ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.068.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 68

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
6. März 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

477. Plenartagung am 18. und 19. Januar 2012

2012/C 068/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung (Initiativstellungnahme)

1

2012/C 068/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Jugendbeschäftigung, Berufsqualifikationen und Mobilität (Initiativstellungnahme)

11

2012/C 068/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Errichtung einer künftigen Europäischen Energiegemeinschaft (Initiativstellungnahme)

15

2012/C 068/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der Beitrag der Europäischen Union zur Friedenskonsolidierung im Bereich der Außenbeziehungen: Bewährte Methoden und Aussichten

21

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

477. Plenartagung am 18. und 19. Januar 2012

2012/C 068/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Binnenmarkt für Rechte des geistigen Eigentums — Förderung von Kreativität und Innovation zur Gewährleistung von Wirtschaftswachstum, hochwertigen Arbeitsplätzen sowie erstklassigen Produkten und Dienstleistungen in EuropaKOM(2011) 287 endg.

28

2012/C 068/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Eine strategische Vision der europäischen Normung: Weitere Schritte zur Stärkung und Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums der europäischen Wirtschaft bis zum Jahr 2020KOM(2011) 311 endg.

35

2012/C 068/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und WertpapierfirmenKOM(2011) 452 endg. — 2011/0002 (COD)

39

2012/C 068/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der VerbrauchsteuernKOM(2011) 730 endg. — 2011/0330 (CNS)

45

2012/C 068/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Lachsbestände im Ostseeraum und die Fischereien, die diese Bestände befischenKOM(2011) 470 endg. — 2011/0206 (COD)

47

2012/C 068/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sechstes Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft — Abschließende BewertungKOM(2011) 531 endg.

52

2012/C 068/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema GVO in der EU (ergänzende Stellungnahme)

56

2012/C 068/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im EnergiebereichKOM(2011) 540 endg. — 2011/0238 (COD)

65

2012/C 068/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG hinsichtlich des Schwefelgehalts von SchiffskraftstoffenKOM(2011) 439 endg. — 2011/0190 (COD)

70

2012/C 068/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1300/2008 des Rates vom 18. Dezember 2008 zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den Heringsbestand des Gebietes westlich Schottlands und für die Fischereien, die diesen Bestand befischenKOM(2011) 760 endg. — 2011/0345 (COD)

74

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

477. Plenartagung am 18. und 19. Januar 2012

6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 68/01

Berichterstatterin: Vladimíra DRBALOVÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 19. Januar) mit 208 gegen 7 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

Empfehlungen an die Europäische Kommission

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten dazu aufzurufen, die im Kommuniqué von Brügge festgelegten kurz- und langfristigen Ziele umzusetzen und die Qualität und Wirksamkeit der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verbessern und sie dadurch attraktiver und bedeutsamer zu machen. Die Sozialpartner sämtlicher Ebenen müssen weiterhin aktiv im Kopenhagen-Prozess mitwirken und zur Umsetzung der kurzfristigen Ziele beitragen.

1.2   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den Bologna-Prozess und den Kopenhagen-Prozess in einem integrierten Ansatz zusammenzuführen. Diese Synergie wird dazu beitragen, Menschen mit den Fähigkeiten auszustatten, die sie brauchen, um ihr Entwicklungspotenzial zu entfalten und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern.

1.3   Nach Meinung des EWSA muss die Europäische Kommission ein Podium für fundierte statistische Aussagen über die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten sein, und sie sollte eine Plattform für den Austausch bewährter Verfahren schaffen.

1.4   Der Ausschuss begrüßt die Anstrengungen der Kommission zur Einführung neuer Instrumente und zum Anstoß neuer Initiativen. Zuvor jedoch ist eine Bewertung des Bestands dringend erforderlich, um die Doppelung von Instrumenten zu vermeiden und sicherzustellen, dass die bestehenden Programme und Strategien richtig und in vollem Umfang umgesetzt werden.

Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.5   Den Prozentsatz junger Leute, die ein Hochschulstudium aufnehmen, als einzigen Indikator festzulegen, ist ein bildungspolitischer Irrweg, da dies für die auf dem Arbeitsmarkt nachfragten Kompetenzen nur bedingt von Bedeutung ist. Zwischen den Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung muss ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden.

1.6   Die Mitgliedstaaten sollten das Kommuniqué von Brügge und den Kopenhagen-Prozess wirksam umsetzen und ihren Beitrag zur Erreichung des Kernziels der EU leisten, eine Absolventenquote in Hochschulen oder vergleichbaren Einrichtungen von 40 % zu erzielen. Hierzu gehört auch ein höheres Maß an Berufsbildung.

1.7   Die Mitgliedstaaten müssen sowohl für Unternehmen (insbesondere KMU) als auch für Kleinst- und Handwerksunternehmen entsprechende finanzielle und sonstige Anreize schaffen, um die berufliche Erstausbildung und die berufliche Aus- und Weiterbildung attraktiver zu gestalten, die Privatwirtschaft zu mobilisieren und die Bildungseinrichtungen zur Zusammenarbeit mit den Unternehmen anzuregen.

1.8   Erforderlich sind umfangreiche Werbemaßnahmen zur systematischen Steigerung der gesellschaftlichen Anerkennung der postsekundären Berufsbildung.

1.9   Es müssen Beratungsdienste angeboten werden, die wirksamer und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und den Bedürfnissen der Jugendlichen besser angepasst sind, u.a. individuelle Beratungen für Menschen mit Behinderungen. Dringend nötig ist ein Weiterdenken unter Jugendlichen, deren Familien und den Beratern, die dazu neigen, im Besuch einer Hochschule den Schlüssel zur Beschäftigung zu sehen.

Empfehlungen an die Wirtschaftsverbände

1.10   Wirtschaftsverbände sollten gemeinsam mit anderen Sozialpartnern aktiv in die Informations- und Beratungssysteme einbezogen werden, da sie für die Bereitstellung von Informationen zu Berufsbildungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktchancen von Relevanz sind. Sie sollten den Bildungsanbietern bei der Entwicklung von Verfahren für ein arbeitsintegriertes Lernen sowie neuer Verfahren zur Seite stehen.

1.11   Die Wirtschaftszweige und ihre Unternehmen müssen mehr Plätze für Lehrlingsausbildungen und innerbetriebliche Ausbildungen schaffen. Zudem sollten Beschäftigte dazu angeregt werden, ihr Wissen und ihre Erfahrung an Lehrlinge und intern Auszubildende weiterzugeben oder zeitweilig als Berufsschullehrer tätig zu werden.

Empfehlungen an die Bildungseinrichtungen

1.12   Die Bildungseinrichtungen müssen Vertrauen in die Zusammenarbeit mit Unternehmen entwickeln und erkennen, wie wichtig eine konstruktive Zusammenarbeit und extern gewonnene Erfahrungen sind.

1.13   Sie sollten enger mit den Industriezweigen zusammenarbeiten und eine breitere Palette an Methoden für ein arbeitsintegriertes Lernen entwickeln. Hier ist eine flexiblere Haltung zur Berufsbildung nötig.

1.14   Es muss gewährleistet werden, dass Lehrer und Ausbildende gut ausgebildet sind. Sie sollten mit den sich ändernden Bedürfnissen des Arbeitsumfeldes vertraut sein. Die Absolvierung von Praktika für Lehrer und Ausbildende in Unternehmen sollte unterstützt werden.

Empfehlungen an die Sozialpartner

1.15   Der EWSA fordert die Organisationen der Sozialpartner auf, sich ihrer Verantwortung zu stellen und bei diesem Prozess engagiert alle Möglichkeiten und Instrumente zu nutzen, um die postsekundäre Berufsbildung attraktiver zu machen, etwa durch branchenspezifische Beschäftigungs- und Kompetenzräte.

1.16   Sozialpartner auf allen Ebenen sollten auf eine ordnungsgemäße Umsetzung der in ihren gemeinsamen Arbeitsprogrammen eingegangenen Verpflichtungen achten und die Anwendung und Durchführung aller EU-Instrumente auf nationaler Ebene aus dem Bereich der Berufsbildung unterstützen.

Empfehlungen an die Bürgerinnen und Bürger und die Organisationen der Zivilgesellschaft

1.17   Den Bürgerinnen und Bürgern sollte bewusst gemacht werden, dass Hochschulbildung nicht zwangsläufig ein Garant für Beschäftigung ist und wirksame Alternativen in Betracht gezogen werden sollten. Sie müssen sich klarmachen, dass es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, sich vor ihrer Studien- und Ausbildungswahl angemessen zu informieren. Schließlich sollten sie genügend Selbstvertrauen haben, sich für eine postsekundäre Berufsausbildung zu entscheiden.

1.18   Die Vorstellungen und Wünsche von Schülern und Studenten und die Erwartungen ihrer Familien sollten der Nachfrage seitens der Arbeitgeber gegenübergestellt werden. In Zukunft werden die Bürgerinnen und Bürger auf das neue EU-Kompetenzpanorama mit Vorhersagen zum Qualifikationsangebot und dem Arbeitskräftebedarf zurückgreifen können.

2.   Politische Rahmenbedingungen in Europa

2.1   Im Juni 2010 hat der Europäische Rat auf seinem Frühjahrsgipfel eine Europa 2020 genannte neue Strategie für Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Zu dieser Strategie gehören sieben Leitinitiativen und die Binnenmarktakte, ein Strategiepapier zur weiteren Stärkung des EU-Binnenmarktes.

2.2   Die wichtigste Leitinitiative, nämlich die „Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten“ mit dem Ziel, die richtigen Kompetenzen für den Arbeitsmarkt bereitzustellen und die vorhandenen Kompetenzen auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes abzustimmen, schafft eine starke Synergie mit anderen Initiativen (z.B. Industriepolitik, Digitale Agenda, Innovationsunion, Jugend in Bewegung, Europäische Plattform gegen Armut usw.).

2.3   Die Europa-2020-Ziele werden auch durch den vorgeschlagenen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR)  (1) unterstützt. Im Haushalt für Europa 2020 sind Investitionen in Europas Bildung vorgesehen, da die Beträge für allgemeine und berufliche Bildung, Forschung und Innovation erhöht wurden.

3.   Berufliche Aus- und Weiterbildung: aktuelle Fortschritte und Herausforderungen

3.1   Derzeit werden die Entwicklungen auf den europäischen Arbeitsmärkten von der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Globalisierung, dem demografischen Druck, den neuen Technologien und vielen anderen Faktoren bestimmt.

3.2   Zu den fünf bereichsübergreifenden Zielen der Europa-2020-Strategie zählen auch die folgenden:

Es soll eine Erwerbsquote von 75 % in der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen erreicht werden.

Im Bereich des Bildungsstandes soll das Problem der Schulabbrecher angegangen und die Schulabbrecherquote von derzeit 15 % auf 10 % reduziert werden.

Der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlossenem Hochschulstudium oder einem gleichwertigen Abschluss soll von derzeit 31 % auf mindestens 40 % bis 2020 gesteigert werden.

3.3   Mit der Erklärung von Kopenhagen vom 29./30. November 2002 wurde der Grundstein für die europäische Strategie für eine verstärkte Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung gelegt. Diese wird gemeinhin als „Kopenhagen-Prozess“ bezeichnet.

3.4   Am 12. Mai 2009 nahm der Rat einen strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (VET 2020) an.

3.5   In der Mitteilung der Europäischen Kommission zum Thema „Ein neuer Impuls für die europäische Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zur Unterstützung der Strategie Europa 2020“ (2) werden die Kernelemente formuliert, die auf den Weg gebracht werden müssen, um den Kopenhagen-Prozess wieder anzukurbeln und die Schlüsselrolle der beruflichen Bildung im Bereich lebenslanges Lernen und Mobilität hervorzuheben.

3.6   Ein klares Bekenntnis hierzu haben die Bildungsminister der EU zusammen mit europäischen Sozialpartnern in dem im Dezember 2010 angenommenen Kommuniqué von Brügge abgelegt. Darin werden folgende Prioritäten für die Zusammenarbeit in der EU im Bereich der beruflichen Bildung bis 2020 überprüft und geordnet:

Ausbau der postsekundären beruflichen Bildung und der beruflichen Bildung auf höheren EQR-Niveaus;

Durchlässigkeit und flexible Übergänge zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung;

Grundlagenpapier zur Rolle der beruflichen Exzellenz für intelligentes und nachhaltiges Wachstum.

3.7   Aufbauend auf dem Bekenntnis im Kommuniqué von Brügge erarbeitet die Europäische Kommission derzeit ein Exzellenz-Programm für berufliche Bildung, das sowohl auf die berufliche Erstausbildung als auch auf die Weiterbildung ausgerichtet ist. Das Verfahren soll mit den Schlussfolgerungen des Rates (Ende 2012) abgeschlossen werden.

4.   Faktische Grundlage einer verstärkten Zusammenarbeit in der Berufsbildung

4.1   Aus der Prognose des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) hinsichtlich der künftigen Qualifikationsanforderungen ist ersichtlich, dass die Nachfrage nach mittleren und hohen Qualifikationen bis 2020 steigt, während die Nachfrage nach Geringqualifizierten zurückgeht. Die Erwerbsbevölkerung in der EU umfasst derzeit jedoch noch immer 78 Mio. geringqualifizierte Arbeitnehmer.

4.2   Der vierte Bericht des CEDEFOP zur Berufsbildung und Bildungsforschung in Europa mit dem Titel „Modernisierung der beruflichen Bildung“ ist die faktische Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit in der Berufsbildung. In ihm werden überdies Prioritäten für die Reform der beruflichen Bildung gesetzt, die einen Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung leisten sollen.

4.3   Mit Blick auf die wachsende internationale Konkurrenz, das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung, den Druck auf den Arbeitsmarkt und die Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa ist eine Modernisierung der Berufsbildung dringend geboten.

4.4   CEDEFOP geht auch auf die Frage ein, wie das Ansehen der beruflichen Bildung verbessert und ihre Attraktivität gesteigert werden kann. Insgesamt ergibt sich aus der Analyse der mit der Attraktivität der beruflichen Bildung in der EU verknüpften Indikatoren ein negativer Eindruck. Die Forschung hat folgende Hauptfaktoren für die Attraktivität von Bildungswegen postuliert:

a)

Inhalt und Hintergrund der allgemeinen Bildung: Selektivität der Bildungswege, Ansehen der Bildungseinrichtungen, Laufbahnen oder Programme

b)

Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten der Schüler/Studenten: Zugang zu weiterführender Bildung (insbesondere auf tertiärem Niveau), Beschäftigungsaussichten

c)

Wirtschaftliche Faktoren: finanzielle Unterstützung/Steueranreize oder Studiengebühren.

4.5   In seiner Veröffentlichung Eine Brücke in die Zukunft legt CEDEFOP sein Augenmerk auch auf die Fortschritte, die bei der Entwicklung und Umsetzung gemeinsamer europäischer Grundsätze (Beratung, Identifizierung und Validierung nichtformalen und informellen Lernens) und Instrumente (3) (EQR, ECVET, EQAVET, Europass) erzielt wurden. Mit diesen Grundsätzen und Instrumenten soll die Mobilität von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden innerhalb der verschiedenen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen und zwischen den Ländern erhöht werden. Ihre Entwicklung und Umsetzung begünstigen die Entwicklung von Lernergebnissen in allen Arten und auf allen Ebenen der Aus- und Weiterbildung in Richtung des lebenslangen Lernens.

4.6   Der neue Forschungsbericht des CEDEFOP (4) zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auf den höheren Qualifikationsniveaus in 13 Ländern und sechs Wirtschaftszweigen zeigt, dass die Ansichten und Konzepte der Berufsbildung und des EQR auf den Niveaus 6 bis 8 von den nationalen Gegebenheiten beeinflusst werden.

4.7   Die Europäische Stiftung für Berufsausbildung (ETF) hebt hervor, dass dringend Informationen zu den unterschiedlichen Berufszweigen bereitgestellt und evidenzbasierte Maßnahmen zur Verknüpfung des Bildungssektors mit den Berufszweigen ergriffen werden müssen. Um die Attraktivität der postsekundären Berufsbildung zu steigern, empfiehlt die Stiftung:

die Anerkennung der Abschlüsse durch eine enge Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft;

die Eingliederung der postsekundären Berufsbildung (oder höheren Berufsbildung) in den tertiären Bildungsbereich;

die Schaffung von Bildungsoptionen und Aufstiegsmöglichkeiten in Richtung des lebenslangen Lernens;

die Einrichtung internationaler Partnerschaften für höhere Berufsbildung;

eine Zusammensetzung der Bildung aus 20 % Vorlesungen, 40 % Tutorien und 40 % Übungen;

Lehrpersonal, das sich sowohl aus Dozenten und akademischen Mitarbeitern als auch aus Fachleuten aus der Wirtschaft zusammensetzt.

4.8   In einer von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie zur Bestimmung und Untersuchung des künftigen Qualifikationsbedarfs aus Sicht der Kleinst- und Handwerksunternehmen (5) wird eine stärkere Aufnahme der künftigen Tendenzen und Entwicklungen des Qualifikationsbedarfs in die Ausbildungsprogramme empfohlen, als dies bisher der Fall ist. Außerdem müssten verstärkt berufsbezogene Lernprogramme und Möglichkeiten zur Anerkennung von informell angeeignetem praktischem Wissen geschaffen werden, auch auf europäischer Ebene.

4.9   Beim informellen OECD-Ministertreffen zum Thema Berufsbildung, das im Januar 2007 in Kopenhagen stattfand, wurde ein starker Anstieg des Stellenwertes der Berufsbildung festgestellt und daraufhin eine analytische Untersuchung begonnen, die 2010 mit dem Abschlussbericht „Lernen für die Arbeitswelt“ (6) abgeschlossen wurde. Ein Bericht zu den Folgemaßnahmen mit dem Schwerpunkt auf der postsekundären Berufsausbildung mit dem Titel „Skills beyond School“ (Fähigkeiten über die Schule hinaus) wurde Ende 2010 begonnen.

5.   Berufsbildung aus Sicht des Arbeitsmarktes

5.1   Aufgrund des demografischen Wandels und des prognostizierten steigenden Fachkräftebedarfs sieht sich die EU in manchen Branchen trotz der Wirtschaftskrise einer Abnahme der Erwerbsbevölkerung und einem Arbeitskräftemangel gegenüber.

5.2   Der strukturelle Fachkräftemangel in der EU ist eine Tatsache. Für Unternehmen in der EU sind die unmittelbaren Folgen dieses Mangels, dass sie Chancen auf Wachstum und Produktivitätssteigerungen verpassen. Der Fachkräftemangel wird in den kommenden Jahren eines der Haupthindernisse für das Wirtschaftswachstum sein.

5.3   Die Gestaltung umweltgerechterer Arbeitsplätze und die Entfaltung der Seniorenwirtschaft („silbernen Wirtschaft“), insbesondere der Sozial- und Gesundheitsfürsorgedienste, schafft Möglichkeiten für neue, gute Arbeitsplätze für alle erwerbstätigen Altersgruppen und steigert die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstumspotenzial der gesamten europäischen Wirtschaft. Es führt ebenfalls zu einer stärkeren Nachfrage nach neuen Berufen und zu verbesserten, auf dem neuesten Stand befindlichen Kenntnissen.

5.4   Die berufliche Aus- und Weiterbildung kann zur Umsetzung des oben genannten Kernziels der Europa-2020-Strategie auf verschiedene Weise beitragen: 1) durch Aufstiegsmöglichkeiten von der Berufsbildung in die Fachaus- und Hochschulbildung, 2) durch die Entwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung auf den höheren Niveaus des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) auf der Grundlage einer soliden Aus- und Weiterbildung auf Sekundärniveau, 3) durch ihren Anteil an der Schaffung geeigneter Vorkehrungen zur Validierung und Bestätigung nichtformaler Lernergebnisse auf allen Niveaus und 4) durch die Entwicklung der alternierenden Ausbildung, bei der Erwachsene zur erfolgreichen Ausbildung der jungen Auszubildenden beitragen.

5.5   Unabdingbar für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen sind mobile Arbeitskräfte mit einer Reihe fachlicher Befähigungen und Kompetenzen, die der aktuellen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt entsprechen. Unternehmen benötigen transparente und vergleichbare Qualifikationen, ganz gleich, auf welche Weise die Kompetenzen erworben wurden.

5.6   Auf dem tatsächlichen Lernergebnis gründende Leistungspunkt- und Qualifikationssysteme erleichtern die Bewertung der Kompetenzen des Einzelnen. Dies wird die Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten in der EU verbessern. Nicht durch Qualifikationen erlangt man die Anerkennung des Arbeitgebers, sondern durch Leistung. Entsprechend sollte auch im Bildungssystem dazu übergegangen werden, das tatsächliche Lernergebnis zu honorieren, statt beispielsweise die Anzahl der Wochen, die ein Kurs dauert.

5.7   Aufstiegschancen von der beruflichen Aus- und Weiterbildung in die Hochschulbildung sind wichtig und könnten durch eine erhöhte Transparenz bei den Ergebnissen verbessert werden. Der EQR könnte sich als nützliches Instrument bei der Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen den Leistungspunktesystemen in der Berufsbildung und der Hochschulbildung erweisen, da er Lernergebnisse in Einheiten der entsprechenden Qualifikationsniveaus umwandelt.

5.8   Die postsekundäre Berufsbildung darf nicht in eine Grauzone zwischen der Sekundarstufe II und der Hochschulbildung eingeordnet werden. Die postsekundäre Berufsbildung ist innerhalb der Europa-2020-Strategie strategisch wichtig, um eine Berufsausbildung für Jugendliche attraktiver zu machen, die Verbesserung der Kompetenzen zu unterstützen und höhere Ausbildungsabschlussquoten zu erreichen. Aus Sicht der Klein- und Mittelbetriebe konnten gewisse Fortschritte erzielt und die Berufsbildung und die höhere Berufsbildung relevanter und attraktiver gemacht werden. Doch muss auf allen Ebenen – sei es auf europäischer, nationaler, regionaler, lokaler oder sektoraler Ebene – noch mehr getan werden, um das Angebot in den höheren Stufen der beruflichen Ausbildung zu diversifizieren, die Durchlässigkeit zu verbessern, die Systeme der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu reformieren und finanzielle Anreize zu schaffen, um sowohl die Unternehmen als auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die Einrichtung bzw. Absolvierung einer höheren Berufsbildung anzuregen.

5.9   Entscheidend für eine attraktivere Berufsbildung ist deren Qualität und Leistungsfähigkeit. Doch eine hochwertige Berufsbildung ist nicht billig. Hier kommen besondere Herausforderungen auf die KMU zu, da sie 1) der größte Anbieter beruflicher Erstausbildung sind und 2) die Kompetenzen aller ihrer Beschäftigten ausweiten müssen, nicht nur die der Höchstqualifizierten. Für die letztgenannte Gruppe ist die innerbetriebliche Ausbildung zur Verbesserung der Kompetenzen in KMU ausschlaggebend.

5.10   Die grenzüberschreitende Lernmobilität ist ein Kernbereich, der lange Zeit von der Wirtschaft unterstützt wurde, insbesondere für Jugendliche in beruflicher Erst- und Lehrlingsausbildung. In Europa ist der Mobilitätsgrad von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden im Bereich der Berufsbildung immer noch unzureichend. Die Mobilität dieser Gruppen kann nur durch gute Kenntnisse in mindestens einer Fremdsprache gesteigert werden.

6.   Gründe für die mangelnde Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung und insbesondere der postsekundären Berufsbildung

6.1   Der Begriff Hochschulbildung wird oft als Synonym für akademisch orientierte, d.h. Universitätsstudien verwendet. Hochschulbildung und Berufsbildung werden oft als Gegensätze verstanden, wobei letztere als weniger wertvoll empfunden wird.

6.2   Bei den Maßnahmen zur Entwicklung und Erweiterung der Hochschulbildung wurde die Berufsbildung nicht ausreichend berücksichtigt. Dabei ist die beruflich orientierte (oder fachlich- bzw. arbeitsmarktorientierte) Aus- und Weiterbildung bereits ein wichtiger, wenn auch „unsichtbarer“ Bestandteil der höheren Bildung.

6.3   Die berufliche Aus- und Weiterbildung ist in der EU äußerst heterogen. Diese Vielzahl an institutionellen Lösungen sorgt für Verwirrung. In einigen Ländern kann kaum noch die Rede von einem System sein.

6.4   Die nationalen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung sind ihrerseits recht undurchsichtig und es gibt nur eine geringe Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Bildungswegen. Für die postsekundäre allgemeine und berufliche Bildung gibt es sehr viele verschiedene Anbieter: Universitäten, Einrichtungen der tertiären Berufsbildung, weiterführende Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Sozialpartner und Privatunternehmen.

6.5   Die erworbenen Berufsbildungsabschlüsse sind bisweilen schwer verständlich und werden in anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Weiteres anerkannt. Die Programme der Berufsbildung entsprechen nicht dem Drei-Zyklen-Modell des Bologna-Prozesses (Bachelor, Master, Promotion). Es gibt immer noch keine klare Vorstellung darüber, wie und in welchen Niveaus die Einstufung beruflicher Qualifikationen in den NQR und den EQR erfolgen soll.

6.6   Es gibt keine Verbindungen zwischen den aus Studien erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen und den nationalen Berufsklassifikationssystemen.

6.7   Das Ansehen der Industrie ist wegen des Bildes, das die Medien oft von ihr vermitteln, und wegen der aktuellen Krise angekratzt. Dies führt dazu, dass Unternehmen in der EU zunehmend misstraut wird.

6.8   Die Stigmatisierung und das geringe gesellschaftliche Ansehen derer, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, hält viele Jugendliche davon ab, selbst diesen Bildungsweg einzuschlagen.

6.9   Geringe rechnerische Fähigkeiten in der Grundschule bewirken bei den Jugendlichen, dass sie keine Laufbahn in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieur-, Natur- und Technikwissenschaften) einschlagen oder praxisorientierte Studien aufnehmen.

6.10   Die Fähigkeit, sich auf die sich stetig wandelnden, von den raschen Veränderungen im IKT-Bereich bedingten Qualifikationsanforderungen und die allmähliche Hinwendung zu einer Wirtschaft mit geringen CO2-Emissionen einzustellen, ist gering.

6.11   In diesen Bereichen haben viele den Eindruck, dass es zu wenige Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten gibt, z.B. in Bezug auf den Zugang zu einer weiterführenden Bildung, insbesondere im Tertiärbereich, die Beschäftigungsaussichten, die Verdienstmöglichkeiten, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz und die Wahrscheinlichkeit, einen guten, der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu finden.

6.12   Es gibt zu wenig Information und Beratung für die Jugendlichen und ihre Familien bei ihrer ersten beruflichen Orientierung. Die Erfahrungen der Eltern und deren beruflicher Werdegang sind oft die Hauptfaktoren für die endgültige Entscheidung über die Wahl der Schule und des späteren Berufs. Die Berufsberatung ist allzu oft fragmentiert, nicht reaktionsschnell genug und nicht praxisnah.

6.13   In einigen Mitgliedstaaten mangelt es von staatlicher Seite an finanziellen und sonstigen Anreizen für Arbeitgeber, damit diese in die Berufsbildung investieren und sich ihr verpflichten.

6.14   Bei der Gestaltung von Programmen mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen theoretischem Lernen und beruflichen Fähigkeiten reicht der Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der Wirtschaft und Bildungseinrichtungen nicht aus. Das Vertrauen in Schulen und Universitäten zur Herstellung von Verbindungen mit der Wirtschaft ist immer noch gering. In den Bildungseinrichtungen werden extern gewonnene Erfahrungen kaum wertgeschätzt.

6.15   Die aktuelle Erwerbsbevölkerung wird zunehmend älter. In vielen Ländern gibt es in den berufsbildenden Einrichtungen einen Mangel an Lehrkräften und Ausbildungspersonal. Manchen Lehrkräften und Ausbildenden fehlt es zudem an neueren Erfahrungen aus der Arbeitswelt.

6.16   Die Rolle, die die berufliche Aus- und Weiterbildung bei der Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten spielen kann, wird unterschätzt. Die Benachteiligten verlassen die Schule tendenziell eher früh.

6.17   In der Berufsbildung, insbesondere der postsekundären Berufsbildung, herrschen weiter Geschlechterstereotypen, die Auswirkungen auf die berufliche Laufbahn haben.

6.18   Die grenzüberschreitende Lernmobilität stellt ein großes Problem im Bereich der Berufsbildung und der Lehrlingsausbildung dar. In Europa ist der Mobilitätsgrad von Lernenden und Lehrenden im Bereich der Berufsbildung immer noch unzureichend.

6.19   Bessere Fremdsprachenkenntnisse sind nötig, damit Mobilität möglich und lohnenswert wird.

6.20   Die Bildung im Tertiärbereich, insbesondere die postsekundäre Berufsbildung, wird nicht ausreichend als globale Herausforderung angesehen. Ihre Aufnahme in den weltweiten Wissensverkehr sollte unterstützt werden.

7.   Postsekundäre Berufsbildung attraktiver gestalten

7.1   Als Maß für Modernität und Fortschrittlichkeit darf nicht einzig und allein der Prozentsatz der Studierenden an Universitäten gelten. Die Universitäten können nicht allein für wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt sorgen. Daher müssen alle alternativen Bildungswege identifiziert und gefördert werden.

7.2   Der Kopenhagen-Prozess zur Gewährleistung von Transparenz und Qualität bei beruflichen Qualifikationen muss stärker mit der Reform des Hochschulwesens verknüpft werden. Entscheidend für eine erfolgreiche und nachhaltige Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt ist, die beiden Prozesse (Bologna- und Kopenhagen-Prozess) in einem integrierten Ansatz zusammenzuführen.

7.3   Der Ruf der Industrie in Europa muss verbessert werden. Wegen ihrer großen Bedeutung für das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie für innovative Entwicklungen ist ein neuer Ansatz in der Industriepolitik erforderlich. Ein solcher Ansatz, der als Schwerpunktbereiche Nachhaltigkeit, Innovation und die für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie auf den Weltmärkten notwendigen Qualifikationen hätte, wäre der Industrie förderlich.

7.4   Für die Wirtschaft Europas sind Dienstleistungen von grundlegender Bedeutung. Sie machen 70 % des BIP der EU aus, was rund zwei Dritteln aller Arbeitsplätze entspricht. Neun von zehn Arbeitsplätzen werden im Dienstleistungssektor geschaffen. Aus Sicht der postsekundären Berufsbildung stellen sie neue Chancen dar.

7.5   Europa, das derzeit mit einem Arbeitskräftemangel in vielen Berufen zu kämpfen hat, muss sich darauf konzentrieren, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Systemen der allgemeinen und der beruflichen Bildung und die richtige Mischung aus allgemeiner, beruflicher und akademischer Bildung herzustellen. Die postsekundäre Berufsbildung zeigt, wie schwierig das ist. Ihr Ziel besteht darin, den Arbeitsplatz als wertvolles Lernumfeld voll auszuschöpfen.

7.6   Qualifikationsrahmen können sehr nützlich für Berufsbildungssysteme sein. Sie haben das Potenzial, das Berufsbildungssystem zu vereinheitlichen und die Transparenz zu steigern, sodass die unterschiedlichen Qualifikationen einfacher von Schülern und Lernenden, Arbeitgebern und anderen Interessenträgern bewertet werden können. Außerdem vereinfachen sie das lebenslange Lernen und erleichtern den Zugang zur höheren Bildung für alle. Die bisherigen Ergebnisse zu den Qualifikationsrahmen führten zu einer neuen Debatte über Profil und Status der beruflichen Aus- und Weiterbildung und darüber, wie die Berufsbildung definiert und verstanden werden soll.

7.7   Es muss sich ein wahrer Geist der Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Vertretern der Wirtschaft und KMU entwickeln, der auf gegenseitigem Vertrauen und Verständnis fußt. Der EWSA glaubt an die jüngst vorgeschlagene „Wissensallianz“ (7), d.h. an Projekte, die die Geschäftswelt und Bildungs-/Weiterbildungseinrichtungen zusammenführen, um neue Lehrpläne zur Beseitigung von Lücken bei den Innovationsfähigkeiten zu erstellen und eine Abstimmung hinsichtlich der Arbeitsmarkterfordernisse vorzunehmen. In dieser Hinsicht ist der Vorschlag der Kommission, 2012 erstmals ein Wirtschafts- und Berufsbildungsforum zu veranstalten, eine vielversprechende neue Initiative.

7.8   Die einzelnen Wirtschaftszweige und ihre Unternehmen müssen ihrerseits in die innerbetriebliche Ausbildung investieren, der Lehrlingsausbildung und der internen Ausbildung mehr Möglichkeiten bieten und interessierten und geeigneten Beschäftigten die Möglichkeit bieten, Lehrlinge und intern Auszubildende vor Ort zu betreuen. Außerdem sollen Industrie und Unternehmen interessierten und geeigneten Beschäftigten die Möglichkeit geben, zeitweilig als Lehrkräfte in der Berufsbildung zu arbeiten und Schulungen zur Berufsbildung während der Arbeitszeiten zu absolvieren, und sie sollten mit Bildungsanbietern zusammenarbeiten, um den besonderen Kompetenzanforderungen des Arbeitsmarktes angepasste Schulungen auszuarbeiten.

7.9   Bildungsanbieter sollten darüber hinaus auch Methoden für ein arbeitsintegriertes Lernen entwickeln (z.B. sollte das Lernen nicht nur in der Lehrlingsausbildung, sondern auch in anderen Bereichen mehrheitlich am Arbeitsplatz stattfinden), es sollte eine flexiblere Haltung zur Berufsbildung eingenommen werden (flexiblere Lernmethoden), in allen Bereichen der Berufsbildung sollten Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt werden, und es sollte eine enge Zusammenarbeit mit den Industriezweigen stattfinden, um neuen Lernbedarf zu ermitteln.

7.10   Durch die Diversifizierung der Berufe wird eine gute berufliche Orientierung schwieriger, gleichzeitig aber auch wichtiger und anspruchsvoller. Die Bürger und insbesondere die Jugendlichen brauchen ein klares Bild vor Augen, wie ihre Studien und ihre Zukunft aussehen werden. Die Vorstellung, dass die Erstausbildung Schüler und Studierende auf eine einzige Beschäftigung vorbereitet, der sie ihr Leben lang nachgehen werden, ist überholt. Die Berufsberatung muss kohärent, finanziell gut ausgestattet, vorausblickend, sachlich und fundiert sein. Besonderes Augenmerk sollte auf die Beratung von Menschen mit Behinderungen gelegt werden, die in hohem Maße auf den Einzelnen zugeschnitten sein muss und bei der unterschiedliche Formen von Behinderungen, sich möglicherweise daraus ergebende Mobilitätseinschränkungen sowie der Behinderung geschuldete Probleme beim Erwerb bestimmter Qualifikationen zu berücksichtigen sind.

7.11   Die Rolle der Familie darf hierbei nicht unterschätzt werden. Die Familie sollte in die berufliche Information, Beratung und Orientierung miteinbezogen werden, da Eltern und Familienmitglieder bei der Studien- und Berufswahl eines Jugendlichen oft eine wichtige Rolle spielen. Mehr Information, Sensibilisierung und faktengestützte Maßnahmen sind erforderlich, um die Arbeitsmarktchancen im Zusammenhang mit einer höheren Berufsbildung hervorzuheben.

7.12   Nichtsdestotrotz muss über das Berufsbildungsangebot angestrebt werden, die Vorstellungen und Wünsche der Schüler und Studierenden und die Nachfrage seitens der Arbeitgeber auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Vorstellungen und Wünsche der Jugendlichen sind wichtig, doch reichen sie allein meist nicht aus. Die Nachfrage seitens der Arbeitgeber ist ebenfalls wichtig, doch ist es nicht immer leicht, diese Nachfrage genau zu ermitteln. Ob und wie ein gemeinsamer Nenner gefunden wird, hängt oft auch von den Mitteln ab, die der Staat, die Schüler/Studierenden und die Arbeitgeber bereitstellen.

7.13   Es muss gewährleistet werden, dass alle Schüler und Studierenden in allen Bildungswegen gleich behandelt werden und den gleichen Zugang zu finanziellen Unterstützungen für Unterkunft, Transport, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung haben.

7.14   Gut ausgebildete Lehrer und Ausbildende sind wichtig: Sie müssen mit dem Arbeitsumfeld vertraut sein. Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, müssen flexible Rekrutierungswege gefördert werden, um die Aufnahme von Lehrkräften mit Fachkenntnissen aus der Industrie in das Personal von Berufsbildungseinrichtungen zu vereinfachen. Es müssen Programme zur Steigerung der Mobilität von Lehrkräften entwickelt werden.

7.15   Die Sozialpartner spielen eine sehr wichtige Rolle dabei, der Berufsbildung mehr Bedeutung zu verleihen und sie flexibler zu gestalten. Um die Leistungsfähigkeit der Berufsbildung zu steigern, sollten die Sozialpartner stärker in die Gestaltung und Umsetzung der Berufsbildungspolitik, insbesondere in die Aufstellung der Lehrpläne, eingebunden werden, damit gewährleistet werden kann, dass die im Unterricht vermittelten Inhalte für den Arbeitsmarkt relevant sind. Es zeigt sich, dass die Länder, die als Bindeglied zwischen Schulen und dem Arbeitsmarkt agieren und Akteure des Arbeitsmarktes in Beobachtungs- und Aufsichtsaufgaben und in die Bewertung beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen einbinden, dies im Allgemeinen mit Erfolg tun. Der EWSA hob bereits mehrfach die Bedeutung der Branchenräte und branchenübergreifenden Räte für Beschäftigung und Qualifikationen (8) bei der Ausführung von quantitativen und qualitativen Arbeitsmarktanalysen hervor und begrüßte die gemeinsamen Bemühungen der europäischen Sozialpartner, die Aus- und Weiterbildung verstärkt in ihre gemeinsamen Arbeitsprogramme aufzunehmen (9).

7.16   Durch die Krise wurde deutlich, dass viele der klugen und wirksamen Vorschläge zur Erhaltung von Arbeitsplätzen und zur Schaffung neuer Bildungs- und Ausbildungsmuster auf Unternehmerebene ausgearbeitet wurden. In der Stellungnahme des EWSA zu den Krisenbewältigungsstrategien (10) wird eine ganze Reihe „bewährter Praktiken“ zu diesem Bereich aufgeführt.

7.17   Lernmobilität trägt durch den Erwerb von Schlüsselqualifikationen zu einer besseren Vermittelbarkeit, insbesondere junger Menschen, auf dem Arbeitsmarkt bei. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission vorgeschlagene ehrgeizige, aber politisch notwendige Zielmarke zur Lernmobilität. Angestrebt wird, dass mindestens 10 % der Berufsbildungsabsolventen in Erstausbildung in der EU einen Teil ihrer Berufsbildung im Ausland absolviert haben sollen. Dies soll die Mobilität im Bereich der beruflichen Bildung sowohl quantitativ als auch qualitativ verbessern und die berufliche Aus- und Weiterbildung mit der Hochschulbildung gleichstellen.

7.18   Das vor kurzem veröffentlichte Grünbuch zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen (11) löste eine öffentliche Diskussion darüber aus, wie die einschränkenden Regelungen bei Berufsqualifikationen abgebaut und vereinfacht werden können, um die Funktionsweise des Binnenmarkts zu verbessern und die grenzüberschreitende Mobilität und Wirtschaftstätigkeit zu fördern. Der Erfolg des kürzlich vorgeschlagenen europäischen Berufsausweises hängt maßgeblich vom gegenseitigen Vertrauen und der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ab.

7.19   Der EWSA ist davon überzeugt, dass es für alle Lehrer und Ausbildende, insbesondere in der Berufsbildung, von großer Wichtigkeit ist, gute Sprachkenntnisse zu haben, um das integrierte Lernen von Inhalten und Sprache zu fördern (ET 2020). Der EWSA unterstützt die in diesem Bereich vom Wirtschaftsforum für Mehrsprachigkeit (12) und der Plattform der Zivilgesellschaft für Mehrsprachigkeit vorgesehenen Maßnahmen, die zum Ziel haben, allen Bürgern die Möglichkeit für ein lebenslanges Erlernen von Sprachen zu bieten (13).

7.20   Im 21. Jahrhundert müssen die Stereotype, die bereits in der Grundschule aufkommen, unbedingt beseitigt und die Chancengleichheit für Männer und Frauen auf allen Stufen der allgemeinen und beruflichen Bildung gefördert werden. Dabei sollen gemäß dem europäischen Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter (14) kulturelle Projekte gefördert werden, die junge Frauen verstärkt auf wissenschaftliche und technische Studien hin orientieren.

7.21   In den vergangenen zehn Jahren haben die Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze der Kostenteilung erarbeitet und umgesetzt. Dies hat die Balance der Beiträge von Staat, Arbeitgebern und Einzelnen verändert. Zu den Finanzierungsmaßnahmen gehören: Weiterbildungsfonds, Steueranreize, Bildungsgutscheine, individuelle Lernkonten, Darlehen und Sparpläne. Damit sollen die Privatinvestitionen und die Einbindung in das europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) gefördert werden.

7.22   Der größte Anteil an finanzieller Unterstützung aus dem EU-Haushalt für Investitionen in das Humankapital kommt aus dem europäischen Sozialfonds (ESF). Um das Qualifikationsniveau anzuheben und die in vielen Mitgliedstaaten grassierende hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, werden die derzeit vom Leonardo-Programm unterstützten Maßnahmen im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen noch verstärkt (15).

8.   Richtige Umsetzung der Instrumente und Grundsätze der EU auf nationaler Ebene

8.1   Mit der Einführung von Instrumenten zur Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung wurde klar, dass mehr Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen notwendig sein wird, um die Wirksamkeit der Instrumente selbst zu verbessern.

8.2   Der Kopenhagen- und der Bologna-Prozess dürfen sich nicht weiterhin unabhängig voneinander entwickeln. Die Interoperabilität und Vergleichbarkeit zwischen den jeweiligen Instrumenten sollte erhöht werden. Es sollte anerkannt werden, dass sich der Kopenhagen-Prozess in einem weniger fortgeschrittenen Stadium befindet: Das ECVET (16) funktioniert reibungslos, der EQR hinkt jedoch um einige Jahre hinterher.

8.3   Der EQR, das ECVET und der EQAVET sollen zur Förderung des Lernens auf allen Niveaus und in allen Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung beitragen. Der EQR sollte in den NQR in die Stufen 6 bis 8 eingeordnet, d.h. mit der Hochschulbildung gleichgestellt werden. Das Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) muss kohärent und konvergent zum ECTS (17) umgesetzt werden, da das ECVET noch nicht funktionsfähig ist.

8.4   Das EU-Instrumentarium kann durch nationale Instrumente (z.B. nationale Qualifikationsrahmen) ergänzt oder in Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten (z.B. zu Leistungspunktesystemen) übernommen werden, wenn dies bei nationalen Reformen notwendig erscheint. Hier bedarf es mehr Interaktion zwischen den unterschiedlichen Ebenen (europäische, nationale und regionale Ebene).

8.5   Bei der Umsetzung des „Erasmus-Programms für Auszubildende“ müssen Fortschritte erzielt werden. Dieses Programm wird es möglich machen, dass die berufliche Aus- und Weiterbildung als den Wegen der Hochschulbildung gleichwertig angesehen wird, und so zur Förderung der Berufsausbildung beitragen. Durch das Programm erhält die berufliche Aus- und Weiterbildung eine internationale Dimension, der Mangel an Mobilität in diesem Bereich wird dadurch behoben und die Wahrnehmbarkeit und Attraktivität der postsekundären Berufsbildung wird gesteigert.

8.6   Die Kommission sollte sich jedoch bei der Einführung neuer Instrumente zurückhalten, bevor nicht der mögliche Zusatznutzen der bereits bestehenden Instrumente ausgewertet wurde. Die Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den bereits bestehenden Instrumenten muss verbessert werden, damit diese auch zweckgemäß in die Tat umgesetzt werden können.

8.7   Der EWSA hat eine Reihe fundierter Stellungnahmen zu den entsprechenden Instrumenten erarbeitet: zum ECVET (18), zum EQAVET (19) und zu den Entsprechungen der beruflichen Befähigungsnachweise zwischen Mitgliedstaaten (20).

Brüssel, den 19. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Ein Haushalt für „Europa 2020“, KOM(2011) 500 endgültig Teil I und Teil II vom 29.6.2011.

(2)  Mitteilung der Kommission KOM(2010) 296 endg.

(3)  EQR (Europäischer Qualifikationsrahmen), ECVET (Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsausbildung), EQAVET (Europäischer Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung), EUROPASS (eine Sammlung von Dokumenten zur Förderung der beruflichen und geografischen Mobilität).

(4)  Forschungsbericht Nr. 15 des CEDEFOP zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auf höheren Qualifikationsniveaus.

(5)  Abschlussbericht „Ermittlung des in Kleinstunternehmen und Handwerksbetrieben (sowie ähnlichen Unternehmen) bis 2020 zu erwartenden Qualifikationsbedarfs“, FBH (Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk an der Universität zu Köln, Januar 2011).

(6)  OECD-Untersuchung zum Projekt Lernen für die Arbeitswelt („Learning for Jobs“) mit dem Schwerpunkt Berufsbildung, http://www.oecd.org/dataoecd/41/63/43897561.pdf (auf Englisch).

(7)  Leitinitiative „Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten“.

(8)  Sondierungsstellungnahme des EWSA, ABl. C 347/01 vom 18.12.2010.

(9)  „Aktionsrahmen für den lebensbegleitenden Erwerb beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen“ (2002) und „Eigenständige Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte“ (2010).

(10)  Initiativstellungnahme des EWSA, ABl. C 318/43 vom 29.10.2011.

(11)  KOM (2011) 367 endgültig „Grünbuch zur Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen“, 22.6.2011.

(12)  http://ec.europa.eu/languages/pdf/business_en.pdf (auf Englisch).

(13)  http://ec.europa.eu/languages/pdf/doc5080_en.pdf (auf Englisch).

(14)  3073. Tagung des Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ am 7. März 2011.

(15)  „Ein Haushalt für Europa 2020“, KOM(2011) 500 endgültig, 29.6.2011.

(16)  Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsbildung zur Vereinfachung der Bewertung, Anerkennung und Akkumulation von beruflichen Kompetenzen und beruflichem Wissen.

(17)  Europäisches System zur Anrechnung von Studienleistungen.

(18)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 100/140 vom 30.4.2009.

(19)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 100/136 vom 30.4.2009.

(20)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 162/90 vom 25.6.2008.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen (Art. 54 Abs. 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.10

Ändern:

Wirtschaftsverbände sollten aktiv in die Informations- und Beratungssysteme einbezogen werden, da sie Bereitstellung von Informationen zu den Berufsbildungsmöglichkeiten und den Arbeitsmarktchancen sind. Sie sollten den Bildungsanbietern bei der Entwicklung von Verfahren für ein arbeitsintegriertes Lernen sowie neuer Verfahren zur Seite stehen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

81

Nein-Stimmen

:

100

Enthaltungen

:

20

Ziffer 1.18

Ändern:

Die Vorstellungen und Wünsche von Schülern und Studenten und die Erwartungen ihrer Familien sollten der Nachfrage seitens der Arbeitgeber werden. In Zukunft werden die Bürgerinnen und Bürger auf das neue EU-Kompetenzpanorama mit Vorhersagen zum Qualifikationsangebot und dem Arbeitskräftebedarf zurückgreifen können.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

75

Nein-Stimmen

:

127

Enthaltungen

:

18


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jugendbeschäftigung, Berufsqualifikationen und Mobilität“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 68/02

Berichterstatterin: Dorthe ANDERSEN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Jugendbeschäftigung, Berufsqualifikationen und Mobilität

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 173 gegen 1 Stimme bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die demografische Entwicklung stellt große Anforderungen an den Arbeitsmarkt. Die Folgen der Wirtschaftskrise zeigen, dass die Arbeitsmärkte unter strukturellen Problemen leiden. Insbesondere jungen Menschen fällt es schwer, trotz passender Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt richtig Fuß zu fassen. Deshalb sollen die Mitgliedstaaten die Reformen durchführen, die in der Europa-2020-Strategie und den nationalen Reformprogrammen zur Wiederherstellung des Wachstums festgelegt sind.

1.2   Die Jugendarbeitslosigkeit bringt große wirtschaftliche und soziale Nachteile für die Gesellschaft und die jungen Menschen selbst mit sich und schränkt die Wachstumsmöglichkeiten ein. Europas Wettbewerbsfähigkeit wird in hohem Maße von qualifizierten Arbeitskräften abhängen und es läuft Gefahr, im Wettlauf um Facharbeiter und hochqualifizierte Arbeitskräfte zurückzufallen.

1.3   Niemand weiß wirklich, wie die Arbeitsplätze von morgen aussehen werden, aber die Ausbildungen sollten vom Bedarf der Arbeitsmärkte und den tatsächlich zu lösenden Aufgaben ausgehen. Die Anerkennung von außerhalb der Ausbildungssysteme erworbenen Qualifikationen sollte gestärkt werden. Der Schwerpunkt der Lehrpläne sollte mehr auf allgemeine und innovative Kompetenzen gelegt werden.

1.4   Die Schranken zwischen Bildungswesen und Arbeitsmarkt sollten abgebaut werden und von den herkömmlichen finanziellen Erwägungen ist abzusehen. Die Partnerschaft zwischen Unternehmen und Bildungswesen sollte im Hinblick auf die Entwicklung von Lehrplänen und Antizipierung des künftigen Bedarfs vertieft werden. Ausbildung sollte zu Beschäftigung führen.

1.5   Duale Ausbildung und Praktika sollten im Bildungswesen zunehmen – auch bei relevanter Hochschulbildung und bei der Berufsbildung. Synergien zwischen praktischer Tätigkeit und Schulung am Arbeitsplatz sowie theoretischem Unterricht stärken die Beschäftigungsfähigkeit der Jugendlichen, sorgen für einen besseren Berufseinstieg und geben Impulse für die Unterrichtsentwicklung.

1.6   Länder, die ein duales Ausbildungssystem einführen wollen, sollten zur Deckung der dadurch entstehenden Anfangskosten aus dem europäischen Sozialfonds Zuschüsse erhalten.

1.7   Ein offener und dynamischer Arbeitsmarkt kann die Mobilität fördern und insbesondere für junge Menschen Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Gemäß der Europa-2020-Strategie und den nationalen Reformprogrammen sind die Mitgliedstaaten gehalten, ihre Arbeitsmärkte zu modernisieren, um deren Aufnahmekapazität zu vergrößern und ihr Funktionieren zu verbessern.

1.8   Eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitssuchende und Beschäftigte zum lebenslangen Lernen motiviert, trägt zur Stärkung der beruflichen und geografischen Mobilität bei und schafft dadurch mehr Beschäftigungsmöglichkeiten.

2.   Ziele und Einleitung

2.1   Europas Jugend ist Europas Zukunft. Aber viele junge Menschen haben keinen Arbeitsplatz oder nicht die richtigen Qualifikationen. Außerdem fällt es vielen Jugendlichen schwer, trotz passender Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

2.2   In dieser Stellungnahme geht es um die Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen. Hierzu gehören der künftige Bedarf an technischen und Facharbeitskräften, der Zugang junger Menschen zum Arbeitsmarkt und die berufliche Mobilität. Die Rede ist von den Kernarbeitskräften mit einer technischen oder fachlichen Ausbildung oder mit mittleren Qualifikationen, die im Jahre 2020 laut CEDEFOP 50 % der künftigen Erwerbstätigen ausmachen werden.

2.3   In der Stellungnahme sollen konkrete Vorschläge unterbreitet werden, um die Beschäftigungsmöglichkeiten junger Menschen zu verbessern und den Unternehmen die richtigen Qualifikationen zu garantieren.

2.4   Der Begriff „Qualifikationen“ deckt zahlreiche Aspekte ab, z.B. soziale und allgemeine Kompetenzen sowie technische und fachliche Kompetenzen und Qualifikationen, die sowohl im Rahmen eines Systems für allgemeine und berufliche Bildung als auch über Arbeit sowie soziale und familiäre Beziehungen und Tätigkeiten erworben wurden.

2.5   Mit dieser Stellungnahme sollen zwei eng miteinander verknüpfte Fragen beantwortet werden: (1) Welche Qualifikationen werden künftig auf dem Arbeitsmarkt benötigt? und (2) Wie lassen sich die Integration der Jugendlichen und Möglichkeiten für berufliche Mobilität garantieren?

2.6   Die Europäische Kommission hat hier mehrere Leitinitiativen auf den Weg gebracht, zuletzt „Jugend in Bewegung“ und „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“. Diese Leitinitiativen sind von zentraler Bedeutung und umfassen verschiedene Initiativen zur Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Menschen. In den einschlägigen Stellungnahmen des EWSA wird darauf abgestellt (1).

3.   Die europäische Realität

3.1   Aufgrund der demografischen Entwicklung geht die Erwerbsbevölkerung in der EU zurück: die geburtenstarken älteren Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt und die geburtenschwachen jüngeren Jahrgänge rücken nach. Dadurch steht der Arbeitsmarkt vor großen Herausforderungen, denn ein großes Angebot an qualifizierten Arbeitskräften ist für das Wachstum in Europa entscheidend.

3.2   Laut der jüngsten Ausgabe der Veröffentlichung „Quarterly Employment and social situation review“ der Europäischen Kommission erholt sich der Arbeitsmarkt der EU nur langsam und uneinheitlich. Es werden neue Arbeitsplätze geschaffen, allerdings nicht genug, und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit (20,3 %) lässt den Bedarf an raschem und effektivem Handeln erkennen.

3.3   Die Arbeitslosigkeit betrifft alle Gruppen junger Menschen, auch die Problemgruppen, unabhängig von ihrem Bildungs- und Ausbildungsstand. Allerdings ist das Risiko keine Arbeit zu finden, für Jugendliche mit einem niedrigeren Bildungs- und Ausbildungsstand oder ohne Berufserfahrung höher. Außerdem ist auch die Langzeitarbeitslosigkeit gestiegen, im März 2011 auf 9,5 %, und gerade viele junge Menschen laufen Gefahr, langzeitarbeitslos zu werden.

3.4   Sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Unterbeschäftigung von Jugendlichen bringen große wirtschaftliche und soziale Nachteile für die Gesellschaft und die jungen Menschen selbst mit sich und schränken die Wachstumsmöglichkeiten ein.

3.5   Der Krise ging ein Zeitraum voraus, in dem relativ viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Laut Europäischer Kommission entstanden zwischen 1995 und 2006 20 Mio. neue Arbeitsplätze.

3.6   Gleichzeitig gingen während der Krise etwa 5 Mio. Arbeitsplätze verloren. Laut Eurofound handelt es sich dabei insbesondere um Niedriglohnarbeitsplätze für Ungelernte. Allerdings sind hier große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zu verzeichnen.

3.7   Das CEDEFOP rechnet mit der Schaffung von ca. 7 Mio. neuen Arbeitsplätzen im Zeitraum 2010-2020 sowie mit ca. 73 Mio. freiwerdenden Stellen infolge der demografischen Entwicklung. Die Schaffung von Arbeitsplätzen wird sich insbesondere auf höhere Qualifikationen konzentrieren.

3.8   Paradoxerweise ist in bestimmten Ländern und Branchen bei einer gleichzeitig hohen Zahl von Arbeitslosen ein Arbeitskräftemangel festzustellen, was auf fortwährende strukturelle Probleme auf den europäischen Arbeitsmärkten hinweist. Z.B. waren in den Niederlanden Ende 2009 118 000 offene Stellen zu verzeichnen, und in Deutschland und Polen sind 87 800 bzw. 18 300 Arbeitsplätze in der IT-Branche unbesetzt.

3.9   Die Wettbewerbsfähigkeit des Privatsektors wird in hohem Maße von qualifizierten Arbeitskräften abhängen. Wenn Privatunternehmen in Europa keine geeigneten Arbeitskräfte finden, können sie sich genötigt sehen, in anderen Regionen der Welt zu suchen, wo sie zu finden sind. Die demographische Entwicklung wird auch dazu führen, dass in der Altenpflege und -betreuung sowie im Gesundheitswesen mehr Arbeitskräfte benötigt werden.

4.   Der künftige Bedarf an Arbeitskräften

4.1   Die sinkende Beschäftigung und das dringend erforderliche Wachstum verstärken die Notwendigkeit, dass die kommenden Generationen von jungen Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, über einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand verfügen, der dem bestehenden und künftigen Bedarf entspricht. Dazu gehört, dass die Zahl der Schulabbrecher sinkt und mehr Jugendliche eine Berufsausbildung abschließen. Außerdem ist entscheidend, dass der Arbeitsmarkt darauf ausgerichtet ist, dass junge Menschen dort Fuß fassen können. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass der Übergang von der Ausbildung zur Beschäftigung schwierig ist. Zudem erschweren Ausbildungsbarrieren und beschäftigungsrechtliche Hemmnisse den Arbeitsplatzwechsel.

4.2   Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich im Rahmen der Europa-2020-Strategie, der bewährten Verfahrensweisen und der nationalen Reformprogramme bereits zu verschiedenen Reformen verpflichtet. In diesem Zusammenhang hat eine Reihe von Mitgliedstaaten Reformen vorgeschlagen, um ihr Bildungssystem enger mit dem Bedarf auf den Arbeitsmärkten abzustimmen.

4.3   In der Europa-2020-Strategie werden zwei zentrale Ziele im Bereich allgemeine und berufliche Bildung festgelegt. Allerdings geht es dabei um rein quantitative Ziele. Genauso interessant ist die Fähigkeit der Bildungs- und Ausbildungssysteme, den Jugendlichen die richtigen Qualifikationen mit auf den Weg zu geben, die sie einsetzen können und die gefragt sind.

4.4   Laut Prognosen wird der Bildungs- und Ausbildungsstand der Bürger in Europa weiter steigen, aber es besteht die Gefahr einer Polarisierung. Bestimmten Prognosen zufolge wird das Ziel, dass mindestens 40 % der 30- bis 34-Jährigen über eine Hochschulbildung verfügen, wahrscheinlich 2017 erreicht sein.

4.5   Hingegen sieht es für das Ziel, den Anteil der Schulabbrecher 2020 auf höchstens 10 % zu senken, längst nicht so gut aus. Das CEDEFOP beispielsweise schätzt, dass 2020 mindestens 83 % der 22- bis 24-Jährigen (gegenüber 78 % 2010) die Sekundarstufe II – d.h. Berufsausbildung oder Gymnasialbildung – abgeschlossen haben. Für die Sicherung eines großen Angebots an qualifizierten Arbeitskräften ist die Tatsache, dass viele Jugendliche ungelernte Arbeitskräfte sind, eine große Herausforderung, da für die Arbeitsplätze der Zukunft hauptsächlich hochqualifizierte oder Facharbeitskräfte benötigt werden. Deshalb gilt es als Erstes dafür zu sorgen, dass mehr junge Menschen eine qualifizierte Ausbildung abschließen und dazu gehört auch die Berufsausbildung.

4.6   Globalisierung und neue Technologie werden den Arbeitsmarkt verändern, und dies wird sich unter anderem in immer kürzeren Produktlebenszyklen ausdrücken. Durch Verlagerungen zwischen den Branchen und neue Arten der Arbeitsorganisation entstehen neue Arbeitsplätze, aber auch der Bedarf an neuen Kompetenzen.

4.7   Dadurch werden höhere Anforderungen an lebenslanges Lernen, die Erwachsenenbildung und die Anpassungsbereitschaft gestellt, die nunmehr zum Arbeitsleben gehören. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung, in deren Rahmen insbesondere die Sozialpartner und die Bildungseinrichtungen gemeinsame innovative Lösungen finden können.

4.8   Laut CEDEFOP wird die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften bis 2020 um beinahe 16 Mio. und die Nachfrage nach Arbeitskräften mit mittleren Qualifikationen um 3,5 Mio. steigen. Umgekehrt wird bei der Nachfrage nach Geringqualifizierten ein Rückgang um etwa 12 Mio. erwartet.

4.9   Im Zeitraum 2010-2020 wird ein erheblicher Beschäftigungsrückgang in den Primärindustrien, aber auch in Produktion und Fertigung erwartet. Das größte Wachstum wird es in der Dienstleistungsbranche geben, insbesondere bei Unternehmensdienstleistungen, aber auch Vertrieb, Catering, Gesundheitswesen und Transport sind expandierende Sektoren. Wissensintensive, aber auch weniger wissensintensive Sektoren, wie z.B. der Einzelhandel, werden wachsen. Die Entwicklung hin zu einer wissensbasierten Wirtschaft sowie einer innovationsgesteuerten und sich rasch verändernden Welt geht weiter. Deshalb ist es wichtig, dass die größere Fachkompetenz in Wissen umgesetzt wird, was wiederum in Innovationen sowie neuen Produkten und Dienstleistungen resultiert. Die Anpassungsbereitschaft ist nach wie vor ein zentraler Parameter sowohl für den Einzelnen als auch für das Bildungssystem, um dem Bedarf des Arbeitsmarktes zu entsprechen.

4.10   Bei der Analyse der Beschäftigungsmuster und dem Kompetenzbedarf der Zukunft ist Innovation ein Schlüsselelement. Bei der Innovation geht es um die Fähigkeit, Prozesse und Methoden zu verbessern, aber auch allgemeine Kompetenzen, wie Kreativität, Problemlösungs-, Zusammenarbeits- und Führungskompetenzen sowie Unternehmungsgeist, spielen eine Rolle. So arbeiten beispielsweise im wissensintensiveren Bereich der Industrie zahlreiche Menschen, die nicht direkt hochqualifiziert sind, aber z.B. durch die Verbesserung von Arbeitsprozessen oder der Organisation zur Innovation beitragen.

4.11   Einige Studien zeigen, dass die dem Wachstum zugrundeliegende Innovation in erster Linie von den Unternehmen ausgeht. Die Unternehmen entwickeln sich aufgrund des Inputs und der Forderungen von Kunden, Zulieferern und Mitarbeitern.

4.12   Allerdings sollte Innovation nicht als eine Disziplin verstanden werden. Die Innovationskapazität stellt neue Anforderungen an die Bildungssysteme, u.a. die Frage, wie sich die innovativen Kompetenzen der Jugendlichen stärken lassen, sodass sie im Arbeitsleben direkt zum Wertzuwachs in unserer Gesellschaft beitragen können.

5.   Die künftigen Kernarbeitskräfte und das Bildungssysteme

5.1   Niemand weiß wirklich, wie die Arbeitsplätze von morgen aussehen werden. Die EU wird bald ein EU-Kompetenzpanorama lancieren, während branchenspezifische Kompetenzgremien (SSC = Sector Skills Council) in der EU eingerichtet werden und der künftige Bedarf sowie Engpässe immer besser prognostiziert werden können. Aufgrund des globalen Wettbewerbs, der technischen Entwicklung sowie der Zu- und Abwanderung werden Flexibilität und Anpassungsvermögen des Bildungssystems zu einem ausschlaggebenden Faktor.

5.2   Weiterhin wird eine weitaus engere Verzahnung und Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Regierungen und Arbeitgebern benötigt, zum Beispiel bei der Ausarbeitung der Lehrpläne. Qualifikationen werden lebenslang über Ausbildungen und bei der Arbeit erworben und weiterentwickelt. Allerdings können sie auch außerhalb des Arbeitsmarkts erworben werden, was stärker gewürdigt werden sollte.

5.3   Die Ausbildung der künftigen Kernarbeitskräfte beginnt bereits früh in der Grundschule, deren Unterrichtsqualität gestärkt werden soll. Dabei sollen Kinder und Jugendlichen in der Schule auch lernen zu lernen und sich neues Wissen anzueignen. Wichtig sind z.B. die schulische Orientierung in der Primarstufe und der Sekundarstufe I und die Berufsberatung. Die Lehrer brauchen diesbezügliche Kompetenzen.

5.4   Das Berufsbildungssystem wird in einer anderen Stellungnahme des EWSA behandelt (2), aber Berufsausbildungen spielen für die künftige Sicherung der richtigen Qualifikationen eine Schlüsselrolle.

5.5   Berufsausbildungen stehen inzwischen vor großen Herausforderungen. Das betrifft z.B. Image und Qualität der Ausbildungen, die Abdeckung der für das Berufsleben benötigten Qualifikationen und die Förderung des Berufseinstiegs. Bei vielen Berufsausbildungen sind hohe Durchfallquoten infolge mangelnder Grundschulkenntnisse der Jugendlichen, z.B. Lesekompetenz, festzustellen. Zudem ist der Übergang vom Berufsbildungssystem zum Hochschulbildungssystem häufig schwierig. Schließlich lässt sich auch noch eine Geschlechtersegmentierung der Ausbildungsgänge beobachten.

5.6   Bei den Berufsausbildungen haben einige Länder ein duales System eingeführt. Das heißt, dass die Ausbildung zwischen Schulunterricht sowie Arbeit und Ausbildung im Unternehmen wechselt. Durch den engen Kontakt zum Unternehmen entstehen Brücken ins Arbeitsleben und wird sichergestellt, dass der Großteil der Personen mit Berufsbildungsabschluss schnell einen Arbeitsplatz findet. Im Gegensatz hierzu sind z.B. das schwedische, belgische und spanische Berufsbildungssystem durch geringe Unternehmenskontakte gekennzeichnet, da die Berufsausbildungen hauptsächlich in der Schule abgewickelt werden. Gleichzeitig haben viele junge Menschen in diesen Ländern Probleme, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

5.7   Da die Kombination aus Arbeit, Praxis und Schulausbildung von vielen (Kommission, OECD, Parlament …) als guter Einstieg in den Arbeitsmarkt hervorgehoben wird, wird der EWSA konkrete Initiativen vorschlagen, wie die Praktika des dualen Ausbildungssystems in der EU weiter verbreitet werden können.

6.   Berufseinstieg und berufliche Mobilität

6.1   Der Übergang von der Ausbildung zum Arbeitsplatz – und damit vom Berufsbildungssystem zum Arbeitsmarkt – ist oft stark von herkömmlichen finanziellen Erwägungen geprägt. Obwohl eine engere Verknüpfung von Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt und die För–derung des Zugangs der Jugendlichen zum Arbeitsmarkt politische Prioritäten der EU sind, haben die letzten Jahre gezeigt, dass hier große Herausforderungen bestehen.

6.2   Die berufliche und geographische Mobilität in Europa ist immer noch eingeschränkt, und sie wird oft durch Barrieren in den Qualifikationssystemen, Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen oder unzureichende Beratung erschwert. Insbesondere den Austausch- und Mobilitätsprogrammen der EU kommt hier eine zentrale Rolle zu, weshalb sie zu stärken sind. Im Mittelpunkt stand bisher vor allem die Hochschulbildung, während künftig auch die Mobilitätsmöglichkeiten für technische und Berufsausbildungen in den Mittelpunkt gestellt werden sollten, wie zum Beispiel im Wege von grenzüberschreitenden Unternehmenspraktika. So können zum Beispiel grenzüberschreitende Praktikumsregelungen in den Grenzgebieten die Situation verbessern, wenn in einem Land Mangel an Praktikumsplätzen herrscht, während im Nachbarland ein großes Angebot besteht.

6.3   Das duale Ausbildungssystem könnte hier als Sprungbrett für einen guten und sicheren Start der jungen Menschen auf dem Arbeitsmarkt und als Garant dafür dienen, dass den Unternehmen die richtigen Qualifikationen zur Verfügung stehen. Eine Eurobarometer-Untersuchung hat beispielsweise ergeben, dass 87 % der Arbeitgeber praktische Berufserfahrungen, etwa in Form eines Praktikums, bei der Einstellung als wesentlich betrachten.

6.4   Die Kombination von theoretischem Unterricht in der Schule und Lernen am Arbeitsplatz sollte eine stärkere Verbreitung finden. Allerdings sollte es hierfür einen festen vertraglichen Rahmen geben, in dem die Ausbildungsverpflichtungen des jeweiligen Unternehmens gegenüber dem Jugendlichen sowie die Verpflichtungen des einzelnen Auszubildenden festgelegt sind. Damit wäre allen Beteiligten gedient. Die Unternehmen können zum einen aus einem größeren Arbeitskräfteangebot auswählen, zum anderen profitieren sie auch von neuem Wissen und Inspiration. Den Bildungseinrichtungen wiederum wird das Tor zu mehr Wissen und zur Zusammenarbeit mit der Wirtschaft geöffnet. Der Einzelne profitiert über die praktische Erfahrung in der Arbeitswelt.

6.5   Da anfänglich für den Aufbau und die Verbreitung eines dualen Ausbildungssystems Mehrkosten entstehen, könnten die EU-Fonds und -Programme, z.B. der Sozialfonds, solchen Ländern und Regionen, die das duale System einführen wollen, mit einer Anschubfinanzierung helfen.

6.6   Es müssen allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein guter Berufseinstieg gelingt und die berufliche Mobilität sowie das berufliche Fortkommen gewährleistet sind. Es geht sowohl darum, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern als auch für offene und dynamische Arbeitsmärkte zu sorgen, die einerseits die Mobilität unterstützen und andererseits den Jugendlichen einen sicheren Start garantieren. Ein Arbeitsmarkt mit vielen Arbeitsplatzangeboten und die freiwillige berufliche Neuorientierung tragen dazu bei, jungen Menschen den Weg zu ebnen.

6.7   Im Rahmen von Europa 2020 reformieren viele Länder ihre Arbeitsmärkte, um deren Aufnahmekapazität zu vergrößern und ihr Funktionieren zu verbessern. Insbesondere mit Blick auf einen reibungsloseren Eintritt junger Menschen kommt es darauf an, die Hürden abzubauen, die Arbeitgeber davon abhalten, jungen Menschen ein normales Beschäftigungsverhältnis zu bieten. Dieses sollte weder Arbeitgebern noch Mitarbeitern Vorteile oder Nachteile bringen; einzig und alleine die Art der Arbeit sollte dafür ausschlaggebend sein, welche Vertragsform für die Einstellung gewählt wird.

6.8   Es geht deshalb darum, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu gestalten, die sowohl den Arbeitssuchenden als auch den Beschäftigen Anreize für lebenslanges Lernen, Weiterbildung und Weiterqualifizierung bietet. Gefragt ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die zur Verbesserung der Mobilität beiträgt und dadurch gerade auch jungen Menschen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt eröffnet.

6.9   Zugleich können individuelle Ansprüche aller Art, die nicht an ein bestimmtes Unternehmen oder einen Arbeitsplatz geknüpft sind, jedoch den Einzelnen – auch beim Arbeitsplatzwechsel – begleiten, zur Mobilität auf dem Arbeitsmarkt beitragen, wie etwa Rentenansprüche und Bildungsangebote, die aus Fondsmitteln finanziert werden.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahmen des EWSA zum Thema „Jugend in Bewegung“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 55 und zum Thema „Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten“, ABl. C 318, 29.10.2011, S. 142.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung“ (Siehe Seite 1 dieses Amtsblatts).


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Errichtung einer künftigen Europäischen Energiegemeinschaft“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 68/03

Berichterstatter: Pierre-Jean COULON

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juni 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Errichtung einer künftigen Europäischen Energiegemeinschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 183 gegen 2 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die jüngsten Initiativen der Europäischen Kommission zum Ausbau des Verbunds und zur Vollendung des Energiebinnenmarkts. Er unterstützt auch die Bemühungen, insbesondere die des Rates, zur Stärkung der internationalen Position der EU und der Mitgliedstaaten. Der EWSA nimmt insbesondere den Energiefahrplan 2050 zur Kenntnis, den die Europäische Kommission am 15. Dezember 2011 vorgelegt hat, vor allem um „zu einer europäischen Herangehensweise zu gelangen, bei der alle Mitgliedstaaten von einem gemeinsamen Verständnis […] ausgehen […]“.

1.2   Der EWSA unterstützt grundsätzlich die Schaffung einer Europäischen Energiegemeinschaft (EEG) und stimmt auch den dazu erforderlichen Zwischenschritten zu, vor allem den regionalen europäischen Energienetzen, dem Fonds für die Entwicklung erneuerbarer Energieträger und der Einkaufsallianz für Erdgas.

1.3   Der EWSA empfiehlt, weitere Schritte zu unternehmen und die europäischen Märkte zu integrieren, um zu einer Annäherung und Senkung der Energiepreise zu gelangen. Er fordert auch, dass auf EU-Ebene die kohärentesten und effizientesten Entscheidungen mit Blick auf den Energiemix getroffen werden. So könnten Ländergruppen förmliche Vereinbarungen über eine verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage vorrangiger Infrastruktur- oder Verbundvorhaben und der gegenseitigen Ergänzung bei der Energieerzeugung und -versorgung eingehen.

1.4   Der EWSA schlägt vor, Investitionen, auch einzelstaatliche, auf die Forschung im Bereich der CO2-armen Energietechnologien zu konzentrieren. Der Schwerpunkt sollte auf die erneuerbaren Energieträger und Großprojekte gelegt werden, die zur Reindustrialisierung Europas sowie zur Beschäftigungsförderung beitragen können.

1.5   Nach Auffassung des EWSA sollte der allgemeine Zugang zu Energie zu den Zielen der gemeinsamen Energiepolitik der EU gehören. Er fordert, dass die zuständigen Stellen bzw. die Energieverteiler die Endverbraucher systematisch über ihre Rechte aufklären und dass der Verbraucherschutz gegebenenfalls gestärkt wird. Er empfiehlt, unverzüglich das Problem der Energiearmut anzugehen, insbesondere durch einen europäischen Pakt der Energiesolidarität.

1.6   Der EWSA spricht sich für die Schaffung einer gemeinsamen Struktur für die Versorgung mit fossilen Energieträgern aus. Er fordert die Stärkung der Zuständigkeiten der EU bei der Aushandlung und Kontrolle internationaler Abkommen über Energielieferungen.

1.7   Der EWSA empfiehlt, die Zusammenarbeit im Energiebereich mit den Entwicklungsländern und den Nachbarstaaten der EU im Sinne der Entwicklung und Partnerschaft zu vertiefen.

1.8   Angesichts der Bedeutung von Umweltfragen, der Höhe der zu tätigenden Investitionen, der sozialen Auswirkungen politischer Entscheidungen, der Folgen für das tägliche Leben sowie der erforderlichen Unterstützung durch die Öffentlichkeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger informiert und in die Diskussionen über Energiefragen eingebunden werden. Der EWSA fordert die Gründung eines europäischen Forums der Zivilgesellschaft, das sich mit Energiefragen beschäftigt, in dessen Rahmen die Mitgliederorganisationen ihre Standpunkte gegenüber den Entscheidungsträgern geltend machen können.

1.9   Im EWSA müssen regelmäßig strukturierte Diskussionen mit der europäischen Zivilgesellschaft über die Fortschritte bei der Schaffung der europäischen Energiegemeinschaft stattfinden.

1.10   Der EWSA empfiehlt, bis 2014 die Fortschritte auf der Grundlage von Artikel 194 AEUV zu bewerten und zu prüfen, ob im Einklang mit den Vorschlägen dieser Stellungnahme Veränderungen nötig sind.

2.   Die Energiepolitik der EU: Herausforderungen, Fortschritte, Grenzen

2.1   Die energiepolitische Situation innerhalb der EU ist durch ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch sowie eine starke und anhaltende Abhängigkeit von kohlenstoffhaltigen Energieträgern gekennzeichnet. Die Europäische Union steht deshalb gleichzeitig vor drei wichtigen Aufgaben, die zunächst einmal nur schwer miteinander vereinbar sind:

Eindämmung des Klimawandels und Übergang zu einer Gesellschaft mit geringem CO2-Ausstoß,

Integration und Effizienz des Energiebinnenmarkts sowie Gewährleistung erschwinglicher Energiepreise und

Sicherung der Energieversorgung.

2.2   Obwohl bereits 1996 die Schaffung eines Elektrizitäts- und Gasbinnenmarkts als Ziel beschlossen wurde (erstes Liberalisierungspaket), besteht der Energiebinnenmarkt fünfzehn Jahre später im Wesentlichen immer noch nur auf dem Papier: Nur 10 % des Stroms wird in ein anderes Land geleitet, die Verbraucher können nach wie vor keinen Anbieter mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat wählen, der Ausbau der erneuerbaren Energieträger – die die wichtigste Stromerzeugungsquelle werden sollen – beruht weiterhin auf nationalen Förderinstrumenten, die Netzplanung liegt immer noch zum großen Teil in nationaler Zuständigkeit (die Energieagentur ACER ist nur für die grenzüberschreitenden Kapazitäten zuständig, obwohl es in einem echten integrierten Markt auch gemeinsame Maßnahmen für die nationalen Netze geben sollte), die EU tritt gegenüber den Lieferländern noch immer nicht geeint auf usw. Die wichtigsten Maßnahmen, die die Gas- und Stromwirtschaft beeinflussen, werden nach wie vor hauptsächlich auf nationaler Ebene beschlossen.

2.3   Die Tragweite dieser Fragen und das hohe Maß an gegenseitiger politischer, wirtschaftlicher und technischer Abhängigkeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU machen ein gemeinsames Vorgehen erforderlich, bei dem das kollektive Interesse der EU über die als national wahrgenommenen Interessen gestellt wird.

2.4   Nunmehr geht es darum, den Energiebinnenmarkt im Jahr 2014 zu vollenden. Die Errichtung eines europäischen Energiesystems entspricht den Wünschen der Europäer. Aus Eurobarometer-Umfragen des Europäischen Parlaments (EB Standard „Energie“ 74.3 vom 31.1.2011 und EB Spezial 75.1 vom 19.4.2011) geht hervor, dass erstens die Europäer glauben, dass Maßnahmen der EU einen zusätzlichen Nutzen bringen, und einen gemeinschaftlichen Ansatz bevorzugen, und zweitens ihre Sorgen den oben genannten großen Herausforderungen entsprechen und (in dieser Reihenfolge) der Preisstabilität, den erneuerbaren Energieträgern und der Sicherung der Energieversorgung gelten. 60 % der Europäer sind der Meinung, dass sie durch die Koordinierung mit anderen EU-Ländern in der Frage der Versorgungssicherheit besser geschützt wären. Schließlich sprechen sich 78 % der Europäer für den Vorschlag zur Gründung einer Europäischen Energiegemeinschaft aus.

2.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU wieder an Ansehen gewinnen kann, wenn sie auf diese drängenden Sorgen der Bürgerinnen und Bürger eingeht. Die schrittweise Errichtung einer Europäischen Energiegemeinschaft ist der beste Weg, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der energiepolitischen Herausforderungen für die Europäer abzufedern. Die tatsächliche gegenseitige Abhängigkeit der Mitgliedstaaten in Energiefragen könnte eine erhebliche Gefahr für den Zusammenhalt der EU bedeuten, wenn sie nicht mit demokratischen Steuerungsinstrumenten einhergeht, mit deren Hilfe gemeinsame Entscheidungen zum Wohle aller getroffen werden können.

3.   Auf dem Weg zu einer Europäischen Energiegemeinschaft

3.1   Vor diesem Hintergrund hat Jacques DELORS angeregt, eine echte „Europäische Energiegemeinschaft“ (EEG) zu schaffen. Dieses Projekt wird von Jerzy BUZEK unterstützt. Der EWSA ist der Auffassung, dass dieses politische Vorhaben, das Gegenstand eines detaillierten Berichts der Strategiegruppe „Notre Europe“ war (http://www.notre-europe.eu/uploads/tx_publication/Etud_Energie_fr.pdf), eine geeignete Antwort auf die Herausforderungen sein und zugleich dem europäischen Aufbauwerk neues Ansehen und neuen Schwung verleihen könnte.

3.2   Es werden mehrere Optionen vorgeschlagen, die von der Beibehaltung des Status quo (Artikel 194 AEUV) bis zum Abschluss eines neuen europäischen Energievertrags reichen.

3.3   Auch Zwischenschritte werden vorgeschlagen:

eine verstärkte Zusammenarbeit im Hinblick auf europäische regionale Energienetze,

ein gemeinsamer Energiefonds für die Entwicklung neuer Technologien,

die Schaffung einer europäischen Einkaufsallianz für Erdgas.

3.4   Der EWSA, der bereits Stellungnahmen verabschiedet hat, in denen die Idee europäischer Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Energiebereich vorgetragen wird (1), ist der Auffassung, dass es darum geht, die durch den Bericht der Strategiegruppe „Notre Europe“ ausgelöste Dynamik zu nutzen und weitere Schritte zu unternehmen, indem die Zivilgesellschaft in die Debatte eingebunden wird und Maßnahmen umgesetzt werden, um die Integrations- und Kooperationsziele zu verwirklichen.

4.   Die Europäische Union auf dem Weg zu einer stärker integrierten Energiepolitik

4.1   Der EWSA begrüßt die Initiativen der Europäischen Kommission zur Bewältigung der energiepolitischen Herausforderungen, vor allem ihre jüngsten Vorschläge zu den Themen Krisenprävention, Netze und Infrastruktur sowie Sicherung der Versorgung aus Drittstaaten. Diese Vorschläge tragen zur Solidarität, zur Zusammenarbeit und zu einer höheren Effizienz bei und dienen einer gemeinsamen Vision.

4.2   Der EWSA begrüßt den jüngsten Vorschlag für eine Verordnung zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur (KOM(2011) 658 endg.), der sich aus dem 2010 vorgelegten Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz ergibt (KOM(2010) 677 endg.). Er wird seine Position dazu in einer eigenen Stellungnahme formulieren (Stellungnahme TEN/470).

4.3   Der EWSA unterstützt die Initiativen der Kommission, der Energiepolitik der EU eine integrierte und kohärente externe Dimension zu verleihen, die dazu beiträgt, die Sicherheit der aus Drittstaaten stammenden Lieferungen zu gewährleisten (KOM(2011) 539 endg.). Der EWSA unterstützt jegliche Stärkung der Position der EU gegenüber ihren externen Partnern. Er beschäftigt sich mit dieser Frage in der Stellungnahme TEN/464.

4.4   Der EWSA unterstützt den Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Energiebereich (KOM(2011) 540 endg.). Dieser Vorschlag der Europäischen Kommission ist wichtig, um den Vorrang der kollektiven europäischen Interessen vor den nationalen Interessen zu bekräftigen (Stellungnahme TEN/464).

5.   Eine anspruchsvollere partizipative Dynamik zur Bewältigung künftiger Herausforderungen

5.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass die gemeinsame Steuerung in Energiefragen trotz erheblicher Fortschritte weiter ausgestaltet werden muss, insbesondere mit Blick auf das Ziel eines Energiesystems mit geringem CO2-Ausstoß, das bis 2050 verwirklicht werden soll.

Ein integrierter europäischer Energiemarkt

5.2   Durch die europäischen Rechtsvorschriften im Energiebereich muss ein gemeinsamer Ansatz bei der Energieerzeugung stärker gefördert werden. Dies gilt besonders für die erneuerbaren Energieträger, bei denen nationale Ziele festgelegt wurden. Zu bevorzugen sind die Investitionen, die sowohl unter dem Aspekt der Kosten als auch des Nutzens ihrer Erzeugung im EU-Gebiet am lohnendsten sind. Nötig ist auch eine stärkere Solidarität, wenn es in Europa zu Produktionsausfällen kommt. Dazu kann eine Anpassung der europäischen Rechtsvorschriften erforderlich sein.

5.3   Der EWSA verweist deshalb darauf, wie wichtig es ist, die Netze gemeinsam zu planen und zusammenzuschalten, um Netzengpässe, vor allem an den Grenzen, zu überwinden. In diesem Bereich sollte die Europäische Kommission eine führende Rolle übernehmen. Außerdem müssen die privaten Betreiber Planungssicherheit haben, was den Ertrag des investierten Kapitals betrifft. In diesem Zusammenhang könnten öffentlich-private Partnerschaften in Erwägung gezogen werden.

5.4   Auch wenn die Wahl des Energiemixes in nationaler Zuständigkeit liegt, müssen die Mitgliedstaaten verantwortungsbewusste Entscheidungen im Bereich der Energieerzeugung treffen. Die Beschlüsse, die einige Mitgliedstaaten ohne Rücksprache gefasst haben, beispielsweise als Reaktion auf den Störfall in Fukushima, und die es erschwert haben, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Energienachfrage und -produktion auf regionaler Ebene herzustellen, müssen angesichts der starken gegenseitigen Abhängigkeit künftig auf EU-Ebene abgestimmt werden. Infolge der zunehmenden Nutzung erneuerbarer Energieträger muss langfristig gemeinsam gewährleistet werden, dass bei geringer Produktion aus erneuerbaren Energieträgern eine ausreichende Energiereserve als Puffer vorhanden ist.

5.5   Die fehlende Koordinierung beeinträchtigt die Sicherheit der Energieversorgung der Mitgliedstaaten und macht somit die gleichzeitig unternommenen Anstrengungen zur Stärkung des Verbunds und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zunichte. Und dabei darf der kurzfristige Ausstieg aus der Atomenergie, die nur geringe CO2-Emissionen verursacht, nicht durch den massiven Rückgriff auf umweltschädliche Energieträger kompensiert werden, weil dies den Zielen der EU zuwiderlaufen würde. Der Ausstieg muss in größtmöglicher Transparenz und in Absprache mit den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft erfolgen.

5.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Unabhängigkeit der Energieversorgung angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit der Mitgliedstaaten in Energiefragen perspektivisch gesehen nur auf europäischer, nicht jedoch auf nationaler Ebene verwirklicht werden kann.

5.7   Der EWSA schlägt vor, zu prüfen, ob kleinere Gruppen von Mitgliedstaaten oder Anbietern auf der Grundlage ihrer jeweiligen Energiemixe und ihrer Verfahren des grenzüberschreitenden Energieaustauschs gemeinsame Konzepte ausarbeiten könnten. Eine solche regionale Koordinierung würde mehr Kohärenz zwischen den jeweiligen energiepolitischen Entscheidungen der betroffenen Mitgliedstaaten sowie eine stärkere Sicherheit ihrer Versorgung gewährleisten. Diese Gruppen könnten im Übrigen die Energieressourcen aller ihrer Mitglieder besser nutzen, was die erneuerbaren Energieträger sowie die Grundlasterzeugung aus anderen Energiequellen betrifft.

5.8   Der EWSA schlägt vor, dass diese Gruppen selbst über ihren Energiemix sowie ihre Netzinfrastruktur entscheiden. So könnten kohärente und miteinander verbundene regionale Energiegemeinschaften geschaffen werden. Sie hätten den Vorteil, dass sie ähnliche Marktbedingungen (Energiepreise, Förderung erneuerbarer Energieträger, Beziehungen zu den Abnehmern usw.) zwischen den jeweiligen Mitgliedstaaten herbeiführen würden.

5.9   Die erfolgreiche Harmonisierung eines Politikbereichs in einigen Regionen Europas, nämlich die Koppelung der Märkte für die Zuweisung von Übertragungskapazitäten, beweist, dass die Harmonisierung von Politikbereichen eindeutig Auswirkungen auf die Integration der Märkte hat. Durch die Koppelung verschiedener Länder über die Preise entsteht ein einheitliches Handelsgebiet, in dem dann auch einheitliche Preise gelten, wenn die Verbindungskapazitäten den grenzübergreifenden Handel nicht beschränken. Sie trägt damit zur Entstehung des europäischen Elektrizitätsbinnenmarkts bei. „Nord Pool Spot“ hat 1993 ein Preissplitting eingeführt, und 2006 wurde erstmals eine Preiskopplung zwischen Frankreich, Belgien und den Niederlanden angewandt. Allmählich werden die Marktbedingungen so gestaltet, dass die Verbraucher Anbieter aus ganz Europa wählen können.

5.10   Der EWSA weist auf die wirtschaftlichen Chancen hin, die diese makroregionalen Gruppen für die Mitgliedstaaten bieten können, vor allem wegen größenbedingter Einsparungen und der Entwicklung der Industrie im Zusammenhang mit erneuerbaren Energieträgern.

5.11   Der EWSA weist darauf hin, dass er für einen diversifizierten und nachhaltigen Energiemix eintritt. Nationale Entscheidungen müssen im Einklang mit den Rechtsvorschriften und Zielen der EU stehen. Nach Auffassung des EWSA dürfen diese Entscheidungen keine unverhältnismäßigen negativen Auswirkungen auf Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft haben. Die EU muss deshalb nach breiter und transparenter Konsultierung der Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft neue Energiequellen erschließen, beispielsweise Schiefergas, um der Gefahr vorzubeugen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten zunehmend unterschiedliche Konzepte verfolgen.

Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der EU: Bündelung und Aufstockung der Finanzmittel

5.12   Die gemeinsamen Forschungsanstrengungen der Mitgliedstaaten und Anbieter sind zu fördern, und es müssen geeignete Forschungsnetze und -gemeinschaften geschaffen werden, vor allem im Bereich der erneuerbaren Energieträger und der emissionsarmen Technologien, beispielweise mit Hilfe von Plattformen für technische Forschung.

5.13   Angesichts der beträchtlichen Investitionen, die nötig sind, sowie der gegenwärtigen Haushaltszwänge sollten die verfügbaren Mittel auf die großen Aufgaben konzentriert werden. Die Finanzierung durch nationale Mittel muss stärker mit der Finanzierung durch europäische Mittel verknüpft werden. Dies kann erfordern, dass die Mitgliedstaaten ihre nationale Förderung für die Forschung an den Projekten einsetzen, die im Zusammenhang mit den Zielen der EU stehen.

5.14   Es muss geprüft werden, ob eine Konsolidierung der verfügbaren Mittel für Infrastruktur und Forschung die Wirksamkeit der Finanzierung erhöhen kann. Möglicherweise müssten dann Energieprojekte feste Beträge im Rahmen der verschiedenen europäischen und nationalen Finanzierungsprogramme erhalten.

5.15   Wenn eine diesbezügliche Bewertung positiv ausfällt, könnten Anleihen zur Finanzierung von Projekten eine wirkungsvolle Möglichkeit sein, mehr Mittel für die Forschungsförderung und die Nutzung erneuerbarer Energieträger und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.

5.16   Die Darlehen der EIB müssen stärker auf prioritäre Infrastrukturprojekte der EU ausgerichtet werden. Investitionen der makroregionalen Gruppen von Mitgliedstaaten sollten durch Darlehen der EIB gefördert werden können.

5.17   Umfassende und koordinierte Anstrengungen zugunsten der erneuerbaren Energieträger könnten dazu beitragen, dass die EU einen Weg aus der gegenwärtigen Wirtschaftskrise findet. Die Verfügbarkeit erschwinglicher Energie ist ein grundlegendes Element der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Einige der zahlreichen positiven Auswirkungen wären: Schaffung von Arbeitsplätzen, Know-how und Reindustrialisierung der EU. Projekte wie Supergrid oder die Entwicklung und Nutzung intelligenter Netze wären geeignete Objekte industrieller Zusammenarbeit und verstärkter Innovation auf EU-Ebene.

Eine Energiepolitik für alle

5.18   Eines der Ziele der gemeinsamen Energiepolitik der EU muss neben der bloßen Marktintegration der allgemeine Zugang zu Energie sein.

5.19   Gerechte und transparente Energiepreise ermöglichen es Unternehmen, zu wachsen und Investitionen zu tätigen. Zu gewährleisten sind erschwingliche Energiepreise durch effiziente Entscheidungen, einen integrierten und transparenten Energiebinnenmarkt und verstärkte Kontrollbefugnisse der nationalen und europäischen Regulierungsbehörden.

5.20   Den Verbrauchern wurden mit den europäischen Rechtsvorschriften zwar Rechte eingeräumt, allerdings kennen sie diese Rechte nur unzureichend und nehmen sie nicht genügend wahr. Der EWSA fordert die zuständigen Stellen und Energieversorgungsunternehmen auf, die Endverbraucher systematisch über ihre Rechte zu unterrichten. Er fordert, dass in jedem Mitgliedstaat regelmäßig Berichte über die Anwendung der Verbraucherrechte veröffentlicht werden. Gegebenenfalls können zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Anwendung der Verbraucherrechte zu gewährleisten.

5.21   Im Winter 2010/2011 waren (je nach zugrunde gelegter Definition) zwischen 50 und 125 Millionen Europäer von Energiearmut betroffen. Dies waren die Ärmsten und jene, die unter schlechten Wohnbedingungen leiden, d.h. in schlecht isolierten Wohnungen leben und die nicht einmal die in den Mitgliedstaaten eingerichteten Sozialtarife bezahlen können. Neben den erforderlichen europäischen Anstrengungen in Bezug auf Energieeffizienz und Senkung der Nachfrage sollte nach Auffassung des EWSA erneut eine Stärkung von Verfahren der Solidarität zwischen den 27 Mitgliedstaaten erwogen werden, um gegen Energiearmut vorzugehen, wobei zunächst eine gemeinsame Definition zu erarbeiten ist (2).

5.22   Durch einen „europäischen Pakt der Energiesolidarität“ könnte so die strategische und grundlegende Dimension der Energiefrage (Zugänglichkeit, erschwingliche Tarife und Preise, Regelmäßigkeit, Verlässlichkeit, Herkunft) zur Geltung gebracht werden. Ein solcher sozial ausgerichteter, europäischer Schutzmechanismus für Energiefragen würde den Bürgern zeigen, dass Europa ihre Sorgen ernst nimmt. Er wäre untrennbarer Bestandteil der Bemühungen um eine konsequentere soziale Harmonisierung, die erstrebenswert ist, um das europäische Projekt zu stärken und wieder mit Inhalt zu erfüllen. Der Mechanismus sollte konkrete Maßnahmen auf angemessener Ebene umfassen.

Stärkung der externen Dimension der Energiepolitik der Europäischen Union

5.23   Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Strategiegruppe „Notre Europe“ zur Schaffung einer europäischen Einkaufsallianz für Erdgas, wenn die teilnehmenden Staaten und Unternehmen von der stärkeren Verhandlungsposition dieser Allianz profitieren, ihre Versorgung besser sichern und unter Einhaltung der Wettbewerbsregeln Preisschwankungen reduzieren können. Ein späterer Schritt könnte dann die Errichtung einer gemeinsamen Struktur für die Erdgasversorgung sein, die möglicherweise auch für andere fossile Energieträger zuständig ist.

5.24   In Fällen, die Auswirkungen auf mehrere Mitgliedstaaten haben, sollte der Rat der Europäischen Kommission das Mandat erteilen, im Namen der EU Abkommen über Energielieferungen mit Drittstaaten auszuhandeln. Der EWSA begrüßt die Entscheidung des Rates, die Europäische Kommission mit den Verhandlungen über Abkommen mit Aserbaidschan und Turkmenistan über die Lieferung von Erdgas durch die transkaspische Erdgasleitung im Namen der Mitgliedstaaten zu beauftragen. Der EWSA fordert Rat und Kommission auf, dies in ähnlichen Fällen generell so zu handhaben.

5.25   Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, alle mit Drittstaaten geschlossenen nationalen Energieversorgungsabkommen genauer zu überwachen. Die Europäische Kommission muss in der Lage sein, diese Abkommen in Abhängigkeit von ihren positiven bzw. negativen Auswirkungen auf die EU insgesamt zu billigen (TEN/464).

5.26   Der EWSA empfiehlt einen Ansatz bei der Entwicklung und der Partnerschaft mit den Euromed-Ländern und den östlichen Nachbarstaaten der EU, der es ermöglicht, die Energieversorgung der EU zu diversifizieren und zu sichern (vor allem mit Hilfe erneuerbarer Energieträger durch Desertec, Mediterranean Ring, Mediterranean Solar Plan, Medgrid) und ihren Partnern zu helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Die EU könnte technische Hilfe leisten sowie Fachwissen und Know-how im Bereich der Bildung und der Durchführung von Projekten bereitstellen (Stellungnahme REX/329).

5.27   Der EWSA ist der Auffassung, dass sich die Europäische Energiegemeinschaft und die Zwischenstufen auch stark nach außen engagieren müssen, um den Zugang der Entwicklungsländer zu Energie zu erleichtern. Diese Länder müssen dabei unterstützt werden, die von ihnen benötigte Energie zu erzeugen, aber sie müssen auch in der Lage sein, sie nach Europa zu exportieren, um ihre Investitionen zu finanzieren.

5.28   Der EWSA nimmt die Schlussfolgerungen des Rates (Verkehr, Telekommunikation und Energie) vom 24. November 2011 zur Kenntnis, in denen sich dieser für die Verstärkung der externen Dimension der Energiepolitik ausspricht. Er nimmt außerdem die Prioritäten des Rates zur Kenntnis und bekräftigt seine Forderung nach einer besseren Integration der Energiepolitik, zumindest nach systematischen Beratungen, bevor Entscheidungen getroffen werden. Dazu sollte nach Auffassung des EWSA in allen Fällen, wo dies sinnvoll ist, in enger Absprache mit den Mitgliedstaaten ein gemeinschaftlicher Ansatz erarbeitet werden.

Einbindung der Zivilgesellschaft

5.29   Angesichts der Bedeutung von Umweltfragen, der Höhe der zu tätigenden Investitionen, der sozialen Auswirkungen politischer Entscheidungen, der Folgen für das tägliche Leben sowie der erforderlichen Unterstützung der Öffentlichkeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürger in die Diskussionen über Energiefragen eingebunden werden. Die Europäer haben ein Recht auf eindeutige und transparente Informationen zu energiepolitischen Entscheidungen auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene (3). Diesbezüglich müssen die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte (WSR) eine wichtige Rolle spielen. Nötig sind Informationskampagnen und Konsultationen zu den großen energiepolitischen Herausforderungen in Europa. Besonderes Gewicht muss auch auf das Thema Energieeffizienz gelegt werden.

5.30   Die Bürger sollten auch in der Lage sein, regelmäßig ihren Standpunkt zu den großen energiepolitischen Entscheidungen einzubringen. Auf geeigneter Ebene könnten Konsultationen organisiert werden. Der EWSA führt seit vielen Jahren Konsultationen auf EU-Ebene durch (insbesondere zu den Themen Atomenergie und CO2-Abscheidung und –Speicherung, d.h. CCS). Die nationalen, regionalen und lokalen Stellen sind aufgefordert, eine umfassende Konsultation der Zivilgesellschaft vorzunehmen.

5.31   Der EWSA schlägt die Schaffung eines europäischen Forums der Zivilgesellschaft vor, das sich mit Energiefragen beschäftigt. Dieses Forum sollte eng mit den EU-Institutionen zusammenarbeiten, regelmäßig zusammenkommen und einen Beitrag zu einem Mehrjahresprogramm für die Integration des Energiemarkts leisten. In ihm könnten europäische und nationale Verbände aus dem Energiebereich mitarbeiten. Das Forum könnte zur Planung des Energienetzes der EU, zum Übergang zu einem Energiesystem mit geringem CO2-Ausstoß bis 2050 sowie den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen konsultiert werden. Seine Mitglieder sollten auch angemessene Informationen erhalten, die sie an die entsprechenden Verbände in den Mitgliedstaaten weitergeben könnten.

5.32   Eine zusätzliche Herausforderung besteht darin, dass die energiepolitischen Entscheidungen von der Öffentlichkeit akzeptiert werden müssen (Atomkraft, CCS, Windparks, Hochspannungsleitungen usw.). Partizipation und Verantwortung gehen Hand in Hand. Der EWSA, der den Vorsitz in der Arbeitsgruppe „Transparenz“ des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) führt, könnte über sein Internetportal zu einer transparenten Information der Bürgerinnen und Bürger und zum Austausch mit ihnen beitragen (Verbreitung bewährter Vorgehensweisen, Verfolgung von Initiativen und Kooperationsprojekten, Entwicklungen in der Branche, Erfassung der Standpunkte der Zivilgesellschaft für die Diskussionen des Energieforums der Zivilgesellschaft und deren Weiterleitung an die Entscheidungsträger). Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Bürger ständig neutral und objektiv zu informieren. Von entscheidender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Konsultationsforen.

Langfristige institutionelle Entwicklung

5.33   Letztliches Ziel ist die Errichtung einer Europäischen Energiegemeinschaft. Da es schwierig sein könnte, zu bewirken, dass sich die 27 Mitgliedstaaten gleichzeitig in dieselbe Richtung orientieren, könnte eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten, vor allem auf regionaler Ebene, schnellere Fortschritte gestatten. Derartige Maßnahmen dürfen allerdings nicht in Widerspruch zu den Rechtsvorschriften oder den anderen Maßnahmen der EU stehen, was durch eine ständige Konsultation und Einbindung der Institutionen der EU zu gewährleisten ist. Erforderlichenfalls könnten formalisierte Instrumente geschaffen werden.

5.34   Der EWSA empfiehlt, bis 2014 die Fortschritte auf der Grundlage von Artikel 194 AEUV zu bewerten und zu prüfen, ob im Einklang mit den sehr ambitionierten Vorschlägen, die in diesem Dokument unterbreitet werden, Veränderungen nötig sind. In Anlehnung an die EGKS könnte ein neuer institutioneller Rahmen geschaffen werden. Es muss möglich sein, jedes neue institutionelle Gremium und dessen Besitzstand in die Struktur der EU zu integrieren, wenn die Mitgliedstaaten dies beschließen.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 43-49.

ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 51-55.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Energiearmut im Kontext von Liberalisierung und Wirtschaftskrise“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 53-56.

(3)  Siehe beispielsweise in Frankreich im Bereich der Atomenergie: ANCCLI, Association nationale des comités et des commissions locales d'information (Nationale Vereinigung der kommunalen Informationsausschüsse und –kommissionen), eingerichtet durch Dekret des Conseil d’État.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag der Europäischen Union zur Friedenskonsolidierung im Bereich der Außenbeziehungen: Bewährte Methoden und Aussichten“

2012/C 68/04

Berichterstatterin: Jane MORRICE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 19./20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der Beitrag der Europäischen Union zur Friedenskonsolidierung im Bereich der Außenbeziehungen: Bewährte Methoden und Aussichten“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 15. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 19. Januar 2012) mit 190 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Friedenskonsolidierung liegt in der Natur der Europäischen Union. Schon die Gründung der EU, ihre Erweiterung und ihr Bestehen in Krisenzeiten zeugen von ihren besonderen Fähigkeiten im Bereich der Friedenskonsolidierung. Als Gemeinschaft von Nationen, die Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit und Toleranz fördert, ist die EU moralisch verpflichtet, die Friedenskonsolidierung weltweit zu unterstützen, und verfügt nunmehr auch über ein vertragliches Mandat dazu. Als weltweit größter Geber von Hilfe mit jahrelanger Erfahrung in Konfliktgebieten und einer breiten Palette an Instrumenten sollte sie Vorreiter bei den internationalen Bemühungen um die Friedenskonsolidierung sein. Sie nutzt jedoch ihr Potenzial im Bereich der weltweiten Friedenskonsolidierung nicht in ausreichendem Maße, und ihr Eintreten für positive Veränderungen zeigt weniger Wirkung, als zu erwarten sein sollte oder könnte. Trotz der Bemühungen um mehr Kohärenz, die in der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) ihren Ausdruck fanden, steht ein ganzheitlicher gesamteuropäischer Ansatz noch aus. Ohne eine klar definierte Strategie der Friedenskonsolidierung, ohne einen umfassenderen Erfahrungsaustausch zwischen allen friedenskonsolidierenden Maßnahmen der EU und mangels einer echten Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, den internationalen Gebern, den nichtstaatlichen Organisationen und den Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich vor Ort für die Friedenskonsolidierung einsetzen, wird die EU ihr Potenzial, in den konfliktreichsten Regionen der Welt tatsächliche und dauerhafte Ergebnisse zu erzielen, nicht gänzlich verwirklichen können. Die Aufgabe ist gewaltig, doch der Lohn ist noch größer. Denn in einer friedlichen Welt geht es auch einem friedlichen Europa besser.

1.2   Auf der Grundlage dieser Schlussfolgerungen gibt der EWSA folgende Empfehlungen ab:

Strategie und Politik

1.2.1   Der EAD sollte eine Strategie der Friedenskonsolidierung entwickeln, die zivile, militärische, diplomatische und politische Maßnahmen, Krisenreaktion und humanitäre Maßnahmen, langfristige Entwicklungshilfe, Soforthilfe, Klimawandel, Handels- und Investitionspolitik sowie alle anderen Maßnahmen der EU umfasst, die Auswirkungen auf fragile Gebiete haben.

1.2.2   Zur Erarbeitung dieser Strategie sollte er eine Task-Force aufstellen, in der Vertreter des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, des Ausschusses der Regionen, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, der Europäischen Investitionsbank sowie von nichtstaatlichen Organisationen aus dem Bereich Friedenskonsolidierung mitarbeiten.

1.2.3   Die Maßnahmen und Programme der EU, vor allem jene in Konfliktgebieten, sollten einer konfliktsensitiven Folgenabschätzung unterzogen werden können, um zu gewährleisten, dass sie im Einklang mit den Normen und Werten der EU stehen und den kosteneffizientesten Einsatz der EU-Hilfe sicherstellen.

Operative Fragen

1.2.4   Für alle EU-Operationen in Konflikt- oder Risikogebieten sollte ein Katalog mit Grundsätzen aufgestellt werden.

1.2.5   Alle friedenskonsolidierenden Maßnahmen sollten die Förderung eines verantwortungsbewussten Regierungshandelns und der demokratischen Prinzipien (Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Gleichheit, politische und gewerkschaftliche Freiheiten) sowie Umweltschutzstandards umfassen.

1.2.6   Es sollten Vorgaben festgelegt werden, wie die Fortschritte bei den Reformen zu verfolgen sind, und die dafür vorgesehenen Strukturen sollten gestärkt werden, indem Vertreter der Zivilgesellschaft einbezogen werden, auf ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter geachtet wird und das Eintreten für Reformen sichergestellt wird. Ferner sollte mehr Gewicht auf die Konfliktverhütung gelegt werden, wobei der Rolle der Bildung und der Medien, einschließlich der sozialen Medien, in gefährdeten Gebieten besondere Aufmerksamkeit beizumessen ist, und es sollten aktiv Maßnahmen zur Förderung der Aussöhnung, einschließlich des interkulturellen Dialogs und der Vermittlung, ermutigt und gefördert werden.

1.2.7   Die Kontakte der EU zur organisierten Zivilgesellschaft in Konfliktgebieten sollten durch eine verstärkte Unterstützung der Organisationen ausgebaut werden, die die Werte der EU teilen und Toleranz, Pluralismus und andere friedenskonsolidierende Maßnahmen voranbringen. Die Arbeit des EWSA in diesem Bereich sollte erleichtert werden.

1.2.8   Die Resolution 1325/2000 des UN-Sicherheitsrates zum Thema Frauen und Frieden und Sicherheit sollte konsequenter umgesetzt werden, Frauengruppen vor Ort sollten mehr Unterstützung erhalten und der Aspekt der Gleichstellung der Geschlechter sollte stärker berücksichtigt werden.

1.2.9   Opfer von Konflikten, vor allem Kinder, sollten mehr gezielte Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten und in höherem Maße als solche anerkannt werden.

1.2.10   Programme zur Unterstützung gefährdeter Jugendlicher, vor allem Jungen, sollten gefördert, erleichtert und unterstützt werden, damit diese jungen Menschen in die Lage versetzt werden, eine umfassende und konstruktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen.

1.2.11   Die Einstellung und Ausbildung von Zivilpersonal für die Missionen ist zu erweitern und zu verbessern, zudem sollten die Missionen weniger auf die militärische und stärker auf die zivile Krisenbewältigung ausgerichtet werden.

1.2.12   Es sollte eine Datenbank mit europäischen Experten für Friedenskonsolidierung und Kandidaten für zivile Missionen aus dem Kreis der Juristen, Anwälte, Polizisten, im Bereich der Friedenskonsolidierung tätigen nichtstaatlichen Organisationen, Mediatoren, Verwaltungsbeamten und Politikern, die über einschlägige Erfahrungen verfügen, erstellt werden.

Bewährte Methoden und Erfahrungsaustausch

1.2.13   Die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und die internationalen Organisationen sollten wichtige Erfahrungen austauschen. Dazu könnte ein Kompendium bewährter Vorgehensweisen bei der Friedenskonsolidierung erstellt werden, und es könnte näher untersucht werden, inwieweit das Instrumentarium des EWSA zur Konfliktlösung eingesetzt werden könnte (1).

1.2.14   Dem Erfahrungsaustausch zwischen den friedenskonsolidierenden Maßnahmen innerhalb der EU, wie dem Friedensprogramm der EU für Nordirland (PEACE), und den auswärtigen Maßnahmen sollte mehr Gewicht verliehen werden.

1.2.15   Es sollte ernsthaft erwogen werden, ein europäisches Exzellenzzentrum/Institut für Friedenskonsolidierung zu gründen, das auf bereits existierenden Strukturen aufbaut und mit diesen verknüpft wird und das Ideen und Empfehlungen von anderen Institutionen und Sachverständigen aufgreift.

1.2.16   Auf einer großen Konferenz zur Friedenskonsolidierung sollten alle Aspekte einer neuen Strategie der Friedenskonsolidierung zusammengefasst und Empfehlungen ausgesprochen werden, wie die jeweiligen Erfahrungen am besten gemeinsam genutzt werden können.

2.   Kontext

2.1   Diese Stellungnahme knüpft an die Initiativstellungnahme zur Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess an, die der EWSA 2008 verabschiedete (2). Darin wird die EU aufgefordert, die Friedenskonsolidierung zu einem Schwerpunkt ihrer künftigen strategischen Ausrichtung zu machen. Nunmehr sollen die Betrachtungen über die Grenzen der EU hinausgeführt, die – vor allem seit der Schaffung des EAD – verfügbaren Instrumente zur Friedenskonsolidierung geprüft und der bisherige Umfang des Erfahrungsaustauschs untersucht werden. Zudem sollen Empfehlungen für die künftige Arbeit in diesem Bereich abgegeben werden.

3.   Einleitung

3.1   Die EU wird oft als weltweit erfolgreichstes überstaatliches Projekt der Friedenskonsolidierung bezeichnet und kann diesbezüglich als Vorbild angesehen werden. Ihr größter Erfolg besteht sicherlich darin, dass es ihr gelungen ist, Nationen, die einander in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstanden, nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu vereinen. Ein weiterer Triumph der Friedenskonsolidierung ist es, dass diese Länder in einer Union der Nationen dauerhaft zusammengeführt werden, ihre Zahl wächst und ihr Einfluss weltweit zunimmt, und eine weitere wichtige Aufgabe wird darin bestehen, diesen Impuls unter den Bedingungen der Finanzkrise aufrechtzuerhalten.

3.2   Allerdings ist die EU noch nicht angemessen gerüstet, um dem Gewicht ihrer moralischen Verantwortung als Vorbild und Vorreiter der Friedenkonsolidierung in der Welt gewachsen zu sein. Bei ihren Maßnahmen in Konfliktgebieten setzt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente ein, angefangen bei der Krisenbewältigung, über die humanitäre Hilfe bis hin zur militärischen Hilfe und zur Entwicklungshilfe. Bislang fehlte es diesem Ansatz jedoch an Kohärenz, Koordinierung und glaubwürdigen Kontakten zur Zivilgesellschaft vor Ort.

3.3   Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat die EU ein neues Mandat zur Friedenskonsolidierung (Artikel 21), eine neue Struktur zu dessen Unterstützung (den EAD) und eine neue Zuständige (die Hohe Vertreterin Catherine Ashton), mit deren Hilfe das Ziel verwirklicht werden soll. Es gibt deshalb keinen Grund mehr, warum die EU nicht die Führung übernehmen und echte Fortschritte bei der Friedenskonsolidierung weltweit herbeiführen sollte.

3.4   Wenn es je den richtigen Zeitpunkt für die EU gab, Führungsstärke zu beweisen, dann jetzt. Ihre nächsten Nachbarn erleben politische, wirtschaftliche und soziale Umbrüche. An diesem Wendepunkt ihrer Geschichte benötigen sie verlässliche Unterstützung. Die EU hat ihre Bereitschaft und ihren Willen, mit gutem Beispiel voranzugehen, gezeigt, indem sie ihre „neue und ehrgeizige“ Nachbarschaftspolitik auf den Weg gebracht hat. Doch wie bei der Friedenskonsolidierung in aller Welt zählen auch hier Taten mehr als Worte.

3.5   Die EU hat ein „enormes Potenzial“, alle Facetten ihres Einflusses zu verknüpfen, um ein schlüssiges und umfassendes Konzept für die Friedenskonsolidierung zu entwickeln, und sie hat auch die Mittel, es umzusetzen. Letztlich jedoch hängt der Erfolg vom politischen Willen und der Fähigkeit der Mitgliedstaaten ab, mit einer Stimme zu sprechen, und von ihrer Bereitschaft, vorbehaltlos eine ehrgeizige gemeinsame Strategie der Friedenskonsolidierung zu unterstützen, die der EU nicht nur mehr Glaubwürdigkeit in der ganzen Welt verleihen, sondern auch dazu beitragen wird, weltweit positive Veränderungen anzustoßen.

4.   Hintergrund

4.1   Der Begriff Friedenskonsolidierung ist relativ neu im Wortschatz der internationalen Diplomatie. Zuerst wurde er von UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 1992 in seiner Agenda für den Frieden verwendet und definiert als „Maßnahmen zur Bestimmung und Förderung von Strukturen, die geeignet sind, den Frieden zu festigen und zu konsolidieren, um das Wiederaufleben eines Konflikts zu verhindern“. 2006 richteten die Vereinten Nationen eine Kommission für Friedenskonsolidierung ein, um die Friedensbemühungen in Ländern unmittelbar nach einem Konflikt zu unterstützen, und 2009 gründete die OECD das „International Network on Conflict and Fragility“ (INCAF).

4.2   Auf europäischer Ebene wurde in dem 2001 verabschiedeten Göteborger Programm zur Verhütung gewaltsamer Konflikte zum ersten Mal konkret auf die Friedenskonsolidierung in den EU-Außenbeziehungen Bezug genommen. Der aktuellste Verweis findet sich in Artikel 21 des Vertrags von Lissabon, in dem als Hauptziele des auswärtigen Handelns der EU Menschenrechte und Demokratie, die Verhütung von Konflikten und die Erhaltung des Friedens genannt werden.

4.3   Mit dem Vertrag von Lissabon wird auch ein neuer Rahmen für die Außenbeziehungen der EU geschaffen. In dem Amt des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sind die Zuständigkeiten vereint, die vorher zwischen Rat und Europäischer Kommission geteilt waren. Die gegenwärtige Hohe Vertreterin Catherine Ashton wird durch den EAD unterstützt, dessen Aufgabenbereich die drei „Ds“ Diplomacy, Development and Defence (Diplomatie, Entwicklung und Verteidigung) umfasst, die alle für die Friedenskonsolidierung eingesetzt werden können.

4.4   Mit dem EAD und den zuständigen Direktionen der Europäischen Kommission verfügt die EU über eine breite Palette an Instrumenten für die Friedenskonsolidierung. Dazu zählen:

zivile und militärische Missionen im Rahmen der GSVP, in deren Mittelpunkt Polizei, Rechtsstaatlichkeit, Zivilverwaltung und Katastrophenschutz stehen, die aber oft dadurch behindert werden, dass es an ausreichend geschultem Personal fehlt. Die Aspekte Sicherheit und Logistik sind Voraussetzung für stabile und sichere Rahmenbedingungen für die Friedenskonsolidierung;

das Stabilitätsinstrument (IfS), die wichtigste EU-Finanzierungsquelle für die Friedenskonsolidierung. Über 70 % der verfügbaren Mittel (2 Mrd. EUR für den Zeitraum 2007-2013) werden für die Krisenreaktion verwendet, um die Lücke zwischen kurzfristiger humanitärer Hilfe und langfristiger Entwicklungshilfe zu schließen;

die Partnerschaft zur Friedenskonsolidierung (PbP) im Rahmen des IfS zur Verbesserung der Abstimmung zwischen den wichtigsten Partnern bei Krisenreaktionsmaßnahmen. Sie unterstützt die Arbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und trägt zur Verbreitung bewährter Methoden und zum Zugang zu logistischer und fachlicher Unterstützung bei.

4.5   Daneben gibt es zahlreiche weitere EU-Instrumente, die nicht gezielt auf die Friedenskonsolidierung ausgerichtet sind, jedoch in Anspruch genommen werden können, um die EU bei entsprechenden Maßnahmen zu unterstützen. Dazu gehören der Dienst für humanitäre Hilfe (ECHO), das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte, die Entwicklungshilfe durch den Europäischen Entwicklungsfonds (AKP/ÜLG) sowie das Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit (Lateinamerika, Asien, die Golfregion und Südafrika).

4.6   Auch Maßnahmen aus EU-Politikbereichen wie Handel, Investitionen der EIB, Umwelt, Energie und Landwirtschaft können zur Friedenskonsolidierung eingesetzt werden, und die Erweiterungspolitik der EU umfasst insofern ein friedenskonsolidierendes Element, als sich die Beitrittsländer die Grundwerte der EU zueigen machen müssen (3). Auch die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), die 16 der nächsten EU-Nachbarstaaten umfasst, wurde nach dem arabischen Frühling neu belebt und um ein Element der Friedenskonsolidierung erweitert, um zur Errichtung einer vertieften und tragfähigen Demokratie in der Region beizutragen. Auch in der neuen „Agenda für den Wandel“ der EU wird vorgeschlagen, die Rolle der EU bei der Friedenskonsolidierung in vielerlei Hinsicht zu stärken.

4.7   Zwar findet der Großteil der EU-Maßnahmen zur Friedenskonsolidierung im Rahmen der EU-Außenbeziehungen statt, doch führt die EU auch eine einzigartige Friedensinitiative in ihrem Innern durch. Das Sonderprogramm der EU für Frieden und Aussöhnung in Nordirland und den Grenzgrafschaften der Republik Irland wurde 1996 geschaffen und befindet sich gegenwärtig in der dritten Finanzierungsrunde (4).

5.   Friedenskonsolidierung – die Herausforderungen

5.1   Definition und Strategie

5.1.1   Obwohl die Friedenskonsolidierung als sinnvolles neues Konzept zur Intervention in Konfliktgebieten inzwischen weithin akzeptiert ist, gibt es nach wie vor keine genaue Definition des Begriffs. Einige beziehen ihn nur auf die Phase nach der Beilegung eines Konflikts, d.h. auf die Stabilisierung und den Wiederaufbau. Andere verstehen darunter die Phase des Übergangs von der Verteidigungs- zur Entwicklungspolitik. Wieder andere beschreiben ihn als steuernden und beschleunigenden Prozess, der in dem gesamten Spektrum von der Konfliktprävention über das Krisenmanagement, die Friedensschaffung und die Friedenssicherung bis hin zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten Anwendung findet.

5.1.2   Unter Berücksichtigung all dessen lässt sich feststellen, dass es bei Friedenssicherung um Sicherheit und Verteidigung geht, bei Friedensschaffung um den Einsatz diplomatischer Mittel zur Erzielung einer politischen Einigung, dass der Begriff Friedenskonsolidierung jedoch beide sowie weitere Aspekte umfasst. Im Idealfall handelt es sich dabei um einen Prozess, der vor dem Eintreffen der friedenssichernden oder friedensschaffenden Kräfte einsetzt und ihren Einsatz ganz unnötig machen könnte, wenn er nachhaltig erfolgreich ist. Eine umfassende, übergreifende, von gründlichen Konsultationen begleitete und langfristige Friedenskonsolidierung ließe sich als offener Prozess beschreiben, mit dessen Hilfe Differenzen ausgeräumt werden, indem Türen aufgestoßen und neue Denkfenster geöffnet werden.

5.2   Ein gemeinsames Konzept

5.2.1   Wie auch immer man den Begriff definiert, die Fachleute stimmen überein, dass die Friedenskonsolidierung ein hochkomplexer Prozess ist, der ein breites Spektrum an Akteuren aus den Bereichen militärische und zivile Interventionen, Diplomatie sowie finanzielle und technische Unterstützung über einen kurzen bzw. langen Zeitraum auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene umfasst. Die größte Aufgabe besteht darin, zu ermitteln, wie Kohärenz, Koordination und Komplementarität zwischen dem breiten Spektrum an Maßnahmen, Beteiligten und Instrumenten innerhalb und außerhalb der EU, die alle in demselben Bereich ansetzen, hergestellt werden kann. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass die Mitgliedstaaten und die einzelnen externen Geber unterschiedliche Prioritäten haben und dass es zu Spannungen kommen kann, wenn die Bedürfnisse und Interessen in verschiedene Richtungen gehen.

5.2.2   In der EU selbst bedeutet dies, dass die praktische Koordinierung zwischen den Verantwortlichen angesichts der Komplexität der Strukturen in den verschiedenen Institutionen und Direktionen zu einer weiteren echten Herausforderung wird. Ebenso ist es dringend erforderlich, Kohärenz zwischen den konkret für gefährdete Gebiete konzipierten Maßnahmen wie Entwicklungshilfe einerseits und jenen Maßnahmen andererseits herzustellen, die erhebliche Auswirkungen auf diese Gebiete haben können, wie insbesondere Maßnahmen in den Bereichen Handel, Investitionen, Klimawandel und Energiepolitik. Die Gründung des EAD wird jedoch als Chance gesehen, politische Konzepte und praktische Umsetzung zwischen den EU-Institutionen sowie der EU, ihren Mitgliedstaaten und anderen wichtigen Gebern wie den Vereinten Nationen, den USA, China und weiteren Beteiligten in Einklang zu bringen.

5.2.3   Zwar ist der „Heilige Gral eines Gesamtansatzes“ nach wie vor außer Reichweite, doch wurden Anstrengungen unternommen, die EU-Instrumente kohärenter einzusetzen. So hat beispielsweise der Rat (Auswärtige Angelegenheiten) im Juni 2011 einen integrierten Ansatz für den Sudan und den Südsudan beschlossen, der ein breites Spektrum an Maßnahmen beginnend beim politischen Dialog, über den Aufbau ziviler Kapazitäten bis hin zur Entwicklungshilfe und Handelszusammenarbeit umfasst. Die kürzlich vorgelegte „Agenda für den Wandel“ der EU, in der neue Prioritäten für die Entwicklungspolitik aufgestellt werden, ist ein weiteres Beispiel für ein neues Konzept der Friedenskonsolidierung. Die Vorschläge umfassen die stärkere Berücksichtigung der Aspekte Menschenrechte, Demokratie, Gleichheit, verantwortungsbewusste Staatsführung und Verbindung zur Zivilgesellschaft. Einige halten dies für einen wertvollen neuen Denkansatz, andere sind der Auffassung, das Konzept gehe nicht weit genug.

5.3   Mehr Gewicht für die Zivilgesellschaft bei der Konflikttransformation

5.3.1   Der Prozess der Konflikttransformation erfordert grundlegende Veränderungen der Einstellungen und des Verhaltens. Inklusion, Engagement und Dialog sind Waffen, um Angst, Hass, Intoleranz und Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und sind unerlässlich dafür, die Rahmenbedingungen für Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung zu schaffen. Diese Arbeit muss da ansetzen, wo die Friedenskonsolidierung am wichtigsten ist: bei den Leuten vor Ort, in ihrem Alltag. Hier darf die Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft, die die Werte der EU, Gleichheit, Menschenrechte, Inklusion und Toleranz, teilen, nicht länger dem Zufall überlassen bleiben, und die Unterstützung für Schwache, Menschen in Not oder einfach für jene, die sich kein Gehör verschaffen können, muss Vorrang haben.

5.3.2   Es ist weithin anerkannt, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, die Wirksamkeit und langfristige Nachhaltigkeit jeder Strategie der Friedenskonsolidierung zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit mit den nichtstaatlichen Akteuren vor Ort und ihre Konsultation dienen nicht nur dazu, der EU ein tieferes Verständnis der Konfliktsituation von der Basis her zu ermöglichen, sondern führen auch dazu, dass sich die Menschen im Alltag diesen Prozess zueigen machen. Sie tragen auch dazu bei, die Friedenskonsolidierung konfliktgerechter zu gestalten und ihren Anstrengungen um die Friedenskonsolidierung mehr Wirkung zu verleihen.

5.3.3   Bisher standen diese Gruppen, deren Einfluss von entscheidender Bedeutung sein kann, weder auf politischer noch auf praktischer Ebene im Fokus der Friedenskonsolidierung. So sind beispielsweise Frauen selten in den Entscheidungsebenen vertreten, obwohl sie in Konflikten häufig die gesellschaftlichen Strukturen aufrechterhalten. Wenn Händler in Konfliktgebieten ihre Geschäftstätigkeit wieder aufnehmen wollen, ist dies ein wichtiger Beweis ihres Selbstbehauptungswillens, den es zu unterstützen gilt. Gewerkschaftliche Arbeit wie die häufigen Friedens- und Solidaritätskundgebungen auf den Straßen der heutigen EU-Mitgliedstaaten sind ein weiteres wirksames Mittel zur Unterstützung der Friedenskonsolidierung. Junge Menschen brauchen Hilfe, um ihre Energie in eine konstruktive Richtung zu lenken, und gefährdete Gruppen, vor allem Opfer, benötigen die gezielte Aufmerksamkeit von Fachleuten.

5.3.3.1   Zunehmend wird eingesehen, dass der Konfliktverhütung und der Aussöhnung zwischen verfeindeten Gruppen bei den Anstrengungen zur Friedenskonsolidierung mehr Aufmerksamkeit beigemessen werden muss. Von herausragender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Bildung, d.h. Jugendlichen ist zu vermitteln, dass sie Unterschiede nicht nur akzeptieren, sondern respektieren müssen. Auch die Medien haben großes Gewicht, vor allem die sozialen Medien können einen Beitrag zur Herbeiführung positiver Veränderungen leisten. Ein anderer wichtiger Teil dieser Arbeit ist die Förderung konkreter Strategien, um Gruppen zusammenzubringen, z.B. interkultureller Dialog und Vermittlung.

5.3.4   Durch einen strukturierten Dialog zwischen der EU und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Konfliktgebieten können stabile Kontakte geschaffen und Verständnis vor Ort geweckt werden. Auf Grund seiner engen Kontakte zur organisierten Zivilgesellschaft ist der EWSA der richtige Ort, um die Beziehungen der EU zu den Basisorganisationen in diesen Regionen stärker zu fördern. Er arbeitet bereits mit Unternehmen, Gewerkschaften und anderen beispielsweise in China, Tibet, Libanon, Nordafrika und den AKP-Staaten zusammen und möchte den Austausch von Erfahrungen ausbauen, um die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort zu fördern und zu stärken und gemeinsam mit der EU Projekte der Friedenskonsolidierung umzusetzen.

5.4   Mehr Wertschätzung für den Erfahrungsaustausch

5.4.1   Als Gemeinschaft von 27 Nationen, die sich zum Nutzen aller zusammengeschlossen haben, kann die EU ihre eigenen, ganz konkreten Erfahrungen an andere weitergeben. Von ihren Beschlussfassungsverfahren bis hin zu ihrer Erweiterungsstrategie bietet die EU praktische Beispiele, die von regionalen Vereinigungen in anderen Teilen der Welt aufgegriffen werden können. Die Afrikanische Union beispielsweise macht sich das Konzept der EU zueigen, und auch andere sind daran interessiert. Es gibt noch weitere erfolgreiche Beispiele für Länder und Regionen, denen ein konfliktfreier Wandel gelungen ist, und diese Beispiele sollten bei der Politik und den praktischen Maßnahmen der Friedenskonsolidierung herausgehoben werden.

5.4.2   Da sich die EU im Bereich der Außenbeziehungen von Anfang an für die Friedenskonsolidierung eingesetzt hat, verfügt sie über enorme Erfahrungen in Regionen wie Südostasien, im Nahen Osten, in Mittelamerika, auf dem Balkan und im südlich der Sahara gelegenen Afrika, die auch von anderen genutzt werden können. Ihre Bemühungen waren mitunter äußerst erfolgreich, mitunter weniger. Auch wenn die Arbeit der EU in einigen Konfliktgebieten scharf kritisiert wird, können doch sogar diese Erfahrungen als Fingerzeig für die Politik nützlich sein, wenn die gebotenen Lehren gezogen und vermittelt werden.

5.4.3   Es gibt viele gute Erfahrungen, deren Weitergabe lohnenswert ist. Der Friedensprozess in Aceh in Indonesien, die erneute Zusammenführung der Kanalisationssysteme in der geteilten Stadt Nikosia (5) und die Unterstützung der EU für den Friedensprozess in Nordirland sind Beispiele, die im Instrumentarium der EU für die Friedenskonsolidierung noch umfassender genutzt werden könnten. Zwar gibt es keine Patentlösung, doch existieren Grundprinzipien, die auf viele Konfliktgebiete zutreffen und die nicht ignoriert werden dürfen.

5.4.4   Untersuchungen zeigen allerdings, dass ein solcher Austausch von Erfahrungen in der EU-Politik nicht allgemein üblich ist, besonders wenn er sowohl interne als auch auswärtige Maßnahmen betrifft. Im Fall des Programms zur Unterstützung des Friedensprozesses in Nordirland (PEACE) fehlt jeder systematische Ansatz, was die Übernahme von Lehren auf andere Konfliktgebiete betrifft. Da es der EU als Verdienst angerechnet wird, zum Frieden in der Region beigetragen zu haben, die von Kommissionspräsident Barroso eingesetzte Task-Force für Nordirland einen Erfahrungsaustausch mit anderen Konfliktgebieten empfohlen hat und zu ebendiesem Zweck ein Friedensnetzwerk geschaffen wurde, stellt es eine verpasste Chance und einen schweren politischen Fehler dar, dass ganz offensichtlich versäumt wurde, entsprechende Lehren auf auswärtige Maßnahmen zu übertragen.

5.5   Schaffung eines Zentrums für Friedenskonsolidierung

5.5.1   Die EU muss deshalb beträchtliche Anstrengungen unternehmen, um ihre Glaubwürdigkeit als weltweit führende Kraft im Hinblick auf eine Strategie der Friedenskonsolidierung herzustellen und die Reichweite und die Wirkung ihrer Tätigkeit zu vergrößern. Derzeit wird der Vorschlag des ehemaligen finnischen Präsidenten und des schwedischen Außenministers diskutiert, ein Europäisches Friedensinstitut zu gründen, damit die Bemühungen der EU um die Friedenskonsolidierung kohärenter und koordinierter werden und besser ineinandergreifen. Nordirische Politiker haben ihrerseits die Gründung eines internationalen Kompetenzzentrums bei Belfast angeregt, dessen Gegenstand die Friedenskonsolidierung ist. Sie haben dafür Mittel aus dem EU-PEACE-Fonds beantragt, und das Europäische Parlament ist in die Diskussionen eingestiegen und hat ein Papier „Modell für ein Friedensinstitut“ vorgelegt.

5.5.2   Der Vorschlag der Schaffung eines neuen Instituts oder Zentrums, das mit anderen in diesem Bereich tätigen Institutionen verknüpft ist, beispielsweise dem EUISS oder der Agentur für Grundrechte, lohnt eine ernsthafte Prüfung. Wenn eine solche Einrichtung Möglichkeiten für Beratung durch unabhängige Sachverständige, Dialog, Schulungen, Untersuchungen und den Austausch von Erfahrungen zwischen auf diesem Gebiet Tätigen bietet, kann sie ein wertvolles Instrument für die Unterstützung der Arbeit des EAD in diesem entscheidenden Bereich der Tätigkeit der EU werden.

5.6   Eine einmalige Chance

5.6.1   In dieser Stellungnahme geht es darum, wie die EU sich am besten aufstellen kann, um einen konstruktiveren Beitrag zur Konfliktlösung zu leisten, die heute zur wichtigsten Aufgabe weltweit geworden ist. Da es keine Definition des Begriffs Friedenskonsolidierung gibt und die EU noch keine Strategie der Friedenskonsolidierung formuliert hat, muss die Arbeit praktisch bei Null beginnen. Dies ist eine seltene und vielleicht einmalige Chance für die EU im Bereich der internationalen Beziehungen.

5.6.2   Die Schaffung des EAD dürfte es der EU ermöglichen, die Chance zu nutzen und bei der internationalen Friedenskonsolidierung eine führende Rolle einzunehmen. Die Aufgabe besteht nun darin, eine eigene Strategie der Friedenskonsolidierung zu entwickeln, die nicht nur Kohärenz zwischen den EU-Programmen und –Maßnahmen herstellt, sondern auch zwischen den Werten und Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Dies kann sich ohne eine Gemeinsame Außenpolitik mit allseits akzeptierten Grundsätzen für die Durchführung von Interventionen oder aber die Nichteinmischung in Konfliktgebieten als schwierig erweisen, jedoch wird auch die Auffassung vertreten, ein gesamteuropäisches Konzept sei die einzige Möglichkeit um zu gewährleisten, dass die Friedenskonsolidierung vor Ort echte Ergebnisse bringt.

5.6.3   Die Geschichte hat die EU gelehrt, welchen Wert die Demokratie im Gegensatz zur Diktatur hat, wie wichtig Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechte sind und welche Gefahren von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Vorurteil ausgehen. Seit dem Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer verfolgt die EU konsequent den Weg der Friedenskonsolidierung, festigt ihre Errungenschaften und bereitet anderen den Weg. Sie macht immer wieder schwere Zeiten durch, nicht zuletzt die gegenwärtige Finanzkrise, doch sind ihre grundlegenden Werte ein Maßstab für ihre Maßnahmen im Innern und in Drittstaaten, den sie nie aufgeben darf.

5.6.4   Angesichts der internen Krise und der Beschäftigung mit den eigenen Problemen darf die EU nicht die strategische Perspektive und ihre weltweite Verantwortung aus dem Auge verlieren. Sie darf ihre außenpolitischen Maßnahmen und Verpflichtungen nicht vernachlässigen und muss eine eigene, klar abgegrenzte Rolle für sich finden, die keine andere Nation oder Gruppe von Nationen zu spielen imstande ist. Als Akteur der Friedenskonsolidierung bringt die EU ihre Geschichte, ihr Ethos und ihr einzigartiges Konzept der Intervention von unten auf einem Gebiet ein, auf dem Ansehen, Verständnis, Erfahrung, Großzügigkeit und Vertrauen die wertvollsten Triebkräfte sind. Als weltweit führende Kraft bei der Friedenskonsolidierung braucht die EU auch das Vertrauen, die Überzeugung und den Mut voranzugehen.

Brüssel, den 19. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe Stellungnahme SC/029, „Die Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess“ (Berichterstatterin: Jane Morrice, 2009), ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 100-108.

(2)  Ebenda.

(3)  Siehe Ziffer 2 der Beratungsergebnisse des Rates (Allgemeine Angelegenheiten) zum Thema Erweiterung sowie Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess (3132. Sitzung des Rates Allgemeine Angelegenheiten vom 5. Dezember 2011): „Der Erweiterungsprozess festigt nach wie vor den Frieden, die Demokratie und die Stabilität in Europa und versetzt die EU in die Lage, globale Herausforderungen besser bewältigen zu können. Die Transformationskraft des Beitrittsprozesses führt in den Erweiterungsländern zu weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Reformen, die auch der EU als Ganzes zugute kommen. Der erfolgreiche Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien ist ein deutlicher Beleg dafür und ein positives Signal für die gesamte Region“.

(4)  Siehe Stellungnahme CESE zum Entwurf einer Mitteilung an die Mitgliedstaaten zur Festlegung von Leitlinien für eine Initiative im Rahmen des Sonderprogramms zur Förderung von Frieden und Versöhnung in Nordirland und den Grenzbezirken Irlands (SEK(95) 279 endg.), ABl. C 236/29 vom 11.9.1995, und Stellungnahme CESE Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland (2007-2010), KOM(2010) 12 – 2010/0004 (COD), ABl. C 18/114 vom 19.1.2011.

(5)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema „Städtediplomatie“ vom 12. Februar 2009 (ABl. C 120/01 vom 28.5.2009).


ANHANG

Im Rahmen der Erarbeitung dieser Stellungnahme wurden konsultiert:

1.

Gerrard Quille (Fachreferent für Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Fachabteilung, GD Externe Politikbereiche, Europäisches Parlament)

2.

Franziska Katharina Brantner (MdEP) – Mitglied der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz, Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Berichterstatterin für den Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines Instruments für Stabilität und Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu Israel

3.

Marc Van Bellinghen, Referatsleiter M.d.W.d.G.b., und Andrew Byrne, Verwaltungsrat: Abteilung für geographische, globale und multilaterale Beziehungen, Direktion C, Konfliktverhütung und Sicherheitspolitik, Referat Friedensaufbau, Konfliktverhütung und Mediation, Europäischer Auswärtiger Dienst

4.

Kyriacos Charalambous, Programmmanager – EU-Maßnahmen, GD REGIO D1, Referat Programmplanung, Beziehungen zu den anderen Institutionen und NRO, Vereinfachung, Solidaritätsfonds, und Tamara Pavlin, Programmmanagerin – EU-Maßnahmen, DG REGIO D4, Referat Irland, Vereinigtes Königreich

5.

Catherine Woollard, Direktorin, EPLO (Europäisches Verbindungsamt für Friedenskonsolidierung)

6.

Olga Baus Gibert, zuständig für internationale Beziehungen – Friedenskonsolidierung – Planung von Kriseneinsätzen, Dienst für außenpolitische Instrumente, Referat Stabilitätsinstrument

7.

David O'Sullivan, Verwaltungschef, Europäischer Auswärtiger Dienst

8.

Prof. Dr. Joachim Koops, Akademischer Direktor, Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien, Vesalius College, Brüssel, und Direktor des Global Governance Institute

9.

Danuta Hübner (MdEP) – Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei – Vorsitzende des Ausschusses für regionale Entwicklung, Mitglied des Sonderausschusses zur Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkrise, Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Währung

10.

Luc Van den Brande, Vorsitzender der Fachkommission CIVEX, Ausschuss der Regionen

11.

Mireia Villar Forner, leitende Politikberaterin, Krisenprävention und Wiederaufbau, UN/UNDP


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

477. Plenartagung am 18. und 19. Januar 2012

6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Ein Binnenmarkt für Rechte des geistigen Eigentums — Förderung von Kreativität und Innovation zur Gewährleistung von Wirtschaftswachstum, hochwertigen Arbeitsplätzen sowie erstklassigen Produkten und Dienstleistungen in Europa“

KOM(2011) 287 endg.

2012/C 68/05

Berichterstatter: Denis MEYNENT

Die Europäische Kommission beschloss am 24. Mai 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Ein Binnenmarkt für Rechte des geistigen Eigentums – Förderung von Kreativität und Innovation zur Gewährleistung von Wirtschaftswachstum, hochwertigen Arbeitsplätzen sowie erstklassigen Produkten und Dienstleistungen in Europa

KOM(2011) 287 endgültig.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 19. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 160 gegen 3 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Rechte des geistigen Eigentums müssen auch weiterhin ihre traditionelle Rolle als Motor von Innovation und Wachstum spielen. Das Schutzsystem, das die Kommission weiterzuentwickeln beabsichtigt, muss diesen klassischen Aspekt beibehalten, ohne gänzlich in einen rein vermögens- und finanzorientierten Ansatz abzugleiten. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Börsenkapitalisierung der größten multinationalen Unternehmen künftig größtenteils auf deren „Portefeuille“ an immateriellen Rechten und Lizenzen beruht, deren Wert unter Anwendung der internationalen Rechnungslegungsvorschriften (International Financial Reporting Standards – IFRS) bilanziert werden muss.

1.2   Die Strategie der Kommission für Rechte des geistigen Eigentums im Binnenmarkt ist ein wesentliches Element zur Ergänzung der Europa-2020-Strategie, der Binnenmarktakte und der Digitalen Agenda für Europa. Eine Strategie in diesem Bereich ist angesichts des zunehmenden immateriellen Anteils und der „Finanzialisierung“ der Ökonomie unerlässlich; es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die derzeitigen Entwicklungen sowohl auf der Bildung als auch auf den immer größer werdenden Kompetenzen der Menschen und ihren Kenntnissen über das Wachstum der neuen Wirtschaft beruhen. Die menschliche Dimension und das Interesse der Allgemeinheit müssen fest in die Strategie integriert sein, und der Ausschuss ist der Ansicht, dass dies nicht eindeutig aus den Vorschlägen und Analysen hervorgeht.

1.3   Wie der Ausschuss in seinen früheren Stellungnahmen stets betont hat, muss es den KMU vorrangig ermöglicht werden, ihre Erfindungen und Schöpfungen zu schützen und gleichzeitig auf das Wissenspotenzial in Form von Patentanmeldungen und von Geschäfts- und Werbestrategien zurückzugreifen, die sich in der Wissens- und Informationsgesellschaft diversifizieren.

1.4   Der Ausschuss erwartet schon seit langem den europäischen einheitlichen Patentschutz und die Möglichkeit einer Vereinheitlichung der Rechtsprechungen der nationalen Gerichte auf Ebene des Binnenmarktes, und er hofft, dass deren Verwirklichung im Interesse der europäischen Unternehmen und der europäischen Wirtschaft erfolgt, die im Vergleich zur Konkurrenz aus Drittländern benachteiligt sind. Der Ausschuss erwartet sich von den Initiativen der Kommission eine beträchtliche Verringerung der Transaktionskosten, insbesondere für Erfindungspatente.

1.5   Die Kommission wird 2012 einen Legislativvorschlag zur Einziehung von Urheberrechten bei der Online-Verbreitung von Musik vorlegen. Der Ausschuss besteht darauf, dass im Vorfeld die Verbände, die solche Rechte und Interessen – auch die der Nutzer und Arbeitnehmer – vertreten, nicht nur der Form halber konsultiert werden. Er fordert ferner die Transparenz und Kontrolle der Verwertungsgesellschaften der Urheberrechte und verwandter Schutzrechte, die in dem Einziehungssystem, das vorgeschlagen werden soll, an erster Stelle stehen müssen. Der Ausschuss erachtet die Abgabe für Privatkopien als ungerecht, da diese fester Bestandteil des „Fair Use“ (einer angemessenen Verwendung) sind. In jedem Fall sollte sie nicht auf Festplatten angewandt werden, die Unternehmen im Rahmen ihrer Gewerbs- und Handelstätigkeiten verwenden.

1.6   Im Übrigen reicht es nicht aus, die Rechte des geistigen Eigentums wie Wertpapiere behandeln zu wollen, die an einer europäischen Spezialbörse handelbar wären, da die europäischen Klein- und Kleinstunternehmen nicht die gleichen Zugangsmöglichkeiten haben wie große multinationale Konzerne, wodurch sich die Abwanderung europäischer Innovationen auf andere Kontinente beschleunigen könnte. Der Ausschuss erwartet daher mit Interesse die diesbezüglichen konkreten Vorschläge der Kommission.

1.7   Bei der künftigen harmonisierten Politik der Rechte des geistigen Eigentums müssen nicht nur das Allgemeininteresse und die Rechte der Verbraucher, sondern auch die effektive Teilnahme aller Gesellschaftsgruppen an den Überlegungen und am Prozess der Erarbeitung einer umfassenden und ausgewogenen Strategie in diesem Bereich berücksichtigt werden. So geht es darum, die auf diese Weise geschützte Innovation und Schöpfung von Werken in den gemeinsamen gesellschaftlichen Wissensfundus zu überführen und sie zur Förderung von Kultur, Information, Bildung und Ausbildung sowie allgemein zu den kollektiven Grundrechten in den Mitgliedstaaten beitragen zu lassen.

1.8   Wir brauchen eine Annäherung der nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz der immateriellen Rechte und zur Bekämpfung der Piraterie im Binnenmarkt, um die Kooperation in den Bereichen Verwaltung und Zoll sowie ggf. die polizeiliche und gerichtliche Zusammenarbeit zu erleichtern, die im Rahmen der Ermittlung und Verfolgung der gravierendsten Verletzungen der geschützten Rechte stattfindet, wenn es sich um gewerbliche Verstöße handelt und wenn insbesondere die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher gefährdet sind.

1.9   Piraterie in großem Stil und betrügerisches Kopieren zu gewerblichen Zwecken stehen häufig direkt mit dem organisierten Verbrechen in Zusammenhang, wobei die Chancen einer Ergreifung und die für diese Art des Banditentums verhängten Strafen nicht abschreckend genug sind.

1.10   Daher unterstützt der Ausschuss die Strategie der Kommission, koordinierte Maßnahmen und Aktionen und eine echte Verwaltungszusammenarbeit als deren zentraler Bestandteil zu fördern, und zwar sowohl im Interesse der Unternehmen als auch der Allgemeinheit.

1.11   Beispiele für die kostenpflichtige Online-Verbreitung, wie etwa die von Apple, Amazon, Google oder Deezer entwickelten Anwendungen, zeigen heute, dass die Valorisierung der Urheberrechte nicht über eine Kriminalisierung der Jugendlichen erreicht werden kann: Sind die Preise vernünftig und erschwinglich, werden illegale Kopien einen Großteil ihrer Anziehungskraft einbüßen.

1.12   Für die meisten Verstöße gegen die erwähnten immateriellen Rechte sind die Zivilgerichte zuständig; neben der gewohnten Schwerfälligkeit der Verfahren ist die Beweislast für die KMU jedoch häufig übermäßig hoch, insbesondere bei Verletzungen in einem anderen Land. Es wäre daher zweckmäßig, im Rahmen des Binnenmarktes spezielle Verfahren für die Ermittlung und Beschlagnahmung, für die gegenseitige Anerkennung von Verwaltungs- und Gerichtsakten und die Umkehr der Beweislast vorzusehen.

1.13   Die Entschädigung der Kläger kann sich in einem internationalen Kontext zudem schwierig erweisen; sie sollte Gegenstand einer Zusammenarbeit zwischen den betroffenen Ländern sein, um eine Entschädigung der Rechteinhaber zu gewährleisten, die nach Möglichkeit dem tatsächlich erlittenen Schaden entspricht, und dies unabhängig von den Geldstrafen und sonstigen Strafen, die von den Gerichten verhängt werden können.

1.14   Es ist ein klarer Rechtsrahmen für private „Lösungen“ (Codes usw.) erforderlich, und anstelle derartiger Initiativen bedarf es vor allem einer gerichtlichen Kontrolle und Verfahrensgarantien sowie Garantien für die Achtung der individuellen Rechte (Recht auf Information, auf die Achtung der Privatsphäre und auf Meinungs- und Kommunikationsfreiheit) und für die Neutralität des Internets.

1.15   Gleichzeitig sollte der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Straftaten und Sanktionen effektiv angewandt werden, und einige äußerst intrusive und repressive nationale Rechtsvorschriften gegen das in geringem Umfang von Privatpersonen ohne gewerbliche Zwecke über das Internet betriebene illegale Kopieren audiovisueller Produkte sollten in diesem Sinne überarbeitet werden. Es sollte nicht der Eindruck vermittelt werden, dass die Gesetzgebung dem Druck der Lobbys nachgibt, statt ein Grundprinzip des Strafrechts zu wahren.

1.16   Der Ausschuss erwartet ferner mit Interesse die Vorschläge der Kommission zur Erneuerung des Markenrechts und seiner Harmonisierung und Erneuerung im Rahmen des Binnenmarktes. Er vertritt die Ansicht, dass die Erneuerung des Rechts und eine Verbesserung des Schutzes angesichts ihrer Bedeutung für die Wertbestimmung der Unternehmen unverzichtbar sind.

2.   Vorschläge der Europäischen Kommission

2.1   Der Begriff „immateriell“ weckt häufig zunächst Assoziationen an Forschung, Patente sowie – allgemeiner – an technologische Innovation. Obgleich diese Elemente für die Wettbewerbsfähigkeit von entscheidendem Vorteil sind, gibt es noch eine weitere Kategorie immaterieller Vermögenswerte: den gesamten Bereich des Immateriellen im Zusammenhang mit der Erfindungs- und Schöpferkraft. Darunter fallen eine Vielzahl von Tätigkeiten, Konzepten und Branchen wie das kulturelle und künstlerische Schaffen im weiteren Sinn sowie Design, Werbung, Marken usw. All diese Elemente haben eines gemein: Sie beruhen auf den Begriffen der schöpferischen Tätigkeit und der Kreativität.

2.2   Die jüngsten Entwicklungen – die Ratifizierung der „Internetverträge“ der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO), d.h. des Vertrags der WIPO über die Urheberrechte (WCT) und des Vertrags der WIPO über Darbietungen und Tonträger (WPPT), durch die Union und die Mitgliedstaaten – konnten in den Vorschlägen der Kommission von 2009 nicht berücksichtigt werden. Die vorliegende Mitteilung trägt sowohl dieser neuen Wirklichkeit als auch dem ACTA (Anti-Piraterie-Handelsabkommen) Rechnung.

2.3   Beim immateriellen (oder „geistigen“) Eigentum wird zwischen zwei Formen unterschieden: gewerbliches Eigentum und literarisches und künstlerisches Eigentum.

2.4   Die beiden Hauptbereiche des Schutzes von Erfindern und schöpferisch Tätigen bestehen aus den zwei großen historischen Formen von Patenten: einerseits die gewerblich anwendbaren Erfindungen und andererseits das Urheberrecht (bzw. seine restriktivere Variante des Copyright im angelsächsischen Common Law) für Veröffentlichungen und sonstige literarische, audiovisuelle oder künstlerische Schöpfungen im weitesten Sinne.

2.5   In dieser Mitteilung soll die Gesamtstrategie der Kommission zur Errichtung eines echten Binnenmarktes für geistiges Eigentum beschrieben werden, den es derzeit in Europa noch nicht gibt – eine europäische Regelung für Rechte des geistigen Eigentums in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Wirtschaft von morgen, in der sich erfinderische und kreative Anstrengungen lohnen, Anreize für Innovationen aus der EU bestehen und kulturelle Vielfalt dank neuer Möglichkeiten für das Anbieten von Inhalten auf offenen und wettbewerbsbestimmten Märkten gedeihen kann.

2.6   Es handelt sich um ein Bündel von Vorschlägen. In einigen werden Maßnahmen aufgegriffen, die schon vor längerem eingeleitet wurden, nun jedoch harmonisiert und angepasst werden sollen. Andere sind neue Vorschläge zur Einbettung und Eingliederung der Rechte des geistigen Eigentums in den europäischen Binnenmarkt.

2.7   Da einige Vorschläge nicht konkret ausformuliert sind, wird in den kommenden Monaten abzuwarten sein, bis handfeste Empfehlungen zur Organisationsform eines europäischen Marktes der Rechte des geistigen Eigentums und dessen Überprüfung im Sinne einer Harmonisierung des Markenschutzes vorliegen. Die Kommission wird 2012 Vorschriften über die Verwaltung der Rechte an online angebotener Musik vorlegen.

2.8   Die übrigen Vorschläge, wie der einheitliche Patentschutz, der nach dreißigjährigen Anstrengungen nun seiner Vollendung entgegenzusehen scheint, die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Nachahmung und Produktpiraterie bzw. des Markenparasitismus, stehen schon länger im Raum; sie wurden nun jedoch in einen harmonisierten und kohärenten Rahmen gesetzt, um zusammen mit anderen zur Wirksamkeit der vorgeschlagenen Strategie beitragen zu können.

3.   Allgemeine Bemerkungen des Ausschusses

3.1   Nach Ansicht des Ausschusses würde eine moderne und integrierte europäische Regelung für Rechte des geistigen Eigentums einen wesentlichen Beitrag zum Wachstum, zur Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze und zur Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft leisten – d.h. zu zentralen Zielen der Europa-2020-Strategie. Der Ausschuss hat sich in der Vergangenheit regelmäßig hierzu geäußert und Vorschläge zum gewerblichen sowie zum literarischen und künstlerischen Eigentum im Binnenmarkt unterbreitet (1).

3.2   Die Rechte des geistigen Eigentums umfassen gewerbliche und kommerzielle Nutzungsrechte wie Patente und Gebrauchsmuster, Marken, Pflanzenzüchtungen, Rechte an Datenbanken oder elektronischen Schaltkreisen, Geschmacksmuster, geografische Angaben, Urheberrechte und verwandte Rechte, Herstellungsgeheimnisse usw.

3.3   Allein die Wissensbranchen stehen für 1,4 Mio. KMU und 8,5 Mio. Arbeitsplätze in Europa; sie verzeichnen im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen ein rapides und stetiges Wachstum und tragen dadurch zum wirtschaftlichen Aufschwung bei.

3.4   Die Kommission stellt fest: „Rechte des geistigen Eigentums sind Eigentumsrechte […]“. Sie sind dem Eigentumsrecht gleichgestellt, de facto jedoch immaterielle Rechte, die ihre Inhaber vor Nachahmung und Konkurrenz schützen. Rechte des geistigen Eigentums bilden Ausnahmen vom freien Wettbewerb, und zwar in Form zeitweiliger Monopole, die durch eine Urkunde oder ein Zertifikat geschützt sind, welche von einer zuständigen staatlichen Stelle vergeben werden (Patent usw.) oder gesetzlich anerkannt sind (Urheberrecht und verwandte Schutzrechte).

3.5   Die Inhaber dieser Rechte können diese abtreten oder lediglich das Wiedergaberecht in Form von Lizenzen verkaufen, was sie den Rechten des immateriellen Eigentums annähert; der Schutz des immateriellen Eigentums ist in der Praxis jedoch willkürlicher als derjenige des materiellen Eigentums, da beide unterschiedliche Grundlagen haben. Zeitweilige Monopole werden nur im Allgemeininteresse anerkannt und geschützt, mit dem Ziel, das Potenzial der Kenntnisse und Technologien zu erhöhen und dadurch die gewerbliche oder kulturelle Entwicklung anzustoßen.

3.6   Diese Dimension des Allgemeininteresses ist im Bereich der Software nicht mehr vorhanden; hier ist die Veröffentlichung ihrer Quellen bei der Vergabe von Schutzpatenten nicht zwingend. Nach Maßgabe des europäischen Rechts ist der Schutz von Software durch Patente ausgeschlossen (Münchner Patentübereinkommen). Stattdessen werden durch ein vom Urheberrecht abgeleitetes Recht nicht die Quellen, sondern nur die Wirkungen der sog. proprietären Software geschützt. Daraus ergibt sich allerdings ein Problem, da dieselben Wirkungen mit verschiedenen Programmen erzielt werden können. Zudem sind an den Schutz des Urheberrechts von Software spezielle Verpflichtungen geknüpft, mit denen die Interoperabilität der verschiedenen Programme gewährleistet werden soll, sodass folglich die Dekompilierung genehmigt werden kann. Die Schutzdauer, die grundsätzlich 50 Jahre beträgt, erscheint jedoch sehr überzogen, handelt es sich doch um einen Bereich, in dem Neuerungen und Innovationen in rasantem Tempo aufeinanderfolgen und in dem nach dem Prinzip „Der Gewinner bekommt alles“ (winner takes all) verfahren wird, und das auf einem Markt, auf dem sich Technologien und Programme ständig wandeln und weiterentwickeln.

3.7   Andererseits widersetzen sich Bewegungen wie die „General Public License“ für Software und die „Creative Commons“ für den literarischen oder künstlerischen Bereich den traditionellen Formen des Schutzes, indem sie freie öffentliche Lizenzen schaffen und auf diese Weise gegen den klassischen Rechtsschutz protestieren, der als Hemmnis für die Wissens- und Informationsgesellschaft angesehen wird. Diese freien Lizenzen, die einen wichtigen Teil des globalen Marktes ausmachen, sollten gleichermaßen wie die anderen Lizenzen für Eigentumsrechte anerkannt und geschützt werden.

3.8   Der zeitweilige Schutz kann aus Gründen des Allgemeininteresses durch Sonderregelungen eingeschränkt sein (Zwangslizenzen, wenn die Rechteinhaber die Lizenzerteilung in bestimmten Ländern verweigern, oder im Bereich der Arzneimittel bei Human- oder Tierepidemien). Bevor die immateriellen Rechte im Zusammenhang mit dem internationalen Handel durch die TRIPS-Abkommen und die jüngsten WIPO-Verträge eine größere, wenn nicht gar universelle Dimension erhielten, gewährten viele Länder keinen wirklichen oder ausreichenden Schutz oder duldeten Verletzungen des gewerblichen und literarischen Eigentums, um ihre Industriebasis und ihre Kenntnisse auszubauen (Japan, bestimmte europäische Länder usw.). Derartige Praktiken sind rückläufig, doch können die Staaten gegenüber Nachahmungen in der Praxis mehr oder weniger repressiv oder tolerant sein (China, Indien usw.).

3.9   Die Entwicklung immaterieller Vermögenswerte (Marken) ermöglicht es einem Unternehmen, sich von seinen Konkurrenten abzuheben, neue Produkte und Konzepte auf den Markt zu bringen und insgesamt seine nicht preisgebundene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, was letztlich Kunden und Mehrgewinne einbringt und neue Arbeitsplätze schafft. Piraterie und „parasitäre“ Praktiken entwickeln sich weiter und bedrohen sowohl die Beschäftigung als auch die Investitionen. Sie gefährden die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher und erschüttern ihr Vertrauen in die gefälschten oder nachgeahmten Marken, wodurch die Möglichkeiten von Lizenzübertragungen und die erwarteten Einnahmen und Steuern abnehmen.

3.10   Der von diesen Aktiva generierte Mehrwert wird bei der Bestimmung des Börsenwerts der in einer immateriellen Wirtschaft agierenden Großunternehmen jedoch immer mehr in Betracht gezogen – vor dem Hintergrund der „Finanzialisierung“ dieser Ökonomie. Die wichtigsten Börsenkapitalisierungen von Unternehmen wie Microsoft, Apple, IBM (40 000 Patente), Google oder Facebook bestehen zu 90 % aus ihren immateriellen Vermögenswerten. Dieser Anteil schwankt zwar je nach Branche, ist und bleibt jedoch beträchtlich (zwischen 90 % und 40 % der Börsenkapitalisierung der am Markt beteiligten Unternehmen). Die neuen Rechnungslegungsvorschriften machen eine Bilanzierung der immateriellen Werte erforderlich, was jedoch zu schwerwiegende Bewertungsproblemen führt.

3.11   Eine solche Maßstabsänderung hat unmittelbare Auswirkungen auf den Begriff „geistiges Eigentum“, der sich im Übrigen seit den klassischen Schutztiteln Patent und Urheberrecht gewandelt hat, wie sich dies in den jüngsten WIPO-Verträgen widerspiegelt. Die Kommission hat die WIPO daher aufgefordert, den Schutz von Datenbanken mit Blick auf den Abschluss eines internationalen Vertrags auf einer künftigen Konferenz zu behandeln.

3.12   Hierdurch erklärt sich auch das ACTA-Abkommen und die Bedingungen seiner Annahme (ohne diese jedoch zu rechtfertigen): Dieses Abkommen zielt auf die grenzüberschreitende Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz der Inhaberschaft von Patenten und des Urheberrechts ab, die in den TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO) verankert sind. Bestimmte Länder wie China oder Indien blockieren in Genf jedoch die Verabschiedung von Maßnahmen zur Umsetzung der TRIPS-Abkommen und verhindern dadurch den wirksamen Schutz der immateriellen Rechte im internationalen Handel.

3.13   Im Prinzip dürfte das ACTA den gemeinschaftlichen Besitzstand nicht verändern. Durch die ausschließliche Ausrichtung auf einen verstärkten Schutz der Rechte der Inhaber durch Maßnahmen in den Bereichen Zoll, Polizei und Verwaltungszusammenarbeit wird aber weiterhin einer spezifischen Sichtweise der Rechteinhaberschaft der Vorzug gegeben. Die übrigen – und zweifellos grundlegendsten – Menschenrechte wie das Recht auf Information, Gesundheit und ausreichende Ernährung, auf die Auswahl des Saatguts durch die Landwirte und auf Kultur werden indes nicht adäquat berücksichtigt, was Auswirkungen auf die künftigen EU-Gesetze haben wird, die künftig zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erlassen werden. Das Konzept, dem zufolge Rechte des geistigen Eigentums individualisierte und ausschließliche Rechte sind, die zeitweilige Ausnahmen vom freien Wettbewerb bilden, hat somit durchaus Folgen für die Zukunft der Wissens- und Informationsgesellschaft und die in der EU-Charta der Grundrechte verankerten Menschenrechte der dritten Generation.

3.14   Als patentfähig zugelassene Erfindungen unterscheiden sich von Land zu Land erheblich, insbesondere im Bereich der neuen Technologien; so weist Software spezifische Besonderheiten auf und ist bald durch Patente (wie in den USA), bald durch ein besonderes Urheberrecht (wie in Europa) geschützt. Doch diese widersprüchlichen Regelungen stellen große Innovationshindernisse dar und sind beispielsweise in den USA für unverhältnismäßig hohe Rechtsverteidigungskosten verantwortlich. Die Vergabe von Trivialpatenten schafft eine starke Rechtsunsicherheit: Die USA haben gerade ihr Patentamt USPTO reformiert und ihr System zum Schutz neuer Technologien und insbesondere von Software überarbeitet, um hochwertige Patente vergeben und so Innovation und Rechtssicherheit fördern zu können.

3.15   Das Verfahren zur Prüfung der Ansprüche ist von zentraler Bedeutung; es muss im Hinblick auf den künftigen einheitlichen Patentschutz qualitativ einwandfrei und anerkannt sein, damit sein Wert verankert werden kann und Anfechtungen und Prozesse so weit es geht vermieden werden können. Das entsprechend qualifizierte Personal ist beim Europäischen Patentamt vorhanden – es muss nur ausreichend Prüfzeit je Antrag erhalten, damit es diese Qualität, die das Erkennungsmerkmal der europäischen Innovation sein sollte, gewährleisten kann. Desgleichen sollte auch die Qualität der Übersetzungen aus den einzelstaatlichen Sprachen in die im Londoner Übereinkommen festgelegten Verkehrssprachen mit derselben Sorgfalt von Spezialisten für technisches Übersetzen angefertigt werden. Der Ausschuss ist nämlich der Ansicht, dass das derzeitige Niveau der automatischen Übersetzungssoftware noch nicht ausreicht, um die juristisch-technische Fachsprache und die große Komplexität der Patente mit der erforderlichen Qualität wiederzugeben (2).

4.   Besondere Bemerkungen des EWSA

4.1   Schutz von Erfindungen durch Patente

4.1.1   Gemäß dem Münchner Patentübereinkommen kann für gewerblich anwendbare Erfindungen mit Neuerungscharakter ein Patentschutz beantragt werden, während Software, Geschäftsmethoden, Algorithmen und Gleichungen sowie wissenschaftliche Entdeckungen nicht patentfähig sind. Die Infragestellung dieses Grundsatzes in Bezug auf Software (die aus Algorithmen besteht) und wissenschaftliche Entdeckungen (Humangenom, Rolle der Gene) ist vieldiskutiert, da es starke Widerstände gibt. Die USA vergeben Patente auf dem Gebiet der europäischen Ausnahmen (gemäß einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs), die heute zu schwerwiegenden Problemen führen, da mehrere von ihnen aufgrund einer fehlenden Qualitätsprüfung trivial sind, und in Streitfällen zudem unverhältnismäßig hohe Schutzkosten verursachen.

4.2   Schutz von Software

4.2.1   „Die Richtlinie 91/250/EWG des Rates gewährt Computerprogrammen urheberrechtlichen Schutz als literarische Werke im Sinne der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und der Kunst (Pariser Fassung von 1971). Die Klärung der Urheberschaft bleibt weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Der Arbeitgeber ist berechtigt, die wirtschaftlichen Rechte an den von seinen Arbeitnehmern geschaffenen Programmen auszuüben. Persönlichkeitsrechte werden in der Richtlinie nicht geregelt“ (3). Auch das Problem der Rechte angestellter Urheber im Zusammenhang sowohl mit dem Urheber- als auch dem Patentrecht wird in der Richtlinie nicht geregelt.

4.2.2   Der Ausschuss schlägt der Kommission daher vor, für Software die Möglichkeit eines spezifischen Schutzes von sehr eingeschränkter Dauer zu prüfen: Angesichts des raschen Innovations- und Erneuerungstempos von Programmen der großen Herausgeber könnte die Richtlinie 91/250/EWG (4) dahingehend überarbeitet werden, dass die Schutzdauer erheblich (z.B. auf fünf Jahre) reduziert und anschließend die Veröffentlichung der Quellen vorgeschrieben wird.

4.3   Schutz von Datenbanken

4.3.1   Es handelt sich hierbei um einen Sui-generis-Schutz nach Vorbild des literarischen und künstlerischen Eigentums, jedoch für eine Dauer von fünfzehn Jahren, während die von einigen Datenbanken referenzierten oder zitierten Werke weiterhin dem Urheberrecht unterliegen. Die europäische Gesetzgebung ist eine der wenigen, die einen Schutz für die Schöpfer von Datenbanken vorsieht, die in allen Drittstaaten weitgehend ignoriert werden.

4.4   Schutz von Computerschaltkreisen

4.4.1   Elektronische Leiterplatten und Prozessoren sind Gegenstand eines in den Übereinkommen von Marrakesch (1994) zur Errichtung der WTO verankerten universellen Ad-hoc-Schutzes vor Nachahmung.

4.5   Schutz des literarischen und künstlerischen Eigentums

4.5.1   Auch das Urheberrecht (Copyright mitsamt dem Urheberpersönlichkeitsrecht) und das Folgerecht der Künstler stehen in Europa ebenfalls unter universellem Schutz.

4.5.2   Der Schutz von Werken, insbesondere Büchern, Kinofilmen oder Musikstücken, wird untergraben durch die modernen Mittel der digitalen Reproduktion und die Übermittlung per Internet. Durch diese Mittel können die Anfertigung qualitativ dem Original entsprechender Kopien und deren Handel erleichtert werden. Diese Praktiken sind illegal in Europa, doch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften weichen voneinander ab, und der Ausschuss unterstützt eine echte Harmonisierung der Rechtsvorschriften hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit und Ausgewogenheit der Kontrollen und Sanktionen.

4.5.3   Gerade in diesem Bereich hat sich ein europäisches Recht herausgebildet, das den Inhabern von Urheberrechten und verwandten Rechten sehr starken Schutz bietet. Dies ist auch in den USA der Fall; dadurch erklärt sich großenteils die Entstehung des ACTA, das „geheime“, auf bestimmte Länder beschränkte Verfahren seiner Erarbeitung sowie insbesondere seine „Durchsetzungsziele“ angesichts des Unvermögens, die WTO aufgrund der erforderlichen Einstimmigkeit und der Blockade seitens bestimmter Länder wie Chinas oder Indiens zur Anerkennung praktischer Verfahren und von Verpflichtungen zu bewegen.

4.5.4   Nach dem Dafürhalten des Ausschusses zielt der Ansatz des ACTA jedoch auf die kontinuierliche Stärkung der Stellung der Rechteinhaber gegenüber einer „Öffentlichkeit“ ab, deren Grundrechte (Privatsphäre, Informationsfreiheit, Briefgeheimnis, Unschuldsvermutung) durch Rechtsvorschriften zugunsten der Vertreiber von Inhalten immer weiter geschwächt werden.

4.5.5   „Profi“-Betrüger verstehen es perfekt, jeder Form der Kontrolle des Datenflusses im Internet zu entkommen, und die Sanktionen gegen einige Jugendliche, um ein „Exempel zu statuieren“, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Produzenten audiovisueller Inhalte bei der Schaffung eines an die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien angepassten Geschäftsmodells zehn Jahre im Rückstand sind. Zur Verringerung der Verfahrenskosten und der Schlichtungsdauer wurden in manchen Staaten – bisweilen mit Unterstützung der Regierung – Verhaltenskodexe erlassen, mit denen die Internetprovider dazu verpflichtet werden, den Anbietern audiovisueller und musikalischer Inhalten (einer Branche mit hohem Konzentrationsgrad) die Namen und Adressen mutmaßlicher „Raubkopierer“ von illegal im Internet erworbenen Inhalten zu liefern. Die Gefahr von Irrtümern ist nicht auszuschließen. Diese Form der Denunzierung kann durch das Sperren des Internetzugangs derjenigen, die die Rechte des geistigen Eigentums mutmaßlich verletzt haben, noch verschlimmert werden. Dies erleichtert zwar die Arbeit der überlasteten Gerichte und erspart es dem Gesetzgeber, in einem Kontext der Haushaltszwänge zu handeln und die Einrichtung offizieller Pirateriebekämpfungseinrichtungen vorzuschlagen. Solche privaten Praktiken können jedoch ausufern – ebenso wie die Rechtsvorschriften, die unter dem Druck der Lobbys des Film- und Musikvertriebs erlassen werden. Diese Lobbys agieren in einigen Ländern mit generell sehr wenig überzeugenden Ergebnissen und nehmen eine Verletzung der Rechte der Verbraucher in Kauf, die im Allgemeinen völlig ignoriert und pauschal als potenzielle Betrüger abgestempelt werden.

4.5.6   Es ist zwar an und für sich notwendig, die Einhaltung von Vorschriften gegen Piraterie zu gewährleisten, die in den meisten Fällen einen Schutz der Verbraucher vor Gesundheits- und Sicherheitsrisiken bieten und auch qualifizierte Arbeitsplätze schützen, bei denen die Arbeitnehmerrechte gewahrt werden. Dennoch wäre es vorzuziehen, das allgemeine Konzept des literarischen und künstlerischen Eigentums zu präzisieren, um auf diese Weise die Rechtsvorschriften, die harmonisiert werden sollen, wieder ins Gleichgewicht zu bringen und dabei auch die Rechte der Verbraucher und Nutzer sowie der Arbeitnehmer zu berücksichtigen und ihre Vertretungsverbände in die Ausarbeitung der einschlägigen Vorschriften einzubeziehen.

4.5.7   Die Rundfunkübertragung von Werken per Kabel oder Satellit wird durch eine Richtlinie (5) geregelt. Darüber hinaus gibt es auf europäischer Ebene

eine Richtlinie über verwaiste Werke (wird vom Gesetzgeber derzeit geprüft) (6),

eine Richtlinie zum Vermietrecht und Verleihrecht (7),

Ausnahmen vom Urheberrecht (8).

Über diese Richtlinien wird regelmäßig Bericht erstattet. Die „Ausnahmen“ oder „Duldungen“ sollten dahingehend überprüft werden, ob die Rechte der Nutzer durch Vorschriften zum Schutz Grundrechte der Nutzer und die Auferlegung von Ausnahmen, z.B. im Falle von Behinderungen, eindeutig gewahrt werden (9).

4.6   Vorschlag der Kommission zum Binnenmarkt für Rechte des geistigen Eigentums und Bemerkungen des Ausschusses

4.6.1   Es zeichnet sich zunehmend und in verstärktem Maße die Tendenz ab, die zeitweiligen Rechte eines Patentschutzes, Urheberrechts und anderer Sui-generis-Systeme (elektronische Schaltkreise, Muster und Modelle, Pflanzengattungen usw.) Eigentumsrechten gleichzusetzen, die mit den Eigentumsrechten auf bewegliches und unbewegliches Vermögen vergleichbar sind. Diese Tendenz, von der man nicht weiß, ob sie dauerhaft sein wird, wird von der Kommission aufgegriffen und hat die vorgeschlagene Strategie deutlich geprägt.

4.6.2   Eine solche Vermischung zeitweiliger Ausnahmen mit dem Eigentumsbegriff aus dem römischen Recht hat – wenn überhaupt – nur für die Inhaber Vorteile. Die Aufhebung des Wettbewerbsrechts und seine Unterwerfung unter das System der Genehmigung durch die Inhaber in Form entsprechender Lizenzen schafft jedoch kein wirkliches Eigentumsrecht mit allem, was dazugehört. Es gibt Beschränkungen im Interesse der Allgemeinheit (Zwangslizenzen), der Schutz wird eingeschränkt durch die Territorialität der Patente und durch Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, auch in Europa, usw.

4.6.3   Die heutige Entwicklung geht jedoch dahin, Patente und Lizenzen als Anlagewerte und Investitionsgarantien zu erachten; bisweilen ist sogar ihre Umwandlung in Titel zu Zwecken der Finanzspekulation zu beobachten. Dies führt zu einer „Finanzialisierung“ der Ökonomie und gleichzeitig zur Entwicklung einer Wirtschaft des Immateriellen im Zusammenhang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und den neuen Rechnungslegungsvorschriften (International Financial Reporting Standards – IFRS). Die Kommission dürfte ihre Patentmarktstrategie demnächst in Form eines „Instruments für die Valorisierung von Rechten des geistigen Eigentums“ (eine europäische Börse?) konkretisieren. Das größte Problem der „innovativen Neugründungen“ in Europa sind die unzulänglichen Verbindungen zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Hochschule/Unternehmen sowie der flagrante Mangel an Risikokapital in den innovativen Unternehmen. Der Ausschuss macht erneut auf die Praktiken der multinationalen Unternehmen in der Hochtechnologiebranche aufmerksam, die anstatt Lizenzen, die auch der Konkurrenz gewährt werden könnten, KMU und Ingenieure mit dem Patent-Portefeuille innovativer Unternehmen kaufen bzw. anstellen, wobei das Ziel darin besteht, die Patente und sonstige geistige Schutzrechte für monopolfördernde und wettbewerbswidrige Strategien zu verwenden.

4.6.4   In einer weiteren Säule der Strategie wird bekräftigt, dass dem europäischen einheitlichen Patentschutz und einem höherinstanzlichen europäischen Gericht zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung ein zentraler Platz dabei zukommt, die gravierenden Probleme für die Unternehmen zu beseitigen – insbesondere die Probleme, die die KMU daran hindern, ihr geistiges Eigentum zu schützen – und für eine bessere Kenntnis des Stands der Technik im Binnenmarkt zu sorgen.

4.6.5   Der Ausschuss hat die Bemühungen der Kommission um Einführung eines solchen einheitlichen Patentschutzes stets nachdrücklich unterstützt; er hat gleichzeitig jedoch Vorbehalte zu bestimmten Praktiken des Europäischen Patentamts geäußert, das die Bestimmungen des Münchner Übereinkommens betreffend die ausdrückliche Ausnahme von Software nicht vollständig einhält – und das, obwohl alle Patente im Zusammenhang mit Software oder Geschäftspraktiken von den im Beschwerdefall angerufenen einzelstaatlichen Gerichten annulliert wurden. Solche Praktiken beeinträchtigen die Rechtssicherheit, die mit der Beantragung eines Patentschutzes einhergehen muss – einem Verfahren, das für die Antragsteller mit erheblichen Kosten verbunden ist (Prüfgebühren und Übersetzungskosten, Jahresgebühr, Beschäftigung von Patentvermittlern). Durch solche Ausnahmen darf der künftige Patentschutz nicht beeinträchtigt werden.

4.6.6   Bezüglich der Vorschläge der Kommission, einen europäischen Urheberrechtskodex zu entwickeln und die Möglichkeit der Schaffung eines wahlweisen „einheitlichen“ Urheberrechtstitels zu prüfen, ist der Aussicht der Meinung, dass es sich hierbei um sehr ambitionierte Vorschläge im Sinne einer Harmonisierung und der Verwirklichung des Binnenmarkts handelt, es jedoch noch zu früh ist, sich zu reinen Hypothesen zu äußern. Er fordert die Kommission auf, die Untersuchungen fortzuführen und konkrete Vorschläge vorzulegen, in denen der Weiterentwicklung dieser Frage in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird.

4.6.7   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die auf elektronische und magnetische Träger jeder Art erhobene Abgabe zur Finanzierung von Privatkopien auf einer Schuldsvermutung beruht. Der Ausschuss vertritt stattdessen den Standpunkt, dass das Kopieren zu privaten Zwecken eine legitime Praxis ist, die den Wechsel des Trägers oder der Hardware ermöglicht und als Recht des rechtmäßigen Inhabers der Nutzungslizenz als Element des „Fair Use“ anerkannt werden sollte (10).

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 18 vom 19.1.2011, S. 105.

ABl. C 116 vom 28.4.1999, S. 35.

ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 15.

ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 63.

(2)  Das Europäische Patentamt (EPA) bietet Übersetzungshilfsmittel an, die jedoch auf drei Amtssprachen beschränkt sind.

(3)  Siehe KOM(2000) 199 endgültig.

(4)  ABl. L 122 vom 17.5.1991, S. 42.

(5)  Richtlinie 93/83/EWG (ABl. L 248 vom 6.10.1993, S. 15).

(6)  EWSA-Stellungnahme: ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 66.

(7)  Richtlinie 2006/115/EG (ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 28).

(8)  Richtlinie 2001/29/EG (ABl. L 167 vom 22.6.2001, S. 10).

(9)  EWSA-Stellungnahme: ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 52.

(10)  In seinem Urteil in der Rechtssache Padawan schließt sich der EUGH dieser Auffassung an.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Eine strategische Vision der europäischen Normung: Weitere Schritte zur Stärkung und Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums der europäischen Wirtschaft bis zum Jahr 2020“

KOM(2011) 311 endg.

2012/C 68/06

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Die Europäische Kommission beschloss am 1. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss – Eine strategische Vision der europäischen Normung: Weitere Schritte zur Stärkung und Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums der europäischen Wirtschaft bis zum Jahr 2020

KOM(2011) 311 endgültig.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 19. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 19. Januar) mit 158 gegen 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum mit Nachdruck und begrüßt die von der Kommission eingeleitete Initiative. Insbesondere die Annahme gemeinsamer EU-Normen trägt zur Entwicklung eines wettbewerbsfähigen Binnenmarktes mit interoperablen, innovativen und auf Normen beruhenden Produkten und Dienstleistungen bei.

1.2   Normen sind das Erbe unserer Zivilisation: Sie verkörpern das Wissen der Gegenwart und der Vergangenheit. Um den Bedürfnissen zu entsprechen, müssen sie sich ständig weiterentwickeln. Die Entwicklungszeit für Normen sollte verringert werden, damit diese stets die aktuellen Bedürfnisse der Gesellschaft widerspiegeln. Der EWSA unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Entwicklungszeit bis 2020 zu halbieren. Dies darf jedoch nicht undifferenziert geschehen, und auch die notwendigen und manchmal langwierigen Konsultationen der Interessenträger dürfen nicht in Frage gestellt werden. Diese Konsultationen lassen sich auf nationaler Ebene wirksamer führen und werden durch die gezielten Maßnahmen einschlägiger europäischer Organisationen sinnvoll ergänzt.

1.3   Die Einbindung in den Normungsprozess sollte genauso wichtig sein wie die Einbindung in das Rechtsetzungsverfahren. Eine stärkere Einbindung von Verbrauchern, KMU und anderen Interessenträgern ist erforderlich und kann durch finanzielle Unterstützung erzielt werden. Durch eine Bewertung der nationalen Normung durch die betroffenen Interessengruppen könnte eine Interessenvertretung der Gesellschaft auf allen Ebenen gewährleistet werden.

1.4   Für eine ordnungsgemäße Umsetzung des Binnenmarktes sind Normen im öffentlichen Beschaffungswesen von grundlegender Bedeutung.

1.5   Der EWSA bekräftigt seine bisherige Haltung, dass „die von internationalen Foren und/oder Industrievereinigungen im IKT-Bereich angenommenen Spezifikationen erst nach einem Prüfungsverfahren durch die europäischen Normungsgremien zugelassen werden [sollten], an dem Vertreter der KMU, der Verbraucher- und Umweltschutzverbände, der Arbeitnehmer sowie der wichtige soziale Interessen vertretenden Organisationen beteiligt werden“ (1).

1.6   Die Kommission schlägt mehrere Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen vor. Da die Normung ein sehr wichtiges Instrument zur Unterstützung der Industriepolitik, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit ist, begrüßt der EWSA die vorgeschlagenen Maßnahmen, insbesondere jene im Zusammenhang mit der Rolle der gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission, die wissenschaftliche Normen und deren Übereinstimmung mit den Erfordernissen der europäischen Wirtschaft und der nationalen Volkswirtschaften in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, Soziales, Sicherheit und Umweltfolgen (Maßnahmen 1 bis 5 der Mitteilung) prüfen soll.

1.7   Mit Blick auf die gesellschaftlichen Interessen sieht die Kommission eine verstärkte Konzentration auf die Themen Sicherheit und Zivilschutz vor und fordert von den Mitgliedstaaten eine wirksame Einbeziehung von Verbrauchern und Umweltorganisationen sowie von behinderten und älteren Menschen. Der EWSA erachtet diese Vorschläge (Maßnahmen 6 bis 9) für sehr wertvoll.

1.8   Der EWSA hat stets die Einbindung und die aktive Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützt und befürwortet nachdrücklich die Initiative der Kommission, auf der Grundlage anerkannter Kriterien wie der Grundsätze des WTO-Übereinkommens über technische Handelshemmnisse sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene stärker integrativ ausgerichtete Arbeitsverfahren zu schaffen und diese auszuweiten. KMU-Verbände, Verbraucher, Gewerkschaften und andere wichtige Interessengruppen sollten finanziell unterstützt werden (Maßnahmen 10 bis 15).

1.9   In Kapitel 5 der Mitteilung geht es um die Normentwicklung für Dienstleistungen. Der EWSA teilt die in diesem Kapitel formulierte Auffassung und hält die Idee, die Verantwortung der Hochrangigen Gruppe „Dienstleistungen für Unternehmen“ zu übertragen, wie es in der Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte“ vorgeschlagen wird, für sehr nützlich für alle Wirtschaftszweige, sogar über den Dienstleistungssektor hinaus (Maßnahmen 16 bis 18).

1.10   Der EWSA erkennt die Besonderheit des IKT-Marktes und die Notwendigkeit einer raschen Festlegung von Normen durch Foren und Konsortien an. Wie bereits erwähnt, sollten diese Normen in einem wirksamen integrativen Verfahren festgelegt werden. Die Einrichtung einer Multi-Stakeholder-Plattform wird ebenfalls begrüßt. Der EWSA empfiehlt, dieses Forum regelmäßig und nicht nur für eine einzige Initiative abzuhalten, und würde sich gerne daran beteiligen.

Im elektronischen Beschaffungswesen und bei elektronischen Behördendiensten im Allgemeinen sind Normen im IKT-Bereich von grundlegender Bedeutung. Die Gewährleistung der Interoperabilität von IKT-Normen ist daher fundamental (Maßnahmen 19 bis 23).

1.11   Die abschließenden Vorschläge unterstreichen die wichtige Rolle Europas bei der internationalen Normung und die aktive Rolle, die die Kommission hier übernehmen will. Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen und hält es im Interesse der EU für wesentlich, dass sie sich sehr aktiv an der internationalen Normungsarbeit beteiligt. Er befürwortet daher die Beschlüsse der Kommission, die europäischen Normungsorganisationen auf einer bilateralen und multilateralen Basis in ihrer Arbeit zu unterstützen (Maßnahmen 24 bis 28).

1.12   Mit der unabhängigen Überprüfung, die spätestens 2013 anlaufen soll, beabsichtigt die Kommission, die Fortschritte und die Konformität mit den in den Bereichen Industriepolitik, Innovation und technologische Entwicklung festgelegten Zielen in Bezug auf die Markterfordernisse, die Integrativität und die Repräsentativität zu bewerten. Der EWSA ist voll und ganz mit diesem Vorschlag einverstanden (Maßnahme 29).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Ein wirksames europäisches Normungssystem wird insbesondere die Schaffung interoperabler Produkte und Dienstleistungen ermöglichen, die ohne Bedenken innerhalb der EU angeboten werden können, und das nicht nur bei grenzüberschreitenden Transaktionen, sondern auch auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene.

2.2   Der EWSA teilt die Auffassung, dass Normen wirksame politische Instrumente sind, die zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes beitragen, insbesondere in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und Dienstleistungen, in denen sich Prozess- und Produktionsnormen immer mehr durchsetzen.

2.3   Der EWSA setzt sich nachdrücklich für die Verwendung von Normen im öffentlichen Beschaffungswesen ein, da dies das Angebot an Produkten und Dienstleistungen, die auf Normen beruhen, vergrößern wird. Öffentliche Auftraggeber sollten globale bzw. europäische Normen nach Möglichkeit für sämtliche Waren- oder Dienstleistungsaufträge anwenden. Von der Verwendung herstellereigener Normen und nicht-interoperabler Produkte oder Dienstleistungen sollte hingegen entschieden abgeraten werden.

2.4   Der EWSA betont, wie wichtig die endgültige Beseitigung von Handelshemmnissen ist und begrüßt daher, dass sich alle nationalen Normungsgremien in den Mitgliedstaaten bereit erklärt haben, die europäischen Normen als den nationalen Normen gleichwertig anzusehen, bereits bestehende, inkompatible nationale Normen zurückzuziehen und in Zukunft keine Maßnahmen zu ergreifen, die diese Harmonisierung bedrohen könnten.

2.5   Der EWSA teilt die Auffassung, dass der europäische Normungsprozess beschleunigt, vereinfacht, modernisiert und integrativer gestaltet werden soll. Bei ihren Normungsaufträgen und deren Finanzierung sollte die Kommission die strikte Einhaltung knapper Fristen, die Nutzung von Fachwissen und die konkrete Einbindung aller Interessenträger (insbesondere KMU, Verbraucher und andere gesellschaftliche Interessengruppen, die auf nationaler Ebene oftmals unterrepräsentiert oder gar nicht vertreten sind) einfordern.

2.5.1   Auch die Beteiligung auf nationaler Ebene ist sehr wichtig. Die Vorschläge der nationalen Normungsgremien bilden die Grundlage für eine europäische Norm. Für Verbraucher und KMU ist es einfacher, sich auf nationaler Ebene einzubringen.

2.6   Da die Normung ein freiwilliger, marktgesteuerter Prozess ist und ihr Erfolg maßgeblich von der Marktakzeptanz abhängt, weist der EWSA darauf hin, wie wichtig es ist, KMU (ggf. auch durch ihre Verbände) besser und in alle Phasen der Normung mit einzubeziehen, d.h. bei den Beratungen zu neuen Projekten einschließlich Aufträge, bei der Entwicklung der Normen und bei der Endabstimmung auf nationaler und europäischer Ebene.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Überlegungen zu den europäischen Normungsorganisationen  (2)

3.2   Der EWSA erkennt die beachtliche Verkürzung der durchschnittlichen Entwicklungszeit von europäischen Normen an, die in den vergangenen Jahren erzielt worden ist. Nichtsdestoweniger sollte versucht werden, sie weiter zu verkürzen, jedoch nicht auf Kosten der Integrativität oder Qualität. Der EWSA fordert die Kommission zudem auf, ihre Verfahren zur Ausarbeitung von Normungsaufträgen und für die Bezugnahme auf harmonisierte Normen im Amtsblatt der EU zu verbessern und zu beschleunigen. Er begrüßt zudem die Ankündigung des zuständigen Kommissionsmitglieds, die Dauer des Verfahrens bis 2020 halbieren zu wollen.

3.2.1   Die Zusammensetzung der Mitglieder der Arbeitsgruppen und technischen Ausschüsse der europäischen Normungsorganisationen muss ausgewogener sein, so dass alle von der Normung betroffenen Marktakteure vertreten sind. Um zu gewährleisten, dass Kleinstunternehmen, Verbraucher und andere gesellschaftliche Interessengruppen und deren Vereinigungen an Workshops teilnehmen können, sollten entsprechende Gelder zur Verfügung gestellt werden. Der EWSA begrüßt die Entscheidung, das aktuelle System der Anreize und finanziellen Unterstützung zu überarbeiten und zu straffen, um die Teilnahmemöglichkeiten für alle Interessengruppen auszuweiten. Eine vereinheitlichte Regelung für alle bestehenden Instrumente wäre äußerst wünschenswert.

3.2.2   Um zu vermeiden, dass mehrere (von der Europäischen Kommission finanzierte) Arbeitsgruppen auf EU-Ebene Doppelarbeit leisten oder Ergebnisse doppelt auswerten, ist eine entsprechende Aufsicht notwendig.

3.2.3   Damit alle Interessengruppen einbezogen werden können, sind die nationalen Normungsgremien auf die volle Einbindung der Mitgliedstaaten angewiesen, insbesondere in Hinblick auf den politischen Rückhalt und die technischen und finanziellen Mittel.

3.2.4   Einer der größten Vorteile von Normen ist, interoperable Produkte und Dienstleistungen anbieten zu können. Doch um schnellere Produktentwicklungszyklen zu ermöglichen, sollten ein klarer Mechanismus sowie Instrumente zur Erprobung und Auswertung von EU-Normen geschaffen werden.

3.2.5   Angesichts der Bevölkerungsalterung in Europa muss die europäische Normung auch eine Schlüsselrolle in der Gewährleistung sicherer und zugänglicher Produkte und Dienstleistungen für Verbraucher aller Alters- und Leistungsstufen einnehmen. Besonders wichtig ist dies im Hinblick auf die Bedeutung europäischer Normen bei der Abwicklung öffentlicher Aufträge.

3.3   Anwendungsleitlinien – Einige internationale Normungsgremien bieten keine Leitlinien für die Nutzung der von ihnen entwickelten Normen an. Die europäischen Normungsorganisationen sollten diesem Bedarf nachkommen und klare und präzise Leitlinien aufstellen, die die Anwendung von Normen erleichtern.

KMU werden sich Zugang zu Märkten schaffen können, auf denen gemeinsame Normen verwendet werden. Dadurch werden die Komplexität und die Kosten für KMU verringert und der Wettbewerb gesteigert.

Wenn keine nationalen Normen vorhanden sind, sollte die Verwendung von EU-Normen unterstützt bzw. sollte durch klare Zielvorgaben die Konformität nationaler Normen mit EU-Normen gewährleistet werden.

3.4   Sensibilisierung und Vertretung für KMU: Da KMU einfacher über die vor Ort ansässigen Unternehmen bzw. KMU-Verbände sowie über lokale Verwaltungsstellen erreicht werden können, sollten gezielte Workshops, Schulungen und Sensibilisierungskampagnen auf regionaler und nationaler Ebene stattfinden.

3.4.1   KMU wissen oft nicht Bescheid über das Verfahren zur Entwicklung von Normen und nehmen Produkte mit vordefinierten Normen einfach hin. Nationale und europäische KMU-Verbände verfügen oftmals nicht über die nötigen Ressourcen, um einen Beitrag zur Normungsarbeit leisten zu können. Dies schmälert ihre Einflussmöglichkeiten zusätzlich.

3.4.2   Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Position der europäischen Vertretungsgremien von KMU und gesellschaftlichen Interessengruppen gestärkt werden sollte. Es sollte ernsthaft über die Möglichkeit nachgedacht werden, den europäischen KMU-Verbänden und den gesellschaftlichen Interessengruppen ein Stimmrecht in den europäischen Normungsorganisationen einzuräumen. Der EWSA ist daran interessiert, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Das ist derzeit jedoch nicht so ohne weiteres möglich, da die europäischen Normungsorganisationen private Einrichtungen sind.

3.4.3   Der EWSA würdigt die mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Kommission geleistete Arbeit des Europäischen Büros des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe für die Normung (NORMAPME) und des Europäischen Verbandes für die Koordinierung der Verbrauchervertretung bei der Normung (ANEC).

3.4.4   Um stärker zu sensibilisieren und die Verwendung von Normen zu fördern, schlägt der EWSA vor, dass Normungsgremien auf europäischer und nationaler Ebene Normen für potenzielle Nutzer einfacher zugänglich machen und diesen außerdem eine Zusammenfassung des Norminhalts bereitstellen. Wird die Verwendung von Normen in einem Rechtsakt zwingend vorgeschrieben, muss der Gesetzgeber dafür Sorge tragen, dass diese Normen ebenso zugänglich sind wie der Rechtsakt selbst.

3.5   Bildung: Normungskonzepte sollten in die Lehrpläne der Sekundar- und Hochschulen in der EU aufgenommen werden. Die Schaffung spezifischer Anreize für Schüler, Studierende und Forscher für die Entwicklung auf Normen beruhender interoperabler Lösungen und Anwendungen sollte unterstützt werden. So sollte es beispielsweise einfach sein, EU-Gelder an Schüler, Studierende und Forscher als Einzelpersonen oder in grenzübergreifenden Gruppen zu vergeben.

3.5.1   Die Kommission sollte die Innovationstendenzen beobachten und dazu eng mit der IKT-Industrie, Forschungszentren und Hochschulen zusammenarbeiten, um zu gewährleisten, dass Normen im Einklang mit den Produkt- und Dienstleistungsinnovationen entwickelt werden. Das Arbeitsprogramm für Normungstätigkeiten sollte entsprechend gestaltet werden, wobei prioritär Maßnahmen ergriffen werden sollten, die dem Marktgeschehen und den Marktbedürfnissen entsprechen.

3.6   Normen sind das Ergebnis eines freiwilligen Prozesses, bei dem die Bedürfnisse, Erfordernisse und Regeln bewertet werden, die berücksichtigt werden müssen, um die Marktakzeptanz der betreffenden Produkte und Dienstleistungen zu begünstigen. Diese Regeln werden jedoch nur zu Normen, wenn sie durch eine breite Verwendung bei den Verbrauchern Marktakzeptanz erfahren. Jegliche Normungsarbeit sollte demnach auf einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Forderungen der Interessenträger und auf Konsens beruhen. Es sind jedoch vor allem große private und öffentliche Unternehmen, die an der Normentwicklung teilnehmen. Dadurch entsteht eine unausgeglichene Vertretung der Interessenträger.

3.7   Die Normung ist ein wichtiges Instrument für die Wettbewerbsfähigkeit. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, einen wirksamen nationalen Normungsrahmen zu schaffen, der zur Entwicklung europäischer und internationaler Normen beiträgt und im Bereich der Normung Lösungen zur Zufriedenstellung rein nationaler Bedürfnisse schaffen kann.

3.8   Die nationalen Normungsgremien sollten gestärkt werden. Dies hängt jedoch maßgeblich von der jeweiligen nationalen Industriepolitik ab, so dass deren Einfluss auf nationaler Ebene von Land zu Land unterschiedlich ist. Es könnten gezielte Anreize geschaffen werden, einschließlich einer Kommunikationskampagne über nachahmenswerte Verfahren aus denjenigen EU-Mitgliedstaaten, in denen Normen als strategischer Vorteil für die eigene Wettbewerbsfähigkeit betrachtet werden.

3.9   Der EWSA erkennt die bedeutende Rolle an, die der Entwicklung von Normen für Dienstleistungen zufällt. Es ist jedoch von grundlegender Bedeutung, dass Normen für Dienstleistungen markt- und konsensorientiert sind.

3.9.1   Nationale Normen können die Vollendung des Binnenmarktes behindern. Es ist daher wesentlich, dass Normen auf EU-Ebene ausgearbeitet werden, bevor Mitgliedstaaten mit der Entwicklung landesspezifischer, oftmals nicht-interoperabler Normen beginnen.

3.10   Der EWSA unterstützt ausdrücklich die von der Europäischen Kommission ergriffenen Maßnahmen bezüglich IKT-Normen und Interoperabilität. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, allgemein anerkannte IKT-Normen bei öffentlichen Aufträgen anzuwenden, um die Nachfrage nach interoperablen Dienstleistungen zu steigern, insbesondere im öffentlichen Sektor, der als Motor für die Normung fungieren wird.

3.10.1   Wie der EWSA bereits bekräftigt hat, hält er es „für unverzichtbar, dass die europäischen Normungsgremien und die Kommission im Rahmen einer präventiven Kontrolle bestätigen, dass die von internationalen Foren und/oder Branchenvereinigungen festgelegten Spezifikationen, die in öffentlichen Ausschreibungsverfahren als Referenz angegeben werden sollen, in einem unparteiischen, fairen und transparenten Verfahren ausgearbeitet wurden. An diesem müssen die Vertreter der kleinen und mittleren Unternehmen, Verbraucher, Umweltschützer, Arbeitnehmer sowie der wichtige soziale Interessen vertretenden Organisationen angemessen beteiligt werden.“

3.11   Auch im Hinblick auf die Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit bewertet der EWSA den Vorschlag skeptisch. Politische Maßnahmen und Normen sollten seiner Auffassung nach von den Rechtsbestimmungen gestützt werden, nicht umgekehrt. Normung sollte kein Hindernis für Innovation und Entwicklung sein.

3.12   Auf Normen beruhende Produkte und/oder Dienstleistungen, die das Ergebnis erfolgreicher EU-finanzierter Initiativen sind, sollten in die nachfolgenden EU-Initiativen aufgenommen werden, um Doppelarbeit zu vermeiden und eine weitere Verbreitung/Übernahme dieser Normen zu begünstigen.

Brüssel, den 19. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 58.

(2)  Europäische Normungsorganisationen (European standardisation bodies, ESO). Die drei offiziellen europäischen Normungsorganisationen sind: das Europäische Komitee für Normung (CEN), das Europäische Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC) und das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI).


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen“

KOM(2011) 452 endg. — 2011/0002 (COD)

2012/C 68/07

Berichterstatter: Peter MORGAN

Der Rat beschloss am 30. November 2011 und das Parlament am 17. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen

KOM(2011) 452 endgültig — 2011/0202 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 19. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 179 gegen 2 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Eigenkapitalrichtlinie (CRD IV) (1) und das ihr zugrundeliegende Basel-III-Abkommen im Großen und Ganzen. Allerdings wird CRD IV zu höheren Bankkosten führen, und dies ist für die Unternehmen in der EU, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), ein wichtiger Gesichtspunkt. Das Baseler Regelwerk ist für international tätige Banken konzipiert, die sich alle an dieses Regelwerk halten sollten.

1.2   Die EU-Eigenkapitalrichtlinien galten schon immer für alle Banken, was aufgrund der Bedeutung regionaler Banken und Nichtaktienbanken für die Unterstützung der Wirtschaft wichtig ist. KMU sind stark abhängig von Bankkrediten, und deshalb sollte darauf geachtet werden, dass europäische KMU nicht durch zusätzliche Kosten gegenüber ihren Wettbewerbern benachteiligt werden. Der EWSA fordert die Kommission in diesem Zusammenhang auf, die Weiterentwicklung von ethischen Banken und Beteiligungsbanken zu fördern (2).

1.3   Die von der Kommission durchgeführte Folgenabschätzung kommt zu dem Schluss, dass KMU durch die neuen Kapitalanforderungen nicht besonders benachteiligt werden. Der Ausschuss hegt diesbezüglich aber Zweifel und legt der Kommission nahe, die Entwicklung der Kreditvergabe der Banken und die Bankgebühren für KMU genau zu überwachen. Außerdem tritt der EWSA dafür ein, dass die Überprüfung des Risikoratings für KMU-Kredite von der Kommission durchgeführt wird.

1.4   Der neue Rahmen umfasst Elemente sowohl der Mikro- als auch der Makroaufsicht. In puncto Mikroaufsicht ist mehr und hochwertigeres Kapital, eine bessere Risikodeckung, die Einführung einer Höchstverschuldungsquote als Schutzschild gegen ein risikobasiertes System sowie ein neuer Ansatz für Liquidität aufzuführen. Was die Makroaufsicht betrifft, werden in CRD IV der Aufbau von Kapitalreserven in guten Zeiten, auf die in Krisenzeiten zurückgegriffen werden kann, sowie weitere Maßnahmen bezüglich systemischer Risiken und Vernetzung vorgeschrieben. Im Vorschlag werden all die in der Bankenkrise aufgeworfenen und vom EWSA in seiner früheren Stellungnahme zu CRD III aufgezeigten Probleme zumindest theoretisch angegangen (3).

1.5   Schließlich hängt die Wirkung der Rechtsvorschrift von ihrer Umsetzung und den beteiligten Akteuren ab. Die Bankenkrise kennt nicht nur eine einzige Ursache, alle Akteure tragen Mitschuld. In vielen Banken haben sicherlich die für die Verwaltung verantwortlichen Direktoren Fehler gemacht, aber Fehler machten auch die gesetzlichen Abschlussprüfer, die Ratingagenturen, institutionellen Anleger und Analysten, die nationalen Regulierungsstellen und Aufsichtsbehörden, die Zentralbanken, Finanzministerien und Politiker, während Wirtschaftswissenschaftler und Kommentatoren in den Medien die Entwicklung ebenso wenig erkennen konnten. Der EWSA möchte gerne glauben, dass die Akteure aus der letzten Krise gelernt haben. Aber die Art und Weise, wie mit der Staatsschuldenkrise umgegangen wird, spricht nicht dafür. In einigen Fällen wurde die Frage der Rekapitalisierung der Banken nicht angegangen, Stresstests konnten nicht überzeugen (Dexia), Abschlussprüfer verlangten keine rigorosen Maßnahmen gegen die Abschreibung von Staatsschulden, wohingegen Politiker dafür verantwortlich sind, dass die Krise außer Kontrolle geriet, weil sie wirtschaftliche Probleme mit politischen Mitteln lösen wollten.

1.6   Das Gegengewicht zur neuen Verordnung muss die Durchführung von Regelungen für die Erholung und die Sanierung sein, die auf Instrumenten wie z.B. Abwicklungsplänen (living wills) beruhen. Während die Staaten weiterhin für kleinere Einlagen bürgen, muss das moralische Risiko (moral hazard) infolge der unbegrenzten staatlichen Unterstützung für insolvente Banken beseitigt werden. Wenn die Lage eindeutig genug ist, müssen Investoren, Kreditgeber und Direktoren unmittelbar für die künftige wirtschaftliche Gesundheit eines jeden Kreditinstituts verantwortlich sein.

1.7   Die EU-Staats- und Regierungschefs kamen in ihrem Euro-Rettungsplan vom 26. Oktober 2011 zur Wiederherstellung der Stabilität und des Vertrauens in die Märkte überein, einigen Banken die Verpflichtung aufzuerlegen, bis Juni 2012 über eine Eigenkapitalquote von 9 % Kapital höchster Güte zu verfügen, die einen außergewöhnlichen und vorübergehenden Kapitalpuffer zur Absicherung gegen Risikopositionen von Staatsanleihen beinhaltet. Dies wurde notwendig, da der Verordnungsvorschlag für die neuen Eigenkapitalanforderungen einen Übergangszeitraum von mehreren Jahren vorsah. Infolge dieser Anordnung werden einige Banken große Schwierigkeiten haben, sich frisches Kapital zu beschaffen. Nicht zuletzt, weil sie auch bestehende Schulden refinanzieren müssen. Dies allein ist schon ein heikles Problem, da die Finanzierungsquellen bereits im zweiten Halbjahr 2011 versiegten. Der Ausschuss anerkennt den außergewöhnlichen Charakter dieser Maßnahmen, die indes direkte Auswirkungen haben – unabhängig davon, welche Entlastungen letztlich möglich sind.

1.7.1   Sollten diese Kapitalanforderungen in Kraft treten, könnten sie schwerwiegende Auswirkungen auf kleinere und lokale Banken haben, die in der Regel aufgeschlossener für KMU und Kleinstunternehmen sind als internationale Banken. Durch Schwierigkeiten der kleineren Banken bei der Beschaffung frischen Kapitals wird der Zugang zu Finanzierungen für KMU erschwert.

1.8   Diese Anordnung führt bei einem Anhalten der gegenwärtigen Finanzierungskrise zu zwei größeren Problemen: Banken, die kurzfristig kein neues Kernkapital aufnehmen wollen oder können – ein Vorgang, der die Verwässerung der bestehenden Aktienanteile zur Folge haben kann –, können die Bilanz reduzieren: Dafür verringern sie ihre buchmäßigen Darlehensforderungen, um sie auf die Kapitalreserven abzustimmen. In einer Zeit, in der alle Mitgliedstaaten die Konjunktur zu beleben suchen, wäre ein Abzug von Bankkrediten katastrophal. Um dies zu verhindern, sollten die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen versuchen, mit dem Bankensektor zusammenzuarbeiten, anstatt ihn ständig zu konfrontieren. Sie sollten bestrebt sein, mit entsprechenden Maßnahmen alternative Finanzierungsmöglichkeiten für KMU zu fördern, zum Beispiel mit Beteiligungsbanken, wie sie bereits in einer früheren Stellungnahme des EWSA (4) angesprochen wurden.

1.9   Das zweite Problem betrifft die Banken, die zusätzliches Eigenkapital auf den Märkten aufnehmen. Das verfügbare Kapital stammt großteils aus Staatsfonds und Banken in Asien und Nahost. Es besteht die reale Gefahr, dass den EU-Mitgliedstaaten die Kontrolle über das Eigentum des EU-Bankensystems entgleitet.

1.10   Als besonderes Problem trat während der Staatsschuldenkrise deutlich zutage, dass Staatsschulden – entgegen den Leitlinien der Baseler Vereinbarungen und den verschiedenen Eigenkapitalrichtlinien – eindeutig nicht risikolos sind. Dies ist eine gravierende Schwachstelle der Bestimmungen der Verordnung zur Kapitalqualität mit weitreichenden Auswirkungen für die Banken, die durch die Vorschriften gezwungen waren, staatliche Schuldtitel aufzukaufen. Die Regulierungsbehörden müssen ihre Praxis überdenken, für Staatsschulden automatisch ein Rating als „risikolos“ zugrundezulegen und die Banken müssen ihr internes Risikomanagement überprüfen.

1.11   Der kumulative Effekt von CRD II, III und IV auf Kapital, Liquidität und Hebelwirkung, die kommenden Abwicklungsordnungen und das wachsende Interesse für die Vorschläge Paul Volckers zur Beschränkung des Eigenhandels der Banken und für die Entkoppelung des traditionellen Bankgeschäfts vom Investment-Banking bedeuten aller Voraussicht nach, dass das in den letzten zehn Jahren von den Großbanken angewandte profitable Geschäftsmodell auf die durch Sparzwänge und Kapitalknappheit gekennzeichneten Umstände angepasst werden muss. Es liegt im Interesse aller Beteiligten – Schuldner und Gläubiger, Arbeitnehmer und Investoren – sowie der gesamten Gesellschaft, dass die Banken ein neues Geschäftsmodell für die kommenden Jahre entwickeln können, das sicherlich weniger profitabel, aber hoffentlich nachhaltiger sein wird.

1.12   Nach Auffassung des EWSA müssen neue Geschäftsmodelle ethischen Grundsätzen entsprechen und nachhaltig sein. Die Kundenbeziehungen müssen verbessert werden, Geschäftspraktiken strikten ethischen Grundsätzen entsprechen und die Vergütungsstrukturen müssen überarbeitet werden. Alle Akteure tragen Mitschuld an der Entwicklung der Krise. Sie müssen sich nun alle zusammentun, um neue Kreditinstitute aufzubauen, die die Wirtschaft der EU in dem kommenden schwierigen Jahrzehnt unterstützen können.

2.   Einleitung

2.1   Die EU-Eigenkapitalrichtlinien sollen den regulatorischen Rahmen für den Binnenmarkt der Banken bilden. Dabei werden die Baseler Vereinbarungen in EU-Rechtsvorschriften überführt. Der 1975 gegründete Baseler Ausschuss beschloss im Jahr 1988, ein als Baseler Eigenkapitalvereinbarung bezeichnetes Kapitalmesssystem einzuführen. Mit diesem System wurde ein Rahmen für die Messung von Kreditrisiken aufgestellt. Die EU überführte die Vereinbarung in ihre erste Eigenkapitalrichtlinie (CRD) (5) über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten vom März 1993.

2.2   Eine zweite Baseler Eigenkapitalvereinbarung (Basel II) wurde 2004 veröffentlicht. Die EU führte sie in eine im Juni 2006 angenommene neue CRD über, die im Dezember 2006 in Kraft getreten ist. Der EWSA hatte seine Stellungnahme (6) zur vorgeschlagenen CRD auf seiner Plenartagung im März 2005 verabschiedet.

2.3   Die Kommission nahm einen Vorschlag über zentrale Änderungen der CRD im Oktober 2008 an (CRD II). Diese Überprüfung der CRD war zum Teil eine Antwort auf die Empfehlungen des Forums für Finanzmarktstabilität (FSF) der G7 und auf die Marktkrise. Der Text wurde im Juli 2009 veröffentlicht und sollte im Dezember 2010 in Kraft treten.

2.4   Im Einklang mit der parallelen Arbeit des Baseler Ausschusses führte die Kommission Konsultationen durch und legte (im Juli 2009) Vorschläge zu Änderungen in den Bereichen Handelsbuch, Weiterverbriefungen und Gehälter von Bankmanagern als Teil des CRD III-Pakets vor. Der EWSA verabschiedete seine diesbezügliche Stellungnahme (7) auf der Plenartagung im Januar 2010.

2.5   Die dritte Baseler Vereinbarung wurde als Antwort auf die Finanzkrise im Dezember 2010 veröffentlicht. Die vorgeschlagenen Kapital- und Liquiditätspuffer waren um ein Vielfaches höher als zuvor. Durch Basel III werden die Banken dazu verpflichtet, 4,5 % (gegenüber 2 % laut Basel II) hartes Kernkapital und 6 % (gegenüber 4 % laut Basel II) Eigenkapital der Klasse I aus risikogewichteten Aktiva zu halten. Außerdem hat Basel III zusätzliche Kapitalerhaltungspolster eingeführt: (i) ein obligatorisches Kapitalerhaltungspolster von 2,5 % und (ii) ein antizyklisches Kapitalpolster, das nationalen Entscheidungsinstanzen gestattet, in Phasen exzessiven Kreditwachstums ein weiteres Kapitalpolster von bis zu 2,5 % festzusetzen. Des Weiteren werden durch Basel III eine Höchstverschuldungsquote von mindestens 3 % des Kernkapitals und zwei obligatorische Liquiditätsquoten eingeführt. Die Mindestliquiditätsquote verpflichtet eine Bank dazu, ausreichend erstklassige liquide Aktiva zu halten, um alle Nettoabflüsse über einen 30-tägigen Zeithorizont auszugleichen. Weiterhin sieht die strukturelle Liquiditätsquote vor, einen verfügbaren Betrag an stabiler Finanzierung bereitzustellen, der den notwendigen Betrag an stabiler Finanzierung über einen Stresszeitraum von einem Jahr überschreitet. Die Vorschläge zur Umsetzung von Basel III in die CRD IV wurden im Juli 2011 veröffentlicht und bilden die Grundlage der vorliegenden Stellungnahme.

3.   Zusammenfassung des Vorschlags

3.1   Die Europäische Kommission hat Vorschläge vorgelegt, um das Verhalten der 8 000 in der EU tätigen Banken zu ändern. Das übergreifende Ziel des Vorschlags liegt darin, den EU-Bankensektors krisenfester zu machen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Banken weiterhin wirtschaftliche Aktivitäten und Wachstum finanzieren. Die Kommissionsvorschläge verfolgen drei konkrete Ziele.

Mit dem Vorschlag werden die Banken verpflichtet, mehr und hochwertigeres Kapital zu halten, um künftige Krisenschocks aus eigener Kraft überstehen zu können. Institute gerieten mit einer sowohl in puncto Quantität als auch Qualität unzureichenden Kapitalausstattung in die letzte Krise, was zu beispiellosen Hilfsmaßnahmen durch staatliche Stellen führte. Die Kommission passt mit diesem Vorschlag die auf der Ebene der G20-Staaten vereinbarten internationalen Standards für das Eigenkapital von Banken (bekannt als Basel III) auf die EU an. Europa wird in dieser Frage eine Vorreiterrolle spielen und diese Bestimmungen auf über 8 000 Banken anwenden, die für 53 % des weltweit verwalteten Vermögens stehen.

Die Kommission möchte auch einen neuen Steuerungsrahmen schaffen, in dem Aufsichtsbehörden neue Befugnisse zur strengeren Überwachung von Banken und zur Ergreifung von Maßnahmen erhalten, z.B. zur Verringerung von Krediten, wenn diese sich zu einer Blase auszuwachsen drohen.

Die Kommission schlägt vor, durch die Zusammenfassung aller Rechtsvorschriften für diesen Bereich ein einheitliches Regelwerk für die Regulierung der Banken zu schaffen. Dadurch wird sowohl die Transparenz als auch die Rechtsdurchsetzung verbessert.

3.2   Der Vorschlag besteht aus zwei Teilen: Einer Richtlinie über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und einer Verordnung über die Ausübung der Tätigkeit von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen. Beide Rechtsinstrumente bilden ein Paket, das zusammen betrachtet werden sollte. Aus der dem Vorschlag beigefügten Folgenabschätzung geht hervor, dass die Gefahr systemischer Bankenkrisen durch die Reform erheblich gesenkt wird.

3.3   Die Verordnung enthält detaillierte Aufsichtsanforderungen für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und betrifft folgende Bereiche:

Eigenkapital: Mit dem Vorschlag der Kommission werden die erforderlichen Eigenmittel, über die die Banken verfügen müssen, heraufgesetzt und höhere Anforderungen an die Qualität dieser Mittel gestellt. Außerdem werden die Abzüge von Eigenmitteln harmonisiert, um den Nettobetrag des regulatorischen Eigenkapitals zu ermitteln, das nach dem Vorsichtsprinzip für Aufsichtszwecke anerkannt werden kann.

Liquidität: Zur Erhöhung der kurzfristigen Widerstandsfähigkeit des Liquiditätsrisikoprofils der Finanzinstitute schlägt die Kommission die Einführung einer Mindestliquiditätsquote (Liquidity Coverage Ratio – LCR) vor. Die genaue Zusammensetzung und Kalibrierung dieser Quote wird nach Ablauf eines Beobachtungs- und Überprüfungszeitraums im Jahr 2015 festgelegt.

Höchstverschuldungsquote: Um eine ausufernde Verschuldung in den Bilanzen der Kreditinstitute und Wertpapierfirmen zu verhindern, schlägt die Kommission vor, dass eine Höchstverschuldungsquote der aufsichtlichen Überprüfung unterliegen sollte. Die Auswirkungen einer Höchstverschuldungsquote werden genau überwacht, bevor sie möglicherweise am 1. Januar 2018 verbindlich vorgeschrieben wird.

Gegenparteiausfallrisiko: Im Einklang mit der Politik der Kommission in Bezug auf OTC-Derivate (außerbörslich gehandelte Derivate) werden Veränderungen vorgenommen, um die Banken dazu anzuregen, für OTC-Derivate ein Clearing über eine ZGP (zentrale Gegenpartei) vorzunehmen.

Einheitliches Regelwerk: Im Zuge der Finanzkrise sind die Gefahren voneinander abweichender einzelstaatlicher Vorschriften deutlich geworden. Der Binnenmarkt kommt nicht ohne ein einheitliches Regelwerk aus. Die Verordnung ist unmittelbar gültig, ohne vorher in nationales Recht umgesetzt werden zu müssen, und beseitigt somit eine Quelle solcher Abweichungen. Ferner werden mit der Verordnung einheitliche Eigenkapitalvorschriften festgelegt.

3.4   Die Richtlinie umfasst Bereiche, die Gegenstand der geltenden Eigenkapitalrichtlinie sind und in denen EU-Bestimmungen von den Mitgliedstaaten ihrem jeweiligen Regelungsumfeld entsprechend umgesetzt werden müssen, wie z.B. Zugangsbestimmungen für die Aufnahme und Ausübung von Bankgeschäften, Bedingungen für die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit der Banken sowie Bestimmung der zuständigen Stellen und der Grundsätze für die Bankenaufsicht. Die Richtlinie beinhaltet folgende neue Aspekte:

Stärkung der Governance: Mit dem Vorschlag werden die Anforderungen an Corporate-Governance-Regelungen und -verfahren verschärft und neue Bestimmungen eingeführt, mit denen die Wirksamkeit der Risikoüberwachung durch die Leitungsgremien erhöht, der Status der Risikomanagement-Funktion verbessert und eine wirksame Überwachung der Risikobeherrschung durch die Aufsichtsbehörden gewährleistet werden sollen.

Sanktionen: Für den Fall eines Verstoßes gegen die EU-Vorschriften durch ein Institut ist im Vorschlag vorgesehen, dass alle Aufsichtsbehörden Sanktionen verhängen können, die abschreckend, aber auch wirksam und verhältnismäßig sind – z.B. in Form von Verwaltungsgeldstrafen in Höhe von bis zu 10 % des gesamten Jahresumsatzes des betreffenden Instituts oder in Form vorübergehender Tätigkeitsverbote für Mitglieder des Leitungsorgans des Instituts.

Kapitalpuffer: Zusätzlich zu den Mindesteigenkapitalanforderungen werden zwei Arten von Kapitalpuffer eingeführt: ein Kapitalerhaltungspuffer, der in gleichem Maße für alle Banken in der EU gilt, und ein auf einzelstaatlicher Ebene festzulegender antizyklischer Kapitalpuffer.

Verstärkte Aufsicht: Die Kommission schlägt vor, die Aufsicht zu verschärfen, indem zur Auflage gemacht wird, dass für jedes beaufsichtigte Institut auf der Grundlage einer Risikobewertung einmal im Jahr ein Aufsichtsplan ausgearbeitet wird, dass stärker und systematischer auf Vor-Ort-Aufsichtsprüfungen zurückgegriffen wird, dass solide Standards aufgestellt werden und die Bewertungen der Aufsichtsbehörden eingehender und zukunftsgerichteter werden.

3.5   Schließlich soll mit dem Vorschlag erreicht werden, dass sich die Kreditinstitute in Zukunft möglichst wenig auf externe Ratings verlassen, indem vorgeschrieben wird, dass a) alle Anlageentscheidungen einer Bank nicht nur auf der Grundlage von Ratings, sondern auch aufgrund einer eigenen internen Bewertung der Kreditwürdigkeit getroffen werden, und dass b) Banken, die in einem bestimmten Portfolio über eine wesentliche Anzahl an Forderungen verfügen, für dieses Portfolio interne Ratings entwickeln, anstatt sich bei der Berechnung ihrer Eigenkapitalanforderungen auf externe Ratings zu verlassen.

3.6   Nach Einschätzung der Kommission

wird der Vorschlag dazu führen, dass sich die risikogewichteten Aktiva großer Kreditinstitute um 24,5 % und die kleiner Kreditinstitute um 4,1 % erhöhen;

dürften sich die aufgrund der neuen Anforderungen und des Kapitalerhaltungspuffers erforderlichen neuen Eigenmittel bis 2015 auf 84 Mrd. EUR und bis 2019 auf 460 Mrd. EUR belaufen.

4.   Standpunkt des EWSA

4.1   Der EWSA ist nicht zu der Richtlinie befasst worden. Daher beschränkt sich die Stellungnahme des Ausschusses – von zwei Ausnahmen abgesehen – auf die Verordnung.

4.2   Die Eigenkapitalrichtlinie IV (CRD IV) ist für die Eigenkapitalregulierung ein großer Schritt nach vorn. Mit diesem Rechtsinstrument werden die Aufsichtsanforderungen beträchtlich angehoben sowie gewährleistet, dass das regulatorische Eigenkapital die Verluste tatsächlich ausgleichen kann. Darüber hinaus wird zur Vermeidung einiger riskanter Geschäfte beigetragen, für die im Regelungsumfeld vor der Krise viel zu wenig Eigenkapital erforderlich war. Allgemein ist sowohl während der Krise als auch in der Zeit danach deutlich geworden, dass zu wenig qualitativ hochwertiges Kapital und eine zu geringe Liquidität erhebliche wirtschaftliche Kosten für die Gesellschaft verursachen, wenn die Banken in Probleme geraten. Diese Schwachstelle muss behoben werden. Der EWSA unterstützt zwar den allgemeinen Ansatz der Richtlinie, möchte aber in dieser Stellungnahme einige Vorbehalte zum Ausdruck bringen.

4.3   Banken müssen über ausreichende liquide Aktiva verfügen, um eventuelle Liquiditätsprobleme ausgleichen zu können, ohne auf die Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen zu sein. Nur in Extremfällen sollte die Zentralbank erwägen, als Kreditgeber letzter Instanz zu fungieren. Daher erfüllt die Mindestliquiditätsquote (Liquidity Coverage Ratio – LCR) eine sinnvolle Aufgabe. Auch müssen die Banken die Laufzeitinkongruenz in ihren Bilanzen beschränken. Die Finanzierung sehr langfristiger Forderungen über sehr kurzfristige Verbindlichkeiten birgt Risiken nicht nur für die Banken selbst, sondern auch für die Volkswirtschaft insgesamt. Daher unterstützt der EWSA den Vorschlag, zu gegebener Zeit eine strukturelle Liquiditätsquote (Net Stable Funding Ratio – NSFR) zu konzipieren und einzuführen.

4.4   Allerdings müssen die Liquiditätsanforderungen sorgfältig aufeinander abgestimmt werden, wenn schwere Störungen im Bankensektor vermieden werden sollen. Der EWSA stellt erfreut fest, dass die Vorschläge die notwendige Flexibilität erlauben, um nachträgliche Änderungen bezüglich der strukturellen Liquiditätsquote oder der Mindestliquiditätsquote vornehmen zu können und so den Erfahrungen der Aufsichtsbehörden hinsichtlich ihrer Wirkung Rechnung zu tragen. Das traditionelle Bankengeschäft besteht in der Fristentransformation, d.h. in der Aufnahme kurzfristiger Mittel und der Gewährung langfristiger Darlehen. Eine zu starke Regulierung in diesem Bereich hätte negative Folgen für die Wirtschaft. Der EWSA steht dem Konzept laufzeitkongruenter Bankenbilanzen skeptisch gegenüber.

4.5   Die Funktionsweise des Finanzsystems beinhaltet ein prozyklisches Element. Risiken werden in Phasen des konjunkturellen Aufschwungs tendenziell unterschätzt und in Krisenzeiten überbewertet. Doch die Krise, die durch die Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst wurde, hat gezeigt, welch extremes Ausmaß Fluktuationen annehmen können. Der EWSA begrüßt, dass zusätzlich zu den Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen der Verordnung mit der Richtlinie auch ein Kapitalerhaltungspuffer und ein antizyklischer Kapitalpuffer eingeführt werden sollen. Die langfristige finanzielle Stabilität dürfte dadurch verstärkt werden, was wiederum das Wirtschaftswachstum unterstützen dürfte.

4.5.1   Allerdings kann die Anwendung der Baseler Vereinbarungen auf alle Banken, ob sie systemische Bedeutung haben oder nicht, eine erhebliche Belastung für kleinere lokale Banken sein. Der Ausschuss fordert die Kommission, die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) und die Aufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten auf sicherzustellen, dass Kapitalpuffer für kleinere Banken an die Geschäftsmodelle dieser Banken angepasst werden.

4.6   Wie die Eigenkapitalanforderungen berechnet werden, hängt von den jeweils angewandten Rechnungslegungsvorschriften ab. Im Zuge seiner Untersuchungen zur Rolle der gesetzlichen Abschlussprüfer in der Finanzkrise gelangte das britische Oberhaus zu dem Schluss, dass die Anwendung der internationalen Finanzberichterstattungsnormen (International Financial Reporting Standards – IFRS) ein materielles Hindernis für die Richtigkeit von Bankbilanzen sei. In den letzten Monaten wurde deutlich, dass die Staatsverschuldung auf den Märkten von den Banken in einem oder mehreren Mitgliedstaaten in Berichten für die Anteilseigner verschwiegen wurde, was zu einer uneinheitlichen Anwendung der IFRS geführt hat. Da die IFRS ein auf Grundsätzen beruhendes System darstellen, drängt der EWSA die Kommission, mit den für die Rechnungslegungsstandards zuständigen Stellen, den Rechnungsprüfern und den Aufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass harmonisierte Vorschriften für eine angemessene Eigenkapitalausstattung durch harmonisierte und korrekte Rechnungslegungspraktiken flankiert werden. Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) sollte dabei eine wichtige Koordinierungsfunktion haben. Das ist die Grundvoraussetzung für eine harmonisierte Umsetzung des neuen aufsichtsrechtlichen Regelungsrahmens.

4.7   Die Kommission geht natürlich davon aus, dass der Erfolg der CRD IV daran zu messen sein wird, wie sich die neuen Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften in künftigen Finanzkrisen auswirken werden. Der EWSA ist sich des Ausmaßes der aktuellen Wirtschaftskrise in der EU bewusst und hofft, dass in dem neuen Rechtsrahmen keinerlei Beschränkungen für Kredite für die Wirtschaft oder für die Gewährung von Ausfuhrkrediten bzw. für die Handelsfinanzierung vorgesehen sind. Wenn die Banken die vorgeschriebenen Eigenkapital- und Liquiditätsquoten nur einhalten können, indem sie ihre Bilanzen reduzieren oder die Kreditvergabe einschränken, dann ist die Verordnung zum Scheitern verurteilt. Ein solches Scheitern wäre nicht hinnehmbar. Der EWSA ist von der bereits vorgenommenen Folgenabschätzung nicht überzeugt und fordert eine eingehendere Bewertung. Er schlägt vor, die Verfügbarkeit von Krediten - etwa durch eine Beobachtungsstelle unter Beteiligung des EWSA – laufend zu überwachen, bis der Fahrplan der CRD IV im Jahr 2019 ausgelaufen und die Strategie Europa 2020 (die auf die Unterstützung durch die Banken angewiesen ist) beendet ist.

4.8   Liegen die Gründe für eine möglichst weitgehende Harmonisierung zwar klar auf der Hand, könnten die Wirtschaftskrise und der erforderliche Kreditfluss daher eine feine Abstimmung beider Quoten und der Zeitpläne erforderlich machen, wenn die Leistungsfähigkeit und Erholung der Wirtschaft in den einzelnen Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren optimiert werden sollen.

4.9   Das in der Verordnung vorgeschlagene erforderliche Gesamtkapital beträgt 8 %. Dies umfasst eine harte Kernkapitalquote von mindestens 4,5 %, eine zusätzliche Kernkapitalquote (Tier-1) von 1,5 % und eine Ergänzungskapitalquote (Tier-2) von 2 %. Zusätzlich beträgt der Kapitalerhaltungspuffer 2,5 % (Kernkapital Tier-1). Nach Umsetzung aller Änderungen bis 2019 werden das erforderliche Gesamtkapital und der Kapitalerhaltungspuffer zusammen 10,5 % ausmachen. Die Verordnung erfordert eine möglichst weitgehende Harmonisierung, d.h. homogene aufsichtsrechtliche Eigenkapitalanforderungen in der gesamten Europäischen Union auf der Grundlage eines wirklich einheitlichen Regelwerks. Dahinter steht die Überlegung, dass unangemessene und nicht aufeinander abgestimmte strengere Anforderungen in einzelnen Mitgliedstaaten dazu führen könnten, dass die zugrundeliegenden Forderungen und Risiken auf den Schatten-Bankensektor oder von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen verlagert werden. Es ist möglich, dass einige Mitgliedstaaten, die höhere Quoten vorschlagen möchten, diese Ausrichtung vor Fertigstellung der Richtlinie anzweifeln könnten. Der EWSA würde sich gegen ein solches Vorgehen aussprechen, wenn dies negative Folgen für kleinere Banken oder die Kreditvergabe für KMU haben würde.

4.10   Das Baseler Regelwerk richtet sich an international tätige Banken. Die Eigenkapitalrichtlinien der EU gelten für alle Kreditinstitute in der EU. In dem Baseler Regelwerk beschränkt sich die Definition des Kernkapitals (Tier-1) mehr oder weniger nur auf Anteile und nicht ausgeschüttete Gewinne. Dies könnte für andere Unternehmen als Aktiengesellschaften, wie z.B. Genossenschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und Sparkassen in Europa, ein Problem darstellen. In Artikel 25 der Eigenkapitalrichtlinie III wird anerkannt, dass bei solchen Einrichtungen in puncto Kernkapital ein anderer Ansatz erforderlich ist. Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass die endgültigen Bestimmungen der Verordnung mit den alternativen Geschäftsmodellen solcher Einrichtungen vereinbar sind.

4.11   Auch wenn der EWSA nicht zu der Richtlinie Stellung nimmt, möchte er sich dennoch zu dem Vorschlag äußern, die Kreditinstitute dazu zu bewegen, sich weniger auf Ratings zu verlassen (siehe Ziffer 3.5 oben). In seiner im Mai 2009 verabschiedeten Stellungnahme zum Thema „Ratingagenturen“ (8) forderte der EWSA die Regulierungsbehörden der EU auf, sich nicht über Gebühr auf Ratings zu stützen, insbesondere angesichts der Erfahrungen mit hypothekarisch besicherten Wertpapieren, bei denen sich die Ratings als wertlos herausstellten. Daher begrüßt der EWSA den vorliegenden Vorschlag, da dieser die Nutzung externer Ratings zwar weiterhin gestattet, die Mitgliedstaaten aber sicherstellen müssen, dass die von ihnen beaufsichtigten Institute nicht ausschließlich oder automatisch auf externe Ratings vertrauen und dass sie über interne Methoden zur Bewertung der Kreditwürdigkeit verfügen. Das bedeutet außerdem, dass in dem Fall, dass die internen Verfahren eines Instituts höhere Eigenkapitalanforderungen stellen als ein externes Rating, das interne Verfahren ausschlaggebend sein sollte.

4.12   Als besonderes Problem trat während der Staatsschuldenkrise deutlich zutage, dass Staatsschulden - entgegen den Leitlinien der Baseler Vereinbarungen und den verschiedenen Eigenkapitalrichtlinien – eindeutig nicht risikolos sind. Dies ist eine gravierende Schwachstelle der Bestimmungen der Verordnung zur Kapitalqualität mit weitreichenden Auswirkungen für die Banken, die durch die Vorschriften gezwungen waren, staatliche Schuldtitel aufzukaufen. Die Regulierungsbehörden müssen ihre Praxis überdenken, für Staatsschulden automatisch ein Rating als „risikolos“ zugrundezulegen und die Banken müssen ihr internes Risikomanagement überprüfen.

4.13   Der EWSA akzeptiert, dass die Eigenkapitalanforderungen für Kredite an KMU weiterhin bei 75 % der Norm bleiben, zweifelt aber daran, dass dies in der gegenwärtigen Lage ausreichend ist. Nach Auffassung des Ausschusses ist die Risikobereitschaft der Banken ein großes Problem für KMU. In der Vergangenheit waren die Banken bereit, für vielversprechende KMU als Partner aufzutreten und ihr Wachstum zu unterstützen. Ausfälle infolge der Finanzkrise und allgemein schwache Bankbilanzen haben dazu geführt, dass die Banken zunehmend risikoscheu geworden sind. Der EWSA schlägt vor, die Quote für KMU auf 50 % herabzusetzen, um diese Risikoscheue zu mindern. Der Ausschuss nimmt an, dass die Kommission beabsichtigt, diese Frage genauer zu prüfen.

4.14   Der EWSA fordert der die Kommission in diesem Zusammenhang auf, die Weiterentwicklung von ethischen Banken und Beteiligungsbanken zu fördern. Solche Banken haben den Belastungstest durch die Krise bestanden, und wenngleich sie gegen die Auswirkungen der Krise nicht immun sind, haben sie sicherlich ihre Widerstandsfähigkeit und ihren Wert unter Beweis gestellt. Angesichts der Belastungen des Bankensystems können sie eine wertvolle zusätzliche Kreditquelle für KMU sein. Deshalb fordert der EWSA – wie bereits in einer früheren Stellungnahme (9) vorgeschlagen – die Kommission auf, eine Richtlinie zu ethischen Banken und Beteiligungsbanken vorzulegen.

4.15   Insgesamt bedeuten die Eigenkapitalrichtlinien II, III und IV eine große Belastung für das Bankengeschäft, da der durch die Vorschriften bedingte Verwaltungsaufwand ebenso zunimmt wie die Befolgungskosten, wohingegen die Kapitalerträge und die langfristige Rentabilität abnehmen. Angesichts der Rolle der Bankenvertreter in der jüngsten Krise und vor dem Hintergrund ihrer nicht nachzuvollziehenden Vergütungsstrukturen dürften die meisten Bürgerinnen und Bürger in Europa der Ansicht sein, dass diese Leute bekommen, was sie verdient haben. Der EWSA sieht sich jedoch gezwungen, einen Vorbehalt zu äußern. Die EU kann nur gedeihen, wenn die Banken florieren. Damit sie Kredite gewähren können, müssen sie rentabel sein. Leider sind die Banken in der EU zurzeit nicht in guter Verfassung: Es ist schwer einzuschätzen, wie viel mehr Schaden die Staatsverschuldungskrise den Bilanzen und der langfristigen Rentabilität der Banken in der EU noch zufügen wird.

4.16   Unter diesen Umständen wird die endgültige Ausformulierung und darauffolgende Umsetzung des CRD IV-Pakets für den Erfolg des Projekts maßgeblich sein und insbesondere einen entscheidenden Einfluss darauf haben, inwiefern die Banken in der Lage sein werden, sowohl die erforderlichen Veränderungen einzuleiten als auch selbst wieder zu gesunden. Infolge der Staatverschuldungskrise können die Banken in verschiedenen Regionen der EU möglicherweise nicht in gleichem Tempo voranschreiten. Darauf müssen die Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden vorbereitet sein, auch wenn sich der Zeitplan für die Umsetzung bis zum Jahr 2019 erstreckt.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 329 vom 14.12.2010, S. 3-35; Stellungnahme des EWSA: ABl. C 339 vom 14.12.2010, S. 24-28.

(2)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 33.

(3)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 62-65.

(4)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 33.

(5)  ABl. L 141 vom 11.6.1993, S. 1–26.

(6)  ABl. C 234 vom 22.9.2005, S. 8–13.

(7)  ABl. C 339 vom 14.12.2010, S. 24–28.

(8)  ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 37-41.

(9)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 33.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/45


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern“

KOM(2011) 730 endg. — 2011/0330 (CNS)

2012/C 68/08

Hauptberichterstatterin: Heidi LOUGHEED

Der Rat beschloss am 28. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 113 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern

KOM(2011) 730 endgültig — 2011/0330 (CNS).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 6. Dezember 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) Heidi LOUGHEED zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 138 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt und begrüßt den Vorschlag für eine neue Verordnung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern als notwendige und nützliche Aktualisierung der derzeit geltenden Regelungen mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Verwaltungsbehörden bei der wirksamen Steuererhebung und der Bekämpfung von Verbrauchsteuerbetrug zu unterstützen.

2.   Begründung

2.1   In der EU werden Verbrauchsteuern auf drei Warenkategorien erhoben: Alkohol und alkoholische Getränke, Tabakwaren und Energieerzeugnisse. Verbrauchsteuern spielen eine wichtige Rolle, beeinflussen sie doch das Verhalten der Bürger und bilden eine Einnahmequelle für die Mitgliedstaaten und die EU (1).

2.2   Steuerbetrug (insbesondere bei Tabakwaren und Alkohol) ist in der EU aus vielen Gründen weit verbreitet, u.a. auch aufgrund der Möglichkeit, bei vergleichsweise geringen Umsätzen beträchtliche Gewinne zu erzielen. Es ist eine derart gängige Praxis, dass eine Hochrangige Arbeitsgruppe „Steuerhinterziehung bei Tabakwaren und Alkohol“ eingesetzt wurde (2), deren Empfehlungen zur Bekämpfung des Steuerbetrugs im Mai 1998 vom ECOFIN-Rat bekräftigt wurden. Zahlreiche Empfehlungen wurden hierzu ausgesprochen, doch besonders wesentlich und langfristig angelegt war der Vorschlag zur Errichtung eines vollständig „EDV-gestützten Systems zur Kontrolle der Beförderung“ in der EU.

2.3   Die Europäische Union hat danach mehrere Jahre lang schrittweise ein neues, modernes System zur Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung entwickelt und ausgebaut: das „Excise Movement and Control System“ (EMCS).

3.   Das EMCS

3.1   Das „System zur Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren“ (EMCS) wurde mit der Entscheidung Nr. 1152/2003/EG offiziell eingeführt. Die Errichtung des EMCS war eine beeindruckende Leistung, an der die Europäische Kommission und die für Verbrauchsteuern zuständigen Behörden sowie die Wirtschaftsteilnehmer in den Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Entwicklungsphasen beteiligt waren. Das überwiegend papiergestützte System, das für alle Beteiligten recht aufwändig war, kann nun durch ein computergestütztes elektronisches System ersetzt werden, das fast gänzlich ohne Papier auskommt. Noch wichtiger ist jedoch, dass die zuständigen Behörden durch das neue System die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren „in Echtzeit“ verfolgen können und dass die Informationen sofort in die Datenbanken eingespeist werden können, was eine einfachere und gründlichere Analyse sowie eine automatisierte Risikoanalyse ermöglicht.

3.1.1   Durch das neue automatische System werden die notwendigen Verwaltungsabläufe für die beteiligten Wirtschaftsteilnehmer beschleunigt (sämtlichen Beförderungen wird bereits jetzt ein elektronisches Verwaltungsdokument beigefügt, das die Papierdokumente ersetzt). Außerdem wurden dadurch viele der erforderlichen Unterlagen vereinheitlicht und eine Web-Unterstützung geschaffen, anhand derer die Referenzen potenzieller Handelspartner überprüft werden können.

3.1.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass das EMCS den rechtmäßigen Handel innerhalb des Binnenmarktes vereinfacht und den Mitgliedstaaten ein zusätzliches Instrument zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung bei verbrauchsteuerpflichtigen Waren an die Hand gibt.

4.   Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern

4.1   Dieser Vorschlag ist eines der letzten Einzelteile, die das System vervollständigen und dafür sorgen, dass seine Kapazitäten voll ausgeschöpft werden. Der Vorschlag ersetzt die bestehende Verordnung (EG) Nr. 2073/2004 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern. Damit wird die fast abgeschlossene Modernisierung bestätigt und den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Nutzung des Systems bei ihrer Zusammenarbeit ermöglicht, was ihre Fähigkeit zur Koordinierung im Hinblick auf optimale Ergebnisse deutlich stärkt.

4.2   Der EWSA begrüßt und unterstützt die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Vorschlags auf die Zusammenarbeit bei der Durchsetzung der Verbrauchsteuervorschriften (und nicht nur bei der Berechnung der zu entrichtenden Steuern) als nützliche Entwicklung bei der Bekämpfung von Steuerbetrug und bei der Stärkung des Binnenmarktes sowie des Vertrauens der Bürger in den Binnenmarkt.

4.3   Die wesentlichen Elemente des Vorschlags geben notwendigerweise den rechtlichen Rahmen dafür vor, auf welche Weise die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden unter dem neuen System erfolgen soll. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag einem ausgewogenen Ansatz folgt, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, die besonderen Vorteile des neuen Systems zu nutzen, ohne dabei ihren Verwaltungsaufwand oder den der Wirtschaftsteilnehmer zu erhöhen.

4.3.1   Der EWSA ist außerdem der Meinung, dass der Vorschlag eine klare Beschreibung der Rechte und Pflichten aller Beteiligten, v.a. der nationalen Behörden, enthält, und dass die vorgeschlagenen Verfahren und Fristen einerseits ehrgeizig genug sind, um rechtzeitig zu reagieren, andererseits aber auch für alle leicht umzusetzen sind. In diesem Zusammenhang sieht der EWSA dem derzeit in Ausarbeitung befindlichen Durchführungsrechtsakt, in dem die verschiedenen Arten von Informationen für den verbindlichen oder fakultativen automatischen Austausch aufgelistet werden sollen, mit Interesse entgegen.

4.4   Der Großteil dessen, was neu im Vorschlag ist, hängt unmittelbar mit der Modernisierung des Systems und den neuen Möglichkeiten zusammen, die es zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Verwaltungsbehörden gibt. Der EWSA unterstützt die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich bei der bestmöglichen Nutzung des erweiterten Systems für eine noch wirksamere Steuerveranlagung und -erhebung und zur Feststellung und Bekämpfung von Steuerbetrug, insbesondere durch eine verbesserte Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.

4.4.1   Dabei hofft der EWSA, dass das neue System die Qualität der automatischen Berichterstattung verbessern wird und die Mitgliedstaaten sich so schneller auf die heiklen Fälle konzentrieren können. Die im Vorschlag unterbreitete Einführung eines „Follow-up“-Systems ist dabei besonders hilfreich und wird dazu beitragen, die Qualität und Nützlichkeit der ausgetauschten Informationen fortlaufend zu überprüfen und zu verbessern.

4.5   Der EWSA stimmt zwar zu, dass der Vorschlag als Rechtsgrundlage für die Erfassung von Daten aus einzelnen Beförderungsdokumenten und für die Verwendung dieser Dokumente in den Analysen der Mitgliedstaaten notwendig ist, mahnt jedoch zur Vorsicht bei der Verwendung dieser Daten und fordert die Behörden dazu auf, die Informationen nur zweckgemäß und in angemessener Art und Weise zu verwenden.

4.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag der ausgewogenen Verteilung der Zuständigkeiten im Bereich der Verbrauchsteuern und des EMCS Rechnung trägt, wobei die Europäische Kommission für den Mechanismus und die Unterhaltung des Systems an sich verantwortlich ist, während die Mitgliedstaaten für die im System enthaltenen Informationen, den Informationsaustausch und natürlich für die Ermittlung und Bekämpfung von Steuerbetrug zuständig sind.

4.7   Nach Ansicht des EWSA ist es sehr hilfreich, dass im Vorschlag die Bestimmungen für Verbrauchsteuern mit den Änderungen der EU-Vorschriften über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Mehrwertsteuer und der direkten Steuern in Einklang gebracht werden. Der EWSA unterstützt sämtliche Bemühungen der für die Bereiche nationale Besteuerung, Steueraufkommen, Verbrauchsteuern und Zoll zuständigen Behörden um eine Verbesserung ihrer Kommunikation und Zusammenarbeit untereinander, da er davon überzeugt ist, dass dies letztendlich zur Stärkung des Binnenmarktes beiträgt.

4.8   Der EWSA unterstützt insbesondere den Vorschlag für eine Rechtsgrundlage für SEED-on-Europa, da er dieses für ein hilfreiches Instrument hält, mit dem legal operierende Wirtschaftsteilnehmer rasch die Glaubwürdigkeit ihrer potenziellen Geschäftspartner feststellen können.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  In der EU werden jährlich geschätzte 307 Mrd. EUR (Daten von 2010) in Form von Verbrauchsteuern und ähnlichen Abgaben erhoben, davon 22 Mrd. EUR durch Alkohol und alkoholische Getränke, 207 Mrd. EUR durch Energieerzeugnisse und 77 Mrd. EUR durch Tabakwaren. Diese Zahlen sind die Gesamtsummen, die anhand der Angaben in den separaten Verbrauchsteuertabellen für alkoholische Getränke, Energieerzeugnisse, Strom und Tabakwaren der Europäischen Kommission zusammengestellt wurden (s. Internetportal der GD Steuern und Zollunion: http://ec.europa.eu/taxation_customs/index_en.htm).

(2)  Damals schätzte die Hochrangige Arbeitsgruppe die durch Steuerbetrug entgangenen Einnahmen im Jahr 1996 auf etwa 3,3 Mrd. ECU in der Tabakindustrie und 1,5 Mrd. ECU im Alkoholsektor.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/47


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Lachsbestände im Ostseeraum und die Fischereien, die diese Bestände befischen“

KOM(2011) 470 endg. — 2011/0206 (COD)

2012/C 68/09

Berichterstatter: Seppo KALLIO

Das Europäische Parlament beschloss am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Lachsbestände im Ostseeraum und die Fischereien, die diese Bestände befischen

KOM(2011) 470 endgültig — 2011/0206 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 169 gegen 4 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Mehrjahresplan für die Lachsbestände, durch den die nachhaltige Befischung der Lachsbestände im Ostseeraum und der Schutz der genetischen Integrität und Vielfalt gewährleistet werden sollen. Für die schwachen südlichen Lachsbestände ist die Zeitvorgabe des Plans im Licht der derzeitigen Sachlage jedoch unrealistisch.

1.2   Nach Auffassung des EWSA ist es unerlässlich, dass für den gesamten Lebenszyklus des Lachses und alle Arten der Fischerei Fangbeschränkungen gelten. Neben Fangbeschränkungen ist es für die Erholung schwacher Bestände erforderlich, dass die Laichgebiete der Lachse in einen entsprechenden Zustand versetzt werden. Der EWSA hält es nicht für sinnvoll, eine zulässige Gesamtfangmenge (TAC) für Flussgebiete festzulegen, da es sich um ein schwerfälliges Verwaltungsinstrument handelt, dessen Überwachung erhebliche Mehrkosten verursachen würde. Für die Regulierung und Überwachung des Fischfangs in Binnengewässern sollten vorrangig die jeweiligen Mitgliedstaaten zuständig sein. Die Europäische Kommission verfolgt die Umsetzung der nationalen Überwachungsprogramme auf Grundlage der Berichte der Mitgliedstaaten.

1.3   Der EWSA billigt, dass die Verordnung auch auf Angelschiffe angewendet wird, die Dienstleistungen im Bereich der Freizeitfischerei anbieten, denn auf die Freizeitfischerei, die nicht von dem Plan umfasst wird, entfällt ein großer Teil des Gesamtfangs. Auch die Regulierung und Überwachung der Freizeitfischerei muss national durchgeführt werden, was über Berichte zu verfolgen ist, welche die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln.

1.4   Im Sinne des Fortbestehens der Fischerei hält es der EWSA für wichtig, dass Fangquoten und -beschränkungen schrittweise auf Zielwerte für die fischereiliche Sterblichkeit umgestellt werden. Anstelle einer TAC für mehrere Lachsbestände muss die Regulierung des Lachsfangs im Meer in der Zukunft über technische Bestimmungen für Fangzeiten und Fanggeräte erfolgen, um schwache Bestände ausdrücklich zu schützen.

1.5   Der EWSA missbilligt, dass Ausgleichsbesatzmaßnahmen verboten werden sollen, obwohl keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege für deren Schädlichkeit vorliegen. Die Qualität der auszusetzenden Junglachse (Smolt) ist zu überwachen. Der EWSA regt an, alljährlich in der Natur gefangene Mutterfische für die Züchtung von Jungfischen zu verwenden, um das genetische Risiko im Zusammenhang mit Besatzmaßnahmen zu vermeiden.

1.6   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält es für unerlässlich, dass die Lachsfischerei zweckdienlich und effizient überwacht wird, und regt an, die Überwachungsressourcen rasch schwerpunktmäßig für die Überwachung der Lachsfischerei einzusetzen. Anstatt neue Überwachungsmaßnahmen zu verfügen, spricht sich der EWSA dafür aus, vordringlich die in den letzten Jahren stark ausgeweiteten Überwachungsvorschriften in allen Mitgliedstaaten effizient umzusetzen. Der EWSA befürwortet, dass die nach Einschätzung des Internationalen Rats für Meeresforschung im großen Stil erfolgenden falschen Meldungen von Lachsfängen untersucht werden.

1.7   Der EWSA betont die Bedeutung aktueller, hochwertiger Forschungserkenntnisse zum Thema Lachs für die erfolgreiche Umsetzung des Mehrjahresplans. Nur auf einer verlässlichen Wissensgrundlage können Maßnahmen getroffen werden, die den Schutz und die Erholung der Lachsbestände sowie ihre nachhaltige Nutzung gewährleisten. Neben zuverlässigen Fangstatistiken werden mehr Erkenntnisse über die Ursachen der Sterblichkeit von Lachsen im Meer benötigt.

1.8   Der EWSA befürchtet, dass sich der Verordnungsvorschlag negativ auf Erwerbsfischerei, Fischverarbeitung, Fischhandel, Fanggeräteindustrie, Fischereitouristik sowie Aquakulturunternehmer auswirkt. Der Umfang der Auswirkungen wird von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat und dort wiederum je nach Region unterschiedlich sein. Der EWSA setzt sich dafür ein, dass die negativen beschäftigungspolitischen Auswirkungen der Umsetzung der verordnungsgemäßen Maßnahmen minimiert werden und die bereits erkennbaren Folgen bei der Gewährung von Strukturhilfen sowie künftig auch bei der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik umfassend berücksichtigt werden. Der EWSA unterstreicht, dass die Strukturfonds umfangreicher und effektiver genutzt werden könnten, um den Lachsbestand nachhaltig zu vergrößern und die Beschäftigungslage im Fischereigewerbe des Ostseeraums zu verbessern.

2.   Einleitung

2.1   Die Lachsbestände in der Ostsee wurden in der Vergangenheit durch internationale Fangbeschränkungen, Ratsverordnungen mit technischen Vorschriften für die Fischerei sowie die jährlich festgesetzten zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) reguliert. Bis 2006 wurden die Quoten durch die Internationale Kommission für die Fischerei in der Ostsee und den Belten (IBSFC) festgelegt. Alle den Lachs betreffenden Maßnahmen wurden im Aktionsplan für Lachs (SAP) der IBSFC für den Zeitraum bis 2010 koordiniert.

2.2   Seit 2006 werden die zulässigen Fangquoten der EU-Mitgliedstaaten jährlich durch eine Ratsverordnung festgelegt. Den Vorschlag für diese Verordnung erarbeitet die Europäische Kommission, die sich dabei auf das Fachwissen des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) sowie des Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsausschusses für Fischerei (STECF) stützt.

2.3   Die EU teilt den Mitgliedstaaten die von ihr festgelegten Quoten nach dem Grundsatz der sogenannten relativen Stabilität zu. Relative Stabilität heißt, dass der relative Anteil jedes Mitgliedstaats an der Quote auch bei jährlichen Quotenänderungen gleich bleibt.

2.4   Die Ostseefischerei wird neben der EU nur von einem Drittland, nämlich Russland, betrieben. Die Europäische Union und Russland verständigen sich im Rahmen bilateraler, einschlägiger Verhandlungen über den Zustand der Fischbestände und die Fangmöglichkeiten in der Ostsee. Zwischen der EU und Russland existiert vorläufig noch kein der Ostsee-Fischereikommission ähnlicher Verhandlungsmechanismus zur Aufteilung der Fangquoten.

2.5   Die kommerzielle Lachsfangquote für die Ostsee ist zweigeteilt. Es gibt eine Quote für das Hauptbecken und den Bottnischen Meerbusen (ICES 22-31) sowie eine Quote für den Finnischen Meerbusen (ICES 32). Einige Jahre lang wurde der Lachsfang im Prinzip nicht eingeschränkt. Im Jahr 2010 wurden von den insgesamt 309 665 Lachsen der Quote nur 150 092 Lachse gefangen, was 48,5 % entspricht. Je nach Land lag der Prozentsatz der Quotenausschöpfung zwischen 2,8 und 84,9 %. Neben den Erwerbsfischern sind Freizeitfischer auf dem Meer, in Flussmündungen und in Flussgebieten aktiv. Vom Gesamtfang des Lachses im Ostseeraum gehen 20-30 Prozent auf das Konto der Freizeitfischer; bei Fängen in Küstengewässern und Flüssen ist es beinahe die Hälfte. Der Lachsfang der Freizeitfischer ist in der Fangquote nicht erfasst.

2.6   Der Zustand der großen Lachsflüsse des Nordens besserte sich Mitte der 1990er Jahre merklich, nachdem Finnland und Schweden auf nationaler Ebene Fangzeiten für den Küstenfang festlegten. Der hier gezüchtete Smoltbestand liegt seitdem auf einem klar höheren Niveau als zuvor; er hat sich der potenziellen Produktionskapazität der Flüsse und dem mit dem Vorhaben intendierten höchstmöglichen Dauerertrag angenähert. Der Lachsfang in der Ostsee ist größtenteils dem Beitrag dieser intakten Lachsflüsse im Norden zu verdanken.

2.7   Die Smoltzucht im mittleren und südlichen Teil der Ostsee ist trotz der bisherigen Maßnahmen unzureichend geblieben. Im Hauptbecken der Ostsee ging die Befischung der gemischten Lachsbestände seit dem Verbot der Treibnetzfischerei im Jahre 2008 erheblich zurück. Seitdem mehr Leinenfischerei praktiziert wird, wird erneut mehr Lachs im Hauptbecken gefangen.

2.8   Trotz der erheblichen Zunahme an gezüchteten Junglachsen hat die befischbare Größe des Lachsbestandes nicht entsprechend zugenommen. Über die Faktoren, die die Sterblichkeit des Lachses in seiner Meeresphase beeinflussen, werden zusätzliche Forschungserkenntnisse benötigt.

2.9   Der Internationale Rat für Meeresforschung gelangt in seinem Gutachten über die Fangmöglichkeiten 2012 in Bezug auf die Leinenfischerei in der Ostsee zu der Auffassung, dass Lachsfänge in großem Umfang fälschlich als Meerforellenfänge gemeldet werden.

2.10   Der Internationale Rat für Meeresforschung hat sich besorgt über den Zustand und die genetische Vielfalt der Lachsbestände in der Ostsee geäußert. Auch die Kommission zum Schutz der Ostsee (HELCOM) hat auf den Zustand der Lachsbestände in der Ostsee aufmerksam gemacht.

2.11   Die sozioökonomische Bedeutung der Lachsfischerei für die Fischergemeinschaften an der Küste ist groß. Die letzten Schätzungen der Zahl der Lachsfischer im Ostseeraum stammen aus dem Jahr 2007. Seinerzeit veranschlagte die Europäische Kommission die Gesamtzahl derjenigen Fischer, die gewerblich dem Lachsfang nachgehen, auf ca. 400 Personen, davon 340 Küstenfischer. Die ICES-Arbeitsgruppe Lachs schätzte 2010 die Zahl der auf hoher See operierenden Lachsfangschiffe auf insgesamt 141, also eindeutig mehr als 2007. Außer den Erwerbsfischern beschäftigt der Bereich Lachs eine mindestens ebenso große Gruppe von Menschen im Zusammenhang mit der Fischereitouristik. Beschäftigungspolitisch ist dem gewerblichen Fischfang und der Freizeitfischerei am Bottnischen Meerbusen eine mindestens ebenso große Bedeutung beizumessen. Zudem beschäftigt die Lachsfischerei indirekt viele Menschen in der Fischverarbeitung, im Fischhandel und in der Fischfanggeräteindustrie. Der Lachsfang und die Smoltzucht zur Aufrechthaltung der Bestände sind zudem örtlich bedeutende Arbeitgeber.

3.   Vorschlag der Kommission

3.1   Die Europäische Kommission legte am 12. August 2011 einen „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für die Lachsbestände im Ostseeraum und die Fischereien, die diese Bestände befischen“ (KOM(2011) 470 endg.) vor.

3.2   Der Mehrjahresplan für die Bewirtschaftung der Lachsfischerei in der Ostsee gilt für die gewerbliche Fischerei in der Ostsee und ihren Zuflüssen. Das Vorhaben wendet sich ebenfalls an die Unternehmen der Fischereitouristik und die von ihnen angebotenen Freizeitfischereidienstleistungen in der Ostsee. Im Vorschlag wird angeregt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen auch möglich sein soll, die Flussfischerei durch EU-Bestimmungen zu regulieren. Weiterhin betrifft der Vorschlag die Besatzmaßnahmen.

3.3   Mit dem Vorschlag sollen die nachhaltige Befischung der Lachsbestände im Ostseeraum nach dem Grundsatz des höchstmöglichen Dauerertrags sowie der Schutz der genetischen Integrität und die Vielfalt der Lachsbestände im Ostseeraum sichergestellt werden.

3.4   Für die Wildlachsbestände der Ostsee werden flussspezifische Vorgaben gemacht, genauer gesagt sollen 75 % der geschätzten potenziellen Smoltproduktion der jeweiligen Wildlachsflüsse erreicht werden. Je nach dem derzeitigen Zustand der Lachsflüsse soll das Zielniveau 5 oder 10 Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung erreicht werden.

3.5   Bei Wildlachsbeständen werden je nach Fluss verpflichtende zulässige Gesamtfangmengen vorgeschlagen. Die einschlägige Regelung liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten sollen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse eine flussspezifische höchstzulässige fischereiliche Sterblichkeit und eine dementsprechend bemessene TAC festlegen.

3.6   Die Kommission prüft alle drei Jahre die von den Mitgliedstaaten getroffenen oben genannten Maßnahmen sowie deren Vereinbarkeit mit den Zielen. Wenn ein Mitgliedstaat keine Informationen veröffentlicht oder seine Maßnahmen hinter den Zielen zurückbleiben, kann die Kommission die fischereiliche Sterblichkeit und/oder die entsprechende TAC für Wildlachsflüsse festsetzen und/oder Fangverbote für die betreffenden Flüsse aussprechen.

3.7   Für sämtliche Lachsbestände im Ostseeraum wird ein Einheitswert von 0,1 für die fischereiliche Sterblichkeit angesetzt. Bei einem fischereilichen Sterblichkeitswert von 0,1 dürfen die Lachsbestände um jährlich 10 % dezimiert werden. Im Rahmen des jährlichen Beschlusses über die Höhe der zulässigen Gesamtfangmenge muss die Festlegung so erfolgen, dass der Maximalwert von 0,1 nicht überschritten wird. Die Kommission kann die genannte fischereiliche Meeressterblichkeit ändern, sofern geänderte Umstände ein Verfehlen der Ziele befürchten lassen.

3.8   Die Lachsfänge der Angelschiffe, die Dienstleistungen im Bereich der Freizeitfischerei anbieten, sollten in die nationale Quote einbezogen werden.

3.9   Die Mitgliedstaaten müssen nationale technische Erhaltungsmaßnahmen für diejenigen Wildlachsflüsse festlegen, die unterhalb des Werts von 50 % der potenziellen Kapazität für die Smoltproduktion liegen. Spätestens zwei Jahre nach Inkrafttreten dieser Verordnung legen die Mitgliedstaaten Maßnahmen fest. Die Mitgliedstaaten können selbst nationale technische Vorschriften für die Fischerei wählen und beschließen (z.B. Fanggerätebeschränkungen und Schonzeiten/-gebiete).

3.10   Die Kommission bewertet jedes dritte Jahr die von den Mitgliedstaaten festgesetzten technischen Vorschriften für die Fischerei. Führt der Mitgliedstaat innerhalb dieser Frist keine Maßnahmen durch bzw. unterbleibt die Veröffentlichung derselbigen oder werden Maßnahmen ergriffen, aufgrund deren die Ziele für die Wildlachsflüsse nicht erreichbar sind, so kann die Kommission flussspezifische technische Vorschriften für die Fischerei erlassen.

3.11   Der Lachsbesatz würde auf die Bestandsaufstockung und die direkten Besatzmaßnahmen beschränkt. Unter Bestandsaufstockung versteht man Besatzmaßnahmen in Wildlachsflüssen und Wiederansiedlungsmaßnahmen in potenziellen Lachsflüssen, um dort sich selbst erhaltende Wildlachspopulationen zu schaffen.

3.12   Im Vorschlag wird eine Übergangsphase von sieben Jahren für Besatzmaßnahmen gewährt. Nach dieser Übergangsphase sollen Besatzmaßnahmen außer den oben erwähnten verboten sein.

3.13   Im Vorschlag werden neue Kontrollbestimmungen zur Ergänzung der bereits bestehenden Kontrollbestimmungen vorgeschlagen. Die neuen Kontrollbestimmungen umfassen die gewerbliche Fischerei mit Fischereifahrzeugen aller Schiffslängen sowie Angelschiffe.

3.14   Fänge müssen bei der Anlandung geprüft werden. Diese Inspektionen erfassen mindestens 10 % der Gesamtanlandungen.

3.15   Die Europäische Kommission schlägt vor, dass ihr nötigenfalls auf unbestimmte Zeit die Befugnisse zum Erlass delegierter Rechtsakte übertragen werden, um den Lachsfang im Meer und in Flüssen regulieren zu können.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Zielsetzungen des Vorhabens und unterstützt sie. Das Ziel des Vorschlags, in höchstens zehn Jahren 75 % der potenziellen Smoltproduktion zu erreichen, ist sehr ehrgeizig. Nach Einschätzung des Internationalen Rats für Meeresforschung kann das Ziel für die großen Wildlachsflüsse im Norden erreicht werden, während die Frist für die schwachen Lachsbestände im Süden selbst bei Fangbeschränkungen unrealistisch ist.

4.2   Anwendungsbereiche dieser Verordnung sind die gewerbliche Fischerei sowie Angelschiffe zum Zweck der Fischereitouristik. Letztere haben zwar nur einen geringen Anteil am gesamten Lachsfang, jedoch liegt der nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallende gesamte Lachsfang der Freizeitfischer in den Küsten- und Flussgebieten in derselben Größenordnung wie der dortige gewerbliche Lachsfang. Eine ausschließlich für die gewerbliche Fischerei bestimmte TAC hält der EWSA nicht für sinnvoll, da der Fischfang in Flussgebieten fast ausschließlich auf das Konto der Freizeitfischerei geht. Nach Auffassung des EWSA müssen Fangbeschränkungen für den gesamten Lebenszyklus des Lachses und alle Arten der Fischerei gelten. Die Hauptverantwortung für den gewerblichen Fischfang in Binnengewässern sowie für die Regulierung der Freizeitfischerei sollte bei dem jeweiligen Mitgliedstaat liegen.

4.3   In den in der EU bereits verabschiedeten Bewirtschaftungs- und Bestandserholungsplänen für die Fischbestände ist für jeden Fischbestand die unter dem Aspekt der nachhaltigen Bewirtschaftung am besten geeignete fischereiliche Sterblichkeit festgelegt worden. In der Ostsee werden viele verschiedene Lachsbestände befischt, die sich in unterschiedlichen biologischen Zuständen befinden. Aus der Verordnung und ihrer Begründung geht nicht hervor, warum für sämtliche Lachsbestände der Ostsee ein und dieselbe fischereiliche Sterblichkeit vorgeschlagen wird, und wie dieser Wert errechnet wurde.

4.4   Die nördlichen Lachsbestände der Ostsee erreichen bereits jetzt fast den anvisierten höchstmöglichen Dauerertrag (MSY). Wenn die Lachsfangquote für das Hauptbecken der Ostsee bzw. den Bottnischen Meerbusen auf ein Niveau gesenkt würde, durch das die fischereiliche Sterblichkeit auch der südlichen Bestände das Niveau des höchstmöglichen Dauerertrags erreicht, würde dies zu einer unnötig eingeschränkten Befischung der nördlichen Bestände führen. Bei der Regulierung der Meeresfischerei sollten demnach künftig statt mit einer TAC für mehrere Bestände mit technischen Vorschriften zu Fangzeiten und Fanggeräten gearbeitet werden, die zum Schutz besonders schwacher Lachsbestände eingesetzt werden können. Wenn die Regulierung der Lachsfischerei auch weiterhin über eine jährliche TAC-Festsetzung erfolgt, ist bei den Lachsfangquoten für die Meeresfischerei eine in den Bewirtschaftungsplänen anderer Fischarten schrittweise durchgeführte Verminderung bis zum Zielwert nötig. Für das Fischereigewerbe sind plötzliche, umfangreiche Änderungen der Bestimmungen ohne zwingenden Grund geradezu fatal.

4.5   Die Fischerei im Hauptbecken der Ostsee ist im Ganzen betrachtet eine gemischte Fischerei, die verschiedene Lachsbestände befischt. Mit zunehmender Nähe zur Mündung eines Wildlachsflusses kann die Fischerei immer besser auf den Lachsbestand des jeweiligen Flusses abgestimmt werden. Für die Regenerierung der schwachen Lachsbestände im Süden sind auch künftig die Bestimmungen und deren Überwachung für die im Hauptbecken der Ostsee betriebene Langleinenfischerei wichtig. Es wurde festgestellt, dass im Herbst durch Langleinenfischerei mehr untermaßige Lachse als mit anderen Fangpraktiken gefangen werden, sodass eine zeitliche Beschränkung der Leinenfischerei auch zur Verringerung der Lachsrückwürfe genutzt werden könnte. Allerdings ist bemerkenswert, dass sich die südlichen Lachsbestände der Ostsee trotz eines starken Rückgangs der Fischerei im Hauptbecken nicht erholt haben. Dies bedeutet, dass zur Regenerierung der schwachen Lachsbestände neben einer Begrenzung der Meeresfischerei auch starke Fischereibeschränkungen in den Flussmündungen und Flussgebieten sowie Sanierungsmaßnahmen zur Sicherstellung des natürlichen Zustands der Laichgebiete erforderlich sind.

4.6   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zeigt sich besorgt darüber, dass Lachsfänge falsch deklariert werden und sieht einen diesbezüglichen Klärungsbedarf; er hält es für erforderlich, dass der Lachsfang sachgerecht und effizient überwacht wird. Durch den Vorschlag der Kommission würde die Überwachungspflicht des öffentlichen Sektors dauerhaft verstärkt, und es würden Mehrkosten anfallen. Kosten würden insbesondere durch Änderungen an den IKT-Systemen und ihren Betrieb sowie für Personal und sonstige Ressourcen entstehen, die erforderlich wären, um die Einhaltung der Bestimmungen zu prüfen und zu überwachen. Der EWSA setzt sich dafür ein, dass die Überwachungsressourcen nach Maßgabe der Möglichkeiten aufgestockt werden und die bereits verfügbaren Ressourcen konzentriert für die Überwachung der Lachsfischerei eingesetzt werden, bis der Mehrjahresplan für die Lachsbestände verabschiedet ist und die Meldeprobleme als gelöst betrachtet werden können. Was die Bestimmungen zur Überwachung der Lachsfischerei angeht, so hält es der EWSA für vordringlich, die bereits vorhandenen und in den letzten Jahren stark ausgeweiteten Kontrollvorschriften in allen Mitgliedstaaten effizient umzusetzen. Die Europäische Kommission sollte die Umsetzung der nationalen Überwachungsprogramme auf Grundlage der Berichte der Mitgliedstaaten verfolgen.

4.7   Lachse werden zum Wiederaufbau bzw. zur Erholung von Beständen ausgesetzt; Besatzmaßnahmen können auch aufgrund eines Gerichtsbeschlusses zum Ausgleich für Fangeinbußen vorgenommen werden, die durch die Nutzung der Wasserkraft verursacht werden. Laut Vorschlag sollen alle Maßnahmen außer denjenigen zum Wiederaufbau bzw. zur Erholung von Beständen in potenziellen Wildlachsflüssen im Verlauf von sieben Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung beendet werden. Die Siebenjahresfrist, binnen deren der Ausgleichsbesatz durch andere Maßnahmen ersetzt werden soll, ist viel zu knapp bemessen, da der Wandlungsprozess neben der vermutlich erforderlichen Behandlung in allen drei Rechtsinstanzen auch Zeit für Planung und Umsetzung erfordert.

4.8   Das Verbot des Ausgleichsbesatzes wird mit der Gefährdung der genetischen Vielfalt der Lachsbestände begründet. Diese Einschätzung wird jedoch durch keinerlei wissenschaftliche Belege untermauert. Die Fänge, die dank des Ausgleichsbesatzes erzielt werden können, haben eine unbestreitbare Bedeutung für die Flussmündungen der Besatzgebiete sowie für die Küstenfischerei; zudem sorgen sie in den Aquakulturunternehmen an der Küste für Beschäftigung in der Größenordnung mehrerer Dutzend Personaljahre. Der Ausgleichsbesatz darf demnach nicht verboten werden, es sei denn, es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege für seine Schädlichkeit. Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass die Qualität der auszusetzenden Junglachse zu überwachen ist und Schnitte in ihren Fettflossen gesetzt werden sollten, um die Zuchtfische beim Fang von den in freier Natur herangewachsenen Fischen unterscheiden zu können. Das durch den Besatz verursachte genetische Risiko kann minimiert werden, indem bei der Erzeugung der Jungfische anstatt auf den Lachsbestand der Zuchtanstalten wann immer möglich auf alljährlich in der Natur gefangene Lachsmutterfische zurückgegriffen wird, die die natürliche Auswahl durchlaufen haben.

4.9   Die Situation am Finnischen Meerbusen veranschaulicht die Bedeutung der Lachszucht. Würde die Lachszucht zum Beispiel im ausgebauten Mündungsbereich des Flusses Kymijoki verboten, wäre dies in der Praxis das Ende der Lachsfischerei im Finnischen Meerbusen und der bedeutenden Freizeitfischereiindustrie unterhalb der Kraftwerke am Kymijoki. Diese Fischerei hat in der Tat eine große Bedeutung für die Fischereitouristik. Dies ist die Lage an zahlreichen Flüssen im Ostseeraum.

4.10   Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Vorschlags, beispielsweise infolge der Verringerung der Quote, wären für die Erwerbsfischer erheblich, aber auch für die Gewerbe, die von der Primärerzeugung abhängig sind, wie etwa Fischverarbeitung, Fischhandel und Hersteller von Fanggeräten. Die lange Wanderung des Lachses, die unterschiedlichen Fangpraktiken und die verschiedenen Regulierungserfordernisse für die jeweiligen Etappen seiner Wanderung zeitigen unterschiedliche wirtschaftliche Folgen sowohl zwischen als auch in den Mitgliedstaaten. Da die Lachsfangsaison kurz ist, fangen die meisten Lachsfischer auch andere Fischarten. Der Lachs ist jedoch für die meisten die wirtschaftlich wichtigste Fischart, und selbst geringfügige Bestimmungsänderungen können bedeutende Änderungen für die Rentabilität des Fischereigewerbes nach sich ziehen. Da Fischer ihr Gewerbe aufgeben müssten, würde der Vorschlag nicht nur den Bereich Lachs bzw. die Lachsfischerei betreffen, sondern auch das Angebot an sonstigen gefangenen Fischarten für Verbraucher, Fischverarbeitung und Handel schmälern. Dies würde zu einer größeren Abhängigkeit von in Drittländern erzeugtem Fisch führen. Auch die Fischereitouristik müsste aufgrund der strengeren Bestimmungen für den Flusslachsfang und der Anwendung von TAC in diesem Bereich mit wirtschaftlichen Verlusten rechnen. Auf längere Sicht könnte der Vorschlag aufgrund der sich erholenden Lachsbestände jedoch die Beschäftigungslage in der Fischereitouristik in Flussgebieten verbessern.

4.11   Weiterhin dürfte der Vorschlag auch für die Aquakulturunternehmer zu wirtschaftlichen Einbußen führen. Die Aquakulturunternehmen, welche die für die Ausgleichsbesatzmaßnahmen verwendeten Jungfische erzeugen, beschäftigen mehrere Dutzend Personen in Gebieten ohne nennenswerte Arbeitsplatzalternativen. Die aus einer Beendigung des Ausgleichsbesatzes resultierende Schließung von Aquakulturunternehmen würde die Beschäftigung in diesen Regionen schwächen. Durch die Unternehmensschließungen würden außerdem über lange Zeit gesammelte Erfahrungen und Fachkenntnisse verloren gehen.

4.12   Die negativen beschäftigungspolitischen Auswirkungen dieses Verordnungsvorschlags müssen bei der Anwendung bestehender Strukturbeihilfebestimmungen sowie bei der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik berücksichtigt werden. Mögliche Formen der Unterstützung sind zum Beispiel Entschädigungen bei Aufgabe der Fischerei sowie Investitionen und Schulungsmaßnahmen zur Neuausrichtung der Fischereitätigkeit. Der EWSA ist allerdings der Auffassung, dass Entschädigungen erst das Mittel zweiter Wahl sein sollten. In erster Linie sollte die beschäftigungspolitische Relevanz des Lachsfangs bereits bei der Planung praktischer Maßnahmen so berücksichtigt werden, dass sich die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt möglichst in Grenzen halten.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/52


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sechstes Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft — Abschließende Bewertung“

KOM(2011) 531 endg.

2012/C 68/10

Berichterstatter: Franco CHIRIACO

Die Europäische Kommission beschloss am 31. August 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Sechstes Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft — ABSCHLIESSENDE BEWERTUNG

KOM(2011) 531 endgültig

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 174 gegen 4 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Initiative der Kommission zur Bewertung des 6. Umweltaktionsprogramms (UAP). Die Kommission ist der Ansicht, dass das Programm insofern hilfreich gewesen sei, als es einen übergeordneten Rahmen für die europäische Umweltpolitik vorgegeben habe. Dieser Schlussfolgerung kann nur zum Teil zugestimmt werden. Das 6. UAP stellt zwar einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung der politischen Maßnahmen dar, hat sich auf die Verabschiedung spezifischer Instrumente jedoch nur begrenzt ausgewirkt. Trotz der Schwierigkeit, Informationen für eine Analyse der Umsetzung der Programmaktionen zusammenzutragen, lassen sich erhebliche Verzögerungen bei der Verabschiedung der Legislativinstrumente, Probleme bei der Bestimmung konkreter Ziele sowie unzureichende Kontroll- und Überwachungsmechanismen feststellen.

1.2   Der EWSA fordert die Kommission daher auf, die verfügbaren Instrumente, einschließlich der Überwachungs- und Bewertungsmechanismen, zu verbessern, um eine wirksame Umsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten. Zugleich empfiehlt der EWSA eine größere Kohärenz zwischen den verschiedenen Legislativ- und Programminitiativen im Umweltbereich und eine stärkere Berücksichtigung der Umweltdimension in miteinander verknüpften sektorspezifischen Maßnahmen. Wie der EWSA bereits in einer unlängst vorgelegten Stellungnahme bekräftigt hat (1), fordert er die Kommission auf, die ökologischen Herausforderungen klarer und konkreter anzugehen. Sie sollte insbesondere näher erläutern, was sie unter „effizienter Ressourcennutzung“ und „grüner Wirtschaft“ versteht und welche konkreten Veränderungen von den Erzeugern und Verbrauchern in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht gefordert werden.

1.3   Des Weiteren fordert der EWSA eine stärkere Berücksichtigung der internationalen Dimension. Die ökologischen Herausforderungen haben nämlich eine weltweite Tragweite und erfordern daher einen auf der Verstärkung der multilateralen Zusammenarbeit basierenden Ansatz und bessere Instrumente für globale Governance.

1.4   Schließlich fehlt es in der Kommissionsmitteilung an einer langfristigen Vision, es wird weder ein mögliches neues Aktionsprogramm noch der erwartete Mehrwert des 7. UAP erwähnt. Nach Ansicht des EWSA sollte dieses Programm mit der Europa-2020-Strategie und mit den Leitinitiativen übereinstimmen und diese ergänzen, realistisch und auf der Grundlage eines breiten politischen Konsenses festgelegte Ziele und Prioritäten umfassen sowie Instrumente vorsehen, die die Effektivität der vorgeschlagenen Maßnahmen gewährleisten können.

2.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsdokuments

2.1   Der politische Hintergrund

2.1.1   Umweltaktionsprogramme bestimmen die Zielrichtung der Umweltpolitik der Europäischen Union bereits seit den frühen 1970er Jahren, und das 6. Umweltaktionsprogramm (UAP) sollte daher als Teil eines kontinuierlichen und sich beständig wandelnden Prozesses gesehen werden.

2.1.2   Im 6. UAP wird erneut bekräftigt, wie wichtig die Konzepte für ein umweltverträgliches Wachstum und eine ressourceneffiziente, CO2-arme Wirtschaft sind; dies wird zum einen auch in der „Europa 2020-Strategie“ bestätigt (2), die einen adäquaten Rahmen bildet, der gewährleistet, dass die Umweltziele auf die allgemeine sozioökonomische Agenda der EU gesetzt werden, und zum anderen durch die neue Strategie für die Eindämmung des Verlustes an biologischer Vielfalt und für Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020 (3), die Vorbereitungen für die Rio+ 20-Konferenz (4), den Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050 (5), das Weißbuch betreffend den europäischen Verkehrsraum (6), sowie durch die Mitteilung „Energie 2020“ (7) und den „Energieeffizienzplan 2011“ (8).

2.2   Allgemeine Feststellungen

2.2.1   Die Kommission gelangt zu dem allgemeinen Schluss, dass das 6. UAP insgesamt gesehen insofern hilfreich war, als es einen übergeordneten umweltpolitischen Rahmen vorgab, da die weitaus meisten der in dem Programm vorgesehenen Aktionen vollständig durchgeführt wurden oder kurz vor ihrem Abschluss stehen.

2.2.2   Da das 6. UAP im Mitentscheidungsverfahren angenommen wurde, wird ihm von Interessenträgern mehr Legitimität zuerkannt als früheren Programmen; dies hat dazu geführt, dass bei späteren Maßnahmenvorschlägen mehr Eigenverantwortung übernommen wurde.

2.2.3   Die sieben Thematischen Strategien (9) des 6. UAP – Luft, Pestizide, Abfallvermeidung und -recycling, natürliche Ressourcen, Böden, Meeresumwelt, städtische Umwelt – wurden entwickelt, um die Integration in andere Politikbereiche und den Wissensstand zu verbessern. Obgleich in den von den Thematischen Strategien erfassten Bereichen unterschiedliche Fortschritte erzielt wurden, trug die Ausarbeitung der Strategien in einigen Fällen dazu bei, den politischen Willen zur Festlegung wirksamer Ziele und Zeitpläne und ihrer anschließenden Verwirklichung zu stärken. Stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass das 6. UAP spezifische Umweltinstrumente herbeizuführen vermochte, gibt es jedoch nicht.

2.3   Schwerpunktbereiche

2.3.1   Natur und biologische Vielfalt: Das 6. UAP lancierte die Entwicklung der Thematischen Strategien für Bodenschutz und für den Schutz und die Erhaltung der Meeresumwelt. Zudem zeigte es die Notwendigkeit auf, Wissensstand und Finanzierung zu verbessern und die laufenden Tätigkeiten zu intensivieren. Gleichwohl hätten mehr Fortschritte bei der Verwirklichung des – bislang unerreichten – Ziels der Eindämmung des Rückgangs der biologischen Vielfalt bis 2010 erzielt werden können, wenn die EU und die Mitgliedstaaten die erforderliche politische Entschlossenheit gezeigt hätten und entsprechende finanzielle Verpflichtungen eingegangen wären.

2.3.2   Umwelt und Gesundheit: Das 6. UAP gab den Anstoß zu einer nützlichen Bestandsaufnahme existierender Verpflichtungen und geplanter Aktionen und verdeutlichte die Verknüpfungen zwischen Umwelteinflüssen und menschlicher Gesundheit. Das Programm trug insbesondere dazu bei, Aktionen in die Wege zu leiten, zu denen es sonst möglicherweise nicht gekommen wäre, z.B. im Bereich städtische Umwelt, oder die ohne die Dynamik des Programms mehr Zeit erfordert hätten oder weniger umfassend gewesen wären, z.B. im Bereich der Pestizide. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Rechtslücken, und Forschungsergebnisse und Informationen über die Auswirkungen der Umweltqualität auf die Gesundheit sollten in das breitere politische Ziel der Verbesserung der öffentlichen Gesundheit integriert werden.

2.3.3   Natürliche Ressourcen und Abfälle: Mit dem 6. UAP wurde die Verknüpfung zwischen Abfall- und Ressourcenpolitik verstärkt, zu einer besseren Abfallbewirtschaftung beigetragen und der Übergang zu einer Politik erleichtert, die auf nachhaltigem Verbrauch und nachhaltiger Produktion beruht. Die Ressourcennutzung steigt nicht mehr in demselben Maße an wie das Wirtschaftswachstum. In absoluten Zahlen nimmt die Ressourcennutzung jedoch weiterhin zu, was dem Ziel der Berücksichtigung der längerfristigen Belastbarkeit der Umwelt zuwiderläuft. Außerdem bestehen bei der Ressourcenproduktivität nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und generell ist eine zunehmende Einfuhrabhängigkeit zu verzeichnen.

2.3.4   Klimawandel: Das 6. UAP hat einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels geleistet. Obwohl die ehrgeizigen Ziele für eine Intervention der internationalen Staatengemeinschaft nicht erreicht wurden und die quantifizierbaren Ziele realitätsferner und schwieriger zu erreichen waren, hat das 6. UAP die Verwirklichung grundlegender politischer Ziele ermöglicht.

2.3.5   Internationale Fragen: Mit dem 6. UAP wurden die Verpflichtungen der EU, Umweltbelange bei allen Außenbeziehungen der EU zu berücksichtigen und der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung eine externe Dimension zu geben, bekräftigt. Trotz aller Bemühungen der EU, die multilaterale Zusammenarbeit zu stärken und ihr Engagement für internationale Übereinkommen und Vereinbarungen unter Beweis zu stellen, wurden bei der Verbesserung des globalen Umweltmanagements nur wenige Fortschritte erzielt. Zur Bewältigung der zunehmend globalen Umweltherausforderungen sind kohärentere und gezieltere Anstrengungen innerhalb der EU erforderlich, damit diese ihre Rolle als Mitgestalterin der Weltpolitik effizienter spielen und ein besseres globales Umweltmanagement weiter vorantreiben kann.

2.4   Die Wirksamkeit der strategischen Ansätze und Instrumente

2.4.1   Das 6. UAP steht für eine starke Untermauerung und Förderung der Grundsätze und Instrumente für eine bessere politische Entscheidungsfindung und insbesondere für integrierte Folgenabschätzungen und eine verstärkte Verwendung marktbasierter Instrumente. Darin wird auch die Bedeutung solider wissenschaftlicher Grundlagen für die politische Entscheidungsfindung betont. Trotz der jüngsten positiven Entwicklungen sind die Umweltinformationen, insbesondere amtliche Daten und Statistiken, nach wie vor unvollständig und nicht immer rechtzeitig verfügbar.

2.4.2   Da sich die Umweltprobleme ändern, ist mehr Kohärenz zwischen i) der Phase der Politikgestaltung und der Phase der Politikumsetzung, ii) der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene und iii) den einzelnen Schwerpunktbereichen erforderlich.

2.4.3   Die unzulängliche Durchführung der Umweltvorschriften behindert die Zielerfüllung, untergräbt die Glaubwürdigkeit der Umweltpolitik und trägt in keiner Weise dazu bei, andere Sektoren für größere Anstrengungen zu gewinnen. Des Weiteren sollten Maßnahmen mit einem deutlichen Mehrwert für die Entwicklung einer „grünen“ Wirtschaft, die kurz- bzw. mittelfristige Ergebnisse zeitigen können, vorrangig berücksichtigt werden.

2.5   Künftige Herausforderungen

2.5.1   Die wichtigsten Pfeiler der Umweltpolitik und der Umweltvorschriften sind, ausgenommen im Bereich Böden, mittlerweile vorhanden, konnten aber aufgrund von Durchführungsmängeln bisher noch nicht umfassend zu Verbesserungen führen. Die herkömmliche Umweltpolitik spielt für den Umweltschutz zwar nach wie vor eine sehr wichtige Rolle, veränderliche Umstände und die zunehmende Verflechtung der Umweltprobleme erfordern jedoch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.

2.5.2   Die Hauptherausforderung für die künftige Umweltpolitik liegt darin, mittels einer längerfristigen Vision von der Wiedergutmachung auf die Verhütung von Umweltschäden überzugehen und dazu beizutragen, Umweltbelange in alle relevanten Politiken weiter einzubeziehen.

2.5.3   Zur Erreichung des Ziels der Strategie Europa 2020, mit dem eine umweltverträgliche, ressourceneffiziente, wettbewerbsfähige und kohlenstoffarme Wirtschaft angestrebt wird, ist die Einbeziehung ökologischer Gesichtspunkte und der Aspekte eines geringen CO2-Einsatzes in die Business-Modelle anderer Sektoren ebenso unerlässlich wie die Sicherstellung der Kohärenz von der Politikgestaltung bis hin zur Politikumsetzung. Ferner müssen Hindernisse für die ordnungsgemäße Umsetzung bestehender Vorschriften beseitigt werden, insbesondere Governance-Probleme in den Mitgliedstaaten auf allen Ebenen, um die Umwelt zu schützen und negative Folgen für die öffentliche Gesundheit zu begrenzen.

2.5.4   Umweltbelastungen sind zunehmend systemischer Art und weltweit verbreitet. Aufgrund der komplexen Verflechtungen ist eine umfassendere Wissensbasis erforderlich, und die Möglichkeiten für eine Änderung des Verbraucherverhaltens müssen unter allen Gesichtspunkten geprüft werden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Das 6. UAP ist ein offizielles politisches Engagement von Parlament, Rat und Kommission und ein wichtiger Indikator zur Bewertung der Entwicklung der EU-Umweltpolitik. Nach der Verabschiedung des 6. UAP hat die EU mit Erfolg zahlreiche Initiativen auf den Weg gebracht, ehrgeizige Ziele erreicht sowie verschiedene Strategien und multisektorale Pläne konzipiert. Es ist jedoch schwer zu sagen, in welchem Maße der allgemeine Rahmen des Programms sich auf die Entwicklung der politischen Maßnahmen ausgewirkt hat. Dieser Aspekt sollte in einer Analyse über die Umsetzung der Programmmaßnahmen sowie das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen zwischen dem UAP und der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung und der Lissabon-Strategie beleuchtet werden (10).

3.2   Aus der Debatte, welche die europäischen Institutionen und die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren über die Bewertung der bisherigen Maßnahmen und die Zukunftsperspektiven der europäischen Umweltpolitik (11) geführt haben, haben sich zwei wesentliche Aufgaben herauskristallisiert: Die neuen Prioritäten müssen bestimmt und die verfügbaren Instrumente verstärkt werden, um die Effizienz der vorgeschlagenen Maßnahmen zu gewährleisten.

3.3   Wichtig ist insbesondere, diese Thematik nicht auf die Frage zu beschränken, ob ein neues Programm sinnvoll ist oder nicht; vielmehr sollten im Mittelpunkt vor allem Überlegungen zu Form, Ziel, Inhalt und Zeitplänen eines solchen Programms stehen. Die dringlichste Frage lautet in diesem Zusammenhang, was zu tun ist, damit die nächsten Umweltmaßnahmen ein deutlicher wahrnehmbares, wichtigeres und wirksameres strategisches Instrument werden; entscheidend ist dabei, aus den Erfahrungen zu lernen und die Fallstricke zu vermeiden, die die Leistungsfähigkeit des 6. UAP gefährdet haben.

3.4   Angesichts der bisherigen Erfahrungen in anderen Bereichen (beispielsweise EFRE, ESF und ELER) sollte die Möglichkeit erwogen werden, auch beim Umweltprogramm eine zunehmende Verstärkung der Überwachungs- und Bewertungsinstrumente in den verschiedenen Dimensionen ex ante, in itinere und ex post zu testen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die Thematischen Strategien

4.1.1   Die Einführung der Thematischen Strategien hat einen strategischeren Ansatz ermöglicht, mit dem einige Mängel des 5. UAP wie etwa fehlende Anwendungsbereiche des Programms in bestimmten Sektoren behoben werden konnten. Allerdings hat die Entwicklung der Thematischen Strategien de facto den gesamten Beschlussfassungsprozess und die Verabschiedung entsprechender Maßnahmen verzögert.

4.1.2   Viele der die Thematischen Strategien flankierenden Legislativinstrumente befinden sich noch in der ersten Anwendungsphase. Verzögerungen bei ihrer Umsetzung, die fehlende Bestimmung konkreter Ziele, die Übertragung der Verantwortung auf die Mitgliedstaaten, nicht nur für die Anwendung, sondern auch für weitere konkrete Angaben zu vielen der vorgesehenen Maßnahmen sowie der unzureichende Kontroll- und Überwachungsmechanismus haben in einigen Fällen ein fristgerechtes Erreichen der Programmziele ernsthaft gefährdet.

4.2   Kohärenz und Integration

4.2.1   Eine spezifische Umweltpolitik reicht alleine selbstverständlich nicht aus, um die gegenwärtigen Umweltherausforderungen zu bewältigen; vielmehr müssen die gesamte Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft in diese Aufgabe einbezogen werden. Es bedarf hierbei jedoch einer größeren Kohärenz, sowohl zwischen den direkt miteinander verknüpften Thematiken (wie Klimawandel, Energie, Gesundheitsschutz) als auch zwischen den verschiedenen sektorspezifischen Maßnahmen (Ernährung, Verkehr, Bauwesen, Innovation). Insbesondere in dem aktuellen Reformprozess der GAP wurde dieses Prinzip mit der Einführung des Instruments Ökologisierung der Direktzahlungen (Greening) umgesetzt, wie auch der EWSA unterstrichen hat (12).

4.2.2   Des Weiteren muss die Integration der Umweltpolitik in den Bereich der „Metastrategien“ (Europa 2020) sowie in den Rahmen der Finanzinstrumente unterstützt und ausgebaut werden. Unter besonderer Bezugnahme auf den Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa (13) wurde in einem Workshop, der unlängst in Brüssel stattfand (14), die entscheidende Bedeutung des Programms für den Übergang zur „green economy“ sowie der Komplementarität beider Initiativen anerkannt, vor allem was die Umsetzung der Maßnahmen, die natürlichen Ressourcen und die Nutzung der Ökosysteme angeht.

4.3   Vorrangige Ziele

4.3.1   Die vorrangigen Ziele müssen unter besonderer Berücksichtigung der Umweltprobleme wie mangelnde natürliche Ressourcen, Luftreinhaltung, biologische Vielfalt und städtische Umwelt festgelegt werden.

4.3.2   Wichtig ist vor allem, dass neue Verhaltensweisen bei Verbrauch, Handel und Produktion angestrebt und gefördert werden. Der technische Wandel muss nämlich mit einem Wandel der Gewohnheiten einhergehen.

4.4   Bessere Instrumente

4.4.1   Bessere Instrumente für die EU-Umweltpolitik bedeutet vor allem bessere Rechtsvorschriften durch die Verabschiedung von Legislativmaßnahmen sowie die Wahl eindeutiger und nicht fakultativer Regeln, und zwar auch hinsichtlich der ökonomischen Aspekte. Zum anderen ist die Gewährleistung einer effektiven Umsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften - wie der EWSA bereits in einer Stellungnahme von 2001 betonte - ein wesentlicher Faktor zur Vermeidung von Marktverzerrungen und zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen (15). So hat der EWSA hinsichtlich des Förderprogramms für KMU (Environmental Compliance Assistance Programme – ECAP) unterstrichen, wie wichtig es ist, dass die Unternehmen die Umweltverträglichkeitsprüfung integriert und übergreifend durchführen (16).

4.4.2   Ferner müssen die Instrumente zur Bewertung des Umweltzustandes sowie der Umsetzung der einschlägigen Maßnahmen und ihrer Wirksamkeit (17) durch unabhängige, offene und zeitgerechte Bewertungen evaluiert werden.

4.4.3   Schließlich ist es wichtig, die Umsetzungsphase durch internationale Unterstützungs-, Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu verbessern; anders gesagt sind folgende Schritte notwendig: Festlegung, Übertragung in Verordnungen, Umsetzung, Kontrolle und Sanktionierung (18).

4.5   Die Rolle der einzelnen Akteure

4.5.1   Die Gebietskörperschaften müssen bereits in die Politikgestaltungsphase eingebunden werden. Der Ausschuss der Regionen hat in einer unlängst vorgelegten Stellungnahme (19) die Notwendigkeit einer proaktiven Mitwirkung der Gebietskörperschaften betont und die Entwicklung innovativer Methoden der Multi-Level-Governance unter Nutzung der bestehenden Plattformen und Netzwerke vorgeschlagen.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 97.

(2)  KOM(2010) 2020 endg. vom 3.3.2010.

(3)  KOM(2011) 244 endg. vom 3.5.2011.

(4)  KOM(2011) 363 endg. vom 20.6.2011.

(5)  KOM(2011) 244 endg. vom 3.5.2011.

(6)  KOM(2011) 144 endg. vom 28.3.2011.

(7)  KOM(2010) 639 endg.

(8)  KOM(2011) 109 endg. vom 8.3.2011.

(9)  KOM(2005) 446 (Luftreinhaltung), KOM(2006) 372 (nachhaltige Nutzung von Pestiziden), KOM(2005) 666 (Abfallvermeidung und -recycling), KOM(2005) 670 (nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen), KOM(2006) 231 (Bodenschutz), KOM(2005) 504 (Schutz und Erhaltung der Meeresumwelt) und KOM(2005) 718 (städtische Umwelt).

(10)  Strategic Orientations of EU Environmental Policy under the Sixth Environment Action Programme and Implications for the Future, Abschlussbericht, IEEP, Mai 2010.

(11)  Sämtliche Beiträge über die Veranstaltungen und vorbereitenden Studien sind abrufbar unter www.eapdebate.org.

(12)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 63-70.

(13)  KOM(2011) 571 endg.

(14)  Experten-Workshop: „The future of European Environmental Policy: what role for the Resource Efficiency Roadmap and what role for the Environment Action Programme?“, Brüssel, 13.9.2011.

(15)  ABl. C 221 vom 7.8.2001, S. 80-85.

(16)  ABl. C 221 vom 19.8.2008, S. 37.

(17)  „The issue of Evaluation in the Framework of European Environmental Policy“, Brussels Environment, 11.6.2010.

(18)  „Better instruments for European Environmental Policy“, vom spanischen Umweltministerium in Zusammenarbeit mit Brussels Environment veranstalteter Workshop, Madrid, 20.05.2010.

(19)  Stellungnahme des Ausschusses der Regionen vom 5./6. Oktober 2010.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „GVO in der EU“ (ergänzende Stellungnahme)

(2012/000/)

Berichterstatter: Martin SIECKER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. März 2011, gemäß Artikel 29 A der Durchführungsbestimmungen zu seiner Geschäftsordnung eine ergänzende Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

GVO in der EU

(ergänzende Stellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18. /19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 160 gegen 52 Stimmen bei 25 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Gentechnisch veränderte Organismen in der EU – Fingerzeige für die zukünftige Debatte

1.1   Gentechnisch veränderte Organismen (GVO) sind ein schwieriges Thema. Die Gentechnologie löst sowohl breites Interesse als auch große Besorgnis aus. Die Debatte ist oft emotionsgeladen und polarisiert; selbst bei sachlicher Diskussion gehen sowohl Befürworter als auch Gegner selektiv mit der Wirklichkeit um und lassen Nuancen außer Acht. Darüber hinaus gibt es offenbar neben Meinungsunterschieden über die Vor- und Nachteile der Gentechnologie – selbst innerhalb des EWSA – viele Unklarheiten und Mutmaßungen, unter anderem über Art und Umfang der Rechtsvorschriften über GVO in der EU. Dies ist bedauerlich, denn dieses wichtige und politisch heikle Thema verdient eine Debatte höherer Qualität.

1.2   Der aktuelle Rechtsrahmen der EU zu GVO durchläuft derzeit Veränderungen. In diesem Zusammenhang wird sich der EWSA bald häufiger zu GVO-bezogenen Maßnahmen und Rechtsakten äußern. Zur Vorbereitung und als Orientierungshilfe für diese zukünftige Debatte soll mit dieser Stellungnahme im Wesentlichen ein Überblick über den aktuellen Stand der Dinge und die gegenwärtige Diskussion über GVO und ihre Regulierung in der EU gegeben werden. Hierbei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, darunter ethische, umweltbezogene, technische, (sozio-)ökonomische, rechtliche und politische Gesichtspunkte. All diese Fragen, die sich aus den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Gentechnologie und der rasanten Entwicklung der Anwendungen von GVO ergeben, müssen in einem breiten gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden. Diese Stellungnahme soll als Ausgangspunkt für eine ausgewogene, sachkompetente politische Diskussion über diese wichtigen Fragen dienen.

1.3   In dieser Stellungnahme sollen nur die Eckpunkte der Diskussion beleuchtet und einige der wichtigsten Dilemmas aufgezeigt werden, die mit GVO und der einschlägigen Rechtsetzung in der EU in Verbindung stehen. Bei vielen dieser Fragenkomplexe werden eingehendere (Sondierungs-)Stellungnahmen des EWSA erforderlich sein, die er in der nächsten Zeit in Angriff zu nehmen beabsichtigt. Vorrangig geht es dabei um die derzeitigen EU-Vorschriften im Bereich der GVO, ihre mögliche Überarbeitung sowie das Füllen rechtlicher Lücken, wie sie in dieser Stellungnahme aufgezeigt werden. Der EWSA hat vor, in naher Zukunft Folgestellungnahmen zu diesen wichtigen Dossiers zu erarbeiten.

2.   Geschichte der Gentechnologie

2.1   Nicht einmal über die Geschichte der Gentechnologie herrscht allgemeine Einigkeit. Während Kritiker von einer grundlegend neuartigen, ethisch bedenklichen Technologie mit ungewissen Risiken sprechen, betrachten Befürworter die Gentechnologie als Fortsetzung einer jahrhundertealten Tradition von Pflanzenzucht und biologischen Herstellungsverfahren unter Verwendung von Hefen, Bakterien und Schimmelpilzen. Dennoch lässt sich aus objektiven Faktoren schließen, dass Gentechnologie etwas fundamental Neues ist und sich von den historischen Anwendungsbereichen grundlegend unterscheidet. Die entscheidende Trennlinie zwischen „alter“ und „moderner“ Biotechnologie entstand mit dem Aufkommen der Genetik. Nach der Entdeckung der Doppelhelixstruktur der DNA durch Watson und Crick 1953 wurde der genetische Code des Menschen und aller uns umgebenden Tiere und Pflanzen entschlüsselt, was Wissenschaftlern die Möglichkeit eröffnete, revolutionäre Manipulationen auf genetischer Ebene, in den eigentlichen Bausteinen des Lebens, vorzunehmen.

2.2   Die Technik der Genveränderung entstand 1973, als US-Wissenschaftler erstmals erfolgreich Experimente mit rekombinanter DNA (rDNA) an Bakterien durchführten. Dank der Möglichkeit, einzelne Gene zu ermitteln, zu isolieren, zu vermehren und in einen anderen lebenden Organismus einzuschleusen, konnten Wissenschaftler das genetische Erbgut eines lebenden Organismus erstmals in einer Weise verändern, die in der Natur durch Reproduktion und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist. Bei der klassischen (Kreuzungs-)Zucht wurden vollständige Genome (von Artgenossen) kombiniert, um danach durch Rückselektion zu versuchen, die gewünschten Eigenschaften beizubehalten. Obwohl Gentechnologie also gezieltere Manipulationen ermöglicht, ist die Einschleusung von Genen in einen anderen Organismus (oder eine andere Spezies) ein instabiles und unsicheres Verfahren mit schwer vorhersagbaren Nebenwirkungen und Folgen für das aufnehmende Genom und die Wechselwirkung mit dessen Milieu. Insbesondere die Langzeitfolgen sind noch weitgehend unbekannt.

2.3   Nach 1975 nahm die Gentechnologie eine rasante Entwicklung. Bereits 1982 wurden die ersten kommerziellen genetisch veränderten (medizinischen) Erzeugnisse auf den Markt gebracht. Anfang der 1990er Jahre folgten sogenannte „transgene“ Pflanzen und Tiere. Im Lauf der Jahre wurden auch die Artgrenzen überschritten. So wurde ein Schweinegen in eine Tomatensorte, ein Leuchtkäfergen in eine Tabakpflanze und ein menschliches Gen in einen Stier eingeschleust. Diese Durchbrechung der natürlichen Grenzen zwischen den Arten, die Unvorhersagbarkeit der langfristigen Folgen und die Unumkehrbarkeit potenzieller (Umwelt-)Folgen machen die Gentechnologie zu einer grundlegend neuartigen, potenziell riskanten Technologie. Dies bildet daher die Grundlage für die GVO-Regulierung in der EU und ihren Mitgliedstaaten, in vielen Drittländern und in internationalen Verträgen.

3.   Anwendungsbereiche und gesellschaftliche Rezeption von GVO

3.1   Die wichtigsten Anwendungsbereiche für GVO sind Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie (hauptsächlich Pestizidresistenz), Medizin und Pharmazeutik (Arzneimittel, Gendiagnostik und Gentherapie), (petro-)chemische Industrie und Waffenindustrie. Diese Bereiche werden oft als „grüne“, „rote“ und „weiße“ Biotechnologie bezeichnet.

3.2   Die Gentechnologie wird nicht in all diesen Bereichen gleichermaßen heftig diskutiert. Die Bedenken und Einwände der Politik und der Öffentlichkeit sind eher auf bestimmte Anwendungen als auf die Gentechnologie an sich zurückzuführen. Während Anwendungen im medizinischen Bereich überwiegend positiv aufgenommen werden, konzentriert sich die kritische Debatte vor allem auf Anwendungen in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Ein wichtiges Element ist hier das Abwägen zwischen Nutzen und Notwendigkeit einerseits und möglichen Risiken und Bedenken andererseits. So sehen viele Bürger in der Gentechnologie einen vielversprechenden Beitrag zur Behandlung schwerer Krankheiten beim Menschen, während die Vorteile (der heutigen Generation) von GVO in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie für den Verbraucher viel weniger offensichtlich zu Tage treten (dies betrifft vorläufig vor allem rein agronomische Eigenschaften mit Vorteilen für die Produzenten). Außerdem sind die Sicherheitsanforderungen und die klinischen Untersuchungen im Vorfeld der Genehmigung für medizinische Anwendungen seit jeher viel strenger und umfassender als die Verfahren, die der Einführung von GVO in Umwelt oder Lebensmittel vorausgehen.

3.3   Darüber hinaus ist es sowohl aus der Sicht der Gesellschaft als auch unter dem Regulierungsaspekt wichtig, zwischen gentechnischen Veränderungen in geschlossenen, isolierten Räumen wie Laboratorien, Fabrikationsstätten und Gewächshäusern, die ausreichend abgeschirmt und mit den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen versehen sind, um den unbeabsichtigten Austritt von GVO zu verhindern, und Anwendungen zu unterscheiden, bei denen gentechnisch veränderte Pflanzen oder Tiere ohne Einschließungsmöglichkeiten als lebende Organismen in die Umwelt entlassen werden, die imstande sind, sich zu vermehren und in der Biosphäre unkontrolliert und unumkehrbar zu verbreiten, mit nicht abschätzbaren Folgen für die vorhandene Artenvielfalt und unbekannten Wechselwirkungen mit anderen Arten.

3.4   Bei Pflanzen im Freiland sind jedoch zwei Situationen zu unterscheiden: zum einen die Situation, in der die Kreuzung einer gezüchteten Pflanzensorte mit einer Wildpflanzensorte möglich ist, da diese in ihrer Nähe vorkommt, und zum anderen die Situation, in der die Kreuzung unmöglich ist, da in dem betreffenden Umfeld keine Wildpflanzensorten in der Nähe der gentechnisch veränderten Pflanze anzutreffen sind. Diese Unterscheidung muss bei der Ausarbeitung des Regelungsrahmens für die Einführung gentechnisch veränderter Pflanzen im freien Feld übernommen werden.

3.5   Es handelt sich hier nicht per definitionem um eine Unterscheidung zwischen „roter“ und „weißer“ Biotechnologie, denn auch in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie kann in isolierten Laboratorien sicher und innovativ Grundlagenforschung betrieben werden, wie sie in der medizinischen Biotechnologie seit langem gang und gäbe ist. Auch in der Lebensmittelproduktion werden in großem Umfang gentechnisch veränderte Enzyme in isolierter Umgebung eingesetzt, ohne dass sie als lebende Organismen im Endprodukt verbleiben oder in die Umwelt gelangen. Der Unterschied zwischen abgeschirmter Verwendung und der Freisetzung in die Umwelt sowie die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Forschung und kommerziellen Anwendungen sind wichtige Elemente der politischen Diskussion, der öffentlichen Wahrnehmung und des Verbraucherechos auf GVO.

3.6   In der EU steht eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung den GVO sehr skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber, insbesondere in den Bereichen Lebensmittel, Tierfutter und Landwirtschaft, wie zahlreiche Meinungsumfragen, darunter die Eurobarometer-Erhebung (1), und die wissenschaftliche Literatur immer wieder belegen. Auch bei den Regierungen der Mitgliedstaaten gibt es unterschiedliche Standpunkte und politische Ansätze zu GVO. So gibt es entschiedene Gegner wie Österreich, Ungarn, Italien, Griechenland, Polen und Lettland, aber auch erklärte Befürworter wie die Niederlande, Großbritannien, Schweden, Spanien, Portugal und die Tschechische Republik. Viele Mitgliedstaaten enthalten sich allerdings auch der Stimme.

3.7   Aufgrund dieser Uneinigkeit ist der Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung in Bezug auf GVO kontrovers und langwierig. In der Regel werden GVO von der Kommission einseitig zugelassen, weil die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, im Komitologieverfahren mit qualifizierter Mehrheit über die Genehmigung zu entscheiden. Obwohl von 1999 und 2004 während der Überarbeitung der Rechtsvorschriften de facto ein Moratorium für die Zulassung von GVO galt, gelang es nicht, diese Zeit für eine Grundsatzdiskussion zu nutzen, um zu einem stärker konsensorientierten Herangehen an GVO in der EU zu gelangen. Die Zahl der Mitgliedstaaten, die den Anbau von GVO auf ihrem Gebiet untersagen, ist in den letzten Jahren gestiegen. Der jüngste Vorschlag der Kommission, der größere Entscheidungsfreiheit auf (sub-)nationaler Ebene über das Verbot des Anbaus von GVO-Pflanzen vorsah, wurde von den Mitgliedstaaten, vom EP, von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Branchenverbänden sowie in einer kürzlich verabschiedeten Stellungnahme des EWSA sehr kritisch aufgenommen (2). Dass bei einem so wichtigen Thema wie GVO die Situation politisch festzufahren droht, ist von jedem Blickwinkel aus unbefriedigend.

3.8   Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und Interessenträger äußern aus unterschiedlichsten Perspektiven wie etwa Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Imkerei, ländliche und globale Entwicklung, Ethik, Religion usw. Bedenken gegen GVO. Auch das EP hat sich schon häufig kritisch zu GVO und diesbezüglichen Rechtsvorschriften ausgesprochen, desgleichen der EWSA sowie nationale, regionale und lokale Behörden und unabhängige Wissenschaftler. Bei den Befürwortern handelt es sich um GVO-Patentinhaber in der Großindustrie und andere Interessenträger, darunter bestimmte GVO-Landwirte und –Wissenschaftler, sowie internationale Handelspartner, die erhebliches wirtschaftliches Interesse an einer flexibleren Regulierung für GVO in der EU haben. Einige der angeführten Hauptvorteile von GVO werden in Kapitel 5 erörtert.

3.9   Auch außerhalb der EU gibt es breiten (politischen und gesellschaftlichen) Widerstand gegen GVO in Lebensmitteln und Umwelt, insbesondere in Ländern wie Japan, der Schweiz, Korea, Neuseeland, Mexiko, den Philippinen und verschiedenen afrikanischen Ländern. In einigen Ländern ist der GVO-Anbau jedoch weit verbreitet: 2010 wurden gentechnisch veränderte Pflanzen von über 15 Millionen Landwirten auf ca. 150 Millionen Hektar angebaut (hauptsächlich Soja, Mais, Baumwolle), wobei jedoch 90 % der Gesamtanbaufläche auf nur fünf Länder entfiel: die USA, Kanada, Argentinien, Brasilien und Indien. Nichtsdestotrotz sind GVO in diesen Ländern nicht ganz unumstritten, und offensichtlich hat auch dortzulande die gesellschaftliche Kritik zugenommen, unter anderem wegen Zwischenfällen mit der unbeabsichtigten Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen wie Mais und Reis und Gerichtsurteilen über die Koexistenz. Hierzu ist anzumerken, dass in diesen Ländern keine Kennzeichnungspflicht besteht, sodass die Verbraucher über das Vorhandensein von GVO nicht Bescheid wissen und somit keine Entscheidung in voller Sachkenntnis treffen können.

4.   Wirtschaftliche Interessen, geistiges Eigentum und Marktkonzentration

4.1   In der Pflanzenzuchtbranche gibt es große potenzielle wirtschaftliche Interessen im Zusammenhang mit GVO. Der weltweite Jahresumsatz des Saatgutmarkts ist mittlerweile auf über 35 Mrd. EUR angewachsen und bildet die Grundlage eines noch viel größeren Markts für Produkte mit einem Umsatz von mehreren Hundert Milliarden Euro.

4.2   Die Gentechnologie und ihre Vermarktung haben sich rasant weiterentwickelt – mit beträchtlichen Folgen für die Verhältnisse innerhalb der Branche. In der Pflanzenzuchtbranche ist das geistige Eigentum schon seit über einem halben Jahrhundert im Sortenschutz geregelt, der in internationalen Verträgen niedergelegt ist. Eine Ausnahme von diesem zeitweiligen Exklusivrecht für die Entwickler neuer Sorten ist die sogenannte „Züchterausnahme“, in deren Rahmen andere Züchter geschützte Sorten ohne Zustimmung des ursprünglichen Sortenschutzinhabers frei verwenden dürfen, um neue, weiter verbesserte Sorten zu entwickeln. Diese Ausnahme, die es in keiner anderen Branche gibt, leitet sich aus der Erkenntnis her, dass neue Sorten nicht aus dem Nichts entstehen können.

4.3   Infolge der Weiterentwicklung der Molekularbiologie, die ihren Ursprung außerhalb der Landwirtschaft hat, wurde das Patentrecht auch im Pflanzenzuchtwesen eingeführt. Zwischen Patentrecht und Sortenschutz besteht aus verschiedenen Gründen ein Spannungsverhältnis. Das liegt in erster Linie daran, dass das Patentrecht keine Züchterausnahme kennt. Dadurch kann der Inhaber des Patents Ausschließlichkeitsansprüche auf genetisches Material geltend machen und es so gegen die Verwendung durch andere abschotten oder von kostspieligen Lizenzen abhängig machen. Im Gegensatz zum Züchterrecht begünstigt das Patentrecht keine offene Innovation und ermöglicht es nicht, wirtschaftliche Anreize für Innovationen mit dem Schutz anderer öffentlicher Interessen zu kombinieren.

4.4   Der Kampf um die Rechte geht jedoch noch weiter. Die 1998 verabschiedete Richtlinie über das Europäische Biotechnologie-Patent (3) ermöglicht den patentrechtlichen Schutz pflanzenbezogener Erfindungen. So können pflanzliche Gene oder Gensequenzen patentiert werden, nicht aber Pflanzensorten. Diese Interpretation ist allerdings nicht unumstritten. Führende multinationale Konzerne in der Pflanzenzuchtbranche vertreten den Standpunkt, die Möglichkeit zur Patentierung genetischer Eigenschaften beinhalte indirekt, dass auch Sorten unter das Patentrecht fallen (4). In diesem Fall dürfen patentrechtlich geschützte Sorten nicht mehr für weitere Innovationen durch andere verwendet werden. Dies beeinträchtigt die Artenvielfalt in der Landwirtschaft und führt dazu, dass Pflanzen mit interessanten Eigenschaften nicht für innovative Weiterentwicklungen durch andere zugänglich sind. Entwicklungen in der medizinischen Biotechnologie zeigen, welch negative Folgen dies zeitigen kann: Der strenge Patentschutz und hohe Preise haben hier dazu geführt, dass neue Produkte nur an Menschen verkauft werden, die sie sich leisten können, und nicht den Benachteiligten zur Verfügung stehen, die diese am meisten benötigen. Dieselben unerwünschten Folgen könnten sich auch in der Pflanzenzuchtbranche ergeben.

4.5   In der Pflanzenschutzbranche hat in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich infolge des Patentschutzes und der Regulierungsvorschriften eine enorme Marktkonzentration stattgefunden. Waren früher noch Hunderte von Unternehmen in der Branche tätig, so wird der Weltmarkt heute nur von einer Handvoll großer Akteure beherrscht. 2009 kontrollierten nur zehn Unternehmen nahezu 80 % des weltweiten Saatgutmarkts, die größten drei davon sogar 50 %. Dieselben multinationalen Konzerne kontrollierten zudem 75 % der weltweiten agrochemischen Industrie. Es handelt sich dabei nicht mehr um reine Pflanzenzuchtunternehmen, sondern um globale Konzerne, die im Lebensmittel-, Pestizid-, Chemie-, Energie- und Pharmabereich tätig sind. Sie erzeugen häufig auch gekoppelte Produkte wie GVO-Pflanzen, die gegen ein bestimmtes, von demselben Unternehmen verkauftes Pflanzenschutzmittel resistent gemacht wurden. Durch diese Konsolidierung kann eine ausgesuchte Gruppe multinationaler Konzerne in großem Stil Kontrolle über die gesamte Produktionskette von Nahrungsmitteln und verwandten Produkten ausüben, wodurch Wahlfreiheit, Bezahlbarkeit, offene Innovation und genetische Vielfalt gefährdet werden. Eine derartige Marktkonzentration und Monopolisierung ist keinesfalls wünschenswert, zumal in grundlegenden Sektoren wie Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung, und hat vorrangige Aufmerksamkeit seitens des EWSA und der EU verdient.

5.   Weitere Problemkreise im Zusammenhang mit GVO

5.1   Das Thema GVO hat viele verschiedene Facetten. Über die Vor- und Nachteile gehen die Meinungen weit auseinander; die Debatte wird stark polarisiert und emotional geführt. Auch wenn diese kurzgefasste Stellungnahme keinen Platz für eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Diskussion bietet, sollen doch einige wesentliche Punkte angerissen werden. Häufig angeführte Argumente sind die Hungerbekämpfung, die Ernährungssicherung für die stark wachsende Weltbevölkerung und der Klimaschutz. Es besteht großer Bedarf an unabhängiger wissenschaftlicher Forschung auf all diesen Gebieten, und der EWSA unterstreicht die Bedeutung einer (kontinuierlichen) strukturellen Finanzierung solcher Forschungsvorhaben durch die EU, nicht nur zur Förderung der wissenschaftlichen und kommerziellen Innovation, sondern auch zur Untersuchung der soziökonomischen, ökologischen und sonstigen Auswirkungen technologischer Fortschritte.

5.2   GVO-Pflanzen werden nie die Lösung der weltweiten Probleme im Zusammenhang mit Hunger und Armut sein können. „Produktionssteigerung“ ist nicht mit „besserer Verteilung der Lebensmittel“ gleichzusetzen. Um dem gravierenden Problem der Ernährungssicherheit wirksam zu begegnen, ist es aber vorrangig erforderlich, den Zugang zu Land zu verbessern, eine gerechtere Verteilung des Wohlstands zu fördern, den Nachhaltigkeitsaspekt in den Handelsabkommen zu stärken und die Volatilität der Rohstoffpreise zu verringern. Auch wenn die Biotechnologie natürlich kein Allheilmittel ist, hat die FAO in ihren letzten Berichten darauf hingewiesen, dass die Biotechnologie große agronomische und ökonomische Vorteile für die Landwirte – vornehmlich für die Kleinlandwirte – in den Drittstaaten schafft. Befürworter der Gentechnologie führen jedoch schon von Anfang an ins Feld, dass GVO-Pflanzen für die Lösung der weltweiten Probleme Hunger und Armut unverzichtbar seien. Es wurden Vorhersagen gemacht, denen zufolge Pflanzen mit einem erhöhten Gehalt an Vitaminen oder Nährstoffen zum Kampf gegen Hunger und Krankheiten in der Dritten Welt beitragen würden. Aufgrund ihrer potenziellen Eigenschaften wie Widerstandsfähigkeit gegen Trockenheit, Versalzung und Frost sowie weiterer Stresstoleranzen könnten Pflanzen außerdem dort angebaut werden, wo dies bisher unmöglich war. Auch ein größerer Ernteertrag wurde vorausgesagt. Trotz jahrzehntelanger vielversprechender Vorschläge wurde bisher jedoch keine dieser ertragssteigernden Eigenschaften kommerziell ausgebaut. Auch die wirtschaftliche Motivation für die Entwicklung dieser Pflanzen hält sich in Grenzen, da ihre Vorteile auf die bedürftigsten und einkommensschwächsten Gruppen der Weltbevölkerung abzielen. Selbst wenn die künftige Generation von GVO die verheißene Ertragssteigerung und Stresstoleranz tatsächlich bieten sollte, ist das weltweite Hungerproblem damit noch nicht gelöst: Die landwirtschaftlichen Flächen in den Entwicklungsländern werden zum Großteil für die Produktion von Luxusgütern genutzt, die für den Export in die reichen Länder bestimmt sind. Darüber hinaus werden die meisten der heute vermarkteten GVO-Pflanzen als Futtermittel verwendet, um unseren Konsum an Fleisch- und Milchprodukten in der westlichen Welt (90 % der Sojaimporte der EU) zu bedienen, oder für die Herstellung von Biokraftstoffen und Kunststoffen eingesetzt. Die verstärkte Nutzung von Nahrungspflanzen für Non-Food-Verwendungen hat den Anstieg der weltweiten Rohstoff- und Lebensmittelpreise befeuert, was die Armut und Ernährungsunsicherheit weltweit nur noch verstärkt hat (5).

5.3   Die weltweite Ernährungskrise ist somit weniger ein Produktions- als ein Verteilungsproblem (die globale Produktion beträgt mehr als 150 % des weltweiten Verbrauchs) und erfordert daher eher eine politisch-wirtschaftliche Lösung als landwirtschaftliche Innovation. Der EWSA erkennt an, dass die weltweite Ernährungssicherheit durch das rasche Bevölkerungswachstum weiter in Frage gestellt werden wird. Internationale Organisationen wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), große nichtstaatliche Organisationen wie Oxfam sowie der unlängst veröffentlichte Weltagrarbericht des offiziellen agrarwissenschaftlichen Gremiums der VN, des Weltagrarrats (International Assessment of Agricultural Science and Technology, IAASTD), heben allesamt die nachhaltige Landwirtschaft als Lösung zur Gewährleistung von Ernährungssicherheit und -autonomie hervor. In diesen fachkompetenten Bewertungen wird die Notwendigkeit nachhaltiger, umweltfreundlicher landwirtschaftlicher Praktiken und Techniken unterstrichen, wobei jedoch nicht unbedingt eine Rolle für GVO, sondern eher für alternative Techniken gesehen wird. Das vielversprechendste Beispiel für diese vom IAASTD und anderen Gremien genannten Alternativtechniken ist die markergestützte Selektion. Bei dieser Technik werden mithilfe genetischer Marker ganz gezielt und effizient Eigenschaften selektiert – ohne risikoträchtige oder unvorhersehbare Genmanipulation oder Übertragung von Genen. Da diese Technologie ihre Wirksamkeit bewiesen hat und kostengünstiger ist als Gentechnologie, könnte sie sich als eine unumstrittene Alternative für GVO erweisen, während aufgrund ihrer niedrigeren Kosten auch weniger Probleme mit Patent- und Marktkonzentration entstehen dürften. Obwohl das künftige Potenzial von GVO nicht ausgeschlossen werden sollte, könnte die EU mit einer bewussten Entscheidung für die Entwicklung von GVO-freien Techniken und nachhaltigen landwirtschaftlichen Praktiken beträchtliche Wettbewerbsvorteile erzielen, die sie im Kontext der GVO nicht besitzt. Durch intensive Investitionen in die nachhaltige Landwirtschaft könnte die EU weltweit eine einzigartige und innovationsgestützte Führungsposition erringen, was sich positiv auf die europäische Wirtschaft und Beschäftigung sowie die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit in der Union auswirken würde. Auch entspräche dies mehr dem in der künftigen GAP vorgesehenen der Artenvielfalt förderlichen EU-Agrarmodell.

5.4   Auch im Zusammenhang mit dem Klimaschutz werden GVO von ihren Befürwortern als mögliches Hilfsmittel angesehen – sowohl in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel als auch die Abschwächung seiner Folgen. Doch auch auf diesem Gebiet gilt, dass die heutige Generation kommerzialisierter GVO-Pflanzen keine dieser zweckdienlichen Eigenschaften aufweist. So hat eine der herausragendsten Anwendungen, die Produktion von Biokraftstoffen aus GVO-Pflanzen, schon jetzt negative Auswirkungen auf die weltweiten Preise von und die Versorgung mit Rohstoffen und Lebensmitteln und geht immer noch mit einer starken Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen einher.

5.5   Der potenzielle Beitrag von GVO zur Bekämpfung weltweiter Bedrohungen wie Hunger, Armut, Klimawandel und Umweltproblemen ist zwar keinesfalls auszuschließen; Fakt ist jedoch, dass die heutige Generation von GVO hierfür weder geeignet noch bestimmt ist. Ihre Eigenschaften sind derzeit noch zu stark auf „produktionsbezogene“ Vorteile für die Erzeuger wie Pestizidresistenz beschränkt. Ob diese GVO-Pflanzen zu einem geringeren oder – im Gegenteil – zu einem stärkeren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln geführt haben, ist (wissenschaftlich) umstritten; eindeutig positiv scheint ihr Beitrag jedenfalls nicht zu sein. In immer mehr Forschungsarbeiten wird auf die Langzeitfolgen aufmerksam gemacht, darunter die Zunahme des intensiven Monokulturanbaus, die Entwicklung von Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel, die Auswaschung ins Grundwasser, die schwerwiegende Schädigung der Biodiversität in den umliegenden Gebieten sowie die Risiken einer langfristigen Exposition gegenüber bestimmten, bei GVO verwendeten Pflanzenschutzmitteln für die menschliche Gesundheit. Obgleich einige dieser Effekte auf schlechte landwirtschaftliche Praktiken als solche zurückzuführen sind, da die derzeitige Generation von GVO „im Bündel“ zusammen mit den Pflanzenschutzmitteln verkauft werden, auf die sie angewiesen sind, müssen diese Produkte und ihre ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ebenfalls im Verbund bewertet werden (6).

5.6   Eine weitere wichtige Problematik im Zusammenhang mit GVO ist die Wahlfreiheit für Verbraucher und Landwirte. Sie kommt sowohl inner- als auch außerhalb der EU zum Tragen. In den Entwicklungsländern verursachen die hohen Preise für patentgeschütztes Saatgut in Kombination mit Abnahmeverpflichtungen und dem Verbot der traditionellen Praxis, Samen früherer Anbauperioden vorzuhalten, große sozioökonomische und kulturelle Dilemmas für Landwirte, insbesondere arme Kleinbauern. In Ländern, in denen der GVO-Anbau überwiegt, vor allem den USA, Kanada, Argentinien und Brasilien, hat die Vielfalt der Anbaukulturen drastisch abgenommen. Weltweit handelt es sich bei nahezu 80 % aller Soja- sowie 50 % aller Baumwoll-, über 25 % aller Mais- und mehr als 20 % aller Rapskulturen um GVO. In der EU soll die Wahlfreiheit der Verbraucher und Landwirte durch Kennzeichnungsanforderungen gewährleistet werden. Um diese Wahlfreiheit sowohl für die Landwirte als auch für die Verbraucher auch beibehalten zu können, bedarf es allerdings einer vollständigen und zuverlässigen Trennung von GVO- und GVO-freien Produktionsketten. Ein wichtiger Aspekt dieser Trennung ist die Einführung einer strengen Koexistenzgesetzgebung, darunter wirksame Haftungs- und Wiedergutmachungsvorschriften für ökologische und/oder wirtschaftliche Schäden infolge einer unvorhergesehenen Vermischung, Produktionskettenzertifizierungs- und Trennungsregelungen sowie Reinheits- und Kennzeichnungsanforderungen für das Vorhandensein von GVO-Material in GVO-freiem Saatgut und abgeleiteten Produkten.

6.   Gesetzgebung und Überprüfung der politischen Maßnahmen

6.1   Seit 1990 hat die EU einen umfassenden Rechtsrahmen für GVO entwickelt, der ebenso wie die Technologie selbst, die sich kontinuierlich weiterentwickelt, viele Veränderungen durchlaufen hat. Dadurch ist in den vergangenen zwanzig Jahren ein komplexer Flickenteppich aus verschiedenen Richtlinien und Verordnungen entstanden, der folgende Hauptbestandteile umfasst:

Richtlinie 2001/18 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt (7);

Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (8);

Verordnung (EG) Nr. 1830/2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen und über die Rückverfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln und Futtermitteln (9);

Verordnung (EG) Nr. 1946/2003 über grenzüberschreitende Verbringungen genetisch veränderter Organismen (Anwendung des internationalen Protokolls von Cartagena über die biologische Sicherheit zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt) (10) und

Richtlinie 2009/41/EG über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen (11).

6.2   Die derzeit geltenden Regeln für die Zulassung und Verwendung von GVO beruhen auf einer Reihe (rechtlicher) Grundprinzipien, nämlich:

unabhängige, wissenschaftlich basierte Zulassung vor der Einführung,

hohes Schutzniveau in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Mensch, Tier und Umwelt gemäß dem Vorsorge und dem Verursacherprinzip,

Wahlfreiheit und Transparenz entlang der gesamten Nahrungskette und Schutz der sonstigen Verbraucherinteressen, u.a. durch öffentliche Information und Beteiligung,

Einhaltung der Binnenmarktregeln und internationaler Verpflichtungen,

Rechtssicherheit und

Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit.

6.3   Einige Lücken klaffen jedoch nach wie vor: So fehlt es an spezifischen EU-Rechtsvorschriften und -Maßnahmen für wichtige Aspekte im Zusammenhang mit der GVO-Einführung, insbesondere in Bezug auf folgende Punkte:

Koexistenz von GVO, biologischer und konventioneller Landwirtschaft;

Haftungs- und Wiedergutmachungsvorschriften für ökologische und/oder wirtschaftliche Schäden infolge einer GVO-Freisetzung oder einer ungewollten Vermischung mit biologischen oder konventionellen Produkten sowie Ausgleichsregelungen für die durch Koexistenz und Produktionskettenzertifizierung zur Verhinderung der Vermischung entstandenen Kosten;

Reinheits- und Kennzeichnungsanforderungen für das Vorhandensein von GVO-Material in GVO-freiem Saatgut und Pflanzenvermehrungsmaterial;

Kennzeichnungsanforderungen, insbesondere für Fleisch- und Milchprodukte von Tieren, die mit GVO-Tierfutter gefüttert wurden, sowie harmonisierte Normen für die Kennzeichnung GVO-freier Produkte;

allgemeine Stärkung der Kennzeichnungsanforderungen für GVO, um die Wahlfreiheit der Verbraucher zu garantieren, einschließlich der rechtlichen Klärung des „zufälligen Vorhandenseins“ und mögliche Verschärfung der Schwellenwerte;

Vorschriften für transgene oder geklonte Tiere und davon abgeleitete (Lebensmittel-)Produkte, insbesondere in Bezug auf die Zulassung und Kennzeichnung;

eine solide Rechtsgrundlage für Mitgliedstaaten und/oder autonome Regionen, um den GVO-Anbau aus unterschiedlichen Gründen wie etwa ökologischen, sozioökonomischen, ethischen und sonstigen Bedenken ganz oder teilweise zu verbieten.

6.4   Die Kommission legte im Juli 2010 einen Rechtsetzungsvorschlag vor, um (sub-)nationale Beschränkungen oder Verbote des GVO-Anbaus zu ermöglichen. Es scheint jedoch, als seien mit diesem Vorschlag mehr Fragen aufgeworfen denn beantwortet worden, hauptsächlich aufgrund mehrerer rechtlicher Unklarheiten und Widersprüche im Text und des Ausschlusses u.a. ökologischer Probleme zur Begründung von Beschränkungen. Während der Grundgedanke einer größeren (sub-)nationalen Souveränität beim GVO-Anbau weithin Unterstützung fand, hat der derzeit unzulängliche Text des Vorschlags nach einer kritischen Stellungnahme des EWSA (12) zu einer kritischen ersten Lesung im EP mit umfangreichen Änderungsanträgen geführt. Der Rat prüft den Vorschlag derzeit, konnte aber bislang nicht zu einem gemeinsamen Standpunkt gelangen. Nach Ansicht des EWSA ist dies ein sehr wichtiges Dossier, das vorrangig behandelt und bei der künftigen Überarbeitung des gesamten Rechtsrahmens für GVO unbedingt berücksichtigt werden muss. Der EWSA fordert die Kommission auf, im Zuge eines konstruktiven Dialogs mit dem EP und dem Rat aktiv mitzuarbeiten, um eine solide Rechtsgrundlage für die (sub-)nationale Entscheidungsfindung in Fragen des GVO-Anbaus zu schaffen, die auf legitimen Gründen, wie ökologischen, sozioökonomischen, ethischen und kulturellen Bedenken im weiteren Sinne, beruht. Sie sollte außerdem mit der rechtlichen Verpflichtung für die Mitgliedstaaten und/oder Regionen einhergehen, verbindliche Koexistenzvorschriften zu erlassen, um die unbeabsichtigte Vermischung von GVO- und GVO-freien Anbauzonen zu verhindern.

6.5   In den vergangenen Jahren hat sich der EWSA wiederholt für den Erlass von EU-Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Koexistenz, der Haftung und der umfassenderen Kennzeichnung von GVO ausgesprochen (13). Überdies wurde die Notwendigkeit, diese verbleibenden Rechtsetzungslücken durch harmonisierte EU-Maßnahmen zu schließen, unlängst erneut vom EU-Gerichtshof wiederholt, der in seinem Urteil vom 6. September 2011 zum Problem der Koexistenz infolge des unbeabsichtigten Eintrags von GVO-Maispollen in Honig bekräftigt, dass für eine solche unerlaubte Anwesenheit von GVO nach Maßgabe des EU-Rechts eine absolute Nulltoleranz gilt (14). Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung wirksamer, kohärenter und strenger Maßnahmen der Koexistenz und Produktionskettentrennung zur Vermeidung der Vermischung von GVO- und GVO-freien Produkten in Kombination mit Haftungs- und Wiedergutmachungsregeln für Schäden und Entschädigung (für Kosten aufgrund von Koexistenzmaßnahmen und Produktionskettenzertifizierung), und erwähnt die Möglichkeit, den GVO-Anbau auf offenem Feld in bestimmten Gebieten (z.B. für die Honigproduktion) mittels einer Zoneneinteilung zu verbieten.

6.6   Die von der Kommission im Juli 2010 veröffentlichte Empfehlung zur Koexistenz stellt gegenüber der früheren Empfehlung von 2003 zwar eine Flexibilisierung dar. Der EWSA unterstreicht jedoch ausdrücklich, dass keine der beiden Empfehlungen rechtlich bindend ist; daher können sie weder eine durchsetzbare Beschränkung der umfassenden nationalen Kompetenz im Bereich der Koexistenzmaßnahmen auferlegen, noch schreiben sie die notwendigen rechtlichen Verpflichtungen für Koexistenzstandards vor. Die bevorstehende Einführung von Nutzpflanzen für den Non-Food-Bereich neben Nahrungspflanzen, beispielsweise für Arzneimittel-, Biokraftstoff- oder Industrieanwendungen, wird die Notwendigkeit wirksamer Koexistenz- und Haftungsvorschriften noch weiter verstärken, und der EWSA erachtet es für wichtig, diese Probleme jetzt vorausblickend anzugehen.

6.7   Im Dezember 2008 forderte der Rat Umwelt eine Stärkung und bessere Umsetzung des geltenden Rechtsrahmens für GVO. Konkret werden Verbesserungen in folgenden Bereichen für erforderlich gehalten: Bewertung der Umweltrisiken durch die EFSA sowie Kontroll- und Überwachungsprotokolle nach der Einführung; mehr Gewicht für externes Fachwissen aus den Mitgliedstaaten und von unabhängigen Wissenschaftlern; Einschätzung der sozioökonomischen Auswirkungen der Einführung und des Anbaus von GVO; Schwellenwerte für die Kennzeichnung von GVO-Spuren in Saatgut; besserer Schutz von anfälligen und/oder geschützten Gebieten, einschließlich der Möglichkeit der Einrichtung GVO-freier Zonen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene.

6.8   Obgleich die Kommission in einigen dieser Bereiche bereits tätig geworden ist, wurde den Forderungen des Rates nur unzureichend mit konkreten Ergebnissen entsprochen. Der EWSA unterstreicht, dass für jeden dieser Punkte und jede der genannten Rechtsetzungslücken auf kurze Sicht konkrete, wesentliche Schritte zum Erlass geeigneter Rechtsvorschriften und Maßnahmen erforderlich sind. In Bezug auf die Überarbeitung der Risikobewertungs- und –managementverfahren sowie für die GVO-Zulassungen empfiehlt der EWSA (genau wie der Rat und das EP), neben Naturwissenschaftlern auch Sozialwissenschaftler, Juristen, Ethiker und Vertreter zivilgesellschaftlicher Interessenverbände einzubeziehen, damit bei der Entscheidungsfindung nicht nur die wissenschaftliche Bewertung der Risiken für Mensch und Umwelt, sondern auch „andere legitime Faktoren“, z.B. sozioökonomische, kulturelle und ethische Erwägungen sowie gesellschaftliche Werte, berücksichtigt werden. Dies könnte auch dazu beitragen, die gesellschaftliche Kontroverse um GVO beizulegen und einen Ausweg aus der politischen Beschlussfassungssackgasse zu finden.

6.9   Ein wichtiges Projekt, das sich verzögert hat, ist die Bewertung des heutigen Rechtsrahmens für GVO und genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel, die 2008 auf Ersuchen des Rates von der Kommission eingeleitet wurde und deren Ergebnisse Anfang dieses Jahres vorgelegt werden sollten. Die Kommission hat dem Rat zugesagt, dass für 2012 Initiativen zur Überprüfung der Rechtsvorschriften ergriffen würden, und der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass dieses Ziel erreicht wird. Die genannten Regulierungslücken müssen im Zuge dieser Überprüfung auf jeden Fall angegangen werden. Als Erstes muss die Kommission eine umfassende öffentliche Konsultation auf der Grundlage des nunmehr veröffentlichten Evaluierungsberichts (15) einleiten, damit ein Beitrag der Gesellschaft zu der bevorstehenden Überprüfung des Rechtsrahmens gewährleistet ist. Dies wird sicherlich dabei helfen, auf die Bedenken der Öffentlichkeit einzugehen, und könnte das Vertrauen in die Regulierungsstellen stärken.

6.10   Einer der Aspekte, auf die es künftig zweifellos ankommen wird, ist die Definition von GVO. Obgleich sich die Wissenschaft und die Anwendungen der Gentechnologie in den vergangenen Jahrzehnten extrem schnell weiterentwickelt haben, ist die rechtliche Definition von GVO seit den ersten europäischen Rechtsvorschriften 1990 unverändert geblieben. Nach dieser Definition ist ein GVO „ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist“ (16). Bestimmte gentechnische Verfahren werden von dieser Definition jedoch ausdrücklich ausgenommen und sind damit von den Bestimmungen des Rechtsrahmens für GVO befreit.

6.11   Im Laufe der Jahre wurden viele neue Pflanzenzuchttechniken entwickelt, die bei der Festlegung des heutigen Gesetzesrahmens noch nicht absehbar waren. Ein Beispiel hierfür ist die Cisgenese, bei der Gene mithilfe der rekombinanten DNA zwischen artgleichen Organismen übertragen werden. Für diese neuen Techniken stellt sich mittlerweile die Frage, inwiefern sie unter die heutige Definition von Gentechnologie fallen und ob die auf diese Weise entstandenen Organismen durch den derzeitigen Rechtsrahmen für GVO erfasst werden. Angesichts des Verwaltungsaufwands und vor allem auch der negativen Stigmatisierung von GVO in Politik und Öffentlichkeit ist eine Befreiung von diesen Vorschriften für die Pflanzenzuchtindustrie von großem wirtschaftlichem Interesse. In diesem Fall könnten diese Innovationen nämlich früher auf den Markt gebracht werden, ohne dass Kennzeichnungspflichten negative Verbraucherreaktionen auslösen können. Diese Techniken verursachen jedoch die gleichen ethischen, ökologischen, sozioökonomischen und politischen Bedenken, wie dies bei der heutigen Generation von GVO der Fall ist, da sie im Wesentlichen dieselbe Gentechnologie verwenden, während es immer noch wenig Erfahrungen und viel Unsicherheit gibt.

6.12   Um bezüglich dieser neuen Pflanzenzuchttechniken und ihrer Erzeugnisse einen einheitlichen Regelungsansatz in allen Mitgliedstaaten zu garantieren, hat die Kommission 2008 eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe eingesetzt, auf die eine politische Arbeitsgruppe folgen soll, um Empfehlungen zum rechtlichen Vorgehen auszusprechen. Die Berichte beider Arbeitsgruppen sollten bis zum Sommer 2011 fertiggestellt und bei der für 2012 geplanten Überprüfung des Rechtsrahmens berücksichtigt werden. Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass am heutigen prozessbezogenen Regulierungsansatz der EU festgehalten werden sollte und diese neuen Pflanzenzuchttechniken aufgrund der verwendeten (rDNA-)GVO-Technik im Prinzip den Bestimmungen des EU-Rechtsrahmens für GVO unterliegen müssen, auch wenn die daraus entstandenen Pflanzen oder abgeleiteten Endprodukte als solche von ihren konventionellen Gegenstücken nicht wahrnehmbar abweichen.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe die jüngste Eurobarometer-Erhebung „Europeans and Biotechnology in 2010“ http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_341_winds_en.pdf.

(2)  CESE, ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 51.

(3)  Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. L 213, S. 13.

(4)  Vergleichbar mit der jüngsten Rechtssache C-428/08, Monsanto Technology.

(5)  Wie in der Anhörung zum Thema „Biotechnologie in der Landwirtschaft: genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel in der EU“ (am 20. Oktober 2011 im EWSA in Brüssel) angesprochen wurde.

(6)  Siehe Fußnote 5.

(7)  ABl. L 106 vom 17.4 2001, S. 1.

(8)  ABl. L 268 vom 18.10 2003, S. 1.

(9)  ABl. L 268 vom 18.10 2003, S. 24.

(10)  ABl. L 287 vom 5.11.2003, S. 1.

(11)  ABl. L 125 vom 21.5.2009, S. 75.

(12)  Siehe Fußnote 2.

(13)  Siehe u.a. CESE, ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 51; CESE 1656/2004, ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 155; CES, ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 69; CES, ABl. C 221 vom 17.9.2002, S. 114-120 usw.

(14)  Rechtssache C-442/09, Bablok u.a./Freistaat Bayern und Monsanto.

(15)  http://ec.europa.eu/food/food/biotechnology/index_en.htm.

(16)  Siehe Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 und Art. 2 Abs. b der Richtlinie 2009/41. Organismus wird definiert als „jede biologische Einheit, die fähig ist, sich zu vermehren oder genetisches Material zu übertragen“.


ANHANG I

zu der Stellungnahme des Ausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 3.8

Ersetzen:

 (1) .“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

91

Nein-Stimmen

122

Enthaltungen

19

Ziffer 5.3

Absatz ersetzen:

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

83

Nein-Stimmen

139

Enthaltungen

13


(1)  


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Energiebereich“

KOM(2011) 540 endg. — 2011/0238 (COD)

2012/C 68/12

Berichterstatter: Jonathan PEEL

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 27. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 194 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Energiebereich

KOM(2011) 540 endgültig — 2011/0238 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 177 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen und Schlussfolgerungen

1.1   Energie ist für unseren Lebensstandard und unsere Lebensqualität von grundlegender Bedeutung (1). Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Beschluss zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Energiebereich. Er erachtet diesen Vorschlag als geeigneten Schritt hin zur Verwirklichung einer gemeinsamen Energieaußenpolitik der EU, die im Einklang sowohl mit dem Lissabon-Vertrag (Artikel 194 AEUV (2)) als auch der Strategie „Energie 2020“ (3) und den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur Energie vom 4. Februar 2011 steht. Ein wirksames System für den verbindlichen Informationsaustausch wie das in dem Vorschlag beschriebene, in dem die Europäische Kommission eine aktive Rolle in Bezug auf die Verhandlungen von zwischenstaatlichen Energieabkommen zwischen Mitgliedstaaten und Partnerländern übernimmt, ist überfällig.

1.2   Diesbezüglich begrüßt der Ausschuss außerdem, dass in dem Vorschlag für einen Beschluss ein Informationsaustausch über alle bestehenden bilateralen Energieabkommen aufgenommen worden ist, wobei die Europäische Kommission davon ausgeht, dass es zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten ca. 30 zwischenstaatliche Abkommen für den Bereich Öl und ca. 60 für den Bereich Gas, jedoch weniger für den Bereich Strom gibt.

1.2.1   Der Ausschuss sieht zwar ein, dass den Erfordernissen der Vertraulichkeit Rechung getragen werden muss, ist aber dennoch befremdet, dass ein derartiger Informationsmechanismus noch nicht besteht, und zwar weder zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten noch zwischen den Mitgliedstaaten untereinander. Derzeit sind weder die Europäische Kommission noch die Mitgliedstaaten in der Lage, sich einen Überblick über das Handelsbeziehungsgeflecht einzelner Handelspartner zu verschaffen, wohingegen die wichtigsten Partner diesen Überblick ganz sicher haben. Die EU muss bei ihren Bemühungen um eine angemessene, stabile und sichere Energieversorgung für die absehbare Zukunft verstärkt mit einer Stimme sprechen und den Ausbau eines wirksamen Energiebinnenmarkts fortsetzen. Schätzungen zufolge wird die weltweite Energienachfrage nach endlichen Ressourcen insbesondere aufgrund der stärkeren Konkurrenz seitens der Schwellenländer in den kommenden 20 Jahren um 40 % zunehmen; eventuelle, bislang noch nicht vorhersehbare Klimaschutzmaßnahmen könnten die Situation weiter komplizieren.

1.3   Der Ausschuss begrüßt gleichfalls die in Artikel 5 des Vorschlags enthaltene Möglichkeit, dass die Europäische Kommission anlässlich der Verhandlung von Abkommen in einer offiziellen Stellungnahme bestätigt, dass ein Entwurf für ein Abkommen nicht gegen die Binnenmarktvorschriften verstößt, sofern diese Stellungnahme ohne ungebührliche Verzögerung und innerhalb des geplanten Zeitrahmens vorgelegt wird. Wie in der Stellungnahme zur Auslandsinvestitionspolitik der EU (4) hervorgehoben – in der übrigens viele der hier angesprochenen Fragen bereits aufgegriffen wurden –, ist Rechtssicherheit für Investoren von grundlegender Bedeutung.

1.3.1   Der Ausschuss erachtet jedoch den Vorschlag als bedenklich, dass ein Schweigen der Europäischen Kommission, d.h. wenn sie nicht innerhalb von vier Monaten Stellung nimmt, als Zustimmung gilt. Er ist sich bewusst, dass es für die Europäische Kommission aus Verfahrensgründen unpraktisch oder schwierig wäre, jedem Abkommen formell zuzustimmen. Da allerdings diese Kompatibilitätskontrolle ausdrücklich angefordert wird, und nicht zuletzt aus Gründen der Klarheit, sollte jedoch nach Möglichkeit ein zumindest informeller konkreter Hinweis erfolgen oder aber rechtzeitig vor potenziellen Problemen gewarnt werden, die weitere Untersuchungen erforderlich machen.

1.4   Energieabkommen sollten von strategischen und kommerziellen Überlegungen geleitet sein. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz müssen gewahrt bleiben. Daher bedauert der Ausschuss, dass Vereinbarungen zwischen kommerziellen Betreibern nicht Gegenstand dieses Vorschlags sind, zumal in der Begründung (Ziffer 1) selbst ausdrücklich betont wird, dass bestimmte Transportkunden eine Monopolstellung oder eine Quasi-Monopolstellung einnehmen könnten, die der EU-Gesetzgebung widerspräche. Er fordert die Europäische Kommission auf, zumindest dafür zu sorgen, dass sie im Bedarfsfall umfassenden Einblick in die Teile von kommerziellen Vereinbarungen erhalten kann, die Auswirkungen auf die EU-Vorschriften haben könnten, insbesondere wenn diese Vereinbarungen zwischenstaatlichen Abkommen als Anlagen beigefügt sind. Er weist insbesondere auf die potenziellen Gefahren hin, die dann entstehen, wenn strategische Partnerschaften zur Verankerung von Zugeständnissen führen, die von Drittstaaten-Interessen diktiert werden und sich letztlich als nachteilig erweisen können.

1.4.1   Der Ausschuss weist außerdem darauf hin, dass der Unterschied zwischen externen Energieabkommen, die zwischen Regierungen oder zwischen Privatanbietern geschlossen werden, für die EU-Verbraucher nicht ohne Weiteres ersichtlich sein wird, da es in jedem Fall Auswirkungen auf die Preise, die Anbieterwahl, den Energiemix und andere wesentliche Aspekte geben wird.

1.4.2   Der Ausschuss fordert ein faires, aber konsequentes Vorgehen, wenn bestimmte Lieferanten aus Drittländern andere strategische und kommerzielle Interessen haben als die EU. Er zweifelt daran, dass die Vermutung der Europäischen Kommission, dass diese Lieferanten sich zu einer stärkeren Einhaltung der Binnenmarktvorschriften verpflichten werden, realistisch ist. Er ist allerdings der Meinung, dass die Verhandlungen möglichst im Geist von Partnerschaft, Offenheit und gegenseitigem Vertrauen geführt werden sollten.

1.5   Der Ausschuss bedauert jedoch insbesondere das Fehlen einer umfassenden Folgenabschätzung, denn diese hätte es erleichtert, sich die wahrscheinlichen Reaktionen der Mitgliedstaaten zu vergegenwärtigen und sich entsprechend darauf einzustellen. Energie fällt in die geteilte Zuständigkeit von Kommission und Mitgliedstaaten; für viele Mitgliedstaaten ist dies eng mit ihrem Verständnis von Souveränität verbunden. Dabei kann das Pendel nach beiden Seiten ausschlagen: Was die einen als zusätzliche Unterstützung begrüßen, werten die anderen als unerwünschte Einmischung, insbesondere wenn es um einen Verlust der Kontrolle über ihr Verhandlungsmandat und ihrer Unabhängigkeit geht, und sehen diesen neuen Mechanismus als Versuch durch die Hintertür an, Zuständigkeiten für die Energiepolitik an die EU zu übertragen. Die Europäische Kommission verfügt im Energiebereich nicht über dieselben Befugnisse wie in der Investitionspolitik, wo vergleichbare Maßnahmen für bilaterale Investitionsverträge vorgeschlagen werden (von denen aus auch weitaus mehr gibt), wo Zurückhaltung jedoch auch im Interesse aller Beteiligten wäre.

1.5.1   Die Europäische Kommission muss zeigen, dass sie derartige Vorbehalte seitens Mitgliedstaaten, die sich diesbezüglich bedroht fühlen könnten, berücksichtigt, und bei jedweder Übertragung von Befugnissen besonnen vorgehen, um die Einsicht zu stärken, dass der vorgeschlagene Informationsaustausch in erster Linie der Stärkung der Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten dient. Hier wird eine umfassende Zusammenarbeit mit den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten von grundlegender Bedeutung sein. Der Ausschuss begrüßt, dass der Schwerpunkt auf der Unterstützung der Mitgliedstaaten in den Verhandlungen liegt, und betont, dass es deshalb darauf ankommt, dass die aktive Mitwirkung der Europäischen Kommission an den Verhandlungen gleich von Anfang an nachweislich wirksam und hinreichend erfolgreich sein muss, um die unvermeidbaren Bedenken zu zerstreuen.

1.5.2   Der Ausschuss fordert eingehendere Erklärungen, wie Artikel 7 zur Vertraulichkeit in der Praxis angewendet werden soll, da die wesentlichen Bestandteile eines Geschäftsvertrag (einschl. Preise und Bedingungen) als Geschäftsgeheimnis vertraulich sind. Dies ist eine Schlüsselvoraussetzung für die Akzeptanz des Beschlusses. In Ermangelung einer voll funktionsfähigen gemeinsamen EU-Energiepolitik müssen sich die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission weiter darum bemühen, das zwischen allen Beteiligten erforderliche gegenseitige Vertrauen aufzubauen. Dieser Vorschlag kann dabei lediglich Ausgangspunkt sein.

1.6   Der Ausschuss stellt die Feststellung in Frage, dass dieser Vorschlag keine Auswirkungen auf den Haushalt der Union hat. Angesichts der zunehmenden Anforderungen im Rahmen der europäischen Energiepolitik ist der Ausschuss nicht der Meinung, dass die in diesem Vorschlag geplanten häufigen Überwachungs- und Beratungstätigkeiten ohne zusätzliche Ressourcen erbracht werden können.

1.7   Der Ausschuss fordert, dass die erste Zwischenbewertung nicht erst nach vier, sondern bereits nach zwei Jahren erfolgen sollte, da bis dahin ausreichend Erfahrungen und Daten vorliegen, um die Wirksamkeit des Mechanismus zu bewerten.

1.8   In Bezug auf die weiterreichenden Auswirkungen dieses Vorschlags, die in erster Linie in der begleitenden, viel umfassenderen Mitteilung erörtert werden, begrüßt der Ausschuss das übergeordnete Ziel der Europäischen Kommission, die externe Dimension der EU-Energiepolitik zu stärken. Es besteht ein klarer Bezug zu Energieeffizienz, Energiesicherheit und Energiestabilität, doch bedauerlicherweise ist keine so klare Verbindung mit den drei etablierteren Zielen der wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und sicheren Energie hergestellt worden, wobei wettbewerbsfähige und nachhaltige Energie auch nicht immer miteinander vereinbar sind.

1.8.1   Der Ausschuss bedauert außerdem, dass in dem Vorschlag, der hauptsächlich auf technische und Verfahrensfragen ausgerichtet ist, eng mit diesem Thema verbundene Aspekte wie diplomatische und sozioökonomische Beziehungen zu den Liefer- und Transitländern nicht spezifisch berücksichtigt worden sind (und auch in der Mitteilung nur begrenzt angesprochen werden).

1.8.2   Darüber hinaus ist auch nicht klar, ob dieser Vorschlag an die weiterreichenden handelsbezogenen Aspekte der Energiepolitik gekoppelt ist und diesen Rechnung trägt. Handelsverhandlungen sind seit Jahrzehnten Teil des Zuständigkeitsbereich der EU; das Energiewesen soll offenbar ein Schlüsselkapitel des ersten und bahnbrechenden EU-Abkommens über eine tiefgreifende und umfassende Freihandelszone (deep and comprehensive free trade area – DCFTA) zwischen der EU und der Ukraine, einem wichtigen Energietransitland für die EU, sein, das kurz vor dem Abschluss steht. Verhandlungen über vergleichbare Abkommen mit anderen EU-Nachbarländern, sowohl der Östlichen Partnerschaft als auch der Partnerschaft Europa-Mittelmeer, in denen Energie ebenfalls ein Schwerpunkt sein soll, werden derzeit angedacht.

1.8.3   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission ausdrücklich auf, in den Verhandlungen über die wesentlichen Energieaspekte des vorgeschlagenen neuen Abkommens zwischen der EU und Russland besonderes Augenmerk auf die spezielle Situation der drei baltischen Staaten zu richten, deren Stromnetze gemäß dem russischen und nicht dem EU-System ausgelegt sind.

1.9   Abschließend bedauert der Ausschuss zutiefst, dass weder in dem Vorschlag noch in der Mitteilung ein Mechanismus für die Einbindung der Zivilgesellschaft vorgesehen ist. Hier besteht Korrekturbedarf. Derzeit werden formelle Mechanismen für die Überwachung der vor Kurzem abgeschlossenen EU-Freihandelsabkommen, insbesondere mit Südkorea, eingerichtet bzw. geplant. Außerdem besteht ein aktives Forum der Zivilgesellschaft für die Östliche Partnerschaft.

1.9.1   Der Ausschuss begrüßt jedoch ausdrücklich, dass er endlich an den Arbeiten der thematischen Plattform der Östlichen Partnerschaft zur „Energiesicherheit“ mitwirken kann, zumal die Zivilgesellschaft bereits in die Sitzungen der drei anderen Plattformen eingebunden ist.

2.   Hintergrund

2.1   Am 4. Februar 2011 beschloss der Europäische Rat, dass das Vorgehen der EU und ihrer Mitgliedstaaten in den externen energiepolitischen Beziehungen besser aufeinander abgestimmt werden muss. Er ersuchte die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission ab Januar 2012 über alle ihre neuen und bestehenden bilateralen Energieabkommen mit Drittländern zu unterrichten.

2.2   Im September 2011 legte die Europäische Kommission daher zwei Dokumente zur Gestaltung der externen Dimension der EU-Energiepolitik vor, namentlich einen „Vorschlag für einen Beschluss zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Energiebereich (5) und eine Mitteilung „Die EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU (6).

2.3   Der Ausschuss wurde lediglich mit dem Legislativvorschlag über den Mechanismus zur Durchführung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Februar 2011 befasst. In der Mitteilung wird jedoch ein viel breiteres Spektrum abgedeckt und der Vorschlag für einen Beschluss nur am Rande erörtert. Der Ausschuss bedauert diese Einschränkung, da in der Mitteilung zahlreiche wichtige Aspekte behandelt werden, zu denen er Stellung hätte nehmen wollen, u.a. erneuerbare Energieträger, Energieeffizienz und weitere Fragen in Verbindung mit einer nachhaltigen Entwicklung bis hin zu den Beziehungen zwischen der EU und Russland, China, weiteren schnell wachsenden Wirtschaften und den Entwicklungsländern im Allgemeinen.

2.3.1   Die Europäische Kommission hat klar dargelegt, dass die Mitteilung in eine Reihe von Vorschlägen münden wird, darunter diesen Vorschlag für einen Beschluss, der der erste, zugleich allerdings auch einer der wichtigeren Vorschläge ist.

2.4   Die globale Energienachfrage und die EU-Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe steigen stetig. Wie in der Mitteilung hervorgehoben importiert die EU mehr als 60 % ihres Gasbedarfs und mehr als 80 % ihres Erdölbedarfs. Gleichzeitig ist sie einem wachsenden Nachfragewettbewerb, vor allem durch Schwellenländer, ausgesetzt. In den kommenden 20 Jahren könnte mit einem Anstieg der weltweiten Energienachfrage um 40 % zu rechnen sein; und unvorhergesehene Klimaschutzmaßnahmen könnten die Situation weiter komplizieren. Viele Mitgliedstaaten sind auf nur einige wenige Energiezulieferer angewiesen und daher für Engpässe und Preisschwankungen, insbesondere bei Gas und Öl, anfällig. Die externe Dimension der EU-Energiepolitik muss daher schleunigst auf eine solidere Grundlage gestellt werden. Die EU muss bei ihren Bemühungen um eine angemessene, stabile und sichere Energieversorgung für die absehbare Zukunft verstärkt mit einer Stimme sprechen und den Ausbau eines wirksamen Energiebinnenmarkts fortsetzen.

2.5   Hierfür stehen derzeit kaum wirksame Mittel zur Verfügung. Ein Schlüsselkapitel des Abkommens über eine tiefgreifende und umfassende Freihandelszone (deep and comprehensive free trade area – DCFTA) zwischen der EU und der Ukraine, das kurz vor dem Abschluss steht, soll Energiefragen gewidmet sein. Die Energiegemeinschaft wiederum regelt die Energiebeziehungen zwischen der EU und neun Partnerländern in Ost- und Südosteuropa (7). Für eine langfristige internationale Strategie muss ein strukturierterer und kohärenterer institutioneller Rahmen geschaffen werden. In der Strategie „Energie 2020“ wird die Stärkung der externen Dimension der EU-Energiepolitik zu Recht als Schlüsselpriorität eingestuft, die nun Gegenstand des vorgeschlagenen Beschlusses ist.

2.6   Mit dem vorgeschlagenen Beschluss werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, Informationen mit der Europäischen Kommission über ihre Absicht auszutauschen, zwischenstaatliche Abkommen mit Drittstaaten zu schließen. Die Europäische Kommission will mittels eines Kompatibilitätskontrollmechanismus (Artikel 5) sicherstellen, dass derartige Abkommen im Einklang mit den Binnenmarktvorschriften stehen. Ein wesentlicher Pluspunkt wäre, dass auf diese Weise Rechtssicherheit für Investitionsentscheidungen geschaffen würde (8). Die Europäische Kommission betont, dass dieser neue Mechanismus als Koordinierungsmaßnahme zur Unterstützung der Mitgliedstaaten und zur Verbesserung ihrer Verhandlungsposition gedacht ist und nicht dazu, sie zu ersetzen oder ihre Zuständigkeit für den Abschluss derartiger Abkommen einzuschränken. In Artikel 7 wird außerdem hervorgehoben, dass Bestimmungen zur Gewährleistung der Vertraulichkeit der Informationen bestehen – ein äußerst sensibler Aspekt.

2.7   Der Ausschuss bedauert jedoch, dass Vereinbarungen zwischen kommerziellen Betreibern nicht Gegenstand dieser Rechtsvorschrift sind, zumal die Europäische Kommission selbst eindeutig davor warnt, dass bestimmte Transportkunden eine Monopolstellung oder eine Quasi-Monopolstellung einnehmen könnten, die der EU-Gesetzgebung widerspräche (9). Er fordert die Europäische Kommission auf, zumindest Maßnahmen zu ergreifen, um einfach umfassenden Zugang zu den Abschnitten von kommerziellen Vereinbarungen zu erhalten, die Auswirkungen auf die EU-Vorschriften haben könnten, insbesondere wenn diese zwischenstaatlichen Abkommen als Anlagen beigefügt sind.

3.   Der EWSA als entschiedener Befürworter einer starken externen Dimension der EU-Energiepolitik zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit

3.1   Im März 2011 (10) forderte der Ausschuss deutlich eine rasche und progressive Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik der Europäischen Union im Bereich Energie. Auf Ersuchen des damaligen ungarischen Ratsvorsitzes forderte der Ausschuss konkrete Maßnahmen für eine bessere Verzahnung der Innen- und Außenpolitik und eine integrierte, kohärente Vorgehensweise. Er forderte außerdem eine neue institutionelle Verankerung der Energiefragen, die Verfolgung eines strategischen multilateralen politischen Kurses und die effiziente Durchführung privilegierter Energiepartnerschaften mit den Nachbarländern der EU.

3.2   Der Ausschuss hatte bereits 2009 (11) eine umfassende Energieaußenpolitik für die EU und die Mittel für ihre Umsetzung gefordert. Nach Ansicht des Ausschusses sollten die internationalen externen energiepolitischen Beziehungen der EU auf lange Sicht auf zwei Pfeilern beruhen, namentlich Energieversorgungssicherheit und Klimaschutz. Der Ausschuss betonte die Bedeutung des dritten Energiepakets, um die Abhängigkeit der EU von externen Energielieferanten zu verringern, unterstrich jedoch auch, dass die nachhaltige Erzeugung und Nutzung von Energie in Drittländern gefördert werden muss. Er verwies außerdem auf die enge Verbindung zwischen Energiefragen und relevanten handelspolitischen Aspekten und die Verpflichtung für Partnerländer, Regeln, wie Gegenseitigkeit, Gleichbehandlung, Transparenz und Investitionsschutz, auf ihre Märkte anzuwenden und die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte zu achten. Da Energiefragen in internationalen Konflikten immer stärker in den Mittelpunkt rücken werden, müssen aus Sicht des Ausschusses die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten gegenüber einer gemeinsamen europäischen Position abgewogen werden.

3.3   Der Ausschuss hat ferner darauf hingewiesen (12), dass die Förderung erneuerbarer Energieträger und die Diversifizierung der Energiequellen nicht getrennt von dem außenpolitischen Handeln der EU erfolgen können, insbesondere in der Region Europa-Mittelmeer. Im Einklang mit der EU-Klimapolitik müssen umweltschädliche Beihilfen für fossile Energieträger in Partnerländern abgeschafft, die Mittel für Forschung und Entwicklung für Projekte im Bereich erneuerbarer Energieträger aufgestockt und der Handel von Waren und Dienstleistungen, von denen Impulse für erneuerbare Energieträger ausgehen, gefördert werden.

4.   Die Rolle der Zivilgesellschaft

4.1   Die Missstände, die 2011 die umfassenden Volksaufstände in der arabischen Welt auslösten, haben erneut gezeigt, dass der Zivilgesellschaft beim Übergang zu Demokratie, bei Verfassungsreformen und beim Institutionenaufbau eine entscheidende Rolle zukommt. Der Beitrag der Zivilgesellschaft und insbesondere der Sozialpartner in dieser Region wie auch in den Ländern der Östlichen Partnerschaft (13) muss angemessen berücksichtigt werden, um eine transparente und partizipative Entscheidungsfindung sicherzustellen, die von den Bürgern mitgetragen wird. Der Ausschuss bedauert, dass weder der Vorschlag noch die Mitteilung einen Mechanismus für die Einbindung der Zivilgesellschaft enthalten, obwohl die Sozialpartner umfassend betroffen sein werden und im Problemfall grundlegendes Feedback geben müssen und obwohl in der Mitteilung explizit „gemeinsame industriegeführte Projekte (14) angesprochen werden. Der Ausschuss begrüßt jedoch ausdrücklich, dass er endlich an den Arbeiten der thematischen Plattform der Östlichen Partnerschaft zur „Energiesicherheit“ mitwirken kann, zumal die Zivilgesellschaft bereits in die Sitzungen der drei anderen Plattformen eingebunden ist.

4.2   Derzeit werden formelle Mechanismen für die Überwachung der vor Kurzem abgeschlossenen EU-Freihandelsabkommen, insbesondere mit Südkorea, eingerichtet bzw. geplant. Außerdem besteht ein aktives Forum der Zivilgesellschaft für die Östliche Partnerschaft. In Energiefragen ist die Stimme der Zivilgesellschaft genauso wichtig. Und dazu gehören auch die Verbraucher, da sie oftmals unverhältnismäßig von Marktversagen getroffen werden, um u.a. mehr Transparenz, größere Teilhabe und umfassendere öffentliche Aufklärung zu gewährleisten.

5.   Weitreichendere strategische Überlegungen

5.1   Der Ausschuss unterstützt ausdrücklich die Absicht der Europäischen Kommission, bei der Gestaltung einer umfassenden und koordinierten Energieaußenstrategie der EU eine führende Rolle zu übernehmen, und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Anstrengungen der Europäischen Kommission im Geiste von Solidarität und gegenseitigem Vertrauen zu unterstützen.

5.2   Nach Ansicht des Ausschuss muss eine gemeinsame EU-Energiepolitik auf Solidarität beruhen, um insbesondere die Mitgliedstaaten zu unterstützen, denen es an der nötigen Verhandlungsmacht fehlt, um ihre Energieversorgung zu fairen und nachhaltigen Preisen sicherzustellen.

5.3   Die EU ist nicht nur ein großer Energieverbraucher, sondern auch ein großer Energietechnologieanbieter. Dies wird seitens der Europäischen Kommission auch anerkannt. Außerdem hat die EU „einige der weltweit höchsten Standards, was Markttransparenz und Marktregulierung betrifft“, auch im Bereich der nuklearen Sicherheit sowie der Sicherheit anderer Energieträger.

5.4   Der Ausschuss nimmt die Zahlen aus der Kommissionsmitteilung (15) zur Kenntnis: „Auf Russland, Norwegen und Algerien entfallen 85 % der EU-Erdgasimporte und fast 50 % der EU-Rohölimporte“ (wobei 36 % der Rohölimporte aus OPEC-Ländern stammen). Russland ist auch der führende EU-Zulieferer für Steinkohle und Uran.

5.5   Neben dem Zugang zu Rohstoffen ist auch der Zugang zu Energie eine grundlegende strategische Überlegung für die EU, zumal die weltweite Energienachfrage in den nächsten 20 Jahren stark ansteigen wird. Der Ausschuss spricht sich für die Einrichtung strategischer Partnerschaften mit den Schlüsselakteuren des Energieweltmarkts (Erzeuger-, Transit- und Verbraucherländer) aus, in deren Rahmen die Zusammenarbeit auch auf die Verbesserung der Rentabilität und die Durchsetzung von CO2-armen Technologien, die Förderung der Energieeffizienz und erneuerbarer Energieträger sowie verstärkt auf die Energieversorgungssicherheit (16) ausgerichtet werden sollte. Diesbezüglich sieht der Ausschuss dem unmittelbar bevorstehenden Abschluss des Abkommens mit der Ukraine zur unterbrechungsfreien Versorgung, Preisgestaltung und zu weiteren Schlüsselfragen mit Interesse entgegen.

5.6   Dies ist insbesondere für die Zukunft der EU-Handelspolitik von großer Bedeutung. Der Ausschuss begrüßt jedoch auch den in der Mitteilung enthaltenen Verweis auf stärkere Verbindungen zwischen der Energiepolitik und anderen EU-Politikfeldern wie Entwicklung, Erweiterung, Investition und weiter gefasste internationale Beziehungen. Mit dem Lissabon-Vertrag sollte vor allem auch die Governance dieser verschiedenen EU-Politikbereiche vernetzt werden. Die EU-Energiepolitik muss umfassend mit diesen Politikbereichen koordiniert werden, nicht zuletzt im Rahmen der nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Entwicklungsländern.

5.7   Der Ausschuss erhofft sich von den Partnern in der Energiegemeinschaft, dass sie bemüht sind, die Energiebinnenmarktvorschriften einzuhalten. Er sieht die kritische Bewertung der Errungenschaften dieser Energiegemeinschaft, die die Europäische Kommission im März 2011 vorgelegt hat (17), mit Sorge. Es besteht nach wie vor eine erhebliche Kluft zwischen den politischen Verpflichtungen und der tatsächlichen Umsetzung des Acquis im Energiebereich durch die Vertragspartner der Energiegemeinschaft. Auch die Europäische Kommission hat diese Länder für die Beibehaltung obsoleter Marktstrukturen, die Behinderung von Investitionen und die Verzerrung des Wettbewerbs, wenn öffentliche Versorger durch regulierte Preise bevorzugt werden, kritisiert. Der Ausschuss wirft daher die Frage auf, welche Instrumente am besten geeignet sind, um die Beziehungen zwischen der EU und ihren weiter entfernten Partnern zu handhaben. Sollte die EU von der Beziehung Lieferant/Verbraucher abrücken und auf eine größere Konvergenz der Energiemärkte setzen?

5.8   Da Russland derzeit der führende Energieversorger der EU ist, fordert der Ausschuss die Europäische Kommission auf, weiterhin hart an dem Abschluss eines vorgezogenen neuen Abkommens zwischen der EU und Russland zu arbeiten, das auch ein umfassendes Energieabkommen enthalten muss. Russland ist seinerseits in gleichem Maße von der Größe des EU-Marktes abhängig. Ein derartiges Abkommen wäre ein wichtiger Durchbruch und ein Meilenstein hin zu einem gemeinsamen Handeln der EU in den externen energiepolitischen Beziehungen.

5.8.1   Bei den Verhandlungen eines derartigen Abkommens muss der speziellen Situation der baltischen Staaten besonderes Augenmerk gewidmet werden, deren Stromnetze gemäß dem russischen und nicht dem EU-System ausgelegt sind, weshalb diese drei Länder in Bezug auf die Stabilität und die Frequenzregulierung ihrer Stromnetze ausschließlich von Russland abhängig sind.

5.9   Algerien, Libyen und die Region Europa-Mittelmeer als Ganzes sind für die externe energiepolitische Zusammenarbeit ebenfalls wichtig.

5.10   Der Ausschuss ist sich bewusst, dass Zentralasien (18)über erhebliche potenzielle Energiereserven [verfügt], die zusätzliche und ergänzende (nicht aber alternative) Energiequellen für Europa werden können“, hat gleichzeitig aber gefordert, dass die Tragfähigkeit derartiger Beziehungen praktisch und wirtschaftlich abgesichert wird, und empfohlen, dass die Beziehungen der EU zu Zentralasien „in enger Abstimmung mit dem Engagement der EU in Russland, China und der Türkei erfolgt“. China ist als weiterer wichtiger Energieverbraucher von großer Bedeutung. Daher muss auch hier einer engen Zusammenarbeit in Energie-, Technologie- und Klimaschutzfragen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Giles Chichester, MdEP, ehemaliger Vorsitzender des EP-Ausschusses ITRE, Oktober 2011.

(2)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(3)  KOM(2010) 639 endgültig.

(4)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150.

(5)  KOM(2011) 540 endgültig.

(6)  KOM(2011) 539 endgültig.

(7)  Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Republik Moldau, Montenegro, Serbien, Ukraine und Kosovo.

(8)  Dies muss selbstverständlich in Verbindung mit den neuen umfassenden Investitionszuständigkeiten und der Investitionspolitik der EU geschehen, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben (siehe Stellungnahme ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150).

(9)  Siehe KOM(2011) 540 endgültig, Begründung, Ziffer 1.

(10)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 15.

(11)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 8.

(12)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 1

(13)  Ukraine, Republik Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland.

(14)  Ziffer 1.3, S. 7.

(15)  KOM(2011) 539 endgültig, S. 9 (Fußnote 20).

(16)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150.

(17)  KOM(2011) 105 endgültig.

(18)  ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 49-54.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG hinsichtlich des Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen“

KOM(2011) 439 endg. — 2011/0190 (COD)

2012/C 68/13

Berichterstatter: Jan SIMONS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 1. September bzw. 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 192 Absatz 1 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG hinsichtlich des Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen

COM(2011) 439 final — 2011/0190 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 110 gegen 46 Stimmen bei 31 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wiederholt mit Blick auf das ultimative Ziel eines nahezu schwefelfreien Kraftstoffs im Seeverkehr seine Zustimmung zu dem 2008 gefassten Beschluss der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation der Vereinten Nationen (IMO), den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoffen bis 2020 erheblich zu senken. Der EWSA fordert alle IMO-Vertragsstaaten auf, das diesbezügliche IMO-Übereinkommen möglichst rasch zu ratifizieren, um eine weltweite Anwendung sicherzustellen.

1.2   Der EWSA unterstützt daher auch den Vorschlag der Kommission zur Anpassung der Richtlinie 1999/32/EG an Anlage VI (Regeln zur Verhütung der Luftverunreinigung durch Seeschiffe) zu MARPOL 73/78, dem internationalen Übereinkommen der IMO zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe. Einige Vorschläge und Auswirkungen müssten jedoch noch geklärt werden.

1.3   Der EWSA spricht sich dafür aus, Bestimmungen in die Richtlinie aufzunehmen, die sich nahtlos an Regel 18 der IMO zur Schwerölqualität mit ihrer Verfügbarkeitsklausel (der Forderung des „Inverkehrbringens“) sowie Berichterstattungspflichten, falls ein Schiff von Regel 18 Gebrauch macht, und an die „Nichtverfügbarkeitsklausel“ der IMO anschließen.

1.4   Der EWSA hält den Vorschlag, ab 2020 einen Schwefelgrenzwert von 0,1 % für außerhalb der SECA (Sulphur Emission Control Areas - SOx-Emissions-Überwachungsgebiete) eingesetzte Fahrgastschiffe einzuführen, für bedenklich. Der Vorschlag ist noch nicht vollends untersucht. Im Interesse der Gesundheit sowohl der Fahrgäste als auch der Besatzung von Fahrgastschiffen neigt der Ausschuss jedoch zur Befürwortung dieses Vorschlags. Bei der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung darf es innerhalb der EU keine Unterschiede geben.

1.5   Der EWSA sieht in dem Verbot des Inverkehrbringens von Schiffskraftstoffen mit einem Schwefelgehalt von mehr als 3,5 Massenhundertteilen (3,5 % m/m) eine Beschränkung der Attraktivität wie auch des Einsatzes emissionsmindernder Verfahren (Scrubber) an Bord von Schiffen. Auch hier herrscht gewisser Klärungsbedarf.

1.6   Der EWSA ist beunruhigt über die möglichen Probleme, die entstehen können, wenn ab 2015 ein Normwert von 0,1 % für den Schwefelhöchstgehalt in den SECA gilt. Die möglichen Folgen wurden in der IMO nicht im Rahmen einer Folgenabschätzung analysiert. Der Ausschuss empfiehlt, in der IMO in Zukunft auch Ex-ante-Folgenabschätzungen durchzuführen.

1.7   Nach Auffassung des EWSA müssen die alternativen emissionsmindernden Verfahren bzw. der Einsatz von Alternativkraftstoffen weiter erforscht und verbessert werden. Angesichts der diversen Unsicherheiten, u.a. die Verfügbarkeit von schwefelarmem Kraftstoff ab 2015 und die Gefahr einer „umgekehrten“ Verkehrsverlagerung, regt die Kommission in ihrem Begleitdokument an, das Einführungsdatum zu ändern, sollten sich diese Unsicherheiten zu Tatsachen auswachsen. Der EWSA empfiehlt, diese Änderung gegebenenfalls rechtzeitig vorzunehmen, um die Förderung der erforderlichen Investitionen auch weiterhin sicherzustellen. Mit Blick auf die kurze Zeitspanne bis 2015 sollte in erster Linie die Frist für die Einführung des Grenzwerts von 0,1 % auf 2020 verschoben werden.

2.   Einleitung

2.1   Die in der Seeschifffahrt verwendeten Kraftstoffe sind die günstigsten und am wenigsten raffinierten Kraftstoffe. Häufig fallen sie in Verfahren zur Erzeugung höher raffinierter Erdölprodukte als Nebenprodukte an. Sie tragen derzeit erheblich zur Luftverschmutzung bei, insbesondere durch Kohlendioxid (4 % der vom Menschen verursachten weltweiten Gesamtbelastung) und Schwefeldioxid (9 %).

2.2   Vor Inkrafttreten der Übereinkommen und Protokolle der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) der Vereinten Nationen und insbesondere des Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL) aus dem Jahr 1973 bzw. 1978 sowie später des Protokolls aus dem Jahr 2008 waren Kraftstoffe mit einem Schwefelgehalt von 4,5 % erlaubt.

2.3   In Anlage VI des MARPOL-Protokolls aus dem Jahr 2008 ist generell eine erhebliche allmähliche Senkung auf 0,5 % bis 2020 und bei eventuellen Schwierigkeiten bis spätestens 2025 vorgesehen.

2.4   Schwefelpartikel, die bei den Emissionen aus landseitigen Quellen (Energiewirtschaft und Straßenverkehr) nahezu keine Rolle mehr spielen, verursachen bekanntermaßen Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und über die Notwendigkeit der Verringerung des Schwefelgehalts in Schiffskraftstoffen herrscht weitgehend Einigkeit.

3.   Der Vorschlag der Europäischen Kommission

3.1   Mit der Richtlinie 1999/32/EG in der durch die Richtlinie 2005/33/EG geänderten Fassung wird der Schwefelgehalt von im Seeverkehr verwendeten Kraftstoffen geregelt, und es werden bestimmte im Rahmen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) vereinbarte Regeln in EU-Recht aufgenommen.

3.2   Insbesondere enthält die Richtlinie in ihrer aktuellen Fassung striktere Vorschriften für den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoffen, die in Gebieten mit besonderen Umweltschutzerfordernissen - den so genannten SOx-Emissions-Überwachungsgebieten (Sulphur Emission Control Areas - SECA) - verwendet werden.

3.3   Bereits am 14. Mai 2003 verabschiedete der EWSA eine Stellungnahme zu dem Vorschlag für die Richtlinie 1999/32/EG (1).

3.4   Mit Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten wurden die internationalen IMO-Regeln im Oktober 2008 überarbeitet und durch eine Anpassung von Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens (2) verstärkt.

3.5   Die wichtigsten Änderungen der Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens der IMO betreffend die Verunreinigung durch SO2 können wie folgt zusammengefasst werden:

eine Verringerung des Schwefelgehalts aller in den SECA verwendeten Schiffskraftstoffe von 1,50 Massenhundertteilen (1,5 % m/m) auf 1,00 Massenhundertteile (1 % m/m) bis 1. Juli 2010 und auf 0,10 Massenhundertteile (0,1 % m/m) bis 1. Januar 2015;

eine Verringerung des Schwefelgehalts aller weltweit außerhalb der SECA verwendeten Schiffskraftstoffe von 4,50 Massenhundertteilen (4,5 % m/m) auf 3,50 Massenhundertteile (3,50 % m/m) bis 1. Januar 2012 und auf 0,50 Massenhundertteile (0,5 % m/m) bis 1. Januar 2020, vorbehaltlich einer Überprüfung im Jahr 2018 und mit der Möglichkeit eines Aufschubs bis 2025;

Gestattung des Zugangs zu einer breiten Palette von emissionsmindernden Verfahren („gleichwertiger Ersatz“) wie Ausrüstung, Methoden, Verfahren oder alternative Kraftstoffe.

3.6   Um die Übereinstimmung mit internationalem Recht zu gewährleisten und in der Union eine ordnungsgemäße Durchsetzung der neuen international festgesetzten Normwerte für den Schwefelgehalt sicherzustellen, schlägt die Kommission vor, die Bestimmungen der Richtlinie 1999/32/EG an die revidierte Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens (3) anzugleichen. Dies betrifft insbesondere Folgendes:

Übernahme der 2008 erfolgten Überarbeitung der Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens im Hinblick auf den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoffen in die Richtlinie;

Angleichung der Richtlinie an die IMO-Bestimmungen, die eine breitere Palette von als gleichwertiger Ersatz dienenden emissionsmindernden Verfahren gestatten; Ergänzung dieser Bestimmungen durch zusätzliche Schutzmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die gleichwertigen emissionsmindernden Verfahren keine unannehmbaren negativen Auswirkungen auf die Umwelt haben;

Übernahme des Brennstoffüberprüfungsverfahrens der IMO.

3.7   Daneben schlägt die Kommission folgende Änderungen vor:

Einführung eines Schwefelgrenzwerts von 0,1 % für außerhalb der SECA eingesetzte Fahrgastschiffe ab 2020;

Ausarbeitung nicht verbindlicher Leitfäden für Probenahmen und Berichterstattung. Sollte dieser Ansatz nicht zum Erfolg führen, sollten verbindliche Vorschriften ins Auge gefasst werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Nach Auffassung des EWSA – wie übrigens auch der Europäischen Kommission und vieler weiterer Interessenträger - besteht auch aus gesundheitlichen Gründen das ultimative Ziel darin, nur nahezu schwefelfreie Schiffskraftstoffe einzusetzen. Diesbezüglich sind internationale Bestimmungen sowohl für die Bevölkerung als auch für diesen weltweit operierenden Verkehrsträger am zweckmäßigsten.

4.2   Der EWSA begrüßt daher auch den Beschluss der IMO, die Schwefelemissionen im Seeverkehr erheblich zu senken. Nach Auffassung des EWSA sollte es keine Unterschiede zwischen den internationalen Bestimmungen und den Bestimmungen der Europäischen Union geben.

4.3   Der EWSA fordert alle IMO-Vertragsstaaten auf, Anlage VI zu MARPOL 73/78 zu ratifizieren, um eine weltweite Anwendung sicherzustellen.

4.4   In Regel 18 von Anlage VI heißt es, dass jeder Vertragsstaat die Verfügbarkeit der betreffenden Kraftstoffe zu fördern und die Verfügbarkeit in Häfen und Terminals der IMO zu melden hat. Dessen ungeachtet hat die IMO aus realistischen Erwägungen heraus auch noch eine „Nichtverfügbarkeitsklausel“ eingeführt.

4.5   Der EWSA weist darauf hin, dass diese in Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens enthaltene „Nichtverfügbarkeitsklausel“ in Bezug auf einen bestimmten Kraftstoff nicht in den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie aufgenommen wurde. Der EWSA spricht sich dafür aus, Bestimmungen in die Richtlinie aufzunehmen, die sich nahtlos an Regel 18 der IMO zur Schwerölqualität mit ihrer Verfügbarkeitsklausel (der Forderung des „Inverkehrbringens“) sowie Berichterstattungspflichten, falls ein Schiff von Regel 18 Gebrauch macht, und an die „Nichtverfügbarkeitsklausel“ der IMO anschließen.

4.6   Der EWSA hegt Bedenken bezüglich des neuen Vorschlags der Kommission, im Jahr 2020 einen neuen Grenzwert von 0,1 % für den Schwefelhöchstgehalt für außerhalb der SECA eingesetzte Fahrgastschiffe einzuführen. Der Vorschlag ist noch nicht vollends untersucht. Im Interesse der Gesundheit sowohl der Fahrgäste als auch der Besatzung von Fahrgastschiffen neigt der Ausschuss dennoch zur Befürwortung dieses Vorschlags. Bei der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung darf es innerhalb der EU keine Unterschiede geben.

4.7   Die Ausweisung neuer SECA sollte unter Berücksichtigung wissenschaftlicher, ökologischer und wirtschaftlicher Normen gemäß dem IMO-Verfahren erfolgen. Der neue Artikel 4 a Absatz 2 ist diesbezüglich nicht deutlich. Werden neue SECA, die im Rahmen der IMO gebilligt wurden, automatisch in die Richtlinie aufgenommen oder wird die Kommission im Rahmen eines strengen EU-Verfahrens ermächtigt, neue SECA auszuweisen, die dann direkt der SECA vorgeschlagen werden? Hier herrscht Klärungsbedarf.

4.8   In Artikel 1 (neuer Artikel 3 a) schlägt die Kommission unter Punkt 4 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollen, dass Schiffskraftstoffe, deren Schwefelgehalt 3,5 Massenhundertteile überschreitet, in ihrem Hoheitsgebiet nicht verwendet oder in Verkehr gebracht werden, um der Gefahr der Verwendung solcher Kraftstoffe vorzubeugen, da dies u.a. zur Ableitung hochkonzentrierter Abwässer führen könnte. Emissionsmindernde Verfahren (Scrubbing), die eine Verwendung von Kraftstoffen mit einem höheren Schwefelgehalt ermöglichen, sollten jedoch in Betracht gezogen werden, ohne dass die IMO-Normen überschritten würden.

4.9   Obwohl dies in den IMO-Regeln nicht enthalten ist, schlägt die Kommission vor, dass bei der Anwendung emissionsmindernder Verfahren kontinuierlich Verringerungen der Schwefeldioxidemissionen erreicht werden müssen, die mindestens denjenigen entsprechen, die durch den Einsatz von Schiffskraftstoffen erzielt worden wären, die die Anforderungen von Artikel 4 a und 4 b erfüllen. Dies ist schwer machbar, da zeitliche Unterbrechungen bei den emissionsmindernden Maßnahmen entstehen können und/oder sich der Wirkungsgrad dieser Anlagen aufgrund einer starken Motorbelastung verringern kann, was zu zeitweise höheren Schwefelemissionen führen kann. Deshalb sollte diese Anforderung gestrichen werden.

4.10   Im Sinne der in Ziffer 4.8 vorgebrachten Anmerkung weist der EWSA darauf hin, dass ein Schiff den Bestimmungen von Anhang 2 des Vorschlags zu Artikel 4 c Absatz 3 praktisch nicht nachkommen kann, und zwar „ausführlich [zu] dokumentieren, dass etwaige in das Meer, einschließlich in geschlossene Häfen und in Flussmündungen, abgeleitete Abfallströme keine erheblichen negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben und keine entsprechenden Gefahren verursachen“. Auch hier sollte seiner Meinung nach auf die Anforderungen im Sinne der Entschließung MEPC.184(59) der IMO verwiesen werden, da hierin das Einleiten in Häfen und Flussmündungen untersagt wird.

4.11   Während die drastische Senkung des Schwefelgehalts von Schiffskraftstoffen im Sinne der von der IMO 2008 angenommenen Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens generell begrüßt wurde und auch in die Richtlinie 1999/32/EG aufgenommen werden sollte, hat der Beschluss, ab 2015 einen Grenzwert von 0,1 % auf die SOx-Emissions-Überwachungsgebiete (4) anzuwenden, Besorgnis hervorgerufen.

4.12   Als Reaktion auf den Beschluss der IMO bezüglich dieses spezifischen Punkts und anlässlich der öffentlichen Anhörung der Kommission für die Änderung der Richtlinie 1999/32/EG haben verschiedene Interessenträger auf die erhebliche Erhöhung der Kosten hingewiesen, wenn der Schwefelgehalt in Schiffskraftstoff auf maximal 0,1 % begrenzt wird. Zwar wird in einigen Studien davon ausgegangen, dass je nach den angesetzten Parametern durch den Einsatz dieses Kraftstoffs (Destillat-Kraftstoff) die Kosten sehr stark steigen würden und Wettbewerbsanteile verlorengingen, doch belegen mehrere andere Studien ein derartig großes Risiko nicht.

4.13   Wie auch immer: Tatsache ist, dass in der IMO vor dem Fassen dieses Beschlusses keine angemessene Folgenabschätzung durchgeführt wurde. Der EWSA empfiehlt, dass die EU-Mitgliedstaaten, die IMO-Vertragsstaaten sind, und die Europäische Kommission bei der IMO auf einschlägige Ex-ante-Folgenabschätzungen drängen sollten.

4.14   Eine Verkehrsverlagerung auf den Straßenverkehr steht im Widerspruch zu der in dem Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem (5) vom März 2011 vorgestellten Strategie. Diese Verkehrsverlagerung wird außerdem zu einem starken Anstieg der externen Kosten führen, insbesondere in Bezug auf die Umwelt (hier vor allem in Bezug auf einen höheren CO2-Ausstoß), Verkehrsüberlastung, Lärm, Unfälle usw. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, keine „umgekehrte“ Verkehrsverlagerung zu riskieren.

4.15   Die Interessenträger, die in den drei SECA angesiedelt sind, befürchten eine drastische Verringerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit aufgrund der höheren Transportkosten, was die Gefahr einer Produktionsverlagerung und der dazugehörigen Arbeitsplätze in andere Gebiete außerhalb der SECA sowohl in Europa als auch weltweit birgt.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Es wird aktiv an einer „Toolbox“ gearbeitet, um den IMO-Beschluss, ab 2015 in den SECA einen Normwert von 0,1 % für den Schwefelhöchstgehalt in Schiffskraftstoffen einzuführen, umsetzen zu können. In diesem Zusammenhang wurde eine ausführliche Analyse mit verschiedenen Experten in Bezug auf die Verfügbarkeit von Schiffskraftstoff mit einem Schwefelgehalt von 0,1 %, den Einsatz von emissionsmindernden Verfahren (Scrubber) und den Einsatz von LNG als Schiffskraftstoff durchgeführt, die allerdings keine klare Aussage zur konkreten Verfügbarkeit enthält.

5.2   Der Einsatz von emissionsmindernden Verfahren (Scrubber/Abgasreinigungssysteme) wird in verschiedenen Pilotprojekten getestet. Erhebliche Fortschritte sind mit bereits an Bord eingesetzten Scrubber-Anlagen erzielt worden. Da solche Anlagen die Abgase auch gleichzeitig von NO2 und CO2 reinigen, werden sie ihre Kosteneffizienz möglicherweise in der nahen Zukunft unter Beweis stellen und sollten auch weiterhin in Betracht gezogen werden. Mit Blick auf die kurze Zeitspanne bis 2015 sollte in erster Linie die Frist für die Einführung des Grenzwerts von 0,1 % auf 2020 verschoben werden.

5.3   Der Einsatz von LNG als alternativem Schiffskraftstoff - als einziger Kraftstoff oder in Kombination mit Öl (duales System) - wird von der Schifffahrtindustrie vor allem beim Einsatz im Kurzstreckenseeverkehr positiv bewertet. Insbesondere in Nordeuropa laufen verschiedene Pilotprojekte. Mit den jeweiligen Interessenträgern werden die noch ausstehenden Fragen wie das Entweichen von Methangas und die damit verbundene Erhöhung des Treibhausgasausstoßes, die Möglichkeit, in verschiedenen europäischen Häfen zu bunkern, Sicherheitsvorschriften beim Bunkern usw. erörtert. Mit einigen Fragen beschäftigt sich der Europäische Reederverband ECSA in Zusammenarbeit mit der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA). Auch hier hat sich gezeigt, dass die Lösung der noch offenen Probleme noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

5.4   Die Schifffahrtindustrie arbeitet weiter an den drei Bausteinen der Toolbox. Da diese bis 2015 allerdings nicht fertig sein können, wird vielfach gefordert, die Einführung durch eine Ausnahmeregelung in der IMO zu verschieben.

5.5   Die Kommission regt in ihrem Begleitdokument an, das Einführungsdatum zu ändern, sollten sich diese Unsicherheiten zu Tatsachen auswachsen. Der EWSA empfiehlt, diese Änderung gegebenenfalls rechtzeitig vorzunehmen, um die Förderung der erforderlichen Investitionen auch weiterhin sicherzustellen.

5.6   Die Kommission ist sich bewusst, dass die Einhaltung des in Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens enthaltenen IMO-Beschlusses, ab 2015 in den SECA einen Schwefelgrenzwert von 0,1 % in Schiffskraftstoffen anzuwenden, mit erheblich höheren Kosten verbunden sein wird. In der Mitteilung der Kommission zur Überprüfung der Umsetzung der Richtlinie 1999/32/EG wird dies ausführlich erörtert (6).

5.7   Hierin schreibt die Kommission, dass die zusätzliche Möglichkeit zur Einhaltung der Auflagen durch technologische Maßnahmen - wie etwa Abgaswäscher, Alternativkraftstoffe (Flüssigerdgas) und landseitige Stromversorgung -, die in Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens und später im Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG vorgesehen wurden, umfangreiche Kapitalinvestitionen des privaten wie des öffentlichen Sektors erfordern würden.

5.7.1   Zu diesem Zweck stellt sie dem Sektor durch einige begleitende Maßnahmen kurzfristige Unterstützung über bestehende EU-Finanzierungsinstrumente zur Verfügung, so etwa über das Programm für die transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V), das Programm „Marco Polo II“, die Europäische Fazilität für umweltfreundlichen Verkehr (ECTF), die Europäische Investitionsbank (EIB) und über die Möglichkeit des Einsatzes von Mitteln der Mitgliedstaaten zur Unterstützung von bordseitigen Maßnahmen und zur Entwicklung der landseitigen Infrastruktur.

5.7.2   Mittelfristig entwickelt die Kommission ein multidimensionales Maßnahmenkonzept, so z.B. eine „Toolbox für nachhaltige Lösungen für den Schiffsverkehr“.

5.7.3   Der EWSA begrüßt all diese Absichten der Kommission, weist aber darauf hin, dass der Einsatz alternativer Verfahren mit recht hohen Kosten verbunden ist. Emissionsmindernde Verfahren könnten kostenwirksamer sein, vor allem wenn es um die Senkung von NO2- und CO2-Emissionen geht. Die von der Kommission genannten Förderprogramme sind an sich positiv, es ist jedoch fraglich, ob sie mit den heute verfügbaren Mitteln und angesichts der aktuellen Fristen zur Senkung der Durchführungskosten bis 2015 beitragen können.

5.8   In Bezug auf die Übernahme des Brennstoffüberprüfungsverfahrens der IMO macht der EWSA auf die zwischen dem Überprüfungsverfahren der IMO und der Norm der internationalen Normungsorganisation bestehenden Unterschiede aufmerksam. Dies sollte geklärt werden.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  CESE 580/2003, ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 27-29.

(2)  Entschließung MEPC.176(58) vom 10. Oktober 2008 (revidierte Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens).

(3)  COM(2011) 439 final.

(4)  In der EU umfassen die SECA die Ost- und die Nordsee sowie den Ärmelkanal.

(5)  COM(2011) 144 final.

(6)  COM(2011) 441 final vom 17.7.2011.


6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/74


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1300/2008 des Rates vom 18. Dezember 2008 zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den Heringsbestand des Gebietes westlich Schottlands und für die Fischereien, die diesen Bestand befischen“

KOM(2011) 760 endg. — 2011/0345 (COD)

2012/C 68/14

Das Europäische Parlament beschloss am 30. November 2011 und der Rat am 13. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1300/2008 des Rates vom 18. Dezember 2008 zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den Heringsbestand des Gebietes westlich Schottlands und für die Fischereien, die diesen Bestand befischen

KOM(2011) 760 endgültig — 2011/0345 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt, beschloss er auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 18. Januar) mit 171 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 14 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben.

Brüssel, den 18. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON