eingeführten Neuerungen obliegt die Aufstellung des MFR 2014-2020 nicht mehr der Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten in alleiniger Verantwortung, da die Stellung des Parlaments im Hinblick auf eine größere demokratische Kontrolle gestärkt wurde. In dieser neuen Situation bieten sich für die Zivilgesellschaft und damit insbesondere für den EWSA neue Möglichkeiten, den Prozess zur Aufstellung des neuen MFR zu begleiten und sich in enger Abstimmung mit dem Europäischen Parlament aktiv in die Debatte einzubringen.

3.5   Daher verpflichtet sich der EWSA, den Verhandlungsprozess, mit dem der Kommissionsvorschlag in konkrete Änderungen der Rechtsvorschriften umgesetzt wird, zu begleiten und dazu beizutragen. Der MFR hat die Funktion, die EU mit den für die Verwirklichung ihrer vorrangigen Ziele erforderlichen Mitteln auszustatten, ohne die Steuerlast für Bürger und Unternehmen zu erhöhen, und an Hand dieses Kriteriums muss er daher auch bewertet werden.

3.6   Eine stärkere Ergebnisorientierung muss daher dazu führen, dass der Schwerpunkt nicht auf die formelle Einhaltung der Bestimmungen in Bezug auf den Umfang der Ausgaben, sondern vielmehr auf die Kontrolle der Qualität und der Wirksamkeit der Mittelverwendung gelegt wird, was insbesondere für die Kohäsionspolitik und die GAP gilt. Dieses Umdenken kommt darin zum Ausdruck, dass ein größerer Mehrwert der Ausgaben auf EU-Ebene angestrebt wird, und erfordert folglich einen entsprechenden Einsatz auf der Verwaltungs- wie auch der Kontrollebene.

3.7   Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der EU-Haushalt zwar 1,1 % des europäischen BNE betrifft, im Planungszeitraum 2007-2013 jedoch erhebliche Mittel für Investitionen bereitstellt, die bei richtiger Nutzung ein entscheidender Katalysator für das Wirtschaftswachstum in der EU sein können. Aus diesem Grund spricht sich der EWSA dafür aus, bei der Umsetzung der großen strategischen Ziele der Union stärker geeignete Synergien zwischen dem EU-Haushalt und den einzelstaatlichen Haushalten zu nutzen.

3.8   Der EWSA hält es für grundlegend, dass bei der Aufstellung des MFR 2014-2020 Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Unionsbürgerinnen und -bürger gewonnen werden, wobei ihnen die Vorteile von Europa und zugleich die Kosten eines Verzichts auf Europa vor Augen zu führen sind. Dazu muss der EU-Haushalt:

gut geführt sein und keine übermäßigen Verwaltungskosten verursachen,

im Hinblick auf die gegenüber dem laufenden MFR erzielten Einsparungen wirksam sein,

das Erreichen der Zielsetzungen wirksam erleichtern und sichtbare Auswirkungen auf das Leben der Unionsbürger haben,

in all seinen Aspekten hinsichtlich der Kosten, eingesetzten Mittel und erzielten Ergebnisse transparent und überprüfbar sein,

auf die Einhaltung der Gemeinschaftsgrundsätze der Solidarität, des fairen Wettbewerbs und der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet sein.

3.9   Um die Zweckmäßigkeit des Kommissionsvorschlages zu bewerten, muss dieser an Hand folgender Kriterien evaluiert werden:

Mehrwert auf europäischer Ebene und Richtigkeit der strategischen Prioritäten;

Fähigkeit, eine Antwort auf die aus der Krise erwachsenden Herausforderungen zu geben und Europa – gegenüber der Tendenz zur Kürzung der öffentlichen Ausgaben in den Mitgliedstaaten – zu einer solidarischen Entwicklungsstrategie zu führen.

3.9.1   Im Hinblick auf den Mehrwert auf europäischer Ebene werden im Kommissionsvorschlag wichtige Prioritäten genannt, die Antworten erfordern, welche ausschließlich auf EU-Ebene konkretisiert werden können. Es handelt sich dabei um Tätigkeitsbereiche, die als europäische Kollektivgüter bezeichnet werden können und in denen ein auf EU-Ebene ausgegebener Euro mehr Nutzen bringt als ein auf nationaler Ebene investierter Euro.

3.9.2   Zu den europäischen Kollektivgütern gehören Forschung und Entwicklung, gemeinsame Verteidigung, Lebensmittelsicherheit, Einwanderung und Asylrecht, Bewältigung des Klimawandels, Investitionen in europaweite Infrastrukturvorhaben in den Bereichen Energie, Kommunikation und Binnenmarkt (der im Übrigen noch nicht vollendet ist). Für diese strategischen Bereiche zeigt der Vergleich der beiden MFR 2007-2013 und 2014-2020 trotz der großen Haushaltszwänge einen erheblichen Anstieg der Mittel.

3.9.3   Der EWSA anerkennt zwar die im Vorschlag der Kommission enthaltenen wichtigen Neuerungen, weist jedoch darauf hin, dass es überhaupt keine Debatte über diese Prioritäten gab. Daher besteht die Gefahr, dass es mit diesem EU-Haushalt nicht gelingt, die entscheidenden Fragen im Zusammenhang mit der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise direkt anzugehen, und dass der Etat dem Druck einzelner Interessengruppen ausgesetzt bleibt.

3.10   Vor diesem problematischen Hintergrund bekräftigt (8) der EWSA, dass die Festlegung der europäischen Haushaltspolitik mit der Grundsatzentscheidung zwischen Föderalismus oder Regierungszusammenarbeit, d.h. mit dem angestrebten Maß an Integration übereinstimmen muss. Besonders der Grundsatz des „angemessenen Mittelrückflusses“ an die einzelnen Mitgliedstaaten ergibt sich aus einer Buchhaltungsmethode, die die Finanzmittel ins Verhältnis zum BIP des Mitgliedstaats setzt, was Buchstaben und Geist der Verträge widerspricht.

3.10.1   Das derzeitige Finanzierungssystem auf der Grundlage der Beiträge der Mitgliedstaaten ist ausgesprochen kompliziert und kaum transparent und schwächt so die Möglichkeit einer demokratischen Kontrolle. Es trägt nicht dazu bei, das Engagement für die europäische Integration deutlich zu machen, lässt den an die EU überwiesenen Beitrag als weitere Belastung für die nationalen Haushalte erscheinen und schränkt damit die für die EU-Politiken verfügbaren Mittel ein. Es wird auch nicht dem Anspruch gerecht, eine direkte Verbindung zwischen EU und den Bürgern herzustellen.

3.11   Der EWSA bekräftigt vielmehr (9), dass das neue System die Einnahmen und Ausgaben des EU-Haushalts mit dem Engagement zur Umsetzung der politischen Strategie der Union und der Verpflichtungen aus dem Lissabon-Vertrag verknüpfen muss, ohne die Steuerlast für Bürger und Unternehmen zu erhöhen. Es muss die Gleichbehandlung zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellen und aus der Sicht der Bürger deutlich transparenter, einfacher und verständlicher werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Mit dem neuen MFR schlägt die Kommission eine umfassende Änderung der Finanzierung des EU-Haushalts vor. Diese besteht im Wesentlichen in einer Stärkung der Finanzautonomie durch die Einführung eines neuen Eigenmittelsystems, das eine gerechtere Behandlung der Mitgliedstaaten sicherstellt. In dem neuen Vorschlag kommt ein Paradigmenwechsel zum Ausdruck: die Abhängigkeit der Union von den Beiträgen der Mitgliedstaaten wird schrittweise zu Gunsten einer finanziellen Selbstständigkeit beseitigt.

4.1.1   Im Mittelpunkt des Vorschlags für ein neues Eigenmittelsystem stehen die Reform des MwSt-Eigenmittels und die Einführung der Finanztransaktionssteuer. Das System würde mehr Ausgewogenheit im EU-Haushalt ermöglichen, der zu ungefähr 40 % aus den neuen Eigenmitteln, zu 20 % aus den traditionellen Eigenmitteln und zu 40 % aus den auf BNE-Grundlage ermittelten Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert werden soll (10). Der Vorteil des neuen Systems wäre, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre nationalen Beiträge nicht mehr so stark als Steuer auf ihr Inlandsprodukt wahrnehmen, für die ein angemessener Mittelrückfluss und ein Ausgleich in Form von wirtschaftlichen Vorteilen gefordert und erwirkt werden muss.

4.1.2   Der EWSA bekräftigt seine Unterstützung (11) für die Schaffung eines neuen MwSt-Eigenmittels, das das derzeitige, überholte MwSt-Eigenmittel ablösen soll, da dies zur Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktes beiträgt, wobei wirtschaftliche Verzerrungen innerhalb der Mitgliedstaaten vermieden werden müssen. Er betont jedoch, dass im Vorschlag der Kommission genaue Angaben zu den an der MwSt-Struktur vorgenommenen Änderungen und zu den Unterschieden bei den Beträgen für die einzelnen Mitgliedstaaten, die sich aus diesen Änderungen ergeben, fehlen. Darüber hinaus hält er es für erforderlich, dass dies mit Maßnahmen zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs einhergeht.

4.1.3   Mit dem Vorschlag der Kommission wird eine interessante Neuerung eingeführt, die sich allerdings noch in der Diskussion befindet: die Finanztransaktionssteuer. Der EWSA hat die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf europäischer Ebene begrüßt (12), bekräftigt allerdings die Notwendigkeit einer weltweiten Anwendung dieser Steuer. Der EWSA betont, dass die makro- und mikroökonomischen Folgen der Finanztransaktionssteuer sorgfältig begleitet werden müssen, und fordert deshalb eine kontinuierliche Beobachtung und entsprechende jährliche Bewertung der Auswirkungen dieser Steuer.

4.1.4   Mit der Finanztransaktionssteuer ließen sich mindestens drei Ziele erreichen:

Erhöhung des Anteils, den der Finanzsektor zum EU-Haushalt und zu den Haushalten der Mitgliedstaaten beiträgt (das potenzielle Steueraufkommen wird auf 57 Mrd. EUR geschätzt) (13);

Herbeiführung einer Verhaltensänderung bei den Finanzakteuren durch Senkung des Volumens des Hochfrequenz-Handels mit niedrigen Latenzzeiten (high frequency and low latency trading), dessen Anteil am Gesamthandel in den EU-Mitgliedstaaten zwischen 13 und 40 % liegt (14);

Festlegung eines für alle Mitgliedstaaten geltenden Mindestsatzes für die Besteuerung von Finanztransaktionen.

4.1.5   Auch die Reform der Korrekturmechanismen und die Ersetzung des bestehenden Systems der Pauschalerstattungen tragen zur angestrebten Vereinfachung und größeren Transparenz bei, um so mehr, als sich die wirtschaftliche Lage der Mitgliedstaaten heute grundlegend von der Situation 1984 unterscheidet, als dieses System eingeführt wurde. Der EWSA hat bereits deutlich gemacht (15), dass die Auswirkungen einer solchen Reform noch genauer abgeklärt werden müssen, da derzeit weder hinsichtlich der Höhe der entsprechenden Mittel noch des Vergleichs der jetzigen Situation mit der bei Anwendung des Systems Klarheit besteht.

4.2   Der EWSA begrüßt nachdrücklich die verbesserte Gliederung des EU-Haushalts bei gleichbleibender finanzieller Last für die Unionsbürger. Dadurch könnte die Debatte deutlich von den Themen angemessener Mittelrückfluss und horizontale Gerechtigkeit zwischen den Mitgliedstaaten weg wieder stärker auf die Wirksamkeit der Ausgaben der Union (gemessen an der Befriedigung der Bedürfnisse der Bürger und Unternehmen in Europa und des Verhältnisses zwischen Nutzen und Ausgaben) gelenkt werden. Der EWSA bedauert jedoch erneut (16), dass sich die Kommission in ihrem Vorschlag ausschließlich auf die interne Aufschlüsselung des Haushalts konzentriert, ohne die Einführung neuer Eigenmittel zu nutzen, um das grundsätzliche Problem des Umfangs des Haushalts anzugehen und den Haushalt als funktionelles Instrument im Dienste des politischen Projekts und der ambitionierten Ziele der EU einzusetzen.

4.3   Wie das Europäische Parlament betont hat, ist der EU-Haushalt im Wesentlichen ein Paket von Investitionen zur Mobilisierung weiterer öffentlicher und privater Finanzmittel (17). In dieser Perspektive könnten nach Ansicht des EWSA bestimmte Formen projektbezogener Anleihen (project bond) erprobt werden, um die quantitativen Beschränkungen und gesetzlichen Auflagen des EU-Haushalts zu überwinden und im Einklang mit der „Europa 2020 Projektanleihen-Initiative“ der Kommission (18) Infrastruktur- und Bildungsprojekte zu finanzieren (19).

4.3.1   Diese projektbezogenen Anleihen könnten durch Spillover-Effekte eine erhebliche Hebelwirkung zu Gunsten der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa entfalten, die derzeit aufgrund der angespannten Haushaltslage in den Mitgliedstaaten infolge der Wirtschaftskrise und der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts blockiert ist.

4.3.2   Dessen ungeachtet verweist der EWSA auf die Notwendigkeit einer eingehenden Bewertung der eventuellen innovativen Formen externer Finanzierung für den MFR, denn die Erfahrungen mit öffentlich-privaten Partnerschaften haben gezeigt, dass es zu einer Verlagerung des Risikos auf den öffentlichen Sektor kommen kann (20).

4.4   In dem Vorschlag der Kommission werden die größten Ausgabenbereiche der EU (Kohäsionspolitik und Gemeinsame Agrarpolitik – GAP) nicht infrage gestellt. Es werden vielmehr – im Rahmen der Europa-2020-Strategie – die neuen Gründe für die Gewährleistung einer wirksamen und effizienten Ausgabenpolitik und der Mehrwert der bestehenden Ausgabeninstrumente hervorgehoben.

4.4.1   Der EWSA begrüßt die Reform der GAP, mit der der Anteil der für diese Politik bereitgestellten Mittel am Gesamthaushalt der EU gesenkt und die EU-Ausgaben stärker an die von der Landwirtschaft erbrachten öffentlichen Güter geknüpft werden sollen, ein Ziel, dass die Kommission in ihrem Dokument „Die GAP bis 2020 (21) selbst ausgegeben hat. Vor dem derzeitigen Hintergrund einer angespannten Finanzlage sollte die GAP zusammen mit der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) an den im Lissabon-Vertrag festgelegten Zielen und Aufgaben gemessen werden: Verbesserung der Umweltqualität (biologische Vielfalt, Wasser, Boden, Luft), Landschaftsschutz, Beitrag zur Lebensfähigkeit der ländlichen Gebiete, Tierschutz und nachhaltige Lebensmittelsicherheit (22).

4.4.2   Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen (23), dass die Land- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei eine wichtige Rolle beim Umweltschutz und bei der nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen spielen. Der EWSA begrüßt daher zwar den von der Kommission eingeführten Ansatz der Ökologisierung der GAP, betont jedoch, dass der Reformprozess keine radikalen Veränderungen der Ziele und Finanzierungsmechanismen der GAP für die Unterstützung der in der Agrar-, Lebensmittel- und Umweltkette tätigen Akteure mit sich bringen darf, worauf besonderes Augenmerk zu legen ist.

4.4.3   Der EWSA sieht mit Besorgnis den von der Kommission unternommenen Versuch, den Anteil der Mittel für die GAP zu senken und anderen Instrumenten wie dem Europäischen Sozialfonds und dem Fonds für die Anpassung an die Globalisierung neue Aufgaben im Zusammenhang mit Zielstellungen der Land- und Nahrungsmittelwirtschaft zu übertragen.

4.4.4   Nach Ansicht des EWSA sollten die angestrebte Angleichung der Wettbewerbsbedingungen der europäischen Landwirte und verstärkte Integration der neuen Mitgliedstaaten durch das System der Direktzahlungen unter sorgfältiger Bewertung der potentiellen Auswirkungen für alle Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Bemühungen um Abbau der Unterschiede im Beihilfeniveau für die Landwirte in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Der EWSA hat bereits früher (24) eine Neuverteilung der nationalen Mittel für Direktzahlungen nach objektiven, diskriminierungsfreien Kriterien und eine angemessene Übergangsperiode für die geplante gerechte Konvergenz empfohlen, mit der die historischen Referenzwerte als Grundsätze aufgegeben werden. Es soll damit sichergestellt werden, dass am Ende des Finanzrahmens für den Zeitraum 2014-2020 kein Land weniger als 90 % des Durchschnitts der 27 EU-Mitgliedstaaten an Direktzahlungen erhält.

4.4.5   Aus der Sicht des EWSA muss der neue MFR eine GAP und eine GFP sicherstellen, die folgende Aufgaben erfüllen können:

Lebensmittelversorgungssicherheit,

eine wettbewerbsfähige und innovative Land- und Nahrungsmittelwirtschaft,

die Rentabilität der Landwirtschaft und der Fischerei,

ein angemessenes Einkommen für die Landwirte und Fischer in der EU.

Durch diese Handlungslinien wird es – auch vor dem Hintergrund der großen Preisvolatilität bei Agrarrohstoffen – möglich sein herauszustellen, dass die GAP zweierlei Funktionen erfüllt: Förderung umweltgerechter Praktiken, ohne die Unterstützung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe zu vernachlässigen. Damit rückt die historische Aufgabe der Landwirtschaft wieder in den Mittelpunkt, nämlich die Erzeugung gesunder und nahrhafter Lebensmittel in ausreichender Menge und zu erschwinglichen Preisen für die europäischen Bürger.

4.5   Dieses Maß an Effizienz ist auch für die im Rahmen der Kohäsionspolitik finanzierten Projekte notwendig. Wie im Barca-Bericht (25) festgestellt, ist diese Kohäsionspolitik für die Integration der neuen Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung und muss auf einige wenige wichtige EU-Prioritäten ausgerichtet werden, wobei es die sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Auswirkungen dieser Maßnahmen vor, während und nach der Umsetzung zu bewerten gilt. Diese Bewertungen dürfen sich aber nicht in zusätzlichem Verwaltungsaufwand niederschlagen.

4.5.1   Der EWSA lehnt es jedoch ab, die Auszahlung von Kohäsionsfondsmitteln an die Einhaltung makroökonomischer Bedingungen zu knüpfen, um den Mitgliedstaaten in der sozial und wirtschaftlich schwierigen Situation nicht zusätzliche Lasten aufzubürden. Zudem darf die Einführung der neuen Kategorie „Übergangsregion“, die das gegenwärtige Phasing-out- und Phasing-in-System ablöst, nach Ansicht des EWSA nicht zulasten der Mittel für die Regionen mit dem größten Entwicklungsrückstand gehen. Der EWSA begrüßt zwar den Vorschlag für die Fazilität „Connecting Europe“, ist jedoch der Ansicht, dass sie nicht in Höhe von ca. 10 Mrd. EUR aus dem Kohäsionsfonds finanziert werden darf, damit dieser nicht in unzulässiger Weise für andere Funktionen eingesetzt wird, die über seinen ursprünglichen Tätigkeitsbereich hinausgehen.

4.6   Artikel 174 des Vertrags von Lissabon sollte als Leitprinzip der künftigen Kohäsionspolitik dienen: „Die Union setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern.“

Deshalb:

Erhaltung und Ausbau der kohäsionspolitischen Investitionen mit Schwerpunkt auf dem Konvergenzziel;

Für Mitgliedstaaten, deren durchschnittliches BIP-Wachstum im Zeitraum 2007-2009 negativ war und die im gegenwärtigen Zeitraum bei der Inanspruchnahme von Fördermitteln eine gute Rate aufweisen, wird der Begrenzungssatz mindestens in Höhe des für den gegenwärtigen Zeitraum gültigen Satzes festgesetzt.

4.7   Der EWSA spricht sich für die verstärkte Beobachtung und Überwachung der Ergebnisse der Gemeinschaftspolitiken aus (was angesichts ihres Anteils am Gesamthaushalt insbesondere für die GAP und die Kohäsionsfonds gilt), um die Wirksamkeit der Ausgaben der EU und die Fähigkeit zur Verwirklichung der großen Zielstellungen der EU wie der Europa-2020-Strategie zu bewerten (26). Dies kann auch durch eine Kombination von Sanktionen für den Fall, dass festgelegte Zielmarken nicht erreicht werden, und von finanziellen Anreizen für die Mitgliedstaaten mit den besten Ergebnissen erreicht werden.

4.7.1   In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, dass die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften auf nationaler und europäischer Ebene unterstützt und umfassend einbezogen werden, um sie in die Lage zu versetzen, die mit Kohäsionsfonds und im Rahmen der GAP finanzierten Programme optimal durchzuführen. Dies kann durch entsprechende Programme zur Schulung zu den europäischen Planungsverfahren, Begleitung, Überwachung und Evaluierung erfolgen.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  „ ‚Europäischer Mehrwert‘ ist der Nutzen, der sich aus dem Eingreifen der EU zusätzlich zu dem Nutzen ergibt, der ohnehin von den Mitgliedstaaten allein erreicht worden wäre“, COM(2010) 700 final; SEC(2011) 867 final.

(2)  Art. 201.

(3)  Nominell sinkt der für die GAP bereitgestellte Betrag nicht, sondern bleibt über den Programmplanungszeitraum konstant, womit er real gegenüber 2012 tendenziell zurückgehen dürfte.

(4)  www.euractiv.com/euro-finance/eu-countries-call-slim-eu-budget-news-507532.

(5)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 75.

(6)  Entschließung INI/2010/2211 des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2011„Investition in die Zukunft: ein neuer mehrjähriger Finanzrahmen (MFR) für ein wettbewerbsfähiges, nachhaltiges und inklusives Europa“.

(7)  Stellungnahme des Ausschusses der Regionen BUDG-V-002 vom 14./15. Dezember 2011.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eigenmittelsystem der Europäischen Union“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 45.

(9)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 75.

(10)  COM(2011) 510 final, S. 5. Derzeit macht der Beitrag der Mitgliedstaaten auf der Grundlage des BNE 70 % der Gesamtmittel des EU-Haushalts aus, während die herkömmlichen Eigenmittel (Zölle und Zuckersteuer) 14,1 %, die Mehrwertsteuer 11,2 % und die übrigen Eigenmittel (Überschüsse aus vorhergehenden Jahren) 4,7 % ausmachen (SEC(2011) 876 final.).

(11)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eigenmittelsystem der Europäischen Union“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 45.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG“, verabschiedet auf der Plenartagung am 29. März 2012, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 55.

(13)  SEC(2011) 1103 final.

(14)  Europäische Kommission, 8. Dezember 2010, öffentliche Konsultation zum Thema – Überprüfung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) (Review of the Markets in Financial Instrument Directive), Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen.

SEC(2011) 1226 final.

(15)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eigenmittelsystem der Europäischen Union“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 45.

(16)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eigenmittelsystem der Europäischen Union“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 45.

(17)  Entschließung des Europäischen Parlaments, ebenda.

(18)  Haug J. et al., ebenda, Kap. 4.

(19)  http://ec.europa.eu/economy_finance/consultation/index_en.htm.

(20)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 134.

(21)  COM(2010) 672 final.

(22)  Hart K. – Baldock D. (Herausgeber): What Tools for the European Agricultural Policy to Encourage the Provision of Public Goods, Europäisches Parlament, Juli 2011.

(23)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 63.

(24)  Stellungnahme des EWSA zum Dossier NAT/520 „Die GAP bis 2020“, ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 116.

(25)  Barca F. (Herausgeber): Eine Agenda für eine reformierte Kohäsionspolitik – Ein raumbezogener Ansatz für die Herausforderungen und Erwartungen der Europäischen Union, Bericht für die GD REGIO, 2009.

(26)  Chambon N. und Rubio E.: In search of „the best value for money“: analyzing current ideas and proposals to enhance the performance of CAP and cohesion spending; Workshop „Finanzielle Vorausschau für den Zeitraum nach 2013: Überlegungen zum EU-Haushalt in Zeiten der Krise“ Turin, 7./8. Juli 2011.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Partnerschaften im Bereich Forschung und Innovation“

COM(2011) 572 final

2012/C 229/07

Berichterstatterin: Renate HEINISCH

Die Europäische Kommission beschloss am 21. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Partnerschaften im Bereich Forschung und Innovation

COM(2011) 572 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 191 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA ist wie die Kommission der Auffassung, dass Partnerschaften vielfältige Vorteile bieten und ihr Potenzial noch stärker genutzt werden könnte. Der Ausschuss begrüßt deshalb ausdrücklich die Initiative der Kommission, im Rahmen der Leitinitiative „Innovationsunion“ Europäische Innovationspartnerschaften (EIP) zu begründen und zu fördern, die das Ziel haben, den Europäischen Forschungs- und Innovationszyklus effizienter zu gestalten und die Zeitspanne für Neuerungen auf dem Markt zu verkürzen.

1.2   Um eine langfristige Laufzeit und nachhaltige Wirkung von Partnerschaften zu sichern, sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die geeignet sind, Herausforderungen hinsichtlich Führungsstrukturen, Finanzierung und Umsetzung zu lösen.

1.3   Als Grundvoraussetzung müssen Partnerschaften einfach, flexibel, inklusiv und offen, die Steeringgruppen repräsentativ und ausgewogen und die Beziehungen zwischen bestehenden Initiativen und Instrumenten von Anfang an geklärt sein.

1.4   Der EWSA betont die Wichtigkeit sozialer Innovationen als Schlüsselinstrument zur Schaffung einer innovationsfreundlichen Umwelt, um Unternehmen, den öffentlichen Sektor, Sozialpartner und sonstige Organisationen der Zivilgesellschaft zur Zusammenarbeit zu motivieren und damit ihre Innovations- und Leistungsfähigkeit zu steigern.

1.5   Für die Weiterentwicklung des Partnerschaftskonzepts ist die Klärung und kontinuierliche Überprüfung des Verhältnisses zwischen den EIP und anderen politischen Initiativen erforderlich (Ziffer 2.3.2 der Mitteilung).

1.6   Die notwendige Erleichterung einer koordinierten Durchführung und Finanzierung europäischer und nationaler Programme zur effektiveren Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen (Ziffern 3.1.3 und 3.3.3 der Mitteilung) sollte die Anpassung nationaler Verwaltungsabläufe, nationaler Förderrichtlinien und Finanzierungsbedingungen der Mitgliedsstaaten einschließen.

1.7   Der Ausschuss empfiehlt außerdem, bestehende Ressourcen stärker zu bündeln, die verschiedenen Möglichkeiten der (Ko-)Finanzierung übersichtlicher, eindeutiger und thematisch besser zuzuordnen, sie zielgerichtet einzusetzen und zentral und systematisch darüber zu informieren.

1.8   Der Ausschuss empfiehlt zudem eine Einbeziehung aller Akteure und Initiativen auf nationaler wie europäischer Ebene, die zu geeigneten, regelmäßigen Folgemaßnahmen und der Zukunftsfähigkeit von Partnerschaften sowie zur Implementierung ihrer Ergebnisse beitragen können.

1.9   Die Einbeziehung von Drittländern in FuI-Partnerschaften sollte weiter unterstützt werden, um die Attraktivität Europas für „Global Player“ zu erhöhen.

1.10   Auf der Basis der bisherigen Erfahrungen mit Partnerschaften ist zu klären, welche Form und welcher Grad von Verbindlichkeit erforderlich sind, um einerseits Flexibilität, Offenheit und Innovationsfähigkeit zu gewährleisten, andererseits aber langfristige und stabile Partnerschaften zu sichern und nachhaltige Wirkungen zu erzielen.

1.11   Um menschliche, zeitliche und finanzielle Ressourcen zu schonen, sollte zukünftig auf einen höheren Wirkungsgrad geachtet werden. Dazu müssen Maßnahmen besser koordiniert, regelmäßig evaluiert und konsequent umgesetzt werden.

1.12   Eine intensive Verknüpfung mit Akteuren auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene ist vorzusehen, um nationale und regionale Besonderheiten zu berücksichtigen. Gleichzeitig darf die Bedeutung der globalen Dimension der aktuellen Herausforderungen nicht aus dem Blick geraten.

2.   Mitteilung der Kommission

2.1   Die Mitteilung der Kommission zum Thema Partnerschaften im Bereich Forschung und Innovation (FuI) (1) behandelt die Aufgabe, die vorhandenen Ressourcen für FuI so zu optimieren, dass der Europäische Forschungsraum bis 2014, die Innovationsunion, die Digitale Agenda sowie weitere Leitinitiativen der Strategie Europa 2020 (2) auch angesichts der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise verwirklicht werden können.

2.2   Mit ihrer Mitteilung greift die Kommission zurück auf das Konzept von Partnerschaften, deren Bedeutung als Mittel zur Bündelung von Kräften in der Mitteilung der Kommission über die Innovationsunion vom Oktober 2010 hervorgehoben wurde (3). Partnerschaften sollen europäische und einzelstaatliche Akteure des öffentlichen Sektors in öffentlich-öffentlichen (P2P) und öffentlich-privaten (PPP) Partnerschaften (4) zusammenführen, um den großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen und die Wettbewerbsposition Europas zu stärken.

2.3   Um zu einer gemeinsamen Sichtweise über den möglichen Beitrag von Partnerschaften im Bereich FuI zu intelligentem und nachhaltigem Wachstum in Europa zu gelangen, wurden Partnerschaftsmodelle im Siebten Forschungsrahmenprogramm (RP7), im Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP), dem Europäischen Forschungsraum (EFR) und dem politischen Rahmen der Innovationsunion entwickelt und erprobt.

2.4   In ihrer Gesamtbewertung folgert die Kommission, dass Partnerschaften vielfältige Vorteile bieten und ihr Potenzial noch stärker genutzt werden könnte.

2.5   Europäische Innovationspartnerschaften (EIP) können einen übergeordneten Rahmen für die verschiedenen Partnerschaftsmodelle bilden, indem sie alle wichtigen Akteure des FuI-Zyklus zusammenbringen, die Angebots- wie auch die Nachfrageseite abdecken und das politische Engagement für vereinbarte Maßnahmen fördern. Partnerschaften sind zudem eine effiziente Methode, um kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stärker an Forschung und Innovation zu beteiligen.

2.6   Partnerschaften sind jedoch keine „Selbstläufer“. Um eine langfristige Laufzeit und nachhaltige Wirkung zu sichern, sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die geeignet sind, die Herausforderungen hinsichtlich Führungsstrukturen, Finanzierung und Umsetzung zu lösen, die mit Partnerschaften verbunden sind.

2.7   Aus den Ergebnissen der verschiedenen Partnerschaften wurden bereits wichtige Schlussfolgerungen für die Ausgestaltung von Partnerschaften gezogen und Lösungsmöglichkeiten für die genannten Herausforderungen abgeleitet (5).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der demografische Wandel, der Klimawandel sowie die Veränderungen in der Industrie, der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Globalisierung sind die größten Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen sind gemeinsame Anstrengungen, die Einbeziehung aller potenziellen Akteure und eine zentrale Koordination geeigneter Maßnahmen erforderlich. Sie müssen dringend im Zusammenwirken von Forschung, wissenschafts- und technologiebasierten Innovationen sowie sozialen Innovationen angepackt werden.

3.2   Eine zentrale Koordination ist auch in Bezug auf die Bündelung von Ressourcen, die Schaffung eines angemessenen Budgets und die Verteilung der Mittel erforderlich, damit die Chancen, die ebenfalls mit dem demografischen Wandel und den globalen Herausforderungen verbunden sind, effizient für Forschung und Innovation genutzt werden können.

3.3   Der EWSA begrüßt deshalb ausdrücklich die Initiative der Kommission, im Rahmen der Leitinitiative „Innovationsunion“ (6) Europäische Innovationspartnerschaften (EIP) zu begründen und zu fördern, die das Ziel haben, den Europäischen Forschungs- und Innovationszyklus effizienter zu gestalten und die Zeitspanne für Neuerungen auf dem Markt zu verkürzen (7).

3.4   Aus der Analyse der im 7. Forschungsrahmenprogramm (RP7) (8), im Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) (9), dem Europäischen Forschungsraum (EFR) (10), dem politischen Rahmen der Innovationsunion (11) und der Europäischen Pilotpartnerschaft zu aktivem und gesundem Altern (AHA) erprobten Partnerschaftsmodelle konnten bereits erste Schlussfolgerungen für die Ausgestaltung von Partnerschaften gezogen werden (12).

3.5   Zu den Folgerungen gehört, dass Partnerschaften einfach, flexibel, inklusiv und offen, die Steeringgruppen repräsentativ und ausgewogen und die Beziehungen zwischen bestehenden Initiativen und Instrumenten von Anfang an geklärt sein sollten. Darüber hinaus benötigen Partnerschaften klare Rahmenbedingungen im Hinblick auf Strukturen, Finanzierung und Abläufe, um sich längerfristig und stabil entwickeln zu können.

3.6   Der EWSA würdigt und unterstützt die Bemühungen der Kommission, die genannten Folgerungen zu konkreten Vorschlägen und Leitlinien weiterzuentwickeln und relevante Aspekte in das Programm „Horizont 2020“ zu integrieren. Die in der Mitteilung beschriebenen Vorschläge sind notwendig, aber nach Meinung des Ausschusses noch ergänzungsbedürftig.

4.   Besondere Bemerkungen / Zu den Vorschlägen der Kommission

4.1   Ziele der Europäischen Innovationspartnerschaften (EIP)

4.1.1   Der Ausschuss schätzt und unterstützt das in der Mitteilung der Kommission formulierte Ziel, durch EIP bewährte Instrumente der „Angebotsseite“ (Forschung und Technologie) mit denen der „Nachfrageseite“ (Nutzer, Behörden, Normung etc.) zu verknüpfen (Ziffer 2.3.1). Er stimmt mit der Auffassung der Kommission überein, dass EIP die zentralen Akteure auf nationaler und regionaler Ebene, aus öffentlichem Sektor und Zivilgesellschaft zusammenbringen und den Austausch untereinander intensivieren können und dass dadurch Instrumente optimiert, Synergien erhöht und Ressourcen gebündelt sowie Innovationen – insbesondere soziale Innovationen wie neue Geschäftsmodelle (13) - gefördert und politisches Engagement gestärkt werden.

4.1.2   Der Ausschuss unterstreicht in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Vorschläge der Kommission, die auf den Schlussfolgerungen des Arbeitsdokuments der Kommissionsdienststellen zur AHA-Pilot-EIP und weiteren Partnerschaften (14) beruhen. Sie machen deutlich, dass klare Rahmenbedingungen für Führungsstrukturen sowie für die Umsetzung und Finanzierung erforderlich sind, damit FuI-Partnerschaften sich langfristig und effizient entwickeln können.

4.2   Weiterentwicklung des Partnerschaftskonzepts

4.2.1   Für die Weiterentwicklung des Partnerschaftskonzepts erachtet der Ausschuss die folgenden Punkte für besonders wichtig und schlägt dazu jeweils ergänzende Aspekte vor:

4.2.2   Klärung des Verhältnisses zwischen den EIP und anderen politischen Initiativen (Ziffer 2.3.2 der Mitteilung): Dieses Verhältnis sollte permanent überprüft und insbesondere bei neuen EIP verdeutlicht werden.

4.2.3   Einbeziehung aller Akteure, die für geeignete, regelmäßige Folgemaßnahmen sorgen können (Ziffer 2.3.2): Dazu müssen die jeweiligen Rollen und Bedürfnisse der verschiedenen Akteure im Innovationsprozess identifiziert und berücksichtigt werden. Ebenso wichtig ist, eine Maßnahme auch beenden zu können – entweder wenn sie ihr Ziel erfolgreich erreicht hat oder wenn sich eine Maßnahme im Verlauf als nicht zielführend erweist.

4.2.4   Erleichterung einer koordinierten Durchführung und Finanzierung europäischer und nationaler Programme im Hinblick auf eine effektivere Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen (Ziffer 3.1.3): Zu diesem Aspekt gehört nach Auffassung des Ausschusses auch eine möglichst weitgehende Anpassung nationaler Förderrichtlinien und Finanzierungsbedingungen. Die Notwendigkeit, nationale Verwaltungsabläufe der Mitgliedsstaaten aufeinander abzustimmen, wird bereits in der Mitteilung der Kommission erwähnt (Ziffer 3.3.3).

4.3   Derzeitige Partnerschaften im Bereich Forschung und Innovation

4.3.1   Partnerschaftsmodelle wurden im RP7, im CIP, dem EFR und dem politischen Rahmen der Innovationsunion entwickelt und erprobt (15).

4.3.2   Zu den derzeitigen gemeinsamen Initiativen gehören insbesondere die Europäische Innovationspartnerschaft für Aktivität und Gesundheit im Alter (EIP AHA) (16), die Digitale Agenda für Europa (17), die JPI „Länger und besser leben – Möglichkeiten und Probleme des demografischen Wandels“ (MYBL) (18) sowie das geplante Programm „Horizont 2020“ (19).

4.3.3   Die Einbeziehung weiterer wichtiger Akteure und Initiativen auf nationaler wie europäischer Ebene ist unverzichtbar, wenn eine Zersplitterung des Marktes und Doppelarbeit vermieden werden sollen. FuI-Partnerschaften oder zumindest Synergien bieten sich beispielsweise an mit dem „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ 2012 (20), dem WHO Age-friendly Environments Programme (WHO-Programm für alternsfreundliche Umgebungen) (21) und dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (22).

4.3.4   Ebenso sollten relevante Vorarbeiten weiterer Akteure auf nationaler wie europäischer Ebene verstärkt Berücksichtigung finden. Dazu gehören z.B. verschiedene Programme und Initiativen der DG SANCO, des Europäischen Instituts für Innovation und Technologie (EIT) (23) und des Institute for Prospective Technology Studies (IPTS) (24).

4.3.5   Der EWSA betont außerdem die Bedeutung von Partnerschaften, um die Attraktivität Europas als globaler Partner in Forschung und Innovation zu erhöhen. Partnerschaften tragen dazu bei, durch eine Steigerung der Größenordnung und Tragweite die Effizienz und Wirksamkeit der Forschungsinvestitionen in Europa für „Globale Player“ erhöhen (25). Der EWSA spricht sich für eine Weiterentwicklung von Partnerschaften in diesem Sinn aus.

4.3.6   Zentral für die Zukunftsfähigkeit von Partnerschaften im Bereich Forschung und Innovation ist neben den strukturellen Rahmenbedingungen eine wegweisende und tragfähige gemeinsame Vision. Nach Auffassung des Ausschusses müssen deshalb neben allen denkbaren Akteuren, den Vertretern der Zivilgesellschaft und älteren Menschen insbesondere auch die Sozialpartner sowie junge Menschen beziehungsweise deren Vertreter in Partnerschaften einbezogen werden, um deren tatkräftige Unterstützung für zukunftsfähige Entwicklungen und Umsetzungen zu erreichen.

4.3.7   Innovationen entstehen nicht unbedingt als Ergebnis eines linearen Prozesses, sondern durch die Vernetzung und Integration von Sektoren, Systemen und Konzepten. Zu den häufigsten Faktoren, die z.B. zu dienstleistungsbezogenen Innovationen beitragen, gehören gesellschaftliche Strukturveränderungen, neue Kundenbedürfnisse und die Reaktion von Unternehmen auf solche Veränderungen. Insbesondere im Hinblick auf soziale Innovationen müssen solche Faktoren einbezogen werden.

4.4   Weitere Ergänzungsvorschläge

4.4.1   Finanzierung und Umsetzung – zu Ziffer 3.2 der Mitteilung der Kommission

4.4.1.1   Für eine langfristige Laufzeit von Partnerschaften ist ein verlässlicher Finanzierungsrahmen unabdingbar. Die Vorschläge der Kommission zur Vereinfachung und Koordination bestehender Finanzierungsinstrumente auf europäischer wie nationaler Ebene sind in dieser Hinsicht sehr wertvoll und unbedingt weiter zu verfolgen.

4.4.1.2   Es wäre zudem wünschenswert, dass die verschiedenen Möglichkeiten der (Ko-)Finanzierung übersichtlicher, eindeutiger und thematisch besser zuzuordnen wären, um die Planung und Umsetzung von Initiativen auf einer soliden Basis begründen zu können. Der Ausschuss empfiehlt deshalb, bestehende Ressourcen stärker zu bündeln, sie zielgerichtet einzusetzen und zentral und systematisch darüber zu informieren.

4.4.2   Klärung der Verbindlichkeit zukünftiger Partnerschaften

Bisherige Partnerschaften reichen bezüglich ihrer Verbindlichkeit von einer losen Zusammenarbeit zu bestimmten Themenschwerpunkten über verbindliche, aber zeitlich und finanziell begrenzte Zusagen einzelner Partner bis hin zu einem langfristigen Engagement aller an einer Partnerschaft beteiligten Akteure. Im Hinblick auf das Programm Horizont 2020 ist auf der Basis der bisherigen Erfahrungen zu klären, welche Form und welcher Grad an Verbindlichkeit erforderlich ist, um einerseits Flexibilität, Offenheit und Innovationsfähigkeit zu gewährleisten, andererseits aber langfristige und stabile Partnerschaften zu sichern, um nachhaltige Wirkungen zu erzielen.

4.4.3   Implementierung

Schwerpunkt der FuI-Partnerschaften sollte auf der zügigen und konsequenten Implementierung von als geeignet bewerteten Maßnahmen liegen. Deshalb muss das Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis ebenso wie der Ansatz der Nutzerorientierung und Einbeziehung in Innovationspartnerschaften gestärkt werden. Um nicht unnötig kostbare Zeit und menschliche und finanzielle Ressourcen zu verbrauchen, sollte zukünftig auf einen höheren Wirkungsgrad geachtet und sollten Maßnahmen besser koordiniert, kontinuierlich nach festgelegten Kriterien evaluiert und konsequent umgesetzt werden.

4.4.4   Geistiges Eigentum

Bei einer Beteiligung mehrerer Akteure an einem Projekt oder einer Partnerschaft ist die Frage geistiger Eigentumsrechte an gemeinsamen Entwicklungen ein wichtiger Aspekt. Auch für die zukünftigen Innovationspartnerschaften müssen faire Lösungen dieser Frage von Anfang an gesichert werden, damit alle Beteiligten – auch einbezogene Endnutzer – einen angemessenen Anteil an Fördermitteln und möglichen späteren Gewinnen erhalten.

4.4.5   Regionale Verortung

Partnerschaften müssen sich immer in konkreten Kontexten realisieren und bewähren. Eine enge Verknüpfung mit Akteuren auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene und die Berücksichtigung nationaler und regionaler Besonderheiten sind deshalb dringend zu empfehlen, da die Voraussetzungen sowohl innerhalb der Mitgliedsländer wie zwischen ihnen sehr unterschiedlich sind. Eine solche kontextgebundene Orientierung darf jedoch die Bedeutung der globalen Dimension der aktuellen Herausforderungen nicht aus dem Blick verlieren.

4.4.6   Vorbildliche Beispiele

4.4.6.1   Als Modelle für gelingende Partnerschaften sollten erfolgreiche bestehende Partnerschaften zusammengetragen und bekannt gemacht werden. Der EWSA schlägt vor, bisherige Wege der Verbreitung wie z.B. über die CORDIS-Webseite, z.B. durch ein eigenes Web-Portal oder jährliche Veranstaltungen mit Prämierung der erfolgreichsten Partnerschaften zu ergänzen.

4.4.6.2   Ebenso nützlich kann es aber auch sein, die Gründe für das Scheitern von Partnerschaften zu erfahren und daraus zu lernen. Der Ausschuss empfiehlt deshalb, sowohl vorbildliche Modelle, wie auch gescheiterte Vorhaben und ihre jeweiligen Voraussetzungen zu sammeln und Informationen darüber aktiv zu verbreiten.

4.4.7   Inhaltliche Klärung der Begrifflichkeiten

4.4.7.1   Die Begriffe „Innovation“, „Forschung“ und „Partnerschaften“ sind zunächst inhaltlich nicht festgelegt. Während jedoch zu „Partnerschaften“ in der Mitteilung der Kommission bereits wichtige Rahmenbedingungen definiert wurden (26) und der Begriff „Innovation“ in verschiedenen Mitteilungen und Stellungnahmen geklärt wurde (27), bleibt bisher weitgehend vage oder exemplarisch, worauf sich zukünftige Forschungen beziehen sollen. Angesichts des demografischen Wandels und der globalen gesellschaftlichen Herausforderungen ist jedoch eine exzellente Grundlagenforschung unverzichtbar.

4.4.7.2   Ausführungen hierzu würden den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen. Der Ausschuss erarbeitet dazu eine eigene Initiativ-Stellungnahme „Achtes Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung: Fahrpläne für das Älterwerden“ (28).

4.4.8   Potenziale besser nutzen

Gerade das Altern der Bevölkerung ist beispielhaft für den Erfolg des Zusammenwirkens medizinisch-technischer Forschung und Entwicklung auf der einen und des sozialen Fortschritts auf der anderen Seite. Bei einer Bündelung aller verfügbaren intellektuellen, finanziellen und praktischen Ressourcen können sich auch in Zukunft enorme Kräfte zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen entwickeln.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 572 final vom 21.9.2011.

(2)  COM(2010) 546 final. Siehe auch IP/10/225. Das auf zehn Jahre angelegte Nachfolgeprogramm der Lissabon-Strategie wurde im Juni 2010 vom Europäischen Rat verabschiedet. Ziel ist intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum mit einer besseren Koordinierung der nationalen und europäischen Wirtschaft.

(3)  COM(2010) 546 final; siehe dazu auch die EWSA-Stellungnahme ABl. C 132, 3.5.2011, S. 39.

(4)  Als Beispiele von P2P-Partnerschaften werden unter anderem ERA-NET und ERA-NET Plus, Artikel 185-Initiativen und die gemeinsame Planung (Joint Programming – JP) genannt. Zu PPP in FuI gehören beispielsweise Gemeinsame Technologie-Initiativen (JTI) und Künftiges Internet.

(5)  Siehe das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen SEC(2011) 1028 final vom 1.9.2011.

(6)  COM(2010) 546 final vom 6.10.2010.

(7)  COM(2011) 572 final vom 21.9.2011.

(8)  ABl. L 412 vom 30.12.2006, S. 1 sowie ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 9.

(9)  ABl. L 310 vom 9.11.2006, S. 15 sowie ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 22.

(10)  COM(2000) 6 final sowie ABl. C 204 vom 18.7.2000, S. 70.

(11)  Siehe Fußnote 6.

(12)  Siehe das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen SEC(2011) 1028 final vom 1.9.2011.

(13)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 22.

(14)  SEC(2011) 1028 final.

(15)  Siehe Fußnote 4. Ein relevantes Beispiel für eine P2P-Partnerschaft ist das AAL JP mit einem Volumen von über 600 Mio. EUR. Ein konkretes Beispiel für eine PPP ist die gemeinsame Technologieinitiative ARTEMIS (eingebettete IKT-Systeme).

(16)  Siehe IP/10/1288.

(17)  Siehe IP/10/581, MEMO/10/199 und MEMO/10/200.

(18)  Siehe http://www.jp-demographic.eu.

(19)  Rahmenprogramm für Forschung und Innovation 2014-2020; MEMO/11/435. Siehe dazu auch den Vorentwurf der Stellungnahme INT/614-615-616-631 zu „Horizont 2020“, Berichterstatter Gerd WOLF.

(20)  Siehe http://europa.eu/ey2012/.

(21)  Siehe http://www.who.int/ageing/age_friendly_cities/.

(22)  Siehe http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=150.

(23)  Siehe http://eit.europa.eu.

(24)  Siehe http://ipts.jrc.ec.europa.eu.

(25)  Als Beispiele seien hier nur zwei erwähnt: Als Ergebnis der Pilotinitiative für die gemeinsame Planung (JPI) betreffend die Bekämpfung der neurodegenerativen Erkrankungen hat Kanada seine Forschungsagenda in diesem Bereich neu ausgerichtet und mit Europa koordiniert und ist nun Partner eines Pilotvorhabens betr. Exzellenzzentren; Indien hat sein Interesse an aktiver Mitarbeit an der JPI „Wasser“ angemeldet.

(26)  Siehe unter anderem IP/11/1059 und MEMO/11/623 vom 21. September 2011.

(27)  COM(2010) 546 final. Siehe dazu auch nochmals ABl. C 132, 3.5.2011, S. 39.

(28)  „Horizont 2020: Fahrpläne für das Älterwerden“, (Initiativstellungnahme), Siehe Seite 13 dieses Amtsblatts (CESE 1290/2012.).


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/44


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Initiative für soziales Unternehmertum — Schaffung eines Ökosystems zur Förderung der Sozialunternehmen als Schlüsselakteure der Sozialwirtschaft und der sozialen Innovation“

COM(2011) 682 final

2012/C 229/08

Berichterstatter: Giuseppe GUERINI

Die Kommission beschloss am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Initiative für soziales Unternehmertum — Schaffung eines Ökosystems zur Förderung der Sozialunternehmen als Schlüsselakteure der Sozialwirtschaft und der sozialen Innovation

COM(2011) 682 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 193 gegen 4 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die zweckmäßige Initiative der Kommission, die diese Mitteilung mit 11 Schlüsselmaßnahmen vorlegt. Darüber hinaus begrüßt der EWSA, dass die Kommission mehrere Anregungen seiner Sondierungsstellungnahme (1) zum sozialen Unternehmertum aufgegriffen hat.

1.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Sozialunternehmen in ihrer zentralen Rolle als Motoren der sozialen Innovation unterstützt werden sollten, da sie neue Methoden für Dienstleistungen und Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität einführen und die Schaffung neuer Produkte fördern, um die neuen Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Insbesondere möchte der EWSA das enorme Potenzial der Sozialunternehmen hervorheben, das diese für die Verbesserung des Zugangs zur Beschäftigung und der Arbeitsbedingungen, insbesondere für Frauen und junge Menschen, aber auch für Gruppen benachteiligter Arbeitnehmer bieten.

1.3   Diese Mitteilung der Kommission ist eine wichtige Gelegenheit, Initiativen zu unterstützen, die die dazu beitragen, die verwendete Terminologie zu klären und damit Überschneidungen zwischen den Begriffen social economy (Sozialwirtschaft), social business (soziale Unternehmenskultur [u.a.]), social enterprise (Sozialunternehmen) und social enterpreneurship (soziales Unternehmertum) entgegenwirken. Dies würde dabei helfen, Ziele und Zwecke der Initiative zu konsolidieren und ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Daher empfiehlt der EWSA den EU-Institutionen, sowohl in Legislativvorschlägen als auch in Mitteilungen durchgehend den Ausdruck „Sozialunternehmen“ zu verwenden.

1.4   Der ESWA begrüßt die von der Kommission vorgesehene Maßnahme, Instrumente zu entwickeln, um die Kenntnisse in diesem Bereich zu verbessern und die Sichtbarkeit der Sozialunternehmen zu erhöhen, und unterstützt das Ziel, Initiativen zu entwickeln, die die Sozialunternehmen dabei unterstützen sollen, ihre unternehmerische Fähigkeiten, ihre Professionalität und die Vernetzung ihrer Kompetenzen auszubauen – und zwar auch, um ihren Beitrag zu einem intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Wachstum zu fördern.

1.5   Der EWSA begrüßt und befürwortet nachdrücklich die Ziele der Kommission hinsichtlich der Verbesserung des Zugangs zur Finanzierung und des Rechtsrahmens. Im Hinblick auf diese beiden Ziele unterstreicht er, dass ein günstiges wirtschaftliches und rechtliches Umfeld für die Förderung von Sozialunternehmen unabdingbar ist.

1.6   Der EWSA begrüßt die in der Mitteilung formulierte Aufforderung bezüglich Initiativen zur Anregung und Förderung von Maßnahmen mit dem Ziel, den Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen für Sozialunternehmen zu erleichtern.

1.7   Der EWSA macht sich den Aufruf an die Mitgliedstaaten zu eigen, nationale Rahmenregelungen für das Wachstum und die Entwicklung der Sozialunternehmen zu schaffen und dabei die betreffenden Schlüsselbereiche zu berücksichtigen, um Unterstützung und Entwicklung sicherzustellen. Er empfiehlt insbesondere die Annahme von Initiativen, die es den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglichen, Steuererleichterungen für nicht umverteilte Gewinne zu gewähren, um so zur Konsolidierung des Eigenkapitals der Sozialunternehmen beizutragen.

1.8   Im Interesse der in der Mitteilung vorgeschlagenen Aktionen sollten Maßnahmen zur Auswertung der von den Sozialunternehmen bewirkten Ergebnisse und Vorteile gefördert werden.

2.   Einführung

2.1   Sozialunternehmen haben in den letzten Jahren immer größere Bedeutung im Rahmen der Wirtschafts- und Kohäsionspolitik erlangt. Zahlreiche und unterschiedliche Initiativen folgten aufeinander und wurden von unterschiedlichen Einrichtungen gefördert. Der EWSA hat auch eine Reihe von Initiativstellungnahmen verabschiedet, mit denen dieses Dokument vollkommen im Einklang steht und das sie inhaltlich fortsetzt; erwähnt seien insbesondere die Stellungnahme zum Thema „Unterschiedliche Unternehmensformen“ (2) von 2009 und die kürzlich verabschiedete wichtige Sondierungsstellungnahme zum Thema „Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen“ (3), die mehrere Schlüsselbereiche für die Entwicklung und das Wachstum von Sozialunternehmen umfasst und die auf Ersuchen der Europäischen Kommission als Beitrag zur Ausarbeitung der Initiative für eine soziale Unternehmenskultur („Social Business Initiative“) vorbereitet wurde.

2.2   Seit einigen Jahren wurden in Europa und in anderen Teilen der Welt solide akademische und wissenschaftliche Kenntnisse im Zusammenhang mit Sozialunternehmen gesammelt, die auch die EU-Institutionen zum Handeln veranlasst haben.

2.3   Zu erinnern ist an dieser Stelle an die Entschließung des Europäischen Parlaments vom Februar 2009 zur Sozialwirtschaft (2008/2250(INI)) sowie an den Appell von 400 europäischen Hochschuldozenten „From Words to Action: European Scholars in Support of Social Economy Enterprises“(„Von Worten zu Taten: Europäische Dozenten unterstützen sozialwirtschaftliche Unternehmen“), der vom Europäischen Parlament mit einer Veranstaltung am 13. Oktober 2010 unter Beteiligung der Kommissionsmitglieder Barnier und Tajani aufgegriffen wurde.

2.4   Der Bedeutungsbereich des Begriffs „soziales Unternehmertum“ wurde im Zuge seiner Verwendung durch verschiedene Autoren schrittweise ausgeweitet. Ursprünglich bezeichnete er Unternehmenstätigkeiten gemeinnütziger Organisationen mit dem Ziel, Gewinne für die Eigenfinanzierung zu erzeugen. Es ist wichtig, das Konzept „Sozialunternehmen“ zu bewahren, um zu vermeiden, dass es mit „sozialer Verantwortung der Unternehmen“ (corporate social responsibility) verwechselt werden kann. Dies sollte in den nächsten Initiativen der EU-Organe in diesem Bereich hervorgehoben werden.

3.   Definition des Begriffs „Sozialunternehmen“

3.1   Die in der Mitteilung über die Initiative für soziales Unternehmertum vorgeschlagene Begriffsbestimmung der „Sozialunternehmen“ ist ein positiver Schritt hin zur Anerkennung der Besonderheiten dieses Organisationstyps und sollte von den EU-Organen als Standardbeschreibung verwendet werden. Sie trägt den drei Schlüsseldimensionen gebührend Rechnung, die die Sozialunternehmen prägen: soziale Zielsetzung/sozialer Zweck; unternehmerisches Handeln; partizipative Organisationsstrukturen. Der EWSA betont nachdrücklich, dass dieselbe Beschreibung im Vorschlag für eine Verordnung über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum verwendet werden sollte.

3.2   Außerdem ist daran zu erinnern, dass die Europäische Kommission im Vorschlag für eine Verordnung des Parlaments und des Rates über ein Programm der Europäischen Union für sozialen Wandel und soziale Innovation eine Reihe von Kriterien zur Identifizierung von Sozialunternehmen festgelegt hat, mit denen der EWSA gänzlich einverstanden ist.

3.3   Der EWSA begrüßt, dass die Kommission keine normative Definition für Sozialunternehmen festlegt, um der Vielfalt der geltenden Rechtsvorschriften auf nationaler Ebene Rechnung zu tragen. Diese Rechtsvorschriften müssen beachtet werden, um zu gewährleisten, dass die Definition der Sozialunternehmen nicht missbraucht wird.

3.4   Der EWSA möchte bei dieser Gelegenheit auf eine kürzlich verabschiedete Sondierungsstellungnahme zum sozialen Unternehmertum und zu Sozialunternehmen hinweisen. Darin werden Sozialunternehmen wie folgt charakterisiert:

sie haben im Wesentlichen soziale Zielsetzungen und keine Gewinnorientierung; sie schaffen soziale Vorteile im Interesse der Partner und der allgemeinen Öffentlichkeit;

sie sind im Wesentlichen gemeinnützig, wobei ihre Überschüsse reinvestiert und nicht an die Aktionäre oder Eigentümer verteilt werden;

sie existieren in vielfältigen Rechtsformen und Modellen (z.B. Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Freiwilligenvereine, Stiftungen, gewinnorientierte oder gemeinnützige Unternehmen); unterschiedliche Rechtsformen werden häufig miteinander kombiniert und mitunter gemäß den Erfordernissen abgeändert;

sie sind Wirtschaftsteilnehmer, die Güter und Dienstleistungen (häufig von allgemeinem Interesse) erzeugen, vielfach mit einem klaren Schwerpunkt auf sozialer Innovation;

sie operieren als (Gesamtheit von) unabhängige(n) Organisationen mit den stark ausgeprägten Komponenten Teilhabe und Mitbestimmung (Beschäftigte, Nutzer, Partner), (repräsentativer oder offener) Verwaltung und Demokratie;

sie wurzeln häufig in der organisierten Zivilgesellschaft.

3.5   In Bezug auf diese Merkmale sind folgende Grundvoraussetzungen herauszustellen:

Das Fehlen der Gewinnorientierung, das in der Satzung vorzusehen ist, und zwar im Rahmen der Verpflichtung zur Verwendung der Gewinne und Betriebsüberschüsse für die Ausübung der satzungsgemäßen Tätigkeit oder für die Aufstockung des Eigenkapitals mittels Übertragung in einen zwischen den Eigentümern nicht teilbaren Fonds während des Bestehens des Unternehmens oder im Falle der Auflösung des Unternehmens. In einem Sozialunternehmen können Gewinne, Betriebsüberschüsse, Fonds und Rücklagen nicht direkt an Verwalter, Partner, Teilhaber, Arbeitnehmer oder Mitarbeiter verteilt werden. Diese Beschränkung gilt offenkundig auch für indirekte Formen, z.B. Zahlungen an Verwalter und Arbeitnehmer, die über den Zahlungen liegen, die die in denselben oder ähnlichen Branchen und Situationen tätigen Unternehmen leisten. Die Vergütung mittels Finanzinstrumente muss ebenso eingeschränkt werden und darf bestimmte Prozentsätze nicht übersteigen, um eine angemessene Kapitalisierung der Sozialunternehmen zu gewährleisten.

Die Ausrichtung auf das Gemeinwohl und das allgemeine gesellschaftliche Interesse. Sozialunternehmen werden oft mithilfe zweier inhaltlich verschiedener Faktoren definiert, d.h. mittels eines sozialen Ziels einschließlich des allgemeinen Interesses der Gesellschaft auf lokaler Ebene oder spezifischer gesellschaftlicher, in gewisser Hinsicht „benachteiligter“ Gruppen, oder aber vor allem mittels des Typs der Waren und Dienstleistungen, die im Einklang mit dem Ziel erzeugt werden.

Die Funktion der Förderung des sozialen Zusammenhalts durch Waren und Dienstleistungen, die im Einklang mit dem Ziel einer größeren wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit erzeugt werden.

4.   Bemerkungen zum Kommissionsvorschlag

4.1   In der Mitteilung werden verschiedene Aspekte eines verbesserten Zugangs zu Finanzmitteln (3.1), der Sichtbarkeit der Sozialunternehmen (3.2) und der Verbesserung des rechtlichen Umfelds (3.3) herausgestellt.

4.2   Hinsichtlich besserer Zugangsmöglichkeiten zu Finanzmitteln teilt der Ausschuss die Einschätzung der Europäischen Kommission in Bezug auf die Finanzierungserfordernisse der Sozialunternehmen. Denn sowohl bei den Finanzinstituten als auch bei den Verwaltern der Kreditfördermaßnahmen öffentlicher Einrichtungen ist ein Mangel an angemessenen Instrumenten zur Beurteilung der Kreditwürdigkeit der Sozialunternehmen zu beobachten. Tatsächlich sind diese häufig nicht geneigt, den „Geschäfts-“ Wert und die wirtschaftliche Solidität der Sozialunternehmen anzuerkennen.

4.3   Um die Vorzüge der Sozialunternehmen deutlich zu machen, müssen zunächst die sozialen Ergebnisse, die sich von den rein wirtschaftlichen Ergebnissen unterscheiden, gemessen werden. Der Ausschuss weist auf die Notwendigkeit von Instrumenten hin, mit denen die Wirkung und die soziale Wirksamkeit der Tätigkeit der Sozialunternehmen beurteilt und verstärkt werden können.

4.4   Die Verfahren der sozialen Rechenschaftspflicht haben eine grundlegende Bedeutung für die sozialwirtschaftlichen Organisationen. Es gibt mehrere Instrumente zur Messung der Leistung eines Unternehmens auf sozialer Ebene, die vor allem von den am stärksten strukturierten Organisationen entwickelt wurden. Es sollten jedoch auch Instrumente untersucht und als Modelle verwendet werden, die sich für die Nutzung durch kleine Sozialunternehmen eignen. Die Kommission sollte eine Studie zum Vergleich der bestehenden Modelle auf den Weg bringen, die Nutzung dieser Systeme fördern und Arbeiten zur Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Systems oder Verhaltenskodexes beginnen, das bzw. der von einem breiten Spektrum von Sozialunternehmen verwendet werden könnte.

4.5   Um das Vertrauen in die Sozialunternehmen zu steigern, ist es wichtig, die „Soziallabels“ in der gesamten EU zu vergleichen. Wie auch in der Schlüsselmaßnahme Nr. 6 von der Kommission vorgeschlagen, spricht sich der EWSA dafür aus, eine öffentliche Datenbank einzurichten, um die Modelle bezüglich der Messung der sozialen Ergebnisse und der Anwendung der derzeitigen Methoden zu vergleichen.

4.6   Der EWSA hält die beabsichtigte Verbesserung des rechtlichen Umfelds für europäische Sozialunternehmen (Schlüsselmaßnahme Nr. 9) für sinnvoll, was sowohl die Vereinfachung der Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft als auch die Möglichkeit der Schaffung eines Statuts der Europäischen Stiftung betrifft. Darüber hinaus könnte ein besseres rechtliches Umfeld für die Sozialunternehmen auf Leitlinien zur Schaffung von Statuten für Förder- und Wohltätigkeitsvereine, aus denen ja häufig Sozialunternehmen hervorgehen, gründen. Der Ausschuss fordert deshalb den Rat und das Parlament nachdrücklich dazu auf, das Verfahren zur Annahme des Verordnungsvorschlags einzuleiten.

4.7   In dieser Hinsicht begrüßt der EWSA, dass sich die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung dazu verpflichtet hat, eine Studie über die Situation der Gegenseitigkeitsgesellschaften in allen Mitgliedstaaten auf den Weg zu bringen, um insbesondere ihre grenzüberschreitenden Tätigkeiten zu untersuchen. Die Wiederentdeckung und Stärkung des Systems Gegenseitigkeitsgesellschaften als Instrument des sozialen Schutzes bieten gewiss eine wichtige Perspektive für die Beibehaltung eines inklusiven Wohlfahrtssystems.

4.8   Die Unterstützung der Sozialunternehmen kann Gelegenheiten für die Einbindung von Interessenträgern schaffen und die Beteiligung von Bürgern an Selbsthilfeorganisationen fördern, was Prozesse der Nachfragebündelung und die Erprobung von Formen der gegenseitigen Unterstützung begünstigt.

4.9   Sozialunternehmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt können, falls entsprechend unterstützt, ein zukunftsweisendes Instrument für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen sein und die Beschäftigung benachteiligter Personen fördern. In der gegenwärtigen Beschäftigungskrise können sie für diejenigen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, von grundlegender Bedeutung sein.

4.10   Die Arbeitnehmerbeteiligung kann ein wichtiges Mittel bei der Bewältigung bestimmter Krisen der Industrie sein. Möglich sind Unternehmensübernahmen (buy-outs) durch die Arbeitnehmer, die sich in verschiedenen Formen von Sozialunternehmen zusammenschließen.

4.11   Die Sozialunternehmen spielen eine wesentliche Rolle als Motoren der sozialen Innovation. Davon zeugen eindeutig die Erfahrungen mit der Eingliederung in den Arbeitsmarkt seitens der Sozialgenossenschaften. Aber abgesehen von der Rechtsform resultiert die soziale Innovation auch aus neuen Methoden zur Erbringung von Dienstleistungen und aus der Schaffung neuer innovativer Produkte zur Befriedigung neuer Bedürfnisse der Gesellschaft. Die europäischen Institutionen müssen deshalb kohärent vorgehen, indem sie die Bestimmungen über Sozialunternehmen einerseits und jene über Innovation und sozialen Wandel andererseits aufeinander abstimmen.

4.12   Organisationen zur Unterstützung der Gründung und Entwicklung von Sozialunternehmensnetzen können für die Innovationsförderung insofern sehr nützlich sein, da sie die Beteiligung an Partnerschaftsprozessen und Zusammenschlüssen von Sozialunternehmen zu Konsortien begünstigen. Wichtig sind deshalb die von der Kommission im Rahmen der Schlüsselmaßnahme Nr. 5 angeregten Schritte zur Förderung der Zusammenschlüsse und Netze von Sozialunternehmen, die den Austausch bewährter Verfahren, Skaleneffekte und gemeinsame Dienste (Bildung, Planung, Verwaltung usw.) unterstützen.

4.13   Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgesehenen Maßnahmen zur Entwicklung von Instrumenten zur Verbesserung des Wissenstands und der Sichtbarkeit hinsichtlich der Sozialunternehmen (Schlüsselmaßnahmen Nr. 5, 6 und 8). Eine größere Bekanntheit des Potenzials dieses Unternehmensmodells trägt zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Sozialunternehmen und gewöhnlichen Unternehmen bei.

4.14   Es sollten Initiativen entwickelt werden, die den Sozialunternehmen helfen, ihre Kapazitäten, ihre Professionalität und die Vernetzung ihrer Kompetenzen zu verstärken. Nützlich erscheint hier der Vorschlag zur Förderung von Plattformen für den Austausch bewährter Verfahren, auch im Interesse der Internationalisierung der Sozialunternehmen.

4.15   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission vorrangig eine Sondierungsstudie initiieren sollte, um neu entstehende Rechtsformen für Sozialunternehmen zu vergleichen. Gleichwohl muss die Subsidiarität das Leitprinzip sein, da die nationalen Modelle möglicherweise auf eigenen Gegebenheiten und Traditionen beruhende rechtliche Rahmenbedingungen erfordern bzw. nicht erfordern.

4.16   Es ist wichtig, eine positivere Einstellung der öffentlichen Einrichtungen gegenüber der Subsidiarität, die Einführung gezielter Anreizmaßnahmen und die Entwicklung von Initiativen zur Gründung von Unternehmensverbänden, die sich für das Wachstum von Sozialunternehmen als entscheidend erwiesen haben, zu fördern.

4.17   Die Anreizmaßnahmen dürfen den Wettbewerbsgrundsätzen nicht abträglich sein, sondern müssen den Besonderheiten der Sozialunternehmen Rechnung tragen; diese dürfen nicht aus opportunistischen Gründen zur Erlangung von Vorteilen manipuliert werden.

4.18   Hinsichtlich der Entwicklung von Instrumenten zur Verbesserung der Finanzierung sollte der EWSA die innovativen Konzepte der Mitgliedstaaten zusammentragen und verbreiten. Dabei sollten die Konzepte Vorrang erhalten, die den spezifisch unternehmerischen Aspekten förderlich sind, d.h.:

Garantieinstrumente für Darlehen für Sozialunternehmen (wie Netze für wechselseitige Garantien oder öffentliche Garantiefonds);

Kapitalisierungsinstrumente für mittel- und langfristige soziale Investitionen (wie Ethikfonds, Sozialinnovationsfonds, soziale Risikokapitalfonds);

Regulierungs- oder Fiskalinstrumente zur Förderung der Kapitalisierung der Sozialunternehmen durch die Anregung oder Erleichterung der Beteiligung unterschiedlicher Interessenträger.

4.19   Besondere Aufmerksamkeit verdienen hybride Investitionsformen, die für die Sozialunternehmen besser geeignet sind, weil sie Elemente der Bewertung im Sinne des Gemeinwohls mit Finanzaspekten verbinden. Es ist außerdem wichtig, dass neben Sozialunternehmen auch die besten Beispiele von Banken und Kreditinstituten mit einer stark ausgeprägten gemeinschaftlichen oder partizipativen Struktur ausgewertet werden, z.B. Genossenschaftsbanken und Banken mit ethischer und sozialer Zielsetzung.

4.20   Es ist sinnvoll, Phänomene wie den Mikrokredit (Schlüsselmaßnahme Nr. 2) zu unterstützen; es sollte aber auch zwischen der vorteiligen sozialen Funktion des Mikrokredits (eines vorzüglichen Instruments zur Überwindung der Armutsfalle) und den notwendigerweise komplexeren und strukturierten Instrumenten zur Unternehmensentwicklung unterschieden werden. Tatsächlich tätigen einige Sozialunternehmen Investitionen von mehreren Hunderttausend Euro, die im Rahmen eines Mikrokredits nicht angemessen aufgebracht werden könnten.

4.21   Der EWSA begrüßt die Möglichkeiten zur Förderung der sozialen Innovation, des Unternehmertums und der Unternehmen im Zuge der neuen Strukturfondsprogramme, die in den Schlüsselmaßnahmen Nr. 3 und 4 oder in der Initiative für soziales Unternehmertum vorgeschlagen werden. Der EWSA unterstreicht, dass die Mitgliedstaaten diese Bereiche in ihren nationalen Reformprogrammen als vorrangig ansehen sollten, damit sie im nächsten Programmplanungszeitraum des Europäischen Sozialfonds berücksichtigt werden können. Darüber hinaus könnte das vorgeschlagene Programm für sozialen Wandel und Innovation eine zusätzliche Förderung der Entwicklung der Kapazitäten und Finanzmittel für Sozialunternehmen ermöglichen, was begrüßt wird.

4.22   In Bezug auf die Schlüsselmaßnahme Nr. 1 (Fonds für soziales Unternehmertum) begrüßt der EWSA die Initiative, unterstreicht jedoch, dass die in der Initiative für soziales Unternehmertum verwendete Beschreibung beibehalten werden sollte. Dieser Fonds sollte als einer unter mehreren Investitionsinstrumenten für Sozialunternehmen angesehen werden.

4.23   Die De-minimis-Regelung für Sozialunternehmen (Schlüsselmaßnahme Nr. 11) sollte weniger restriktiv gestaltet werden, insbesondere was Sozialunternehmen betrifft, die sich für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt einsetzen – auch wenn die öffentlichen Fördermittel nicht den Arbeitnehmern zugewiesen, sondern unmittelbar den Unternehmen gewährt werden. Diese Position lässt sich mit dem aktuellen Fall des „Big Society Fund“ in Großbritannien begründen, der mit erheblichen öffentlichen Geldern kofinanziert wurde, welche die Kommission aufgrund des offenkundigen sozialen Werts der Initiative nicht als staatliche Beihilfen betrachtet hat.

4.24   Die Absicht, den Zugang der Sozialunternehmen zum öffentlichen Beschaffungswesen zu fördern (Schlüsselmaßnahme Nr. 10), wird begrüßt. Die Europäische Kommission hat in den letzten Jahren eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Sozialklauseln im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens gespielt. Seit mehr als einem Jahrzehnt zeigen sich die EU-Institutionen zunehmend sensibel für Fragen des sozialen Zusammenhalts und der nachhaltigen Entwicklung, da sie sich bewusst geworden sind, dass Wirtschaftswachstum der nachhaltigen Entwicklung und dem sozialen Zusammenhalt förderlich sein muss, um die Ziele einer wohlhabenderen und gerechteren Gesellschaft zu erreichen.

4.25   Die Kommission sollte ihren Weg entschlossen weitergehen mit dem Ziel, im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge Sozial- und Umweltkriterien zu fördern. Sie sollte auch für die Sammlung der bewährten Verfahren zur Berücksichtigung von Sozial- und Umweltkriterien im öffentlichen Beschaffungswesen sowie für den Austausch dieser Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten sorgen. Im Übrigen hat der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen die Bedeutung entsprechender Bestimmungen anerkannt.

4.26   Der EWSA begrüßt die Schlüsselmaßnahme Nr. 6 der Kommission zur Schaffung einer Zertifizierungsdatenbank, die einen Vergleich zwischen den wichtigsten Systemen erlaubt. Darüber hinaus sollte die Kommission eine Studie über diese Systeme durchführen, um Synergien zu ermitteln und die Erkenntnisse zu verbreiten. In dieser Sondierungsstellungnahme hat der EWSA die Notwendigkeit von vergleichbaren und konsolidierten Statistiken, Untersuchungen und Daten im Bereich der Sozialunternehmen herausgestellt. Die Kommission und Eurostat sollten eine zentrale Rolle bei der Förderung des gegenseitigen Lernens innerhalb der EU spielen.

4.27   Der Vorschlag eines einzigen Datenzugangspunkts (Schlüsselmaßnahme Nr. 8) wird begrüßt und sollte durch ähnliche Initiativen in den Mitgliedstaaten ergänzt werden, um Kompatibilität und Synergie zu gewährleisten.

4.28   Die Europäische Kommission sorgt in entscheidendem Maße dafür, dass die Unterstützung der Sozialunternehmen auf der politischen Tagesordnung verbleibt und diese Unternehmen konsequent berücksichtigt werden. Deshalb wird der Vorschlag zur Einsetzung einer Beratungsgruppe für Sozialunternehmen, die die Fortschritte hinsichtlich der in dieser Mitteilung vorgesehenen Maßnahmen prüfen soll, als wichtig erachtet. Ähnliche Strukturen sollten auch in den Mitgliedstaaten gefördert werden.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1

(2)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22

(3)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — ‚Kleine Unternehmen — große Welt: Eine neue Partnerschaft, um KMU zu helfen, ihre Chancen im globalen Kontext zu nutzen‘ “

COM(2011) 702 final

2012/C 229/09

Berichterstatter: Ivan VOLEŠ

Die Europäische Kommission beschloss am 9. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — „Kleine Unternehmen — große Welt: Eine neue Partnerschaft, um KMU zu helfen, ihre Chancen im globalen Kontext zu nutzen“

COM(2011) 702 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 195 Stimmen bei 2 Gegenstimmen und 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Die Ausschöpfung des Potenzials europäischer KMU mit Zugang zu Drittmärkten, insbesondere zu den rasch wachsenden Märkten von Drittländern, kann sich als wichtiger Faktor zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung erweisen. Daher muss die Internationalisierung der KMU Bestandteil aller die KMU betreffenden Politikbereiche der EU werden.

1.2   Die Internationalisierung umfasst ein breites Spektrum an Aktivitäten wie Export, Import, ausländische Direktinvestitionen, Unteraufträge, technische Zusammenarbeit und weitere Tätigkeiten. Der EWSA bedauert, dass sich die Mitteilung der Kommission hauptsächlich auf die Unterstützung der Exporteure und Investoren beschränkt.

1.3   Angesichts der engen Verknüpfung zwischen Internationalisierung und Innovation empfiehlt der EWSA, den Zugang der KMU zu den neuen Programmen Horizont 2020 und COSME zu erleichtern und diese benutzerfreundlicher zu gestalten. Zur Förderung der Internationalisierung muss auch der Europäische Sozialfonds herangezogen werden.

1.4   Bei der Förderung der Internationalisierung in Europa sollte auch die auf nationaler Ebene gewährte Unterstützung berücksichtigt werden, damit es nicht zu Überschneidungen kommt. Vielmehr sollte diese nationale Förderung in den Bereichen ergänzt werden, die in die Zuständigkeit der EU fallen. Dazu gehören u.a. die Öffnung der Märkte, der Abschluss bilateraler und multilateraler Abkommen, die Beseitigung von Hindernissen, die Bereitstellung von Zollinformationen, der Schutz des geistigen Eigentums, Investitionsschutz, Normen, Regulierungen, das öffentliche Auftragswesen und die Bekämpfung von Korruption.

1.5   Der EWSA fordert eine bessere Koordinierung und eine einheitliche Steuerung der politischen Bemühungen um eine Internationalisierung zwischen den Generaldirektionen der Kommission, dem Rat, dem Europäischen Auswärtigen Dienst, dem Europäischen Parlament und den Netzen der nationalen KMU-Beauftragten.

1.6   Das vorgeschlagene Online-Portal kann seine Wirkung nur unter der Voraussetzung entfalten, dass alle verfügbaren Informationsquellen gebündelt werden, eine Verknüpfung mit den einzelstaatlichen Portalen hergestellt wird und grundlegende Informationen in allen Amtssprachen der EU zur Verfügung gestellt werden.

1.7   Der EWSA weist darauf hin, dass das Potenzial des Enterprise Europe Network (EEN) nicht voll ausgeschöpft wird, und begrüßt den Vorschlag, ihm eine neue Führungsstruktur zu geben. Er fordert, dass die Unternehmensverbände, die den KMU am nächsten stehen, an der Steuerung dieses Netzes beteiligt werden.

1.8   Die europäische Förderung der Wirtschaftstätigkeit von KMU auf Drittmärkten sollte enger mit den grenzübergreifenden Aktivitäten der KMU auf dem Binnenmarkt verwoben werden, da die meisten dieser Unternehmen ihre internationalen Erfahrungen gerade hier machen. Sie sollte auch Maßnahmen beinhalten, um den KMU den Zugang zum Binnenmarkt zu erleichtern und die Hindernisse, die dem entgegenstehen, aus dem Weg zu räumen.

1.9   Zu den größten Schwächen des europäischen und einzelstaatlichen Fördersystems gehören das mangelnde Bewusstsein der KMU über die bestehenden Fördermöglichkeiten, die Schwierigkeiten bei der Suche nach einschlägigen Informationen, eine unverständliche Sprache und die Komplexität des Zugangs zu konkreten Anleitungen für die jeweiligen Verfahren. Der EWSA empfiehlt, in erster Linie die Vertretungsverbände der KMU an den Informations- und Aufklärungskampagnen zu beteiligen.

1.10   Eine grundlegende Voraussetzung für die Internationalisierung der KMU ist der Zugang zu Finanzmitteln, insbesondere in Zeiten der Krise. Der EWSA ruft daher die Kommission dazu auf, neue Finanzinstrumente zur Förderung der Internationalisierung von KMU zu schaffen, beispielsweise Garantien zur Finanzierung von Exporten, Versicherungen für grenzübergreifende Tätigkeiten und eine vereinfachte Gewährung von Krediten durch Kreditkarten mit Bürgschaft.

1.11   Der EWSA fordert, die Bedingungen der einzelnen regionalen Programme wie East Invest, AL Invest, Medinvest u.a. zu vereinheitlichen, um den KMU auf diese Weise ihre Nutzung zu erleichtern. Darüber hinaus fordert er, die geltende Regelung zu überprüfen, nach der ausschließlich die KMU aus den Partnerländern eine Unterstützung erhalten können, um an den Aktionen des Programms teilzunehmen.

1.12   Der EWSA schlägt eine Reihe konkreter Schritte vor, durch die die bestehenden Fördermöglichkeiten auf europäischer Ebene angemessen ergänzt werden könnten, beispielsweise die Einführung eines europäischen Exportpreises für KMU, die Nutzung europaweiter Aktionen wie die Verleihung des Europäischen Unternehmerpreises, Werbekampagnen für die Internationalisierung während der Woche der KMU, den Aufbau und die Pflege einer Datenbank über die besten Erfahrungen der Anbieter von Unternehmensförderung sowie die Wiederbelebung von Initiativen vom Typ Europartenariat und Interprise zur Förderung der grenzübergreifenden Wirtschaftstätigkeit von Unternehmen.

1.13   Der EWSA befürwortet das Vorhaben, ein jährliches Forum zur Beurteilung der Fortschritte im Bereich der Internationalisierung zu veranstalten und schlägt vor, es zu einer ständigen Plattform zu machen, an der auch die Sozialpartner und die übrigen Interessenträger einschließlich des EWSA effektiv beteiligt werden.

1.14   Der EWSA empfiehlt, zusätzlich zu den ausgewählten Prioritäten wie den BRIC-Ländern Brasilien, Russland, Indien und China weitere potenzielle Märkte wie die Golfstaaten, Südostasien u.a. hinzuzufügen.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1   Die Europäische Union muss neue Quellen des Wachstums und der Beschäftigung erschließen. Die großen Märkte außerhalb der EU, insbesondere China, Indien, Russland und Brasilien, weisen hohe Wachstumsraten auf und bieten den Unternehmen in der EU erhebliche Chancen. Die Förderung der Wirtschaftstätigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen außerhalb der EU gehört daher zu den Maßnahmen der EU in der Europa-2020-Strategie und weiteren Strategiepapieren zu Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit (1).

2.2   Im November 2011 legte die Kommission ihre Mitteilung „Kleine Unternehmen – große Welt: Eine neue Partnerschaft, um KMU zu helfen, ihre Chancen im globalen Kontext zu nutzen“ (2) vor, in der sie den Vorschlag macht, auf europäischer Ebene das System zur KMU-Förderung auf dem Gebiet der Internationalisierung umfassend zu revidieren, um es effektiver und transparenter zu gestalten und gleichzeitig weiter auszubauen.

2.3   In den vergangenen drei Jahren exportierten 25 % der in der EU ansässigen KMU innerhalb des Binnenmarkts, doch nur 13 % der EU-KMU sind außerhalb der EU tätig. Diese Zahlen machen deutlich, dass insbesondere im Hinblick auf innovative Fertigungsprozesse und die Kreativwirtschaft noch ein bedeutendes, bisher ungenutztes Potenzial zur Expansion außerhalb der EU besteht.

2.4   Die Kommission hat in ihrer Mitteilung die Ziele festgelegt, die sie erreichen möchte – Bereitstellung leicht zugänglicher Informationen für KMU, Erhöhung der Kohärenz im Bereich der Fördermaßnahmen, Verbesserung der Kosteneffizienz, Schließung der Lücken in den auf nationaler Ebene vom öffentlichen und privaten Sektor geleisteten Unterstützungsdiensten sowie Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs der KMU aus allen EU-Mitgliedstaaten.

2.5   Um diese Ziele zu verwirklichen, will die Kommission vor allem auf folgende Instrumente zurückgreifen: Informationen für die KMU frei Haus, Gewährleistung einer europäischen Dimension der Dienstleistungen an prioritären Märkten, Förderung von Clustern und Netzen sowie Straffung der neuen Maßnahmen an prioritären Märkten. Dabei sollen drei Leitlinien zugrundegelegt werden: Komplementarität, Nachhaltigkeit und die effiziente Nutzung öffentlicher Mittel (sog. SMART-Ansatz). Die Kommission legt darüber hinaus nach bestimmten Kriterien die geografischen Prioritäten fest. Die Internationalisierung der KMU sollte in andere EU-Politikbereiche integriert werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission und stimmt ihren Analysen und Schlussfolgerungen im Großen und Ganzen zu. Im Mittelpunkt der Mitteilung stehen allerdings eher die zur Gewährung von Unterstützung verwendeten Mechanismen als Inhalt und Zielsetzungen der Förderung. Der Ausschuss erinnert an seine Stellungnahmen zu den Themen „Überprüfung des Small Business Act“ (3), „Unterstützung der KMU bei der Anpassung an die weltweiten Marktveränderungen“ (4) und „Die auswärtige Dimension der Industriepolitik“ (5), in denen er sich in jüngster Vergangenheit zum Problemfeld Internationalisierung der KMU geäußert hat.

3.2   Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Politik zur Förderung der Wirtschaftstätigkeit der KMU auf Drittmärkten Teil der Europa-2020-Strategie zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit sowie anderer Politikbereiche der EU sein muss und dass es daher besonders wichtig ist, diese Politikbereiche unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die Internationalisierung der KMU zu koordinieren.

3.3   Die Mitteilung der Kommission beschränkt sich fast ausschließlich auf die Unterstützung der in Drittländer liefernden Direktexporteure. Die Internationalisierung der KMU umfasst Export, Import, ausländische Direktinvestitionen, technische Zusammenarbeit, Beziehungen zu Unterauftragnehmern und weitere Tätigkeiten, mit denen KMU an der Wertschöpfung beteiligt sind.

3.4   Die Informations- und Bildungsmaßnahmen müssen auf die übrigen Bereiche der Internationalisierung ausgeweitet werden, damit ein möglichst breiter Kreis von Nutzern davon profitieren kann. Dabei müssen die Bedürfnisse der einzelnen Unternehmenskategorien je nach ihrer Größe und ihren Erfahrungen im Bereich der grenzübergreifenden Tätigkeiten voneinander unterschieden werden.

3.5   Die Zahl der KMU, die sich eventuell an der Internationalisierung, wie sie aus den veröffentlichten Statistiken (6) hervorgeht, beteiligen könnten, muss realistisch unter Berücksichtigung der Tatsache geprüft werden, dass ein Großteil der KMU ausschließlich auf den Bedarf des lokalen Marktes ausgerichtet ist und kleinere Dienstleistungen, handwerkliche Produktion für den lokalen Bedarf usw. bietet.

3.6   Der EWSA weist darauf hin, dass fortdauernd und konsequent dafür Sorge getragen werden muss, ein für KMU günstiges unternehmerisches Umfeld zu schaffen und dabei insbesondere den Verwaltungsaufwand und eine übermäßige Regulierung – beides gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen auf Drittmärkten – zu verringern und alle Hindernisse zu beseitigen, die einer Beteiligung der KMU an der Internationalisierung im Wege stehen.

3.7   Innovationen fördern die Internationalisierung der Unternehmen, während gleichzeitig die Internationalisierung die Leistung der Unternehmen verbessern kann (7). Im derzeitigen EU-Planungszeitraum schöpfen die KMU im Programmbereich „Zusammenarbeit“ des 7. Forschungsrahmenprogramms lediglich 15 % der zur Verfügung stehenden Mittel ab (8). Die neuen Programme Horizont 2020 und COSME sowie Ziel 4 des Europäischen Sozialfonds können einen großen Beitrag dazu leisten, durch Innovationen die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und auf diese Weise bessere Voraussetzungen für die Internationalisierung europäischer KMU und damit auch für ein stärkeres Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zu schaffen. Allerdings muss gewährleistet sein, dass die KMU über diese Programme informiert werden und Zugang zu ihnen erhalten und dass der für ihre Inanspruchnahme erforderliche administrative Aufwand verringert wird.

3.8   Damit die Unterstützungsmaßnahmen zur Internationalisierung der KMU ihre volle Wirkung entfalten können, müssen diejenigen, die sie anbieten, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene einen anderen Ansatz verfolgen und statt pauschaler und standardisierter Dienste vielmehr gezielte, zukunftsorientierte und maßgeschneiderte Dienste anbieten, die u.a. der jeweiligen Branche, dem Lebenszyklus des Unternehmens, den vorhandenen Ressourcen, der Stellung des Unternehmens gegenüber der Konkurrenz und den internen Voraussetzungen wie etwa Sprachkenntnissen und Kenntnissen über die kulturellen Traditionen und das unternehmerische Umfeld vor Ort Rechnung tragen (9).

3.9   Die unternehmerische Tätigkeit der KMU ist auf Profit, Wachstum und Marktanteile ausgerichtet. Ein Zugang zu ausländischen Märkten kann zwar dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen, doch muss er nicht immer zwangsläufig zum Erfolg führen. Während 50 % der KMU, die grenzübergreifend tätig sind, eine Umsatzsteigerung aufweisen, können die übrigen 50 % damit nicht aufwarten. Das Ziel der gewährten Unterstützung sollte darin bestehen, die Gefahr eines auf unzureichenden Informationen und Erfahrungen zurückzuführenden Misserfolges auf ein Minimum zu reduzieren.

3.10   Die Förderung der Internationalisierung der KMU liegt im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, in denen es eine breite Palette an Förderprogrammen – insgesamt mehr als 300 – gibt, die sowohl aus öffentlichen als auch privaten Mitteln finanziert werden (10). Daher muss gründlich überlegt werden, welchen zusätzlichen Nutzen die neue Förderung auf europäischer Ebene haben könnte, damit Doppellungen und Überschneidungen mit der bereits bestehenden Förderung vermieden werden. Daher wäre es auch sinnvoll, regelmäßig einen Informationsaustausch zwischen den nationalen Einrichtungen zur Förderung der Internationalisierung von KMU durchzuführen und ihre Tätigkeiten mit denen der entsprechenden Direktionen der Kommission zu koordinieren.

3.11   Der europäische Beitrag sollte sich in erster Linie auf die Öffnung der Märkte und den Zugang zu ihnen ausrichten, auf den Abschluss bilateraler und multilateraler Abkommen, die Beseitigung tarifärer und nichttarifärer Hindernisse, die Bereitstellung von Informationen (Datenbank MADB), insbesondere von Informationen über besondere und gemeinsame Bereiche – den Schutz der gewerblichen Rechte, Normen, Zölle, Ein- und Ausfuhrpapiere, Regulierungen, Hygienevorschriften, phytosanitäre und veterinärmedizinische Vorschriften, Korruptionsbekämpfung und öffentliche Beschaffung. Die EU sollte von ihren Partnerländern konsequent fordern, die innerhalb des Binnenmarktes anerkannten nationalen Zertifikate der Mitgliedstaaten anzuerkennen und auf diese Weise die Diskriminierung bestimmter Mitgliedstaaten zu verhindern.

3.12   Die Unterstützung seitens der EU sollte auch zur Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen genutzt werden, damit die KMU aus den kleineren und neuen Mitgliedstaaten, die bislang nicht die Möglichkeit haben, sich auf den Drittmärkten zu behaupten, dort Fuß fassen können.

3.13   Das Prinzip der Partnerschaft zwischen öffentlichen Institutionen und Unternehmensvertretungen (Handelskammern, Verbände, die die Interessen der KMU vertreten, Unternehmens- und Branchenverbände) sollte konsequent eingehalten werden. Die Einbeziehung der Sozialpartner insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene sollte dazu beitragen, die zur Förderung der Internationalisierung von KMU erforderlichen Politikbereiche und Finanzquellen zu ermitteln und dafür Sorge zu tragen, dass sie korrekt eingesetzt und verwendet werden. Das Prinzip der Partnerschaft sollte den nationalen Interessen und den verschiedenen Formen der Unternehmensförderung sowie dem freien Wettbewerb zwischen den Unternehmen und den Anbietern von Unternehmensförderung Rechnung tragen. Staatliche Einrichtungen in den Mitgliedstaaten sollten bei der Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der Internationalisierung nicht mit Unternehmen oder Unternehmensvertretungen konkurrieren.

3.14   Der EWSA vermisst in der Kommissionsmitteilung den Vorschlag zur verbesserten Koordinierung und einheitlichen Steuerung einer Internationalisierungsstrategie auf europäischer Ebene. Die Zuständigkeiten der Generaldirektionen in der Europäischen Kommission (Unternehmen und Industrie, Handel, Binnenmarkt, Entwicklung und Zusammenarbeit, Steuern und Zollunion usw.) auf dem Gebiet der Internationalisierung der KMU wurden nicht klar festgelegt. Verbessert werden sollte auch die Zusammenarbeit zwischen den erwähnten Direktionen der Kommission und dem Europäischen Auswärtigen Dienst mit dem Rat, den Netzen der nationalen KMU-Beauftragten, dem Europäischen Parlament, den Vertretungseinrichtungen der Mitgliedstaaten in Drittstaaten sowie weiteren Institutionen, die sich an der Gestaltung der Politik zur Internationalisierung beteiligen und die diese Politik in die Tat umsetzen.

4.   Besondere Bemerkungen und Empfehlungen zu den Vorschlägen der Kommission

4.1   Der ins Auge gefasste Überblick über den Stand der Dinge sollte in erster Linie dazu dienen, die Wirksamkeit der aktuellen EU-Fördermaßnahmen und -instrumente zu bewerten, die bestehenden Lücken in den einzelstaatlichen Unterstützungssystemen zu ermitteln und diese Lücken durch einen europäischen Beitrag zu dieser Unterstützung zu überbrücken.

4.2   Die Einrichtung eines neuen europäischen Informationsportals sollte unter dem Gesichtspunkt der entstehenden Kosten sehr genau geprüft werden und auf folgenden Grundsätzen beruhen:

Es sollte nicht zu einer Überschneidung mit bestehenden einzelstaatlichen Informationsquellen kommen.

Das Portal sollte alle bestehenden europäischen und nationalen Informationsquellen miteinander verknüpfen, damit von einem Ort aus leicht auf sie zugegriffen werden kann.

Gemeinsame Informationen aus den europäischen Quellen sollten in den verschiedenen Amtssprachen bereitgestellt werden.

Die Informationen aus den eigenen Quellen der EU sollten unter anderem abheben auf die Ermittlung und Beseitigung der Hindernisse für den Zugang zum Markt sowie auf Zollregelungen, Zertifizierungen, Hygienevorschriften, phytosanitäre und veterinärmedizinische Vorschriften, auf Investitionsanreize und Investitionsschutz, den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum (IPR) und die öffentliche Beschaffung.

Die KMU sollten über die sie betreffenden Aspekte der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen informiert werden. (11).

Die Informationen sollten auf die Bedürfnisse aller an der Internationalisierung beteiligten Akteure– Exporteure, Importeure, Investoren und Subunternehmer – sowie auf die Besonderheiten der verschiedenen Branchen zugeschnitten sein.

4.3   Der EWSA vermisst Maßnahmen zur Unterstützung des elektronischen Handels, der sich zu einem wichtigen Faktor zur Internationalisierung der KMU entwickeln könnte. In diesem Zusammenhang müssen die Ziele der EU im Hinblick auf das Breitband-Internet verwirklicht werden, insbesondere die Versorgung ländlicher und abgelegener Gebiete, die den Zugang der KMU zu den Informationen erleichtern würde, die für ihre Internationalisierung unerlässlich sind.

4.4   Der EWSA begrüßt den Beitrag des Enterprise Europe Network (EEN) zum Aufbau von Kontakten und Handelsbeziehungen zwischen Unternehmen in einigen EU-Mitgliedstaaten. Die Tatsache jedoch, dass die meisten KMU in Europa nur schlecht darüber informiert sind, macht deutlich, dass das Potenzial dieses Netzes viel besser genutzt werden könnte. Die Dienste des EEN sollten weitestgehend auf die tatsächlichen Anforderungen und Bedürfnisse der KMU ausgerichtet sein. In zahlreichen Regionen gehören die Vertretungsorganisationen der KMU jedoch nicht zum EEN. Der EWSA hält es daher für erforderlich, dem EEN eine neue Führungsstruktur zu geben, und fordert, dass die Unternehmensverbände, die den KMU am nächsten stehen, an der Steuerung dieses Netzes beteiligt werden.

4.5   Eine europäische Unterstützung für KMU bei der Erschließung von Drittmärkten sollte auch verschiedene Fördermaßnahmen beinhalten, um den KMU den Zugang zum Binnenmarkt zu erleichtern und die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die nach wie vor der vollständigen Ausschöpfung der Chancen entgegenstehen, die ihnen der Binnenmarkt im Einklang mit der Binnenmarktakte bietet. Es ist üblich, dass die KMU ihre internationale Geschäftstätigkeit innerhalb des Binnenmarktes beginnen und erst danach auch auf Drittländer ausdehnen.

4.6   Alle Forschungen und Studien haben ergeben, dass die Kenntnisse über die zur Verfügung stehenden Fördermöglichkeiten und Programme unter den KMU nicht sehr verbreitet sind. Die von den europäischen und nationalen Institutionen verwendete Sprache sollte einfach und verständlich sein und stärker auf den Charakter der KMU ausgerichtet werden. Der EWSA empfiehlt, einen kurzen und klar verfassten Leitfaden durch das Labyrinth der Unternehmensförderung zu erarbeiten und die Kommunikation über die seitens der europäischen Institutionen bestehenden Unterstützungsformen zu verbessern. An der Verbreitung von Informationen über diese Fördermöglichkeiten müssen insbesondere auch Organisationen beteiligt werden, die die Interessen der KMU vertreten, beispielsweise Handelskammern, Branchenverbände, KMU-Verbände u.a. Damit diese Organisationen die erforderlichen Dienstleistungen auch erbringen können, müssen ihnen die nötigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden.

4.7   Der EWSA würde vor dem Hintergrund des Aktionsplans der Kommission (12) eine Erleichterung des Zugangs der KMU zu Finanzmitteln begrüßen, denn ausreichende Finanzmittel sind für die KMU – insbesondere in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise – die Grundvoraussetzung für eine mögliche Internationalisierung. Der EWSA ruft daher die Kommission dazu auf, neue Finanzinstrumente zur Förderung der Internationalisierung von KMU zu schaffen, beispielsweise Garantien zur Finanzierung von Exporten, Versicherungen für grenzübergreifende Tätigkeiten und unter Umständen eine vereinfachte Gewährung von Krediten durch Kreditkarten mit Bürgschaft (13).

4.8   Im Gegensatz zu den bestehenden Programmen wie beispielsweise East Invest, Al Invest u.a. sollten die neuen, regional ausgerichteten Programme auf den gleichen finanziellen und administrativen Voraussetzungen beruhen. Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, die geltenden Regelungen zu überprüfen, nach denen ausschließlich die KMU aus den Partnerländern eine Unterstützung zur Teilnahme an den Maßnahmen des Programms in Anspruch können. Die Programme sollten auch die Beteiligung von KMU aus anderen Mitgliedstaaten an ihrer Durchführung erleichtern, und zwar durch eine Erweiterung der Unterstützung zur Erstattung der Kosten für die Teilnahme an Aktionsprogrammen.

4.9   Der Ausschuss begrüßt das Bemühen der Kommission, den KMU aus denjenigen Mitgliedstaaten, die nicht über eigene Vertretungen in den wichtigsten Drittländern verfügen, den Zugang zu Unterstützung bzw. Informationen zu ermöglichen, die von anderen EU-Mitgliedstaaten bereitgestellt werden. Er weist jedoch darauf hin, dass die Konzipierung einer derartigen Zusammenarbeit ein sehr komplexes Unterfangen ist. Es wird zu klären sein, ob KMU aus anderen Mitgliedstaaten die von der öffentlichen Hand des betreffenden Landes finanzierten Dienste nutzen können.

4.10   Dieses Hindernis könnte dadurch überwunden werden, dass nach und nach europäische Zentren zur Unterstützung der KMU für den gegenseitigen Handel in den wichtigsten Partnerstaaten eingerichtet werden. An der Entscheidung über Inhalt und Form ihrer Tätigkeit sollten die Vertretungsorganisationen der KMU unmittelbar beteiligt werden. Der EWSA empfiehlt, den KMU-Organisationen und -Verbänden sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene die zur Propagierung ihrer Dienstleistungen erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen.

4.11   Der EWSA fordert, die organisierte Zivilgesellschaft (Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbraucherverbände, Kammern und Verbände freier Berufe, KMU-Verbände etc.) einschließlich des EWSA an den jährlichen Foren zur Beurteilung der Fortschritte im Bereich der Internationalisierung von KMU zu beteiligen, unter anderem auch Organisationen wie EUROCHAMBRES, UEAPME, Business Europe und EGB, gegebenenfalls auch die europäischen Verbände derjenigen Branchen, die für die Internationalisierung am wichtigsten sind. Das Forum könnte sich zu einer ständigen Koordinierungsplattform entwickeln, deren Aufgabe es unter anderem wäre, die Verwendung der für die einzelnen Programme und Fördermaßnahmen zur Verfügung stehenden beträchtlichen Mittel zu beobachten und deren Wirksamkeit nach klar formulierten Kriterien zu bewerten.

4.12   Der EWSA schlägt vor, einen europäischen Preis für den besten Exporteur aus den Reihen der KMU auszuloben, der alljährlich verliehen wird – beispielsweise anlässlich der Sitzung des Forums.

4.13   Zur Propagierung erfolgreicher Aktivitäten der Behörden auf dem Gebiet der Internationalisierung könnte in weitaus stärkerem Maße auf den Europäischen Unternehmerpreis und auf den Preis der Europäischen Unternehmerregion zurückgegriffen werden, der vom Ausschuss der Regionen verliehen wird.

Während der jährlich veranstalteten Woche der KMU sollte auch die Unterstützung der Internationalisierung auf dem Programm stehen und unter den Mitgliedstaaten ein Austausch bewährter Verfahrensweisen auf diesem Gebiet ermöglicht werden.

Der EWSA ruft dazu auf, eine Online-Datenbank über bewährte Verfahrensweisen der europäischen Handelskammern, der KMU-Organisationen und -Verbände sowie der Branchenverbände auf dem Gebiet der Internationalisierung aufzubauen und zu unterhalten und diese Informationen mit Hilfe der KMU-Vertretungsorganisationen gezielt zu verbreiten.

4.14   Der EWSA empfiehlt, wichtige bereits erprobte und in der Vergangenheit von vielen KMU aus den Kandidatenländern für ihre Internationalisierung genutzten europäischen Initiativen für die Partnersuche – beispielsweise Europartenariat und Interprise – wiederzubeleben.

4.15   Im Hinblick auf die territoriale Ausrichtung der Internationalisierung von KMU stimmt der EWSA mit der Ansicht überein, dass die sog. BRIC-Länder Brasilien, Russland, Indien und China im Mittelpunkt stehen sollten, da sie ein hohes Wirtschaftswachstum aufweisen. Gleichzeitig hält er es für nötig, auch andere potenzielle Märkte ins Auge zu fassen, beispielsweise die Golfstaaten, Südostasien und andere Regionen. Der EWSA empfiehlt darüber hinaus, branchenspezifische Prioritäten festzulegen, auf die die Internationalisierung der KMU ausgerichtet werden könnte.

4.16   Der EWSA empfiehlt, die KMU-Beauftragten in den Mitgliedstaaten, in denen sie tätig sind, weitaus intensiver in die Internationalisierung der KMU einzubinden, die zu einer der wichtigsten Prioritäten der einzelstaatlichen Politik zur Unterstützung der KMU werden sollte.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Mitteilung über eine integrierte Industriepolitik [COM(2010 614 final], Überprüfung des „Small Business Act“ [COM(2011) 78 final], Mitteilung über die Handelspolitik [COM(2010) 612 final] und Mitteilung über die Binnenmarktakte [COM(2010) 608 final].

(2)  COM(2011) 702 final vom 9.11.2011.

(3)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 51.

(4)  ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 24.

(5)  ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 25.

(6)  Vgl. EIM-Studie, S. 5. 25 % der KMU in der EU-27 exportieren. Etwa die Hälfte davon überschreiten die Grenzen des Binnenmarktes (13 %). 29 % der KMU in der EU-27 importieren, und auch von ihnen importiert die Hälfte aus Ländern außerhalb des Binnenmarktes (14 %). 7 % der KMU in der EU-27 sind an einer technischen Zusammenarbeit mit einem ausländischen Partner beteiligt, 7 % sind Unterauftragnehmer eines ausländischen Partners, 7 % haben ausländische Unterauftragnehmer, und 2 % der KMU sind im Bereich der ausländischen Direktinvestitionen aktiv.

(7)  KMU-Leistungsüberprüfung: „Schaffen KMU mehr und bessere Arbeitsplätze?“ EIM, November 2011, S. 77.

(8)  Beteiligung der KMU am 7. Forschungsrahmenprogramm, Bericht für den Zeitraum 2007-2011. Europäische Kommission, Januar 2012.

(9)  Fabio Antoldi: Can European SMEs really intercept the international paths of fast growth? Vortrag auf einem Seminar des EP am 24. Januar 2012, S. 31.

(10)  Chancen für die Internationalisierung der KMU in Europa, S. 7.

(11)  Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, Neufassung 2000.

(12)  Aktionsplan zur Verbesserung des Finanzierungszugangs für KMU, COM(2011) 870 final.

(13)  Vgl. die Széchenyi-Karte in Ungarn, die es KMU ermöglicht, einen Kredit ohne Sicherheit zu erhalten, für den der Staat bürgt: www.iapmei.pt/conferencia/1_Laslo_Krisan.ppt.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum“

COM(2011) 862 final — 2011/0418 (COD)

2012/C 229/10

Berichterstatterin: Ariane RODERT

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 20. bzw. 17. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum

COM(2011) 862 final — 2011/0418 (COD).

Die mit Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 17. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 194 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum, mit der die Entwicklung dieser Art von Fonds reguliert werden soll, indem für alle Beteiligten Klarheit und Sicherheit geschaffen wird; gleichzeitig soll die grenzüberschreitende Kapitalbeschaffung erleichtert werden.

1.2   Sozialunternehmen sind ein Wachstumssektor, der einen wertvollen Beitrag zur Erreichung der Ziele der Strategie Europa 2020 leistet. Der EWSA begrüßt, dass sich die Kommission diesem Sektor zuwendet und dessen Entwicklung und Wachstum fördern möchte.

1.3   Sozialunternehmen einen besseren Zugang zu geeignetem Kapital zu verschaffen, ist ein vorrangiger Handlungsbereich. Der EWSA möchte jedoch betonen, dass diese Initiative nur als eines von vielen dringend benötigten maßgeschneiderten Finanzinstrumenten angesehen werden sollte, die noch weiter zu entwickeln sind.

1.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, keine neue Definition für soziales Unternehmertum zu prägen, sondern die bereits in der Initiative für soziales Unternehmertum aufgestellte Definition zu verwenden. Insbesondere ist eine Feinabstimmung und Verdeutlichung der in der Verordnung genannten unterschiedlichen Bedingungen, unter denen eine Gewinnausschüttung an Besitzer zulässig ist, erforderlich. Dabei müssen die besonderen Merkmale von Sozialunternehmen im Vergleich zu rein auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Unternehmen und auch die Ausrichtung des Fonds im Vergleich zu anderen, herkömmlicheren Arten von Risikokapitalfonds deutlich herausgestellt werden.

1.5   Einige der vorgeschlagenen Beteiligungsfinanzierungsinstrumente bergen nach Auffassung des EWSA das Risiko, Anlagen in Sozialunternehmen nur in begrenztem Maße beeinflussen zu können, da die Struktur der vorgeschlagenen Anlageinstrumente Besitzverhältnisse voraussetzt, die in vielen Fällen nicht der Rechtsform entsprechen, in deren Rahmen viele Sozialunternehmen tätig sind. Für diese Rechtsformen sind eher die vorgeschlagenen langfristigen Darlehen bzw. ein gewisser Spielraum für „jede andere Art der Beteiligung“ die interessantesten Instrumente, die weiterentwickelt werden sollten.

1.6   Auch andere besondere Merkmale von Sozialunternehmen sind zu beachten. So sind z.B. die Schwierigkeiten bei der Veräußerung von Beteiligungen an Unternehmen, die für schutzbedürftige oder marginalisierte Personen Sozialdienstleistungen erbringen, der Einfluss auf die Selbsteinschätzung der Sozialunternehmen in Bezug auf ihre Unabhängigkeit, ihre besonderen Verwaltungsmodelle, der eher auf lange als auf kurze Sicht ausgelegte Investitionsbedarf sowie geringere Abschreibungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

1.7   Um die Wirkungskraft dieser Art von Fonds für Sozialunternehmen zu erhöhen, sollten sie als Bestandteil einer Hybridkapitallösung betrachtet werden, die sich mit am besten für die Finanzierung von Sozialunternehmen eignet. Bei Hybridkapital werden Finanzhilfen mit langfristigen, „geduldigen“ Darlehen und anderen Instrumenten kombiniert, wobei Eigentum in der öffentlichen Hand bzw. staatliche Garantien für Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit sorgen. Die Kombination mit anderen Formen von Privatkapital, wie etwa Beiträge und Spenden, sollte ebenso in Betracht gezogen werden wie zweckmäßigere Formen der Beteiligung an „Portfolio-Unternehmen“ (wie die Anlageziele – d.h. Sozialunternehmen – in der Verordnung bezeichnet werden), wie etwa Beteiligungen ohne Stimmrecht.

1.8   In der Verordnung wird vorgeschlagen, dass sich diese neuen Fonds zunächst an professionelle Kunden und vermögende Einzelpersonen mit einer Mindesteinlage in Höhe von 100 000 EUR richten. Der EWSA möchte jedoch hervorheben, dass diese Art von Fonds auf lange Sicht und unter gesicherten Bedingungen auch für kleinere Anleger und die Allgemeinheit geöffnet werden sollte.

1.9   Die größte Herausforderung in diesem Vorschlag liegt darin, dass die sozialen Auswirkungen von Portfolio-Unternehmen und ihr Einfluss auf die Gesellschaft gemessen werden müssen und hierüber Bericht erstattet werden muss. Der EWSA empfiehlt als Ausgangspunkt eine gemeinsame Analyse und Kooperation auf EU-Ebene, während Kriterien und Hinweise je nach Form, Ausrichtung und Zweck der Unternehmen auf der nationalen Ebene unter Einbeziehung aller Beteiligten festgelegt werden sollten.

1.10   Die Befugnis der Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte mit dem Zweck der Definition von Schlüsselbegriffen sollte möglichst bald ausgeübt werden und sich auf eine breit angelegte und offene Konsultation von Vertretern der Betroffenen – d.h. Fondsgesellschaften, Anleger und Sozialunternehmen – stützen.

1.11   Programme zur Förderung der Investitionsbereitschaft sowie andere Formen des Kapazitätsaufbaus für alle Beteiligten sollten initiiert werden, um Vertrauen zu schaffen und gemeinsam Strukturen aufzubauen, die für diese Art von auf soziales Unternehmertum ausgerichteten Fonds maßgeschneidert sind.

2.   Einleitung

2.1   Die Kommission hat sich in der Binnenmarktakte (1) dazu verpflichtet, eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung von Entwicklung und Wachstum von Sozialunternehmen in Europa zu ergreifen. Der Vorschlag für einen europäischen Rechtsrahmen für Fonds für soziales Unternehmertum zählt zu diesen Maßnahmen, die auch in der „Initiative für soziales Unternehmertum“ als wesentliche Maßnahme hervorgehoben wird (2).

2.2   Sozialunternehmen sind ein wachsender Sektor in der EU, und Schätzungen zufolge könnten soziale Investitionen rasch zu einem Markt mit einem Umfang von weit über 100 Milliarden EUR (3) anwachsen. Dies zeigt deutlich, welches Potenzial dieser wachsende Sektor in sich trägt. Wenn dafür gesorgt wird, dass dieser Sektor weiter wächst und gedeiht, wäre dies ein wertvoller Beitrag zur Erreichung der Ziele der Strategie Europa 2020. Jedoch sind die rechtlichen Anforderungen auf EU- und nationaler Ebene nicht darauf ausgelegt, die Beschaffung von Kapital für diese Art von Unternehmen zu erleichtern, worauf der EWSA in seiner Sondierungsstellungnahme „Soziales Unternehmertum und soziale Unternehmen“ INT/589 (4) deutlich hinwies.

2.3   In diesem Vorschlag für eine Verordnung über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (im Folgenden „die Verordnung“) werden einheitliche Regeln und Anforderungen an die Verwalter von Organismen für gemeinsame Anlagen aufgestellt, die die Bezeichnung „Europäischer Fonds für soziales Unternehmertum“ verwenden wollen. In der Verordnung werden Regeln für diese Fonds aufgestellt, um Vertrauen, Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit bei den Anlegern zu erzeugen und gleichzeitig auch die Entwicklung von Sozialunternehmen zu fördern, indem die Effektivität der Mittelbeschaffung durch private Anleger verbessert wird. Dem Vorschlag gingen eine 2011 durchgeführte öffentliche Konsultation sowie eine Folgenabschätzung voran.

2.4   In dieser Stellungnahme werden prioritäre Bereiche ermittelt und Empfehlungen für Klarstellungen ausgesprochen, die vorgenommen werden sollten, damit die Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum das angestrebte Ergebnis erzielen können.

3.   Bemerkungen des EWSA zu dem Vorschlag für eine Verordnung

3.1   Kapitel I – Gegenstand, Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen

3.1.1   Der EWSA begrüßt die Absicht der Kommission, Sozialunternehmen in Europa zu unterstützen und ihr Profil zu schärfen; ferner begrüßt er, dass der Zugang zu Kapital für Entwicklung und Wachstum als prioritärer Bereich angesehen wird. Nach Auffassung des EWSA kann der Vorschlag für eine Verordnung für Teile des Sektors Sozialunternehmen/soziales Unternehmertum die Beschaffung von privatem Kapital erleichtern. Er sieht dies als eine notwendige Initiative neben anderen Vorschlägen im Rahmen der Initiative für soziales Unternehmertum, in der auch das Erfordernis anderer Finanzierungstechniken erwähnt wird.

3.1.2   Kapital ist für das Wachstum von Sozialunternehmen und die Expansion dieses Sektors von grundlegender Bedeutung, jedoch sind aufgrund seiner Form bestimmte Teile des in der Verordnung beschriebenen Kapitals für Sozialunternehmen vor allem in der Sozialwirtschaft besonders schwer zugänglich. Diese Verordnung sollte daher als eine von mehreren erforderlichen Maßnahmen für einen besseren Zugang von Sozialunternehmen zu Beteiligungskapital angesehen werden.

3.1.3   Bei den in der Verordnung genannten Finanzinstrumenten (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c) sollte der Schwerpunkt auf Kreditinstrumenten wie zinsgünstigen, sog. „geduldigen“ Darlehen (engl. patient capital) gelegt werden. Denn für einige Akteure können Eigenkapitalinstrumente schwerer nutzbar sein. Viele Sozialunternehmen in Europa sind im Besitz ihrer Mitglieder, von Partnern, Stiftungen oder gemeinnützigen Organisationen, was eine externe Beteiligung in vielen Fällen erschwert. In einigen Mitgliedstaaten bereits vorhandene, zweckmäßigere Beteiligungsmöglichkeiten, wie etwa frei übertragbare Sonderaktien ohne Stimmrecht und verschiedene Schuldtitel, sollten bei Sozialunternehmen als Dividendenwerte und andere Wertpapiere angesehen werden. Auch Steuervergünstigungen sollten näher als Teil des Ertragsmodells untersucht werden.

3.1.4   Bei den in der Verordnung (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c) genannten Anlageinstrumenten sollten diejenigen Instrumente stärker hervorgehoben werden, die normalerweise von Sozialunternehmen genutzt werden und ihren besonderen Merkmalen besser entsprechen, wie etwa Dividendenwerte, spezielle Initiativen im Finanzsektor (Genossenschaftsbanken (5), Ethik- bzw. Sozialbanken (6), Geschäftsbanken mit sozialen Programmen (7)), innovative Instrumente wie die „Social Impact Bonds“ (Sozialanleihen) (8) sowie vorteilhafte steuerfinanzierte Lösungen. Diese und andere Finanzanlagen können Bestandteil des sog. „Hybridkapitals“ sein, das von Sozialunternehmen eher eingesetzt wird.

3.1.5   Beteiligungen der öffentlichen Hand an diesen Fonds, u.a. an Dachfonds oder Pensionsfonds, sollten als Garantie für die Langfristigkeit der Anlagen angeregt werden. Hingegen möchte der EWSA betonen, dass ein Engagement der öffentlichen Hand nicht mit Strukturfondsmitteln vermischt werden darf, die eine andere politische Zielsetzung haben.

3.1.6   Bei der Definition von „qualifizierten Portfolio-Unternehmen“, wie Sozialunternehmen in der Verordnung genannt werden, wird für den Jahresumsatz eine Höchstgrenze von 50 Mio. EUR genannt (Artikel 3 Buchstabe d). Es sollte erwogen werden, diese Höchstgrenze zu streichen, da sie Expansionsbestrebungen eher hemmen könnte. Eine solche Höchstgrenze könnte zudem auch in bestimmten Branchen tätige Sozialunternehmen ausgrenzen, wie etwa aus den Bereichen Gesundheit und Pflege sowie Sozialwohnungen.

3.1.7   Der EWSA hält es für wichtig, die Definition von sozialem Unternehmertum und von Sozialunternehmen im Sinne der Initiative für soziales Unternehmertum beizubehalten. In der Verordnung wird eine leicht abgeänderte Definition der sog. qualifizierten Portfolio-Unternehmen vorgeschlagen (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d). Der Unterschied liegt u.a. in der Beschreibung der Tätigkeit (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer i). Hier sollte nach Ansicht des EWSA der Zweck des Unternehmens besser beschrieben werden, da der Sektor der Sozialunternehmen komplex ist und viele verschiedene Tätigkeiten umfasst.

3.1.8   Hinsichtlich der Gewinne (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer ii) möchte der EWSA auf die Stellungnahme INT/589 hinweisen, in der deutlich hervorgehoben wird, dass Sozialunternehmen „überwiegend nicht gewinnorientiert sind, wobei die Überschüsse in erster Linie reinvestiert und nicht an private Aktionäre oder Eigentümer ausgeschüttet werden“. Die Formulierung der Verordnung, dass Gewinne zulässig sind und an Anteilsinhaber und Besitzer ausgeschüttet werden können, muss verdeutlicht werden, indem weiter ausgeführt wird, dass die Gewinne zum Erreichen der vorrangigen sozialen Ziele des Unternehmens eingesetzt werden und dass die äußerst seltenen Fälle, in denen diesbezüglich eine Ausnahme gewährt werden kann, klaren Regeln unterliegen, damit das soziale Ziel nicht gefährdet wird. Dieser Ansatz und die hiermit verbundenen Regeln müssen in der Verordnung deutlicher herausgestellt werden, um diese Verordnung ganz klar von der parallel stattfindenden Arbeit an der Verordnung über Risikokapitalfonds abzugrenzen, die sich an kleine und mittlere Unternehmen richtet (9).

3.1.9   Die Definition der Arten von Gütern oder Dienstleistungen, der Methoden der Produktion von Gütern bzw. Erbringung von Dienstleistungen und der Zielgruppen von Tätigkeiten mit sozialer Zielsetzung (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer i und Artikel 3 Absatz 2) muss gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe aufgestellt werden, in der auch Sozialunternehmen vertreten sind. Die Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe sollte die Vielfalt der Sozialunternehmen in Europa widerspiegeln.

3.1.10   Ein „qualifiziertes Portfolio-Unternehmen“ sollte eine vierte Anforderung erfüllen müssen: Im Falle der Auflösung des Sozialunternehmens darf der Großteil seines Nettovermögens (z.B. mindestens 60-70 %) nicht auf seine Partner, Anteilsinhaber, Eigentümer oder Mitarbeiter aufgeteilt werden, sondern muss für Ziele mit sozialem Wirkungspotenzial eingesetzt werden.

3.1.11   Die Verordnung richtet sich anfänglich an professionelle Kunden und „vermögende Einzelpersonen“. Hierzu sollten auch die spezialisierten Anleger aus dem öffentlichen und dem gemeinnützigen Sektor gezählt werden, z.B. Genossenschaftsbanken und sozial ausgerichtete Banken. Der EWSA empfiehlt jedoch, dass die Kommission möglichst rasch einen Zeitplan für die Öffnung des Fonds für die Allgemeinheit aufstellt, da diese Art der Beteiligung auch für die Allgemeinheit sehr interessant ist.

3.2   Kapitel II – Bedingungen für die Verwendung der Bezeichnung „Europäischer Fonds für soziales Unternehmertum“

3.2.1   Der EWSA hält die Vorgabe, dass mindestens 70 % des eingebrachten Kapitals in Vermögenswerte investiert werden, die qualifizierte Investitionen sind, anfänglich für zweckmäßig. Jedoch müssen nicht zulässige Vermögenswerte in den restlichen 30 % der Vermögenswerte des Fonds geregelt werden, um die Ausrichtung des Fonds auf soziale Unternehmen noch stärker hervorzuheben. Die Prüfung der Zweckmäßigkeit des Erwerbs von anderen Vermögenswerten als nicht qualifizierten Investitionen ist immer zu fordern (Artikel 5 Absatz 1). Solide und dauerhafte Anlagen, wie etwa Staatsanleihen, sollten im Sinne der Stabilität des Fonds angeregt werden. Aus diesem Grund sollte auch die Definition von Kassenmitteln und Kassenmitteläquivalenten verdeutlicht werden.

3.2.2   Der Vorschlag für eine Verordnung über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum und die Richtlinie betreffend Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren („OGAW-Richtlinie“) (10) weisen viele Parallelen auf. Diese Parallelen und auch die Unterschiede sollten deutlich herausgestellt werden. Dies gilt insbesondere für die Definition von professionellen Kunden (Artikel 6), die Tätigkeit der Verwalter (Artikel 7) und die Anwendung des Fonds (Artikel 8). Da Sozialunternehmen häufig kleine und lokal tätige Unternehmen sind, ist es wichtig, kleineren Fonds das Tätigwerden auf diesen Märkten zu erleichtern. Daher sollte der Grenzwert für die Mindesteinlage in Höhe von 100 000 EUR auf lange Sicht überdacht werden (Artikel 6 Buchstabe a).

3.2.3   Mögliche Interessenkonflikte müssen möglichst bald ermittelt, vermieden, beigelegt und überwacht sowie gemeldet werden. Maßnahmen zur Vermeidung von Interessenkonflikten müssen vor Inkrafttreten der Verordnung aufgestellt worden sein. Die Kommission sollte bereits jetzt klarstellen, was sie mit diesen Maßnahmen bezweckt (Artikel 8 Absatz 5). Auch sollte geklärt werden, welche Regeln bei Interessenkonflikten zwischen Portfolio-Unternehmen und Anlegern und/oder Fondsverwaltern gelten (Artikel 8 Absatz 2).

3.2.4   Die Verordnung über Europäische Fonds für soziales Unternehmertum hängt in hohem Maße von der Fähigkeit zur Messung der sozialen Auswirkungen und des Einflusses auf die Gesellschaft ab, was sehr schwierig ist. Es gibt derzeit kein eindeutiges Verfahren, das leicht dem Umfeld angepasst werden könnte, in dem Europäische Fonds für soziales Unternehmertum tätig sind. Es ist wichtiger, die sozialen Auswirkungen (sowohl qualitativ als auch quantitativ) der Tätigkeiten als der Unternehmen im Portfolio zu messen. Anstatt nach einem einheitlichen Verfahren zur Weiterverfolgung und Bewertung der sozialen Auswirkungen zu suchen, sollte besser ein EU-Rahmen geschaffen werden, bei dem Kriterien und messbare Indikatoren angesetzt werden, die auf der nationalen Ebene festgelegt wurden. Die Kommission sollte bereits jetzt verdeutlichen, welche Absichten sie mit der Messung der sozialen Auswirkungen und des Einflusses auf die Gesellschaft verfolgt, indem sie eine Studie bezüglich der unterschiedlichen Messverfahren und der Erfahrungen in Zusammenarbeit mit Sozialunternehmen, Forschern und Kapitalanlegern einleitet.

3.2.5   Ein grundlegendes Fundament der Sozialunternehmen ist ihre Unabhängigkeit. Daher müssen die Verfahren, die die Fondsverwalter der Verordnung anwenden, um „zu messen und zu überwachen, inwieweit die qualifizierten Portfolio-Unternehmen […] die positiven sozialen Auswirkungen […] erreichen“, so verdeutlicht werden, dass zum Ausdruck kommt, dass die Fondsverwalter verpflichtet sind, den Anlegern über die sozialen Auswirkungen Bericht zu erstatten, damit sicher ist, dass die Beteiligungen wirklich in sozialen Tätigkeiten platziert werden (Artikel 9 Absatz 1 und 2). Die diesbezügliche Unklarheit in der Verordnung führt zu Missverständnissen über die Rolle der Fondsverwalter; der Verordnungsvorschlag muss in dieser Hinsicht nachgebessert werden. Es ist sowohl unpassend als auch unrealistisch, dass die sozialen Auswirkungen von den Fondsverwaltern gemessen und überwacht werden sollen, weil hierdurch zum einen die Unabhängigkeit der Sozialunternehmen eingeschränkt würde, und zum anderen, weil geeignete Verfahren für eine wirksame Messung und Überwachung fehlen.

3.2.6   Das Messungsproblem tritt auch in den Bestimmungen über den Jahresbericht und die Methode zur Messung der sozialen Ergebnisse zutage (Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe a). Es sollte verdeutlicht werden, wie sich diese Berichterstattung zu den messtechnischen Spezifikationen verhält, die die Kommission aufzustellen gedenkt.

3.2.7   Der Jahresbericht eröffnet den Fondsverwaltern ferner die Möglichkeit zur Veräußerung im Zusammenhang mit qualifizierten Portfolio-Unternehmen (Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe b). In der Verordnung muss geklärt werden, welche Regeln für die Veräußerung von qualifizierten Portfolio-Unternehmen gelten. Ein Sozialunternehmen, das z.B. Sozialdienstleistungen für schutzbedürftige und marginalisierte Zielgruppen erbringt, kann aufgrund der sensiblen Tätigkeit nicht auf die gleiche Art veräußert werden wie Beteiligungen an gewinnorientierten Unternehmen. Die Anleger und Fondsverwalter müssen auf die besonderen Merkmale und somit auf die Sensibilität dieser Tätigkeiten hingewiesen werden und entsprechend handeln. Die Kommission sollte ferner angeben, wie der Sekundärmarkt zu behandeln ist, der durch solche Veräußerungen entsteht. Viele Sozialunternehmen benötigen langfristige und dauerhafte Investitionen, um ihre Tätigkeit expandieren zu können.

3.2.8   Es muss klargestellt werden, in welchem Verhältnis die von der Kommission angedachte Methodik zur Messung der sozialen Auswirkungen zu der Methode steht, nach der die Fondsverwalter die Anleger unterrichten sollen, sowie dazu, wie diese Informationen vom Fonds an die Anleger geleitet werden sollen (Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe c und d). Auch eine Beschreibung der anderen Vermögenswerte als qualifizierte Investitionen ist wichtig, ebenso wie Informationen über die Kriterien, die für ihre Auswahl angesetzt wurden. Die Verordnung sollte auch Bestimmungen dazu enthalten, was für diesen Teil des Fonds unzulässige Vermögenswerte und Anlagen sind (Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe e). Bezüglich der Verfahren und der Kalkulationsmodelle des Fonds für die Bewertung der Vermögenswerte (Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe g) vertritt der EWSA die Auffassung, dass ein Modell ausgearbeitet werden sollte, das genau auf die Formen und Tätigkeiten von Sozialunternehmen abgestimmt ist.

3.3   Kapitel III – Beaufsichtigung und Verwaltungszusammenarbeit

3.3.1   Die Vorschriften für Verwaltungsmaßnahmen und -sanktionen, die bei Verstößen gegen die Bestimmungen dieser Verordnung verhängt werden, müssen EU-weit einheitlich sein. Daher müssen diese Vorschriften auf Unionsebene festgelegt werden und dürfen nicht den Mitgliedstaaten überlassen werden (Artikel 20 Absatz 2). Die Vorschriften müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Daher müssen weitere Maßnahmen, die über ein Verbot der Verwendung der Bezeichnung „Europäischer Fonds für soziales Unternehmertum“ hinausgehen, aufgestellt werden, da durch diese Initiative auch Vertrauen aufgebaut und somit Missbrauch vermindert werden soll. Für die in dem Fonds befindlichen Portfolio-Unternehmen müssen Schutzmechanismen geschaffen werden, damit sie ihre Tätigkeit auch dann weiter ausüben können, wenn Sanktionen gegen den Fondsverwalter verhängt werden.

3.4   Kapitel IV – Übergangs- und Schlussbestimmungen

3.4.1   In der Verordnung wird an mehreren Stellen gesagt, dass der Kommission für einen Zeitraum von vier Jahren ab dem Datum des Inkrafttretens der Verordnung 2013 die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte übertragen wird. Viele dieser Befugnisse sind von entscheidender Bedeutung für die Ausgestaltung des Fonds, z.B. in Bezug auf den Tätigkeitsbereich (Güter, Dienstleistungen und Verfahren für deren Produktion), eine mögliche Gewinnausschüttung und Interessenkonflikte. Am Erlass solcher Rechtsakte müssen alle betroffenen Akteure – d.h. Fondsgesellschaften, Anleger und Sozialunternehmen – beteiligt werden. Hier kann die in der Initiative für soziales Unternehmertum angedachte Beratergruppe mit Vertretern aller beteiligten Akteure eine wichtige Rolle spielen.

4.   Sonstige Bemerkungen

4.1   Die Ergebnisse dieser Verordnung müssen laufend evaluiert werden, um sicherzustellen, dass die wesentlichen Zielgruppen von Sozialunternehmen (die häufig die Sozialwirtschaft sind) wirklich einen besseren Zugang zu einsetzbarem Kapital erhalten haben. Der EWSA wird dies jährlich in seiner laufenden Arbeit im Zusammenhang mit Sozialunternehmen und der Sozialwirtschaft berücksichtigen.

4.2   Da das Konzept der Sozialfonds im weiteren Sinne (private oder öffentliche) in den meisten Mitgliedstaaten unbekannt und relativ begrenzt ist, sollte eine Strategie entwickelt werden, um das Profil von Sozialfonds zu schärfen. In vielen europäischen Staaten gibt es keine vergleichbaren Fonds, und in den Staaten, wo diese vorhanden sind, sind sie nicht bekannt genug. Hier kommt die Kommission ins Spiel, wenn es darum geht, Wissen über diese innovativen und gut funktionierenden Werkzeuge für die Förderung von Wachstum und Expansion der Sozialunternehmen in Europa zu sammeln und zu verbreiten.

4.3   Erforderlich sind auch Hilfen und Programme für Investitionsbereitschaft und Kapazitätsaufbau (bezüglich der Struktur wie auch des Verständnisses) bei allen Beteiligten – Anlegern, Fondsverwaltern und Portfolio-Unternehmen – sowohl auf EU-Ebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Hier spielen die „Finanzintermediäre“, die es bereits in mehreren Mitgliedstaaten gibt, eine zentrale Rolle, weswegen ihre Entfaltung gefördert werden sollte. Erwähnenswert ist auch, dass Anlagen in Sozialunternehmen in mehreren Kontexten als Anlagen mit geringem Risiko (11) bezeichnet werden, was in diesen Programmen hervorzuheben ist.

4.4   In der Verordnung wird zu Unrecht häufig auf die „Anteilsinhaber“ oder „Aktionäre“ von Sozialunternehmen verwiesen, was den Eindruck entstehen lässt, dass eine Aktiengesellschaft die häufigste Rechtsform von Sozialunternehmen ist. Das stimmt nicht und kann irreführend sein. Stattdessen sollte bei Sozialunternehmen auf „Mitglieder“ oder „Partner“ verwiesen werden, da es sich bei diesen meistens um eine Genossenschaft, Vereinigung, Stiftung oder GmbH handelt (die keine Anteile, sondern soziale Beteiligungen und Mitglieder haben).

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 206 final.

(2)  COM(2011) 682 final.

(3)  Siehe J.P. Morgan, „Impact Investments: An Emerging Asset Class“, 2011.

(4)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 1.

(5)  www.eurocoopbanks.coop.

(6)  www.triodos.be.

(7)  Z.B. www.bancaprossima.com, https://www.unicredit.it/it/chisiamo/per-le-imprese/per-il-non-profit/universo-non-profit.html und www.ubibanca.com/page/ubi-comunita.

(8)  www.socialfinance.org.uk/sib.

(9)  COM(2011) 860/2 final.

(10)  Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009.

(11)  Die Banca d'Italia vermerkte 2011eine Ausfallquote bei Organisationen ohne Erwerbszweck von 4,3 %, was weit unter der Quote für alle Sektoren liegt (5,4 %), bei Nicht-Finanzunternehmen liegt die Ausfallquote bei 7,9 % und bei Mikrounternehmen bei 10,3 %. Daneben wiesen Genossenschaftsbanken eine Ausfallquote bei Organisationen ohne Erwerbszweck von nur 0,6 % aus (Quelle: Federcasse, italienischer Verband der genossenschaftlichen Kreditinstitute).


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein zusätzliches Forschungsprogramm für das ITER-Projekt (2014-2018)“

COM(2011) 931 final — 2011/0460 (NLE)

2012/C 229/11

Berichterstatter: Gerd WOLF

Der Rat beschloss am 3. Februar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 7 des Euratom-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein zusätzliches Forschungsprogramm für das ITER-Projekt (2014-2018)

COM(2011) 931 final — 2011/0460 (NLE).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 183 gegen 7 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Der Ausschuss wiederholt seine nachdrücklichen Empfehlungen, mehr in Forschung und Entwicklung für die notwendige und anspruchsvolle Umstellung unseres derzeitigen Energiesystems auf jene Techniken zu investieren, die das Potential für eine ausreichende, langfristige, nachhaltige und klimaunschädliche Energieversorgung haben. Dazu gehören auch die Entwicklungsarbeiten zur Nutzung der Fusionsenergie. Energie ist das Lebenselixier unserer heutigen Lebensweise und Kultur.

1.2   ITER ist als internationales, in der EU stationiertes Großprojekt der jetzt notwendige, entscheidende und weltweit einzigartige Entwicklungsschritt für die zukünftige Nutzung der Fusionsenergie. ITER ist also ein wichtiges Element der Energieforschung und dementsprechend auch des SET-Plans. Der Ausschuss wiederholt die Bedeutung dieses Projekts nicht nur für die zukünftige Energieversorgung, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auf dem Gebiet anspruchsvollster neuer Technologien.

1.3   Der Ausschuss widerspricht daher mit Nachdruck dem Vorschlag der Kommission, abweichend von bisheriger Praxis die europäischen Verpflichtungen zum Bau von ITER aus dem mehrjährigen Finanzrahmen (MFF) auszugliedern und dort nur noch die Forschungsarbeiten für ITER zu behalten. Ansonsten würde nicht nur die Bedeutung dieses Projekts, sondern auch die Verlässlichkeit der EU als internationaler Partner beschädigt. Vielmehr soll der Bau von ITER auch für die Jahre 2014-2018 zu einem – allerdings eigenständigen und von den übrigen Programmelementen entkoppelten – Bestandteil/Projekt des EU-Euratom-Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsprogramms gemacht werden, und zwar innerhalb des MFF.

1.4   Da dies von der Kommission dort leider nicht a priori eingeplant worden ist, empfiehlt der Ausschuss, gemeinsam mit Rat, Parlament und EIB nach Lösungen zu suchen, die dies nachträglich ermöglichen, ohne die anderen Programmelemente, insbesondere jene der Energieforschung, spürbar zu beeinträchtigen.

1.5   Als bevorzugten Lösungsweg dazu empfiehlt der Ausschuss, auf den ansonsten üblichen Rückfluss von nichtverbrauchten Mitteln des MFF an die Mitgliedstaaten zurückzugreifen, wie dies offenbar bereits für die Finanzierung von ITER für den Zeitraum 2012-2013 der Fall ist.

1.6   Der Ausschuss stimmt mit Initiativen innerhalb des Europäischen Parlaments darin überein, dass die nichtverbrauchten Mitteln des MFF ganz generell nicht zu einer Reduktion des MFF führen sollten, sondern – wie hier jetzt spezifisch für ITER vorgeschlagen – dem Gemeinschaftsprogramm der EU zu Gute kommen müssen.

1.7   Nur für den Fall, dass diese Maßnahme nicht ausreicht oder gar unmöglich sein sollte, müssten die bisherigen jeweiligen Ansätze im MFF jeweils um maximal ca. 0,3 % reduziert werden.

1.8   Um den Zeit- und Kostenrahmen nunmehr möglichst einhalten zu können, sind eine starke Projektleitung mit ausreichender technischer und administrativer Entscheidungsbefugnis sowie eine straffe Projektstruktur erforderlich.

1.9   Den Zeitraum nach 2018 betreffend unterstützt der Ausschuss das sehr berechtigte Anliegen der Kommission, schon bald einen stabilen Planungs- und Rechtsrahmen für innereuropäische und insbesondere internationale Planungssicherheit zu schaffen.

2.   Kurzinhalt des Kommissionsvorschlags und dessen Argumentation

2.1   Ziel des Vorschlags der Kommission ist es, die Finanzierungsmodalitäten für den EU-Beitrag zum ITER-Projekt für den Zeitraum 2014-2018 durch ein „zusätzliches Forschungsprogramm“ im Rahmen des Euratom-Vertrags zu regeln. Das zusätzliche Forschungsprogramm soll von den Mitgliedstaaten (plus einigen „assoziierten Drittländern“) außerhalb des MFF gesondert finanziert werden. Dabei handelt es sich um ein Volumen von 2,6 Mrd. EUR, also um rund 0,26 % des MFF (siehe jedoch auch Ziffern 4.7 und 4.7.1).

2.2   Hauptzweck des internationalen ITER-Projekts ist Bau und Betrieb eines experimentellen Fusionsreaktors als bedeutender und entscheidender Schritt, um die Nutzbarkeit der Kernfusion als nachhaltige Energiequelle zu demonstrieren. Erklärtes Ziel des Forschungsprogramms mit ITER ist es daher, „einen Beitrag zur langfristigen sicheren und effizienten Senkung der CO2-Emissionen des Energiesystems zu leisten. Das Programm wird ferner zur Strategie Europa 2020 und zur Leitinitiative ‚Innovationsunion‘ beitragen“.

2.3   ITER ist Teil des Strategieplans für Energietechnologie (SET-Plan) und trägt zur Strategie Europa 2020 bei, da die Beteiligung der europäischen Hochtechnologieindustrie der EU weltweit einen Wettbewerbsvorteil in diesem äußerst wichtigen und vielversprechenden Industriesektor verschaffen dürfte.

2.4   Das ITER-Projekt wird auf der Grundlage des Übereinkommens über die Gründung der Internationalen ITER-Fusionsenergieorganisation für die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts („ITER-Übereinkommen“) (1) zwischen der Europäischen Atomgemeinschaft („Euratom“) und sechs weiteren Parteien (China, Indien, Japan, Korea, Russland und USA) durchgeführt.

2.5   Der EU-Beitrag zum ITER-Projekt wird durch das europäische gemeinsame Unternehmen für ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie („Fusion for Energy“) verwaltet, das mit der Entscheidung des Rates vom 27. März 2007 (2) errichtet wurde.

2.6   Die Baukosten von ITER übersteigen die ursprüngliche Kalkulation (3). Daher sind zusätzliche Finanzmittel (siehe Ziffer 2.1) notwendig. Das hat nach Meinung der Kommission zur Folge, dass entweder die bereits für andere Prioritäten vorgesehenen Mittel des MFF umgeschichtet werden müssen oder dessen Höchstgrenze nicht eingehalten werden kann.

2.7   Es wird ein neues Konzept benötigt, das für dieses ehrgeizige Projekt eine langfristig sichere Basis schafft. Daher schlug die Kommission in ihrer Mitteilung vom 29. Juni 2011„Ein Haushalt für Europa 2020 (4) vor, den EU-Beitrag zum ITER-Projekt nach 2013 außerhalb des MFF zu finanzieren.

2.8   Gemäß dem Euratom-Vertrag ist die Dauer von Forschungsprogrammen auf fünf Jahre begrenzt. Entsprechend dem ITER-Übereinkommen beträgt die anfängliche Laufzeit des ITER-Projekts 35 Jahre (bis 2041). Somit werden weitere Ratsbeschlüsse erforderlich sein, um den EU-Beitrag zu diesem Projekt auch in Zukunft zu finanzieren.

3.   Bemerkungen des Ausschusses – Sachlage

3.1   Basierend auf seinen früheren Aussagen (5) zur Bedeutung der Option Kernfusion für eine zukünftige CO2-arme Energieversorgung stimmt der Ausschuss mit der Bewertung der Kommission überein, dass ITER (6) der jetzt notwendige, entscheidende und weltweit einzigartige Entwicklungsschritt für die zukünftige Nutzung der Fusionsenergie ist. Fusionsenergie ist die einzige bekannte und bisher noch nicht zumindest testweise eingesetzte bzw. verfügbare weitere Option in der Palette möglicher Technologien, um die gewaltige Aufgabe einer sicheren und klimaunschädlichen Energieversorgung nachhaltig und ausreichend zu bewältigen. ITER ist ein wichtiges Element der Energieforschung und dementsprechend auch des SET-Plans.

3.2   Bereits das derzeit mit seinen Eigenschaften und Ergebnissen weltweit führende Fusionsexperiment JET (Joint European Torus) (7) überstieg angesichts des dafür erforderlichen Aufwands die Möglichkeiten oder Bereitschaft einzelner Mitgliedstaaten, dieses Projekt noch auf nationaler Eben zu verwirklichen und zu finanzieren; so entstand daraus ein Musterbeispiel und Übungsfeld gemeinsamen und erfolgreichen europäischen Handelns im Rahmen des Euratom-Vertrags. JET wurde seit seiner Gründung zum Kernstück des Europäischen Fusionsprogramms.

3.3   Das auf den weltweiten Erkenntnissen der Fusionsforschung und insbesondere den Ergebnissen von JET fußende ITER-Projekt übersteigt in seiner wissenschaftlich-technischen Zielsetzung, in seinem Volumen und in seinen Kosten den für JET erforderlichen Aufwand nochmals erheblich. Daher lag es schon frühzeitig nahe, eine über die EU hinausgreifende internationale Kooperation anzustreben. Dem kam eine Initiative von Reagan, Gorbatschow und Mitterrand entgegen, aus der schließlich das internationale ITER-Projekt erwuchs. In ITER sollen 500 Megawatt (!) thermische Fusionsleistung mit positiver Leistungsbilanz erzeugt werden können.

3.4   Am 26. November 2006 unterzeichneten die Vertreter der sieben Vertragspartner das Übereinkommen über die Gründung der Internationalen ITER - Fusionsenergieorganisation für die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts, und zwar für die Europäische Atomgemeinschaft, für die Regierung der Volksrepublik China, für die Regierung der Republik Indien, für die Regierung Japans, für die Regierung der Republik Korea, für die Regierung der Russischen Föderation und für die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Kommission war nicht nur der für die EU handelnde Vertragspartner, sondern hat das weitere Programm im Rahmen des europäischen gemeinsamen Unternehmens für ITER, ebenso wie das übrige Fusionsprogramm, auch koordiniert.

3.5   Mit der zugleich getroffenen Entscheidung, ITER in der EU zu stationieren (Cadarache in Südfrankreich), ist es gelungen, eines der wichtigsten Zukunftsprojekte in Europa anzusiedeln und damit auch in den Genuss seiner Anziehungskraft für beste Forscher und Ingenieure sowie seiner Ausstrahlung in anspruchsvollste industrielle Bereiche zu gelangen. Nach einer auch von Governance und Management her – noch nie gab es eine derartige wissenschaftlich-technische Projekt-Zusammenarbeit so vieler und verschiedener internationaler Partner – nicht einfachen Anlaufphase stellte sich aus unterschiedlichen Gründen heraus, dass der ursprüngliche Kostenansatz, also auch der seitens des Euratom-Programms beizutragende Anteil, nach oben revidiert werden musste (8). Nach Auffassung des Ausschusses war diese Sachlage der Kommission noch vor Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmen (MFF) bekannt.

4.   Bemerkungen des Ausschusses – Gesichtspunkte und Empfehlungen

4.1   Grundsätzlich unterstützt der Ausschuss die Intention der Kommission, das für Energieforschung verfügbare F&E-Budget – hier für ITER im Rahmen von Euratom – zu verstärken. Bereits in seiner Stellungnahme zum SET-Plan (9) hatte der Ausschuss darauf hingewiesen, dass „trotz der noch zunehmenden Weltbevölkerung mit ihrem Energiehunger und riesigem Nachholbedarf, der endlichen Vorräte an fossilen Primärenergieträgern und der zunehmenden Importabhängigkeit Europas der Ernst des Energie- und Klimaproblems und die dafür erforderlichen Investitionen offenbar von vielen Politikern und Akteuren immer noch stark unterschätzt werden“. Diese Warnung hat der Ausschuss in seiner Stellungnahme zu „Horizont 2020“ wiederholt und dementsprechend einen größeren Anteil des MFF für Energieforschung empfohlen (10).

4.1.1   Darum unterstützt der Ausschuss (11) auch die leider bisher erfolglosen Bemühungen der Kommission, den MFF zu erweitern, um diese und weitere wichtige Gemeinschaftsaufgaben mit größerem Nachdruck bearbeiten zu können. Nach Meinung des Ausschusses sollte dies aber nicht dadurch versucht werden, dass als Ad-hoc-Ausnahme und abweichend von bisheriger Praxis, quasi durch die Hintertür, ein zusätzliches Forschungsprogramm außerhalb des MFF geschaffen wird, um den europäischen Anteil am Bau von ITER finanzieren zu können. Vielmehr soll auch für die Jahre 2014-2018 der Bau von ITER zu einem – – Bestandteil des EU-Euratom-Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsprogramms gemacht werden, und zwar innerhalb des MFF.

4.2   Dies ist nicht das einzige Argument gegen eine Ausgliederung der europäischen Verpflichtungen für den Bau von ITER aus dem MFF. Der Ausschuss ist auch nicht in der Lage, der unter Ziffer 2.6 dargelegten Argumentation der Kommission zu folgen. Wenn die Kommission in Kenntnis der Sachlage einen MFF zum Vorschlag und Beschluss bringt, in welchem sie die Kosten für den Bau von ITER bewusst ausklammert, so hat sie damit selbst genau jene Situation geschaffen, welche ihrer Darlegung nach einer Einbeziehung dieser Kosten in den MFF entgegenstehen soll.

4.3   Darüber hinaus gibt es aber auch starke inhaltliche Argumente, welche gegen eine Ausklammerung von ITER aus dem MFF sprechen.

4.3.1   Dies betrifft einerseits das Subsidiaritätsprinzip und die Frage nach dem europäischen Mehrwert. Hier sind es doch gerade jene Vorhaben, welche das Potential eines einzelnen Mitgliedstaates übersteigen, wie große wissenschaftlich-technische Infrastrukturen oder eben Projekte wie Galileo und ITER, die eine prototypische Gemeinschaftsaufgabe im Rahmen des MFF darstellen, also zweifellos einen europäischen Mehrwert erbringen. Genau dazu wurden die FTD-Rahmenprogramme innerhalb des MFF geschaffen.

4.3.2   Dies betrifft andererseits die Außenwirkung gegenüber den internationalen Partnern. In Anbetracht auch der politischen Bedeutung dieser Partnerschaft hält der Ausschuss den Vorschlag der Kommission für ein irreführendes Signal, welches das Vertrauen in die Verlässlichkeit der EU als Partner internationaler Vereinbarungen beeinträchtigt. Dies betrifft nicht nur das Fusionsprogramm, sondern auch die Bemühungen um weitere internationale Partnerschaften oder bindende Vereinbarungen, z.B. in der Sicherheitspolitik oder der Energie- und Klimapolitik.

4.3.3   Es betrifft aber noch einen weiteren, mehr generellen Gesichtspunkt, den der Ausschuss bereits in seiner Stellungnahme (12) zu „Horizont 2020“ angesprochen hat. Dabei handelt es sich um die angekündigte Tendenz, bisherige Aufgaben und Tätigkeiten der Forschungs- und Innovationsförderung aus der Kommission heraus in Agenturen zu verlagern und sich kommissionsseitig auf rechtliche Fragen und die Verwaltung der finanziellen Aspekte zurückzuziehen. Hierzu äußert der Ausschuss starke Bedenken. Denn damit würde die Kommission nicht nur auf eigene fachspezifische Betreuung und entsprechendes Urteilsvermögen (einschließlich der benötigten Experten) verzichten, sondern sich dann auch nicht mehr ausreichend mit den eigentlichen sachlichen Inhalten und Zielen selbst auseinandersetzen und identifizieren. Letzteres ist aber unerlässlich, um das wichtige Thema Forschung, Entwicklung und Innovation auf politischer Ebene mit Sachkunde, Erfolg und Überzeugung zu vertreten. Andernfalls ginge im fragilen System der „Checks and Balances“ auch ein entscheidender Kontrollfaktor verloren, ein maßgebliches Gewicht in der politischen Waagschale.

4.4   Da der Ausschuss, wie bereits dargelegt, einerseits den Wunsch der Kommission nach einem stärkeren MFF voll unterstützt, andererseits jedoch der Ansicht ist, ITER solle innerhalb des MFF finanziert werden und dort auch organisatorisch angesiedelt bleiben, empfiehlt er, gemeinsam mit Rat, Parlament und EIB nach Lösungen zu suchen, welche dies nachträglich ermöglichen, ohne dabei die anderen Programmelemente, insbesondere jene der Energieforschung, spürbar zu beeinträchtigen.

4.5   Als bevorzugten Lösungsweg dazu empfiehlt der Ausschuss, geeignete Verfahren zu entwickeln, um sicherzustellen, dass der volle bereits genehmigte Haushalt des MFF auch tatsächlich für Gemeinschaftsaufgaben genutzt werden kann und nicht durch den üblichen Rückfluss von nichtverbrauchten Mitteln des MFF an die Mitgliedstaaten geschmälert wird. Mit dieser Empfehlung unterstützt der Ausschuss auch eine Initiative innerhalb des Europäischen Parlaments (13) vom 5. Juli 2010.

4.6   Die hier vorliegende konkrete Fragestellung betreffend wird empfohlen, aus diesen vermiedenen Rückflüssen die hier zur Diskussion stehende Deckungslücke der Finanzierung von ITER zu bestreiten (wie dies offenbar bereits für 2012/2013 geschah (14)). Soweit für diese Prozedur weitere formale/rechtliche Maßnahmen erforderlich sein sollten, empfiehlt der Ausschuss diese Frage gemeinsam mit der EIB zu beraten und dann mit den zuständigen Organen zu verhandeln.

4.7   Nur für den Fall, dass der unter Ziffer 4.6 empfohlene Lösungsweg unzureichend oder überhaupt nicht möglich sein sollte, empfiehlt der Ausschuss, die zur Diskussion stehenden Kosten einschließlich einer angemessenen „contingency“ (siehe Ziffer 4.7.1) durch geringfügige (einschließlich einer „contingency“ von ca. 10 % handelt es sich dann statt um 0,26 % um maximal jeweils ca. 0,3 %) Kürzungen aller übrigen Posten im MFF aufzubringen.

4.7.1   Der Ausschuss empfiehlt nämlich dringend, die Erfahrungen bei der Errichtung derartiger, ins technologische Neuland vorstoßender Großprojekte besser zu berücksichtigen und dementsprechend für eine angemessene „contingency“ von z.B. 10 % zu sorgen; nötigenfalls müssten dazu die Regelwerke der Kommission diesbezüglich abgeändert werden. Dadurch erhöhen sich die in Ziffer 2.1 genannten 0,26 % auf ca. 0,3 %. Das Budget dieser „contingency“ ist dann allerdings von der Projektleitung getrennt zu verwalten und jeweils nur gemäß strenger Kriterien freizugeben, um nicht schon a priori verplant zu werden und ihren Zweck zu verfehlen.

4.7.2   In Ziffer 4.1.1 empfiehlt der Ausschuss, den Bau des europäischen Anteils von ITER zu einem eigenständigen, von den sonstigen Programmelementen entkoppelten Element/Projekt des Fusionsprogramms zu machen. Um nunmehr den Zeit- und Kostenrahmen des europäischen Anteils von ITER möglichst einhalten zu können, sind dazu eine starke Projektleitung mit ausreichender technischer und administrativer Entscheidungsbefugnis sowie eine straffe Projektstruktur erforderlich. Der Ausschuss empfiehlt, sich hierzu an Beispielen wie CERN, ESA oder ESO zu orientieren.

4.8   Was die über den hier zur Diskussion stehenden Zeitraum 2014-2018 hinausgehende Periode betrifft, unterstützt der Ausschuss die Kommission in ihrem sehr berechtigten Anliegen, einen stabilen Rahmen und eine langfristig sichere Basis für die Gesamtlaufzeit des internationalen ITER-Projekts zu schaffen – nach Meinung des Ausschusses aber innerhalb des MFF. Dadurch soll innereuropäische und internationale Planungssicherheit geschaffen und den internationalen Partnern die Verlässlichkeit der EU demonstriert werden.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 358 vom 16.12.2006.

(2)  ABl. L 90 vom 30.3.2007.

(3)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111, Ziffer 5.5.3.

(4)  COM(2011) 500 final vom 29.6.2011.

(5)  Z.B. ABl. C 302 vom 7.12.2004, S. 27; ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 49; ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 87, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111.

(6)  Siehe auch http://www.iter.org/.

(7)  Siehe auch www.jet.efda.org.

(8)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111, Ziffer 5.5.3.

(9)  ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 49, Ziffer 3.1.1.

(10)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111, Ziffer 4.2.1.

(11)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, Ziffer 6.

(12)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 111, Ziffer 3.12.1.

(13)  A7-0254/2011: Entschließung des Europäischen Parlaments betreffend den Standpunkt des Rates zum Entwurf des Berichtigungshaushaltsplans Nr. 3/2011 der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2011, Einzelplan III – Kommission (11630/2011 – C7-0166/2011 – 2011/2075(BUD)).

(14)  Rat der Europäischen Union (Rat (Wettbewerbsfähigkeit)), 19. Dezember 2011, Dokument Nr.: 18807/11, PRESSE 508 (nur auf EN verfügbar).


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG und zur Koordinierung der Rechts– und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und der Richtlinie 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds im Hinblick auf den übermäßigen Rückgriff auf Ratings“

COM(2011) 746 final — 2011/0360 (COD)

2012/C 229/12

Berichterstatter: Jörg Freiherr FRANK VON FÜRSTENWERTH

Der Rat beschloss am 9. Februar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 53 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG und zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und der Richtlinie 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds im Hinblick auf den übermäßigen Rückgriff auf Ratings

COM(2011) 746 final — 2011/0360 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 130 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Stellungnahme steht in der Reihe der Arbeiten des Ausschusses, in der er sich als Teil der Aufarbeitung der Krisen der letzten Jahre mit der Regulierung der Ratingagenturen befasst (1). Der Ausschuss hat erst jüngst begrüßt, dass sich die Kommission um die Beseitigung schwerwiegender Mängel in den Bereichen Transparenz, Unabhängigkeit, Interessenkonflikte und Qualität der Ratings und der Ratingmethoden durch die Vorlage neuer Rechtsakte bemüht (2). Er hat dabei zugleich seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass auf das Regulierungsdefizit bei Ratingagenturen so spät und inkonsequent reagiert wird.

1.2   Der Richtlinienvorschlag ändert formal die OGAW-Richtlinie (Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren) und die Richtlinie über die Verwalter alternativer Investmentfonds (AIF). Im Regelungskern stehen Änderungen des Risikomanagements, die die automatisierte, mechanische, ungeprüfte Übernahme von externen Ratings einschränken bzw. verhindern sollen. Diese Regeln werden flankiert von einer Änderung der CRA-Verordnung, zu der der Ausschuss bereits Stellung genommen hat (3). Beide legislativen Vorschläge stehen inhaltlich in einem engen Zusammenhang.

1.3   Der Ausschuss begrüßt, dass mit dem Vorschlag das Problem des übermäßigen Rückgriffs der Marktteilnehmer auf Ratings für OGAW und AIF aufgegriffen und versucht wird, einen Herdentrieb der Finanzakteure ausgelöst durch unzureichende Ratings zu verhindern. Diese Bemühungen müssen das gesamte Unionsrecht, nationale Rechtsnormen und auch privatrechtliche Verträge umfassen.

1.4   Der Ausschuss hält den Regulierungsansatz, die Vorschriften für das Risikomanagement der OGAW und AIF zu spezifizieren, für richtig. Er weist auf die Probleme hin, die kleine Finanzinstitute haben könnten, eigene Kapazitäten zur Risikoanalyse aufzubauen. Er schlägt daher vor, in den delegierten Rechtsakten Regelungen zur Kooperation beim externen Aufbau von Spezialwissen vorzusehen, um die Unabhängigkeit kleiner Finanzinstitute von externen Ratingagenturen zu stärken. Der Ausschuss spricht sich dezidiert gegen Forderungen aus, die es kleinen und mittleren Unternehmen ermöglichen würden, die Entscheidung über die Kreditwürdigkeit eines Engagements auszulagern.

1.5   Der Ausschuss hält es für notwendig, dass verstärkte Anstrengungen unternommen werden, Verfahren und Maßstäbe in Risikomanagementprozessen zu entwickeln, die alternativ zu Ratings eingesetzt werden können.

1.6   Der Ausschuss weist auf die Notwendigkeit zu einem gemeinsamen Vorgehen auf G-20-Ebene hin. Globale Regulierungsdefizite lassen sich nur lösen, wenn eine Mindestkohärenz der nationalen Rechtsordnungen gegeben ist.

1.7   Der Ausschuss bekräftigt seine bereits in seiner Stellungnahme vom 12.3.2012 (4) eingehend geäußerte Skepsis, dass nicht einmal die eigene Risikobewertung der Finanzmarktteilnehmer und ein geringerer Rückgriff auf externe Ratings die Objektivität der von den Teilnehmern der Finanzmärkte getroffenen Entscheidungen und die Einbeziehung aller maßgeblichen Aspekte – im Hinblick auf die Folgen der Bewertung – garantiert. Er sieht weiterhin eines der grundlegenden Probleme der Risikobewertung in der Glaubwürdigkeit (und Unabhängigkeit) der durch die Ratingagenturen abgegebenen Ratings, die sich in den letzten Jahren wiederholt als falsch erwiesen haben oder aber zu sehr von den Interessen, Denkweisen und Strukturen ihres außereuropäischen Heimatmarkts oder den Interessen der sie finanzierenden Emittenten geprägt sind. Er mahnt vor diesem Hintergrund an, auch bei der weiteren Diskussion über die Regulierung der Ratingagenturen immer im Auge zu behalten, dass die Ratingagenturen bis in die jüngste Vergangenheit hinein unmittelbar oder mittelbar immer wieder alle Teile der Gesellschaft nachhaltig geschädigt haben. Der Ausschuss bedauert daher, dass Bemühungen zur Gründung einer unabhängigen europäischen Ratingagentur noch nicht erfolgreich sind.

2.   Zusammenfassung und Umfeld des Vorschlags

2.1   Der Vorschlag ist Teil der Maßnahmen, die als Konsequenzen aus der anfänglichen Bankenkrise, die sich zu einer Finanzkrise und schließlich zu einer Staatsschuldenkrise entwickelte, für die Beaufsichtigung von Ratingagenturen zu ziehen sind. Seit dem 7. Dezember 2010, dem Tag des vollständigen Inkrafttretens der CRA-Verordnung, sind Ratingagenturen zur Einhaltung von bestimmten Verhaltensregeln verpflichtet, die Interessenkonflikte eindämmen und für Ratings und die Ratingprozesse eine hohe Qualität und eine bestimmte Transparenz sicherstellen sollen. Am 11. Mai 2011 wurde die CRA-Verordnung dahingehend geändert (5), dass der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) die alleinige Aufsicht über die in der EU registrierten Ratingagenturen übertragen worden ist.

2.2   Die CRA-Verordnung und ihre Änderung vom Mai 2011 lösen jedoch ein Problem nicht, das für die Krisen mitursächlich war: Das Risiko, dass sich Finanzmarktteilnehmer, insbesondere auch die Organismen für Gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und der alternativen Investmentfonds (AIF), in ihren Risikomanagementsystemen in einem zu hohen Maße und „automatisiert“ auf (externe) Ratings stützen und dabei keine eigenen Risikoeinschätzungen und Sorgfaltsprüfungen vornehmen. Hierzu verleiten Kosten- und Vereinfachungsüberlegungen bei den Finanzakteuren. Die Gefahr für die Allgemeinheit besteht dabei jedoch darin, dass es zu einem „Herdenverhalten“ (6) der Marktteilnehmer kommt. Automatisiert, von den gleichen Ratings gesteuert, kann es etwa bei einem Verlust des Investmentgrade zu einem Parallelverkauf von Schuldtiteln mit der Folge kommen, dass die Finanzstabilität beeinträchtigt werden kann. Prozyklizität und Klippeneffekte (eine Bonitätsherabstufung eines Papiers unter einen bestimmten Schwellenwert löst kaskadenhaft den Verkauf anderer Papiere aus) umschreiben das Risiko ebenfalls. Auf die dringende Notwendigkeit, diese Risiken zu minimieren, ist wiederholt hingewiesen worden (7).

2.3   Mit dem vorliegenden Vorschlag wird das Problem des übermäßigen Rückgriffs der Marktteilnehmer auf Ratings für die OGAW und die AIF aufgegriffen. Andere Vorschläge betreffen die Lösung desselben Problems bei Kreditinstituten, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats (8). Die Vorschriften über das Risikomanagement für OGAW und AIF werden in den Artikeln 1 und 2 dahingehend präzisiert, dass sich die Gesellschaften nicht ausschließlich oder automatisch auf externe Ratings stützen dürfen. Dies ergänzt die schon bestehenden Aufsichtsregeln, nach denen die Finanzakteure Risikomanagementsysteme verwenden müssen, die es ihnen erlauben, das mit den Anlagepositionen verbundene Risiko sowie ihren Anteil am Gesamtrisikoprofil jederzeit überwachen und messen zu können. Zugleich wird die Befugnis der Kommission erweitert, durch delegierte Rechtsakte Kriterien für die Bewertung der Angemessenheit der Risikomanagementsysteme auch zur Vermeidung eines übermäßigen Rückgriffs auf externe Ratings festzuschreiben.

2.4   Der Vorschlag ist im Zusammenhang mit dem am selben Tag vorgelegten „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen“ zu sehen (9). Dort werden neben anderen Punkten weitere Vorschläge gemacht, die den übermäßigen Rückgriff der Marktteilnehmer auf Ratings verhindern sollen, indem die Ratingagenturen verpflichtet werden, den Finanzakteuren umfassende Informationen zur Verfügung zu stellen. Hierzu gehören Informationen über die Ratingmethoden, die ihnen zugrunde liegenden Annahmen und die Ratingarten. Andererseits sollen die Emittenten strukturierter Finanzinstrumente dem Markt mehr Informationen über ihre Produkte zur Verfügung stellen (Kreditqualität, Wertentwicklung der zugrunde liegenden Werte, Struktur des Verbriefungsgeschäfts, unterlegte Cashflows etc.). Zusammen gesehen, sollen es die Änderungen der CRA-Verordnung den OGAW und AIF erleichtern, eigene Bewertungen der Kreditqualität der Instrumente zu erstellen. Beide Vorschläge können daher nicht isoliert voneinander gesehen werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der Vorschlag der Kommission betrifft einen einzelnen Aspekt aus den Regulierungsdefiziten bei Ratingagenturen, nämlich die Auswirkungen der Ratings auf das Handeln der Finanzmarktakteure und die Konsequenzen dieses Handelns auf die Märkte. Der Vorschlag ist Ergebnis einer Analyse der Ursachen der Krisen der letzten Jahre. Ratingagenturen spielten dabei eine mitursächliche Rolle. Sie treffen Aussagen über die Zahlungsmöglichkeit und Zahlungsbereitschaft eines Gläubigers, seien es private Gläubiger, seien es Staaten. Sie haben einen maßgeblichen Einfluss auf die globalen Finanzmärkte, da viele Finanzakteure (OGAW, AIF, Kreditinstitute und Versicherungen) in ihren Anlageentscheidungen auf Ratings angewiesen sind. Der Ausschuss hat sich in den letzten Jahren – zuletzt durch die Stellungnahme vom 12.3.2012 (10) – wiederholt mit den Defiziten in der Regulierung der Ratingagenturen befasst und dabei klare Positionen bezogen, die auch dieser Stellungnahme zugrunde liegen und auf die verwiesen wird.

3.2   Spätestens die Krisen der letzten Jahre haben zum einen deutlich gemacht, dass Fehleinschätzungen von Ratings einen erheblichen schädlichen Einfluss auf weite Wirtschaftsbereiche, ja ganze Staaten und die Gesellschaft insgesamt haben können. Sie haben zum anderen aber auch gezeigt, dass die Märkte nicht in der Lage waren, Auswüchse zu verhindern. Es bedarf daher einer strengen und konsequenten staatlichen Regulierung der Ratingagenturen. Dabei muss die Regulierung auf Ebene der EU in Anbetracht des globalen Umfelds auf Ebene der G-20 mit dem Ziel unterstützt werden, weltweit eine Mindestkohärenz der Regeln sicherzustellen. Es ist unabdingbar (11), dass bei der Erstellung der Ratings als Mindestmaßstab die Grundsätze der Integrität, Transparenz, Verantwortung und gute Unternehmensführung gesichert sind und gewahrt bleiben.

3.3   Der Ausschuss bestätigt, dass in den letzten Jahren – wenn auch sehr spät – in der Regulierung der Ratingagenturen wesentliche Fortschritte erzielt worden sind. Wenn nunmehr durch den Änderungsvorschlag zur CRA – Verordnung vom 15.11.2011 (12) auch die Problemfelder „Rating-Outlooks“, „Unabhängigkeit der Ratingagenturen“, „Offenlegung von Informationen“, „Länderratings“, „Vergleichbarkeit von Ratings“, „turnusmäßiger Wechsel von Ratingagenturen“, „zivilrechtliche Haftung“ und „Verwendung externer Ratings“ in den Regulierungsvorschriften für Ratingagenturen angegangen werden, ist dies zu begrüßen. Der Ausschuss hat hierzu Stellung genommen (13) und konkrete Hinweise gegeben. Enttäuschend ist jedoch, dass die Problemfelder Marktdominanz der großen Ratingagenturen und alternative Zahlungsmodelle nicht ausreichend angegangen worden sind.

3.4   Der Vorschlag adressiert nun – flankierend – auch auf Ebene der OGAW und der AIF das Problem der automatischen, unreflektierten Übernahme externer Ratings, das – wie es der Vorschlag ausdrückt – zu einem Herdenverhalten der Finanzakteure oder – wie es in der Stellungnahme des Ausschusses umschrieben worden ist (14) – zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) führen kann. In diesem Punkt überschneidet sich der Vorschlag mit den am gleichen Tag vorgeschlagenen Änderungen der CRA-Verordnung. Dieser „doppelte Ansatz“ ist konsequent. Bei den Finanzmarktakteuren, die Adressaten des (externen) Ratings sind, ist der „Automatismus“ zu unterbinden oder doch einzuschränken, in der Regulierung der Ratingagenturen ist sicherzustellen, dass sie im notwendigen Umfang transparent sind und die notwendigen Informationen den Marktteilnehmern bereitstellen.

3.5   Es darf nicht übersehen werden, dass die OGAW und AIF eine eigene Verantwortung zur Vermeidung von „Herdenverhalten“ und „Kaskadeneffekten“ tragen. Soweit ihre Risikomanagementsysteme derartige Wirkungen zulassen, sind sie Teil des Problems. Der EWSA stimmt in dieser Bewertung der Kommission ausdrücklich zu. Es wird daher auch bei der Umsetzung des hier zu beurteilenden Vorschlags vor allem darauf ankommen, dass die delegierten Rechtsakte den Willen des Gesetzgebers auch zielführend umsetzen. Zudem ist jegliche finanzielle Regulierung nur so gut wie die letztendliche Umsetzung in der Aufsichtspraxis.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Es ist unbestreitbar, dass eine mechanische, automatische, ungeprüfte Übernahme externer Ratings zu Parallelverkäufen entsprechender Titel führt oder führen kann und damit Schocks auf den Märkten ausgelöst werden können, die die Finanzstabilität gefährden. Dies ist auch das Ergebnis der umfassenden externen Konsultationen der Kommission (15), der nicht legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2011 (16) und der Grundsätze des Rats für Finanzstabilität (Financial Stability Board, FSB) (17).

4.2   Zur Durchbrechung dieses Automatismus ist eine Reihe von Maßnahmen erforderlich. Zunächst ist sicherzustellen, dass alle Möglichkeiten genutzt und weiterentwickelt werden, dass auch alternative Bonitätsstandards zu den Ratings der großen Agenturen eingesetzt werden. Zugleich sind die bestehenden aufsichtsrechtlichen Regeln zu prüfen, die auf gesetzlicher Grundlage oder durch behördliche Anordnungen einen Automatismus zwischen externem Rating und Bewertung, wie etwa auch bei Kreditinstituten und Versicherungen erzeugen. Und in gleichen Maßnahmen sind in den Risikomanagementsystemen der Finanzakteure bestehende Automatismen zu durchbrechen. Insgesamt gesehen ist es generell erforderlich, im Unionsrecht und den nationalen Rechtsnormen sicherzustellen, dass keinerlei Vorschriften erhalten bleiben, die den beschriebenen Automatismus bewirken. Ebenso ist zu regeln, dass auch privatrechtliche Vereinbarungen unwirksam sind, die einen solchen Automatismus vorsehen. Des Weiteren bedürfen die Finanzakteure hinreichender Informationen, die ihnen eigene Bewertungen erleichtern.

4.3   Der Vorschlag enthält als allgemeine Vorgabe die notwendige Präzisierung für die Ausgestaltung der Risikomanagementsysteme der OGAW und AIF. Dieser Ansatz ist grundsätzlich richtig. Er wird allerdings erst durch die entsprechenden delegierten Rechtsakte mit Leben erfüllt, sodass die wesentlichen Arbeiten zur Unterbindung von Fehlsteuerungen durch den Automatismus in der Übernahme externer Ratings erst noch zu leisten sind.

4.4   Praktisch wird eine vollständige Rückführung externer Ratings nicht umsetzbar sein. Erforderliche Kapazitäten wie auch die notwendige Expertise und Erfahrung, die ein externes Rating ersetzen, sind aktuell nur sehr eingeschränkt vorhanden. Gerade kleine Finanzinstitute verfügen nicht immer über die notwendigen Mittel, um eigene Analyseeinheiten aus- oder aufzubauen. Neben der Möglichkeit einer verstärkten internen Risikobewertung und der dadurch gewonnenen Unabhängigkeit von externen Ratingagenturen wird wiederholt die Forderung erhoben, für kleine und mittlere Unternehmen Möglichkeiten zu schaffen, die Risikoanalyse auszulagern. Durch einen erleichterten Zugang zu externen Informationen kann sicherlich für spezielle Märkte im Wege der Kooperation Fachwissen aufgebaut und eine stärkere Kosteneffizienz erzeugt werden. Dies würde gerade auch kleine und mittlere Unternehmen in die Lage versetzen, eine stärkere Unabhängigkeit gegenüber Ratingagenturen zu erreichen. Entsprechende Maßnahmen sind zu begrüßen. Der Ausschuss ist jedoch dezidiert der Auffassung, dass die eigentliche Entscheidung über die Kreditwürdigkeit eines Engagements stets bei dem Unternehmen verbleiben muss, also nicht ausgelagert werden darf.

4.5   Der EWSA sieht, dass die Umsetzung des Vorschlags die Kosten der Regulierung durch den Ausbau der Risikomanagementsysteme wie etwa den Aus- und Aufbau interner Modelle vermutlich teilweise deutlich erhöhen wird. Im Hinblick auf die drohenden Schäden für die gesamte Gesellschaft ist dieser Weg allerdings alternativlos.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe vor allem ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 117 und ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 37.

(2)  ABl. C 181 vom 21.06.2012, S. 68 vom 29.3.2012 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen“, COM(2011) 747 final – 2011/0361 (COD).

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  Siehe Fußnote 2.

(5)  ABl. L 145 vom 31.5.2011, S. 30.

(6)  Vgl. The Financial Cycle, Factors of Amplifiction and possible Implications for Financial and Monetary Authorities, Banque de France, Bulletin No 95, November 2001, S. 68.

(7)  COM(2010) 301 final; Konsultationspapier der EU-Kommission zur Überarbeitung der CRA-Verordnung, http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/2010/cra_en.htm; Schlussfolgerungen des Rates vom 23. Oktober 2011; Grundsätze des Rats für Finanzstabilität vom Oktober 2010 zur Verringerung des Rückgriffs von Behörden und Finanzinstituten auf externe Ratings.

(8)  COM(2011) 453 final.

(9)  COM(2011)747 final – 2011/0361 (COD).

(10)  Siehe Fußnote 2.

(11)  Siehe Fußnote 2, dort Ziffer 1.2.

(12)  COM(2011)747 final – 2011/0361 (COD).

(13)  Siehe Fußnote 2.

(14)  Siehe Fußnote 2, dort Ziffer 1.7.

(15)  Siehe Fußnote 6.

(16)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2011 zu den Zukunftsperspektiven der Ratingagenturen (2010/2302 (INI)).

(17)  Siehe Fußnote 6.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union“ (Neufassung)

COM(2012) 64 final — 2012/0027 (COD)

2012/C 229/13

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 7. März 2012 bzw. am 13. März 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 33, 114 und 207 des Vertrags über Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Europäischen Union“ (Neufassung)

COM(2012) 64 final — 2012/0027 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 135 gegen 3 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass eine effiziente Zollunion für den europäischen Integrationsprozess unabdingbar ist, insofern als sie einen wirksamen, sicheren und transparenten freien Warenverkehr gewährleistet und gleichzeitig den bestmöglichen Schutz der Verbraucher und der Umwelt und eine wirksame Betrugs- und Fälschungsbekämpfung in der gesamten Europäischen Union sicherstellt.

1.2   Der Ausschuss fordert deshalb eine gemeinsame Zollpolitik, die auf einheitlichen, aktualisierten, transparenten, effizienten und vereinfachten Verfahren basiert, zur Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU auf internationaler Ebene beiträgt und den Schutz des geistigen Eigentums sowie der Rechte und der Sicherheit der europäischen Unternehmen und Verbraucher gewährleisten kann.

1.3   Vor diesem Hintergrund begrüßt der Ausschuss den von der Europäischen Kommission angenommenen Verordnungsvorschlag für eine Neufassung der Verordnung (EG) Nr. 450/2008 vom 23. April 2008 und hofft, dass damit feste Fristen, eine einheitliche Auslegung, ausführliche Informations- und Schulungsmaßnahmen sowie angemessene Finanzressourcen auf nationaler und gemeinschaftlicher Ebene gewährleistet werden.

1.4   In Bezug auf die Befugnisübertragung und die Übertragung von Durchführungsbefugnissen befürwortet der EWSA selbstverständlich die Anpassung der Kodexbestimmungen an den Vertrag von Lissabon, unter Gewährleistung des ordnungsgemäßen Gleichgewichts zwischen Parlament und Rat, so dass die beiden Institutionen in Bezug auf die delegierten Rechtsakte nunmehr gleichgestellt sind.

1.5   Für ebenso erforderlich und wichtig hält der Ausschuss die Einführung von Modernisierungsmaßnahmen wie die Vereinfachung des Zollrechts und die Schaffung interoperabler computergestützter Zollsysteme, die zu einer Vereinfachung der Handelspraktiken und einer besseren Koordinierung der Tätigkeit im Bereich der Prävention und Strafverfolgung beitragen werden.

1.6   Der Ausschuss bringt seine Besorgnis über die Möglichkeit einer unterschiedlichen nationalen Auslegung der EU-Zollvorschriften zum Ausdruck, was zu erheblichem bürokratischem Aufwand für Unternehmen – insbesondere für die kleineren – führen würde und negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit Europas hätte.

1.7   Vor diesem Hintergrund befürwortet der EWSA nachdrücklich die zentrale Zollabwicklung mithilfe angemessener elektronischer Systeme, eine systematische Anwendung standardisierter Arbeitsmethoden, eine Modellierung der Geschäftsprozesse, die Verbreitung aller Initiativen im Zusammenhang mit dem elektronischen Zollwesen sowie die versuchsweise Schaffung eines europäischen Soforteinsatzteams zur Unterstützung der innovativen Prozesse.

1.8   Der Ausschuss hält es für zweckmäßig, die die Einführung des Kodex aufzuschieben, damit genügend Zeit bleibt für die Entwicklung harmonisierter elektronischer Systeme und für die Optimierung der Organisation der Zollabwicklung an den Außengrenzen der EU, insbesondere aber für die Durchführung angemessener Informations- und Schulungsmaßnahmen für die Humanressourcen, um so den internationalen Handel und den reibungslosen Personen- und Warenverkehr zu fördern.

1.9   Nach Auffassung des EWSA ist eine engere Zusammenarbeit zwischen den Zollverwaltungen, den Marktüberwachungsstellen, den Dienstellen der Kommission und den europäischen Agenturen erforderlich, um eine bessere Kontrolle der Qualität der die Grenze überschreitenden Güter zu gewährleisten.

1.10   Der Ausschuss betont, dass die Qualität der Dienstleistungen für die Wirtschaftsbeteiligten und andere Interessenträger verbessert werden muss, und empfiehlt der Kommission, durch konkrete Vorteile und vereinfachte Verfahren die Beteiligten zur Beantragung des Status eines zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten zu animieren.

1.11   Der Ausschuss betont nachdrücklich die Notwendigkeit gemeinsamer Informations- und Weiterbildungsmaßnahmen für Zollbeamte, Wirtschaftsbeteiligte und Zollagenten, um eine einheitliche Anwendung und Auslegung der Vorschriften und einen besseren Schutz der Verbraucher sicherzustellen. Zweckmäßig ist in diesem Zusammenhang auch der Ausbau von Jean-Monnet-Lehrstühlen für europäisches Zollrecht in enger Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungszentren in der gesamten EU.

1.12   Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass die Kapazitäten und Fähigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten aufgewertet werden müssen, mit dem Ziel, eine europäische Zollhochschule einzurichten, die zur Förderung der Spitzenleistung der Zollbeschäftigten und damit langfristig zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Zollwesens beitragen kann.

2.   Gegenwärtiger Hintergrund

2.1   Das Zollwesen ist in Bezug auf die Gewährleistung von Sicherheit, den Schutz der Verbraucher und der Umwelt, die Sicherstellung der vollständigen Erhebung von Einnahmen, die Intensivierung der Betrugs- und Korruptionsbekämpfung und die Sicherstellung des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums von wesentlicher Bedeutung. Die Einfuhr nachgeahmter Waren in die EU geht mit Einnahmeeinbußen einher, verstößt gegen die Rechte des geistigen Eigentums und birgt große Risiken für die Sicherheit und die Gesundheit der europäischen Verbraucher.

2.2   Die Zollkodex der Gemeinschaft von 1992, der heute noch gilt, wird im Rahmen von Verfahren umgesetzt, die oftmals noch papiergestützt abgewickelt werden. Dabei wurde schon vor geraumer Zeit die elektronische Zollabfertigung mithilfe von nationalen computergestützten Systemen auf den Weg gebracht. Eine gemeinschaftliche Auflage zur Verwendung eines solchen Systems gibt es jedoch nicht.

2.3   In der Zwischenzeit hat das Zollwesen infolge der Ausweitung der Handelsströme und anderer Faktoren im Zusammenhang mit der Sicherheit von Produkten und den neuen Informationstechnologien, die den Binnenmarkt auch dank der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Änderungen wettbewerbsfähiger machen, an Bedeutung gewonnen.

2.4   2008 wurde der modernisierte Zollkodex (1) (MZK) verabschiedet, um den zunehmenden Handelsströmen, dem neuen Risikomanagement und dem Schutz und der Sicherheit des legalen Handels Rechnung zu tragen und um eine gemeinsame IT-Umgebung für den Zoll und den Handel zu schaffen.

2.5   Die Vorschriften des MZK sind bereits in Kraft. Deren tatsächliche Umsetzung bedarf jedoch Durchführungsvorschriften, die bis zum 24. Juni 2013 erlassen werden sollen. Diese Frist kann jedoch aus technischen und praktischen Gründen sowie aufgrund von komplexen rechtlichen, IT-bezogenen und operationellen Faktoren nicht eingehalten werden.

2.6   In seinen früheren Stellungnahmen zu diesem Thema hat der EWSA bereits darauf hingewiesen, dass „diese Fristen […] etwas zu optimistisch [sind]“ (2), und dass „das Fehlen von Durchführungsvorschriften, für deren Erarbeitung ebenfalls die Kommission zuständig ist, zur Zeit bei verschiedenen Bestimmungen Raum für gewisse Unsicherheiten gibt“ (3). Er ist jedoch nach wie vor der Auffassung, dass „es sich die Zollunion, die die Speerspitze der europäischen Wirtschaftsintegration war, heutzutage nicht ohne Folgen leisten [kann], gegenüber dem internationalen Handel […] in Rückstand zu geraten“ (4).

2.7   In Bezug auf die Finanzressourcen bekräftigt der Ausschuss seinen Standpunkt aus der jüngsten Stellungnahme zum Vorschlag zur Einrichtung eines Aktionsprogramms für Zoll und Steuern in der Europäischen Union für den Zeitraum 2014-2020 (FISCUS) (5). Wie der EWSA bereits bei vielen Gelegenheiten (6) angeregt hat, sollte dies allerdings „erst der Anfang […] einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen allen Agenturen, nationalen wie europäischen, [sein], die mit der Bekämpfung von Betrug und Verbrechen wie Geldwäsche, organisierter Kriminalität, Terrorismus und Schmuggel befasst sind“.

2.8   Da in den letzten Jahren zwei unterschiedliche Programme entwickelt wurden (Zoll 2013 und Fiscalis 2013), die jetzt in einem einzigen Programm – FISCUS – zusammengeführt worden sind, ist der Ausschuss der Auffassung, dass der „wichtigste positive Aspekt eines solchen Programms“ – „das Gewicht, das dem menschlichen Faktor beigemessen wird“ –, beibehalten werden muss.

„Es muss dafür gesorgt werden, dass die nationalen Zoll- und Steuerverwaltungen gut genug ausgestattet sind, um den Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts gerecht zu werden.

Für die Bereiche Zoll und Steuern muss ein stets aktuelles und effizientes IT-System zur Verfügung stehen. Dazu gehören auch Elemente wie der Modernisierte Zollkodex (MZK).

Der Ausschuss erwartet eine eingehendere Bewertung der Auswirkungen auf den Haushalt der EU und die Haushalte der Mitgliedstaaten“ (7).

2.9   Für die Modernisierung des Zollwesens sind Finanzressourcen erforderlich, die den Verfahren und Prozessen im Zusammenhang mit den Zolltätigkeiten gerecht werden, insbesondere der Schaffung elektronischer Systeme und der Schulung des betreffenden Personals.

2.10   Die Ziele des neuen Verordnungsvorschlags entsprechen weiterhin denen der Verordnung (EG) Nr. 450/2008, die Gegenstand einer Neufassung ist, und stehen im Einklang mit den bestehenden politischen Maßnahmen im Bereich des Handels mit Waren, die in die und aus der EU verbracht werden. Zu diesen Zielen hat der Ausschuss bereits Stellung genommen (8).

2.11   In seinem Bericht vom 1. Dezember 2011 über die Modernisierung der Zollverfahren (9) hat sich das Europäische Parlament mit folgenden Problemen befasst: Zollstrategie, Instrumente für Wettbewerbsfähigkeit und Risikomanagement, einzige Anlaufstelle, Harmonisierung der Zollkontrollsysteme und Sanktionen, Verfahrensvereinfachungen, finanzielle Interessen, Rechte des geistigen Eigentums und verstärkte Zusammenarbeit.

2.12   In ihrem Fortschrittsbericht zur Strategie für die weitere Entwicklung der Zollunion (10) hat die Kommission wiederum darauf hingewiesen, dass folgende Aspekte unerlässlich sind:

ein breiterer strategischer Ansatz für die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und internationalen Partnern in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz;

Verbesserung und Aktualisierung der Governance in Hinblick auf Strukturen und Arbeitsmethoden und ein stärker unternehmensorientierter Ansatz für die Verfahren der Zollunion;

gemeinsame Nutzung und Bündelung von Kapazitäten und Fähigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission, um im Rahmen des Programms FISCUS die Effizienz und Einheitlichkeit zu erhöhen und Skaleneffekte zu erzielen;

Festlegung einer Grundlage für die Leistungsmessung und -bewertung (Ergebnisse und Leistungen), um zu gewährleisten, dass die Zollunion ihre Ziele erreicht und um Schwachstellen oder Lücken zu erkennen.

2.13   Der Rat schließlich hat in seiner Entschließung vom 13. Dezember 2011 (11) beschlossen, eine Strategie für die künftige Zusammenarbeit festzulegen, damit die Maßnahmen bestimmt werden können, die getroffen werden müssen, um die Zusammenarbeit im Zollwesen und die Zusammenarbeit mit anderen Behörden weiter zu verbessern und die Funktion des Zolls als der maßgeblichen Stelle für die Überwachung des Warenverkehrs im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verstärken und einen wirksameren Schutz der Unionsbürger zu gewährleisten.

3.   Der Vorschlag der Kommission

3.1   Die Kommission schlägt vor, die Verordnung (EG) Nr. 450/2008 (modernisierter Zollkodex) durch eine Neufassung der Verordnung zu ersetzen, die

eine Angleichung an den Vertrag von Lissabon umfasst,

eine Anpassung an die praktischen Aspekte und Entwicklungen in der Zollgesetzgebung und in anderen für den Warenverkehr zwischen den EU-Ländern und Drittländern relevanten Politikbereichen bewirkt und

ausreichend Zeit für die Entwicklung von unterstützenden IT-Systemen bietet.

3.2   Durch die Neufassung der Verordnung (EG) Nr. 450/2008 werden die Rechtsvorschriften, unterstützt durch eine optimale Architektur und Planung für IT-Entwicklungen, besser auf bestehende Geschäftspraktiken abgestimmt und gleichzeitig alle Vorteile der Verordnung, die Gegenstand einer Neufassung ist, vereint, namentlich die Vereinfachung der Verwaltungsverfahren für Behörden (der EU und der Mitgliedstaaten) und private Akteure.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Neufassung der Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung eines modernisierten Zollkodex der Gemeinschaft.

4.2   Der Ausschuss unterstützt den neuen Vorschlag zwar, ist jedoch gleichzeitig der Auffassung, dass folgende Aspekte gewährleistet werden müssen:

verbindliche Fristen für die Umsetzung der Durchführungsvorschriften, um weitere Neufassungen und Aufschübe zu vermeiden;

einheitliche Auslegung der zollrechtlichen Vorschriften der EU, die mit Blick auf die Schaffung eines einheitlichen europäischen Zollwesens als eine einzige Verwaltung handeln muss;

gleiche Kontrollniveaus und einheitliche Behandlung der Wirtschaftsbeteiligten im gesamten Zollgebiet der EU mit standardisierten Kontrollpaketen, Vollendung der einzigen Anlaufstelle und Erleichterung des Zugangs zum Status eines zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten;

umfassende Information aller betroffenen Wirtschaftsbeteiligten, um eine homogene und einheitliche Anwendung der neuen Vorschriften und der computergestützten Verfahren auf der Grundlage gemeinsamer Standards zu gewährleisten, die die vollständige Interoperabilität sicherstellen;

qualitativ hochwertige Schulungsmaßnahmen für Zollbedienstete und Wirtschaftsbeteiligte im Rahmen europäischer Plattformen und Standards, um den Grad an Professionalität und Verantwortung zu erhöhen, wobei angemessene Kontrollen auf der Grundlage europäischer Qualitätsparameter zum Einsatz kommen sollen;

angemessene nationale und gemeinschaftliche Finanzmittel zur Umsetzung von spezifischen Programmen wie FISCUS und gemeinschaftlichen Programmen zur Förderung der lebenslangen Lernens, die auch auf die sprachliche Vorbereitung und die IKT ausgerichtet sind, sowie zur Unterstützung von Jean-Monnet-Lehrstühlen;

gemeinsame Nutzung und Bündelung von Kapazitäten und Fähigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene, um eine europäische Zollhochschule einzurichten, die die Spitzenleistung im Zollwesen fördern kann.

4.3   Nach Auffassung des Ausschusses sind diese Aspekte in Bezug auf die Bildung und die gemeinsamen Initiativen im IT-Bereich besonders wichtig, um hohe Interoperabilitätsstandards der Zollsysteme sicherzustellen und ein gemeinsames europäisches Zollcorps zu schaffen, das sich durch hohe Qualifikationen und einheitliche Arbeitsstandards auszeichnet.

4.4   Die bereits getätigten erheblichen Investitionen in die Entwicklung computergestützter und interoperabler Zollsysteme konnten bislang nicht zum Abbau der Unterschiede bei den Rechtsvorschriften und der Datenverwendung beitragen: Im Rahmen der im Kommissionsvorschlag vorgegebenen Fristen gilt es nunmehr, energischere Harmonisierungsanstrengungen zu unternehmen und einem „europäischen Zollcorps“ konkrete Gestalt zu verleihen, das als Grundlage für das vom Ausschuss befürwortete Ziel der Einrichtung eines einheitlichen europäischen Zollwesens dienen würde.

4.4.1   Im Hinblick auf eine einheitliche Anwendung der neuen Verordnung schlägt der EWSA vor, versuchsweise ein europäisches Soforteinsatzteam zu bilden, das die qualifizierte und beschwerliche Arbeit der Zollstellen, insbesondere an den Außengrenzen, unterstützen sollte.

4.5   Der EWSA bekräftigt, dass „die gemeinschaftliche Zollverwaltung zu den langfristigen Zielen der Union zählen muss. Dank einer solchen Verwaltung würde der Zoll einfacher, zuverlässiger und kostengünstiger werden. Dadurch wäre auch die Zusammenschaltung mit anderen Systemen in der EU und in Drittstaaten möglich.“ (12)

4.6   Der Ausschuss betont, dass aktualisierte Leitlinien für Einfuhrkontrollen im Bereich der Produktsicherheit und eine öffentliche Datenbank bezüglich gefährlicher vom Zoll abgefangener Waren von großer Bedeutung sind.

4.7   Die Kommission sollte die Bemerkungen des EWSA berücksichtigen, die er in seiner Stellungnahme vom 13. Dezember 2007 zum bereichsübergreifenden Rechtsrahmen (13) in Bezug auf die Notwendigkeit der Verbesserung der Koordinierung und der Ausweitung der Marktüberwachung formuliert hat.

4.8   Hinsichtlich des Rechtsschutzes im EU-Markt sollten die Vorschriften zu neuen Systemen ausgestaltet werden, mit denen die Herkunft der Erzeugnisse festgestellt werden kann und ihre Rückverfolgbarkeit garantiert wird, um so die Verbraucher besser zu informieren und die Präventivmaßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten und Betrug im Zollwesen zu verstärken.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Vgl. ABl. L 145 vom 4.6.2008, S. 1.

(2)  Vgl. ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 47.

(3)  Vgl. ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 22.

(4)  Vgl. ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 78.

(5)  Vgl. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 48.

(6)  Vgl. Stellungnahmen des EWSA „Mehrwertsteuer/Betrugsbekämpfung“, ABL. C 347 vom 18.12.2010, S. 73; „Förderung des verantwortungsvollen Handelns im Steuerbereich“, ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 61; „Steuerbetrug bei der Einfuhr“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 112; „Beitreibung von Steuerforderungen“ und „Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 120.

(7)  Siehe Fußnote 5.

(8)  Siehe Fußnote 2.

(9)  Vgl. Entschließung des EP vom 1.12.2011 (2011/2083/INI).

(10)  Vgl. COM(2011) 922 vom 20. Dezember 2011.

(11)  Vgl. ABl. C 5 vom 7.1.2012, S. 1.

(12)  ABl. C 318 vom 13.9.2006, S. 47.

(13)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG)“

COM(2011) 735 final

2012/C 229/14

Berichterstatter: Cristian PÎRVULESCU

Die Europäische Kommission beschloss am 15. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG)

COM(2011) 735 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 131 gegen 5 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Sowohl im Stockholmer Programm als auch im Europäischen Pakt für Einwanderung und Asyl wird die Familienzusammenführung als ein Bereich angesehen, in dem die EU weitere Maßnahmen ergreifen sollte, und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Integration. 2003 wurden gemeinsame EU-Einwanderungsvorschriften angenommen, die die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen auf EU-Ebene regeln.

1.2   In der Richtlinie ist festgelegt, unter welchen Bedingungen Familienangehörige aus Ländern außerhalb der EU einem aus einem Land außerhalb der EU stammenden Staatsangehörigen nachziehen können, der sich bereits rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, und welche Bedingungen für ihre Einreise und ihren Aufenthalt gelten. Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf EU-Bürger.

1.3   In ihrem ersten Bericht über die Anwendung der Richtlinie (COM(2008) 610 final) machte die Kommission sowohl innerstaatliche Umsetzungsprobleme wie auch Mängel in der Richtlinie selbst aus.

1.4   Die Kommission hielt eine öffentliche Debatte über die Familienzusammenführung für erforderlich, bei der bestimmte Aspekte im Rahmen der Anwendung der Richtlinie herausgestellt werden, die Thema dieses Grünbuchs sind. Alle Interessenträger sind aufgefordert, darüber nachzudenken, wie wirkungsvollere Regeln zur Familienzusammenführung auf EU-Ebene eingeführt werden können.

1.5   Je nach Ausgang der Konsultation wird die Kommission entscheiden, ob konkrete politische Folgemaßnahmen erforderlich sind (z.B. Änderung der Richtlinie, Auslegungsleitlinien oder Beibehaltung der Richtlinie).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Der EWSA bewertet die Initiative der Europäischen Kommission zur Durchführung einer breiten öffentlichen Konsultation über die Richtlinie zur Familienzusammenführung positiv. Als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft bietet der EWSA seine Hilfe für die Durchführung dieser Konsultationen an und gibt eine auf seiner Erfahrung beruhende Stellungnahme ab.

2.2   Der EWSA beobachtet mit Sorge, dass die Debatte über Einwanderungsfragen vor dem aktuellen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund äußerst brisant ist. Die Wirtschafts- und Finanzkrise schwächt die zwischenmenschliche Solidarität und führt zu einer Radikalisierung des politischen Diskurses und Handelns. Aufgrund der demographischen und wirtschaftlichen Perspektiven der Europäischen Union muss sie sich für Drittstaatsangehörige öffnen, die in Europa leben wollen. Die europäische Gesellschaft muss unabhängig von den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt eine offene Gesellschaft bleiben. Die durchaus notwendige Debatte über die Familienzusammenführung im Rahmen der Einwanderungspolitik kann aber dazu führen, dass bestehende Vorschriften und Praktiken in Frage gestellt werden, die größtenteils wichtige Schritte zur Verwirklichung der Ziele dieser Politik darstellen.

2.3   Der EWSA befürwortet diese Debatte und wird sich darüber hinaus darum bemühen, dass die Stimme der organisierten Zivilgesellschaft die politischen Entwicklungen in diesem Bereich positiv beeinflusst. Welche die politischen oder wirtschaftlichen Herausforderungen auch sein mögen, vor denen die europäische Gesellschaft steht: Die Grundlagen des europäischen Einigungswerk – und insbesondere die Achtung der Grundrechte – müssen bewahrt und gestärkt werden.

2.4   Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Europäische Kommission sich für die Standpunkte der Zivilgesellschaft und der akademischen Kreise interessiert, die sich mehrmals kritisch zu Inhalt und Anwendung der Richtlinie geäußert haben. In diesem Zusammenhang erwähnt er die positive Rolle des Europäischen Integrationsforums, das den strukturierten Dialog zwischen den europäischen Institutionen und den verschiedenen Akteuren fördert, die sich mit Migrations- und Integrationsfragen beschäftigen.

2.5   Nach Ansicht des EWSA ist es notwendig, dass sich die Debatte über die Richtlinie und deren Auswirkungen auf die praktischen Modalitäten der Umsetzung richtet und dass erst in einer späteren Phase nach einer erneuten Konsultation der entsprechenden Akteure festgelegt wird, in welcher Form und mit welchen Instrumenten eingegriffen wird.

2.6   Im Rahmen der Debatte über die Richtlinie müssen die zahlreichen internationalen Verträge und Übereinkommen zur Achtung des Privat- und Familienlebens berücksichtigt werden, insbesondere hinsichtlich der Kinder. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist ein Grundrecht und muss als ein solches angesehen werden, und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person. Es wird direkt oder indirekt in einer Reihe von Dokumenten anerkannt, etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 12, 16 und 25), dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 7), der europäischen Grundrechtecharta (Artikel 8, 9, 24 und 25) und der Europäischen Sozialcharta (Artikel 16).

2.7   Angesichts der Menge der empirischen Daten zur Familienzusammenführung hält der EWSA eine Überarbeitung der Richtlinie für notwendig und zweckmäßig, um diese auch mit den technologischen Mitteln in Einklang zu bringen, die im Verlauf der Verfahren zur Verleihung von Aufenthaltstiteln eingesetzt werden können (z.B. DNA-Tests). Im Übrigen sollte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs berücksichtigt werden.

2.8   Obwohl es viele einschlägige Angaben zur Einwanderung gibt, stellt der EWSA fest, dass bei besonders brisanten Themen wie Betrug und Zwangsheiraten keine Angaben vorliegen, die als Grundlage für eine Ausarbeitung entsprechender Maßnahmen ausreichen. Er empfiehlt außerdem, das Zusammentragen insbesondere qualitativer Angaben in solch brisanten und wichtigen Bereichen fortzusetzen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Anwendungsbereich. Wer kann als Zusammenführender gelten?

Frage 1

Sind diese Kriterien (begründete Aussicht auf das Recht auf dauerhaften Aufenthalt zum Zeitpunkt der Antragstellung gemäß Artikel 3 und eine Wartefrist bis zur konkreten Familienzusammenführung gemäß Artikel 8) der richtige Ansatz und die beste Art zu bestimmen, wer als Zusammenführender anerkannt werden kann?

3.1.1   Der EWSA hält das Kriterium der „begründeten Aussicht“ aus rechtlicher Sicht für viel zu vage, was zu einer restriktiven Auslegung desselben führen könnte. Er empfiehlt daher, die Bedingung, dass die Person einen Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeit haben muss, beizubehalten, die andere Bedingung in Bezug auf die „begründete Aussicht“ jedoch zu streichen.

3.1.2   Gleicherweise kann die Mindestwartefrist ein Problem darstellen. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist ein Grundrecht. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Wahrung dieses Rechts dem Zusammenführenden im Sinne der Richtlinie die Möglichkeit geben muss, das Verfahren zur Familienzusammenführung ab dem Zeitpunkt des Erhalts des Aufenthaltstitels einleiten zu können, und dass der Mindestzeitraum bezüglich des rechtmäßigen Aufenthalts gestrichen werden muss.

3.1.3   Der EWSA stellt fest, dass hinsichtlich ihres Status und des ihnen gewährten Schutzes zwischen hochqualifizierten und weniger qualifizierten Einwanderern unterschieden wird. Er weist jedoch darauf hin, dass die europäische Wirtschaft diese beiden Kategorien in gleichem Maße benötigt und dass aus der jeweiligen Qualifikation keine Unterschiede hinsichtlich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens abgeleitet werden dürfen.

3.2   In Frage kommende Familienangehörige. Zwingende Vorschriften – die Kernfamilie

Frage 2

Ist es legitim, ein Mindestalter für den Ehegatten festzulegen, das nicht dem Volljährigkeitsalter eines Mitgliedstaats entspricht?

Gibt es andere Möglichkeiten, Zwangsheiraten im Rahmen der Familienzusammenführung zu verhindern, und wenn ja, welche?

Gibt es eindeutige Beweise dafür, dass im Zusammenhang mit Zwangsheiraten ein Problem existiert? Wenn ja, wie groß ist das Problem (Belege durch statistische Daten), und hängt es mit den Regeln zur Familienzusammenführung zusammen (Festlegung eines anderen Mindestalters als das Volljährigkeitsalter)?

3.2.1   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Bestimmungen bezüglich des Mindestalters des Ehepartners weder zur Verhinderung von Zwangsheiraten geeignet sind noch im Einklang mit dem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens stehen. Eine Möglichkeit wäre diesbezüglich, nach einer Familienzusammenführung auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats eine Bewertung der Art der Ehe durch Nachforschungen bzw. Gespräche durchzuführen. Zur Verbesserung der Aussichten auf eine erfolgreiche Aufdeckung von Zwangsheiraten, von denen quasi ausschließlich Frauen betroffen sind, empfiehlt der EWSA, ein System von Anreizen einzuführen für Personen, die zugeben, zwangsverheiratet worden zu sein. Eine der entsprechenden Lösungen kann darin bestehen, den betreffenden Personen einen Aufenthaltstitel für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr zu verleihen. Dem EWSA liegen keine eindeutigen Beweise bezüglich der Existenz von Zwangsheiraten vor; er empfiehlt, die Europäische Kommission und andere spezialisierte Organe an der Sammlung aussagekräftiger Angaben zu beteiligen.

Frage 3

Halten Sie es für zweckmäßig, jene Stillstandsklauseln, die von den Mitgliedstaaten nicht angewandt werden, z. B. diejenige betreffend Kinder über 15 Jahre, beizubehalten?

3.2.2   Der EWSA hält es nicht für notwendig, diese beiden Klauseln beizubehalten. Von der ersten Klausel bezüglich der Bedingungen für die Integration von Kindern über 12 Jahre hat lediglich ein Mitgliedstaat Gebrauch gemacht. Außerdem besteht die Gefahr, dass die notwendigen Bedingungen für die Integration uneinheitlich und willkürlich festgelegt werden, was sich auf die Rechte der besonders schutzbedürftigen Personen – z.B. Minderjährige – auswirken kann. Die zweite Klausel, die sich auf Kinder über 15 Jahre bezieht, kann sich ebenfalls als problematisch erweisen. Von dieser Einschränkung hat kein Mitgliedstaat Gebrauch gemacht. Einen Minderjährigen zu fragen, ob er aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einreist, stellt ein ethisches Problem da, wenn man bedenkt, dass die Familienzusammenführung gemäß eines Rechts stattfindet, das in allen internationalen Übereinkommen zum Schutz der Kinder festgelegt ist.

3.3   Fakultativklausel - andere Familienangehörige

Frage 4

Sind die Regeln für Familienangehörige, die bei der Familienzusammenführung berücksichtigt werden können, angemessen, und sind sie weit genug gefasst, um den verschiedenen Definitionen des Begriffs Familie über die Kernfamilie hinaus Rechnung zu tragen?

3.3.1   Diese Bestimmungen sind unzureichend, da es keine einheitliche Definition des Begriffs „Familie“ gibt, die sowohl in den Drittländern als auch in den EU-Mitgliedstaaten anwendbar ist. Auch wenn die EU nicht über eine Rechtsgrundlage für die Definition von „Familie“ verfügt, so kann sie dennoch mit ihren Rechtsvorschriften Diskriminierung verhindern. Die Bestimmungen zur Familienzusammenführung sollten flexibel genug sein, um verschiedenen Arten von auf nationaler Ebene anerkannten Familienstrukturen (einschließlich Verbindungen von Menschen gleichen Geschlechts, Alleinerziehung, eingetragene Partnerschaften) abdecken und weitere Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigen zu können.

3.3.2   Da über die Hälfte der Mitgliedstaaten von der Fakultativklausel Gebrauch gemacht und die Eltern des Zusammenführenden und/oder seines Ehegatten zu den für eine Familienzusammenführung in Frage kommenden Familienangehörigen gezählt haben, hält es der EWSA für nützlich, diese Fakultativklausel beizubehalten. Dadurch können die Mitgliedstaaten, die dies wünschen, auch einen weiteren Personenkreis in die Familienzusammenführung einbeziehen. Hierzu könnten z.B. die Schwiegereltern zählen, die zur emotionalen und intellektuellen Entwicklung der Kleinkinder beitragen.

3.4   Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung – Integrationsmaßnahmen

Frage 5

Dienen diese Maßnahmen wirklich Integrationszwecken? Wie lässt sich dies in der Praxis überprüfen?

Welche Integrationsmaßnahmen sind am wirkungsvollsten?

Halten Sie es für zweckmäßig, diese Maßnahmen auf EU-Ebene genauer festzulegen?

Halten Sie Maßnahmen bereits vor der Einreise für empfehlenswert?

Wenn ja, wie lässt sich gewährleisten, dass sie in der Praxis nicht zu unerwünschten Barrieren für die Familienzusammenführung werden (z.B. unverhältnismäßige Gebühren oder Anforderungen) und individuellen Schwächen (z.B. Alter, Analphabetismus, Bildungsniveau) Rechnung tragen?

3.4.1   Der EWSA hält die Integrationsmaßnahmen für begrüßenswert, sofern diese von ihrer Art und Anwendung her nicht der Familienzusammenführung im Wege stehen, sondern für die Zusammenführenden und den Mitgliedern ihrer Familie von Vorteil sind. Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Integrationsmaßnahmen auf dem Hoheitsgebiet des zur EU gehörigen Aufnahmelandes durchgeführt werden müssen, nicht auf dem Hoheitsgebiet des Drittlandes.

3.4.2   Die Europäische Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen enthält einen Werkzeugkasten („Integration Toolbox“), der eingesetzt werden kann. Der EWSA hält es im Rahmen dieses Werkzeugkastens für notwendig, den Schwerpunkt auf den Spracherwerb sowie auf die formale und nicht formale Bildung zu legen. Der EWSA hat wiederholt daran erinnert, dass Bildung ein zentraler Aspekt der Integration ist. Die Anwendung dieser Werkzeuge muss an die demografischen und sozioökonomischen Besonderheiten der Familie angepasst werden. Es wird empfohlen, die minderjährigen Kinder an den formalen und nicht formalen Unterrichtsprogrammen sowie die Erwachsenen und die älteren Menschen an den Sprachlern- und Berufsqualifizierungsprogrammen sowie an Programmen zur digitalen Integration teilnehmen zu lassen. Diese Maßnahmen können den Familienangehörigen helfen, einen Beitrag zu Wirtschaft und Gesellschaft des Aufnahmelandes sowie des Herkunftslandes zu leisten.

3.4.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass Vorbreitungsmaßnahmen vor Verlassen des Herkunftslandes besser vermieden werden sollten. Idealerweise verfügen die in der EU zusammengeführten Familienmitglieder über Sprachkenntnisse und Grundlagen im Bereich der Kultur und der Bildung, die ihre Integration erleichtern; der Erwerb entsprechender Kenntnisse darf jedoch keine Voraussetzung für eine Familienzusammenführung werden. Abgesehen vom Problem der unerwünschten Barrieren (z.B. Gebühren) kann es auch sein, dass die Mitgliedstaaten der EU und die Drittländer nicht über eine ausreichende institutionelle Infrastruktur verfügen, um diese Vorbreitungsmaßnahmen durchzuführen. Die Durchführung von Integrationsmaßnahmen auf dem Hoheitsgebiet des zur EU gehörigen Aufnahmelandes kann für die Familienangehörigen ein höheres Schutzniveau, eine größere Unterstützung durch die Zusammenführenden und bessere Möglichkeiten zur Integration gewährleisten. Die NRO können eine wichtige Rolle hinsichtlich der Integration einnehmen; die Hauptrolle muss jedoch weiterhin den Behörden zukommen, die hierfür von Rechts wegen zuständig sind und die über die notwendigen Ressourcen verfügen, um die Integration sicherzustellen.

3.5   Wartefrist und Aufnahmefähigkeit

Frage 6

Ist es mit Blick auf die Anwendung der Richtlinie erforderlich und gerechtfertigt, eine solche Ausnahmeregelung zu belassen, die eine Wartefrist von drei Jahren ab Antragstellung vorsieht?

3.5.1   Da lediglich ein Mitgliedstaat von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht hat, erachtet der EWSA eine Beibehaltung derselben nicht für gerechtfertigt. Außerdem müssen bei der Entscheidung über die Verleihung eines Aufenthaltstitels die individuellen Umstände, nicht die Aufnahmekapazität berücksichtigt werden. Die Aufnahmekapazität ist variabel und ergibt sich aus einer Politik, die bei Bedarf geändert werden kann.

3.6   Einreise und Aufenthalt der Familienangehörigen

Frage 7

Sollten besondere Regeln für die Situation vorgesehen werden, in der der Aufenthaltstitel des Zusammenführenden zum Zeitpunkt der Ausstellung des Aufenthaltstitels des Familienangehörigen weniger als ein Jahr gültig ist, aber verlängert werden soll?

3.6.1   Die Aufenthaltstitel der Zusammenführenden und ihrer Familienangehörigen müssen die gleiche Gültigkeitsdauer haben. Vor dem Ablauf aller Aufenthaltstitel könnte zur Vermeidung von voneinander abweichenden Zeiträumen eine gemeinsame Antragstellung für die Familienangehörigen erwogen werden.

3.7   Fragen im Zusammenhang mit Asyl – Ausschluss des subsidiären Schutzes

Frage 8

Sollte die Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, unter die Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung fallen?

Sollten Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, die günstigeren Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung zugute kommen, die von Flüchtlingen nicht die Erfüllung bestimmter Kriterien verlangt (Unterkunft, Krankenversicherung, feste und regelmäßige Einkünfte)?

3.7.1   Der EWSA ist der Ansicht, dass den Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, die günstigeren Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung zugute kommen und sie damit in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen sollten. Die Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, kommen aus Ländern und Regionen der Welt, in denen ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen anerkanntermaßen gefährdet sind. Dadurch wird es umso notwendiger, Schritte zur Vereinheitlichung der beiden Schutzstatus zu unternehmen.

3.8   Weitere Fragen im Zusammenhang mit Asyl

Frage 9

Sollten die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit haben, die Anwendung der günstigeren Bestimmungen auf Flüchtlinge zu beschränken, deren familiäre Bindungen aus der Zeit vor ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stammen?

Sollte Familienzusammenführung für breitere Gruppen von Familienangehörigen, die gegenüber den Flüchtlingen unterhaltsberechtigt sind, vorgesehen werden, und wenn ja, bis zu welchem Grad?

Sollten Flüchtlinge weiterhin nachweisen müssen, dass sie den Anforderungen bezüglich Unterkunft, Krankenversicherung und Einkünften genügen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wird?

3.8.1   Der Ausschuss vertritt den Standpunkt, dass die Definition der Familie keinen Zeitraum als Kriterium beinhalten darf. Einige Personen gründen ihre Familie im Aufnahmemitgliedstaat statt im Herkunftsdrittland. Die Familie muss unabhängig vom Zeitpunkt und Ort ihrer Gründung zusammengeführt werden können. Die Familienzusammenführung sollte dahingehend ausgeweitet werden, dass vielfältigere Kategorien einbezogen werden, etwa Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, oder Geschwister, wobei die mit dem Herkunftsland verbundenen Risikofaktoren und kulturelle Faktoren zu berücksichtigen sind. Zweitens muss die Begrenzung des Zeitraums für die Antragstellung in Bezug auf Familienzusammenführung gestrichen oder so verlängert werden, dass potenzielle Zusammenführende die Möglichkeit erhalten, Kontakt zu ihren zuweilen in abgelegenen Regionen lebenden Familienangehörigen zu aufzunehmen und alle für ihren Antrag notwendigen Dokumente vorzubereiten. Erwogen werden könnte die Festlegung einer Frist je nach Ablaufdatum des befristeten Aufenthaltstitels (z.B. sechs Monate).

3.9   Betrug, Missbrauch, Verfahrensfragen – Befragungen und Nachforschungen

Frage 10

Liegen Ihrem Land eindeutige Beweise für Betrug vor? Wie groß ist das Problem (Statistiken)? Könnten Regeln für Befragungen und Nachforschungen, einschließlich DNA-Tests, Ihrer Meinung nach zur Lösung dieses Problems beitragen?

Halten Sie eine genauere Regelung dieser Befragungen und Nachforschungen auf EU-Ebene für zweckmäßig? Wenn ja, welche Regeln würden Sie in Betracht ziehen?

3.9.1   Dem EWSA liegen keine eindeutigen Beweise für Betrug vor. Er hält die Befragungen und Nachforschungen für berechtigt, solange hierdurch die Inanspruchnahme des Rechts auf Familienzusammenführung nicht verhindert wird.

Der EWSA lehnt DNA-Tests ab. Es handelt sich hierbei zwar um ein aus wissenschaftlicher Sicht zuverlässiges Mittel zum Nachweis einer biologischen Verwandtschaft zwischen verschiedenen Personen; allerdings werden nicht die gesamten emotionalen, sozialen und kulturellen Bindungen berücksichtigt, die zwischen den Mitgliedern einer Familie entstehen können, ohne dass es sich hierbei notwendigerweise um eine biologische Verwandtschaft handeln muss. Im Falle einer Adoption sind DNA-Tests ungeeignet. Außerdem können DNA-Tests sehr delikate Familiensituationen offenlegen (geheim gehaltene Adoptionen, Untreue). Daher widersprechen die DNA-Tests klar dem Recht auf den Schutz der Privatsphäre und können unter Umständen zu persönlichen Dramen führen; es ist unbedingt zu vermeiden, dass das Handeln einer öffentlichen Behörde zum Auslöser solcher Situationen wird. Der EWSA hält es daher für notwendig, Regeln für die Befragungen und Nachforschungen aufzustellen, die sich auf alle bestehenden – juristischen als auch technologischen – Möglichkeiten beziehen. Hierbei könnte sich die Einbeziehung der Grundrechteagentur als sinnvoll erweisen. Der Ausschuss erklärt sich dazu bereit, mit den europäischen Institutionen sowie mit den anderen Institutionen und Organisationen zusammenzuarbeiten, um entsprechende Regeln festzulegen. Darüber hinaus verweist er auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Familienzusammenführung kann nicht wie eine strafrechtliche Frage behandelt werden.

3.10   Scheinehen

Frage 11

Haben Sie klare Anhaltspunkte dafür, dass Scheinehen ein Problem darstellen? Verfügt Ihr Land über Statistiken zu solchen Ehen (falls sie entdeckt werden)?

Hängen die Probleme mit den in der Richtlinie enthaltenen Regeln zusammen?

Ließe sich die Richtlinie in Bezug auf Kontrollen wirkungsvoller anwenden, und wenn ja, wie?

3.10.1   Der EWSA hat keine klaren Anhaltspunkte in Bezug auf Scheinehen. Die künftigen Regeln für die Kontrollen, Überprüfungen und Gespräche können zur Begrenzung dieses Phänomens beitragen. Der EWSA betont, dass diese Regeln in Zusammenarbeit mit der EU-Grundrechteagentur festgelegt werden sollten, um sicherzustellen, dass sie nicht der Wahrung der Grundrechte der betroffenen Personen entgegenstehen.

3.11   Gebühren

Frage 12

Sollten die Verfahrenskosten geregelt werden?

Wenn ja, sollten Schutzklauseln vorgesehen oder genauere Angaben gemacht werden?

3.11.1   Der EWSA hält die Uneinheitlichkeit der Verfahrenskosten für nicht gerechtfertigt. Daher ist es notwendig, eine Obergrenze für diese Kosten festzulegen, damit die Substanz der Richtlinie nicht beeinträchtigt wird. Nach Meinung des EWSA könnte entweder die Festsetzung einer niedrigen einheitlichen Obergrenze oder die Ermittlung der Gesamtkosten je nach Pro-Kopf-Einkommen des Drittlandes bzw. eines anderen Indikators erwogen werden. Da der Antrag auf Familienzusammenführung ein personengebundenes Verfahren ist, könnte es sich lohnen, eine Obergrenze abhängig vom Einkommen jedes Antragstellers festzulegen (z.B. einen Prozentsatz des durchschnittlichen Jahreseinkommens). Minderjährige sollten eine Ermäßigung erhalten oder ganz von der Kostenregelung ausgenommen werden.

3.12   Dauer des Verfahrens – Frist für die Verwaltungsentscheidung

Frage 13

Ist die in der Richtlinie festgesetzte Frist zur Antragsprüfung gerechtfertigt?

3.12.1   Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Richtlinie geändert werden muss, um die Praktiken zu harmonisieren und auf der Ebene der Mitgliedstaaten einheitlich zu halten. Er empfiehlt daher, die Frist von neun auf sechs Monate zu verkürzen.

3.13   Horizontale Klauseln

Frage 14

Wie ließe sich die Anwendung dieser horizontalen Klauseln erleichtern und in der Praxis sicherstellen?

3.13.1   Dem EWSA zufolge können die horizontalen Klauseln – hierbei handelt es sich sowohl um die gebührende Berücksichtigung des Wohls minderjähriger Kinder als auch um die Verpflichtung, jeden Fall einzeln zu prüfen, wodurch auch andere problematische Aspekte der Familienzusammenführung beseitigt werden können – am besten mittels einer Festlegung von spezifischen und einheitlichen Regeln für alle potenziellen Arten der Untersuchungen, Kontrollen und Nachforschungen umgesetzt werden. Diese Regeln müssen verhältnismäßig sein und die Wahrung der Grundrechte gewährleisten.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/77


Stellungnahme der Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)“

COM(2011) 681 final

2012/C 229/15

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Mitberichterstatter: Stuart ETHERINGTON

Die Europäische Kommission beschloss am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)

COM (2011) 681 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 203 gegen 12 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss lobt die Kommission für ihr Engagement zur Förderung der verantwortungsvollen Geschäftspraxis durch eine Reihe politischer Initiativen, die im Paket „Verantwortungsbewusste Unternehmen“ (1) als Teil der Europa-2020-Strategie festgelegt sind.

1.2   Der EWSA stellt fest, dass die Europäische Kommission den freiwilligen Charakter (im Unterschied zum „unverbindlichen“ Charakter) der CSR respektiert, dass sie unterstreicht, dass die Bekanntheit der CSR auf Unternehmensebene gesteigert wurde, und das sie die Notwendigkeit der Flexibilität für die Innovativität von Unternehmen anerkennt.

1.3   Der EWSA stellt fest, dass im neuen Vorschlag die Definition der CSR über den bestehenden Rahmen ausgeweitet wird. Allerdings bleiben darin allzu viele Fragen unbeantwortet. So wurde keine Klarheit geschaffen:

über den Begriff „Unternehmen“, der zur Vermeidung von Missverständnissen so definiert werden sollte, dass er alle privaten, öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Interessenträger erfasst;

über die verschiedenen kulturellen CSR-Ansätze;

über den Unterschied zwischen „social responsibility“ („soziale Verantwortung“, nur am Arbeitsplatz) und „societal responsibility“ („gesellschaftliche Verantwortung“, auch außerhalb des Arbeitsplatzes);

darüber, für welche freiwilligen Tätigkeiten die Meldung verpflichtend ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass alle CSR-Tätigkeiten freiwilliger Natur sind und über rechtliche Anforderungen hinausgehen;

über spezifische Maßnahmen für KMU (in der Mitteilung werden alle Unternehmen über einen Kamm geschoren);

über die Unterscheidung zwischen „CSR“ und „Unternehmensführung“ (corporate governance), wobei es wichtig ist, diese beiden Konzepte auseinanderzuhalten.

1.4   Der Aktionsplan der Kommission spiegelt hauptsächlich die alte (und jetzt aufgegebene) Definition der CSR wider und wirkt wie eine bloße Fortsetzung der Öffentlichkeitsarbeit der letzten zehn Jahre. Ausgehend von der neuen Definition der CSR hätte der Ausschuss eher Pläne erwartet, die sich auf die eigentlich neuen Aspekte der „neuen Strategie“ beziehen: Mit diesen Plänen sollen Unternehmen dazu ermutigt bzw. dabei unterstützt werden, Verantwortung für ihre gesellschaftliche Wirkung zu übernehmen und ihren Anteilseigner zu zeigen, wie sie dieses Ziel zu erreichen versuchen. In Ermangelung solcher Pläne kann der Ausschuss nicht sehr viel zur „neuen Strategie“ sagen; er kann nur feststellen, dass die Kommission beabsichtigt, bis zum Sommer dieses Jahres einen Vorschlag für Rechtsvorschriften über die Transparenz der sozialen und ökologischen Informationen vorzulegen, die Unternehmen in allen Branchen bereitstellen.

1.5   Der EWSA unterstützt die Initiative zur Überarbeitung der Richtlinie (2) aus dem Jahr 2003 und schlägt vor, dass Unternehmen, die die CSR zu einem zentralen Bestandteil ihrer Strategie bzw. ihrer Kommunikation machen, alljährlich – nach nachweisbasierten und transparenten Methoden – soziale und ökologische Informationen vorlegen. Das Ziel ist, nunmehr übliche Verfahren mit international anerkannten Mess- und Bewertungsinstrumenten allgemein zu verbreiten.

1.6   Der EWSA legt Wert auf die Feststellung, dass die CSR-Verfahren auf keinen Fall darauf abzielen dürfen, die nationalen Rechtsvorschriften zu ersetzen oder die Bestimmungen der aus dem sozialen Dialog hervorgegangenen vertraglichen Vereinbarungen einzuschränken. Um eine entsprechende Kontrolle zu gewährleisten, begrüßt der Ausschuss nachdrücklich den Vorschlag zur Einrichtung einer Datenbank zwecks Untersuchung und Überwachung der Inhalte der ausgehandelten transnationalen Abkommen, die zur Regelung der sozialen und ökologischen Aspekte der Globalisierung beitragen.

1.7   Die CSR ist eine sehr wichtige freiwillige Tätigkeit auf dem Experimentierfeld des zivilen Dialogs in einigen Unternehmen, anhand derer die soziale Verantwortung dieser Unternehmen durch externe Interessenträger hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Wirkung bewertet werden kann.

2.   Einleitung

2.1   Am 25. Oktober 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission eine neue Mitteilung mit dem Titel „Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)“. Diese Strategie umfasst einen Aktionsplan für Ziele, die zwischen 2011 und 2014 umgesetzt werden sollen.

2.2   Zwecks Erneuerung der CSR-Politik geht es der Kommission in ihrer Mitteilung darum

die CSR neu zu definieren;

das Vertrauen von Verbrauchern und Bürgern in die europäischen Unternehmen wiederherzustellen;

die CSR zu fördern, indem diese begünstigt und durch den Märkt belohnt wird;

den Regelungsrahmen zu verbessern;

die CSR stärker in Aus- und Weiterbildung sowie Forschung zu integrieren;

europäische und globale CSR-Konzepte besser aufeinander abzustimmen;

den sozialen Dialog und die Transparenz zu fördern; und

eine Datenbank über internationale Rahmenabkommen einzurichten.

2.3   Der vorgeschlagenen erweiterten neuen Definition zufolge ist die CSR „die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“. Sie umfasst zusätzliche Aspekte, die die Unternehmen in ihren CSR-Strategien berücksichtigen sollten. Damit wird die frühere Definition eines Konzepts aktualisiert, „das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“.

2.4   Die Kommission beabsichtigt, sich weiterhin auf international anerkannte Prinzipien und Leitlinien zu stützen, wenn sie mit Mitgliedstaaten, Drittstaaten, Partnerländern und relevanten internationalen Foren zusammenarbeitet und Unternehmen dazu verpflichtet, ihr Engagement für diese Übereinkommen zu verstärken.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die CSR wird von Unternehmen im Rahmen ihrer Geschäftsstrategie entwickelt und ist ein Instrument, das Unternehmen dabei hilft, bei der Bewältigung interner und externer sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Herausforderungen mitzuwirken. Die CSR kann zur Verwirklichung der Europa-2020-Strategie beitragen, wenn sie von Unternehmen im Dialog mit verschiedenen Interessenträger entwickelt und ein nicht auf neue Vorschriften gerichteter Ansatz beibehalten wird.

3.2   Die CSR ist ein Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Durch die Verdienste der CSR sollte die positive Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft, die über rein wirtschaftliche Werte hinausgeht, stärker hervorgehoben werden. Auf keinen Fall dürfen soziale Rechte durch CSR ersetzt werden, die durch vornehmlich in die Zuständigkeit von Staaten und Regierungen fallende legislative, nationale oder internationale Instrumente garantiert sind.

3.3   In einem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Klima bietet die CSR-Initiative die Chance für eine positive Annäherung an die Unternehmen, sofern klar ist, dass sich die CSR auf Anstrengungen von Unternehmen zur Förderung ihrer positiven Wirkung und zur Vermeidung bzw. Verringerung ihrer negativen Wirkung auf die Gesellschaft durch über die gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehende freiwillige Maßnahmen bezieht. Der EWSA weist erneut auf seine Stellungnahme aus dem Jahr 2006 hin, in der er betont hatte, dass die CSR grundsätzlich freiwilliger Natur bleiben muss (nicht zu verwechseln mit „unverbindlich“) (3). Der EWSA ist der Ansicht, dass die Diskussion über die CSR konstruktiv neu gestaltet werden sollte, so dass die Unternehmen als Interessenträger in der Gemeinschaft angesehen werden.

3.4   Bei der Überarbeitung dieser Politik sollte bedacht werden, dass das derzeitige Wirtschaftsklima alle Interessengruppen vor Probleme stellt. Die Strategievorschläge der Kommission sollten die Ziele der Förderung von Wachstum als wesentlicher Voraussetzung für die Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen und Wohlstand ergänzen und auf die Ermöglichung einer verantwortungsvolleren Geschäftspraxis ausgerichtet sein.

3.5   Verschiedene Formen und Motivationen im Zusammenhang mit der derzeitigen CSR-Aktivität bestimmen ihre gesellschaftliche Wirkung. Politische Entscheidungsträger sollten die unterschiedlichen Motivationen sowie deren Abhängigkeit von Größe, Kapazität, Einnahmen, Sektor und Aktivität der Unternehmen besser nachvollziehen können. Die Ermittlung der verschiedenen Instrumente und Fördermittel, die für die einzelnen Sektoren erforderlich sind, wird die Informationsgrundlage für die Überarbeitung der CSR-Politik verbessern. Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, dass die Achtung der anwendbaren Rechtsvorschriften und der Tarifvereinbarungen zwischen Sozialpartnern eine Voraussetzung dafür ist, dass die Unternehmen der Verantwortung für ihre gesellschaftliche Wirkung gerecht werden.

3.6   Die CSR hat im Ergebnis der wachsenden Aufmerksamkeit für Umweltbelange zugenommen. Dadurch wurden Arbeitsbedingungen und Sozialbeziehungen in Einklang mit Umweltfragen gebracht Angesichts der gegenwärtigen Krise muss die Kommission die soziale Dimension der CSR stärken.

3.7   Rolle und Präsenz des Sozialwirtschaftssektors, einschließlich Nichtregierungsorganisationen, werden in der CSR-Agenda außer Acht gelassen. Die Kommission sollte den Wert und die Bedeutung des Beitrags dieses Sektors zur Verwirklichung der CSR-Agenda – sowohl für sich genommen als auch in Partnerschaft mit anderen Sektoren – anerkennen sowie die indirekten Folgen der Vorschläge für den Sozialwirtschaftssektor in Bezug auf die Herstellung von Verbindungen zu Unternehmen bewerten.

3.8   Angesichts der Verpflichtungen, für die sich die EU auf der Rio+20-Konferenz stark macht, unterstreicht der Ausschuss die Zweckmäßigkeit einer Sensibilisierungskampagne bezüglich nicht finanzbezogener Informationen mittels der Veröffentlichung eines regelmäßigen Berichts über die nachhaltige Entwicklung durch alle Unternehmen einer bestimmten Größe (mit ca. 500 Arbeitnehmern), aber auch durch die öffentlichen Verwaltungen und großen Organisationen der Zivilgesellschaft. Durch einen solchen Ansatz würde die Bedeutung der Erforschung der Indikatoren mit dem Ziel gestärkt, über das BIP, die Kohlenstoffbilanz und den Lebenszyklus hinausgehen. Im Einklang mit seinen Rio-Verpflichtungen hat der Ausschuss diesen Ansatz durch die Veröffentlichung seiner Ergebnisse mithilfe des EMAS-Analyseinstruments bereits in die Praxis umgesetzt.

3.9   Mit Blick auf ein schrittweises Vorgehen rät der EWSA der Kommission, den in der momentan überarbeiteten Richtlinie aus dem Jahr 2003 vorgesehenen EU-Rechtsrahmen zur sozialen und ökologischen Bewertung und Information zu konsolidieren. Ein solcher EU-Rechtsrahmen, auf den sich jedes große Unternehmen berufen kann, das die CSR zu einem zentralen Bestandteil seiner Strategie oder Kommunikation macht, muss auf international anerkannten Messinstrumenten basieren und sich an den bereits in mehreren EU-Ländern geltenden nationalen Rechtsvorschriften orientieren.

3.10   Durch die immer zahlreicheren bewährten Verfahren – darunter auch im Rahmen des sozialen Dialogs ausgehandelte Vereinbarungen – verdeutlicht die CSR konkret, welchen zusätzlichen Beitrag der zivile Dialog für die Untersuchung und Lösung gesellschaftlicher Probleme leistet. Der zivile Dialog trägt entscheidend zur Entwicklung einer guten CSR-Praxis bei und mithin zu einer Bewertung, die für die Interessenträger relevant ist, welche hochwertige Informationen über das freiwillige Tätigwerden verantwortungsbewusster Unternehmen oder Investoren benötigen.

3.11   In der Mitteilung der Kommission werden weder die Bedeutung von Frauen in Führungspositionen noch der wirtschaftliche Mehrwert der CSR für die Allgemeinheit anerkannt. Frauen in Führungspositionen und CSR sind zwei Phänomene, die erwiesenermaßen miteinander verknüpft sind, wobei sich eine Gleichstellungspolitik auf Führungsebene positiv auf die CSR auswirkt (4).

3.12   Vermittlungsdienste maximieren das Wachstumspotenzial und den gesellschaftlichen Wert der CSR-Aktivität, indem die Erfordernisse und Kompetenzen von Unternehmen aufeinander abgestimmt werden, um erfolgreiche Partnerschaften zu gründen. Diese bewährte Vorgehensweise sollte deshalb weiter gefördert werden.

3.13   Die Europäische Union sollte nachdrücklich zur Förderung und Sicherung maßgeblicher internationaler CSR-Rahmenregelungen aufgefordert werden. Die Unternehmen sollten diese Instrumente anerkennen, sie als Leitlinien bei der Entwicklung ihrer CSR-Aktivitäten verwenden und ihren Anteilseignern zeigen, wie sie sie einsetzen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Aktualisierung der Definition der CSR

4.1.1   Die Stärke des neuen Vorschlags besteht in der aktualisierten Definition der CSR. Der EWSA hält es jedoch für notwendig, dass die Kommission den Begriff „Unternehmen“ klar definiert, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. Die Kommission muss auch klarstellen, welche neuen Maßnahmen auf der Grundlage der aktualisierten Definition entwickelt werden, einschließlich des angekündigten Legislativvorschlags. Die Kommission sollte zudem die Pläne benennen, mit denen die CSR hinsichtlich der unterschiedlichen Akteure in der Wirtschaft (z.B. Großunternehmen, KMU und sozialwirtschaftliche Unternehmen) angeregt werden soll.

4.1.2   Zudem macht der EWSA darauf aufmerksam, dass die Mitteilung insofern unvollständig ist, als darin nicht der Versuch unternommen wird, die Ergebnisse der CSR-Strategie der vergangenen zehn Jahre hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Verhalten von Unternehmen zu bewerten und damit den in dieser Strategie vorgeschlagenen Initiativen und Maßnahmen besser zu untermauern.

4.1.3   Die vorgeschlagene EU-Definition führt den Begriff der Verantwortung in das Konzept der Freiwilligkeit ein, Die neue Strategie trägt dem in der Mitteilung (5) skizzierten multidimensionalen Charakter der CSR Rechnung. Die EU sollte jedoch vorsichtig vorgehen bei dem Versuch, einen neuen Standard zu schaffen, der möglicherweise im Widerspruch zur Norm ISO 26000 steht. Wenn die CSR-Agenda zu dem Ziel der Europa-2020-Strategie in Bezug auf intelligentes und integratives Wachstum einen Beitrag leisten soll, muss sie von den Unternehmen im Dialog mit verschiedenen Interessenträgern entwickelt werden.

4.1.4   Produkte und Dienstleistungen stammen zunehmend von verschiedenen Organisationen des öffentlichen Diensts sowie in unternehmerischen, öffentlichen und sozialwirtschaftlichen Sektoren. Die vorgeschlagene Definition schließt diesen Aspekt der Organisationen ohne Erwerbszweck ein. Die Begriffsbestimmung und ihre Folgen für alle Unternehmen, in denen die CSR praktiziert werden sollte, sind jedoch zu verdeutlichen.

4.1.5   Die gesellschaftlichen Folgen der Finanzkrise unterstreichen die weitreichende Wirkung der Geschäftspraxis. Es ist richtig, dass Unternehmen, insbesondere angesichts der Krise und des verstärkten Wettbewerbs, über ihre Tätigkeiten Rechenschaft ablegen und im Hinblick auf die Förderung einer verantwortungsvollen Geschäftspraxis CSR in ihre Unternehmensstrategie einbeziehen sollten. Allerdings sollte der Rahmen der CSR der gegenseitigen Abhängigkeit von Unternehmen und Gemeinschaft Rechnung tragen.

4.1.6   Die inhärenten Verbindungen zwischen Unternehmen und der Gemeinschaft müssen auch sozialen Dialog und Transparenz umfassen. Im Zusammenhang mit der CSR lassen sich zahlreiche unterschiedliche Aufgaben nennen:

—   organisatorische Gemeinschaft (innerhalb des Unternehmens)– Koordinierung interner Strukturen zur Erfüllung von Verpflichtungen in Bezug auf das Wohlergehen und die Entwicklung von Arbeitnehmern;

—   Gemeinschaft der externen Interessenträger– Zusammenarbeit im Interesse von Unter–nehmen mit Betroffenen, Kunden und anderen Partnern, einschließlich öffentlicher Behörden und Gemeinden;

—   lokale Gemeinschaft– Bewertung und Arbeit zur Verbesserung der Folgen von Geschäftsmethoden für die betreffende lokale Gemeinschaft und die Umwelt.

Unternehmen sollten diese Verbindungen anerkennen und die CSR als zentrales Geschäftsziel bewusst festlegen, um den maximalen finanziellen und sozialen Wert für alle Interessenträger in der Gemeinschaft zu erreichen. Durch die Stärkung der lokalen Netze (6) erhalten alle Interessenträger in der Gemeinschaft, einschließlich der Behörden, die Möglichkeit, sich für das Wohl der Gesellschaft einzusetzen und zusammenzuarbeiten.

4.1.7   Der Ansatz der Kommission in Bezug auf KMU ist alles andere als ideal. Es wird kein Bezug hergestellt zwischen den Unternehmen und dem Beitrag, den KMU EU-weit zur CSR-Agenda leisten. Zudem wurde die Chance vertan, eine umfassende Politik zu konzipieren, die den neuen Formen der Unternehmensführung, wie etwa Internethandel Rechnung trägt und die Möglichkeiten einer effizienteren Informierung von KMU über die CSR-Agenda vorsieht.

4.1.8   In den Vorschlägen der Agenda bleiben die KMU außen vor. In der Mitteilung wird nicht erklärt, was mit Unternehmen („business“) gemeint ist; allerdings impliziert die Wortwahl, dass von Großunternehmen („large companies“) ausgegangen wird. KMU spielen unionsweit eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum und bei der Wettbewerbsfähigkeit, die einen Schwerpunkt des Lissabon-Vertrags bildet. Eine Einheitslösung für unterschiedliche Unternehmen ist nicht akzeptabel.

4.2   Förderung von Vorteilen und Anreizen für die CSR-Aktivität

4.2.1   Es ist wichtig, die wirtschaftlichen Beweggründe hinter der CSR-Aktivität anzuerkennen. In der Mitteilung werden verschiedene Vorteile skizziert, die neben bestimmten bewährten Methoden gefördert werden sollten, um die Unternehmen zu informieren und dazu zu ermutigen, sich stärker zur CSR zu verpflichten.

4.2.2   Der wirtschaftliche Nutzen der CSR sollte jedoch nicht überbewertet werden. Unternehmen haben Marketing- und Verkaufsabteilungen für Werbung und die Ermittlung von Verbraucherbedürfnissen. Die CSR ist im Wesentlichen ein Ansatz der nachhaltigen Entwicklung, einschließlich des Wirtschaftswachstums unter sozialen und ökologischen Aspekten; ihre Reduzierung auf rein wirtschaftliche Ergebnisse kann negative Folgen wie die Aufgabe einer Strategie zeitigen, wenn die Resultate nicht den finanziellen Erwartungen entsprechen.

4.2.3   Der Rückgriff auf die öffentliche Auftragsvergabe als Marktanreiz erfordert eine sorgfältige Abwägung und eine angemessene Anwendung. Sozialkriterien, einschließlich der ILO-Normen, müssen an den Inhalt des Auftrags geknüpft bleiben, um eine rein symbolische CSR zu verhindern und positive soziale Werte zu gewährleisten. Dies kann auch eine angemessenere und wirksamere CSR in industriellen Bereichen begünstigen.

4.2.4   Bei der Auftragsvergabe müssen unbedingt Sozialklauseln mit absoluter Transparenz berücksichtigt werden. Dies ist entscheidend, um eine adäquate Dienstleistungserbringung und die Einhaltung der Grundsätze des fairen Wettbewerbs im Binnenmarkt sicherzustellen. Die GD Wettbewerb muss zur öffentlichen Auftragsvergabe als Marktanreiz konsultiert werden.

4.2.5   Die Initiative für soziales Unternehmertum („SBI“) wird zwar als ein gesondertes ergänzendes Politikinstrument im Paket der Kommission von Vorschlägen für verantwortungsvollere Unternehmen (7) dargestellt, ihr großes Potenzial für die CSR-Agenda jedoch außer Acht gelassen. In einem rauen Wirtschaftsklima sind die Unternehmen vorsichtiger, was unprofitable Ausgaben betrifft. Es ist allgemein bekannt, dass Sozialunternehmen im Rahmen ihrer Finanzpläne auf Privatkapital setzen (8); soziale Investitionen und das Angebot unentgeltlicher Dienstleistungen an neue Sozialunternehmen sind somit eine Möglichkeit für Unternehmen, um aus ihren CSR-Investitionen finanzielle und soziale Rendite  (9) zu erzielen. Beide Initiativen würden ihr Ziel erreichen und dabei das Wachstumspotenzial und die Fähigkeit, soziale Werte zu schaffen, maximieren.

4.3   Motivationen und Förderung von CSR-Aktivitäten

4.3.1   Die derzeitige CSR-Aktivität hat viele Formen und verschiedenartige Motivationen, die ihre gesellschaftliche Wirkung prägen. Das Spektrum reicht von einem defensiven Schutz der Aktionärsinteressen, Spenden für wohltätige Zwecke und Sponsoring – wie in einigen Mitgliedstaaten – bis hin zu bedeutsameren Tätigkeiten wie der strategischen Verknüpfung von Aktivitäten mit dem Kerngeschäft und den transformativen Anstrengungen zur Ermittlung der eigentlichen Ursachen gesellschaftlicher Probleme und ihrer Lösung (10). Der EWSA weist darauf hin, dass neue Regeln insofern kontraproduktiv sein können, als sie in einigen Ländern eventuell Unternehmen von meldepflichtigen Tätigkeiten abhalten.

4.3.2   Politische Entscheidungsträger müssen die Größenordnung der Aktivität begreifen, um ein positives Umfeld für stärker auf Strategie und Umgestaltung ausgerichtete CSR-Anstrengungen zu begünstigen. Die Anforderungen sollten nicht dazu führen, dass die CSR-Aktivität auf einen Mindeststandard reduziert wird; vielmehr sollten sie freiwillige Kodizes bleiben, die losgelöst von rechtlichen Anforderungen zu sehen sind.

4.3.3   Die Bemühungen sollten auf verbesserte Information und die Selbstverpflichtung zu zivilem Dialog im gesamten Unternehmen– von den Direktoren bis zu den Angestellten – abzielen, um effizientere CSR-Programme zu erreichen und eine ethischere Unternehmenskultur zu fördern. Engagierte Lenkungsgruppen, an denen u.a. leitende Angestellte teilnehmen, haben nachweislich erfolgreiche strategische Leitlinien erstellt und zur Umsetzung der CSR-Aktivität beigetragen.

4.3.4   Im Prinzip ist die Selbst- bzw. Koregulierung eine gute Idee; allerdings müssen Mechanismen geschaffen werden, um zu gewährleisten, dass die Erfüllung der Anforderungen nicht ungewollt zu einer Belastung für die KMU wird, z.B. im Zuge vertraglicher Vereinbarungen mit größeren Unternehmen als Unterauftragnehmern oder Zulieferern. Der Kommissionsvorschlag zur Erarbeitung eines Verhaltenskodizes sollte – unter gebührender Berücksichtigung des Wesens der Selbst- bzw. Koregulierung – Leitlinien für Unternehmen umfassen, die CSR-Aktivitäten anstreben.

4.4   Engagement für die Rolle der Arbeitnehmerin der CSR-Agenda

4.4.1   Die CSR innerhalb eines Unternehmens bleibt ohne das Engagement der betreffenden Arbeitnehmer wirkungslos. Die CSR-Agenda sollte in Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung, den Beschäftigten und ggf. den Sozialpartnern festgelegt werden, um das Ethos der Organisation widerzuspiegeln. Die CSR geht über bloße „Teambildung“ hinaus, wobei das Engagement der Beschäftigten für den Erfolg einer Strategie entscheidend ist.

4.4.2   Die Rolle der Sozialpartner bei der Verbreitung von Informationen und der Stärkung des sozialen Dialogs ist für jede CSR-Agenda von großem Wert. In den maßgeblichen Unternehmen sollten Plattformen eingerichtet werden, um sicherzustellen, dass Tarifvereinbarungen, Transparenz, Kommunikation und Mitbestimmung – die alle Elemente der CSR-Agenda sind – auch umgesetzt werden.

4.4.3   Menschenrechte, Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsmethoden sind wichtige Faktoren im Rahmen des multidimensionalen Charakters der CSR. Unternehmen sollten Tätigkeiten entwickeln, die über internationale und europäische Regelungen und Leitlinien hinausgehen, die einerseits auf den acht grundlegenden ILO-Menschenrechtsübereinkommen beruhen und andererseits die Bereiche Gesundheit und Wohlergehen der Arbeitnehmer sowie Ausbildung berühren. In sämtlichen Unternehmen muss ethischen und gerechten internen Strukturen Aufmerksamkeit geschenkt werden, Tarifabkommen dürfen nicht übergangen werden.

4.5   Wissensaustausch

4.5.1   Im Bereich der CSR-Politik ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten auf „kollegiale“ Weise voneinander lernen (peer learning – 9. Absichtserklärung). Es sollte besonders darauf geachtet werden, dass allen Mitgliedstaaten geholfen wird, ihre nationale CSR-Politik auszugestalten und zu aktualisieren sowie aus ihrer bisherigen Politik in diesem Bereich Lehren zu ziehen.

4.5.2   In der Union müssen alle offizielle Stellen – nationale, regionale, lokale und EU-Institu–tionen – eine CSR-Strategie erarbeiten und umsetzen, um ein Vorbild für andere Sektoren zu sein. Dazu gehören eine solide interne CSR-Politik, die Lenkung innovativer CSR-Modelle und –Aktivitäten, die Erleichterung des Austauschs bewährter Methoden und die Steuerung der Entwicklung lokaler Netze zur Gewährleistung des Engagements der Gemeinschaft.

4.5.3   In bestimmten Industriesektoren könnten Multi-Stakeholder-Plattformen dabei helfen, ernsthafte Diskussionen zwischen Unternehmen und betroffenen Akteuren über Geschäftspraktiken zu führen und den nützlichen Austausch bewährter Methoden und Lernerfahrungen in und zwischen den Sektoren zu erleichtern, wobei die Eigenständigkeit der für die Bestimmung des Zuständigkeitsbereichs und der Tätigkeiten der Plattform verantwortlichen Akteure gebührend zu berücksichtigen ist. Allerdings sollten bedenkliche Geschäftspraktiken von einem Gericht auch mit Strafen belegt werden können.

4.5.4   Es muss die Beteiligung der KMU an den Stakeholder-Plattformen gewährleistet werden, angesichts der Tatsache, dass die Teilnehmer bisher vornehmlich große Unternehmen waren. Alle Unternehmen müssen die Gelegenheit zur Teilnahme erhalten, sodass ganze Sektoren und wichtige Problembereiche besser vertreten sind.

4.5.5   Der EWSA begrüßt die Absicht, Bildungs- und Ausbildungsprojekte im Bereich der CSR finanziell zu unterstützen und das im Bildungswesen tätige Personal und die Unternehmen für die Bedeutung der CSR zu sensibilisieren (8. Absichtserklärung). Dies ist besonders wichtig für die KMU, die vielfach die bestehenden Möglichkeiten nicht kennen oder nicht die Fachkenntnisse besitzen, um CSR-Projekte durchzuführen.

4.5.6   Der Einsatz von Strukturfondsmitteln für die CSR-Initiativen sollte sehr sorgfältig geprüft werden. Der EWSA erinnert die Kommission an die für das nächste Strukturfinanzierungsprogramm geplanten Kürzungen, weshalb die für CSR-Initiativen vorgesehenen Mittel für klar definierte Ziele in den Bereichen Armutsbekämpfung, soziale Ausgrenzung und regionale Entwicklung verwendet werden sollten. Diese Mittel sollten ausschließlich an Unternehmen mit begrenzten Kapazitäten und finanziellen Ressourcen, wie etwa KMU oder zivilgesellschaftliche Organisationen, gehen, um sie bei der Entwicklung von CSR-Maßnahmen und -Verpflichtungen zu unterstützen.

4.5.7   Informationsportale sollten unterstützt und entwickelt werden, um Unternehmen wie auch E-Commerce-Firmen eine leicht zugängliche Plattform zu bieten, über die im Interesse der Gesellschaft bewährte Methoden, Kompetenzen sowie finanzielle und nichtfinanzielle Mittel effizient ausgetauscht werden können.

4.6   CSR und sozialwirtschaftliche Partner

4.6.1   Die Zivilgesellschaft kommt in der Initiative für eine CSR-Politik zu kurz. Zivilgesellschaftliche Organisationen bieten Vorbilder im Bereich der Strategie für verantwortungsvolle Geschäftspraxis, der Governance und der Foren und sind häufig im Bereich CSR tätig. In der Mitteilung wird versäumt, den Bezug zwischen dem „kommerziellen“ Sektor und dem „gemeinnützigen“ Sektor eingehender zu untersuchen.

4.6.2   Die Sektoren arbeiten bereits seit langem partnerschaftlich zusammen, was weiter gefördert werden sollte, da „unternehmerisches soziales Engagement […] eine wichtige Säule zum Aufbau und Erhalt zivilgesellschaftlicher Institutionen […]“ ist (11).

4.6.3   Die gegenseitigen Vorteile der Partnerschaft sollten gefördert werden, um eine sinnvollere CSR-Aktivität anzuregen. Die Abstimmung von Erfordernissen und Kompetenzen in Partnerschaften wird die Wirksamkeit und den Nutzen der sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die Gemeinschaften und Unternehmen erhöhen. Die Förderung nichtfinanzieller Hilfen ist wichtig für eine breitere Unterstützung durch andere Sektoren – und begünstigt ein stärker strategisch geprägtes Denken über CSR-Fähigkeiten. Das umfasst die Förderung des freiwilligen Engagements von Mitarbeitern, der Erbringung unentgeltlicher Dienstleistungen und die Bereitstellung von Sachspenden (Räumlichkeiten, Geräten usw.).

4.6.4   Die Kommunikation zwischen Sektoren ist eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Partnerschaft. Vermittlungsdienste (12) tragen dazu bei, die geschäftlichen Beziehungen zwischen zwei Sektoren zu verbessern und zu vereinfachen sowie kulturelle Unterschiede zu überwinden. Diese Dienste sollten unterstützt und den Unternehmen zugänglicher gemacht werden, damit sie die Schwierigkeiten meistern können, die auf dem Weg hin zu gemeinsamen sektorübergreifenden Werten und einem effektiven Engagement bei CSR-Projekten bestehen.

4.7   Internationale Leitlinien und Übereinkommen

4.7.1   Die ILO hat acht grundlegende Übereinkommen als ein Fundament für Rechte auf globaler Ebene geschaffen. Die Mitgliedstaaten haben diese grundlegenden Übereinkommen bereits ratifiziert. Die EU kann ihren Beitrag zu diesen Übereinkommen leisten, indem sie dafür Sorge trägt, dass auch Drittländer sich an die entsprechenden Vereinbarungen halten.

4.7.2   Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Absicht der Kommission, die Förderung der CSR mit den bestehenden globalen Instrumenten völlig in Einklang zu bringen, insbesondere mit den überarbeiteten Leitlinien der OECD, der Grundsatzerklärung der ILO zu multinationalen Unternehmen und zur Sozialpolitik, der ISO 26000, den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Unternehmen und Menschenrechte sowie den Internationalen Rahmenvereinbarungen (IRV). Der EWSA fordert die Kommission auf, genau darzulegen, wie sie dies zu erreichen gedenkt.

4.7.3   Die OECD-Leitlinien wurden von 42 Ländern angenommen, darunter 24 EU-Mitgliedstaaten. Die Leitlinien beinhalten einen einzigartigen Überwachungsmechanismus: nationale Kontaktstellen, die für Verbreitung der Leitlinien und die Bearbeitung von Fällen mutmaßlicher Verstöße zuständig sind. Deshalb empfiehlt der EWSA, dass innerhalb der überarbeiteten CSR-Strategie der EU Mittel für den Kapazitätenaufbau bezüglich der OECD-Leitlinien vorgesehen werden. Ferner spricht er sich dafür aus, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten den Einfluss der Sozialpartner innerhalb dieser nationalen Kontaktstellen stärken.

4.7.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass die der Schwerpunkt der CSR-Politik auf die Bereitstellung strategischer Orientierungshilfen für Unternehmen gelegt werden sollte, da die Überprüfung der CSR-Verpflichtungen von Unternehmen mit über 1 000 Beschäftigten (10. Absichtserklärung) unpraktisch ist und umfangreiche Finanzmittel der EU erfordern wird.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 685 final.

(2)  Vierte Richtlinie über den Jahresabschluss 2003/51/EG.

(3)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 53-60.

(4)  Siehe: http://newsforchangingtimes.com/2012/02/17/women-boardroom-csr-un-women-ingrid-kragl/

(5)  COM(2011) 681 final, S. 7.

(6)  ABl. C 175, 28.7.2009, S. 63-72.

(7)  COM(2011) 685 final.

(8)  ABl. C 24, 28.1.2012, S. 1.

(9)  COM(2011) 682 final, S. 6.

(10)  www.csrinternational.org

(11)  ABl. C 125 vom 27.5.2002.

(12)  Vermittlungsdienste (brokerage services) sind Unternehmen, die die Kontaktaufnahme zwischen Organisationen aus verschiedenen Sektoren unterstützen und durch die Harmonisierung von Erfordernissen, Kompetenzen und Ressourcen wirksamere Arbeitsbeziehungen in die Wege leiten. Ein Beispiel dafür ist „Pilot Light“: www.pilotlight.org.uk


ANHANG

zur Stellungnahme der Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 54 Abs. 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 2.3

Ändern:

Der vorgeschlagenen erweiterten neuen Definition zufolge ist die CSR ‚die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft‘. zusätzliche Aspekte, die die Unternehmen in ihren CSR-Strategien berücksichtigen sollten, . frühere Definition eines Konzepts , ‚das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren.‘

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

88

Nein-Stimmen

:

91

Enthaltungen

:

23

Ziffer 4.1

Ändern:

„ der der CSR“

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

80

Nein-Stimmen

:

106

Enthaltungen

:

23

Ziffer 4.1.1

Ändern:

Der EWSA hält es jedoch für notwendig, dass die Kommission den Begriff ‚Unternehmen‘klar definiert, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. Die Kommission muss auch klarstellen, welche neuen Maßnahmen auf der Grundlage der aktualisierten Definition entwickelt werden, des angekündigten Legislativvorschlags . Die Kommission sollte zudem die Pläne benennen, mit denen die CSR hinsichtlich der unterschiedlichen Akteure in der Wirtschaft (z.B. Großunternehmen, KMU und sozialwirtschaftliche Unternehmen) angeregt werden soll.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

85

Nein-Stimmen

:

121

Enthaltungen

:

20

Ziffer 4.4.2

Ändern:

Die Rolle ist für jede CSR-Agenda von großem Wert.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

86

Nein-Stimmen

:

125

Enthaltungen

:

14


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem“

COM(2011) 689 final

2012/C 229/16

Berichterstatter: Ákos TOPOLÁNSZKY

Die Europäische Kommission beschloss am 25. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem

COM(2011) 689 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 18. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 118 gegen 1 Stimme bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)

1.1   begrüßt die Vorschläge der Kommissionsmitteilung und teilt die Auffassung, dass im Interesse eines stärkeren Europas entschlossene Maßnahmen notwendig sind und zur wirkungsvollen Beeinflussung des Angebots an und der Nachfrage nach Drogen ausgewogene Maßnahmen ergriffen werden müssen;

1.2   bedauert daher, dass die Mitteilung mit ihrem Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots gegenüber dem bisherigen ausgewogenen und einvernehmlich angewandten Konzept einen Rückschritt darstellt;

1.3   hält ein regulierendes und strafrechtliches Konzept für unzureichend und fordert die Entwicklung einer neuen EU-weiten Drogenstrategie, die auf einer eingehenden Bewertung der derzeitigen und demnächst auslaufenden Drogenstrategie basieren sollte;

1.4   ist besorgt über Veränderungen in den Prioritäten der Förderpolitik und mahnt auch in diesem Zusammenhang ein erneut ausgewogenes Konzept an;

1.5   unterstützt eine weitere Harmonisierung einzelstaatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenhandels und empfiehlt, den Prozess der Harmonisierung des EU-Strafrechts auf verschiedene Formen von Drogenmissbrauch auszudehnen;

1.6   empfiehlt die Entwicklung unabhängiger, wissenschaftlich gestützter Bewertungssysteme für Maßnahmen zur Angebotsverringerung sowie die Bereitstellung angemessener Mittel für die Erledigung dieser Aufgaben;

1.7   ist mit den vorgesehenen Maßnahmen zur Sicherstellung und Einziehung von Vermögenswerten aus Straftaten einverstanden, und empfiehlt, die sichergestellten Vermögenswerte – zumindest teilweise – zur Unterstützung des stark unterfinanzierten Bereichs der Nachfragereduzierung einzusetzen;

1.8   betont, dass ein Regulierungskonzept bei neuen gefährlichen Drogen auch nicht ausreicht, und dass eine solche Regulierung in jedem Fall als Teil eines integrierten, umfassenden politischen Aktionsrahmens umgesetzt werden muss; die Wirksamkeit eines solchen Rahmens muss kontinuierlich überwacht und bewertet werden;

1.9   ist der Ansicht, dass die Passage der Mitteilung über die Nachfrageverringerung unverhältnismäßig und zu allgemein gehalten ist, und empfiehlt der Kommission, die Entwicklung institutioneller Mechanismen zu initiieren, die eine erfolgreiche Umsetzung wissenschaftlich fundierter einschlägiger Initiativen garantieren;

1.10   ist fest davon überzeugt, dass es bereits mittelfristig einer umfassenden und koordinierten Politik für das gesamte Problem der Abhängigkeit von – legalen oder illegalen – psychoaktiven Drogen bedarf, damit gewährleistet ist, dass sich die bislang getrennten politischen Maßnahmen nicht gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben;

1.11   unterstützt die Arbeit des EU-Drogenforums der Zivilgesellschaft und empfiehlt, die Erkenntnisse dieser Einrichtung stärker auf EU-Ebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu berücksichtigen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung „Eine entschlossenere europäische Reaktion auf das Drogenproblem (1).

2.2   Der EWSA stimmt der Feststellung in der Mitteilung zu, dass, nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Europa nunmehr „energisch und entschlossen auf das Drogenproblem, und zwar gleichermaßen auf Drogennachfrage und Drogenangebot, reagieren“ muss; er begrüßt die Bereitschaft der Kommission, der Antidrogenpolitik der EU neue Anstöße zu geben, und stimmt ihr zu, dass „die EU […] ihr Handeln danach ausrichten [sollte], wo der größte Mehrwert zu erzielen ist“.

2.3   Zugleich bedauert der Ausschuss, dass die Mitteilung mit ihrem Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots gegenüber dem bisherigen ausgewogenen und einvernehmlich angewandten Konzept einen Rückschritt darstellt. Die Mitteilung ist nämlich inhaltlich auf Rechtsinstrumente zur Angebotsverringerung beschränkt, und es werden darin lediglich sehr allgemeine Ziele zur Nachfragereduzierung skizziert.

2.4   Der Ausschuss bedauert, dass in dem Dokument der Kommission im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum menschenrechtliche und umfassende sozialpolitische Aspekte außer Acht gelassen zu werden scheinen; der Schwerpunkt der Mitteilung liegt auf regulierenden und strafrechtlichen Instrumenten, die selten Gegenstand wissenschaftlicher Bewertungsverfahren sind, deren Wirksamkeit auf der Grundlage vorliegender Daten kaum erwiesen ist und die wenig kosteneffizient sind (2).

2.5   Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass Maßnahmen zur Angebotsverringerung nur als Teil eines strategischen Systems, als Element eines solchen Systems sinnvoll sind. Es sollte eine Überbetonung strafrechtlicher Maßnahmen als letztes geeignetes Mittel (Ultima Ratio) vermieden werden. Daher darf die europäische Politik, die gegenüber den in vielen Regionen der Welt üblichen vereinfachenden, repressiven und den Menschenrechten wenig Beachtung schenkenden Konzepten ein umfassendes, multi-instrumentales Konzept unterstützt hat, nicht davon geprägt sein, dass Präventivinstrumente in den Hintergrund gedrängt werden.

2.6   Nach Ansicht des Ausschusses muss im Rahmen der EU-Politik zur Bekämpfung drogenbedingter Probleme eine neue Strategie konzipiert, in einer breit angelegten Debatte diskutiert und verabschiedet werden, die auf der derzeitigen Strategie basieren sollte. Diese neue Strategie sollte übereinstimmend angenommen werden und die gemeinsame Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Bezug auf die bisherigen ausgewogenen und auf den Grundwerten der Lissabon-Strategie beruhenden strategischen Überlegungen, Aktionsprogramme und Finanzierungsmaßnahmen (best mix of policies) zum Ausdruck bringen.

2.7   Gemäß dem Grundprinzip, dass ein Staat keinen größeren Schaden anrichten darf als den, den er abwenden will, muss ein Beschlussfassungsmechanismus entwickelt werden, der es ermöglicht, im Falle nachteiliger Ergebnisse einer unabhängigen Bewertung unverzüglich politische Veränderungen einzuleiten.

3.   Finanzierung

3.1   Der EWSA sieht mit Sorge, wie sich die Finanzierungsprioritäten der Europäischen Kommission verändern und ihre Zahl zurückgeht. In dem als Teil des 3. mehrjährigen Finanzierungsprogramms 2014-2020 angekündigte derzeitige Gesundheitsprogramm „Gesundheit für Wachstum“ wird das Problem der Drogen und Reduzierung der Drogennachfrage nicht behandelt. Ebenso unerwähnt bleiben darin die Mittel, die für die Nachfrageverringerung im Einklang mit den Zielen der Drogenstrategie der EU und ihres Aktionsplans erforderlich sind.

3.2   Zugleich haben sich die in dem Kommissionsvorschlag erläuterten Förderprioritäten für das Programm „Justiz“ und für das Programm „Rechte und Unionsbürgerschaft“ geändert, da bei den Subventionen zur Bekämpfung des Drogenproblems der Schwerpunkt in erster Linie auf Aspekte in Zusammenhang mit der Verbrechensprävention gelegt wird. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, ihre Finanzierungsstrategie an die Erfordernisse einer ausgewogenen Strategie anzupassen.

4.   Konkrete inhaltliche Punkte

4.1   Drogenmissbrauch und -handel

4.1.1   Im Hinblick auf die Bekämpfung des Drogenhandels wird in der Mitteilung das Phänomen des sich beständig wandelnden Marktes für illegale Drogen sowie das Aufkommen innovativer Methoden und neuer Technologien beim Drogenschmuggel hervorgehoben. Die Kommission betont, dass die Initiativen zur Bekämpfung des Drogenhandels besser aufeinander abgestimmt werden müssen, wenn all diese ungünstigen Phänomene wirksam bekämpft werden sollen.

4.1.2   In der Mitteilung wird unterstrichen, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (3) nunmehr eine Stärkung der rechtlichen und politischen Instrumente zur Bekämpfung des Drogenhandels möglich ist. Ferner wird darauf hingewiesen, dass sich durch bestimmte Rechtsinstrumente (4)„die einzelstaatlichen Maßnahmen gegen Drogenhandel kaum angeglichen haben [und] die justizielle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Drogenbekämpfung nur unwesentlich erleichtert [wurde]“ (5).

4.1.3   In diesem Zusammenhang werden in der Mitteilung neue Rechtsinstrumente vorgeschlagen, mit Hilfe derer die Kommission erstens gemeinsame Mindestvorschriften in Bezug auf erschwerende oder mildernde Umstände aufstellen will, um gegen größere grenzüberschreitende Drogenhandelsnetze vorzugehen; zweitens will sie eine bessere Definition der Straftatbestände und Strafen ausarbeiten und drittens die den Mitgliedstaaten auferlegte Berichterstattungspflicht verschärfen.

4.1.4   Der Ausschuss stimmt den Feststellungen der Kommissionsmitteilung zwar grundsätzlich zu, möchte jedoch betonen, dass diese Anstrengungen nur dann erfolgreich sein können, wenn für die Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots geeignete Wirksamkeitsmessinstrumente und bewährte Indikatoren zur Verfügung stehen. Er plädiert daher nachdrücklich für die Entwicklung von Bewertungs- und Überwachungsmechanismen, mit Hilfe derer sich die tatsächliche Wirkung und Kosteneffizienz solcher Maßnahmen messen lassen; er befürwortet die bereits begonnenen Arbeiten zur Entwicklung adäquater Indikatoren (6).

4.1.5   Der EWSA betont, dass für die Bewertung der Instrumente in Bezug auf Angebotsreduzierungsmaßnahmen im Verhältnis zu dem Maß, in dem sie sich auf die Grundrechte der Drogenkonsumenten auswirken, die im rechtlichen Sinne anderen keinen Schaden zufügen und nicht aus Gewinnstreben handeln, unverhältnismäßig wenige Mittel bereitstehen.

4.1.6   Der EWSA empfiehlt, im Sinne der entsprechenden Kommissionsmitteilung (7) die Anstrengungen zur Harmonisierung des EU-Strafrechts auch auf Formen krimineller Verhaltensweisen auszuweiten, bei denen die große Diskrepanzen in der strafrechtlichen Praxis (Normen, Strafen, Strafvollstreckung, Strafbefreiung) der einzelnen Mitgliedstaaten derart groß sind, dass gewiss die Menschenrechte und die Rechtssicherheit untergraben werden; nach Ansicht des Ausschusses ist dies momentan bei Fällen von Drogenmissbrauch zu beobachten (8).

4.1.7   Der EWSA weist darauf hin, dass die von der EU geplante Harmonisierung der Mindeststrafen nicht zu einer Verschlimmerung der Höchststrafen in einzelnen Mitgliedstaaten führen darf. Der Ausschuss betont zugleich, dass eine auf die Angebotsreduzierung ausgerichtete Politik auch eine Botschaft der Hilflosigkeit der Entscheidungsträger aussenden könnte; daher muss das richtige Gleichgewicht zwischen der unbedingt notwendigen Androhung strafrechtlicher Sanktionen und den außerordentlich wichtigen Behandlungs- und Unterstützungsmaßnahmen gefunden werden.

4.1.8   Nach Ansicht des Ausschusses müssen die Strategien für die Strafjustiz neu konzipiert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Verringerung der durch den Drogenhandel verursachten sozialen und gesundheitlichen Schäden und auf der Sicherheit des Einzelnen sowie des Kollektivs liegen sollte, anstatt einen Ansatz zu verfolgen, der ausschließlich auf die Prävention des Dogenhandels abzielt.

4.2   Drogenausgangsstoffe

4.2.1   Der EWSA stimmt der Lagebewertung in diesem Abschnitt der Kommissionsmitteilung zu und teilt die Auffassung, dass bei den bestehenden und den geplanten Maßnahmen eine wirksame Kontrolle des illegalen Gebrauchs dieser Substanzen gewährleistet werden muss, ohne den rechtmäßigen Handel damit zu behindern.

4.2.2   Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich intensiviert werden muss, wenngleich es hinsichtlich der Möglichkeiten der Datenbereitstellung, deren Qualität und der Bereitschaft hierzu vor allem in Bezug auf die betroffenen Drittländer, große Diskrepanzen gibt.

4.3   Sicherstellung und Einziehung von Vermögenswerten aus Straftaten

4.3.1   Der EWSA stimmt den Bemühungen der Kommission zu, und ist der Ansicht, dass die genannten Legislativinstrumente eine verhältnismäßige und angemessene Antwort auf das Problem darstellen: Es hält es daher für bedauerlich, dass sich diese aus verschiedenen Gründen als nicht wirksam erwiesen haben.

4.3.2   Der Ausschuss spricht sich deshalb dafür aus, neue, striktere EU-Rechtsakte auszuarbeiten und die Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf EU-Ebene auf diesen Bereich auszuweiten.

4.3.3   Der EWSA empfiehlt, die sichergestellten Vermögenswerte zumindest teilweise zur Unterstützung der Nachfrageverringerungsmaßnahmen zu verwenden, die zwar stets unterfinanziert, aber am wirksamsten sind, um den Drogenkonsum zu bekämpfen und seine sozialen Konsequenzen zu behandeln.

4.4   Neue psychoaktive Substanzen

4.4.1   Der EWSA stimmt den diesbezüglichen Ausführungen in der Kommissionsmitteilung im Wesentlichen zu. Nach Auffassung der Kommission erfüllt eine generische Regelung die Erwartungen der Öffentlichkeit und der Entscheidungsträger hinsichtlich einer raschen Überprüfung neuer Drogen, doch könnte eine Untersuchung einzelner Substanzen ohne eine effektive Risikoanalyse den legitimen therapeutischen und industriellen Interessen schaden. Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass die aktuelle Risikoanalysemethode in erster Linie auf chemischen und forensischen Analysen statt einen multidisziplinären Ansatz widerzuspiegeln.

4.4.2   Der EWSA betont, dass ein Regulierungsakt bei den neuen gefährlichen Drogen auch nicht ausreicht, und dass er in jedem Fall als Teil eines integrierten, umfassenden politischen Aktionsrahmens umgesetzt werden muss, dessen Wirksamkeit kontinuierlich überwacht und bewertet werden muss. Es können unbeabsichtigte Risiken auftreten (Versuchung der Drogenkonsumenten, sich auf neuere Substanzen umzustellen, Kriminalisierung, höhere Marktpreise, automatisches Verbot bzw. automatische Kontrolle eventuell nützlicher Substanzen, heimlicher Drogenkonsum, zusätzliche Risiken aufgrund eines illegalen Marktes usw.). Der EWSA bedauert, dass die vorgeschlagenen Regulierungsinstrumente diesen Gesichtspunkten keine Rechnung tragen.

4.4.3   Der EWSA hält es für wichtig, dass die Entscheidungsträger parallel zur Aufnahme von Substanzen in eine Liste gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen hinsichtlich der betreffenden psychoaktiven Substanz vorschlagen und zugleich nach alternativen Regulierungsmöglichkeiten ohne eine direkte Kriminalisierung der Drogenkonsumenten suchen. Der Ausschuss unterstreicht, dass die Schließung der Lücken in der Datensammlung, interaktivere Informationsflüsse, die Weiterbildung der Fachleute, eine glaubwürdige Kommunikation mithilfe modernster Methoden und Technologien, die Weiterentwicklung der Regulierung und Kontrolle im Verbraucherschutzbereich sowie die Entwicklung und Bereitstellung der entsprechenden Behandlungs– und Unterstützungsdienste notwendige Elemente dieses Konzepts sind.

4.4.4   Der EWSA weist auf das Problem hin, dass die legislative Antwort auf neue Substanzen auch weiterhin die durch nicht kontrollierte „alte“ psychoaktive Substanzen (Alkohol, Nikotin, bestimmte industrielle Halluzinogene usw.) hervorgerufenen, oftmals weitaus gravierenderen Probleme verschleiern.

4.5   Nachfrageverringerung

4.5.1   Der EWSA zeigt sich angesichts der in diesem Kapitel von der Kommission unterbreiteten Vorschläge enttäuscht, die im Grunde nur allgemeine Feststellungen enthalten. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, einen strategischen Ansatz weiterzuentwickeln, der sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht auf dem Weg zur Gewährleistung der Grundrechte in puncto Behandlung einen Fortschritt bringen kann.

4.5.2   In diesem Sinne sollte die Kommission nicht nur auf die Erarbeitung von Qualitätsstandards hinarbeiten, sondern auch zur Einführung finanzpolitischer Maßnahmen in den Mitgliedstaaten beitragen, die einen ausgewogenen Ansatz widerspiegeln.

4.5.3   Es sollte die europaweite Abdeckung, Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit einer breiten Palette nachweislich wirksamer Dienstleistungen für Menschen mit drogenbedingten Problemen zur Minderung gesundheitlicher Schäden (HIV/AIDS, Hepatitis und Überdosis) garantiert werden. Diese Dienstleistungen umfassen den Drogenentzug, die stationäre und ambulante Behandlung sowie die Behandlung in therapeutischen Gemeinschaften, die Rehabilitation, die Wiedereingliederung, die Drogenersatztherapie und die kostenlose Abgabe von Injektionsspritzen an Drogenabhängige. Sämtliche Programme sollten genauso im Gefängnis sowie Minderheiten und von Diskriminierung bedrohten Gruppen zur Verfügung stehen.

4.5.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU und die Mitgliedstaaten bei ihrer Drogenpolitik nicht der Kriminalisierung und Bestrafung von Menschen mit drogenbedingten Problemen, sondern der Bereitstellung von Gesundheits- und Behandlungsdienstleistungen für hilfsbedürftige Menschen Vorrang geben sollten.

4.5.5   Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass der Europäischen Union momentan über keinerlei Mittel dafür verfügt, diejenigen Mitgliedstaaten zu verwarnen oder zu sanktionieren, die nicht für die Sicherung von Behandlungsdienstleistungen sorgen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist, – selbst dann nicht, wenn diese lebenswichtig sind – und damit gegen die Menschenrechte verstoßen.

4.5.6   Der EWSA appelliert daher an die Kommission, mit der Entwicklung institutioneller Mechanismen zu beginnen, die eine tatsächliche Umsetzung der einschlägigen, wissenschaftlich fundierten Initiativen in den einzelnen Mitgliedstaaten und ein ausgewogenes und kontrolliertes Funktionieren der Finanzierungsmechanismen zur Förderung ihrer Umsetzung gewährleisten.

4.6   Internationale Zusammenarbeit

4.6.1   Der EWSA begrüßt den Dialog mit Erzeuger- und Transitländern sowie die Politik zur Bereitstellung von technischer Hilfe und Unterstützung, und empfiehlt deren weiteren Ausbau.

4.6.2   Er teilt die Auffassung, dass die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, strategischen Partnern und Ländern an den Drogenhandelsrouten in die EU auf der Basis eines ausgewogenen, umfassenden Ansatzes und unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte vertieft werden sollte.

4.6.3   Der Ausschuss begrüßt die Ergebnisse, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht seit ihrer Einrichtung in den Bereichen Beobachtung der Drogenlage, Verbesserung der Qualität und Disziplin der Datenerlieferung sowie Entwicklung gemeinsamer technischer Konzepte erzielt hat.

4.6.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Lagebewertung in Bezug auf die durch die anhaltende Wirtschaftskrise verursachten sozialen Veränderungen vorzunehmen, mit besonderem Augenmerk auf dem Drogenkonsum- und -handelsmuster.

4.6.5   Der Ausschuss erkennt zwar die Bedeutung der drei Antidrogen-Abkommen der Vereinten Nationen (9) und die damit erzielten Ergebnisse an, möchte jedoch darauf hinweisen, dass sie entgegen ihren erklärten Zielsetzungen in den meisten Ländern der Welt – teilweise auch in Europa – keinen angemessenen und gerechten legalen Zugang zu Drogen gewährleistet haben. Auf der anderen Seite sind die illegale Produktion und der illegale Konsum nicht zurückgegangen, sondern haben sogar deutlich zugenommen. Zugleich ermöglicht es das eingerichtete System nicht immer, die Gewährleistung wissenschaftlich fundierter Maßnahmen in Bezug auf Gesundheit und Wohlergehen zu fördern.

4.6.6   Der Ausschuss schlägt daher vor, dass die Europäische Union unter weitgehender Berücksichtigung der wissenschaftlichen Belege als kritischer Wächter über die Antidrogen-Abkommen der UN und deren Umsetzung auftritt – vorausgesetzt, es herrscht Konsens mit den Mitgliedstaaten. Gegebenenfalls könnte sie zugunsten einer Aktualisierung der Abkommen Stellung nehmen.

4.6.7   Der Ausschuss begrüßt und befürwortet die Arbeiten des EU-Drogenforums der Zivilgesellschaft und empfiehlt den Entscheidungsgremien der EU, die Erkenntnisse dieser Einrichtung stärker zu berücksichtigen. Der EWSA würde es begrüßen, wenn er als Beobachter an der Tätigkeit des Forums teilnehmen könnte.

5.   Ausblick

5.1   Im Sinne von Artikel 11 Absatz 3 und 4 des Vertrags von Lissabon empfiehlt der EWSA sowohl der Kommission als auch den Mitgliedstaaten, den aktiven sozialen Dialog auszubauen. Im Geiste der partizipativen Demokratie sollten Berufsgruppen und wenn möglich auch Konsumentenorganisationen eng in die strategische Planung eingebunden werden, damit die staatliche Koordinierung direkt von der Zivilgesellschaft und den zuständigen Berufsgruppen bewertet werden kann.

5.2   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass ein zweigleisiger Ansatz für die politische Planung notwendig ist. Zum einen müssen auf globaler Ebene im Rahmen einer engeren Koordinierung Synergien zwischen den auf EU-Ebene aufeinander abgestimmten Konzepten geschaffen werden. Auf der anderen Seite ist ein lokaler Ansatz vonnöten, damit politischen Maßnahmen der EU konzipiert werden können, die nicht abstrakt sind, sondern auf den tatsächlichen Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaften basieren und bei denen auf deren Mitarbeit gezählt werden kann.

5.3   Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass bereits mittelfristig eine umfassende und koordinierte Politik für das gesamte Problem der Abhängigkeit von – „legalen“ und „illegalen“ – psychoaktiven Drogen notwendig ist. Momentan gibt es aus politischen und rechtlichen Gründen eine künstliche Trennung zwischen diesen politischen Maßnahmen, bei denen auf äußerst unterschiedliche Instrumente zurückgegriffen wird und die sich eher gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben als sich gegenseitig stärken. Zugleich lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und Menschenrechte das stark variierende Verhältnis dieser verschiedenen Maßnahmen zur verbindlichen Kraft des Staates in Frage stellen bedeutende Diskrepanzen zwischen der Verbindlichkeit solcher staatlichen Maßnahmen fragwürdig angesichts der Notwendigkeit, zu gewährleisten und die Menschenrechte zu schützen.

5.4   Der Ausschuss empfiehlt, dass die Kommission den Weg für den Zugang zu kontrollierter medizinischer Nutzung von medizinischem Cannabis und zur gesamten Palette von Substitutionsbehandlungsmethoden ebnet.

5.5   Kritisch sieht der EWSA die Haltung der EU gegenüber Alkohol, der die größten sozialen Probleme verursacht, und vertritt daher weiterhin seinen in früheren korrigierenden Stellungnahmen (10) zum Ausdruck gebrachten Standpunkt, in denen er die Kommission in diesem Bereich zu entschlossenem Handeln aufrief.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2011) 689 final.

(2)  In den meisten Ländern treffen die strafrechtlichen Instrumente derzeit zum größten Teil die Drogenkonsumenten, die Drogenhändler nur in geringem Maße.

(3)  Art. 83 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(4)  Beispielsweise der Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Okt 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels.

(5)  COM(2011) 689 final.

(6)  Erste europäische Konferenz über Indikatoren für das Drogenangebot: Eine gemeinsame Initiative zur Entwicklung nachhaltiger Möglichkeiten für die Überwachung der Drogenmärkte, der Drogenkriminalität und der Maßnahmen zur Reduzierung der Drogennachfrage, Europäische Kommission, 20.-22. Oktober 2010 (nur auf Englisch).

(7)  COM(2011) 573 final.

(8)  Drogenkonsumenten riskieren für dasselbe Delikt (z.B. die Abgabe geringer Drogenmengen durch Konsumenten) in einigen Mitgliedstaaten eine zwei- bis fünfjährige Gefängnisstrafe, während in anderen Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang staatliche oder regionale förderpolitische Instrumente (Arbeitsplatzschaffung, Wohnungshilfe, soziale Hilfe usw.) zum Einsatz kommen.

(9)  Einheitsabkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe von 1961, geändert durch das Protokoll von 1972, Einheitsabkommen der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe von 1971, Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988.

(10)  ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 78-84.

ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 10-14.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/90


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)“

COM(2012) 11 final — 2012/011 (COD)

2012/C 229/17

Hauptberichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 16. Februar 2012 bzw. 1. März 2012 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)

COM(2012) 11 final — 2012/011 (COD).

Am 21. Februar 2012 beauftragte das Präsidium des Ausschusses die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft mit der Ausarbeitung der Stellungnahme zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) Jorge PEGADO LIZ zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 165 gegen 34 Stimmen bei 12 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die allgemeine Richtung, die die Kommission eingeschlagen hat, erklärt sich mit der Wahl der vorgeschlagenen Ermächtigungsgrundlage einverstanden, begrüßt, dass das Hauptaugenmerk auf den Schutz der Grundrechte gelegt wurde, und billigt prinzipiell die Ziele des Vorschlags, die sich eng an einer Stellungnahme des Ausschusses ausrichten. Bezüglich der Rechtsstellung des Datenschutzes ist der EWSA der Ansicht, dass die Verarbeitung und Übertragung von Daten im Rahmen des Binnenmarkts durch das Recht auf Schutz von personenbezogenen Daten im Sinne von Artikel 8 der Grundrechtecharta und von Artikel 16 Absatz 2 AEUV begrenzt werden müssen.

1.2

Der EWSA ist, was die Wahl der Verordnung als des für die angestrebten Ziele am besten geeigneten Rechtsinstruments betrifft, gespalten und fordert die Kommission auf, aufzuzeigen und zu begründen, warum dieses Instrument einer Richtlinie vorzuziehen oder sogar unerlässlich sei.

1.3

Der EWSA bedauert jedoch die allzu zahlreichen Ausnahmen und Einschränkungen, die sich auf die aufgeführten Grundsätze des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten auswirken.

1.4

Im neuen Kontext der digitalen Wirtschaft teilt der Ausschuss die Ansicht der Kommission, dass jeder „seine persönlichen Informationen wirksam kontrollieren können“ muss, fordert jedoch auch, dieses Recht auf verschiedene Verwendungsbereiche auszuweiten, für die individuelle Profile auf der Grundlage der mit zahlreichen (legalen und manchmal illegalen) Mitteln erhobenen Daten und der Verarbeitung der erhaltenen Daten erstellt werden.

1.5

Da es sich um Grundrechte handelt, sollte die Harmonisierung in den besonderen Bereichen die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen, im Rahmen ihres nationalen Rechts Bestimmungen, die in der Verordnung fehlen oder günstiger als die darin vorgesehenen sind, zu erlassen.

1.6

Außerdem kann der EWSA nicht alle geradezu systematischen Verweise auf delegierte Rechtsakte akzeptieren, die nicht ausdrücklich unter Artikel 290 AEUV fallen.

1.7

Der EWSA begrüßt jedoch, dass die Schaffung eines wirksamen institutionellen Rahmens angestrebt wird, um sowohl auf Ebene der Unternehmen (Datenschutzbeauftragte) als auch auf Ebene der Behörden der Mitgliedstaaten (unabhängige Aufsichtsbehörden) die Wirksamkeit der Rechtsvorschriften zu gewährleisten. Er hätte es aber bevorzugt, wenn die Kommission einen stärker an den realen Bedürfnissen und Wünschen der Bürgerinnen und Bürger ausgerichteten und systematischeren Ansatz entsprechend der Natur bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeitsbereiche gewählt hätte.

1.8

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass im vorgeschlagenen Text eine ganze Reihe von Verbesserungen und Präzisierungen vorgenommen werden können, und gibt in Bezug auf mehrere Artikel konkrete Beispiele im Hinblick auf eine bessere Definition der Rechte, die Stärkung des Schutzes der Bürger im Allgemeinen und der Arbeitnehmer im Besonderen, die Art der Einwilligung, die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung und insbesondere die Aufgaben der Datenschutzbeauftragten und die Datenverarbeitung im Beschäftigungskontext.

1.9

Der EWSA ist auch der Ansicht, dass noch weitere Aspekte berücksichtigt werden sollten, insbesondere die Ausweitung des Geltungsbereichs, die Verarbeitung sensibler Daten oder Sammelklagen.

1.10

Der EWSA ist zudem der Meinung, dass Suchmaschinen, die den Großteil ihrer Einnahmen aus gezielter, auf der Sammlung personenbezogener Daten über ihre Nutzer beruhender Werbung generieren, ausdrücklich in den Geltungsbereich der Verordnung aufgenommen werden müssen. Das Gleiche sollte für Anbieter von Speicherplatz im Internet und für einige Anbieter von Softwareprogrammen („Cloud-Computing“) gelten, die Daten über ihre Nutzer zu kommerziellen Zwecken sammeln.

1.11

Ähnliches sollte zudem für personenbezogene Daten gelten, die im Rahmen sozialer Netzwerke veröffentlicht werden, deren Anbieter im Sinne des „Rechts auf Vergessenwerden“ die Möglichkeit vorsehen sollten, dass eine betroffene Person Informationen ändern oder löschen oder auf Antrag ihre persönliche Internetseite bzw. die Links zu anderen stark frequentierten Internetseiten, auf denen diese Informationen wiedergegeben oder kommentiert werden, entfernen lassen kann. Artikel 9 sollte zu diesem Zweck abgeändert werden.

1.12

Schließlich fordert der EWSA die Kommission auf, einige sensible Themen berührende Aspekte des Vorschlags zu überdenken, die er für inakzeptabel hält. Dabei geht es um so heikle Fragen wie den Kinderschutz, das Widerspruchsrecht, das Profiling, bestimmte Beschränkungen der Rechte, den Schwellenwert von 250 Arbeitnehmern für die Ernennung eines Datenschutzbeauftragen oder die Art der Regelungen zur zentralen Anlaufstelle (one-stop-shop).

2.   Einleitung

2.1

Der EWSA wurde um Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)“ ersucht (1).

2.2

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass dieser Vorschlag Teil eines „Pakets“ ist, das auch eine einleitende Mitteilung (2), einen Richtlinienvorschlag (3) und einen „Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen auf der Grundlage von Artikel 29 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 27. November 2008 (4) umfasst. Der EWSA wurde nicht mit allen Legislativvorschlägen befasst, sondern nur mit dem Verordnungsvorschlag - obgleich er auch mit dem Richtlinienvorschlag hätte befasst werden sollen.

2.3

Der Vorschlag, mit dem der EWSA befasst wurde, befindet sich nach Einschätzung der Kommission im Schnittbereich zweier zentraler juristisch-politischer und politisch-wirtschaftlicher Leitlinien der EU.

2.3.1

Zum einen ist in Artikel 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in Artikel 16 Absatz 1 AEUV der Datenschutz als Grundrecht verankert, das als solches geschützt werden muss. Die Mitteilungen der Kommission zum Stockholmer Programm sowie zum Aktionsplan zu dessen Umsetzung basieren hierauf (5). Zum anderen sollen mit der Digitalen Agenda für Europa und der breiteren Strategie Europa 2020 die den Binnenmarkt betreffenden Aspekte des Datenschutzes und die Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmen gefördert werden.

2.4

Die Kommission beabsichtigt, die in der konsolidierten Richtlinie 95/46/EG festgeschriebenen Grundsätze für den Datenschutz zu aktualisieren und zu modernisieren, um in Zukunft die persönlichen Rechte auf Wahrung der Privatsphäre in der digitalen Gesellschaft und ihren Netzen zu gewährleisten. Ziel ist es, die Rechte der Bürger zu stärken, den Binnenmarkt der EU zu konsolidieren, ein hohes Datenschutzniveau in allen Bereichen (einschließlich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen) zu gewährleisten, die ordnungsgemäße Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen sicherzustellen, die grenzüberschreitende Datenverarbeitung zu erleichtern und universelle Datenschutznormen aufzustellen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Im neuen Kontext der digitalen Wirtschaft teilt der Ausschuss die Ansicht der Kommission, dass jeder „seine persönlichen Informationen wirksam kontrollieren können“ muss, fordert jedoch auch, dieses Recht auf verschiedene Verwendungsbereiche ausgeweitet auszuweiten, für die individuelle Profile auf der Grundlage der mit zahlreichen (legalen und manchmal illegalen) Mitteln erhobenen Daten und der Verarbeitung der erhaltenen Daten erstellt werden. Der EWSA ist auch der Ansicht, dass die Verarbeitung und Übertragung von Daten im Rahmen des Binnenmarkts durch das Recht auf Schutz im Sinne von Artikel 8 der Grundrechtecharta begrenzt werden müssen. Es handelt sich um ein im institutionellen Recht der EU und im nationalen Recht der meisten Mitgliedstaaten verankertes Grundrecht.

3.2

Jeder Bürger oder Einwohner der EU verfügt aufgrund eben dieser Tatsache über in der Charta und den Verträgen verankerte Grundrechte; diese sind im Recht der Mitgliedstaaten – mitunter sogar in ihrer Verfassung – anerkannt. Weitere Rechte wie z.B. das Recht an der eigenen Abbildung oder das Recht auf Privatsphäre ergänzen und verstärken das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten. Es muss möglich sein, für die Wahrung dieser Rechte zu sorgen, indem der Betreiber eines Internetportals aufgefordert wird, bestimmte personenbezogene Profile oder Serverdaten zu ändern oder zu löschen; auch muss es möglich sein, bei Unterlassung eine einschlägige richterliche Anordnung zu erhalten,

3.3

Das Vorhalten von Dateien mit personenbezogenen Daten ist unabdingbar für die öffentliche Verwaltung (6), das Personalmanagement von Unternehmen, kommerzielle Dienste sowie für Verbände und Gewerkschaften, Parteien oder soziale Netzwerke und Suchmaschinen im Internet. Um die Privatsphäre der in diesen Dateien rechtmäßig erfassten Personen zu schützen, sollten jedoch diese unterschiedlichen Zwecken dienenden Dateien nur die für ihre Ziele wesentlichen Daten umfassen und nicht mittels IKT ohne Notwendigkeit und ohne rechtlichen Schutz miteinander verknüpft werden. Die Existenz einer Stelle, die uneingeschränkten Zugriff auf sämtliche Daten hat, wäre eine Gefahr für die öffentlichen Grundfreiheiten und die Privatsphäre.

3.4

Werden persönliche Daten von Einrichtungen des privaten Rechts gehalten, sollten die betroffenen Personen über ein Recht auf Zugang, Berichtigung und sogar Löschung der Daten verfügen, wenn diese für Marktforschungszwecke oder soziale Websites verwandt werden.

3.5

In Bezug auf die Dateien öffentlicher oder privater Verwaltungen, die den Vorschriften entsprechen, müssen Personen über die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen hinaus ein Recht auf Zugang und auf Richtigstellung falscher Angaben haben – oder sogar auf Löschung, wenn der personenbezogene Eintrag nicht mehr erforderlich ist, wie z.B. im Falle eines Straferlasses in einem justiziellen Register oder im Falle des Endes eines Arbeitsvertrags.

3.6

Der EWSA begrüßt die allgemeine Richtung, die die Kommission eingeschlagen hat, und weist darauf hin, dass die Ziele der konsolidierten Richtlinie 95/46/EG aktuell bleiben, wenngleich nach 17 Jahren zahlreicher technologischer und sozialer Veränderungen im digitalen Umfeld eine tiefgreifende Überarbeitung unerlässlich geworden ist. In der Richtlinie 95/46/EG blieben z.B. bestimmte Aspekte des grenzüberschreitenden Informations- und Datenaustauschs zwischen Behörden, die für die Strafverfolgung und Urteilsvollstreckung im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zuständig sind, unerwähnt. Diese Frage wird im Richtlinienentwurf angegangen, der im „Datenschutz-Paket“ enthalten ist, zu dem der Ausschuss nicht angehört wird.

3.7

Der EWSA begrüßt prinzipiell die Ziele des Vorschlags, die in Zusammenhang mit dem Schutz der Grundrechte stehen und sich eng an der Stellungnahme des Ausschusses (7) orientieren, namentlich:

die Festlegung eines einheitlichen, unionsweit gültigen Regelwerks für den Datenschutz mit höchstmöglichem Schutzniveau;

die ausdrückliche Bekräftigung der Freizügigkeit personenbezogener Daten innerhalb der EU;

die Streichung mehrerer unnützer Verwaltungsauflagen, was der Kommission zufolge zu einer jährlichen Ersparnis von ca. 2,3 Mrd. EUR für die Unternehmen führt;

die Einführung der Pflicht für Unternehmen und Organisationen der unverzüglichen (wenn möglich innerhalb von 24 Stunden vorzunehmenden) Meldung schwerwiegender Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten bei den nationalen Aufsichtsbehörden;

die Möglichkeit für die Bürger, sich an die Datenschutzbehörde in ihrem Heimatland zu wenden – selbst dann, wenn ihre Daten von einem Unternehmen in einem Drittstaat verarbeitet werden;

die Erleichterung des Zugangs von Personen zu ihren eigenen Daten wie auch der Übertragung personenbezogener Daten von einem Dienstleistungserbringer zum anderen (Recht auf Datenübertragbarkeit);

ein „Recht auf Vergessenwerden“, um den Bürgern das beste Risikomanagement im Zusammenhang mit dem Online-Datenschutz zu garantieren, einschließlich der Möglichkeit, personenbezogene Daten löschen zu lassen, wenn kein legitimer Grund für ihre Bevorratung besteht;

im Vergleich zur jetzigen Situation die Stärkung der Rolle der unabhängigen nationalen Datenschutzbehörden, damit sie für eine bessere Anwendung und Achtung der EU-Vorschriften auf dem Hoheitsgebiet des betreffen den Staates sorgen können, indem sie insbesondere dazu befugt werden, Geldbußen gegen Unternehmen, die gegen diese Vorschriften verstoßen, zu verhängen, wobei diese Geldbußen sich auf 1 Mio. EUR oder 2 % des weltweiten Jahresumsatzes des betreffenden Unternehmens belaufen können;

die technologische Neutralität und die Anwendung auf alle Formen der Datenverarbeitung (automatisierte oder manuelle);

die Verpflichtung, Folgenanalysen bezüglich des Datenschutzes durchzuführen.

3.8

Ein Teil der Mitglieder des EWSA ist - unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit - mit der Kommission hinsichtlich der Wahl der Verordnung einverstanden und vertritt die Ansicht, dass es sich um das am besten geeignete Rechtsinstrument handelt, um eine einheitliche Anwendung und ein hohes Datenschutzniveau in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen; ein anderer Teil ist der Meinung, dass die Richtlinie die Achtung des Subsidiaritätsprinzips und den Datenschutz am besten gewährleisten könnte, vor allem in den Mitgliedstaaten, die bereits ein höheres Schutzniveau garantieren als das im Kommissionsvorschlag festgelegte. Der EWSA ist sich auch der Tatsache bewusst, dass die Mitgliedstaaten in dieser Frage geteilter Auffassung sind. Der EWSA ersucht die Kommission deshalb darum, ihren Vorschlag besser zu fundieren, indem sie dessen Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip sowie die Gründe, aus denen die Wahl einer Verordnung im Hinblick auf die angestrebten Ziele unerlässlich erscheint, expliziter formuliert.

3.8.1

Da es sich um eine Verordnung handelt, die unmittelbar und gänzlich in allen Mitgliedstaaten anwendbar ist, ohne in nationales Recht übertragen werden zu müssen, macht der EWSA die Kommission darauf aufmerksam, dass auf die Kohärenz der Übersetzungen in alle Sprachen zu achten ist - was bei dem Vorschlag nicht der Fall war.

3.9

Nach Auffassung des EWSA hätte der Vorschlag einerseits hinsichtlich des Schutzes bestimmter Rechte, die infolge zahlreicher Ausnahmen und Einschränkungen inhaltlich praktisch ausgehöhlt werden, weitergehen können. Andererseits sollten die verschiedenen Rechte besser gewichtet werden. Es besteht somit das Risiko eines Ungleichgewichts zwischen den Zielen des Grundrechts auf Datenschutz und den Zielen des Binnenmarkts, und zwar zulasten des Grundrechts. Der EWSA teilt im Wesentlichen die Auffassung des Europäischen Datenschutzbeauftragten (8).

3.10

Der EWSA hätte es begrüßt, wenn die Kommission einen stärker den realen Bedürfnissen und Wünschen der Bürgerinnen und Bürger entsprechenden und systematischeren Ansatz entsprechend der Natur bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeitsbereiche gewählt hätte, z.B. des Online-Handels, des Direktmarketings, der Arbeitsbeziehungen, der öffentlichen Behörden, der Überwachung und Sicherheit, der DNA usw., indem die Rechtsvorschriften entsprechend den sehr unterschiedlichen Gegebenheiten in der Datenverarbeitung angepasst werden.

3.11

In Bezug auf unterschiedliche Bestimmungen im Vorschlag (zusammengefasst in Artikel 86) hängen sehr wichtige Aspekte des Rechtsinstruments und des Funktionierens des Systems von künftigen delegierten Rechtsakten ab (26 Übertragungen von Befugnissen für unbestimmte Dauer). Der EWSA ist der Ansicht, dass dies weit über die Grenzen hinausgeht, die in Artikel 290 des Vertrags festgelegt und in der Mitteilung der Kommission bezüglich der Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (9) definiert sind, was Folgen für die Rechtsicherheit des Instruments hat. Der EWSA ist der Ansicht, dass eine bestimmte Anzahl von Befugnisübertragungen direkt vom europäischen Gesetzgeber geregelt werden könnten. Andere könnten in die Zuständigkeit der nationalen Aufsichtsbehörden bzw. ihres Zusammenschlusses auf europäischer Ebene fallen (10). Dies würde die Umsetzung der Subsidiaritätsprinzipien stärken und zu mehr Rechtssicherheit beitragen.

3.12

Der EWSA begreift, warum sich die Kommission in diesem Vorschlag angesichts seines spezifischen Rechtscharakters nur mit den Rechten natürlicher Personen beschäftigt. Er fordert die Kommission aber auf, auch den Daten über juristische Personen – insbesondere solche mit Rechtspersönlichkeit – Aufmerksamkeit zu widmen.

4.   Besondere Bemerkungen

Positive Aspekte

4.1   Der Vorschlag steht weiterhin im Einklang mit dem Gegenstand und den Zielen der Richtlinie 95/46/EG, insbesondere hinsichtlich bestimmter Definitionen, der Kernpunkte der Grundsätze für die Datenqualität und die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung, der Verarbeitung besonderer Datenkategorien sowie bestimmter Rechte auf Information und Zugang zu Daten.

4.2   Der Vorschlag ist im positiven Sinne innovativ in grundlegenden Bereichen im Zusammenhang mit neuen Definitionen, der Präzisierung der Einwilligungsbedingungen, vor allem im Falle von Kindern, und der Kategorisierung neuer Rechte wie der Rechte auf Berichtigung und Löschung, insbesondere des Rechts auf Vergessenwerden, dem Inhalt des Rechts auf Widerspruch und des Profilings sowie den sehr ausführlichen Pflichten der für die Verarbeitung Verantwortlichen und Auftragsarbeiter, der Datensicherheit und dem allgemeinen Rahmen für (vornehmlich administrative) Strafen.

4.3   Der Ausschuss begrüßt auch, dass im Vorschlag die Schaffung eines wirksamen institutionellen Rahmens angestrebt wird, um sowohl auf Ebene der Unternehmen (Datenschutzbeauftragte) als auch auf Ebene der Behörden der Mitgliedstaaten (unabhängige Aufsichtsbehörden) die Wirksamkeit der Rechtsvorschriften sowie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen diesen Behörden und der Kommission (Einsetzung eines Europäischen Datenschutzausschusses) zu gewährleisten. Allerdings weist er darauf hin, dass die Kompetenzen der nationalen und zum Teil regionalen Datenschutzbeauftragten in den Mitgliedstaaten gewahrt werden müssen.

4.4   Schließlich begrüßt der Ausschuss die Anregung der Erarbeitung von Verhaltensregeln und die Rolle der Zertifizierung und der Datenschutzsiegeln und -prüfzeichen.

Verbesserungswürdige Aspekte

4.5   Artikel 3 – Räumlicher Anwendungsbereich

4.5.1   Die in Absatz 2 vorgesehenen Anwendungsbedingungen sind zu restriktiv; zu erinnern ist hier an den Fall der pharmazeutischen Unternehmen, die ihren Sitz außerhalb Europas haben und die für klinische Versuche Zugang zu klinischen Daten über entsprechende Personen, die in der EU leben, erhalten möchten.

4.6   Artikel 4 – Begriffsbestimmungen

4.6.1   Der Begriff der „Einwilligung“, der die wesentliche Grundlage für das gesamte Datenschutzkonzept ist, sollte in seinen Teilaspekten genauer definiert werden, vor allem in Bezug auf die „sonstige eindeutige Handlung“ (dies gilt insbesondere für die französische Fassung).

4.6.2   Der Begriff der „Datenübertragung“ wird nirgendwo definiert; er sollte Gegenstand einer Definition in Artikel 4 sein.

4.6.3   Der in Artikel 5 Buchstabe a) erwähnte Begriff „Treu und Glauben“ muss definiert werden.

4.6.4   Der Begriff der Daten, die „offenkundig öffentlich“ gemacht wurden (Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) muss ebenfalls genau definiert werden.

4.6.5   Der im Vorschlag durchgängig verwendete Begriff „Profiling“ sollte ebenfalls definiert werden.

4.7   Artikel 6 – Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

4.7.1   In Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe f) ist von den „berechtigten Interessen des für die Verarbeitung Verantwortlichen“ die Rede, die noch nicht durch die vorgehenden Absätze abgedeckt sind. Dieser Begriff erscheint vage und subjektiv und sollte in diesem Text präzisiert werden und nicht einem delegierten Rechtsakt (Absatz 5) überlassen werden, zumal in Absatz 4 der Buchstabe f) nicht erwähnt wird (dies ist z.B. für Postdienste und Direktmarketing (11) von Bedeutung).

4.8   Artikel 7 - Einwilligung

4.8.1   In Absatz 3 sollte festgestellt werden, dass der Widerruf der Einwilligung jede künftige Verarbeitung verhindert und er die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung erst ab dem Zeitpunkt des Widerrufs der Einwilligung berührt.

4.9   Artikel 14 – Information der betroffenen Person

4.9.1   In Absatz 4 Buchstabe b) ist eine Frist festzulegen.

4.10   Artikel 31 – Meldung von Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten an die Aufsichtsbehörde

4.10.1   Bei der Meldung von Verletzungen gleich welcher Art besteht die Gefahr, dass das Funktionieren des Systems beeinträchtigt und es letztlich erschwert wird, die Schuldigen tatsächlich zur Verantwortung zu ziehen.

4.11   Artikel 35 – Benennung eines Datenschutzbeauftragten

4.11.1   In Bezug auf die Datenschutzbeauftragen sollten die Bedingungen für diese Aufgabe präzisiert werden, insbesondere: den Schutz vor Entlassung, der klar definiert werden und über den Zeitraum, in dem die betreffende Person diese Aufgabe ausgeübt hat, hinausgehen muss; die Entbindung des Datenschutzbeauftragten von jeder Verantwortung, wenn er den Arbeitgeber oder die nationalen Datenschutzbehörden auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen hat; ein unmittelbares Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmervertreter bei der Bestellung des DSB und ein Recht auf regelmäßige Information dieser Vertreter (12) über festgestellte Probleme und ihre Lösung. Es muss auch genauer auf die Frage der zu diesem Zweck bereitgestellten Mittel eingegangen werden.

4.12   Artikel 39 – Zertifizierung

4.12.1   Die Zertifizierung sollte Aufgabe der Kommission sein.

4.13   Artikel 82 und 33 Datenverarbeitung im Beschäftigungskontext

4.13.1   Es fehlt in Artikel 82 ein ausdrücklicher Verweis auf die Leistungsmessung (der auch in Artikel 20 zum „Profiling“ nicht zu finden ist). Es bleibt ferner unklar, ob sich diese Befugnis auch auf die Festlegung der Bestimmungen für DSB bezieht. Das Verbot des Profilings im Beschäftigungskontext sollte auch bei der Datenschutz-Folgenabschätzung (Artikel 33) deutlich gemacht werden.

Fehlende, noch zu berücksichtigende Aspekte

4.14   Artikel 81, 82, 83 und 84

4.14.1   Statt „nur in den Grenzen der Verordnung“ sollte die Formulierung „auf der Grundlage der Verordnung“ verwendet werden.

4.15   Geltungsbereich

4.15.1   Da es sich um Grundrechte handelt, sollte die Harmonisierung in den besonderen Bereichen die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen, im Rahmen ihres nationalen Rechts Bestimmungen, die in der Verordnung fehlen oder günstiger als die darin vorgesehenen sind, zu erlassen, so wie dies auf die in Artikel 80 bis 85 genannten Bereiche zutrifft.

4.15.2   Persönliche IP-Adressen sollten nicht nur in den Erwägungsgründen zu den schützenswerten personenbezogenen Daten gezählt werden, sondern ausdrücklich auch im laufenden Text der Verordnung.

4.15.3   Suchmaschinen, die ihre Einnahmen hauptsächlich aus Werbung generieren und personenbezogene Daten über ihre Nutzer sammeln, um diese Daten zu kommerziellen Zwecken einzusetzen, dürfen nicht nur in die Erwägungsgründe erwähnt werden, sondern müssen auch in den Geltungsbereich der Verordnung aufgenommen werden.

4.15.4   Es sollte klargestellt werden, dass die sozialen Netzwerke in den Geltungsbereich fallen – und dies nicht nur, wenn sie Profiling zu kommerziellen Zwecken betreiben.

4.15.5   Einige Kontroll- und Filtermethoden im Internet dienen vorgeblich der Fälschungsbekämpfung; da sie zur Folge haben, dass Profile der Nutzer erstellt, die Nutzer registriert und sämtliche ihrer Schritte kontrolliert werden, und zwar ohne entsprechende gerichtliche Genehmigung, müssen diese Methoden ebenso in den Geltungsbereich der Verordnung fallen.

4.15.6   Wünschenswert wäre außerdem, dass die Einrichtungen und Organe der EU den Verpflichtungen der Verordnung unterliegen.

4.16   Artikel 9 - Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten

4.16.1   Die beste Vorgehensweise bestünde darin, besondere von den Gegebenheiten, Situationen und Datenverarbeitungszwecken abhängige Bestimmungen festzulegen. Auch sollte in diesen Bereich das „Profiling“ untersagt werden.

4.16.2   Im Bereich der Verarbeitung sensibler Daten zu statistischen Zwecken sollte der Grundsatz der Nichtdiskriminierung eingeführt werden.

4.17   Weitere (ungenutzte) Möglichkeiten sollten in folgenden Bereichen vorgesehen werden:

Beteiligung der Personalvertreter auf allen nationalen und auf der europäischen Ebene an der Gestaltung der „verbindlichen unternehmensinternen Vorschriften“, die künftig als Voraussetzung zum internationalen Datentransfer gelten sollen (Artikel 43);

Unterrichtung und Anhörung des europäischen Betriebsrats bei internationalen Transfers von Daten der Arbeitnehmer, insbesondere in Drittstaaten;

Unterrichtung und Mitbestimmung der europäischen Sozialpartner und Verbraucher- und Menschenrechtsorganisationen bei der Bestellung der Mitglieder des „Europäischen Datenschutzausschusses“, der die „Artikel-29-Arbeitsgruppe“ ersetzen soll;

Unterrichtung und Mitbestimmung dieser Partner und der vorgenannten Organisationen auf nationaler Ebene bei der Bestellung der Mitglieder der nationalen Datenschutzbehörde, was ebenso wenig vorgesehen ist.

4.18   Artikel 74 bis 77 - Sammelklagen im Bereich illegaler Datensätze und des Schadenersatzes

4.18.1   Die meisten Verstöße gegen die Datenschutzrechte sind kollektiver Natur, d.h. sie betreffen nicht eine einzige Person, sondern eine Gruppe oder alle registrierten Personen. Die herkömmlichen individuellen Klageverfahren ermöglichen keine angemessene Reaktion auf diese Art von Verstößen. Zwar ist gemäß Artikel 76 jede Einrichtung, jede Organisation und jeder Verband, die bzw. der sich für den Schutz der Recht der betroffenen Personen einsetzt, befugt, im Namen einer oder mehrerer betroffener Personen die Verfahren gemäß Artikel 74 und 75 einzuleiten, doch gilt dies nicht, wenn es um die Beantragung einer Wiedergutmachung oder Entschädigung geht, denn in diesem Fall sieht Artikel 77 nur diese Möglichkeit für Einzelpersonen vor, erlaubt aber kein Verfahren der kollektiven Vertretung oder der Sammelklage.

4.18.2   Der Ausschuss bekräftigt in diesem Zusammenhang seinen über Jahre hinweg in mehreren Stellungnahmen vorgebrachten Standpunkt, dass sich die EU dringend ein harmonisiertes Rechtsinstrument für Sammelklagen auf EU-Ebene zulegen muss, das in vielen EU-Rechtsbereichen, so wie im Falle mehrerer Mitgliedstaaten, erforderlich ist.

Inakzeptable Aspekte

4.19   Artikel 8 - Verarbeitung personenbezogener Daten eines Kindes

4.19.1   Nachdem der Begriff „Kind“ in Artikel 4 Absatz 18 entsprechend dem New Yorker Übereinkommen als jede Person unter 18 Jahren definiert wurde, ist es nicht akzeptabel, dass in Artikel 8 Absatz 1 Kindern im Alter von 13 Jahren die Möglichkeit gegeben wird, ihre „Einwilligung“ zur Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu erteilen.

4.19.2   Auch wenn nachvollziehbar ist, dass spezifische Regelungen für die KMU erlassen werden müssen, ist es nicht akzeptabel, dass die Kommission mittels eines delegierten Rechtsakts die KMU schlicht und einfach von der Verpflichtung zur Wahrung der Rechte von Kindern ausnimmt.

4.20   Artikel 9 – Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten

4.20.1   Ebenso besteht kein Grund dafür, dass gemäß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a) Kinder ihre „Einwilligung“ zur Verarbeitung von Daten über Staatsangehörigkeit, politische Überzeugungen, Religions- und Glaubenszugehörigkeit, Gesundheit, Sexualleben oder Strafurteile erteilen können.

4.20.2   Die von Personen selbst bereitgestellten Informationen, z.B. auf Facebook, sollten nicht vom Schutz ausgenommen werden, wie aus Artikel 9 Buchstabe e) abgeleitet werden kann; für sie sollte zumindest das Recht auf Vergessenwerden gelten.

4.21   Artikel 13 – Rechte gegenüber Empfängern

4.21.1   Die am Ende des Satzes vorgesehene Ausnahme („es sei denn, dies erweist sich als unmöglich oder ist mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden“) ist weder gerechtfertigt noch annehmbar.

4.22   Artikel 14 – Information der betroffenen Person

4.22.1   Die mit Absatz 5 Buchstabe 5 identische Ausnahme ist ebenfalls inakzeptabel.

4.23   Artikel 19 Absatz 1 – Widerspruchsrecht

4.23.1   Die vage formulierte Ausnahme („zwingende schutzwürdige Gründe“) ist nicht akzeptabel und höhlt das Widerspruchsrecht inhaltlich aus.

4.24   Artikel 20 - Auf Profiling basierende Maßnahmen

4.24.1   Das Verbot des Profilings sollte nicht auf eine „automatisierte“ Datenverarbeitung beschränkt werden (13).

4.24.2   In Absatz 2 Buchstabe a) sollte (in der französischen Fassung) die Formulierung „qui ont été invoquées“ durch „qui ont été mises en place“ (deutsch: „ergriffen wurden“) ersetzt werden.

4.25   Artikel 21 - Beschränkungen

4.25.1   Der Wortlaut von Absatz 1 Buchstabe c) ist gänzlich inakzeptabel, weil er vage und undefinierte Ausdrücke enthält wie wirtschaftliches oder finanzielles Interesse, Währungs-, Haushalts- und Steuerbereich sowie Marktstabilität und -integrität (diese letzte Formulierung wurde in die Richtlinie 95/46 aufgenommen).

4.26   Artikel 25, 28 und 35 – Schwellenwert von 250 Beschäftigten

4.26.1   Der Schwellenwert von 250 Beschäftigten für die Anwendbarkeit einiger Schutzbestimmungen (z.B. hinsichtlich eines Datenschutzbeauftragten (DSB)) hätte zur Folge, dass nur knapp 40 % der Beschäftigten in den Genuss dieser Regelung kämen. Dieser Schwellenwert würde im Falle der Dokumentationspflicht dazu führen, dass die weitaus meisten Beschäftigten keine Möglichkeit hätten, die Nutzung ihrer personenbezogenen Daten zu überwachen; mithin gäbe es keinerlei Kontrolle. Der Ausschuss schlägt vor, die Möglichkeit eines niedrigeren Schwellenwerts zu erwägen, z.B. die Zahl von Beschäftigten, die im Allgemeinen in den Mitgliedstaaten für die Einsetzung einer betrieblichen Interessenvertretung gilt. Es könnte auch ein anderer auf objektiven Kriterien beruhender Ansatz erwogen werden, der sich z.B. auf die Zahl der innerhalb eines bestimmten Zeitraums bearbeiteten Datenbestände bezieht, die unter den Datenschutz fallen, und zwar ungeachtet der Größe des betreffenden Unternehmens bzw. der betreffenden Dienststelle.

4.27   Artikel 51 – Zentrale Anlaufstelle

4.27.1   Auch wenn zur Erleichterung der Arbeit der Unternehmen und zur Erhöhung der Wirksamkeit der Datenschutzmechanismen auf das Prinzip einer zentralen Anlaufstelle (one-stop-shop) zurückgegriffen wird, ist damit die Gefahr einer spürbaren Aufweichung des Schutzes der Daten von Bürgern im Allgemeinen und der personenbezogenen Daten von Arbeitnehmern im Besonderen verbunden, was die gegenwärtige Verpflichtung hinfällig machen würde, der zufolge Datentransfers personenbezogener Daten Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein und von der nationalen Datenschutzkommission genehmigt werden müssen (14).

4.27.2   Im Übrigen steht dieses System augenscheinlich im Widerspruch zum Bemühen um eine bürgernahe Verwaltung und droht, den Bürgern die Möglichkeit zu nehmen, ihre Anträge durch die Aufsichtbehörde, die für sie am nächsten und zugänglichsten ist, prüfen zu lassen.

4.27.3   Es gibt also Gründe, die für die Beibehaltung der Zuständigkeit der Behörde des Mitgliedstaats sprechen, in dem der Antragsteller wohnhaft ist.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  COM(2012) 11 final.

(2)  COM(2012) 9 final.

(3)  COM(2012) 10 final.

(4)  COM(2012) 12 final.

(5)  In diesen Mitteilungen wird betont, dass „die Union (…) eine umfassende Regelung zum Schutz personenbezogener Daten schaffen (muss), die für sämtliche Zuständigkeitsbereiche der Union gleichermaßen gilt“ und dass „die Union (…) deshalb für eine konsequente Anwendung des Grundrechts auf Datenschutz sorgen“ muss, damit natürliche Personen das Recht haben, eine wirksame Kontrolle über ihre Daten auszuüben.

(6)  Siehe die Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/98/EG über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors“ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 129.

(7)  Siehe die Stellungnahme des EWSA, ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 123.

(8)  Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zum Datenschutzpaket vom 7. März 2012.

(9)  COM(2009) 673 final vom 9.12.2009.

(10)  Vgl. die Subsidiaritätsrüge des französischen Senats.

(11)  Es bedarf weiterer Erläuterungen zur Frage der Werbung mit persönlich adressierten Briefen, das die Anwendung der Verordnung zu ihrem Verbot führen würde, obgleich es sich um eine wenig aufdringliche und gezielte Form der Neukundenakquise ist.

(12)  Z.B. Übermittlung eines regelmäßigen Berichts über die Tätigkeit des DSB an die Arbeitnehmervertreter und die gewählten Vertreter der Beschäftigten im Verwaltungsrat oder Aufsichtsrat auf nationaler und/oder – falls vorhanden – auf europäischer Ebene.

(13)  Vgl. die Empfehlung CM/Rec(2010) 13 des Ministerkomitees des Europarates vom 23. November 2010.

(14)  Insbesondere die unabhängigen Behörden, die für die Genehmigung und Überwachung der Erstellung von Profilen zuständig sind. Deren Befugnisse sollten vielmehr im Hinblick auf die digitale Gesellschaft und die sozialen Netze ausgeweitet werden, auch aufgrund des Werts des Austauschs individueller Profile für die Marktforschung.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgender abgelehnter Kompromissvorschlag erhielt mehr als ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 4.25 und Ziffer 4.25.1 streichen:

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

87

Nein-Stimmen

:

89

Enthaltungen

:

26


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/98


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa“

COM(2011) 900 final

2012/C 229/18

Berichterstatter: Jan SIMONS

Die Europäische Kommission beschloss am 20. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa

COM(2011) 900 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 145 gegen 2 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bedauert sehr, dass der Titel der Mitteilung verwirrend ist und inhaltlich mehr verspricht, als er hält. Verwirrend deshalb, weil der Begriff „Qualitätsrahmen“ hier offenbar eine andere Bedeutung hat als der allgemein anerkannte gemeinsame Wert „Qualität“ von Artikel 14 AEUV und Protokoll 26 – ein Wert, der weder in der Mitteilung als solcher noch sektorspezifisch behandelt wird.

1.2   Der Ausschuss anerkennt gleichwohl die Notwendigkeit, diesen erläuternden Vermerk zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu veröffentlichen. Soweit diese Erläuterungen in der Kommissionsmitteilung erfolgen, wird dies befürwortet vorbehaltlich der vorgebrachten Bemerkungen. Der Ausschuss hat in den vergangenen Jahren wiederholt auf die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger, effizienter und moderner Dienstleistungen von allgemeinem Interesse hingewiesen.

1.3   Dennoch hält es der Ausschuss für unabdingbar, die neuen Primärrechtsbestimmungen zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in sektorspezifisches und gegebenenfalls sektorübergreifendes Sekundärrecht umzusetzen.

1.4   Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt erneut sehr deutlich, welche zentrale Rolle Dienste von allgemeinem Interesse bei der Gewährleistung des sozialen und territorialen Zusammenhalts spielen. Hierbei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass die Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Sektors durch politische Entscheidungen eingeengt werden. Der Ausschuss teilt die Ansicht, dass dringend angemessene Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Fortbestand dieser Dienstleistungen zu sichern und ihre Qualität zu verbessern.

1.5   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass der institutionelle Rahmen (Artikel 14 AEUV, Protokoll Nr. 26 und Artikel 36 der Grundrechtecharta) eine gute Grundlage bietet, auf der aufgebaut werden kann. Er ist jedoch der Meinung, dass diese Mitteilung noch nicht das kohärente und spezifische Konzept beinhaltet, das für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erforderlich ist.

1.6   Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse mittels sektoraler Rechtsvorschriften, die passgenaue Lösungen ermöglichen, zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren, ist und bleibt nach Ansicht des Ausschusses Aufgabe der Mitgliedstaaten, wohingegen die Rechtsetzungsbefugnis der EU vor allem die Festlegung der wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen und die Prüfung auf offensichtliche Mängel betrifft.

1.7   Der Ausschuss spricht sich dafür aus, dass bei der Überarbeitung der sektoralen Rechtsvorschriften, die Universaldienstverpflichtungen umfassen, eine kontinuierliche Prüfung auf der Grundlage der neuen Primärrechtsbestimmungen, der Entwicklung der Bedürfnisse der Nutzer sowie des technologischen und wirtschaftlichen Wandels erforderlich ist, die in Zusammenarbeit mit Interessenträgern und der Zivilgesellschaft stattfindet. Bei dieser Überarbeitung sollte nach Ansicht des Ausschusses ein Ansatz verfolgt werden, der sowohl der Beschäftigung als auch dem sozialen und territorialen Zusammenhalt Rechnung trägt, da diese Aspekte bisher vernachlässigt wurden.

1.8   In Protokoll Nr. 26 wird nachdrücklich auf die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten verwiesen, wenn es darum geht, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren. Deswegen sind nach Ansicht des Ausschusses in erster Linie die Mitgliedstaaten für deren Bewertung auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene zuständig, während die Europäische Kommission lediglich die Pflicht hat, sogenannte bewährte Verfahrensweisen zu verbreiten und diese Dienstleistungen auf ihre Vereinbarkeit mit den allgemeinen Grundsätzen der EU-Verträge hin zu kontrollieren.

1.9   Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission in der Mitteilung bestrebt ist, die Grundbegriffe zu erläutern, die in den Diskussionen über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse verwendet werden und Kunden und Nutzer, also die Bürger im Allgemeinen, direkt betreffen. Die Mitteilung ist in dieser Hinsicht jedoch leider unvollständig. Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Definition von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse mehr umfassen, als den Verweis auf die Existenz eines Marktes. Dabei wäre z.B. an die demokratisch legitimierte politische Beschlussfassung in den Mitgliedstaaten zu denken. Es wäre ratsam, umfassende Konsultationen durchzuführen und erneut – ohne Interpretationsspielraum in den verschiedenen Sprachfassungen – eine erläuternde Begriffsliste vorzulegen, um Fehlinterpretationen zu vermeiden.

1.10   Der Ausschuss hält es für eine gute Sache, mehr Klarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der EU-Vorschriften für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu schaffen. Dies gilt auch für die „Leitfäden“, die von der Kommission veröffentlicht werden, um ein besseres Verständnis und eine bessere Anwendung dieser Vorschriften zu bewirken – vor allem wenn in Zusammenarbeit mit Sachverständigen entsprechend erstellt werden.

1.11   Bezüglich der weiteren Gewährleistung des Zugangs zur Grundversorgung – Postdienstleistungen, Basisbankdienstleistungen, öffentlicher Verkehr, Energie und elektronische Kommunikation – muss nach Ansicht des Ausschusses zumal für benachteiligte Kunden, wie Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ein Universalrecht auf Zugang bestehen. Die Mitgliedstaaten müssen auf der Grundlage des geltenden Rechtssystems immer wieder fundierte und von der Kommission zu überwachende Überlegungen darüber anstellen, ob diese Dienstleistungen im öffentlichen Sektor verbleiben bzw. von diesem übernommen werden oder unter strengen Bedingungen (teilweise) an den Markt abgetreten werden sollten.

1.12   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass den Sozial-, Gesundheits- und Arbeitsmarktdienstleistungen von allgemeinem Interesse in dieser Mitteilung mehr Aufmerksamkeit hätte zuteil werden müssen. Deshalb fordert er die Kommission auch auf, ihre Arbeit im Bereich der Spezifizierung von Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse zu intensivieren. Auch Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in der EU in Bereichen wie der Gesundheitsfürsorge, der Kinderbetreuung, der Altenpflege, der Unterstützung von Personen mit Behinderungen, dem sozialen Wohnungswesen oder dem Arbeitsmarkt sieht der Ausschuss, ebenso wie die Kommission, als grundlegend an.

1.13   Der Ausschuss fordert die Kommission auf, umgehend Vorschläge betreffend die Förderung von qualitativ hochwertigen Initiativen zu unterbreiten, insbesondere für Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, da diesen Dienstleistungen in der vorliegenden Mitteilung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, die Nachfrage danach steigt und ihre Finanzierung immer problematischer wird. Außerdem sollte die Kommission Folgemaßnahmen für die Umsetzung des europäischen Qualitätsrahmens für soziale Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten ergreifen.

2.   Einleitung

2.1   Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden neue Bestimmungen für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse eingeführt, nämlich Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Protokoll Nr. 26 über die Auslegung des Begriffs „gemeinsamer Wert“ in Artikel 14 AEUV sowie über die nichtwirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse. Außerdem erhielt Artikel 36 der Grundrechtecharta damit denselben rechtlichen Stellenwert wie die Verträge.

2.2   Darüber hinaus macht die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich, welche zentrale Rolle Dienstleistungen von allgemeinem Interesse für die Sicherstellung des sozialen und territorialen Zusammenhalts spielen und welche Auswirkungen die Krise auf den öffentlichen Sektor hat. Untersuchungen zeigen, dass „öffentliche Dienstleistungen“, die weit mehr umfassen als nur Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, mehr als 26 % des BIP der 27 EU-Mitgliedstaaten ausmachen und 30 % der europäischen Arbeitskräfte in diesem Bereich beschäftigt sind.

2.3   Dies sind deshalb auch die wichtigsten Gründe, die die Kommission dazu bewogen haben, die hier in Rede stehende Mitteilung zu veröffentlichen.

3.   Inhalt der Kommissionsvorlage

3.1   Nach Ansicht der Kommission soll mit dem Qualitätsrahmen sichergestellt werden, dass das Regelungsumfeld auf EU-Ebene auch in den nächsten Jahren die soziale Dimension des Binnenmarktes stärkt, dass der spezifischen Art dieser Dienstleistungen besser Rechnung getragen wird und dass sie in einer Weise bereitgestellt werden, die den im Protokoll anerkannten Werten – Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung, universeller Zugang und Nutzerrechte – gerecht wird.

3.2   Die Kommission stellt fest, dass sich im Laufe der Jahre die Nachfrage nach Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sowie die Art ihrer Erbringung erheblich verändert haben. Früher seien diese Dienstleistungen durch die Zentralregierung bereitgestellt worden, während sie heute weitgehend an nachgeordnete Behörden oder – über entsprechende Rechtsvorschriften – an den privaten Sektor vergeben würden.

3.3   Die in Ziffer 3.2 angesprochene Tendenz wird durch Liberalisierung, andere Schwerpunkte in den politischen Strategien sowie Änderungen der Nutzerbedürfnisse und -erwartungen noch verstärkt. Und da viele dieser Dienstleistungen wirtschaftlicher Art sind, unterliegen sie den Binnenmarkt- und den Wettbewerbsvorschriften, „sofern diese die Erfüllung der mit diesen Dienstleistungen verbundenen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich nicht behindern“.

3.4   Obwohl Besorgnisse hinsichtlich der Auswirkungen dieser Vorschriften insbesondere auf die Sozialdienstleistungen bestehen, ist die Kommission der Auffassung, dass diese Regeln so angewandt werden können, dass den spezifischen Erfordernissen Rechnung getragen und das Dienstleistungsangebot verbessert wird, wobei natürlich auf die entsprechende Flexibilität zu achten ist.

3.5   Der von der Kommission vorgestellte „Qualitätsrahmen“ besteht aus drei Aktionsfeldern, die die Kommission aber nicht in Form konkreter Vorschläge ausgestaltet.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält den Titel der Mitteilung für unglücklich gewählt, weil er verwirrend ist und inhaltlich mehr verspricht, als er hält. Verwirrend deshalb, weil der Begriff „Qualitätsrahmen“ hier offenbar eine andere Bedeutung hat als der allgemein anerkannte gemeinsame Wert „Qualität“ von Artikel 14 AEUV und Protokoll 26 – ein Wert, der weder in der Mitteilung als solcher noch sektorspezifisch behandelt wird. Gleiches gilt auch für die anderen Werte wie Sicherheit, Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung, Förderung des universellen Zugangs und Nutzerrechte.

4.2   Sehr bedauerlich ist auch das Fehlen einer Wirkungsanalyse in der Mitteilung, denn es gibt an Behauptungen und Feststellungen der Kommission unter Ziffer 3.2 eine ganze Menge auszusetzen. So wurden diese Dienstleistungen laut Ausschuss und Sachverständigen schon immer auf regionaler und lokaler Ebene angeboten.

4.3   Der Ausschuss anerkennt die Notwendigkeit, diesen erläuternden Vermerk für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu veröffentlichen. Er hat in früheren Stellungnahmen (1) bereits auf das Erfordernis effizienter, moderner, zugänglicher und erschwinglicher Dienstleistungen von allgemeinem Interesse hingewiesen, die eine der Säulen des europäischen Sozialmodells und der sozialen Marktwirtschaft sind, und dazu aufgefordert, diesen ständige Aufmerksamkeit zu schenken, zumal in der derzeitigen in Europa herrschenden Finanz- und Wirtschaftskrise.

4.4   Insoweit unterstützt der Ausschuss die Vorgehensweise der Kommission und ermutigt sie, die spezifischen Arbeiten zur Anerkennung der Besonderheiten der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, etwa im Bereich des Beihilfenrechts und der Arbeitsmarktdienstleistungen, fortzusetzen.

4.5   Dennoch hält es der Ausschuss für unabdingbar, die neuen Primärrechtsbestimmungen zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in sektorspezifisches und gegebenenfalls sektor-übergreifendes Sekundärrecht umzusetzen.

4.6   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass den Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen von allgemeinem Interesse in dieser Mitteilung mehr Aufmerksamkeit hätte zuteil werden müssen. Deshalb fordert er die Kommission denn auch auf, ihre Arbeit im Bereich der Spezifizierung von Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse zu intensivieren. Im Übrigen lässt sich noch an weitere, von der Kommission nicht genannte Dienstleistungen von allgemeinem Interesse denken, z.B. in den Bereichen Kultur, Bildung oder öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Auch Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in der EU in Bereichen wie der Gesundheitsfürsorge, der Kinderbetreuung, der Altenpflege, der Unterstützung von Personen mit Behinderungen, dem sozialen Wohnungswesen oder den Arbeitsmarktdienstleistungen sieht der Ausschuss, ebenso wie die Kommission, als grundlegend an.

4.7   Mit der Einführung neuer Bestimmungen nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, nämlich Artikel 14 AEUV und Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse sowie Artikel 36 der Grundrechtecharta, wodurch diese denselben rechtlichen Stellenwert wie die Verträge erhält, wurde für die Kommission der entsprechende Handlungsspielraum geschaffen, um alle ihre bisherigen Maßnahmen in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu bündeln. Der Ausschuss hält dies für einen sinnvollen Ansatz, wobei jedoch anzumerken ist, dass diese Mitteilung noch nicht das erforderliche kohärente und spezifische Konzept für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, wie ihre Zugänglichkeit, beinhaltet. Deshalb fordert er die Kommission auf, konkrete Vorschläge zu unterbreiten.

4.8   Mit Artikel 14 AEUV erhielt die EU die Befugnis, Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu erlassen und mittels Verordnungen die für das Funktionieren dieser Dienste notwendigen Grundsätze und – insbesondere wirtschaftlichen und finanziellen – Bedingungen festzulegen. Aus dem Zusammenhang des Artikels geht nach Ansicht des Ausschusses klar hervor, dass hier nicht die Bedingungen für die Dienstleistung selbst, denn diese legen die nationalen Behörden fest, sondern die Rahmenbedingungen und die sektorspezifischen Bedingungen in den Kompetenzbereichen der EU gemeint sind (unter „nationalen Behörden“ sind in diesem Zusammenhang die Behörden der zentralstaatlichen, regionalen und kommunalen Ebene zu verstehen).

4.9   Dieser Artikel macht zudem deutlich, dass es die Zuständigkeit der Behörden der Mitgliedstaaten auf nationaler und subnationaler Ebene ist und bleibt, solche Dienste bereitzustellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren. Der Ausschuss hat sich in der Vergangenheit auch stets hierfür ausgesprochen. Die Kommission sollte sich deshalb auch weiterhin über diese Dienstleistungen auf einzelstaatlicher Ebene informieren, um die Umsetzung der EU-Vorschriften beurteilen zu können.

4.10   Die Kommission gibt an, kontinuierlich prüfen zu wollen, inwiefern die geltenden sektoralen Rechtsvorschriften, die Universaldienstverpflichtungen beinhalten, überarbeitet werden müssen. Der Ausschuss möchte hierzu anmerken, dass nach seiner Ansicht diese fortlaufende Prüfung auf der Grundlage der neuen Primärrechtsbestimmungen, der Entwicklung der Bedürfnisse der Nutzer sowie des technologischen und wirtschaftlichen Wandels in Zusammenarbeit mit Interessenträgern und der Zivilgesellschaft vorgenommen werden müsste. Dies gilt vor allem für die Ermittlung des Bedarfs an neuen Universaldienstverpflichtungen in anderen Bereichen. Die diesbezügliche Sichtweise des Ausschusses wurde bereits in einer früheren Stellungnahme dargelegt (2).

4.11   In Protokoll Nr. 26 Artikel 1 sind die Grundprinzipien verankert, die für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gelten, und in Artikel 2 die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten aufgeführt, wenn es darum geht, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass daher in erster Linie die Mitgliedstaaten für die Bewertung der in Artikel 2 genannten Dienstleistungen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene zuständig sind; der Europäischen Kommission bleibt bei der Prüfung auf offensichtliche Mängel die Aufgabe, diese Dienstleistungen auf die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der EU-Verträge hin zu kontrollieren.

4.12   Der Ausschuss begrüßt das Bestreben der Kommission, die verschiedenen, in Diskussionen über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse verwendeten Begriffe zu erläutern. Die Mitteilung ist in dieser Hinsicht jedoch leider unvollständig und teilweise nicht richtig. So fehlt u.a. eine Erläuterung der Bedeutung und des Gesamtstellenwerts des Begriffs „Grundversorgung“, und es stellt sich die Frage, ob das in der niederländischen Fassung verwendete Wort „onmisbaar“ (S. 3, zweiter Aufzählungsstrich) gleichbedeutend ist mit „essentieel“. Die Aufzählung spezifischer Universaldienstverpflichtungen ist zudem unvollständig. In der Kommissionsmitteilung selbst findet sich ein Beispiel für diese Verwirrung: In der Überschrift und im ersten Satz von Aktionsfeld 2 ist von „Grundversorgung“ die Rede, während es im folgenden Text dieses Titels von „Universaldienstverpflichtungen“ gesprochen wird. Unterstützung durch namhafte Sachverständige, um die im Zusammenhang mit Dienstleistungen von allgemeinem Interesse verwendeten Grundbegriffe eindeutig zu formulieren, sollte die Kommission ausschlagen.

4.13   Es wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass zwischen den verschiedenen Sprachfassungen Interpretationsspielraum besteht, und dies nicht nur bei den Grundbegriffen. So stellt sich die Frage, ob jeweils unterschiedliche Dinge gemeint sind, wenn in der niederländischen Fassung die Begriffe „algemene toegang“ bzw. „universele dienst“ und in der deutschen Fassung „Verpflichtung der Daseinsvorsorge“ bzw. „Gemeinwohlverpflichtung“ sowie „öffentliche Aufgabe“ nebeneinander verwendet werden. Typisch für die Verwirrung ist, dass die Kommission in dem Textrahmen der Grundbegriffe einerseits erklärt, den Begriff „öffentlicher Dienst“ in der Mitteilung nicht mehr zu verwenden, es dann aber bereits vier Absätze weiter in der niederländischen Fassung heißt: […] die specifieke openbare diensten in staat stellen hun taken te vervullen" („[…] damit die jeweiligen öffentlichen Dienste ihren Aufgaben […] nachkommen können“).

4.14   Es wäre daher ratsam, eine umfassende Konsultation zu all diesen Punkten durchzuführen und erneut eine erläuternde Begriffsliste vorzulegen, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Dabei sollten die Unterschiede in den Sozialsystemen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Bei der Erarbeitung dieser Mitteilung hat die Kommission einen Ansatz in Form von drei Aktionsfeldern – wie in Ziffer 3.5 angeführt – gewählt, der nach Ansicht des Ausschusses einen guten Rahmen für eine weitere Präzisierung darstellt.

5.2   Beim ersten Aktionsfeld geht es darum, mehr Klarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der EU-Vorschriften zu schaffen, die für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gelten. Dies kann der Ausschuss nur begrüßen, denn dafür plädiert er bereits seit Jahren. Leider muss der Ausschuss feststellen, dass dieses Anliegen aber nicht in Form neuer konkreter Vorschläge ausgestaltet wird.

5.3   Bei der Überarbeitung der Beihilfevorschriften für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse hat die Kommission folgende Anpassungen bereits beschlossen bzw. vorgeschlagen:

5.3.1

eine neue Mitteilung, in der näher auf Auslegungsprobleme eingegangen wird, die sich auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene stellen;

5.3.2

die Erhöhung der Zahl von Sozialdiensten, die unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr vorab notifiziert und durch die Kommission bewertet werden müssen. Neben Krankenhäusern und Einrichtungen des sozialen Wohnungsbaus umfasst diese Liste derzeit Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die soziale Bedürfnisse hinsichtlich Gesundheitsfürsorge und Langzeitpflege, Kinderbetreuung, Zugang zum und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sowie Betreuung und soziale Eingliederung von Angehörigen schutzbedürftiger Gruppen erfüllen;

5.3.3

eine gründlichere und gezieltere Prüfung umfangreicher Beihilfemaßnahmen, die erhebliche Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes haben können;

5.3.4

den Vorschlag einer neuen De-minimis-Regel eigens für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, nach der Beihilfebeträge von bis zu 500 000 EUR während eines Dreijahreszeitraums nicht als Beihilfe gelten. Für bestimmte Sektoren, wobei die Kommission die Bereiche Verkehr und öffentlicher Rundfunk nennt, gelten weiterhin besondere sektorspezifische Regeln.

5.4   Bei den Vorschlägen der Kommission zur Reform der Vorschriften über das öffentliche Beschaffungswesen und Konzessionen, um die Qualität bei der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu verbessern, sind folgende Aspekte von Belang:

5.4.1

eine gesonderte – weniger strenge – Behandlung von Sozial- und Gesundheitsdiensten, die den besonderen Funktionen und Merkmalen dieser Dienste Rechnung trägt. Die Schwellenwerte sollen angehoben werden und für die betreffenden Dienste sollen nur noch Transparenz- und Gleichbehandlungspflichten gelten. Es wird dazu ermutigt, das Kriterium des „wirtschaftlich günstigsten Angebots“ anzuwenden (laut Kommission deckt der Begriff „wirtschaftlich günstigstes Angebot“ auch soziale und ökologische Aspekte ab);

5.4.2

mehr Rechtssicherheit in der Frage, wie das EU-Beschaffungsrecht auf die Beziehungen von öffentlichen Einrichtungen untereinander anzuwenden ist. Hier wird auf die jüngste Stellungnahme des Ausschusses zur öffentlichen Auftragsvergabe und Konzessionsvergabe verwiesen.

5.5   Außerdem begrüßt der Ausschuss die Veröffentlichung der „Leitfäden“ der Kommission, die für ein besseres Verständnis und eine bessere Anwendung der EU-Vorschriften für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sorgen sollen – vor allem wenn sie unter Hinzuziehung namhafter Sachverständiger gestaltet wurden.

5.6   Das zweite Aktionsfeld betrifft die Sicherung des Zugangs aller Bürger zur Grundversorgung, wobei die Kommission bestrebt ist, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der notwendigen Stärkung des Wettbewerbs einerseits und dem Zugang aller Bürger zu einer bezahlbaren, hochwertigen Grundversorgung andererseits zu wahren, wie übrigens auch in dem entsprechenden Weißbuch von 2004 dargelegt ist.

5.7   In diesem Zusammenhang führt die Kommission folgende Beispiele für die Grundversorgung an: Postdienste, Basisbankdienstleistungen, den öffentlichen (Personen-)Verkehr, Energie und elektronische Kommunikation. Der Ausschuss geht unter Verweis auf Ziffer 4.6 davon aus, dass diese Aufzählung nicht erschöpfend ist. Auch der Ausschuss sieht die genannten Beispiele als Teil der Grundversorgung an, die bezahlbar sein müssen und für die ein universelles Zugangsrecht gelten muss, insbesondere für schutz- und unterstützungsbedürftige Empfänger wie Menschen mit Behinderungen und Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind. Bei einem Widerstreit mit den Wettbewerbsregeln hat das allgemeine Interesse Vorrang.

5.8   Das dritte Aktionsfeld betrifft die Förderung qualitativ hochwertiger Initiativen, insbesondere Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse. Die Nachfrage der Gesellschaft nach diesen Dienstleistungen nimmt zu, und ihre Finanzierung wird einerseits durch die Wirtschafts- und Finanzkrise und andererseits infolge der Überalterung immer schwieriger.

5.9   Der Ausschuss weist hier in erster Linie darauf hin, dass er noch immer auf eine Mitteilung der Kommission zu Gesundheitsdiensten wartet, die diese im Zusammenhang mit sozialen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zugesagt hat.

5.10   Die Kommission führt als Beispiele für dieses dritte Aktionsfeld vier Initiativen an. Der Ausschuss weist darauf hin, dass drei der vier Initiativen mit bereits früher gestarteten Initiativen in Zusammenhang stehen. Die im PROGRESS-Programm beabsichtigte Förderung neuer transnationaler Projekte darf sich daher nicht nur auf die Umsetzung des Freiwilligen Qualitätsrahmens beziehen, sondern muss auch die Einbeziehung der Projektergebnisse zum Gegenstand haben.

5.11   Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Europäische Kommission in Bezug auf das öffentliche Auftragswesen darauf Wert legt, dass der Auftrag anhand des Kriteriums der „geringsten Kosten für die Allgemeinheit“ vergeben wird, also nicht notwendigerweise an den billigsten Anbieter. Dies ist besonders wichtig, um Sozialpolitik und Arbeitsmarktdienstleistungen, die eine starke Wechselwirkung aufeinander ausüben, möglichst wirksam miteinander zu verknüpfen. Allerdings muss der soziale Aspekt des öffentlichen Auftragswesens gesamtgesellschaftlich betrachtet gestärkt werden.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 77-80; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 65-68; ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 42-45; ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 135-141.

(2)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 77-80.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit“

COM(2011) 841 final

2012/C 229/19

Berichterstatter: Richard ADAMS

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 203 Euratom-Vertrag um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit

COM(2011) 841 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 146 gegen 5 Stimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Verordnungsvorschlag und unterstützt unter bestimmten Bedingungen, dass das Sachwissen der EU im Bereich nukleare Sicherheit verstärkt in Drittländern genutzt wird.

1.2   Der Ausschuss betont, dass die erheblichen Finanzmittel in Höhe von 631 Mio. EUR für den Zeitraum 2014-2020 von EuropeAid (Generaldirektion Entwicklung und Zusammenarbeit) verwaltet werden und den Regeln und Verfahren unterliegen, die auf alle Hilfs- und Entwicklungsmaßnahmen Anwendung finden. Der Ausschuss hofft, dass dadurch die Rechenschaftspflicht, die Transparenz und die Kohärenz mit anderen Hilfsprogrammen gestärkt werden.

1.3   Der Ausschuss hält fest, dass er ab 2016 von der Europäische Kommission alle zwei Jahre einen Bericht über die Durchführung, die Ergebnisse und die wichtigsten Folgen und Wirkungen der auswärtigen finanziellen Hilfe der Union erhalten wird. Er sieht seiner umfassenden Teilhabe an diesem Überwachungs- und Überarbeitungsprozess entgegen. Durch eine rechtzeitige Planung der Halbzeitüberprüfungen der Programme dürften die Ergebnisse optimiert werden können. Sie wird zweifellos in Zusammenarbeit mit den geografischen Programmen bzw. den EU-Delegationen in den Partnerländern erfolgen.

1.4   Die Meinungen der europäischen Zivilgesellschaft in Bezug auf die Entwicklung der Kernkraft im Allgemeinen gehen in den einzelnen Mitgliedstaaten stark auseinander. Dies sollte an einigen Stellen des Verordnungsvorschlags deutlicher herausgearbeitet werden.

1.5   So sollte für die europäischen Bürger als Steuerzahler insbesondere klargestellt werden, dass die Mittel des Programms überwiegend für Sanierungsvorhaben und nur zu einem geringen Teil für Beratungsprogramme für nukleare Sicherheit in Schwellenländern verwendet werden, in denen politische und gesellschaftliche Stabilität gewährleistet sein müssen.

1.6   Die Europäische Kommission sollte für die Unterstützung von Schwellenländern eine internationale Vereinbarung über Kriterien und Bedingungen für beratende Tätigkeiten im Bereich nukleare Sicherheit zwischen der kleinen Anzahl an Staaten vorschlagen, die eine derartige Beratung auch wirklich übernehmen können. Ungeachtet eines derartigen Abkommens sollten im Rahmen des INSC-Programms klare Kriterien zur Anwendung kommen, um zu bewerten, ob ein Schwellenland:

die Mindestkriterien für nationale und internationale Stabilität erfüllt;

in der Lage und bereit ist, den Aufbau einer administrativen, wissenschaftlichen und technischen Struktur zu gewährleisten, die für die Nutzung der Kernkraft unabdingbar ist;

auf Dauer die für die Gewährleistung einer hohe Regulierungskompetenz erforderlichen finanziellen, technischen und industriellen Ressourcen aufbringen, alle Voraussetzungen für den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken sicherstellen und ein langfristiges Programm zur sicheren Entsorgung von radioaktiven Abfällen auflegen kann.

1.7   Diese Kriterien sollten nicht im Anhang der Verordnung enthalten sein, sondern in den Textkorpus aufgenommen werden, da sie Grundsätze in Verbindung mit der internationalen nuklearen Sicherheit, der Stabilität internationaler Beziehungen und der internationalen Gefahrenabwehr von hoher Bedeutung umfassen.

1.8   Unterstützungsprojekte sollten ausschließlich in Schwellenländern durchgeführt werden, die Vertragspartei des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und seines Zusatzprotokolls, des Übereinkommens über nukleare Sicherheit und des Gemeinsamen Übereinkommens über die Sicherheit der Behandlung abgebrannter Brennelemente sind.

1.9   Die Bereitstellung von Mitteln für die Anschaffung technischer Ausrüstung sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen in Verbindung mit der Gewährleistung der Sicherheit erfolgen. Die Europäische Kommission sollte Kriterien entwickeln und über ihre Anwendung berichten. Die Betreiber sollten keine Unterstützung erhalten.

1.10   Zur Verbesserung der Transparenz empfiehlt der Ausschuss, Fallstudien aus dem aktuellen Programm zu veröffentlichen und Präsentation und Querverweise auf dem Internetportal von EuropeAid zu verbessern.

1.11   In dem INSC-Programm sollte die Möglichkeit zur gesetzlichen Verankerung obligatorischer Instrumente in Ländern mit Kernkraftanlagen gefördert und bewertet werden, sofern sie zur besseren Durchführung der IAEO-Verträge, Übereinkommen und Abkommen beitragen.

1.12   Der Ausschuss empfiehlt insbesondere die Aufnahme der Unterstützung unabhängiger Organisationen der Zivilgesellschaft inner- oder außerhalb derjenigen begünstigten Länder in das Programm, die Rechenschaftspflicht und Transparenz der nuklearen Sicherheitskultur durch besondere Maßnahmen verbessern wollen.

2.   Einleitung

2.1   Von Zeit zu Zeit rücken Fragen der nuklearen Sicherheit und Gefahrenabwehr über die Grenzen Europas hinaus ins Zentrum des Interesses, so insbesondere nach den Reaktorunfällen in Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Derartige Unfälle haben globale Auswirkungen und veranschaulichen die katastrophalen Folgen einer mangelhaften Planung, einer unzureichenden Sicherheitskultur und eines unzulänglichen Sicherheits- und Regulierungsrahmen für den Betrieb der Anlagen.

2.2   Im Jahr 2010 waren weltweit 441 gewerblich betriebene Kernkraftwerken in 30 Ländern in Betrieb. Viele dieser Anlagen wurden in den 1970er und 1980er Jahren für eine durchschnittliche Lebensdauer von 35 Jahren gebaut. 56 Länder betreiben außerdem rund 250 zivile Forschungsreaktoren. Über 60 weitere Kernkraftwerke werden derzeit gebaut, und mehr als 150 neue Kernkraftwerke sind geplant, vor allem in China, Indien und Russland, aber auch in Südostasien, Südamerika und dem Nahen Osten. Die Stromnachfrage steigt unaufhaltsam, und verschiedene Länder könnten auch auf eine Ausweitung ihrer Nuklearstromexporte abzielen.

2.3   Unabhängig davon, ob es wirklich eine Renaissance der Kernkraft gibt, wird es, so lange Kernkraftwerke in Betrieb sind, immer erhebliche Fragen in Bezug auf die nukleare Sicherheit mit potenziell globalen Auswirkungen geben. Die EU macht daher geltend, dass sie bei verschiedenen Aspekten der internationalen nuklearen Sicherheit ein berechtigtes Anliegen hat und tätig werden muss, zumal sie seit der Unterzeichnung des Euratom-Vertrags im Jahr 1957 Sachwissen in Forschung, Technik, Betrieb und Regulierung erworben hat. Da Europa über rund ein Drittel der weltweit installierten Kernenergieleistung und die größte Erfahrung in unterschiedlichen und dynamischen Regulierungs- und Sicherheitssystemen verfügt, hält es einen bedeutenden Wissenspool in diesem Bereich bereit. Die Tschernobyl-Katastrophe als tragisches Beispiel der potenziellen Schwachstellen in den Sicherheitssystemen von Drittländern hat eine dynamische und proaktive Zusammenarbeit und Verbreitung des Sachwissens im Bereich nukleare Sicherheit angestoßen.

2.4   Ab 1991 hat die EU als Teil ihres TACIS-Programms (Technical Assistance to the Commonwealth Independent States) erhebliche Unterstützung im Bereich nukleare Sicherheit in Nicht-Mitgliedstaaten geleistet. Diese Unterstützung war auf Sicherheitsanalysen, Bereitstellung von Hilfe vor Ort für Kernkraftwerke und in einigen Fällen Bereitstellung von Ausrüstung zur Verbesserung der Kontrolle des Kraftwerksbetriebs, Regulierungs- und Genehmigungstätigkeit und Abfallbewirtschaftung ausgerichtet. Außerdem wurden umfassendere internationale Initiativen, insbesondere Maßnahmen in Tschernobyl, unterstützt. Rund 1,3 Mrd. EUR wurden für Unterstützung im Bereich nukleare Sicherheit in erster Linie für Russland und die Ukraine sowie, in weitaus geringerem Umfang, auch für Armenien und Kasachstan bereitgestellt.

2.5   Im Jahr 2007 wurde als Nachfolger von TACIS das Instrument für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit (INSC) (1) geschaffen, das speziell auf die Förderung und Entwicklung der nuklearen Sicherheit ausgerichtet ist. Dieses Instrument ist nicht mehr nur auf Länder beschränkt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden sind. Für den Zeitraum 2007-2013 verfügt das INCS über eine Mittelausstattung in Höhe von 524 Mio. EUR, um Maßnahmen zur Verbesserung der nuklearen Sicherheit, zur Sicherheit von Transport, Behandlung und Lagerung von nuklearen Abfällen, zur Sanierung ehemaliger kerntechnischer Anlagen und zum Schutz vor der ionisierenden Strahlung von radioaktiven Stoffen, zur Vorbereitung auf Notfälle sowie zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich nukleare Sicherheit zu finanzieren.

2.6   Die EU arbeitet eng mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) zusammen und stellt oftmals Mittel für die Umsetzung von empfohlenen Programmen zur Verfügung, die andernfalls nicht finanziert würden.

2.7   Eine neue Herausforderung ergibt sich durch die Absicht von Drittländern, Kernkraftkapazitäten aufzubauen. Einige dieser Schwellenländer verfügen möglicherweise nicht immer über stabile politische Strukturen. Außerdem könnte es an Gewaltentrennung, demokratischer Kontrolle, erfahrenen Verwaltungsstrukturen und Sachwissen für das Management von Hochrisikotechnologien fehlen. Werden derartige Länder indirekt zur Entwicklung der Kernkraft ermuntert, indem ihrem Kernenergieprogramm durch eine Unterstützung seitens der EU ein Hauch von Glaubwürdigkeit verliehen wird, könnten neue Risiken für die nukleare Sicherheit entstehen.

2.8   Abgesehen davon und ungeachtet der Absichten von Drittländern, Kernkraftkapazitäten aufzubauen, ist sich der Ausschuss bewusst, dass die zivile Nutzung der Kernkraft mit der Erzeugung von Plutonium und anderen radioaktiven Materialien sowie mit der Entwicklung von technischem Know-how verbunden ist, das eine internationale atomare Bedrohung darstellen und zur Erhöhung der internationalen Spannungen führen könnte. In instabilen Ländern könnten diese Risiken noch größer sein.

3.   Zusammenfassung des Verordnungsvorschlags

3.1   In dem Verordnungsvorschlag zur Neufassung der INSC-Verordnung aus dem Jahr 2007 wird u.a. der geografische Anwendungsbereich überarbeitet, um alle Drittländer weltweit zu umfassen. Außerdem werden die Prioritäten und Kriterien für die Zusammenarbeit festgelegt. Die Verantwortung für die Durchführung der Maßnahmen liegt weiterhin bei EuropeAid (GD Entwicklung und Zusammenarbeit – DEVCO) in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst, der Generaldirektion Energie und der Gemeinsamen Forschungsstelle. Diese Verordnung ist auch Gegenstand der gemeinsamen Vorschriften und Verfahren für die Anwendung der Instrumente der Union im Bereich des auswärtigen Handelns (COM(2011) 842 final). Darin ist auch eine vereinfachte Durchführung für das Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit (Development Cooperation Instrument – DCI), das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (European Instrument for Democracy and Human Rights – EIDHR), das Europäische Nachbarschaftsinstrument (European Neighbourhood Instrument – ENI), das Instrument für Stabilität (Instrument for Stability – IfS), das Instrument für Heranführungshilfe (Instrument for Pre-accession Assistance – IPA) und das Partnerschaftsinstrument (Partnership Instrument – PI) vorgesehen.

3.2   Ziel der Verordnung ist es, die Förderung eines hohen Standards nuklearer Sicherheit und eines hohen Strahlenschutzstandards sowie Maßnahmen zur Förderung der Anwendung effizienter und wirksamer Sicherungsmaßnahmen für Kernmaterial in Drittländern zu unterstützen. Dies umfasst Aspekte betreffend Brennstoffabbau, Neuanlagen, Betrieb, Stilllegung und Abfallwirtschaft, also ein umfassendes Konzept. Nach Meinung der Europäischen Kommission werden Fortschritte im Rahmen der Sachverständigenprüfungen der IAEO, anhand des Entwicklungsstands der Strategien für abgebrannte Brennelemente, für nukleare Abfälle und für Stilllegungen, des entsprechenden Rechts- und Regulierungsrahmens und der Projektdurchführung sowie der Anzahl und Bedeutung der Probleme, die in einschlägigen Berichten der IAEO über Sicherungsmaßnahmen genannt werden, bewertet.

3.3   Mit dieser Verordnung soll die Kohärenz mit den Zielen der EU-Politik und den Entwicklungsmaßnahmen von Drittländern durch die Ausarbeitung von Strategiedokumenten und in der Folge von Mehrjahresrichtprogrammen sichergestellt werden, die zunächst für einen Zeitraum von vier Jahren und in der Folge für drei weitere Jahre gelten.

3.4   Im Anhang werden die unterstützten spezifischen Maßnahmen und Kriterien für die Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit einschl. Prioritäten aufgelistet, für die in den kommenden sieben Jahren 631 Mio. EUR zur Verfügung stehen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Die Programme zur Unterstützung und Zusammenarbeit bei der nuklearen Sicherheit sind in den letzten 20 Jahren weiterentwickelt worden. Mit diesem Verordnungsvorschlag wird diese Tendenz fortgeschrieben; es soll deutlich gemacht werden, dass die Sicherheit und nicht die Förderung der Nuklearenergie das übergeordnete Ziel ist (COM(2011) 841 final; Anhang, „Allgemeine Kriterien“ – letzter Spiegelstrich). Nach Dafürhalten des Ausschusses soll dieses Programm keinesfalls dazu dienen, Schwellenländer zur Nutzung der Kerntechnologie zu ermuntern. Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, einer detaillierteren Aufstellung der Ausgaben im Rahmen der vorhergehenden und künftigen INSC-Programme mehr Gewicht beizumessen. So könnten insbesondere einige Bedenken ausgeräumt werden, wenn klar dargelegt wird, dass die Mittel des Programms überwiegend für Sanierungsvorhaben und nur zu einem geringen Teil für Beratungsprogramme für nukleare Sicherheit in Schwellenländern verwendet werden.

4.2   Damit würde auch die Möglichkeit anerkannt, dass die dominierenden Sicherheitsüberlegungen bei der Unterstützung bestimmter operationeller Maßnahmen, die unweigerlich zum erweiterten wie auch zum sicheren Betrieb von Kernkraftwerken beitragen, in früheren Programmphasen nicht hinreichend deutlich waren bzw. erklärt wurden. Die Nutzung der Kernkraft bleibt ein Thema, bei dem die Meinung der europäischen Öffentlichkeit gespalten ist; die Förderung der höchsten Sicherheitsstandards wird hingegen einstimmig befürwortet.

4.3   Nach Auffassung des Ausschusses wurde die Frage, ob die Tätigkeit der EU im Rahmen des INSC-Programms einer stillschweigenden Unterstützung und Förderung neuer Nuklearprogramme, insbesondere in instabilen Schwellenländern, gleichkommt, nicht ausreichend erörtert. Er ist sich bewusst, dass die konkrete Projektfinanzierung im Rahmen des INSC-Programms strengen Bedingungen unterliegt, spricht sich jedoch für einen absolut bedingungslosen anfänglichen Dialog- und Diskussionsprozess mit Drittländern zum Thema Kernenergie aus.

4.4   Die EU muss danach trachten, dass sie nicht zur Entwicklung von Kernkraftkapazitäten in Drittländern beiträgt, die neue Risiken im Bereich nukleare Sicherheit hervorrufen oder eine atomare Bedrohung schaffen könnten, die wiederum die internationale Gefahrenabwehr beeinträchtigten könnten. Einschlägige Kriterien werden in Ziffer 1.6 vorgeschlagen. Durch die Anwendung der höchsten Standards für nukleare Sicherheit in der Union könnte die EU die Führungsrolle bei der zivilen Nutzung von Kernkraft mit dem höchsten Sicherheits- und Gefahrenabwehrniveau weltweit für sich beanspruchen.

4.5   Der Ausschuss erachtet den Beitrag des INSC-Programms für Drittländer, die über eine begrenztere industrielle, wissenschaftliche und forschungstechnische Grundlage verfügen und bereits Nuklearprogramme für die kommerzielle Nutzung der Kernkraft aufgelegt haben oder planen und die Mindeststabilitätskriterien erfüllen, ebenfalls als sinnvoll und im Interesse der Unionsbürger. Es ist denkbar, dass die Förderung bewährter Verfahren zusammen mit der IAEO die technischen Maßnahmen und Regulierungssysteme in Drittländern mit begrenzten Ressourcen gestärkt hat. Wie jedoch das laufende und die künftigen INSC-Programme dies bewirken, ist nicht immer leicht nachvollziehbar.

4.6   Daher schlägt der Ausschuss vor, dass die Europäische Kommission weitere Maßnahmen ergreift, um die vorrangige Bedeutung der Sicherheit im künftigen INSC-Programm klarzustellen. Dies könnte durch die Veröffentlichung von verfügbaren Fallstudien aus dem laufenden Programm, die Verbesserung der Präsentation und der Querverweise auf dem Internetportal von EuropeAid und ganz allgemein die Schärfung des Profils für dieses grundlegende Programm geschehen. Ein derartiger Ansatz würde auch die Transparenz erhöhen und die Rechenschaftspflicht stärken. Da die Verordnung die Förderung eines hohen Standards nuklearer Sicherheit unterstützt, wird vorgeschlagen, auf vorbildhafte Beispiele entsprechend hoher Standards zu verweisen, z.B. auf die Stellungnahme des Verbands der westeuropäischen Atomaufsichtsbehörden (WENRA) zu Sicherheitszielen in neuen Kernkraftwerken („Safety objectives for new power reactors“).

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Die EU-Richtlinien zur nuklearen Sicherheit entgegen dem im Verordnungsvorschlag möglicherweise erweckten Eindruck keine technischen Sicherheitsnormen, sondern vergleichbar den Verpflichtungen des Regulierungsrahmens lediglich einige allgemeine Anforderungen im Einklang mit dem Übereinkommen über nukleare Sicherheit.

5.2   In dem Vorschlag ist außerdem festgehalten, dass es umfassende Sicherheitsbewertungen in der EU gibt. Die laufenden „Stresstests“ sind jedoch nur eine zusätzliche Sicherheitsbewertung, denen keine Sicherheitskriterien zugrunde liegen. Sie sollen Antwort auf die Frage geben, was passiert, wenn die Sicherheitssysteme ausfallen. Ferner wird anerkannt, dass dieser Bewertungsprozess aufgrund der sehr knappen Fristvorgabe begrenzt ist. Trotz dieser Einschränkungen liegt die Stärke des EU-Konzepts für nukleare Sicherheit darin begründet, dass diese „Stresstests“ als erster Schritt zur weiteren Entwicklung und Verbesserung der Sicherheitskultur sowie zur Verwirklichung der höchsten Standards nuklearer Sicherheit dienen sollen. Aus dem Zwischenbericht über die Ergebnisse der laufenden „Stresstests“ der europäischen Kernkraftwerke geht hervor, dass weitere Veränderungen, Verbesserungen und Regulierungsmaßnahmen erforderlich sind. Diese sollten zügig in die Arbeiten des INSC-Programms für Umsetzung und Beratung einfließen.

5.3   Es sollte nicht vergessen werden, dass die EU als Institution nur über ein sehr begrenztes Sachwissen in nuklearen Angelegenheiten verfügt und der Großteil der INSC-Projekte von Einrichtungen der Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Die Europäische Kommission ist zwar in der Lage, wertvolle kritische Analysen und Überlegungen zu der breiten Palette an europäischen Normen und Praktiken beizusteuern, sollte jedoch auch danach trachten, eigene interne Kapazitäten und unabhängiges Fachwissen aufzubauen.

5.4   Laut dem INSC-Vorschlag soll mit diesem Instrument das atomare Risiko ganz ausgeschaltet werden – ein Ziel, dessen Verwirklichung allerdings rein technisch gesehen – wie bei der vollständigen Ausschaltung von Risikofaktoren in jedwedem komplexen Industrieprozess – nicht gewährleistet werden kann, insbesondere nicht im Hinblick auf die Verhütung von Atomkatastrophen. Erklärtes Ziel sollte daher die Prävention von Störfällen und Unfällen gemäß den höchsten verfügbaren Standards sein. Außerdem ist der Glaube an eine vollständige Risikobeseitigung in jedwedem Prozess einer hohen Sicherheitskultur abträglich.

5.5   Die Europäische Kommission schlägt Missionen des Integrierten Behördenüberprüfungsdiensts (IRRS) und des IAEO-Teams zur Prüfung der Betriebssicherheit (OSART) als Indikatoren vor, doch haben beide nur einen begrenzten Nutzen, da sie nicht für Überwachungszwecke gedacht sind. So boten sie beispielsweise keinen Schutz vor dem Reaktorunfall in Fukushima. Außerdem zielen diese Missionen nicht auf den Sicherheitsstatus von Kernkraftwerken ab. Die internationale Überwachung von Kernkraftwerken bleibt ein komplexes und umstrittenes Thema.

5.6   In den INSC-Programmen sollte gegebenenfalls auch die Förderung der gesetzlichen Verankerung freiwilliger Instrumente in Ländern mit Kernkraftanlagen berücksichtigt werden, sofern sie zur besseren Durchführung der IAEO-Verträge, Übereinkommen und Abkommen beitragen.

5.7   In der Begründung zu dem Verordnungsvorschlag ist festgehalten, dass die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer an der öffentlichen Konsultation sich dafür aussprach, bei den künftigen Instrumenten und der Durchführung der Projekte/Programme einen stärkeren Schwerpunkt auf Monitoring- und Evaluierungssysteme zu legen. Der Ausschuss anerkennt, dass EuropeAid (Generaldirektion Entwicklung und Zusammenarbeit) trotz seines erst relativ kurzen Bestehens auf umfassende Erfahrungen und weitreichendes Sachwissen in diesem Bereich zurückgreifen kann, die zweifelsohne auch voll zur Anwendung kommen werden.

5.8   Der Ausschuss weist jedoch daraufhin, dass die Liste der unterstützten spezifischen Maßnahmen keine Unterstützung für unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft inner- oder außerhalb der begünstigten Ländern enthält, die Rechenschaftspflicht und Transparenz der nuklearen Sicherheitskultur durch besondere Maßnahmen verbessern wollen. Dies ist sowohl im Instrument für Stabilität (Instrument for Stability – IfS) als auch im Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte (European Instrument for Democracy and Human Rights – EIDHR) zulässig. Der Ausschuss empfiehlt daher ausdrücklichst, dass auch eine derartige Unterstützung in die zulässigen Maßnahmen des INSC-Programms aufgenommen wird.

5.9   Der Ausschuss nimmt die Flexibilität zur Kenntnis, die durch die Zusammenführung der unterstützten Maßnahmen und Kriterien für die Zusammenarbeit im Anhang zu dem Verordnungsvorschlag geschaffen wird, der seinerseits im Einklang mit dem in der gemeinsamen Durchführungsverordnung genannten Prüfverfahren geändert werden kann. Allerdings sollte überlegt werden, ob wesentliche Grundsatzfragen in Bezug auf die internationale nukleare Sicherheit und Gefahrenabwehr nicht in den Verordnungstext selbst aufgenommen werden sollten.

5.10   Die Kriterien für die Zusammenarbeit sind relativ weit gefasst. Der Ausschuss steht dem für alle Länder, die Kernkraftwerke betreiben, positiv gegenüber. Es wäre möglicherweise auch sinnvoll, in einer Sondierungs- und Vorbereitungsphase eine breite Palette an Drittländern anzusprechen. Die Festlegung weiterer restriktiver Auswahlkriterien für Länder, die INSC-Empfänger sind, ist nicht im Interesse der Sicherheit der Unionsbürger. Für die Länder, die in die Stromerzeugung aus Kernkraft einsteigen wollen und in denen die Stärken einer aktiven, unabhängigen und organisierten Zivilgesellschaft vorhanden sind, kann und sollte nach Ansicht des Ausschuss Sachwissen, Analyse und Beratung seitens der EU zugänglich sein. Die Aspekte langfristige politische Stabilität und Fähigkeit zur Gewährleistung der zivilen Sicherheit in Partnerländern sollten jedoch höchste Aufmerksamkeit genießen.

5.11   Der Ausschuss schlägt daher vor, Mindestbedingungen für die Unterstützung im Rahmen des INSC-Programms festzulegen. Außerdem sollte eine internationale Vereinbarung über Bedingungen für beratende Tätigkeiten im Bereich nukleare Sicherheit zwischen der EU und der kleinen Anzahl an Staaten auf den Weg gebracht werden, die eine derartige Beratung auch wirklich übernehmen können (Die Beratungen der Arbeitsgruppe „Nukleare Sicherheit“ der G8 und ähnliche Diskussionen in der IAEO und in der EU wären ein guter Ausgangspunkt).

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 81 vom 22.3.2007, S. 1.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Strategie der Europäischen Union für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012-2015“

COM(2012) 6 final

2012/C 229/20

Berichterstatter: José María ESPUNY MOYANO

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Strategie der Europäischen Union für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012-2015

COM(2012) 6 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 11. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 146 gegen 3 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss schließt sich im Allgemeinen der von der Kommission vorgelegten Tierschutzstrategie an und unterstützt das berechtigte Verlangen der Verbraucher nach Ernährungsgesundheit; er befürwortet überdies eine auf Qualität ausgerichtete europäische Produktionsstrategie.

1.2   Der EWSA ist der Ansicht, dass es Probleme mit der Umsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften gibt, die aus der fehlenden Unterstützung ihrer Durchsetzung und dem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der EU-Produzenten resultieren.

1.2.1   Es fehlt an Instrumenten zum Ausgleich des Verlusts an Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Viehzucht, da die aus der EU-Tierschutzpolitik entstehenden Mehrkosten nicht vom Markt aufgefangen werden. Somit steht ein noch größerer Verlust von Marktanteilen sowohl im Binnenmarkt als auch auf den Exportmärkten zu befürchten. An den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen wurde nicht gedacht.

1.2.2   Der EWSA weist erneut nachdrücklich darauf hin, dass alle importierten Erzeugnisse den gleichen Produktionsstandards wie EU-Produkte genügen müssen, wobei in Handelsabkommen der Schwerpunkt auf Gegenseitigkeit liegen muss.

1.3   Die Weiterbildung von Betreibern, Arbeitnehmern und Behörden in Fragen des Tierschutzes ist wesentlicher Bestandteil der Strategie. Der EWSA macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass ein Teil der für die Zusammenarbeit bestimmten Mittel für die tierschutzbezogene Schulung der Behörden, Unternehmer und Arbeitnehmer in Drittländern aufgewendet werden muss.

1.4   Die Umsetzung der Rechtsvorschriften erfordert eine Anpassung der Finanzmittel, damit die Produzenten die notwendigen Investitionen tätigen und ihre Mehrkosten ausgleichen können. Die GAP muss in dieser Strategie ein notwendiges Komplement sein und ihr den gebührenden Stellenwert einräumen.

1.5   Es muss eine auf die Anliegen der Gesellschaft ausgerichtete Kommunikationsstrategie erarbeitet werden, in der den wissenschaftlichen Untersuchungen und Fortschritten auf dem Gebiet und den unterschiedlichen Standpunkten von Produzenten, Arbeitnehmern und Verbrauchern Rechnung getragen wird. Die Kommunikation kann nicht allein auf der Pflichtkennzeichnung basieren. Es müssen schlüssige Aufklärungsprogramme aufgelegt werden, die den Verbrauchern mit möglichst vielen Anhaltspunkten bei ihrer Kaufentscheidung helfen. Die Mittel zur Förderung von Nahrungsgütern spielen eine wichtige Rolle dafür, dass die Produktionssektoren aktiv an dieser Aufgabe mitwirken.

1.6   Der EWSA ist der Ansicht, dass das Netz europäischer Referenzzentren auf die Teilnahme aller gesellschaftlichen Akteure und der Verbraucher angewiesen ist und eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Tierschutzstrategie spielt:

a.

Koordinierung der verschiedenen Forschungszentren in der EU,

b.

Erleichterung der Umsetzung der Vorschriften (Entwicklung praktischer Indikatoren, Schulung von Betreibern, Arbeitnehmern und Behörden),

c.

Beitrag zur Beurteilung der sozioökonomischen und wettbewerbsspezifischen Auswirkungen der Vorschriften,

d.

Unterstützung der Aufklärungs- und Kommunikationsmaßnahmen.

1.7   Eine Stärkung der schwächsten Glieder der Lebensmittelkette wird es ermöglichen, die aus der Anwendung der Tierschutzvorschriften erwachsenden Mehrkosten gerechter zu verteilen und so das Produktionsgefüge und die Entwicklung der ländlichen Gebiete aufrechtzuerhalten.

1.8   Die lobenswerten Bemühungen der Kommission um Vereinfachung sind nur schwer mit ihrer Absicht zu vereinbaren, den Geltungsbereich auf mehr Arten auszuweiten und die bestehenden Vorschriften weiter auszugestalten.

2.   Zusammenfassung der Mitteilung

2.1   Die Mitteilung der Kommission hat zum Ziel, in Fortführung des Aktionsplans 2006-2010 den Weg für die EU-Tierschutzpolitik vorzugeben.

2.2   In der Mitteilung wird bekräftigt, dass die EU große Anstrengungen zur Förderung des Wohlergehens von Tieren unternommen hat. Es wird festgestellt, dass die EU-Tierschutzpolitik nicht in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt wird und dass verbindliche Normen nicht fristgerecht umgesetzt wurden. Jedoch müsse darüber nachgedacht werden, ob ein Einheitskonzept mehr Tierschutz bewirken könne.

2.3   In der Evaluierung der EU-Tierschutzpolitik wird der Schluss gezogen, dass die Tierschutzstandards den Tierhaltungs- und Versuchstiersektor mit Zusatzkosten belegt haben.

2.4   Es wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass sich die Kaufentscheidungen der Verbraucher in erster Linie nach dem Preis richten und dass der Tierschutz nur einer der Faktoren ist, die die Produktwahl der Verbraucher beeinflussen.

2.5   In der Mitteilung heißt es einerseits, dass die Rechtsvorschriften vereinfacht werden müssen, und andererseits, dass Fragen wie die Kompetenzanforderungen an Personen, die mit Tieren umgehen, in Bezug auf bestimmte Tierarten oder Produktionssysteme sowie die Schulung von Lebensmittelinspektoren und -technikern der Mitgliedstaaten angegangen werden müssen. Auch wird festgestellt, dass in den Tierschutzvorschriften einige Arten berücksichtigt werden und andere nicht.

2.6   Daher werden strategische Maßnahmen vorgestellt, die sich in zwei Handlungsbereiche gliedern:

Vereinfachung der Rechtsvorschriften und Erleichterung ihrer Anwendung,

Verstärkung der von der Kommission bereits ergriffenen Maßnahmen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt das vorgelegte Strategiepapier und die Absicht der Kommission, jene Aspekte zu verbessern, die zur Erreichung der Tierschutzziele der EU beitragen können.

3.2   Der EWSA unterstützt das berechtigte Verlangen der Verbraucher nach Ernährungsgesundheit und befürwortet überdies eine auf Qualität ausgerichtete europäische Produktionsstrategie. Die Kommission sollte jedoch anerkennen, dass der den Produzenten im Rahmen der Tierschutzstrategie entstehende Kostenanstieg nur selten durch höhere Verkaufspreise ausgeglichen wird. Darüber hinaus ist der europäische Tierhaltungssektor aufgrund der fehlenden Gegenseitigkeit in den Handelsabkommen mit Drittländern im Nachteil.

3.3   Der EWSA bedauert, dass die Kommission in ihrer Mitteilung nicht ausdrücklich die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, die letztendlich mit den Tieren umgehen, erwähnt. Zudem muss entschieden auf die Notwendigkeit der kontinuierlichen Schulung und des Erwerbs neuer Kompetenzen abgehoben werden, die für die sich aus dem Vorschlag ergebenden Veränderungen unentbehrlich sind.

3.4   Er steht der Vereinfachung der EU-Tierschutzvorschriften sowie der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft positiv gegenüber. Einige der wichtigen, in dem Bericht über die Evaluierung der EU-Tierschutzpolitik hervorgehobenen Punkte, die Prioritäten für den Zeitraum 2012-2015 sein sollten, werden in der Strategie jedoch nicht hinreichend behandelt.

3.5   Die Kommission räumt ein, dass es in den Ergebnissen des Aktionsplans und der EU-Tierschutzpolitik einige Mängel gibt, und hebt ab auf die „wichtigsten gemeinsamen Ursachen, die sich auf den Schutzstatus von Tieren in der Union auswirken“; sie führt jedoch keine eingehende Analyse durch und liefert daher keine geeigneten Lösungen für die ermittelten Probleme.

3.5.1   Die Kommission stellt fest, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsvorschriften trotz Übergangsfristen und Beihilfen nicht vollständig umsetzen. Sie nimmt jedoch keine kritische Analyse der sozioökonomischen und produktionsspezifischen Realität in den verschiedenen EU-Ländern vor und führt lediglich an, dass „die kulturelle Bewertung von Tierschutzaspekten“ von Land zu Land anders sei. Die Verschiedenartigkeit der Tierhaltungssysteme, die Nachfrage der Bürger, die durch Anwendung der Mindesttierschutzvorschriften entstehenden Handelsvorteile oder die EU-weit nicht einheitlichen Anpassungsbeihilfen werden in der Mitteilung jedoch nicht erwähnt.

3.5.2   Die Tierschutzpolitik der EU muss viel stärker sowohl auf den Markt als auch auf die Sicherheit der Verbraucher ausgerichtet werden. Es ist wesentlich, dass die Produzenten für ihre Produktionsmehrkosten entschädigt werden, dass sich die Verbraucher der Verbesserungen und Anstrengungen der Produzenten und des höheren Mehrwerts der nach dem europäischen Produktionsmodell erzeugten Lebensmittel bewusst werden und dass ein Gleichgewicht in der Lebensmittelkette entsteht, an dem es heute fehlt.

3.5.3   Die in der Kommissionsmitteilung geäußerte Absicht, die Tierschutzvorschriften zu vereinfachen, steht im Widerspruch zur erwähnten Notwendigkeit, den Geltungsbereich auf mehr Arten auszuweiten und die bestehenden Vorschriften detaillierter zu machen. Unberücksichtigt ist in der Strategie die in der Evaluierung der Tierschutzvorschriften enthaltene Empfehlung, nichtlegislative Wege zur Ergänzung der bestehenden Vorschriften wie Abkommen zwischen den Parteien des Sektors oder zwischen Gliedern der Wertschöpfungskette, gesellschaftlichen Akteuren, Verbraucherorganisationen und Behörden auszuloten, die zu den angestrebten Ergebnissen führen könnten, ohne noch größeren Regelungsaufwand zu verursachen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die Haushaltsmittel, die von der EU zur Förderung des Tierschutzes bereitgestellt werden (70 Mio. EUR/Jahr), kontrastieren eindeutig mit den Zahlen für die Investitionen, die für ihre Umsetzung notwendig sind, und mehr noch mit den Kosten der Rechtsvorschriften für den Viehzuchtsektor (2,8 Mrd. EUR nach dem Bericht über die Evaluierung der Tierschutzpolitik). In der vorgeschlagenen Strategie sind keine konkreten und realistischen Vorschläge enthalten, die das Problem der höheren Kosten und der fehlenden Umsetzungsbeihilfen beheben würden.

4.2   Um die Wettbewerbsfähigkeit der Produzenten zu verbessern, müssen mehr Synergien zwischen der EU-Tierschutzpolitik und der Gemeinsamen Agrarpolitik gefunden werden. In der GAP nach 2013 muss die EU eine ausgewogene Haltung zum Tierschutz einnehmen. Es muss garantiert werden, dass Tierhalter und Betreiber Zugang zu Hilfsmaßnahmen haben, die mit einem hinreichenden Budget für die Anwendung der EU-Tierschutzpolitik ausgestattet sind. Dabei müssen die wirtschaftlichen Folgen im Sinne zusätzlicher Kosten für die Produzenten berücksichtigt und über die Preis- und Marktpolitik und/oder Direktbeihilfen eine ausreichende Einkommenssicherung vorgesehen werden.

4.3   Der EWSA stimmt zu, dass eine Vereinfachung der Rechtsvorschriften erforderlich ist. Bei entsprechender Weiterentwicklung wird dies die Umsetzung der EU-Tierschutzpolitik begünstigen. Deshalb ist es im Rahmen künftiger tierschutzpolitischer Aktionen erforderlich, die Auswirkungen der vorgeschlagenen Maßnahmen sowie gegebenenfalls das Risiko eines Verlustes an Produktionsstrukturen, das jede dieser Maßnahmen mit sich bringt, sowie die notwendigen Ausgleichszahlungen im Falle ihrer Umsetzung zu untersuchen. Daneben muss auch geprüft werden, welchen Stellenwert die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher in der EU haben.

4.4   Die Aufnahme wissenschaftlich fundierter Indikatoren, die sich auf Ergebnisse und nicht auf Produktionsfaktoren stützen, wird die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Tierhalter in der EU erforderliche Vereinfachung und Flexibilität ermöglichen – solange die sozioökonomischen Auswirkungen berücksichtigt werden, die ihre Verwendung impliziert, und sie die allgemeine Situation der Tierhaltungsbetriebe und nicht punktuelle Sachverhalte widerspiegeln. Die Indikatoren müssen in Zusammenarbeit mit den Betreibern entwickelt werden, vernünftig, praktisch und einfach anwendbar sein und dürfen dem Betrieb keine zusätzlichen Kosten verursachen. Sie müssen sich auf die verschiedenen Tierarten und Produktionssysteme anwenden lassen sowie einfach zu interpretieren und wiederholbar sein (und dürfen nicht subjektiv, d.h. abhängig von der menschlichen Wahrnehmung des Tierschutzes sein).

4.5   Als Referenz sind die Arbeiten des Projekts Welfare Quality interessant; die Tierschutzindikatoren müssen jedoch verbessert und vereinfacht werden, damit sie im Betrieb Anwendung finden können. Die Interpretation und Anwendung der Kriterien in den verschiedenen Mitgliedstaaten muss harmonisiert werden, um durchweg ihre Gültigkeit und die Durchführbarkeit ihrer Anwendung zu gewährleisten.

4.6   Eine Herauforderung für diese Strategie besteht darin, die Koordinierung, Rückverfolgbarkeit, Transparenz und Kommunikation in Sachen Tierschutz in der EU dadurch zu verbessern, dass Behörden, Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft und Verbrauchern die Teilhabe ermöglicht wird, was zu besserer Kenntnis, angemessener Information und korrekter Anwendung der Vorschriften führen wird. Die Referenzzentren können und müssen bei diesem Ziel eine vorrangige Rolle spielen. Ihre Tätigkeit muss neben den in der Kommissionsvorlage erwähnten Aufgaben (Unterstützung der Behörden, Schulung und Verbreitung) darin bestehen, die Informationen zu koordinieren, zu überwachen und auszutauschen. Dabei müssen die bestehenden Strukturen genutzt werden, damit keine zusätzlichen Kosten entstehen.

4.7   Die Referenzzentren könnten auch Beratung und Bewertung in Bezug auf die Anwendung der Tierschutzvorschriften bereitstellen. Die wissenschaftliche Forschung muss zur angewandten Forschung hinzukommen, um Empfehlungen zu unterbreiten. Im Lichte der vom wissenschaftlichen Panel der GD SANCO und der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit bisher geleisteten Arbeit muss dieses Netz die Erprobung neuer Techniken koordinieren und die Auswirkungen der Tierschutzstandards beurteilen. Die Betreiber des Sektors tragen in hohem Maße zur angewandten Forschung bei. Sie müssen in die EU-finanzierten Rechtsetzungs- und Forschungsprioritäten im Bereich des Tierschutzes eingebunden werden.

4.8   In der Evaluierung wird empfohlen, mit den Beteiligten einen Plan von Verpflichtungen für jeden der Aspekte der EU-Tierschutzpolitik zu entwickeln und in Absprache mit den Interessengruppen zu bewerten, ob es erforderlich ist, im Laufe der Zeit neue Formen von Verpflichtungen zu entwickeln. Zwischen den zuständigen Behörden und den betroffenen Marktbeteiligten muss ein Fahrplan erstellt werden, um die schrittweise fristgerechte Anwendung der Vorschriften zu ermöglichen und die vorherige Koordinierung und Problemlösung zu erleichtern. Es müssen auch nachträgliche Inspektions- und Kontrollmaßnahmen sowie die Schulung und Information der Betreiber und der Verantwortlichen der Mitgliedstaaten zur angemessenen Umsetzung der Vorschriften aufgenommen werden.

4.9   Die Unterstützung der internationalen Zusammenarbeit ist wesentlich, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Produktion zu verbessern. Deshalb müssen in der Strategie 2012-2015 konkrete Maßnahmen definiert werden, die gewährleisten, dass der Tierschutz in die von der EU und innerhalb der WTO ausgehandelten bilateralen Handelsabkommen Eingang findet. Bis dahin gilt:

4.9.1   Der Evaluierung zufolge müssen Mechanismen eingerichtet werden, um denjenigen Branchen der EU zur Seite zu stehen, die für Importe oder den wahrscheinlichen Verlust von Marktanteilen besonders anfällig sind, insbesondere der Ei- und Eiprodukteindustrie. In der Strategie werden keine Lösungen für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Importen aus Drittländern vorgeschlagen, in denen nicht die gleichen Produktionsstandards wie in der EU erfüllt werden.

4.9.2   Die EU muss einen Teil der für die Zusammenarbeit bestimmten Mittel dafür aufwenden, Behörden, Unternehmer und Arbeiternehmer in Drittländern in Fragen des Tierschutzes in der Tierhaltung zu schulen.

4.10   Es muss eine Kommunikationsstrategie erarbeitet werden, in der die in der Evaluierung der EU-Tierschutzpolitik aufgeführten Punkte Berücksichtigung finden. Dazu gehört ein schon in der Schule beginnender seriöser und objektiver Schulungs-, Aufklärungs- und Kommunikationsplan, damit sowohl die heutigen als auch die künftigen Verbraucher über die von der EU-Tierschutzpolitik verlangten hohen Tierschutzstandards Bescheid wissen, angefangen mit den bestehenden Rechtsvorschriften. Dadurch werden sie aufgeklärte Kaufentscheidungen auf der Grundlage wahrheitsgetreuer Angaben zum Wohlergehen der Tiere treffen können.

4.10.1   Die Mitwirkung fundierter und anerkannter Quellen (wie des Netzes der Referenzzentren) spielt hierbei eine wesentliche Rolle, um zu gewährleisten, dass die Verbraucher die Vorteile der EU-Tierschutzpolitik sowie die Kosten einer Produktion nach dem europäischen Modell kennen und wertschätzen.

4.10.2   Die Verbraucherinformation über das Wohlergehen der Tiere darf sich nicht auf die Etikettierung der Produkte oder die Produktwerbung beschränken, sondern muss auf Aufklärungskampagnen von Branchenorganisationen und Einrichtungen ausgeweitet werden, um die unternommenen Anstrengungen und die Auswirkungen auf die Produktionskosten mitzuteilen. Die Mechanismen und Mittel zur Förderung von Nahrungsgütern im Binnenmarkt sind geeignete Instrumente, um über die EU-Tierschutzpolitik zu informieren.

4.11   Zusätzlich zu den im Kommissionsvorschlag genannten Maßnahmen müssen weitere, ebenso wichtige Maßnahmen aus der Evaluierung der EU-Tierschutzpolitik berücksichtigt werden, die zum Ziel haben, eine angemessene Aufstockung der Finanzmittel für die EU-Tierschutzpolitik im kommenden Zeitraum entsprechend den steigenden Anforderungen der Politik und die Erfüllung der in dieser Evaluierung ermittelten Erfordernisse zu gewährleisten. Dazu gehört die Unterstützung bei der praktischen Umsetzung und Anwendung der neuen Vorschriften.

4.11.1   Der negative Effekt der Tierschutzpolitik auf die Wettbewerbsfähigkeit ist eines der größten Hindernisse, das der Anwendung der Vorschriften und der Beibehaltung des Wachstums und der Beschäftigung in ländlichen Gebieten im Wege steht – insbesondere aufgrund der Schwierigkeit der Produzenten, die höheren Produktionskosten (und den Mehrwert) an die nachfolgenden Glieder der Lebensmittelkette weiterzureichen. In der Strategie wird nicht thematisiert, wie die Funktionsstörungen der Lebensmittelkette oder die wettbewerbswidrigen Auswirkungen der Vorschriften auf andere Kanäle oder Märkte als den Einzelhandel (Gaststättengewerbe, Industrie, Export) behoben werden können.

4.11.2   In Bezug auf die Mittel aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums sind die zentralen Fragen:

die Aufstockung der Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums für die Förderung des Tierschutzes (sowohl für Investitionen als auch für einen Anstieg der laufenden Kosten) und

die Erleichterung der Umsetzung verbindlicher Tierschutznormen mithilfe von durch die EU in der GAP festgelegten Beihilfen, die für die Mitgliedstaaten ebenfalls verbindlich sind.

4.11.3   Außerdem braucht die Tierschutzpolitik mehr Kohärenz zu den Politikbereichen Umweltschutz, Tiergesundheit und Nachhaltigkeit, einschließlich Wettbewerbsfähigkeit, die eng miteinander verwoben sein müssen, ohne die Vorteile für Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmer zu vergessen. Diese Punkte müssen in das Strategiepapier übernommen werden.

4.12   Angesichts des in der Strategie 2012-2015 bekundeten Vereinfachungswillens sowie der Absicht, eine Rechtsvorschrift zu erarbeiten, die die rechtlichen Grundlagen für das Wohlergehen von Tieren verschiedener Arten und Produktionssysteme enthält, ist es derzeit nicht sinnvoll, neue Regelungen zu beschließen oder die bestehenden zu vertiefen, solange nicht feststeht, welcher Weg eingeschlagen werden soll und ob Wassertiere und andere Arten letztendlich berücksichtigt werden sollen oder nicht.

4.13   In der heiklen Frage des rituellen Schlachtens möchte der Ausschuss bei dieser Gelegenheit die in seiner Stellungnahme (1) geäußerte Meinung wiederholen: „Eine Ausnahme für das rituelle Schlachten zuzulassen, steht nicht im Einklang mit dem übergeordneten Ziel der Verordnung[, nämlich dem besseren Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung]. Mit technischen Neuerungen, wie dem Betäubungsüberwachungsgerät ‚Stun Assurance Monitor‘, können diejenigen, die eine Schächtung mit vorheriger elektrischer Betäubung nach den Halal-Regeln durchführen wollen, genau kontrollieren, wie stark der dem Tier zugeführte Stromstoß ist, und sich dadurch vergewissern, dass das Tier richtig betäubt, aber noch am Leben ist, bevor es getötet wird. Das Gerät zeichnet jeden durchgeführten Betäubungsgang und die dem Tier verabreichte Spannung auf. Das Gerät kann einen wirklichen Fortschritt für den Tierschutz bedeuten. Auch die Einführung eines Etikettierungssystems, bei dem die Art der Tötung anzugeben ist, wäre der Verwendung dieses Betäubungsüberwachungsgeräts förderlich. Es ist wichtig, dass die Kommission aktiv die Erforschung von Systemen unterstützt, die für Glaubensgemeinschaften in der Frage der Betäubung überzeugend sind.“

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 65


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/112


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der Bestandserhaltung gegenüber Ländern, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen“

COM(2011) 888 final — 2011/0434 (COD)

2012/C 229/21

Berichterstatter: Gabriel SARRÓ IPARRAGUIRRE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 17. Januar 2012 bzw. am 19. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der Bestandserhaltung gegenüber Ländern, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen

COM(2011) 888 final — 2011/0434 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 11. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 149 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Der EWSA ist mit dem Vorschlag für eine Verordnung voll und ganz einverstanden. Er beglückwünscht die Kommission zu ihrer Vorlage und ruft sie zur strikten Anwendung dieser Verordnung auf.

1.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Definition der Länder, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen, deutlich ist. Allerdings sollte die Bedingung in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b Unterabsatz 2 mit folgendem Wortlaut enden: „eine Befischung zur Folge hat, die den Bestand auf ein Niveau reduziert, das den höchstmöglichen Dauerertrag nicht mehr gewährleistet oder das die Erreichung des höchstmöglichen Dauerertrags nicht ermöglicht“.

2.   Hintergrund

2.1   Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) vom 10. Dezember 1982 und das Übereinkommen zur Durchführung der Bestimmungen des UNCLOS über die Erhaltung und Bewirtschaftung von gebietsübergreifenden Fischbeständen und Beständen weit wandernder Fische vom 4. August 1995 – auch als UN-Übereinkommen über Fischbestände bekannt – sehen eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit aller Länder vor, deren Fangflotten diese Bestände befischen.

2.2   Diese Zusammenarbeit kann im Rahmen regionaler Fischereiorganisationen (RFO) erfolgen.

2.3   Wenn keine RFO für den betreffenden Bestand zuständig ist, kann die Zusammenarbeit mittels Ad-hoc-Vereinbarungen zwischen den am Fischfang interessierten Ländern erfolgen.

3.   Vorbemerkungen

3.1   Der Verordnungsvorschlag zielt auf jene Drittländer mit einem Interesse an der Befischung von Fischbeständen von gemeinsamem Interesse für diese Länder und die EU ab, die ohne angemessene Rücksicht auf bestehende Fischereistrukturen und/oder die Rechte, Pflichten und Interessen anderer Staaten und der EU Fangtätigkeiten nachgehen, die die nachhaltige Entwicklung eines Bestands gefährden, und bei dessen Bewirtschaftung nicht mit der Europäischen Union zusammenarbeiten.

3.2   In dem Verordnungsvorschlag werden spezifische Maßnahmen festgelegt, die die EU ergreifen wird, um den Beitrag dieser Länder zur Erhaltung der Fischbestände zu erhöhen.

3.3   Der Rahmen für die Verabschiedung dieser Maßnahmen wird mit dem Ziel erstellt, eine langfristig nachhaltige Entwicklung der Fischbestände, die für die EU und die betreffenden Drittländer von gemeinsamem Interesse sind, sicherzustellen.

3.4   Was die Umsetzung dieser Maßnahmen angeht, werden in dem Vorschlag die Bedingungen festgelegt, unter denen ein Land nicht nachhaltigen Fischfang zulassen kann, ebenso wie das Recht, angehört zu werden, die Möglichkeit, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, die Bewertung der zu erwartenden ökologischen, kommerziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen sowie die umgehende Einstellung dieser Maßnahmen, sobald das betreffende Land die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat, um zur Erhaltung der Fischbestände von gemeinsamem Interesse beizutragen.

3.5   Da die EU einen lukrativen Absatzmarkt für Fischereiprodukte darstellt, trägt sie auch eine besondere Verantwortung dafür, dass diese Länder ihrer Verpflichtung zur Zusammenarbeit nachkommen. Deshalb sieht die Verordnung rasche und wirksame Maßnahmen gegen Staaten vor, die für zur Überfischung der Bestände führende Maßnahmen und Praktiken verantwortlich sind.

3.6   Zu diesem Zweck wird vorgeschlagen, die Einfuhr von Fischerzeugnissen aus Fängen von Fischereifahrzeugen, die im Verantwortungsbereich eines Landes, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt, einen Fischbestand von gemeinsamem Interesse befischen, ebenso zu beschränken wie die Hafendienstleistungen für solche Fischereifahrzeuge (außer in dringenden Notfällen). Ebenfalls sollte verhindert werden, dass EU-Fischereifahrzeuge oder –Fischereiausrüstungen zur Befischung von Beständen von gemeinsamem Interesse im Verantwortungsbereich eines Landes eingesetzt werden, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt.

3.7   In dem Vorschlag werden die Arten von ggf. zu ergreifenden Maßnahmen definiert und allgemeine Bedingungen für die Verabschiedung dieser Maßnahmen festgelegt, damit sie auf objektiven Kriterien beruhen sowie kosteneffizient und mit dem Völkerrecht und insbesondere mit dem Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation vereinbar sind.

3.8   Zur Gewährleistung wirksamer und einheitlicher Maßnahmen durch die EU werden ebenfalls die in der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 vom 29. September 2008 über ein Gemeinschaftssystem zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei genannten Maßnahmen berücksichtigt.

3.9   Schließlich hält es die Kommission zur Gewährleistung einheitlicher Bedingungen für die Durchführung dieser Verordnung für notwendig, dass ihr Durchführungsbefugnisse übertragen werden, die in Form von Durchführungsrechtsakten ausgeübt werden können, für die gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, das Prüfverfahren anwendbar ist.

3.10   Aus Gründen der Dringlichkeit werden Beschlüsse zur Aufhebung der Maßnahmen jedoch als sofort geltende Durchführungsrechtsakte erlassen, die auch mit im Einklang mit dem zuvor erwähnten Regelungsverfahren stehen.

3.11   Der EWSA stimmt den im Verordnungsvorschlag vorgeschlagenen Maßnahmen uneingeschränkt zu.

4.   Bewertung des Vorschlags und Bemerkungen des Ausschusses

4.1   Gegenstand und Anwendungsbereich

4.1.1   In diesem Verordnungsvorschlag wird der Rahmen festgelegt für die Verabschiedung bestimmter Maßnahmen in Bezug auf Fischereiaktivitäten und -regeln von Drittländern mit dem Ziel, eine langfristig nachhaltige Entwicklung der Fischbestände, die für die EU und die betreffenden Drittländer von gemeinsamem Interesse sind, sicherzustellen.

4.1.2   Folglich geht es hier im Einklang mit dem UNCLOS um alle Fischbestände, deren langfristige Nachhaltigkeit im gemeinsamen Interesse der EU und dieser Drittländer ist und deren Bewirtschaftung durch gemeinsame Maßnahmen beider Parteien sichergestellt wird.

4.1.3   Die gemäß diesem Vorschlag ergriffenen Maßnahmen können in allen Fällen Anwendung finden, in denen die Zusammenarbeit mit der EU bei der Bewirtschaftung von Beständen von gemeinsamem Interesse erforderlich ist, auch wenn diese Zusammenarbeit über eine regionale Fischereiorganisation oder eine ähnliche Einrichtung erfolgt.

4.2   Länder, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen

4.2.1   Ein Drittland kann als Land, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt, angesehen werden, wenn

4.2.1.1

es bei der Bewirtschaftung eines Bestands von gemeinsamem Interesse nicht im Einklang mit den in Ziffer 2.1 dieser Stellungnahme aufgeführten Bestimmungen des UNCLOS mit der EU zusammenarbeitet und

4.2.1.2

keine Bestandsbewirtschaftungsmaßnahmen verabschiedet hat oder

4.2.1.3

derartige Maßnahmen ohne Rücksicht auf die Rechte, Interessen und Pflichten anderer, insbesondere der EU, verabschiedet und diese Bestandsbewirtschaftungsmaßnahmen in Kombination mit den von der EU autonom oder in Zusammenarbeit mit anderen Ländern getroffenen Maßnahmen eine Befischung zur Folge hat, die den Bestand auf ein Niveau reduziert, das den höchstmöglichen Dauerertrag nicht mehr gewährleistet.

4.2.1.4

Die Populationsdichte, aufgrund derer ein höchstmöglicher Dauerertrag erzielt werden kann, wird anhand der besten verfügbaren Gutachten bestimmt.

4.2.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Definition der Länder, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen, deutlich ist. Allerdings sollte die Bedingung in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b Unterabs. 2 mit folgendem Wortlaut enden: „eine Befischung zur Folge hat, die den Bestand auf ein Niveau reduziert, das den höchstmöglichen Dauerertrag nicht mehr gewährleistet oder das die Erreichung des höchstmöglichen Dauerertrags nicht ermöglicht“.

4.3   Mögliche Maßnahmen gegenüber Ländern, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen

4.3.1   Die Kommission kann in Bezug auf solche Länder im Wege von Durchführungsrechtsakten die folgenden Maßnahmen verabschieden:

4.3.1.1

Ausweisung als Länder, die nicht nachhaltigen Fischfang zulassen;

4.3.1.2

gegebenenfalls Ausweisung spezifischer Fischereifahrzeuge oder Flotten, für die bestimmte Maßnahmen gelten;

4.3.1.3

Mengenbeschränkung für Einfuhren in die EU von Fisch bzw. Fischereierzeugnissen aus oder mit Fisch, der aus einem Bestand von gemeinsamem Interesse stammt und der unter der Kontrolle eines Lands, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt, gefangen wurde; dieses Verbot betrifft auch die Einfuhren in die EU aus irgendeinem anderen Land von Fisch bzw. Fischereierzeugnissen aus oder mit Fisch, der aus einem Bestand von gemeinsamem Interesse stammt;

4.3.1.4

Mengenbeschränkung der Einfuhren von Fisch vergesellschafteter Arten und von Fischereierzeugnissen aus oder mit entsprechendem Fisch, die unter denselben Bedingungen wie in der vorhergehenden Ziffer gefangen wurden; darüber hinaus Ausweitung des Verbots der Einfuhren vergesellschafteter Arten auf jedes andere Land im Rahmen des Fischbestands von gemeinsamen Interesse durch das Land, das nachhaltigen Fischfang zulässt;

4.3.1.5

Einschränkung der Nutzung der Häfen der Europäischen Union durch Fischereifahrzeuge unter der Flagge des Landes, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt, die den Bestand von gemeinsamem Interesse befischen, sowie Schiffe, die von Fischereifahrzeugen unter der Flagge des Landes, das nicht nachhaltigen Fischfang zulässt, oder von diesem Land zugelassenen Fischereifahrzeugen unter anderer Flagge gefangene Fische und Fischereierzeugnisse aus diesem Bestand befördern, diese Einschränkungen gelten nicht in Fällen höherer Gewalt oder größerer Schwierigkeiten entsprechend den diesbezüglichen Bestimmungen des UNCLOS und auch nur für die Erbringung von Dienstleistungen, die zur Bewältigung dieser Situation absolut notwendig sind;

4.3.1.6

Verbot des Erwerbs eines Fischereifahrzeugs unter der Flagge dieser Länder durch Wirtschaftsbeteiligte aus der Europäischen Union;

4.3.1.7

Verbot der Umflaggung eines Fischereifahrzeugs der EU auf die Flagge eines dieser Länder;

4.3.1.8

Verbot für die Mitgliedstaaten, den Abschluss von Charterverträgen mit Wirtschaftsbeteiligten dieser Länder zu genehmigen;

4.3.1.9

Verbot der Ausfuhr von Fischereifahrzeugen unter der Flagge eines Mitgliedstaats führen, sowie von benötigten Fischereiausrüstungen und Vorräten für die Befischung des Bestands von gemeinsamem Interesse;

4.3.1.10

Verbot privater Handelsabsprachen zwischen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats und Ländern, die diesen Fischfang zulassen, zur Nutzung der Fangmöglichkeiten solcher Länder durch ein Fischereifahrzeug, das die Flagge des betreffenden Mitgliedstaats führt;

4.3.1.11

Verbot gemeinsamer Fangeinsätze von Fischereifahrzeugen eines Mitgliedstaats und Fischereifahrzeugen unter der Flagge dieser Länder;

4.3.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Gesamtheit dieser Maßnahmen dazu führen sollte, dass die Länder, die einen nicht nachhaltigen Fischfang zulassen, diese Praxis beenden. Darüber hinaus ist er der Auffassung, dass es sich um die wirksamsten Maßnahmen handelt, die die EU ergreifen kann. Deshalb begrüßt er den Beschluss der Kommission zur Vorlage dieses Vorschlags für eine Verordnung, in der die Maßnahmen, die in der Verordnung gegen illegale Fischerei vorgesehen sind, ausgeweitet und weiterentwickelt werden. Gleichzeitig fordert er die Kommission nachdrücklich dazu auf, für ihre strikte Anwendung zu sorgen, und ermutigt sie, ihre Anwendung einer genauen Kontrolle zu unterziehen. Die Kommission sollte keine Zweifel an ihrer kontinuierlichen Umsetzung haben, auch wenn entsprechende Forderungen vor der Welthandelsorganisation gestellt werden, denn nur so kann langfristig die Nachhaltigkeit der Fischbestände von gemeinsamem Interesse für die EU und die Drittstaaten gewährleistet werden.

4.4   Allgemeine Anforderungen an die auf der Grundlage dieses Verordnungsvorschlags verabschiedeten Maßnahmen

4.4.1   Die allgemeinen Anforderungen lauten:

4.4.1.1

Die verabschiedeten Maßnahmen beziehen sich immer auf die Erhaltung der Fischbestände von gemeinsamen Interesse und gelten in Verbindung mit den Beschränkungen der Fischereitätigkeiten der Fischereifahrzeuge der EU oder den Beschränkungen von Verarbeitung oder Verbrauch in der EU von Fisch und Fischereierzeugnissen aus oder mit den Arten, für die auf der Grundlage dieses Verordnungsvorschlags Maßnahmen ergriffen wurden. Für vergesellschaftete Arten gelten diese Beschränkungen nur, wenn die vergesellschafteten Arten bei der Befischung des Bestands von gemeinsamem Interesse gefangen werden;

4.4.1.2

die verabschiedeten Maßnahmen sind mit den Verpflichtungen vereinbar, die sich aus den von der EU unterzeichneten internationalen Übereinkommen und anderen maßgeblichen Völkerrechtsnormen ergeben;

4.4.1.3

die verabschiedeten Maßnahmen tragen den Maßnahmen Rechnung, die bereits im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 1005/2008 getroffen wurden;

4.4.1.4

die verabschiedeten Maßnahmen dürfen nicht zu einer Diskriminierung zwischen Ländern mit gleichen Voraussetzungen oder einer verschleierten Beschränkung des internationalen Handels führen;

4.4.1.5

die Kommission bewertet die mit der Umsetzung der Maßnahmen verbundenen ökologischen, handelsbezogenen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen.

4.4.1.6

Die verabschiedeten Maßnahmen beinhalten eine geeignete Regelung zu ihrer Durchsetzung durch die zuständigen Behörden.

4.4.2   Der EWSA hält diese Anforderungen für folgerichtig und befürwortet sie deshalb.

4.5   Voraussetzungen für die Verabschiedung von Maßnahmen

4.5.1   Wenn die Verabschiedung von Maßnahmen im Sinne des Vorschlags notwendig ist, setzt die Kommission das betreffende Land darüber im Vorfeld in Kenntnis. Sie teilt dabei die jeweiligen Gründe mit und beschreibt die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang auf der Grundlage der vorliegenden Verordnung ergriffen werden können. Außerdem bietet sie dem betreffenden Land vor ihrer Anwendung angemessen Gelegenheit, zu der Benachrichtigung schriftlich Stellung zu nehmen und Abhilfe zu schaffen.

4.6   Zeitraum für die Durchführung der Maßnahmen

4.6.1   Die verabschiedeten Maßnahmen werden nicht mehr angewandt, wenn das betreffende Land angemessene und mit der EU oder ggf. anderen betreffenden Ländern abgestimmte Abhilfemaßnahmen ergriffen hat oder wenn die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht beeinträchtigt wird, die die EU autonom oder in Zusammenarbeit mit anderen Ländern zur Erhaltung der fraglichen Fischbestände getroffen hat.

4.6.2   Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten fest, ob die genannten Bedingungen erfüllt sind, und entscheidet gegebenenfalls, dass die getroffenen Maßnahmen nicht mehr gelten.

4.6.3   Nur in hinreichend begründeten Fällen äußerster Dringlichkeit im Zusammenhang mit nicht vorhersehbaren wirtschaftlichen oder sozialen Problemen erlässt die Kommission einen sofort geltenden Durchführungsrechtsakt zur Aufhebung der Maßnahmen.

4.6.4   Die Kommission wird bei der ordnungsgemäßen Anwendung dieser Verordnung von einem gemäß der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 eingesetzten Ausschuss hinsichtlich der Modalitäten der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten unterstützt.

4.6.5   Der EWSA billigt das vorgesehene Verfahren zur Aussetzung der verabschiedeten Maßnahmen und hält die unverzügliche Anwendung aus Dringlichkeitsgründen für folgerichtig, vor allem im Falle von Entwicklungsländern.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/116


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2000/60/EG und 2008/105/EG in Bezug auf prioritäre Stoffe im Bereich der Wasserpolitik“

COM(2011) 876 final — 2011/0429 (COD)

2012/C 229/22

Berichterstatterin: An LE NOUAIL-MARLIÈRE

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 14. Februar bzw. am 22. Februar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2000/60/EG und 2008/105/EG in Bezug auf prioritäre Stoffe im Bereich der Wasserpolitik

COM(2011) 876 final — 2011/0429 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 11. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 135 gegen 15 Stimmen bei 14 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt den aktuellen Richtlinienvorschlag, da mit diesem die Liste der prioritären Stoffe und der prioritären gefährlichen Stoffe ausgeweitet und die umfassendste Option, die in der Folgenabschätzung vorgeschlagen wurde, aufgegriffen werden soll (1).

1.2   Der EWSA begrüßt die neue, von der Kommission vorgeschlagene Verfahrensweise, anhand derer sie gezielte, stichhaltige Überwachungsdaten über die Konzentration von Stoffen in der aquatischen Umwelt gewinnen kann. Der Schwerpunkt soll dabei auf neu aufkommenden Schadstoffen und Stoffen liegen, für die die Qualität der verfügbaren Überwachungsdaten für eine Risikobewertung nicht ausreichend ist. Nach Ansicht des EWSA sollten durch diesen Mechanismus das Erfassen solcher Informationen in allen Einzugsgebieten der EU erleichtert und die Überwachungskosten auf einem vertretbaren Niveau gehalten werden können.

1.3   Der EWSA empfiehlt jedoch, in diesen Vorschlag – und sei es nur versuchsweise – besondere Untersuchungen zu den folgenden, noch wenig erforschten Gebieten einzufügen:

i.

Untersuchungen zu Nanopartikeln und insbesondere deren Wechselwirkung mit prioritären Substanzen, da dieses Thema zunehmend Fragen aufwirft, wie die Europäische Umweltagentur ausführt (2).

ii.

Untersuchung der Kombinationswirkungen chemischer Substanzen, wie sie in Binnengewässern vorkommen, da diese Kombinationen schon in ganz geringer chemischer Konzentration beträchtliche Auswirkungen auf das aquatische Umfeld haben können.

1.4   Im Hinblick auf eine wirksame Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie hält es der EWSA für sinnvoll, den Vorschlag durch Hinweise auf bewährte Verfahren bei der Bewirtschaftung von Einzugsgebieten zu ergänzen.

1.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass Blei und Nickel als persistente, bioakkumulierbare Stoffe als prioritäre gefährliche Stoffe eingestuft werden sollten, mit dem Ziel einer Unterbindung von Einleitungen innerhalb von 20 Jahren, auch wenn ihre vollständige Beseitigung mit beträchtlichen Kosten verbunden ist.

1.6   Nach Auffassung des EWSA ist die Unterstützung und Mitwirkung der Öffentlichkeit eine Grundvoraussetzung, wenn es darum geht, die Wasserressourcen zu schützen, die Probleme zu erkennen und die am besten geeigneten Maßnahmen zu deren Lösung zu finden sowie die entsprechenden Kosten zu ermitteln. Ohne Unterstützung der Öffentlichkeit werden die Regelungsmaßnahmen erfolglos bleiben. Der Zivilgesellschaft kommt eine wichtige Rolle dabei zu, eine angemessene Wasserrahmenrichtlinie umzusetzen und die Regierungen dabei zu unterstützen, zwischen den zu berücksichtigenden sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten ein Gleichgewicht zu finden (3).

1.7   Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass das Wasser einen guten ökologischen und chemischen Zustand aufweisen muss, dass die Gesundheit der Bevölkerung geschützt, die Wasserversorgung sichergestellt und die natürlichen Ökosysteme und die biologische Vielfalt bewahrt werden müssen (4).

1.8   Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass mit der neuen Richtlinie die Berichterstattungspflichten der Mitgliedstaaten vereinfacht und rationalisiert werden dürften.

2.   Einleitung

2.1   Mit dem Richtlinienvorschlag sollen die Richtlinien 2000/60/EG und 2008/105/EG zu den prioritären Stoffen im Bereich Wasser (ausgenommen Meerwasser) entsprechend den Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie geändert werden:

i.

Die Liste prioritärer Stoffe soll mindestens alle vier Jahre überprüft werden, gegebenenfalls sollen neue prioritäre Stoffe oder neue prioritäre gefährliche Stoffe identifiziert werden.

ii.

Für Oberflächengewässer, Grundwasser, Sedimente oder Biota sollen dem neuesten Kenntnisstand entsprechend gegebenenfalls neue Umweltqualitätsnormen festgelegt werden.

2.2   Die Überprüfung erfolgte mit Unterstützung einer Arbeitsgruppe und nach einer breit angelegten Konsultation von Sachverständigen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten, der Interessengruppen (Gewerkschaften und NGO) sowie des Wissenschaftlichen Ausschusses „Gesundheits- und Umweltrisiken“ (SCHER).

2.3   Im Anschluss an diese Arbeit und die zu diesem Zweck durchgeführte Folgenabschätzung [SEC(2011) 1547 final] wurde im vorliegenden Richtlinienentwurf unter Heranziehung der umfassendsten Option der Folgenabschätzung die Liste der prioritären Stoffe von 33 auf 48 erweitert.

2.4   Ziel des Richtlinienentwurfs ist das Erreichen eines guten chemischen Zustands von Binnengewässern, d.h. die Einhaltung der im Anhang zu dem Richtlinienvorschlag festgelegten Umweltqualitätsnormen

i.

durch die Verminderung prioritärer Stoffe

ii.

und durch das Verbot der Einleitung prioritärer gefährlicher Stoffe innerhalb von zwanzig Jahren nach Annahme der Tochterrichtlinie.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA ist der Überzeugung, dass Wasser nicht nur ein Konsumprodukt, sondern auch eine wertvolle natürliche Ressource von lebenswichtiger Bedeutung für jetzige und künftige Generationen ist. Aus diesem Grund und weil in der gesamten EU zahlreiche umweltschädliche Stoffe im Gebrauch sind, müssen für diese Stoffe auf EU-Ebene harmonisierte Umweltqualitätsnormen aufgestellt werden.

3.2   Persistente, bioakkumulierbare und toxische Stoffe (PBT-Stoffe) stellen aufgrund ihrer Ubiquität, ihrer Verbreitungsfähigkeit über große Entfernungen hinweg, ihrer Quasi-Allgegenwart in der Umwelt und ihrer Persistenz ein besonderes Problem dar. Diese Stoffe werden im Allgemeinen als prioritäre gefährliche Stoffe eingestuft. Da die Präsenz dieser Stoffe die Gefahr birgt, dass sich die verbesserte Wasserqualität, die im Hinblick auf andere Stoffe erzielt wurde, nicht mehr erkennen lässt, haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Stoffe auf den chemischen Zustand des Wassers gesondert darzustellen.

3.3   Die Umsetzung der Richtlinie beruht auf den Bewirtschaftungsplänen für Einzugsgebiete und letztlich auf den Mitgliedstaaten. Die Kommission greift in diesem Zusammenhang zwar exemplarische Fälle heraus und stellt eine allgemeine Verbesserung bei der Überwachung und der Weitergabe von Informationen fest, aber es zeigt sich auch, dass sich die Mitgliedstaaten nicht alle auf dem gleichen Niveau bewegen (5). Hinsichtlich der Wirksamkeit der Richtlinie besteht somit noch Nachbesserungsbedarf.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Da die Europäische Kommission den Rechtsrahmen in stärkerem Maße auf den Begriff „Gefährlichkeit“ als auf den Begriff „Risiko“ gründet, enthält der Richtlinienvorschlag Stoffe mit Grenzwerten für bestimmte Konzentrationen; nicht erfasst wird hingegen das Risiko von Wechselwirkungen zwischen Stoffen, die, und sei es nur in geringer Dosierung, im aquatischen Umfeld vorhanden sind.

i.

Dieses Risiko von Wechselwirkungen kann sowohl chemische Gemische als auch Nanopartikel betreffen.

ii.

Diese Phänomene sind zwar wissenschaftlich noch nicht ganz erforscht, doch war der sehr deutliche Verdacht auf Toxizität der Europäischen Umweltagentur Anlass genug, sich in einem ihrer jüngsten Berichte diesem Thema zu widmen (6).

iii.

Obwohl es sicher schwierig ist, in noch wenig erforschten Bereichen Rechtsvorschriften zu erlassen, wäre es für die Zukunft der aquatischen Ökosysteme wichtig, dass die Mitgliedstaaten durch eine europäische Richtlinie zu prioritären Stoffen im Bereich Wasser auf die Beachtung dieser Phänomene vorbereitet werden.

4.2   Nickel und Blei stehen auf der Liste der prioritären Stoffe, gelten aber nicht als prioritäre gefährliche Stoffe.

i.

Diese Stoffe sind jedoch persistent (mit einer ubiquitären Persistenz vor allem von Nickel) und bioakkumulierbar, wodurch sie sich gemäß der von der Europäischen Kommission genannten Definition prioritärer gefährlicher Stoffe dieser Liste zuweisen lassen.

ii.

In der REACH-Verordnung werden diese Stoffe als besonders besorgniserregend eingestuft und bedürfen einer Genehmigung, da sie krebserzeugend, fortpflanzungsgefährdend (Kategorie 1 und 2 der als krebserzeugend, erbgutverändernd bzw. fortpflanzungsgefährdend eingestuften Stoffe (k/e/f)) und/oder persistent und bioakkumulierbar sind.

iii.

Im Hinblick auf die Übereinstimmung mit der Definition für prioritäre gefährliche Stoffe und mit der REACH-Verordnung müssten diese Stoffe als prioritäre gefährliche Stoffe eingestuft und ein Verbot ihrer Einleitung innerhalb von 20 Jahren als Ziel aufgenommen werden.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  SEC(2011) 1547 final.

(2)  Europäische Umweltagentur, Technical Report 8/2011: Hazardous substances in Europe’s fresh and marine waters, an overview.

(3)  ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 67 und ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 3.

(4)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 1.

(5)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Nachhaltige Wasserbewirtschaftung in der Europäischen Union, COM(2007) 128 final; Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, COM(2009) 156 final.

(6)  Europäische Umweltagentur, Technical Report 8/2011.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/119


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken“

COM(2012) 89 final — 2012/0039 (COD)

und dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/65/EWG des Rates hinsichtlich der tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel innerhalb der Union mit Hunden, Katzen und Frettchen und deren Einfuhr in die Union“

COM(2012) 90 final — 2012/0040 (COD)

2012/C 229/23

Berichterstatter: Nikolaos LIOLIOS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 16. März bzw. 13. März 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2, Artikel 168 Absatz 4 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken

COM(2012) 89 final — 2012/0039 (COD)

und

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/65/EWG des Rates hinsichtlich der tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel innerhalb der Union mit Hunden, Katzen und Frettchen und deren Einfuhr in die Union

COM(2012) 90 final — 2012/0040 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 11. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 155 gegen 2 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen

Der EWSA anerkennt die Notwendigkeit, die Verordnung (EG) Nr. 998/2003 über Fragen im Zusammenhang mit der Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken aufzuheben und zu ersetzen, und zwar aus den nachsehend dargelegten Gründen.

1.1   Der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist ein vorrangiges Ziel, und der Erlass von Rechtsakten zu Tätigkeiten wie der Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken trägt zu dessen Erreichung bei. Mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission zur Aufhebung und Ersetzung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 sind Tiergesundheitsvorschriften und Vorschriften für Kennzeichnung, Kontrolle und Vorsorgemaßnahmen während der Verbringungen der Tiere vorgesehen. Gleichzeitig wird die Verordnung (EG) Nr. 998/2003 an die Artikel 290 und 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union angepasst, indem Ausnahmen zugelassen werden, wobei der Kommission die Befugnis übertragen wird, delegierte Rechtsakte zu erlassen, die die möglichen Hindernisse für diese Verbringungen beseitigen.

1.2   Die Änderungen, die an den in der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 festgelegten Veterinärbedingungen vorgenommen werden mussten, und der Umstand, dass die Verordnung über die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken ausreichend klar und allgemeinverständlich sein muss, verstärken noch die Notwendigkeit, diese Verordnung aufzuheben und zu ersetzen.

1.3   Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Auslaufen der in Artikel 4 Absatz 1 vorgesehenen achtjährigen Übergangszeit für das Verfahren zur Kennzeichnung von Heimtieren. Es ist notwendig geworden, die in der Folge geltende Regelung klar und allgemeinverständlich zu machen, was ebenfalls Anlass zur Ersetzung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 gibt.

1.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission mit dem Vorschlag zur Aufhebung und Ersetzung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 den Rahmen für Verbringungen von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken umfassend absteckt. Die Reisen von Bürgern, die sich dafür entscheiden, ihre Heimtiere mitzunehmen, werden unter klareren Bedingungen definiert, durch deren Einhaltung die Sicherheit der öffentlichen Gesundheit gewährleistet wird.

1.5   Der EWSA ist damit einverstanden, die Richtlinie 92/65/EWG im Sinne der Kohärenz zu ändern, um die Bezugnahmen auf die Verordnung (EG) Nr. 998/2003 durch Bezugnahmen auf den vorliegenden Rechtsakt zu ersetzen.

2.   Hintergrund

2.1   In der Verordnung (ΕG) Nr. 998/2003 wurde die zeitliche Begrenzung der Übergangszeit eines Systems zur Kennzeichnung von als Heimtieren gehaltenen Hunden, Katzen und Frettchen festgelegt. Der Vorschlag der Kommission zur Aufhebung und Ersetzung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 hat folgende Gründe: das Auslaufen der Frist, die Notwendigkeit einer vollständigen Anpassung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 an den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die Entwicklung der medizinischen Kenntnisse und neue Anforderungen an die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken, die sich unmittelbar aus der Notwendigkeit ergeben, auch die Reisen der sie begleitenden Bürger zu erleichtern, sowie die Bemühungen um Festlegung ausreichend klarer und allgemeinverständlicher Vorschriften.

2.2   Die Kommission hat zudem einen Vorschlag vorgelegt, um die Richtlinie 92/65/EWG dahingehend zu ändern, dass die Bezugnahmen auf die Verordnung (EG) Nr. 998/2003 durch Bezugnahmen auf den vorliegenden Rechtsakt ersetzt werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die auf Menschen übertragbaren Infektionskrankheiten von Heimtieren haben es erforderlich gemacht, Bedingungen für die Kontrolle und die Verbringung von Tieren aufzustellen, damit die für die öffentliche Gesundheit notwendige Sicherheit erreicht werden kann. Da sich die Tollwutlage in der Union verbessert hat, wurde die Regelung über die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken geändert. Im Verordnungsvorschlag werden die Vorschriften und die Verfahren, die eingehalten werden müssen, eindeutig dargelegt.

3.2   Durch die Anwendung der Tollwutimpfung hat sich die Epidemiologie dieser Krankheit wesentlich verändert. In Verbindung mit den wissenschaftlichen Gutachten über die Immunisierung von Heimtieren werden in der Verordnung Vorsorgemaßnahmen festgelegt, damit die Verbringung von Heimtieren auch durch Ausnahmen im Sinne einer Vereinfachung verwirklicht werden kann; dabei werden zunächst die Bedingungen für die Verwirklichung dieser Ausnahmen sowie die zu ergreifenden Vorsorgemaßnahmen festgelegt.

3.3   Die Listen von Tieren, die erstellt werden, umfassen alle potenziell verbrachten Tiere mit Ausnahme derjenigen Tiere, deren Verbringung den Bestimmungen von EU-Richtlinien unterliegt. Die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften müssen die Verbringung von Tieren erleichtern, die definitionsgemäß als Heimtiere bezeichnet werden, gegenüber denen, die zu Handelszwecken verbracht werden.

3.4   Außer Tollwut stellen noch weitere Krankheiten eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Die Übertragungsgefahr ist jedoch begrenzt, zum einen weil Ausweise mitgeführt werden müssen, und zum anderen, weil gemäß dem Verfahren Personen mit der Krankheit in Kontakt kommen, die auf diese Tiere spezialisiert sind. Auf diese Weise kann der Gesundheitszustand dieser Tiere bescheinigt und ein Nachweis über ihre sichere Verbringung innerhalb der EU oder in diese erbracht werden.

3.5   Ein wichtiges Element ist, dass die Implantierung eines Transponders als einzige Möglichkeit zur Kennzeichnung von Hunden, Katzen und Frettchen beibehalten wird und die Kennzeichnung durch Tätowierung, die lediglich für bereits auf diese Weise gekennzeichnete Tiere eine anerkannte Identifizierungsmethode darstellt, ausgesetzt wird.

3.6   Bei den Tieren mit einer Kennzeichnung lässt sich leichter kontrollieren, ob die vorbeugenden Gesundheitsmaßnahmen zur Ansteckungsvermeidung eingehalten wurden. Diese Maßnahmen werden in den Mitgliedstaaten gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewandt, in einer Reihe von Mitgliedstaaten bei Vorliegen bestimmter Gründe aber auch über eine Einstufung nach validierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dieses Vorgehen mündet somit in einem gemeinsamen Handeln zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Gesundheit.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Auch wenn die wissenschaftliche Ausbildung der Personen, die heute mit Heimtieren umgehen, von ausreichendem Niveau ist und die bereitgestellten Dienstleistungen die Gesundheit der Heimtiere und somit die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten vermögen, ist beständige Wachsamkeit geboten, um jegliche Krankheitsübertragung zu verhindern. Mit der Verordnung zur Festlegung von Bedingungen für die Verbringung zu anderen als Handelszwecken wird der Schutz vor den Gefahren verschiedener Krankheiten garantiert.

4.2   Mit der Verordnung wird jedoch auch die Möglichkeit von Ausnahmen eingeführt, um die Verbringungen zu vereinfachen, und eine Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 998/2003 vorgeschlagen, insbesondere in Bezug auf delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte. Der EWSA ist mit der Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse bei der Verbringung einverstanden, jedoch unter dem Vorbehalt, dass validierte wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden und die Kommission geeignete Konsultationen auf Expertenebene zur Festlegung der Ausnahmen durchführt, damit diese Ausnahmen den besonderen Umständen einer Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken und in Bezug auf die tierseuchenrechtlichen Bedingungen und Vorschriften und die Form der Begleitdokumente Rechnung tragen.

4.3   Es muss jedoch geprüft werden, ob die vorgesehenen zeitlichen Beschränkungen der Gültigkeitsdauer eingehalten werden. Der Vorschlag beschreibt den Widerruf der delegierten Rechtsakte nach der Erhebung von Einwänden durch das Europäische Parlament und den Rat innerhalb von zwei Monaten oder, bei einer Verlängerung, von weiteren zwei Monaten. Da Fragen der öffentlichen Gesundheit jedoch von hinreichender Bedeutung sind, muss die Dauer der Befugnisübertragung klar begrenzt sein, wie dies im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehen ist. Damit gewinnt die Kontrolle der Kommission an Effizienz, und das Widerrufsrecht wird zu einer zusätzlichen Sicherheitsvorkehrung.

4.4   Bei der Erstellung einer Liste der Drittländer oder Gebiete, für die kraft der Anwendung von Vorschriften, die mit denen der Mitgliedstaaten gleichwertig sind, Ausnahmen gelten können, muss die Kommission ihre Entscheidung auf Garantien der Gesundheitsbehörden dieser Länder stützen. Es ist zwar legitim, dass die Verbringung von Heim- und Freizeittieren einfach und ohne Hindernisse und komplizierte Verfahren vonstatten geht, doch muss vor allem die öffentliche Gesundheit geschützt werden.

4.5   Sollten sich die Verfahren, mit denen Drittländern oder deren Gebieten nach Erhalt der entsprechenden Garantien eine Ausnahme von den Standardbedingungen gewährt wird, letztlich als schwerfällig, zeitaufwändig oder kostspielig erweisen, ist es vorzuziehen, sich an die bestehenden Leitlinien zu halten und die Geltendmachung solcher Ausnahmen zu vermeiden, denn sonst könnte der bei der Verbringung entstehenden Gefahr nicht angemessen begegnet werden.

4.6   Dementsprechend birgt auch die Verbringung ungeimpfter Tiere zwischen den EU-Mitgliedstaaten Gefahren. In der Verordnung werden die damit zusammenhängenden Verfahren definiert, und nach Auffassung des EWSA ist es grundlegend wichtig, dass sie eingehalten werden, um jegliche Möglichkeit einer Krankheitsübertragung zu vermeiden. Bei der Ausübung der Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte unter den in der Verordnung festgelegten Bedingungen muss die Kommission dafür sorgen, dass der betriebene Verwaltungsaufwand und das erzielte Ergebnis zu dem mit der Verbringung verbundenen Risiko im richtigen Verhältnis stehen.

4.7   Die Ausstellung von Ausweisen für Verbringungen zu anderen als Handelszwecken ist von zentraler Bedeutung. Wichtig für die Verstärkung des Systems zur Kennzeichnung und Überwachung von Tieren ist auch die Einführung der Kennzeichnung durch Implantierung eines Transponders.

4.8   Der Transponder muss von Tierärzten implantiert werden, damit es dank der wissenschaftlichen Ausbildung der die Implantierung durchführenden Personen möglich ist, Krankheiten bei den Tieren zu erkennen, bei denen die Implantierung vorgenommen wird, und diese Krankheiten anschließend im Ausweis zu vermerken. Die Informationen, die im Ausweis angegeben werden müssen, setzen die wissenschaftlichen Kenntnisse des von der zuständigen Behörde hierzu ermächtigten Tierarztes voraus.

4.9   Indem die Mitgliedstaaten das Verfahren zur Kennzeichnung und Erfassung durchgängig anwenden, ermöglichen sie die Befüllung von Datenbanken, die wichtige Informationen über die epidemiologische Situation eines Landes, den Fortschritt der Impfprogramme, die Dichte und die Verteilung der Tiere sowie deren Verbringung geben.

4.10   Die vorgeschriebenen Dokumenten-, Nämlichkeits- und physischen Kontrollen bei der Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken aus einem Drittland oder Gebiet in die Mitgliedstaaten sind sehr wichtig. Sie müssen durchgängig vorgenommen und von Personen durchgeführt werden, die entsprechende Informationen über das Verfahren und die Bedeutung dieser Kontrollen erhalten haben.

4.11   Im Fall einer Missachtung der Verfahren zur Einhaltung der Gesundheitsbedingungen und der Vorschriften für die Verbringung von Heimtieren ist zusätzlich zu den im Verordnungsvorschlag vorgesehenen Verfahren dafür Sorge zu tragen, dass die Gesundheitsbehörden des Herkunftslands benachrichtigt werden, um zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, dass die Verordnung auch in anderen Fällen nicht eingehalten wurde.

4.12   Die auf der Grundlage eines fundierten Gutachtens beschlossene Einschläferung eines Tieres, wenn seine Rücksendung unmöglich oder seine Absonderung nicht praktikabel ist, könnte auch von Spezialisten praktiziert werden, die zu dem Urteil gelangt sind, dass die Rücksendung oder Absonderung nicht nur schwierig ist, sondern zusätzliche Gefahren birgt.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/122


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine europäische Perspektive für Reisende: Mitteilung über die Rechte der Benutzer aller Verkehrsträger“

COM(2011) 898 final

2012/C 229/24

Berichterstatter: Raymond HENCKS

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Eine europäische Perspektive für Reisende: Mitteilung über die Rechte der Benutzer aller Verkehrsträger

COM(2011) 898 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 135 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt im Wesentlichen die Politik der Europäischen Union zur Gewährleistung gemeinsamer und vergleichbarer Rechte und Bedingungen für alle Reisenden bei sämtlichen öffentlichen Verkehrsträgern, d.h. im Schienen-, Luft-, See-, Binnenschiffs- sowie Linien- und Reisebusverkehr, und unterstützt die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Abbau der Hindernisse, die die Bürger von der wirksamen Ausübung ihrer Rechte abhalten, in einem intermodal ausgerichteten Ansatz.

1.2   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die in der Mitteilung aufgelisteten zehn spezifischen Passagierrechte um drei weitere Rechte ergänzt werden sollten, namentlich das Recht auf Sicherheit und Gefahrenabwehr, das sowohl die technische Sicherheit des Transportmaterials als auch die physische Sicherheit der Fluggäste umfasst, und das Recht auf Mindestqualitätsstandards für Dienstleistungen, Umweltschutz, Komfort und Barrierefreiheit.

1.3   Ausgehend von diesen 13 Rechten sollten die geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften einer Überprüfung unterzogen werden, um sie gegebenenfalls zu verbessern und zu stärken.

1.4   Dabei sollte der Verbesserung der Informationen für die Reisenden, den Bedingungen und Rechten von Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität, der Entschädigung von Fluggästen bei Flugverkehrsstörungen, Annullierung der Reise oder Gepäcksverlust, der Aufführung der Elemente, die in den Endpreis für Flugverkehrsdienste einfließen, dem Abtreten eines Reisevertrags an einen Dritten, den Bedingungen für eine Beschwerde und den Rechtsmitteln sowie der Festlegung der Rechte der Organisationen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, die die Passagiere vertreten und am besten in der Lage sind, den Bürger bei der Ausübung ihrer Rechte mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

1.5   Um die Überprüfung von Effizienz und Effektivität der Verkehrsdienste zu erleichtern, sie besser an die sich wandelnden Bedürfnisse der Bürger anzupassen und die Passagierrechte zu gewährleisten, schlägt der Ausschuss vor, ein unabhängiges Bewertungsverfahren unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips einzurichten, indem im Dialog mit den betroffenen Akteuren, insbesondere den Organisationen, die die Passagiere vertreten (einschl. Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität), mit Hilfe gemeinsamer Indikatoren eine europaweit harmonisierte Bewertungsmethodik erarbeitet wird.

1.6   In Bezug auf Beschwerden empfiehlt der Ausschuss, dass sämtliche Verkehrsunternehmen zusätzlich zu anderen Möglichkeiten zur Einreichung von Beschwerden eine Standard-E-Mail-Adresse für alle Beschwerden einrichten (Beschwerde@…) und verbindliche Mindestfristen für deren Beantwortung festgelegt werden.

1.7   Abschließend schlägt der Ausschuss die allgemeine Anwendung von Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung vor, ohne jedoch die Passagiere um ihr Recht zu bringen, vor Gericht zu gehen. Außerdem empfiehlt er, die Möglichkeit eines Rechtsinstruments für Sammelklagen in der EU in einem Rechtsakt klar zu erläutern und ihre Funktionsweise entsprechend festzulegen.

2.   Einleitung

2.1   Zunächst muss klargestellt werden, dass die Mitteilung, die Gegenstand dieser Stellungnahme ist, sich auf die Rechte der Benutzer des Personenverkehrs bezieht, der von öffentlichen oder privaten Verkehrsunternehmen bedient wird; der verkehr durch professionelle Verkehrsunternehmen (Taxi, Minibus mit weniger als 12 Plätzen usw.) ist vom Anwendungsbereich der nachstehend analysierten Bestimmungen ausgenommen. Dies ist umso bedauernswerter, da in dem „Aktionsplan urbane Mobilität“ (COM(2009) 490 final), der sowohl den von Verkehrsunternehmen bedienten öffentlichen als auch den Individualverkehr behandelt, betont wird, dass Gebühren, Qualität, Zugänglichkeit für Personen mit eingeschränkter Mobilität, Reiseinformationen und Passagierrechten besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss.

2.2   Zur Verwirklichung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Europäischen Union muss der öffentliche Verkehr gefördert und ausgebaut, um den Individualverkehr so weit wie möglich zu verringern.

2.3   Für Ausbau und Förderung des öffentlichen Verkehrs ist daher die Anerkennung und Gewährleistung der Passagierrechte eine Grundvoraussetzung, wobei die Beziehungen zwischen Verkehrsnutzer und Beförderer in ein neues Gleichgewicht gebracht werden müssen.

2.4   Die Europäische Union beschäftigt sich seit 2001 intensiv mit dem Schutz der Reisenden und der Stärkung ihrer Rechte in Bezug auf die verschiedenen Verkehrsträger. Sie hat hierfür nach und nach einen Rechtsrahmen geschaffen, um ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten, damit die Reisenden einschl. Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität im Schienen-, Luft-, See-, Binnenschiffs- sowie Linien- und Reisebusverkehr vergleichbare Rechte und Bedingungen in der gesamten EU vorfinden, wobei die Rechtsvorschriften für den Schiffs- und den Busverkehr allerdings erst ab Dezember 2012 bzw. März 2013 in Kraft treten.

2.5   Die Europäische Kommission hat 2010 eine umfassende zweijährige Kampagne unter dem Motto „Ihre Rechte als Reisende immer dabei“ gestartet und insbesondere eine Website eingerichtet (http://ec.europa.eu/transport/passenger-rights/de/index.html), auf der die Passagierrechte für jeden einzelnen Verkehrsträger in allen Amtssprachen der EU zusammengefasst sind. Außerdem wurden kostenlose Broschüren über die Passagierrechte verteilt und einschlägige Plakate in allen Bahnhöfen und Flughäfen der Mitgliedstaaten angebracht. Die Europäische Kommission hat vor Kurzem die Fortführung dieser Kampagne bis 2014 beschlossen.

2.6   Der öffentliche Verkehr ist jedoch nach wie vor von einem Informations-, Kompetenz- und Situationsgefälle zwischen zum einen den Passagieren und zum anderen den Beförderungsunternehmen gekennzeichnet. Außerdem scheinen viele Reisende ihre Rechte noch nicht wirklich zu kennen bzw. sie wissen nicht, wie sie diese im Bedarfsfall geltend machen oder korrekt nutzen können. Aus den Studien und Untersuchungen der Europäischen Kommission geht hervor, dass nur jeder fünfte europäische Verbraucher in einem Streitfall mit einem Streitwert unter 1 000 EUR aufgrund der hohen Kosten sowie der komplexen und langwierigen Verfahren keine Schadenersatzklage vor Gericht erhebt.

2.7   Außerdem ist die Anwendung der Gesetze durch die nationalen Behörden laut Europäischer Kommission noch immer uneinheitlich, was bei den Reisenden und den Unternehmen gleichermaßen für Verwirrung sorgt und Marktverzerrungen verursacht.

2.8   Die Europäische Kommission will daher die geltenden Bestimmungen stärker durchsetzen und sie erforderlichenfalls verbessern. Diesbezüglich hat sie eine öffentliche Konsultation im Hinblick auf eine eventuelle Änderung der Fluggastrechte-Verordnung auf den Weg gebracht.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1   In der Mitteilung werden die für alle öffentlichen Verkehrsträger geltenden Rechte und Grundsätze zusammengefasst. Außerdem werden einige Bereiche genannt, in denen Lücken geschlossen werden können, und Hindernisse ermittelt, die die Bürger von der Ausübung ihrer sich aus den EU-Vorschriften ergebenden Rechte abhalten.

3.2   In der Mitteilung werden drei Eckpfeiler genannt, namentlich Diskriminierungsfreiheit, genaue, zeitgerechte und zugängliche Informationen sowie unverzügliche und angemessene Hilfeleistungen, aus denen zehn spezifische Passagierrechte abgeleitet werden, die in einem stärker intermodal angelegten Konzept auf alle Verkehrsträger Anwendung finden:

1)

Diskriminierungsfreier Zugang zu Verkehrsdiensten;

2)

Recht auf Mobilität: Zugang und unentgeltliche Hilfeleistungen für Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität (PRM);

3)

Recht auf Information vor dem Kauf und während der einzelnen Reiseabschnitte, insbesondere bei Verkehrsproblemen;

4)

Rücktrittsrecht (Erstattung des vollen Fahrscheinpreises) bei Änderung der planmäßigen Reise;

5)

Recht auf Erfüllung des Beförderungsvertrags bei Verkehrsproblemen (anderweitige Beförderung oder Umbuchung);

6)

Recht auf Unterstützungsleistungen bei großen Verspätungen der Abreise oder von Anschlüssen;

7)

Recht auf Ausgleichsleistungen unter bestimmten Umständen;

8)

Haftung der Beförderungsunternehmen für Reisende und deren Gepäck;

9)

Recht auf ein zügig funktionierendes, zugängliches System zur Bearbeitung von Beschwerden;

10)

Recht auf die uneingeschränkte und wirksame Durchsetzung der EU-Vorschriften.

3.3   Auch wenn sich die Bedingungen und Modalitäten ihrer Anwendung gemäß den Besonderheiten der einzelnen Verkehrsträger verändern und weiterentwickeln können, besteht das wesentliche Ziel nun darin, diese Vorschriften verständlich zu gestalten und ihre Anwendung und Durchsetzung bei allen Verkehrsträgern zu konsolidieren, um eine einheitliche Vorgehensweise zu gewährleisten.

3.4   Um den Schutz der Reisenden auch jenseits der EU-Grenzen zu verbessern, werden Fragen im Zusammenhang mit Passagierrechten Gegenstand bilateraler und internationaler Vereinbarungen sein.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Es ist zu begrüßen, dass die Europäische Kommission eine Politik zur Gewährleistung einer Reihe gemeinsamer oder vergleichbarer Passagierrechte und Bedingungen für alle öffentlichen Verkehrsträger aufgelegt hat, die sowohl den Zielen der Verträge in Bezug auf den Verbraucherschutz (Titel XV, Artikel 169 AEUV) als auch der Ausrichtung der Charta der Grundrechte und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entspricht.

4.2   Der Ausschuss begrüßt, dass mit dieser Mitteilung in ein und demselben Dokument alle geltenden Vorschriften und Bestimmungen betreffend die Passagierrechte im öffentlichen Verkehr zusammengefasst werden, bedauert jedoch, dass keine konkrete Zahlen über den Umfang der Hindernisse genannt werden.

4.3   Der Ausschuss begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen für den Abbau der Hindernisse, die die Bürger von der wirksamen Ausübung ihrer Rechte abhalten, und die seitens der Europäischen Kommission vorgesehenen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Reisenden für sämtliche Verkehrsträger, d.h. Schienen-, Luft-, See-, Binnenschiffs- sowie Linien- und Reisebusverkehr, in den Genuss vergleichbarer Rechte und Bedingungen kommen.

4.4   Eines dieser Hindernisse sind oftmals fehlende, mangelhafte oder unverständliche Informationen über die Rechte und Verpflichtungen der Reisenden beim Kauf eines Beförderungsscheins sowie vor und, im Falle von Verkehrsstörungen, während der Reise.

4.5   Um die Passagiere deutlich über ihre Rechte aufzuklären, schlägt der Ausschuss vor, dass jeder Passagier bei der Reservierung einer Reise oder dem Kauf eines Beförderungsscheins durch einen Link zu einem einschlägigen Internetportal sowie einen, auch für Menschen mit Behinderungen, klaren, prägnanten, verständlichen und zugänglichen Verweis auf jedem Beförderungsschein darüber aufgeklärt wird, wo er einschlägige Informationen erhalten kann, und zwar in Broschüren, die in den Verkaufsstellen bereitgehalten werden, oder im Internet. Die von der Europäischen Kommission 2010 auf den Weg gebrachte Informationskampagne für Reisende sollte in enger Zusammenarbeit mit den Verbraucherverbänden fortgeführt werden.

4.6   Darüber hinaus bestehen jedoch nach vor erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Verkehrsträgern zum Nachteil der Reisenden, insbesondere im Luftverkehr. Der Ausschuss hat in seiner einschlägigen Sondierungsstellungnahme (1) darauf hingewiesen, dass die Fluggastrechte in einigen Bereichen hinter den Passagierrechten bei anderen Verkehrsträgern zurückbleiben, und gefordert,

die Tragweite des Rechts auf Unterstützung festzulegen,

die Information der Fluggäste auch während der Reise zu verbessern;

das Recht auf Information auch auf den Abflugbereich auszudehnen;

den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ zu definieren;

gemeinsam mit Vertretungsorganisationen von Personen mit eingeschränkter Mobilität Leitlinien zur Klärung der Definitionen in der Verordnung Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität aufzustellen;

die Elemente, die in den Endpreis für Flugverkehrsdienste einfließen, im Einzelnen aufzuführen;

die Verpflichtung zur Entschädigung betroffener Fluggäste festzulegen, falls eine Fluggesellschaft Konkurs anmeldet, gemäß dem Grundsatz der „gesamtschuldnerischen Haftung“ für die Repatriierung durch andere Luftfahrtunternehmen, und einen Fonds zur Entschädigung von Fluggästen einzurichten;

die Möglichkeit einzuführen, den Reisevertrag kostenlos an einen Dritten abzutreten.

Sämtliche Bestimmungen sollten auch auf alle anderen Verkehrsträger Anwendung finden, sofern sie dort noch nicht bestehen.

4.7   Die in der Mitteilung aufgelisteten zehn spezifischen Passagierrechte sind eine zweckdienliche Grundlage, um zum einen die Passagiere besser darüber zu informieren, welche Mindestdienstleistungsqualität sie seitens der Beförderungsunternehmen erwarten können, und zum anderen die Beförderungsunternehmen bei einer kohärenteren und wirksameren Anwendung der EU-Rechtsvorschriften zu unterstützen.

4.8   Der Ausschuss ist jedoch der Ansicht, dass diese zehn Rechte um drei weitere Rechte ergänzt werden sollten, namentlich:

1)

das Recht auf Sicherheit und Gefahrenabwehr, das sowohl die technische Sicherheit des Transportmaterials als auch die physische Sicherheit der Fluggäste umfasst;

2)

das Recht auf Mindestqualitätsstandards für Dienstleistungen, Komfort und Barrierefreiheit sowie im Überbuchungsfalle Anspruch auf vorherige Unterrichtung durch den Verkehrsdienstleister. Der Ausschuss verweist auf die Mitteilung „Aktionsplan urbane Mobilität“ (COM(2009) 490 final), in der die Europäische Kommission ihre Absicht angekündigt hat, den regulatorischen Ansatz um gemeinsame Qualitätsstandards zum Schutz der Fahrgastrechte und der Personen mit eingeschränkter Mobilität zu ergänzen;

3)

das Recht auf die Achtung des Grundsatzes der Erhaltung und des Schutzes der Umwelt sowie der Verbesserung ihrer Qualität gemäß den Vertragsbestimmungen seitens der Verkehrsdienstleister.

4.9   Ausgehend von diesen 13 Rechten sollten die geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften einer Überprüfung unterzogen werden. Dabei sollten bekannte Probleme wie Hindernisse für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität, fehlende Preistransparenz, unzureichende oder unverständliche Informationen, unklare und komplizierte Rechtsmittel, unangemessene finanzielle Entschädigungen, zu lange Bearbeitungszeiten für Beschwerden usw. analysiert und gelöst werden.

4.10   Wie die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung selbst anerkennt, würde die Veröffentlichung der Ergebnisse von Leistungsüberprüfungen der Beförderungsunternehmen und Befragungen zur Kundenzufriedenheit die einheitliche Überwachung und Kontrolle der Einhaltung der Vorschriften durch die nationalen Durchsetzungsstellen erleichtern. Der Ausschuss spricht sich für derartige Überprüfungen aus und ist der Meinung, dass Vertreter aller Interessenträger in eine Bedarfsanalyse sowie eine Leistungsüberprüfung und eine Untersuchung der Einhaltung der Fahrgastrechte eingebunden werden sollten.

4.11   Der Ausschuss schlägt daher vor, ein System zur regelmäßigen Bewertung einzurichten, um Effizienz und Effektivität der Verkehrsdienste zu erhöhen und sie besser an die sich wandelnden Bedürfnisse der Bürger anzupassen sowie die Einhaltung der Passagierrechte zu überprüfen. Auf Gemeinschaftsebene sollten mit Hilfe gemeinsamer Indikatoren die Modalitäten für Austausch, Vergleich und Koordinierung festgelegt und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips die Dynamik der unabhängigen Bewertung angestoßen werden, indem im Dialog mit den betroffenen Akteuren, insbesondere den Organisationen, die die Passagiere vertreten (einschl. Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität), eine europaweit harmonisierte Bewertungsmethodik erarbeitet wird.

4.12   Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, sich nicht wie bislang auf sektorspezifische Maßnahmen zu beschränken, sondern ein intermodales Konzept zu entwickeln, in dem die Anforderungen an Mobilität und Beförderung der Reisenden ungeachtet des Verkehrsträgers, den sie einzeln oder im Verbund benutzen, zur Sicherstellung einer intermodalen Kontinuität berücksichtigt werden. Wettbewerbsverzerrungen zwischen den einzelnen Verkehrsträgern können nur durch eine stärkere Harmonisierung der Passagierrechte verhindert werden.

4.13   In Bezug auf den Großteil der in der Mitteilung erwähnten Missstände und Lücken wird entweder auf die Folgenabschätzung im Hinblick auf die Überarbeitung der Verordnung zum Luftverkehr, in der etwaige verpflichtende Maßnahmen in Betracht gezogen werden, oder Vereinbarungen auf freiwilliger Basis seitens der Beförderungsunternehmen hingewiesen. Der Ausschuss hätte sich ein entschlosseneres Vorgehen mit verbindlichen Maßnahmen gewünscht.

4.14   Der Ausschuss bedauert, dass die Rechte und Befugnisse der Organisationen, die die Passagiere vertreten (einschl. Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität), in der Mitteilung unerwähnt bleiben, zumal diese am besten in der Lage sind, den Bürger bei der Ausübung ihrer Rechte mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

4.15   In Bezug auf Beschwerden müssen die Passagiere in verständlicher Sprache über die einschlägigen Kontaktmöglichkeiten und -stellen für die Einreichung ihrer Beschwerden und die Rechtsmittel informiert werden. Der Ausschuss empfiehlt, dass sämtliche Verkehrsunternehmen eine Standard-E-Mail-Adresse für alle Beschwerden einrichten (Beschwerde@…), wobei natürlich jedwede andere Möglichkeit zur Einreichung von Beschwerden (auf dem Postweg, bei einer Verkaufsstelle usw.) gewährleistet sein muss. Außerdem müssen verbindliche Mindestfristen für die Beantwortung der Beschwerden festgelegt werden.

4.16   Der Ausschuss fordert, dass nähere Ausführungen zu den Rechtsmitteln in die Mitteilung aufgenommen werden, die die Passagiere im Falle der Ablehnung ihrer Beschwerden und Forderungen bei den nationalen und europäischen Stellen, die über Entscheidungs- und Zwangsbefugnisse verfügen, einlegen können. Das Beschwerderecht darf keinesfalls an den Beförderungspreis gebunden sein.

4.17   Der Ausschuss betont, dass das Recht auf Schadensersatz aufgrund der praktischen Schwierigkeiten bei der Ausübung dieses Rechts oftmals nur auf dem Papier besteht, insbesondere wenn es zwar zahlreiche Geschädigte gibt, diesen jedoch jeweils nur geringfügige Ansprüche zustehen. Da bei der Einlegung von Rechtsmitteln weder Probleme noch Kosten entstehen dürfen, die die Beschwerdeführer von dem Erheben einer Beschwerde abhalten würden, spricht sich der Ausschuss für die allgemeine Anwendung von Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung (AS) aus, ohne jedoch die Passagiere um ihr Recht zu bringen, vor Gericht zu gehen.

4.18   In seiner Stellungnahme CESE 803/2012 nimmt der Ausschuss zur Kenntnis, dass AS-Systeme nunmehr auch auf kollektive Streitigkeiten Anwendung finden können, als ersten Schritt zur konkreten Ausgestaltung eines Rechtsinstruments für Sammelklagen in der EU, empfiehlt jedoch, diese Möglichkeit in einem Rechtsakt klar zu erläutern und ihre Funktionsweise entsprechend festzulegen.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 125.


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/126


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Energiefahrplan 2050“

COM(2011) 885 final

2012/C 229/25

Berichterstatter: Pierre-Jean COULON

Mitberichterstatter: Richard ADAMS

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Energiefahrplan 2050

COM(2011) 885 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Mai 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 137 gegen 6 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt den Energiefahrplan 2050 und sein Ziel, einen Rahmen für die vereinbarte Politik der umfangreichen Dekarbonisierung des Energiebereichs in Europa bis 2050 zu schaffen (Europäischer Rat, Oktober 2009), mit großem Interesse zur Kenntnis. Es gilt, nicht nur einen nachhaltigen und sicheren kohlenstoffarmen Energiemix in einem wettbewerbsfähigen Markt zu erreichen, sondern auch die Zivilgesellschaft davon zu überzeugen, dass dies ein machbares Ziel ist.

1.2   Die EU-Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Energieressourcen und Infrastrukturen, und das Dekarbonisierungsziel stellt für einige von ihnen eine wesentlich größere Heraus-forderung dar als für andere. Der Fahrplan bietet einen ausreichend flexiblen Ansatz für die Aufstellung geeigneter Aktionspläne. Zur Erreichung des Dekarbonisierungsziels ist eine umfassende Lastenteilung erforderlich.

1.3   Dies ist ein ehrgeiziges, aber unausweichliches Ziel, will Europa seinen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten und seine Energiesicherheit verbessern. Hierfür muss eine Debatte anregt werden, die die gesamte europäische Öffentlichkeit erfasst. Nach Ansicht des Ausschusses kann dieser Fahrplan eben dazu dienen. Es muss jedoch die Mitwirkung aller Ebenen – sprich des Einzelnen, der Gemeinschaft, der Regionen, der Mitgliedstaaten und der EU insgesamt – gefördert und in den Zusammenhang ergänzender globaler Maßnahmen gestellt werden.

1.4   In dem Fahrplan sind abschließend zehn Bedingungen bzw. Prioritäten für unmittelbare Maßnahmen aufgelistet. Der Ausschuss stimmt all diesen Bedingungen zu, insbesondere der letzten, in der die Festlegung konkreter und spezifischer Meilensteine zur Verwirklichung der in den kommenden Jahren notwendigen Fortschritte empfohlen wird. Er stimmt ebenfalls der Aussage zu, dass jetzt ein Politikrahmen bis 2030 festgelegt werden muss, um einen zuverlässigen Leitfaden für Investitionsentscheidungen für die kommenden Jahre zu schaffen, bei deren Kosten-Nutzen-Rechnung weit über 2020 hinausgeblickt werden muss.

1.5   Der Ausschuss empfiehlt zunächst eine dringliche Bewertung der „Energiestrategie 2020“, die unerlässlich ist, um die endgültige Marschroute für die Verwirklichung der Ziele für 2030 oder 2050 festzulegen. Der Ausschuss plädiert in diesem Zusammenhang dafür, für jeden Mitgliedstaat und Sektor eine eigene Bilanz der Umsetzung der „20-20-20“-Ziele aufzustellen.

1.6   Es ist wichtig, schon früh erste Hinweise darauf zu erhalten, ob die ehrgeizigen Ziele des Fahrplans auch wirklich erreicht werden können, und ihre Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft einschl. globaler Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und soziale Sicherheit zu überprüfen.

1.7   Die Mitwirkung der Öffentlichkeit an der Energiewende ist wesentlich. Die Einrichtung eines europäischen Forums der Zivilgesellschaft und die Schaffung einer europäischen Energiegemeinschaft sind konstruktive Schritte auf dem Weg zu dem gesetzten Ziel – einer nachhaltigen Energiezukunft.

2.   Einleitung

2.1   Der Energiefahrplan 2050 schließt als konzeptueller Rahmen eine ganze Reihe von Vorschlägen ab, mit denen die Europäische Kommission der EU-Energie- und Klimapolitik eine feste Gestalt gegeben hat (siehe insbesondere den „Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050“ (COM(2011) 112 final)). Dieser Fahrplan bildet einen möglichen Rahmen für die Verwirklichung der drei Ziele der EU-Energiepolitik, namentlich Dekarbonisierung, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit. Er enthält selbst keine spezifischen Empfehlungen für politische Maßnahmen oder Zwischenziele, und die darin dargelegten Szenarien sollten nicht als Politikvorschläge angesehen werden.

2.1.1   Ausgehend von den aktuellen Tendenzen und politischen Konzepten wird der Primärenergiebedarf zwischen 2010 und 2035 voraussichtlich um ein Drittel anwachsen – daran wird auch das niedrigere Wirtschaftswachstum kaum etwas ändern. Der Anteil fossiler Brennstoffe am globalen Primärenergieverbrauch wird nur geringfügig zurückgehen (von 81 % im Jahr 2010 auf 75 % im Jahr 2035); daher werden energiebedingte CO2-Emissionen in diesem Zeitraum um weitere 20 % zunehmen, was wiederum bedeutet, dass die globale Durchschnittstemperatur langfristig um über 3,5 °C steigt (Internationale Energie-Agentur (IEA): „World Energy Outlook 2011“, November 2011).

2.1.2   Zwar geht es in dem Fahrplan in erster Linie um die Dekarbonisierung des Energiesystems, doch trägt er zwei wesentlichen Schwachpunkten Rechnung: Der EU-Energiemix beruht zu 55 % auf Energieimporten, und der internationale Energiemarkt ist äußerst wettbewerbsorientiert und schwankend. Letztlich kann nur ein koordiniertes globales Handeln dieses globale Problem lösen. Europa könnte eine führende Rolle übernehmen, indem es aufzeigt, wie die Energiewende in einer großen Weltregion bewerkstelligt werden kann. Dabei könnte es eventuelle Vorteile aus seiner Vorreiterrolle ziehen und seine Importabhängigkeit verringern.

2.2   Die Zeit drängt. Typische Investitionszyklen im Energiebereich dauern 40 Jahre oder länger. Um die erwiesenermaßen erforderliche Energiewende mit erheblichen Änderungen in Angebot und Nachfrage zu schaffen, müssen wir jetzt handeln und dafür sorgen, dass Investitionen nicht für CO2-intensive Technologien gebunden werden („Lock-in“). Aufgrund politischer, technischer und wirtschaftlicher Unwägbarkeiten wird in dem Energiefahrplan 2050 kein alleiniger Entwicklungsweg bis 2050 vorgezeichnet. Es werden vielmehr mögliche Umstellungsszenarien beleuchtet und die Notwendigkeit flexibler Konzepte in einer sich ändernden und unberechenbaren Welt bedacht. Die Zuständigkeiten der Europäischen Kommission in der Energiepolitik wurden zwar mit dem Vertrag von Lissabon ausgeweitet, doch ist der Energiemix nach wie vor ausdrücklich den Mitgliedstaaten vorbehalten; das Handeln auf europäischer Ebene muss dieser Zuständigkeitsverteilung Rechnung tragen. In dem Fahrplan wird jedoch darauf hingewiesen, dass ein neuer Geist der praktischen Zusammenarbeit zur Verwirklichung optimaler Ergebnisse notwendig ist. Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich diesen pragmatischen Ansatz, z.B. die Entwicklung einer europäischen Energiegemeinschaft.

3.   Zusammenfassung des Energiefahrplans 2050

3.1   Der Energie-Weg bis 2020 ist großteils bereits in bestehenden Plänen und Maßnahmen zur Verwirklichung der „20-20-20“-Ziele vorgezeichnet. In dem Fahrplan wird nun hervorgehoben, dass dringend Energiestrategien für den Zeitraum nach 2020 entwickelt werden müssen. Die Regierungen müssen nun handeln, um Versorgungs- und Investitionssicherheit zu gewährleisten und „Lock-in“-Effekte zu minimieren. Verzögerungen werden höhere Kosten und in der Folge mehr Aufwand zur Verringerung des CO2-Ausstoßes nach sich ziehen.

3.2   Aufgrund der schwierigen Vorhersehbarkeit der Energiezukunft wurden sieben Beispielszenarien entwickelt. Die ersten beiden Szenarien illustrieren das voraussichtliche Ergebnis, wenn lediglich die bestehenden Maßnahmen und laufenden Politikinitiativen fortgeführt werden. In beiden Szenarien werden die CO2-Reduktionsziele für 2050 nicht erreicht. Die anderen fünf Szenarien zeigen alternative Wege zur Verwirklichung des 2050-Ziels auf der Grundlage unterschiedlicher Technologien und Politikoptionen auf:

äußerst strenge Energieeffizienzmaßnahmen;

umfassende Nutzung der Bepreisung der CO2-Emissionen, um eine breite Palette an CO2-armen Lösungen zu fördern und sie auf dem Markt wettbewerbsfähig zu machen;

erhebliche Fördermaßnahmen zur Entwicklung erneuerbarer Energieträger;

ein höherer Anteil der Kernenergie und eine geringere Verbreitung der CCS-Technologie;

eine größere Verbreitung der CCS-Technologie und ein niedrigerer Anteil der Kernenergie.

3.3   Aus diesen Szenarien leitet die Europäische Kommission zehn strukturelle Änderungen für einen Umbau des Energiesystems ab. Sie ist der Meinung, dass Dekarbonisierung möglich ist und langfristig kostengünstiger als die aktuellen politischen Konzepte sein kann. Dabei wird Strom im Energiemix eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, wobei die Preise bis 2030 sowohl real steigen als auch einen größeren Anteil an den Ausgaben von Privathaushalten ausmachen werden. Die Kapitalinvestitionen werden steigen, die Brennstoffkosten hingegen sinken. Außerdem sind erhebliche Energieeinsparungen im gesamten System unabdingbar. Der Anteil erneuerbarer Energien steigt in sämtlichen Szenarien deutlich; außerdem wird davon ausgegangen, dass CO2-Abtrennung und -Speicherung (CCS) einen wesentlichen und erheblichen Beitrag zum Umbau des Energiesystems leistet.

3.4   In dem Fahrplan wird festgehalten, dass für Energiesicherheit eine eigene europäische Politik der Energieversorgungssicherheit sowie der Auf- und Ausbau von Infrastrukturen und Beziehungen zu Erzeuger- und Transitländern notwendig sind. Maßnahmen zur Entwicklung neuer Technologien, zur Integration erneuerbarer Energieträger in den Markt, für Energieeffizienz und -einsparungen sowie Infrastrukturentwicklung werden durch eine Koordinierung auf europäischer Ebene mehr Wirkung zeigen.

3.5   Sämtliche Szenarien beinhalten Änderungen und Anpassungen auf Seiten der Energieverbraucher. Die Europäische Kommission betont die notwendige Mitwirkung und Einbindung der Öffentlichkeit und die soziale Dimension des Energiefahrplans. Es sind höhere Investitionen in FuE und technologische Innovation erforderlich. Außerdem müssen noch offene Fragen in Bezug auf den Binnenmarkt und die Rechtsetzung behandelt werden. Die Energieinfrastruktur muss erheblich verbessert und ausgebaut werden; den Mitgliedstaaten und Investoren müssen hierfür konkrete Zwischenziele gesetzt werden. Die Europäische Kommission beabsichtigt, diesbezüglich weitere einschlägige Mitteilungen vorzulegen – zu den erneuerbaren Energieträgern, dem Binnenmarkt, der CCS-Technologie, der nuklearen Sicherheit und den Energietechnologien –, die den konzeptuellen Rahmen bis 2030 ausgestalten werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Angesichts der zahlreichen technischen und politischen Unwägbarkeiten erachtet der Ausschuss das Konzept der Modellierung alternativer Szenarien für 2050, das in dem Fahrplan verfolgt wird, als sinnvoll, da dies einen Vergleich und eine Bewertung der Auswirkungen verschiedener technischer Entwicklungen, Kombinationen politischer Maßnahmen und externer Vorgänge ermöglicht.

4.2   Die Modellierungsmethode sowie die zugrunde gelegten Annahmen sind allerdings nicht immer transparent. Es muss mehr Information dazu bereitgestellt werden, damit andere Experten den Ansatz prüfen und weitere Szenarien ausgehend von unterschiedlichen Annahmen entwickeln können. Der Ausschuss ist jedoch der Meinung, dass die in den Anhängen zu dem Fahrplan enthaltenen Informationen als hilfreich zu werten sind, und unterstützt die wichtigste Schlussfolgerung des Fahrplans, namentlich dass eine erhebliche Dekarbonisierung bis 2050 möglich ist und dass dies Europa langfristig eine weitaus sicherere und nachhaltigere Energiegrundlage für seine Zukunft bietet als ein Weitermachen wie bisher, und dies zu in etwa vergleichbaren Kosten in den kommenden 40 Jahren bis 2050. Doch auch wenn die Dekarbonisierungsziele des Fahrplans realistisch sind, so erfordert ihre Verwirklichung doch tiefgreifende Veränderungen und die Überwindung zahlreicher Hindernisse.

4.3   In dem Fahrplan werden verschiedene Weg zur Verwirklichung dieser Dekarbonisierung aufgezeigt. All diese Wege haben einige Schlüsselelemente gemein: eine substantielle Verbesserung der Energieeffizienz, eine erhebliche Ausweitung des Anteils erneuerbarer Energieträger, ein höherer Anteil von Strom am Energiemix, ein umfassenderes und intelligenteres Netz sowie neue Möglichkeiten für Stromspeicherung und Reservekapazität. Weitere Elemente hängen stärker von noch nicht ausgereiften technischen Entwicklungen ab oder von den Ressourcen und Entscheidungen der einzelnen Länder (saubere Kohle, Kernenergie usw.). Öffentliche Akzeptanz und Kostenschwankungen sind beide wesentliche Einflussgrößen in allen Optionen. Es gibt keine risikofreie Option.

4.4   Der Ausschuss stimmt dieser Analyse und der implizierten Schlussfolgerung zu, dass die EU ihre vereinten Anstrengungen in erster Linie darauf ausrichten sollte, die in ganz Europa benötigten gemeinsamen Elemente so schnell, kohärent und effizient wie möglich voranzutreiben.

4.5   Der Ausschuss stimmt gleichfalls der Analyse der wichtigsten Herausforderungen und Chancen in dem Fahrplan zu, die auf europäischer Ebene aufgegriffen werden müssen, um das Energiesystem umzubauen, die Energiemärkte neu zu gestalten, Investoren zu mobilisieren, die Bürger einzubinden und den Wandel auf internationaler Ebene voranzubringen. Er ist bereit, den Wert der vorgeschlagenen Prioritäten anzuerkennen, sofern die in den nachstehenden Bemerkungen aufgeführten Einwände und Anmerkungen berücksichtigt werden, insbesondere die im letzten Kapitel aufgestellten zehn Bedingungen, die dringend erfüllt werden müssen, um Fortschritte zu erzielen.

4.6   Der Ausschuss ist jedoch darüber enttäuscht, wie weit die Fortschritte in der EU und in einigen Mitgliedstaaten schon jetzt hinter die gesetzten Ziele zurückfallen. Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass dieses Fortschrittsdefizit durch den Rückgang von hochkohlenstoffintensiven Produktionsprozessen in der EU sowie deren Zunahme in anderen Teilen der Welt und folglich den Importen in die EU verschleiert wird.

4.7   Technologische Entwicklung braucht Zeit, ehe sie umfassend und zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist. Im Energiebereich wird in besonders langen Investitionszyklen von in der Regel 40 Jahren gerechnet; daher müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten dringend Richtziele bis 2030 in Verbindung mit unterstützenden Maßnahmen festlegen, um die Bindung von Investitionen für kohlenstoffintensive Anlagen zu vermeiden. Es sind genau diese Investitionszyklen, die das Tempo der Fortschritte bei der Verwirklichung der 2050-Ziele bestimmen könnten – und ob diese realistisch gesehen auch erreicht werden können. Politik und Wirtschaft müssen zu einer entsprechenden Zusammenarbeit bereit sein, was in der Praxis durch geeignete Programme und Rechtsvorschriften unterstützt werden muss.

4.8   Energieeffizienz und Energiesparen werden derzeit nicht schnell genug vorangebracht, insbesondere in Anbetracht der interinstitutionellen Verhandlungen über den aktuellen Entwurf der Energieeffizienzrichtlinie. Die von der Europäischen Kommission angekündigte Überprüfung der nationalen Energieeffizienzprogramme sollte weitere Maßnahmen anregen, gleichzeitig muss aber berücksichtigt werden, dass ein Rückgang der Nachfrage auch Auswirkungen auf die Energieinvestitionen haben könnte. Fortschritte im Bereich erneuerbare Energieträger werden durch schwankende Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten und manchmal auch durch Widerstand vor Ort gebremst. Die Fortschritte bei Netzmodernisierung und Energiespeicherung sind zu langsam. Für ein wirklich flexibles intelligentes Netz sind weitere Investitionen notwendig, die sich nach Ansicht des Ausschusses jedoch unbedingt lohnen, da dieses Netz die Grundlage einer für alle Beteiligten vorteilhaften europäischen Energiegemeinschaft bildet. Er hat sich hierzu ausführlicher in seiner Stellungnahme zu den „Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur (1) geäußert.

4.9   Der Preis für CO2-Emissionen, der durch das EU-EHS festgelegt werden sollte, ist viel zu niedrig und schwankend, um ein sinnvolles Signal an die Investoren auszusenden. Allerdings müssen die Folgen der prognostizierten künftigen hohen Preise für Emissionszertifikate im EU-EHS (200 bis 300 EUR/t 2040-2050) eingehender analysiert werden. Dies und weitere ungelöste Fragen sind Hindernisse bei der Verwirklichung der zehn Bedingungen für den Fortschritt, die in dem Fahrplan dargelegt werden. Als oberste Priorität müssen diese Probleme zunächst offen und ehrlich untersucht und dann umgehend gelöst werden, um weitere Fortschritte zu ermöglichen.

4.10   Längerfristig wird dies die Widerstands- und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt mehr stärken als ein einfaches Weitermachen wie bisher. Kurzfristiger werden die notwendigen Investitionen aber unweigerlich zu einer Erhöhung des Energiepreises und zu Mehrkosten für Verbraucher, Unternehmen oder Regierungen (oder vermutlich für alle drei) führen. Auch werden sich diese Maßnahmen wahrscheinlich unterschiedlich in den einzelnen Mitgliedstaaten auswirken, die sich derzeit in Bezug auf ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, ihre Energieeffizienzfortschritte und ihr Potenzial für die Entwicklung von erneuerbaren Energieträgern erheblich unterscheiden.

4.11   Diesbezüglich wird die in vielen Teilen Europas voraussichtlich andauernde Abhängigkeit von Kohle zur Stromerzeugung in Verbindung mit dem wachsenden Interesse am Potenzial von Schiefergas gemeinsame Forschungs- und Finanzierungsanstrengungen zur Durchführung zusätzlicher CCS-Programme erforderlich machen. Die Nutzung von Schiefergas kann zwar die Energieabhängigkeit von Drittstaaten verringern, ist jedoch mit erheblichen Umweltrisiken verbunden, die umfassend bewertet werden müssen. Hierfür müssen Grundsätze für die Lasten- und Kostenteilung für große Infrastrukturprogramme zwischen den Ländern festgelegt werden. Länder, die bei ihrer Energieversorgung von Kohle abhängig sind, müssen verständnisvoll zu maximalen Dekarbonisierungsanstrengungen ermutigt und dabei unterstützt werden.

4.12   Nach Meinung des Ausschusses müssen all diese Auswirkungen umfassend von sämtlichen Interessenträgern durchgerechnet, erörtert und akzeptiert werden. Außerdem müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Anpassungslasten auf der Grundlage der Kapazitäten und im Geiste der Solidarität auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten zu teilen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Gemeinschaften dazu bewegt werden können, die Notwendigkeit und die Kosten des Wandels zu akzeptieren – allerdings nur, wenn sie umfassend eingebunden werden, sich selbst nicht als unfair benachteiligt erachten und die Gründe nachvollziehen können. Die Regierungen müssen ihren Bürgern die Mittel an die Hand geben, um an diesem Wandel mitzuwirken, und dabei klar die Ziele vorgeben und erklären, warum diese Schritte notwendig sind.

4.13   Darüber hinaus müssen auch schwache Verbraucher von den Auswirkungen höherer Energiepreise geschützt werden. Gefährdete Unternehmen sollten ebenfalls vor unlauterem Wettbewerb aus Regionen außerhalb der EU geschützt werden, in denen nicht dieselben Auflagen gelten. Mitgliedstaaten oder Regionen, die bei der Energiewende mit besonderen Problemen zu kämpfen haben, benötigen eventuell auch eine zusätzliche Unterstützung aus den Strukturfonds oder anderen Mechanismen. Allerdings dürfen verschiedene Unterstützungsmechanismen nicht zu ungleichem Wettbewerb zwischen Ländern und Regionen führen. Es geht vielmehr darum, gerechtfertigte Unterstützungsmechanismen und die Grundsätze für die Kostenaufteilung für große Infrastrukturvorhaben zwischen den Ländern zu harmonisieren. Die Risiken, die den hierfür notwendigen zentralen Planungsverfahren innewohnen, müssen berücksichtigt werden.

4.14   Die Europäische Kommission sollte die Strategien der Mitgliedstaaten wirksam überwachen, um sicherzustellen, dass die Interessen der Verbraucher gewahrt und die Verbreitung intelligenter und kohlenstoffarmer Technologien auf dem Grundsatz der Kosteneffizienz beruht. So sollten insbesondere ein guter funktionierender Binnenmarkt, die Stärkung der Befugnisse und der Unabhängigkeit der Energieregulierungsbehörden und eine umfassende Universaldienstverpflichtung den Anforderungen von Transparenz, Rechenschaftspflicht und öffentlicher Information über nachhaltigen Verbrauch genügen.

4.15   Der weitere Ausbau von erneuerbaren Energieträgern stößt derzeit ebenfalls auf Probleme. In technischer Hinsicht sind bislang keine Pläne und Investitionen für die Aufnahme weiterer schwankender und räumlich verteilter Versorgungsquellen in das Netz- und Speichersystem vorgesehen. In wirtschaftlicher Hinsicht gehen zwar die Durchschnittskosten pro Einheit erneuerbarer Energieträger weiter zurück, doch kommen diese in der Stromerzeugung nach wie vor teurer als herkömmliche Energieträger (insbesondere Gaskraftwerke). Aus Sicht der Verbraucher gibt es einigen Widerstand vor Ort gegen bestimmte Anlagen (beispielsweise Windkraftanlagen). Daher scheint das Szenario „hoher Anteil erneuerbarer Energien“ mit Blick auf 2050 zwar die attraktivste Option, die die höchste Energieversorgungssicherheit und praktisch kostenlosen „Brennstoff“-Zugriff (Sonne, Wind usw.) bietet, doch scheinen gleichzeitig die Probleme für die Verwirklichung dieses Szenarios aus heutiger Sicht am schwierigsten zu überwinden. Hierfür bedarf es äußerst entschlossener und konsequenter politischer Führung. Selbst dann greifen die oben genannten Argumente jedoch nur, wenn kohlenstofffreie Energiespeichersysteme oder Reserve-Kraftwerke verfügbar sind, um die schwankende Einspeisung aus den meisten erneuerbaren Energieträgern auszusteuern.

4.16   Für die Bewerkstelligung dieses Wandels sind entschlossene und koordinierte Anstrengungen auf allen Ebenen erforderlich. Für die Festlegung gemeinsamer Energieeffizienznormen in allen Bereichen, die Förderung von Innovation in Schlüsseltechnologien, die Marktintegration sowie die Harmonisierung der fiskalischen Maßnahmen und der Anreizsysteme, die Reform des EU-EHS, die Koordinierung der Pläne für ein integriertes europaweites intelligentes Netz und Energiespeichersysteme usw. ist ein starkes europäisches Handeln notwendig. Eine frühe Bewertung der „Energiestrategie 2020“ ist unerlässlich, bevor Europa sich auf die Zielgerade für 2030 oder 2050 begibt. Der Ausschuss plädiert in diesem Zusammenhang dafür, für jeden Mitgliedstaat und Sektor eine eigene Bilanz der Umsetzung der „20-20-20“-Ziele aufzustellen.

4.17   Nach Ansicht des Ausschusses müssen die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten einen effizienten Mechanismus schaffen, um die Energiewende gemeinsam voranzubringen. Der Ausschuss plädiert für die frühe Errichtung einer integrierten europäischen Energiegemeinschaft. In der Zwischenzeit fordert er die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, gemeinsam mit dem Regulierungsbehörden und den Energieversorgungsunternehmen einen gemeinsamen Mechanismus zu gestalten, in dem sie praktisch so zusammenarbeiten können, als würde die Energiegemeinschaft bereits bestehen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Energiemix

5.1.1   Die Dekarbonisierung des Energiesystems könnte mittelfristig ein Wettbewerbsvorteil für Europa sein. Sie erforderte tiefgreifende Veränderungen im Stromerzeugungsmix der Mitgliedstaaten und einen schrittweisen Ausstieg aus fossilen Energieträgern (Erdöl, Erdgas, Kohle), die immer noch 80 % des europäischen Energiemixes ausmachen. Diese fossilen Energieträger werden überwiegend importiert und führen zur wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit der EU (nahezu 55 % unserer Energie stammt aus außer-europäischen Quellen). Die EU führt jährlich Erdöl und Erdgas im Wert von 270 bzw. 40 Mrd. EUR ein, wobei diese Kosten aufgrund der Preisvolatilität von Erdöl und Erdgas in den nächsten Jahren noch stark ansteigen dürften.

5.1.2   Der Umstieg auf heimische kohlenstoffarme Energiequellen wird für die europäische Gesellschaft weniger kostspielig sein als das Festhalten an einem Energiesystem, das Europa von importierter Primärenergie abhängig macht, zumal der weltweite Energiebedarf stetig steigt. Die dezentrale Energieerzeugung stimuliert die Wirtschaft vor Ort, schafft Arbeitsplätze und sorgt für ein stärkeres Energiebewusstsein in der Gesellschaft. Ihr Ausbau könnte in erheblichem Maße zur Verwirklichung der Energie- und Klimaziele der EU beitragen. Fortschritte bei der Schaffung eines Systems heimischer kohlenstoffarmer Energiequellen hängen von der Energie- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten ab. Von der Europäischen Kommission werden entschlossenere Maßnahmen zur Förderung nationaler Strategien für den Ausbau heimischer Energiequellen erwartet.

5.1.3   Dementsprechend müssen die erneuerbaren Energieträger sowie alle Technologien gefördert werden, die so kostengünstig wie möglich zum Dekarbonisierungsziel beitragen. Biomasse könnte ebenfalls von Belang sein, allerdings muss dabei sichergestellt werden, dass die gewählten Methoden unter dem Gesichtspunkt einer vollständigen Ökobilanz zur Kohlenstoffverringerung beitragen und nicht die Ernährungsunsicherheit verschärfen. In ganz Europa gibt es Bedenken gegen die Kernkraft und Widerstand dagegen, sie weiterzuentwickeln. In den Ländern, die dies wünschen, könnte die Kernkraft jedoch zur Energiesystemumstellung und zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen und eine Senkung der Energiesystemkosten und der Strompreise ermöglichen. Allerdings ist nach wie vor nicht geklärt, ob einige Kosten, bspw. für Sicherheitsvorkehrungen, Lagerung von Abfällen, Stilllegung oder Haftung, weiterhin externalisiert bzw. auf die Gesellschaft umgelegt werden.

5.1.4   Strom muss eine wichtigere Rolle spielen als bisher, denn er wird einen großen Beitrag zur Dekarbonisierung des Verkehrs und der Heiz- und Kältetechnik leisten. Die vorgesehene Verdoppelung des Stromanteils am Endenergieverbrauch muss mit umfassenden Veränderungen bei der Stromgewinnung und bei der Stromübertragung zwischen den Mitgliedstaaten und mit einem stärkeren und echten Wettbewerb zwischen den Stromerzeugern und -verkäufern einhergehen.

5.1.5   Erdöl wird weiterhin vorrangig im Güter- und Personenfernverkehr eingesetzt werden müssen; Erdgas kann vorläufig als Substitutionsenergie für umweltschädlichere Energieträger (wie Kohle oder Erdöl) verwendet werden, sollte aber vor allem als Übergangsenergie im Hinblick auf die Umstellung auf kohlenstoffarme Energieträger bis 2050 dienen. In diesem Zusammenhang sollte eine genaue Bestandsaufnahme der heimischen Erdgasressourcen der Union gemacht werden, denn sie tragen maßgeblich zur Energieunabhängigkeit der Union bei.

5.1.6   Für alle fossilen Energieträger sollte Europa dringend die Standort- und Wirtschafts-bedingungen für die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung weiter untersuchen sowie gleichzeitig einen realistischen Kohlenstoffwert festlegen und die Öffentlichkeit ausführlich informieren.

5.1.7   Insbesondere drei Sektoren müssen grundlegend umstrukturiert werden. In der Stromerzeugung müssen die Emissionen um mindestens 95 % gesenkt werden, wobei es jedem Mitgliedstaat freigestellt ist, inwieweit er dies über erneuerbare Energieträger, Kernkraft oder Kohlenstoffabscheidungstechnologien erreicht. Der Gebäudesektor, d.h. der Wohn- und der Tertiärsektor, muss sich ebenfalls anpassen und über strengere Normen für Neubauten sowie den Energieverbrauch von Haushaltsgeräten und die Renovierung des Baubestands Emissionsreduktionsziele von 90 % erreichen. Die Industrie schließlich muss ihre Emissionen um 85 % senken, wobei dem Risiko der Kohlenstoffverlagerung (carbon leakage) Rechnung zu tragen ist. Das notwendige industrielle und finanzielle Engagement

5.2   Das notwendige industrielle und finanzielle Engagement

5.2.1   Die Energiewende ist die Gelegenheit, der europäischen Industrie zum Aufschwung zu verhelfen, die Wirtschaftstätigkeit zu fördern und unsere Produktions- und Verbrauchsmuster grundlegend zu überdenken. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas muss auf Forschung, Innovation sowie auf der Vermarktung sauberer Technologien gründen. In diesem Sinne müssen die EU und die Mitgliedstaaten vorrangig gemeinsame Großprojekte europäischer Anbieter fördern, die der Industrie ganz allgemein dienen, aber insbesondere den KMU. Ferner muss die Bedeutung der lokalen, dezentralen Energieerzeugung berücksichtigt und bewertet werden.

5.2.2   Der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft muss die Beschäftigung im Binnenmarkt fördern. Beim Umbau der Energieindustrie muss sichergestellt werden, dass die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Gebäudesektor und im Bereich der erneuerbaren Energieträger können ab 2020 1,5 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.

5.2.3   Der Ausschuss stimmt der Analyse der Kommission zu, derzufolge die zusätzlichen Investitionen (270 Mrd. EUR jährlich bis 2050) in Höhe von 1,5 % des BIP der EU das Wirtschaftswachstum fördern können. Allein die Einsparungen bei den Erdöleinfuhren können sich auf 175 bis 320 Mrd. EUR jährlich belaufen. Allerdings fordert die Investitionsgemeinschaft einen kohärenten und konsistenten Marktrahmen in ganz Europa und eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Innovative Finanzierungsinstrumente sollten entwickelt werden, um besonders KMU im Energiebereich zu unterstützen.

5.2.4   Die Finanzierung muss auf die europäische Ebene umgelegt werden, um von rein nationalen, ineffizienten und wettbewerbsverzerrenden Fördersystemen wegzukommen. Die für 2013 geplante Überarbeitung des Gemeinschaftsrahmens für staatliche Umweltschutzbeihilfen muss die Unterstützung aller Technologien ermöglichen, die zu einer Verringerung der CO2-Emissionen beitragen.

5.3   Sinnvoller und weniger verbrauchen: Förderung von Energieeffizienz und Verbesserung des Energieaustauschs zwischen den Mitgliedstaaten

5.3.1   Europaweit bedarf es eines starken Impulses, um den Energieverbrauch zu senken, die Energienutzung zu verbessern – durch Förderung Energie sparender Verhaltensweisen und Verfahren – und den Energieaustausch zu optimieren. Sowohl im Gebäudebereich (39 % des Endenergieverbrauchs in Europa) als auch im Verkehrssektor (30 %) und in der Industrie (25 %) tun echte gemeinsame, verpflichtende und verbindliche Leitlinien. Das Energiesparpotenzial ist beträchtlich: In der Industrie könnte der Energieverbrauch um 19 %, im Verkehrssektor um 20 % gesenkt werden.

5.3.2   Der Ausschuss empfiehlt, dass die im Rahmen des Energie-Klima-Pakets unternommenen Anstrengungen mit der erforderlichen Weitsicht fortgesetzt und insbesondere der erforderlichen Unterstützung der mittel- und osteuropäischen Länder Rechnung getragen wird.

5.3.3   Der massive Ausbau der erneuerbaren Energieträger wie der Windkraft in der Nord- und potenziell, aber in geringerem Maße, auch in der Ostsee sowie der Sonnenenergie in Südeuropa erfordert neue und „intelligentere“ Infrastrukturen, um den Energieaustausch zwischen den europäischen Regionen und Ländern zu verbessern. Die Fortschritte beim Aufbau der intelligenten Netze könnten eine Verringerung des Energieverbrauchs um 9 % und der CO2-Emissionen um 915 % ermöglichen. Dazu müssen bis 2050 schätzungsweise zwischen 1,5 und 2,2 Trillionen EUR in diese strategischen Infrastrukturen investiert werden, um die europäischen Strom- und Gasübertragungsnetze zu modernisieren und auszubauen.

5.3.4   Die Mitgliedstaaten einer gegebenen geographischen Zone könnten ihre Energiemixe, ihre Infrastrukturen und ihre Marktvorschriften aufeinander abstimmen, um gemeinsam die Vorteile der verschiedenen verfügbaren Energieträger zu nutzen. Durch bessere Verbundnetze und eine stärkere Harmonisierung wären ihre Märkte weniger anfällig gegenüber Produktions- und Verbrauchsschwankungen und könnten gemeinsam besser zur Sicherung der Energieversorgung der EU beitragen.

5.4   Einbindung der Bürger in die Energiewende

5.4.1   Die öffentliche Akzeptanz der energiepolitischen Entscheidungen (Kernkraft, Kohlenstoffabscheidung und -speicherung, Windparks, Hochspannungs-Übertragungs-leitungen usw.) ist zur Herausforderung für die europäischen Demokratien geworden. Dem Ausschuss sowie den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten, Verbraucherorganisationen und weiteren NGO kommt eine wichtige Rolle dabei zu, für eine klare und transparente Information über diese Entscheidungen und eine bessere Einbindung der Bürger zu sorgen. Dieser Fahrplan bietet Gelegenheit, die partizipative Demokratie in Bezug auf ein Thema, das jeden Bürger betrifft, zu stärken.

5.4.2   Der Ausschuss schlägt vor, die europäischen Bürger in einer groß angelegten Informations- und Sensibilisierungskampagne über die verschiedenen Optionen der Energiewende, die große Bedeutung der Infrastrukturen und die notwendigen Änderungen ihrer Verbrauchsverhaltensmuster aufzuklären.

5.4.3   Die Einrichtung eines europäischen Forums der Zivilgesellschaft, in dem sämtliche lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Interessenträger regelmäßig zusammenkommen und gemeinsam über die Problemstellungen der Energiewende bis 2050 beraten, würde nach Meinung des Ausschusses zum Wissensaustausch innerhalb der Union beitragen.

5.4.4   Durch die Schaffung einer europäischen Energiegemeinschaft würden ferner die strategische und grundlegend wichtige Dimension der Energiefrage (Zugänglichkeit, erschwingliche Tarife und Preise, Regelmäßigkeit, Zuverlässigkeit, …) und die in den kommenden 40 Jahren notwendigen Veränderungen weithin sichtbar verdeutlicht. Sie würde für ein Europa stehen, das seinen Bürgern Gehör schenkt und ihre Anliegen ernst nimmt. Auch würde sie zur Harmonisierung im sozialen Bereich beitragen, was zu begrüßen wäre, um das europäische Projekt zu stärken und mit neuem Sinn zu erfüllen.

5.4.5   Der Ausschuss empfiehlt, die Initiativen von lokalen und regionalen Gebietskörperschaften nachdrücklicher zu unterstützen, die in den Bereichen Mobilität, intelligente Verkehrsinfrastrukturen, Neubauten und Sanierung von Bestandsbauten, Fernwärme- und Fernkältenetze und Stadtplanung an vorderster Front stehen. Er befürwortet eine Unterstützung ihrer Initiativen, die häufig innovierenden, dezentralen und demokratischen energiepolitischen Maßnahmen den Weg ebnen.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 125.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Textstellen der Stellungnahme der Fachgruppe wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen oder Kompromissvorschlägen abgelehnt, erhielten jedoch mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Energiefahrplan 2050 und sein Ziel, einen Rahmen für die vereinbarte Politik der umfangreichen Dekarbonisierung des Energiebereichs in Europa bis 2050 zu schaffen (Europäischer Rat, Oktober 2009). Es gilt, nicht nur einen nachhaltigen und sicheren kohlenstoffarmen Energiemix in einem wettbewerbsfähigen Markt zu erreichen, sondern auch die Zivilgesellschaft davon zu überzeugen, dass dies ein machbares Ziel ist.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

88

Nein-Stimmen

:

41

Enthaltungen

:

13

Ziffer 4.5

Der Ausschuss stimmt gleichfalls der Analyse der wichtigsten Herausforderungen und Chancen in dem Fahrplan zu, die auf europäischer Ebene aufgegriffen werden müssen, um das Energiesystem umzubauen, die Energiemärkte neu zu gestalten, Investoren zu mobilisieren, die Bürger einzubinden und den Wandel auf internationaler Ebene voranzubringen. Unter Berücksichtigung der ausführlicheren nachstehenden Bemerkungen unterstützt der Ausschuss die vorgeschlagenen Prioritäten und insbesondere die im letzten Kapitel aufgestellten zehn Bedingungen, die dringend erfüllt werden müssen, um Fortschritte zu erzielen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

75

Nein-Stimmen

:

51

Enthaltungen

:

24

Ziffer 5.1.3

Dementsprechend müssen die erneuerbaren Energieträger sowie alle Technologien gefördert werden, die so kostengünstig wie möglich zum Dekarbonisierungsziel beitragen. Biomasse könnte ebenfalls von Belang sein, allerdings muss dabei sichergestellt werden, dass die gewählten Methoden unter dem Gesichtspunkt einer vollständigen Ökobilanz zur Kohlenstoffverringerung beitragen und nicht die Ernährungsunsicherheit verschärfen. In den Ländern, die dies wünschen, könnte die Kernkraft zur Energiesystemumstellung und zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen und eine Senkung der Energiesystemkosten und der Strompreise ermöglichen. Allerdings ist nach wie vor nicht geklärt, ob einige Kosten, bspw. für Sicherheitsvorkehrungen, Lagerung von Abfällen, Stilllegung oder Haftung, weiterhin externalisiert bzw. auf die Gesellschaft umgelegt werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

89

Nein-Stimmen

:

53

Enthaltungen

:

8


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/133


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel / Der künftige Ansatz für die EU-Budgethilfe an Drittstaaten“

COM(2011) 637 final und COM(2011) 638 final

2012/C 229/26

Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Die Europäische Kommission beschloss am 30. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel / Der künftige Ansatz für die EU-Budgethilfe an Drittstaaten

COM(2011) 637 final und COM(2011) 638 final.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 30. April 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) mit 146 gegen 60 Stimmen bei 30 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die beiden Vorschläge, weist aber auf das vorrangige Anliegen hin, die angekündigten Ziele in den Alltag der Bevölkerung zu übertragen, für die die Hilfe letztlich bestimmt ist, und schlägt zu diesem Zweck Folgendes vor:

1.1

Durch eine Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen (u.a. der Gewerkschaften, der Kooperativen, der Nichtregierungsorganisationen und der Arbeitgeberverbände, die alle ihre eigenen Wesensmerkmale haben) nicht nur in Bezug auf die allgemeinen Leitlinien, sondern in den gesamten Prozess der Auswahl von Projekten, der Umsetzung, der Auswertung der Ergebnisse, könnten die Verwaltungs-, Diplomatie- und Justizverfahren der Kontrolle und Auswertung unterstützt und ergänzt werden.

1.2

Durch die Einbindung der Sozialpartner und der anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen statt ihrer reinen Anhörung könnten ihr Sachverstand aufgrund ihrer Erfahrungen im Sozial-, Wirtschafts- und Umweltbereich sowie das freiwillige Engagement der mitwirkenden Bürgerinnen und Bürger genutzt werden. Gleichzeitig würde der Grad der Repräsentativität und der Demokratie – Öffnung, Ausdehnung, Transparenz und Unabhängigkeit – erhöht (Ziel der Eigenverantwortung).

1.3

In dieser Hinsicht stellen die Wirtschafts- und Sozialräte, sofern sie bestehen, eine wertvolle Ressource dar. Der EWSA hat sich hierbei mit seinen verschiedenen Partnerorganisationen – Organisationen aus dem Dritten Sektor, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – trotz aller Hindernisse stets eingebracht. Für die Delegationen, mit denen er in Verbindung stand, war er ein Ansprechpartner der EU-Behörden, der sowohl zwischen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, Sozial- und Wirtschaftsverbänden vermittelte als auch in vielen Situationen die EU-Behörden zu einer größeren Wachsamkeit in Bezug auf die Menschenrechte anhielt.

1.4

In Bezug auf die Rahmenbedingungen der Konsultation muss ein besseres Gleichgewicht zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus der EU einerseits und aus den Empfängerländern andererseits sichergestellt werden. Eine Instrumentalisierung der europäischen Entwicklungspolitik insbesondere durch eine Kreuzkonsultation nichtstaatlicher Akteure gilt es unbedingt zu vermeiden (1).

1.5

Die Agenda für menschenwürdige Arbeit mit ihrem Beitrag zu einem integrativen und nachhaltigen Wachstum muss bei der Konzentration von Sektoren auf der Länderebene miteinbezogen werden. Die Sozialpartner müssen von Anfang an in den politischen Dialog eingebunden werden, um eine demokratische Verantwortung für die Entwicklungspolitik über die Beteiligung der Regierung hinaus zu gewährleisten.

1.6

Eine Differenzierung zwischen einzelnen Staaten oder Staatengruppen muss auf der Grundlage relevanter Indikatoren wie des VN-Entwicklungsindex erfolgen und die Ziele zur Armutsminderung berücksichtigen. In jedem Fall sollte eine Strategie für den schrittweisen Ausstieg der so genannten „Schwellenländer“ festgelegt werden.

1.7

Die EU sollte mit ihrer Unterstützung für gute Regierungsführung und Menschenrechte (eine Säule der Agenda für den Wandel) auf die Förderung eines menschenrechtsorientierten Entwicklungsansatzes abzielen, der sich auszeichnet durch: Teilhabe an politischen Prozessen, Übernahme demokratischer Verantwortung und Ermächtigung von Rechteinhabern, Systeme zur Anwendung der durch international vereinbarte Verpflichtungen verbrieften Menschenrechte, Kohärenz der Menschenrechts-, Förder- und Wirtschaftspolitik.

1.8

Der Ausschuss schlägt vor, den folgenden Verbesserungsmaßnahmen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, um eine effektivere Verteilung der öffentlichen und privaten Gelder zu ermöglichen:

Da in den Ländern, die die Hilfe am dringendsten benötigen, häufig auch die schlimmsten Formen der Korruption grassieren, sollten nichtstaatliche Akteure, Sozialpartner, Menschenrechtsorganisationen und europäische Netze in Bezug auf die Festlegung von Prioritäten, die Überwachung u.a. konsultiert und beteiligt werden, damit Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und im Falle von Budgethilfezahlungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden kann.

Die Ziele der Entwicklungshilfe sollten strategisch neu auf sektorbezogene Themen ausgerichtet werden. Den Millenniumsentwicklungszielen würde der Ausschuss in diesem Zusammenhang den Vorrang einräumen. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Bereichen Soziales, Bildung einschließlich berufliche Weiterbildung, Gesundheit, Entwicklung von und Zugang zu IKT, Rechte von Menschen mit Behinderungen, Menschenrechte und Rechte am Arbeitsplatz, Frauenrechte insgesamt – im Berufs- wie im Privatleben – und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben geschenkt werden.

Die öffentliche Entwicklungshilfe bleibt für die Zielländer wichtig und notwendig. Um jedoch die Direkthilfe der Mitgliedstaaten besser mit derjenigen der EU abzustimmen, sollten im Rahmen des Koordinierungsprozesses die Mittel von den Nichtregierungsorganisationen und aus dem Privatsektor berücksichtigt werden; die Grundsätze der Zielkohärenz und Rechnungsführung sollten auch für letztere gelten.

Die rückläufige Tendenz der offiziellen Entwicklungshilfe der meisten Mitgliedstaaten erfüllt den Ausschuss nach wie vor mit Besorgnis; er betont, dass die Zivilgesellschaft stärker an den Budgethilfeentscheidungen beteiligt werden muss.

1.9

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Kommission die direkte Einbindung der Zivilgesellschaft aus der EU und den Partnerländern im Sinne einer Partnerschaftlichkeit weitestmöglich stärken sollte. Ziel sollte es sein, zur Förderung der Menschenrechte sowie zur Korruptionsbekämpfung beizutragen und das Risiko unwirksamer Hilfe oder sozialer Probleme zu mindern.

1.10

Die Mitgliedstaaten sollten sich zwingen, ihre Hilfeleistung auf Gemeinschaftsebene zu koordinieren. Vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise in der EU sollte es möglich sein, die Steuerpflichtigen in der EU verstärkt auf die Ziele der Entwicklungshilfe hinzuweisen, sie darüber aufzuklären und ihnen ein Mitspracherecht bei der Zielsetzung einzuräumen. Um sie darin zu unterstützen, sollten ihnen durch Bildungsangebote für die breite Öffentlichkeit sowie für Freiwillige und Fachpersonal der zivilgesellschaftlichen Organisationen einschlägige Informationen zur Verfügung gestellt werden.

1.11

Die EU sollte auch ihre Entwicklungshilfebilanz durch eine Folgenabschätzung ihrer Wirtschaftspartnerschafts-, Assoziations- und Freihandelsabkommen in den Bereichen Wirtschaft, Industrie und Landwirtschaft vor deren Abschluss sowie bei deren Weiterbehandlung deutlich verbessern können.

2.   Einleitung

2.1

Nach ihrem Grünbuch mit dem Titel „EU-Entwicklungspolitik zur Förderung eines breitenwirksamen Wachstums und einer nachhaltigen Entwicklung / Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung“ vom 10. November 2010 (COM(2010) 629 final) legt die Kommission die beiden Vorschläge zur Prüfung vor.

2.2

Die EU ist mit neuen, globalen Herausforderungen konfrontiert, die Frist für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele (Millennium Development Goals – MDG) verstreicht 2015 und gleichzeitig muss der nächste mehrjährige Finanzrahmen ausgearbeitet werden. Die EU sucht die richtige Mischung aus Strategien, Instrumenten und Ressourcen, um im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung einen wirksamen und effizienten Beitrag zur Armutsbekämpfung zu leisten. Angesichts dieser Situation schlägt die Kommission eine „Agenda für den Wandel“ vor, damit Europa die Entwicklungsländer in diesem Kampf noch solidarischer unterstützen kann.

2.3

Die EU hat bereits einen großen Beitrag zur Armutsminderung und insbesondere zur Verwirklichung der MDG geleistet. Dennoch herrscht in vielen Teilen der Welt nach wie vor große Armut. Unterdessen haben die Protestbewegungen und Volksaufstände in Nordafrika und im Nahen Osten gezeigt, dass Fortschritte bei den MDG wichtig sind. Der Europäischen Kommission zufolge muss die EU-Entwicklungspolitik den wachsenden Unterschieden zwischen den Entwicklungsländern Rechnung tragen. Außerdem sollte die EU mit der Privatwirtschaft, Stiftungen, den zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie lokalen und regionalen Behörden enger zusammenarbeiten, da diese in der Entwicklungspolitik eine wichtige Rolle spielen. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen mit einer Stimme sprechen und an einem Strang ziehen, um bessere Ergebnisse zu erzielen und die Sichtbarkeit der EU zu erhöhen.

2.4

Bei der derzeitigen Wirtschafts- und Haushaltslage muss darauf geachtet werden, Entwicklungshilfegelder effizient einzusetzen, bestmögliche Ergebnisse zu erzielen und weitere Mittel für die Entwicklungsförderung zu mobilisieren.

2.5

Die EU-Entwicklungszusammenarbeit wird weiterhin geleitet von Entwicklungsstrategien, die die Partnerländer selbst konzipiert haben, sowie von den Grundsätzen Eigenverantwortung und Partnerschaft. Die EU strebt im Verhältnis zu ihren Partnerländern eine größere gegenseitige Verantwortung sowie gegenseitige Rechenschaftspflicht in Bezug auf die Ergebnisse an. Im Rahmen des zwischen den Gebern koordinierten Dialogs auf Länderebene sollte konkret festgelegt werden, wo und wie die EU tätig wird. Außerdem sollte die Zusammenarbeit innerhalb des multilateralen Systems effektiver werden.

2.6

Die Kommission hat am 7. Dezember 2011 auch den „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die Entwicklungszusammenarbeit“ (2) angenommen, der die Leitlinien des Grünbuchs und die beiden nachstehend erörterten Mitteilungen systematisiert.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss erinnert an seine zahlreichen nach wie vor gültigen Bemerkungen in früheren Stellungnahmen. Hierzu gehören:

die Stellungnahme zum „Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit der EU (3);

die Stellungnahme zum „Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte (4), in der der EWSA forderte, „einen institutionellen Reflexionsprozess über die Rolle der Zivilgesellschaft in der EU-Außenpolitik im Bereich der Menschenrechte und über die Möglichkeit ihrer unmittelbaren Beteiligung an der Konzeption und Umsetzung dieser Politik einzuleiten. Die Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft sollte systematisch im Vorfeld der Erarbeitung jedweden Strategiepapiers – auch in Bezug auf einzelne Drittstaaten (CSP: Country Strategy Paper) – erfolgen.“

3.2

Der Ausschuss fördert ausdrücklich die Menschenrechte, insbesondere in den Bereichen arbeitsbezogene Menschenrechte, Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz und Förderung von Kinderrechten einschließlich der perspektivischen Abschaffung von Kinderarbeit sowie informelle Arbeit ohne soziale Sicherung (menschenwürdige Arbeit und Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation, IAO).

3.3

Wenngleich die Verwirklichung des ersten Millenniumsziels, Bekämpfung von extremer Armut, durch die Kommission unterstützt wird, kommt der Ausschuss zu der Feststellung, dass den anderen Zielen und ihrem Potential für die Realisierung der jeweils anderen Ziele noch zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Die Umsetzung des siebten Ziels beispielsweise, ökologische Nachhaltigkeit, trüge zu einer Verminderung der Armut bei.

3.4

Der Ausschuss hebt hervor, dass für die Gleichstellung von Frauen und Männern (drittes Millenniumsziel) im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eigens Finanzmittel bereitgestellt werden müssen. Er bedauert vor allem, dass es durch die Mängel an Kenntnisstand, Datenlage und systematischer Beobachtung äußerst schwierig ist, positive wie negative Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern auszumachen. Dies schränkt die Möglichkeiten einer sachkundigen Politikgestaltung und einer Festlegung von Strategien und Maßnahmen speziell zur Verringerung der Ungleichheiten erheblich ein. Um ihre Wirkung zu entfalten, muss die Umsetzung der Gleichstellung als politische Querschnittsaufgabe (Gender Mainstreaming) sich auf eine vorhersehbare Finanzierung und Subventionierung stützen; anderenfalls bleibt sie ein möglicherweise ein reines Lippenbekenntnis und fällt dann anderen scheinbar dringenderen Zielen zum Opfer (5).

3.5

In Bezug auf die Dezentralisierung und das in die EU-Vertretungen gesetzte Vertrauen hat der EWSA durch seine Kontakt-, Monitoring- und Teilnehmergruppen sowohl bei den EU-Diskussionsforen (mit Indien, Brasilien, den AKP-Staaten usw.) als auch bei den Prozessen gegenüber dem Mittelmeerraum und den östlichen Nachbarstaaten bei sämtlichen Informationsbesuchen die europäischen Delegationen getroffen. Der Ausschuss hält fest, dass die EU-Delegationen ihre Förderung auf die europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort ausweiten sollten; dies käme auch der Nachvollziehbarkeit der EU-Entwicklungshilfe zugute.

3.6

Der EWSA stimmt den in den vorliegenden Vorschlägen enthaltenen Zielen zu, hat jedoch in Bezug auf das Instrument der „Budgethilfe“ einige Anregungen, da es von der breiten Öffentlichkeit nicht unterstützt wird. Die Empfehlungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Sozialpartner und weiterer Akteure sollten bei der Konzipierung und Überwachung der Programme stärker berücksichtigt werden: Demokratie, Transparenz und Rückverfolgbarkeit, um Verschwendung, Korruption, Steuerflucht, Macht- und Amtsmissbrauch sowie Missbrauch der Polizei- oder der Streitkräfte u.a. entgegenzuwirken (6).

3.7

Erstens muss man die Auswertung bis zum Ende durchführen, will man in acht Jahren (Finanzielle Vorausschau 2014-2020) nicht erneut feststellen müssen, dass die Kommission zwar richtigerweise festgestellt hat, dass die Ergebnisse enttäuschend sind, und versucht hat, die Lage auch unter Berücksichtigung der durch den neuen Vertrag zugewiesenen Aufgaben zurechtzurücken, aber letztlich weiter nach dem alten Schema gehandelt hat: nachträgliche Konsultationen und verstärkte und bis zum Übermaß detaillierte Kontrollen ohne personelle Aufstockung, ohne Überprüfung der Relevanz der Kontrollziele und ohne Berücksichtigung der Zielgruppe (Organisationsverbände oder Bevölkerungsgruppen). Bei der Entwicklungshilfe sollten die Bevölkerungsgruppen Vorrang genießen, die am schutzbedürftigsten sind und Zugangsprobleme haben, einschließlich der Landbevölkerung und der Bewohnerinnen und Bewohner der abgelegensten Regionen.

3.8

Zweitens wird durch die vorrangige Behandlung der größten Wirtschaftsakteure auf beiden Seiten der Entwicklungshilfe (Geber und Empfänger) einer vordergründigen Effizienz gegenüber einer nachhaltigen Investition in die Humanressourcen der Vorzug gegeben.

3.9

Schließlich muss die Kommission bei der Bewertung der Ziele klären und klar zum Ausdruck bringen, inwieweit ihr Hilfsprogramm mit den Verhandlungszielen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) und der Freihandelsabkommen vereinbar ist und inwieweit es sich davon unterscheidet. Mangelt es an Klarheit, so kann dies nicht nur Verwirrung stiften und zu Missverständnissen führen, sondern auch zu der fehlenden Einsicht, dass die öffentliche Entwicklungshilfe bislang nur unzureichend zur Verwirklichung der Millenniumsziele angehalten hat, da die Ziele der Entwicklungshilfe und der Rest der EU-Außenpolitik, insbesondere die Handelspolitik, nicht im Einklang miteinander stehen.

3.10

So könnte die EU bessere und stärkere Anreize für die Entwicklung eines Wachstums für alle schaffen, das auf den Übergang zu einer umweltgerechten Wirtschaft ausgerichtet ist, in deren Mittelpunkt die menschliche Entwicklung sowie der Austausch und die Übertragung von Wissen und benötigten Technologien stehen. Weiter könnte sie durch eine Folgenabschätzung ihrer Wirtschaftsabkommen ihre Entwicklungshilfe leistungsfähiger gestalten und die Möglichkeiten des „Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte (7) voll entfalten.

3.11

Es sei daran erinnert, dass das in der Pariser Erklärung verankerte Bestrebender Mitgliedstaaten, 0,7 % ihres BIP für Entwicklungshilfe zu verwenden, zahlenmäßig nach wie vor gilt, aber viele Länder sich bereits vor der Finanzkrise von 2008 hinter dem Leitsatz „weniger und dafür bessere Entwicklungshilfe“ verschanzt haben (Monterrey 2002, Johannesburg 2002). Alle Mitgliedstaaten der EU tragen zu europäischen oder internationalen Hilfsprogrammen bei, aber im Laufe der Zeit wurden große gesellschaftliche Gruppen von den versprochenen wirtschaftlichen wie ökologischen Vorteilen ausgeschlossen. Im Norden wie im Süden muss also das Vertrauen in die Entwicklungspolitik wie in die Wirtschaft, zwischen der Zivilgesellschaft und der politischen und wirtschaftlichen Führungsebene wiederhergestellt werden.

3.12

Um abgestimmt und wirksam Entwicklungshilfe zu leisten, müssen sich die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission gemeinsam für die Zielkonvergenz einsetzen. Die EU-Institutionen halten sich bezüglich der Einzelinteressen der beitragszahlenden Mitgliedstaaten zu sehr im Hintergrund. So konnten die Regierungen der Empfängerländer die häufig widerstreitenden Wirtschaftsinteressen der EU-Mitgliedstaaten ausnutzen und rivalisierende und miteinander konkurrierende Finanzhilfen sowie Kontinente gegeneinander ausspielen (EU, G20, OECD usw.).

3.13

Zur Unterstützung des demokratischen Prozesses müssen Maßnahmen ergriffen werden. Bei der Konsultierung sollte stets auf Ausgewogenheit zwischen den Sozialpartnern und den anderen Organisationen der Zivilgesellschaft geachtet werden, um positive Rückmeldungen zu erhalten und thematische Ziele konkret umzusetzen.

3.14

Man muss bei diesen Überlegungen berücksichtigen, dass die EU selbst die sozialen Folgen einer Finanzkrise zu tragen hat, die sich auf den wirtschaftlichen, haushaltspolitischen, sozialen und politischen Bereich ausgeweitet hat. Durch ihre Entwicklungshilfe und –zusammenarbeit muss die EU zu einer Verringerung des Rohstoffverbrauchs anregen, den Technologietransfer erleichtern und das be- und verarbeitende Gewerbe in den Nettoausfuhrländern von natürlichen Ressourcen fördern, um ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren und gleichzeitig zu einer Minderung der Folgen des Klimawandels beizutragen.

Unternehmensumfeld, regionale Integration und Weltmärkte

3.15

In diesem Zusammenhang ließen die Ergebnisse der Konferenz von Busan keine besondere oder feste Überzeugung der EU in Bezug auf die Förderung des Technologietransfers, die Wohnungsmodernisierung angesichts des Klimawandels oder die Stärkung des öffentlichen Dienstes erkennen und ihre Bestrebungen – das muss hier zugegeben werden – gehen in der Fülle der Patenschaften und privaten Finanzierungen der multi- oder transnationalen Wirtschaftsinteressen (die als Zeichen für ein starkes Entwicklungsengagement des privaten Sektors zu begrüßen sind) unter, während ihr Anteil und ihr öffentlicher Beitrag nach wie vor rund die Hälfte der offiziellen Entwicklungshilfe ausmachen.

3.16

Auf der internationalen Ebene unterbreiten einige Großunternehmen insbesondere im Infrastruktur-, Bau- und Wassergewerbe, in der Lebensmittelindustrie und im Energiebereich usw. den Regierungen der Empfängerländer Vorab-Durchführbarkeitsstudien, die der Überzeugung der künftigen Geldgeber dienen und zur Verpflichtung der Empfängerländer zur Wahrung und positiven Umsetzung von Grundrechten genutzt werden, indem sie die Realisierung von Infrastrukturvorhaben suggerieren. Doch sind Fälle bekannt, in denen Regierungsangehörige auf der lokalen oder nationalen Ebene der Empfängerländer die erhaltenen Entwicklungshilfegelder auf den Finanzmärkten einsetzten, teilweise ohne mit ihnen zur Verwirklichung der Projekte beizutragen, für die sie ursprünglich vorgesehen waren – sie wurden auf europäische Finanzplätze umgeleitet und landeten „an sicherem Ort“ auf Privatkonten.

3.17

Des Weiteren unterstützt der Ausschuss das Ziel der Bekämpfung von Steuerflucht und Korruption, was auch das Angehen gegen die Wäsche von Geld aus kriminellen Handlungen, Steuerflucht und der Ausbeutung von Schwarz-, Zwangs- und Kinderarbeit mit einschließen muss. So würde die EU besser das Ziel der Kohärenz mit den anderen Gebern erreichen.

3.18

Die EU muss die Mitgliedstaaten denn auch unbedingt dazu anhalten, ihren Beitrag zu erhöhen und dabei koordiniert und umfassend vorzugehen. Außerdem muss sie ihre eigene Zivilgesellschaft zur Stichhaltigkeit ihrer Ziele konsultieren, um die Mitgliedstaaten zu überzeugen, dass es bei der Entwicklungshilfe nicht allein um Ansehen und Marktanteile geht, und sie muss den Dialog zwischen den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung der lokalen und regionalen Behörden inner- wie außerhalb der EU fördern.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Getragen von der Unterstützung auf dem Forum in Accra vom September 2010, haben die zivilgesellschaftlichen Organisationen die „Grundsätze von Istanbul“ zur Entwicklungswirksamkeit angenommen. Sie sind das Ergebnis eines langen Konsultationsprozesses in über 70 Ländern und Sektoren und bilden die Grundlage des im Juni 2011 angenommenen internationalen Rahmenwerks für die Entwicklungswirksamkeit. In ihm wurden Maßstäbe zur Auslegung und Ausrichtung der Praktiken zivilgesellschaftlicher Organisationen auf die Grundsätze von Istanbul festgelegt, die an die Gegebenheiten vor Ort und den Sektor angepasst werden. In diesem Zusammenhang wurde der Ausschuss von der Kommission mit der Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme befasst, um die mögliche Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit im Rahmen des strukturierten Dialogs auszuloten (8).

4.2

Der Ausschuss misst der gesamten Vorbereitung der Konferenz der Vereinten Nationen (VN) zur nachhaltigen Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 2012 große Bedeutung bei.

4.3

Daher erinnert der EWSA an die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die er in seiner Stellungnahme „Rio+20: Hin zu einer umweltverträglichen Wirtschaft und besserer Governance (9) vorgetragen hat, sowie an die Botschaft seiner jüngst verabschiedeten ergänzenden Stellungnahme „Standpunkt des EWSA zur Vorbereitung der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio+20) (10).

4.4

Die führenden Politiker der ganzen Welt müssen sich auf der Rio+20-Konferenz der VN auf einen konkreten Aktionsplan für die Überprüfung der Umsetzung der Millenniumsziele, für nachhaltige Entwicklung und für die Beseitigung der Armut (erstes Millenniumsziel) in Abstimmung auf die Kapazitätsgrenzen der Erde festlegen.

4.5

Der EWSA betont insbesondere, dass die Beseitigung der Armut und ein sicherer Zugang aller zu einer ausreichenden Versorgung mit Nahrung, sauberem Wasser und nachhaltiger Energie als oberste Priorität der Rio+20-Agenda angesehen werden müssen. Die Förderung einer umweltverträglichen lokalen Landwirtschaft in Entwicklungsländern leistet einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Armut und zur Ernährungssicherheit und unterstützt die Entwicklung wirtschaftlich florierender ländlicher Gebiete.

4.6

In Bezug auf den Privatsektor wird in vielen Partnerländern die Förderung der Anerkennung der Sozialpartner (Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) und des Sozialdialogs empfohlen. Der soziale Dialog ist wichtig, um eine breite demokratische Eigenverantwortung sowohl – wie von dem Entwicklungs- und dem Umweltprogramm der VN empfohlen (Übergang zu einer umweltverträglichen Wirtschaft) – für die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungsziele als auch für die Einhaltung arbeitsrechtlicher Mindestnormen und die Förderung sozialer Gerechtigkeit sicherzustellen. Durch den Dialog und die soziale Gerechtigkeit leisten die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter einen Beitrag zur Festlegung wirksamer Strategien für die soziale, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung und stärken die Konfliktprävention und die soziale Stabilität.

4.7

Durch die Propagierung der umfassenden Anwendung der Grundsätze der sozialen Verantwortung der Unternehmen und ähnlicher Initiativen ist es wichtig, dass alle beteiligten Akteure des Privatsektors die in den Konventionen der IAO festgelegten und durch das ihr Überwachungssystem kontrollierten Arbeitsgrundsätze und -normen einhalten. Insbesondere die multinationalen Unternehmen, vor allem wenn sie zum ein oder anderen Zeitpunkt auch von öffentlicher Förderung profitieren, müssen erkennbar aktive Maßnahmen ergreifen, um die „Leitlinien zur Verantwortung der Wirtschaft für die Menschenrechte“ im VN-Referenzrahmen „Protect, Respect, Remedy“ (Schützen, Respektieren, Wiedergutmachen), die Trilaterale Grundsatzerklärung der IAO zu multinationalen Unternehmen und zur Sozialpolitik, die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen und den Global Compact der VN zu beachten. Sie können sich auch an den vorbildlichen Verfahren orientieren, die die Weltbank und die IAO gemeinsam für die Förderung arbeitsrechtlicher Mindestnormen über die gesamte Produktionskette hinweg entwickelt haben.

4.8

Die Unterstützung des Privatsektors kann sich als Trumpfkarte für die Entwicklung erweisen, aber die offizielle Entwicklungshilfe sollte weder zur Absicherung von Risiken des Privatsektors noch als Ersatz für den öffentlichen Dienst verwendet werden. Die öffentlich-privaten Partnerschaften auf Grundlage einer gründlichen Analyse des tatsächlichen Langzeitbedarfs müssen eine faire Risikoteilung für die Gemeinschaft ermöglichen und sicherstellen; ihre Güter und Dienstleistungen müssen allgemein zugänglich, wirtschaftlich erschwinglich und ökologisch nachhaltig sein. Sie müssen sich dem Ansatz der Einbeziehung aller Beteiligten verschreiben und dürfen nicht der Privatisierung der vorhandenen, leistungs- oder verbesserungsfähigen öffentlichen Dienste dienen.

4.9

Die Unternehmen und die Organisationen der Sozialwirtschaft (einschließlich der Kooperativen) müssen als maßgebliche Akteure der nachhaltigen Entwicklung in den Empfängerländern zur Zielfestlegung konsultiert und an ihr beteiligt sowie in deren Verwirklichung unterstützt werden; so können sie sich als Akteure der Entwicklungshilfe entfalten und Verantwortung für sie übernehmen.

4.10

In vielen afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern, die nunmehr als „Länder mit mittlerem Einkommensniveau“ gelten, ist die Armut in Anbetracht der sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich noch lange nicht ausgemerzt. Insbesondere leben noch 75 % der Menschen in Armut in Ländern mit mittlerem Einkommensniveau. Entsprechend bleibt das Ziel, demokratische und faire Gesellschaften mit starken Sozialpartnern aufzubauen, für die geografischen Programme nach wie vor relevant.

4.11

In jedem Fall sollten alle Entwicklungsländer im Rahmen der thematischen Programme förderfähig bleiben; diese sollten entsprechend gestärkt werden. Zu diesem Zweck sollte die Absicht, höchstens drei Themen pro Land zu fördern, in gründlicher Abstimmung mit den Regierungen der Empfängerländer, den privaten wirtschaftlichen und sozialen Akteuren und den anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen abgemildert werden.

4.12

Die politische Entscheidung, die Förderung der „reicheren Entwicklungsländer“ schrittweise einzustellen, muss auf stichhaltigen Indikatoren für menschliche und soziale Entwicklung der VN basieren und im Rahmen eines internationalen Konsens der OECD erfolgen, um interne Unterschiede zu verringern.

4.13

Der Ausschuss unterstützt das Ziel, das Gewicht und die Legitimität der nationalen Akteure im Haushaltsprozess der Partnerländer zu stärken und vertritt die Ansicht, dass eine wirksame Veröffentlichung von nachprüfbaren Sachinformationen zu Maßnahmen der Budgethilfe bei der Verwirklichung der Entwicklungs- und Millenniumsziele spürbare Fortschritte ermöglichen kann. Darüber hinaus unterstützt er die entsprechenden Bestrebungen der Kommission.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 77-81, Berichterstatter: Juan MORENO PRECIADO: „Die Vereinigungsfreiheit in den Mittelmeer-Partnerländern“.

(2)  COM(2011) 840 final vom 7.12.2011, SEC(2011) 1469 und 1470.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit der EU: die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, Berichterstatter: Giuseppe Antonio Maria IULIANO.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR)“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, Berichterstatter: Giuseppe Antonio Maria IULIANO.

(5)  Bericht des parlamentarischen Ausschusses für Frauenrechte zum mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 – Bewertung der geschlechterpolitischen Dimension des außenpolitischen Handelns der EU.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Regionale Integration zur Förderung der Entwicklung in den AKP-Staaten“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 126-131, Berichterstatter: Gérard DANTIN, Mitberichterstatter: Luca JAHIER.

(7)  Siehe Fußnote 4.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union“. ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 28.

(9)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 102.

(10)  ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 39.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen:

Änderungsantrag 14: Ziffer 3.16

 (1)

Begründung

Der Absatz ist unklar bzw. steuert nichts zu der Stellungnahme bei. Im letzten Satz wird nicht auf ein allgemeines Problem verwiesen, sondern auf eine kriminelle Handlung einer oder mehrerer Personen. Der Mehrwert ist überhaupt nicht ersichtlich.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

57

Nein-Stimmen

:

137

Enthaltungen

:

29

Änderungsantrag 10: Ziffer 4.8

Die Unterstützung des Privatsektors Öffentlich-privaten Partnerschaften auf Grundlage einer gründlichen Analyse des tatsächlichen Langzeitbedarfs müssen eine faire Risikoteilung für die Gemeinschaft ermöglichen und sicherstellen; ihre Güter und Dienstleistungen müssen allgemein zugänglich, wirtschaftlich erschwinglich und ökologisch nachhaltig sein. Sie müssen sich dem Ansatz der Einbeziehung aller Beteiligten verschreiben und dürfen nicht der Privatisierung der vorhandenen, leistungs- oder verbesserungsfähigen öffentlichen Dienste dienen.

Begründung

Im Sinne der Beibehaltung eines ausgewogenen Ansatzes.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

96

Nein-Stimmen

:

126

Enthaltungen

:

11


(1)  


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/140


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/66/EG über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren hinsichtlich des Inverkehrbringens von Cadmium enthaltenden Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sind“

COM(2012) 136 final — 2012/0066 (COD)

2012/C 229/27

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 16. April 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/66/EG über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren hinsichtlich des Inverkehrbringens von Cadmium enthaltenden Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sind

COM(2012) 136 final — 2012/0066 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz am 24. April 2012 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 24. Mai) Josef ZBOŘIL zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 121 gegen 6 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/66/EG über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren hinsichtlich des Inverkehrbringens von Cadmium enthaltenden Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sind [COM(2012) 136 final vom 26. März 2012] und die beigefügte Folgenabschätzung SWD(2012) 66 final.

1.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Folgenabschätzungen keine hinreichend verlässliche Grundlage für die Vorschläge der Kommission zu Nickel-Cadmium-Batterien bieten. Er stellt fest, dass Nickel-Metallhydrid-Batterien bis zum Jahr 2015 nicht in Elektrowerkzeuge eingesetzt werden und somit keine kommerziell tragfähige, alternative Batterietechnologie sind. Somit wird nur eine Batterietechnologie, die Lithium-Ionen-Batterien, zur Verfügung stehen, nachdem die Ausnahme für Nickel-Cadmium-Batterien aufgehoben wurde, und darin liegt ein mögliches kommerzielles Risiko für die Elektrowerkzeugbranche.

1.3   Der EWSA empfiehlt, den oben erwähnten Richtlinienvorschlag zu verabschieden und dabei das Auslaufen der Frist für ein mögliches Inverkehrbringen von Batterien mit mehr als 0,002 Gewichtsprozent Cadmium auf den 31. Dezember 2018 festzulegen und zu bestimmen, dass Nickel-Cadmium-Ersatzbatteriesätze noch fünf Jahre danach in Verkehr gebracht werden dürfen. Danach dürfen cadmiumhaltige Batterien nur noch in Sicherheits- und Alarmsystemen sowie bestimmten medizinischen Geräten auf den Markt gebracht werden.

1.4   Der EWSA begrüßt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in diesem sehr spezifischen Entscheidungsfindungsprozess gewahrt wird, und unterstützt die Vorschläge der Kommission. Daher empfiehlt er dem Europäischen Parlament und dem Rat die Verabschiedung des Richtlinienvorschlags COM(2012) 136 final mit den in Ziffer 1.3 vorgeschlagenen Änderungen.

1.5   Der EWSA empfiehlt des Weiteren, der Kommission die Durchführungsbefugnisse in der Bedeutung und Tragweite zu übertragen, wie sie im Richtlinienvorschlag festgelegt sind. Bei der Übertragung dieser Befugnisse müssen die Transparenz des Verfahrens und die volle Verantwortung aller für die Umsetzung der Durchführungsbefugnisse der Kommission zuständigen Akteure gewährleistet sein, und so fordert der Ausschuss, dass die Arbeitsorgane transparent handeln und für ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegen.

2.   Der Vorschlag der Kommission – Problembeschreibung

2.1   Gemäß der Richtlinie 2006/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren und zur Aufhebung der Richtlinie 91/157/EWG ist das Inverkehrbringen von Gerätebatterien und -akkumulatoren, die mehr als 0,002 Gewichtsprozent Cadmium enthalten, einschließlich solcher, die in Geräte eingebaut sind, verboten. Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sind, wurden jedoch von diesem Verbot ausgenommen.

2.2   Die Kommission hat diesen Vorschlag vorgelegt, da sie gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie über Batterien die Ausnahme vom Cadmiumverbot für Gerätebatterien und -akkumulatoren, die zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmt sind (Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe c), überprüfen und einen Bericht vorlegen muss, dem sie gegebenenfalls entsprechende Vorschläge im Hinblick auf ein Verbot von Cadmium in Batterien und Akkumulatoren beifügt.

2.3   Im Dezember 2010 übermittelte die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kam, dass es an diesem Punkt nicht angebracht sei, Vorschläge betreffend die Ausnahmeregelung für cadmiumhaltige, zur Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bestimmte Gerätebatterien vorzulegen, da nicht alle technischen Informationen (insbesondere zu den Kosten und Nutzen von Cadmium und seinen Alternativen) verfügbar waren, die eine solche Entscheidung untermauern müssten.

2.4   Einige Interessenträger sprachen sich für eine Aufhebung der Ausnahmeregelung für die Verwendung von Nickel-Cadmium-Batterien (NiCd) in schnurlosen Elektrowerkzeugen aus, da sie die wirtschaftlichen Kosten als minimal betrachteten und langfristig von erheblichen Umweltvorteilen ausgingen. Andere waren gegen eine solche Aufhebung und betonten, die Daten über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen würden eine Aufhebung nicht rechtfertigen.

2.5   Insgesamt bestätigte die Konsultation der Interessenträger, dass eine vergleichende Lebenszyklus-Bewertung vorgenommen werden muss, um eine solide Grundlage für die Kosten-Nutzen-Analyse zu erhalten. Die Lebenszyklus-Bewertung ergab keinen wirklichen Aufschluss über die Vor- und Nachteile der derzeit verfügbaren chemischen Zusammensetzungen von Gerätebatterien. Die Folgenabschätzung der Kommission kommt zu dem Schluss, dass im Vergleich zum Basisszenario die anderen, eine Aufhebung der Ausnahmeregelung betreffenden Politikoptionen (sofortige Aufhebung bzw. Aufhebung im Jahr 2016) mit insgesamt geringeren Umweltauswirkungen verbunden wären, sowohl was die Vermeidung von Freisetzungen von Cadmium in die Umwelt anbelangt, als auch in Bezug auf die aggregierten Umweltauswirkungen auf Basis von sechs Umweltindikatoren.

2.6   Die Kommission führt an, bei einer Aufhebung der Ausnahmeregelung erst im Jahr 2016 wären die Umweltvorteile etwas geringer als bei einer sofortigen Aufhebung, doch lägen die Kosten sehr viel niedriger. Mehrere Recyclingunternehmen und Hersteller von schnurlosen Elektrowerkzeugen haben für beide die Aufhebung der Ausnahmeregelung betreffenden Politikoptionen Kostenschätzungen vorgelegt (40-60 Mio. EUR bei sofortiger Aufhebung und 33 Mio. EUR bei Aufhebung im Jahr 2016). Allerdings ist zweifelhaft, ob diese Kosten vollständig der Aufhebung zugeschrieben werden sollten, da die Mengen der in schnurlosen Elektrowerkzeugen verwendeten Cadmiumbatterien nach dem Basisszenario von 2013 bis 2025 um 50 % zurückgehen werden.

2.7   Der Kommission zufolge kostet im Zeitraum 2013-2025 ein schnurloses Elektrowerkzeug mit einer alternativen chemischen Zusammensetzung der Batterie je nach der gewählten Alternative (Nickel-Metallhydrid oder Lithium-Ionen) 0,80 bzw. 2,10 EUR mehr bei sofortiger Aufhebung der Ausnahmeregelung und 0,40 bzw. 0,90 EUR mehr bei einer Aufhebung im Jahr 2016. Diese Angaben sind nicht präzise. Die Kostenunterschiede liegen signifikant höher.

2.8   Die sozialen Auswirkungen und der Verwaltungsaufwand halten sich bei allen Politikoptionen in Grenzen. Probleme mit der Einhaltung der Vorschriften sind nicht zu erwarten.

2.9   Die Folgenabschätzung kommt zu dem Ergebnis, dass eine Aufhebung der Ausnahmeregelung im Jahr 2016 etwas geringere Umweltvorteile erbringen würde als eine sofortige Aufhebung, dafür aber mit sehr viel niedrigeren Kosten verbunden wäre. Da eine Aufhebung der Ausnahmeregelung im Jahr 2016 nahezu ebenso wirkungsvoll und zugleich effizienter wäre als eine sofortige Aufhebung, ist dies die bevorzugte Option. Damit die Industrie die einschlägigen Technologien weiter anpassen kann, sollte die bestehende Ausnahmeregelung für die Verwendung in schnurlosen Elektrowerkzeugen bis zum 31. Dezember 2015 weiter gelten.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1   Auf Grundlage einer Untersuchung unter Berücksichtigung zahlreicher Zusammenhänge, Branchen und Fakten schlägt die Kommission vor, die Produktion und den Einsatz von Batterien mit mehr als 0,002 Gewichtsprozent Cadmium für schnurlose Elektrowerkzeuge bis zum Ende des Jahres 2015 aufrechtzuerhalten.

3.2   Die Untersuchung macht deutlich, dass es sich hierbei um eine Lösung handelt, durch die die Umwelt nicht nennenswert in Mitleidenschaft gezogen und die menschliche Gesundheit in keiner Weise bedroht wird. Enttäuschend ist, dass in dem Kommissionsvorschlag die von der EU vorgenommene „Zielgerichtete Risikobeurteilung“ (TRAR) zum Cadmium und auch nicht die entsprechende Risikobegrenzungsstrategie erwähnt werden, in denen der Schluss gezogen wurde, dass für Nickel-Cadmium-Batterien in Elektrowerkzeugen keine weiteren Maßnahmen erforderlich seien. Die Verlängerung der Ausnahmeregelung bringt demnach keine Erhöhung der Risiken mit sich, sondern ist ganz im Gegenteil ein musterhaftes Beispiel für die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

3.3   Vom Standpunkt des Verbraucherschutzes aus betrachtet versteht es sich von selbst, dass die geltenden Rechtsvorschriften eingehalten und Produkte mit cadmiumhaltigen Batterien auch in Zukunft entsprechend gekennzeichnet werden müssen. Gleiches gilt für den Schutz der Arbeitnehmer bei der Herstellung von Batterien sowie für die bestehenden Arbeitsschutzbestimmungen. Darüber hinaus wird für bestimmte medizinische Geräte und elektronische Notfallsysteme die Herstellung von cadmiumhaltigen Batterien fortgesetzt. Gemäß der Folgenabschätzung werden die Risiken berücksichtigt, die zweifellos mit Aussetzung des Verbots der Verwendung von Batterien mit mehr als 0,002 Gewichtsprozent Cadmium verbunden sind.

3.4   Daher empfiehlt der EWSA, dieses Verbot vom 31. Dezember 2018 an zu verhängen.

3.5   Der EWSA empfiehlt des Weiteren, der Kommission die Durchführungsbefugnisse in der Bedeutung und Tragweite zu übertragen, wie sie im Richtlinienvorschlag festgelegt sind. Bei der Übertragung dieser Befugnisse gemäß dem Richtlinienvorschlag müssen die Transparenz des Verfahrens und die volle Verantwortung aller für die Umsetzung der Durchführungsbefugnisse der Kommission zuständigen Akteure gewährleistet sein.

3.6   Der EWSA stellt fest, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt Batteriesätze in Elektrowerkzeugen in erster Linie aus Drittländern eingeführt werden, dass jedoch zahlreiche Marken-Elektrowerkzeuge in der EU hergestellt werden. Seines Erachtens ist es jedoch grundsätzlich nicht wünschenswert, dass bei der Anschaffung dieser Technik einschließlich schnurloser Elektrowerkzeuge mit eingebauten oder beiliegenden Batterien, die mehr als 0,002 Gewichtsprozent Cadmium enthalten, die Kosten für den Verbraucher in unangemessener Weise ansteigen.

Brüssel, den 24. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/143


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1999/4/EG, 2000/36/EG, 2001/111/EG, 2001/113/EG und 2001/114/EG in Bezug auf die der Kommission zu übertragenden Befugnisse“

COM(2012) 150 final — 2012/0075 (COD)

2012/C 229/28

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 18. April 2012 bzw. am 30. April 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1999/4/EG, 2000/36/EG, 2001/111/EG, 2001/113/EG und 2001/114/EG in Bezug auf die der Kommission zu übertragenden Befugnisse

COM(2012) 150 final — 2012/0075 (COD).

Da der EWSA dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 149 gegen 5 Stimmen bei 11 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von Rindfleisch“

COM(2012) 162 final — 2011/0229 (COD)

2012/C 229/29

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 10. Mai 2012 bzw. am 26. April 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von Rindfleisch

COM(2012) 162 final — 2011/0229 (COD).

Da der EWSA dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 154 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 7 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


31.7.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 229/145


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch“

COM(2012) 147 final — 2012/0074 (NLE)

2012/C 229/30

Die Kommission beschloss am 17. April 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 31 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch

COM(2012) 147 final — 2012/0074 (NLE).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 481. Plenartagung am 23./24. Mai 2012 (Sitzung vom 23. Mai) mit 159 Stimmen bei 7 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 23. Mai 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON