ISSN 1977-088X

doi:10.3000/1977088X.C_2012.043.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 43

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

55. Jahrgang
15. Februar 2012


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

476. Plenartagung am 7. und 8. Dezember 2011

2012/C 043/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Der industrielle Wandel und die Entwicklung nachhaltiger energieintensiver Industrien in Anbetracht des Ziels der Ressourcenschonung in der Europa-2020-Strategie (Initiativstellungnahme)

1

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

 

476. Plenartagung am 7. und 8. Dezember 2011

2012/C 043/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012KOM(2011) 400 endg.

8

2012/C 043/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zu Risikoteilungsinstrumenten für Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sindKOM(2011) 655 endg. — 2011/0283 (COD)

13

2012/C 043/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine bessere Governance für den Binnenmarkt mittels verstärkter administrativer Zusammenarbeit: Eine Strategie für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Binnenmarkt-Informationssystems (Internal Market Information System/IMI)KOM(2011) 75 endg. und zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI-Verordnung)KOM(2011) 522 endg. — 2011/0226 (COD)

14

2012/C 043/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer Raumfahrtstrategie der Europäischen Union im Dienst der Bürgerinnen und BürgerKOM(2011) 152 endg.

20

2012/C 043/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Bericht der Kommission — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2010KOM(2011) 328 endg.

25

2012/C 043/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Sportboote und WassermotorräderKOM(2011) 456 endg. — 2011/0197 (COD)

30

2012/C 043/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine EU-Agenda für die Rechte des KindesKOM(2011) 60 endg.

34

2012/C 043/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Opferrechte in der EUKOM(2011) 274 endg. und zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die OpferhilfeKOM(2011) 275 endg. — 2011/0129 (COD)

39

2012/C 043/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (20. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)KOM(2011) 348 endg. — 2011/0152 (COD)

47

2012/C 043/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der FestnahmeKOM(2011) 326 endg. — 2011/0154 (COD)

51

2012/C 043/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates betreffend die Maßnahmen für die nachhaltige Bewirtschaftung der Fischereiressourcen im MittelmeerKOM(2011) 479 endg. — 2011/0218 (COD)

56

2012/C 043/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch — Den Verbraucher auf den Geschmack bringen: eine Strategie mit hohem europäischen Mehrwert zur Absatzförderung für Europas AgrarerzeugnisseKOM(2011) 436 endg. und zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt und in DrittländernKOM(2011) 663 endg. — 2011/0290 (COD)

59

2012/C 043/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 64/432/EWG des Rates hinsichtlich der elektronischen Datenbanken, die Teil der Überwachungsnetze in den Mitgliedstaaten sindKOM(2011) 524 endg. — 2011/0228 (COD) und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von RindfleischKOM(2011) 525 endg. — 2011/0229 (COD)

64

2012/C 043/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte WeinerzeugnisseKOM(2011) 530 endg. — 2011/0231 (COD)

67

2012/C 043/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von SeeleutenKOM(2011) 555 endg. — 2011/0239 (COD)

69

2012/C 043/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Handel, Wachstum und Weltgeschehen — Handelspolitik als Kernbestandteil der Strategie Europa 2020KOM(2010) 612 endg.

73

2012/C 043/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des RatesKOM(2011) 451 endg. — 2011/0196 (COD)

79

2012/C 043/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Schema allgemeiner ZollpräferenzenKOM(2011) 241 endg.

82

2012/C 043/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Vorlage Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im WandelKOM(2011) 303 endg.

89

2012/C 043/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der UnionKOM(2011) 634 endg. — 2008/0183 (COD)

94

2012/C 043/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe (Neufassung) KOM(2011) 566 endg. — 2011/0243 (COD)

98

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

476. Plenartagung am 7. und 8. Dezember 2011

15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der industrielle Wandel und die Entwicklung nachhaltiger energieintensiver Industrien in Anbetracht des Ziels der Ressourcenschonung in der Europa-2020-Strategie“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 43/01

Berichterstatter: Edgardo IOZIA

Ko-Berichterstatter: Dirk JARRÉ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Der industrielle Wandel und die Entwicklung nachhaltiger energieintensiver Industrien in Anbetracht des Ziels der Ressourcenschonung in der Europa-2020-Strategie“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) nahm ihre Stellungnahme am 17. November 2011 an. Berichterstatter war Edgardo IOZIA, Ko-Berichterstatter Dirk JARRÉ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 8. Dezember) mit 143 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Nach Ansicht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses wird Europa nur dann dem sich verschärfenden Wettbewerb aus den Schwellenländern standhalten können, wenn es hochinnovative Systeme einführt und wenn die Technologie-, Umwelt- und Produktionsstandards in Abstimmung auf die technische Entwicklung angehoben werden. Die Arbeitnehmer sollten durch angemessene und rechtzeitige Qualifizierungsmaßnahmen vor den Auswirkungen dieses Wandels geschützt werden. Dies sollte durch eine entsprechende EU-Politik gefördert werden.

1.2   Die Erzeugnisse aus energieintensiven Industrien sind das Fundament der Wertschöpfungskette in allen Sektoren der verarbeitenden Industrie, in der ein Großteil der Arbeitsplätze in der EU angesiedelt ist. Stabilität, Pünktlichkeit, Qualität und Sicherheit bei der Versorgung dieser Sektoren sind Garanten für ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt und hochqualifizierte Arbeitsplätze in der EU.

1.3   Es gilt, einen geeigneten europäischen Rahmen für die gemeinsamen Erfordernisse der energieintensiven Industrien zu schaffen, vor allem um im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und ihren Fortbestand in Europa zu gewährleisten. Die betroffenen Sektoren sind gleichermaßen wichtig und stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander.

1.4   Trotz der schwierigen aktuellen Wirtschaftslage empfiehlt der EWSA, noch stärker in Forschung, Entwicklung und Einsatz sowie in Kompetenzentwicklung und in die wissenschaftlichen Tätigkeiten, die in der Industrie zur Anwendung gelangen, zu investieren. Diese Investitionen sollten im nächsten Rahmenprogramm entsprechend unterstützt werden und den Austausch von Erfahrungen und Ergebnissen zumindest innerhalb von Europa ermöglichen. Die europäischen und nationalen Programme sollten stärker auf Forschung und Innovation für Energieeffizienz ausgerichtet sein (1).

1.5   Der Ausschuss erachtet eine integrierte Industriepolitik für unerlässlich, welche die externen Variablen stets unter Kontrolle hält und es den europäischen Unternehmen ermöglicht, mit ihren Konkurrenten auf internationaler Ebene unter gleichen Ausgangsbedingungen und auf der Grundlage der Gegenseitigkeit in Wettbewerb zu treten. Eine angemessene Wettbewerbsfähigkeit lässt sich durch eine gemeinsame Industrie- und Steuerpolitik sowie entsprechende strategische Weichenstellungen für die gesamte europäische Industrie gewährleisten.

1.6   Europa kann seine Wirtschaft nicht weiter durch immer strengere Auflagen steuern, ohne die erforderlichen Maßnahmen für stabile und strategische gemeinsame ordnungspolitische Weichenstellungen zu ergreifen, um sein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu bewahren und auch im Umweltschutz beste Ergebnisse zu erzielen.

1.7   Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass die Union alles daran setzen muss, um flexible Systeme für die Erreichung derartiger, als notwendig anerkannter Ziele vorzusehen. Diese Systeme müssen der Besonderheit der Grundstoffindustrie Rechnung tragen.

1.8   Der Ausschuss hält es u.U. für angebracht, dem EU-EHS vergleichbare Maßnahmen auch auf Importeure anzuwenden. Das vorrangige Ziel bestünde darin, im Zug einer rigorosen und einklagbaren Vereinbarung ein weltweit geltendes System einzuführen. Andernfalls und um wenigstens die selbst deklarierten Ziele der Union zu erreichen, müssten die Waren und Dienstleistungen, die auf dem EU-Markt angeboten werden, und auch die ausgeführten Waren und Dienstleistungen denselben Bedingungen unterliegen.

1.9   Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, das System der unentgeltlichen Vergabe von EU-EHS-Zertifikaten an jene Unternehmen aufrechtzuerhalten, die bereits Spitzenergebnisse erzielt und mittlerweile in Bezug auf ihre Technologie-Entwicklungsmöglichkeiten an physikalische und thermodynamische Grenzen stoßen. Die ab 2013 vorgesehene Versteigerung von Emissionsberechtigungen ist sicherlich ein gutes System – allerdings nur, wenn sie auch von anderen Regionen in der Welt übernommen wird. Die EU beabsichtigt, im Hinblick auf die Schaffung eines globalen EHS-Markts auch Marktteilnehmer aus Drittstaaten zum Emissionshandel zuzulassen.

1.10   Im Falle der energieintensiven Industrien könnte das EHS-System, wenn es nicht mit äußerster Sorgfalt gehandhabt wird, der jeweiligen Industrie unabschätzbaren Schaden zufügen. Die Verlagerung von CO2-Emissionen ist ein Problem, das keinen Aufschub duldet. Sie findet bereits seit mindestens zehn Jahren insofern statt, als Investitionen aus Europa in die USA sowie nach China, Indien, Brasilien usw. umgelenkt worden sind. Es wäre äußerst sinnvoll, dieses Phänomen eingehend zu analysieren.

1.11   Die in Werkstoffen gespeicherte Energie muss wiederverwendet werden, wobei möglichst auf Recyclingverfahren gesetzt werden sollte. Glas, Eisen und Stahl sowie Aluminium können hier einen großen Beitrag leisten. Europa exportiert seine Edelwerkstoffe, doch sollte stattdessen die einheimische Wiederverwendung gefördert werden, wodurch die in den einzelnen Werkstoffen enthaltene Energie bewahrt werden kann (2).

1.12   Die energieintensiven Industrien sollten dazu angehalten werden, auch im Zusammenschluss langfristige Investitionen im Energiesektor zu tätigen, insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien, indem ihnen ermöglicht wird, Energie im Rahmen mehrjähriger Verträge zu stabilen Preisen zu kaufen.

1.13   Nach Ansicht des Ausschuss ist ein stabiler, wirksamer und langfristiger Regulierungsrahmen von enormer Bedeutung. Die Investitionszyklen in energieintensiven Industrien betragen z.B. für Hochöfen zwischen sieben und zwanzig Jahren. Es ist kein Zufall, dass in Europa seit mehr als 30 Jahren weniger als zu erwarten in integrierte Hüttenwerke investiert worden ist.

1.14   Die politischen Maßnahmen waren bislang eher auf Sanktionierung denn auf Belohnung innovativer Verfahren, verantwortlichen Handelns und verantwortlicher Investitionen ausgerichtet. Hier muss eine Kurskorrektur erfolgen, indem Maßnahmen von Unternehmen mit steuerlichen Anreizen gefördert werden, die nachweislich beachtliche Ergebnisse im Bereich der Energieeffizienz erzielt haben.

1.15   Die eindrucksvollen und erfolgreichen Anstrengungen der energieintensiven Industrien unmittelbar vor Einführung des EU-EHS müssen hervorgehoben werden. Sie haben neuen Anforderungen und dem Wandel vorgegriffen; daher sollten sie nicht streng sanktioniert und der Gefahr ausgesetzt werden, dass eine Million sichere und qualifizierte (direkt wie auch indirekte) Arbeitsplätze verloren gehen.

1.16   Die transnationale und branchenübergreifende Verbreitung bewährter Verfahren ist sicherlich ein förderungswürdiges Instrument – ebenso wie die Unterstützung von neuen Pilot- oder Demonstrationsprojekten.

1.17   Als außerordentlich wichtig haben sich staatliche Fördermaßnahmen für Forschung und Innovation mit entsprechenden Programmen erwiesen. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission, den Rat und das Europäische Parlament auf, diese Programme mit Blickrichtung auf Energieeffizienz und Diversifizierung auszubauen und sie dauerhaft in die Entwicklungsmaßnahmen einzubeziehen.

1.18   Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) können im Zuge spezifischer und geeigneter Förderprogramme einen wichtigen Beitrag zum Erreichen der Ziele leisten. Die energieintensiven Industrien sind in allen Marktsektoren angesiedelt. Hingegen sind die Kosten für das Erreichen herausragender Ergebnisse bei der Energieeffizienz umgekehrt proportional zur Größe des Unternehmens. Dabei lassen sich gerade auf Ebene der KMU insgesamt die besten Ergebnisse erzielen, sodass hier große Anstrengungen unternommen und entsprechend umfangreiche Ressourcen bereitgestellt werden müssen.

2.   Einleitung

2.1   Die energieintensiven Industrien sind das Fundament aller europäischen Wertschöpfungsprozesse für die Grundstoffe der Produktion von Industriegütern. Diese Wirtschaftszweige nehmen eine maßgebliche Stellung beim Aufbau einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ein.

2.2   Die Einführung einer Reihe von Regelungen zur Erreichung der Verbrauchssenkung von 20 % stellt eine Herausforderung im Hinblick auf die Entwicklung einer neuen Generation von Produkten der energieintensiven Industrien dar. Es bedarf einer Vielzahl von Maßnahmen und Anreizen, um den Markt für die neuen energiesparenden Produkte zu eröffnen.

2.3   Die verarbeitende Industrie trägt 17,6 % zum europäischen BIP bei und vereinigt 27 % der Gesamtenergienachfrage in der EU auf sich. Die großen Rohstoffindustrien (namentlich Chemikalien und Petrochemikalien (18 %), Eisen und Stahl (26 %), Zement (25 %)), sind energieintensiv, und auf sie entfallen 70 % des industriellen Energieverbrauchs.

2.4   Kostensenkungen zur Erhaltung und eventuellen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit haben zahlreiche, insbesondere die energieintensiven, Industrien dazu veranlasst, ihre Energieeffizienz zu verbessern, so dass ihr wirtschaftliches Potenzial im Jahr 2020 niedriger liegt als in anderen Sektoren.

Tabelle 1

Prognostizierte Entwicklungen und Energieeinsparungspotenzial 2020  (3)

 

2020

(PRIMES 2007)

[in Mio. t RÖE]

2020

(PRIMES 2009 EE)

[in Mio. t RÖE]

2020 erwartete Einsparungen ohne weitere Maßnahmen

[in %]

2020

Wirtschaftliches

Potenzial

[%]

2020

Technisches Potenzial

[%]

 

1

2

3

[=(2-1)/1 (4)100]

4

5

Bruttoinlandsenergieverbrauch abzüglich nichtenergetischer Nutzungen

1 842

1 678

–9 %

– 20 %

(EU-Ziel)

k.A.

Endenergieverbrauch, davon:

1 348

1 214

–10 %

–19 %

–25 %

Industrie

368

327

–11 %

–13 %

–16 %

Verkehr

439

395

–10 %

–21 %

–28 %

Haushalte

336

310

–8 %

–24 %

–32 %

Dienstleistungssektor

205

181

–12 %

–17 %

–25 %

Energieumwandlung, -übertragung und -verteilung

494

464

–6 %

–35 %

k.A.

Quellen: PRIMES für Spalte 1, 2 und 3, Fraunhofer Gesellschaft für Spalte 4 und 5.

2.5   Die Möglichkeiten werden noch nicht umfassend genutzt, was insbesondere für kleine und sogar mittlere Unternehmen gilt (5).

3.   Stand der Technik bei den verschiedenen energieintensiven Industrien

Energieintensive Industrien erforschen und erzeugen zahlreiche Produkte und Technologien, die für die Bewältigung des Klimawandels und weiterer globaler Herausforderungen erforderlich sind. Eine Grundvoraussetzung für die Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz ist eine aktive Industrie- und Innovationspolitik. Forschung und Entwicklung müssen stärker auf energie- und ressourceneffiziente technologische und organisatorische Lösungen ausgerichtet werden. Darüber hinaus müssen Unternehmen gemeinsam mit ihren Arbeitnehmern und deren Vertretern durch Verbesserungen der Energie- und Ressourceneffizienz gezielt die Produkt- und Verfahrensinnovation voranbringen.

Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten energieintensiven Industrien.

3.1   Chemische und petrochemische Industrie

3.1.1   In der chemischen Industrie sind 1 205 000 Arbeitnehmer in 29 000 Betrieben beschäftigt. Der Produktionswert liegt bei 449 Mrd. EUR (Quelle: Eurostat, 2009) mit einem fast doppelten so hohen Umsatz, der 1,5 % des EU-BIP ausmacht. Lediglich 8 % des in der chemischen Industrie eingesetzten Öls wird als Brennstoff verwendet, der Großteil geht in die Verarbeitung. 18 % des Energieverbrauchs der gesamten Industrie entfallen auf die stoffumwandelnde Industrie.

3.1.2   Die chemische Industrie wandelt Rohstoffe in Produkte für andere Industrien und Verbraucher um. Grundrohstoffe können in organische und anorganische Rohstoffe unterteilt werden. Anorganische Rohstoffe umfassen Luft, Wasser und Mineralien. Fossile Brennstoffe und Biomasse fallen unter organische Rohstoffe.

3.1.3   In etwa 85 % der Chemikalien werden aus etwa 20 einfachen Chemikalien, den so genannten Grundchemikalien, hergestellt. Die Grundchemikalien werden hauptsächlich aus 10 Rohstoffen produziert, diese Grundchemikalien werden dann in circa 300 Zwischenprodukte umwandelt. Grundchemikalien und Zwischenprodukte werden als Massenchemikalien klassifiziert. Rund 30 000 Konsumgüter werden aus Zwischenprodukten hergestellt. Wo diese Chemikalien verwendet werden: 12 % der Kosten eines Autos (Sitzpolster; Schläuche und Gurte; Airbags), 10 % der Kosten eines Hauses (Isolierverkleidungen für Rohre und elektrische Leitungen), 10 % von all dem, was ein Durchschnittshaushalt täglich verbraucht (Lebensmittel, Bekleidung, Schuhwaren und Gesundheits- und Körperpflegemittel, usw.).

3.1.4   Kohle, Öl und Erdgas sind die primären Rohstoffe für die Produktion der meisten Massenchemikalien. Jede Produktionsstufe bewirkt einen Mehrwert: relativer Wert Rohöl 1, Brennstoff 2, typische Petrochemikalien 10, typisches Verbrauchsgut 50.

3.1.5   Fossile Brennstoffe sind auch die wichtigsten Energiequellen: Öl (ca. 40 %), Kohle (ca. 26 %), dann Erdgas (ca. 21 %).

3.1.6   Die chemische Industrie verbraucht enorm viel Energie. Etwa 8 % des insgesamt geförderten Rohöls dient als Rohstoff; der Rest wird für die Brenn- und Kraftstofferzeugung hauptsächlich für den Verkehr verwendet.

3.2   Nichteisenmetall-Industrie

3.2.1   Das Spektrum der Nichteisenmetall-Industrie ist breit gefächert. Unter diesen Industriezweig fällt die Produktion verschiedener Stoffe wie Aluminium, Blei, Zink, Kupfer, Magnesium, Nickel, Silikon usw. In dem Sektor sind insgesamt 400 000 Menschen beschäftigt (Quelle: Eurometaux, Juli 2011). Der größte und bedeutendste Teilsektor ist Aluminium. Mit 240 000 Beschäftigten im Jahr 2010 erzielte er einen Umsatz von 25 Mrd. EUR. Die Bauxitproduktion betrug 2,3 Mio. Tonnen und die Aluminiumproduktion 5,9 Mio. Tonnen, während sich die Gesamtaluminiumproduktion (Primär- und Sekundäraluminium) auf 6 Mio. Tonnen belief (270 Anlagen). Der von der Europäischen Kommission festgelegte Produkt-Emissionswert für Primäraluminium liegt bei 1 514 kg CO2-Äquivalent pro Tonne.

3.2.2   Aus diversen Analysen geht hervor, dass Rohstoffe und Energie die wichtigsten Wettbewerbsfaktoren für die Nichteisenmetall-Industrie in Europa sind. Je nach Teilsektor machen die Kosten für Rohstoffe und Energie grob geschätzt zwischen 50 % und 90 % der Gesamtkosten der Produktion raffinierter Metalle aus. Die Rohstoffkosten belaufen sich auf 30 % bis 85 % der Gesamtkosten, während die Energiekosten 2 % bis 37 % der Gesamtkosten betragen. Was die Rohstoffe betrifft, ist für die Metallherstellung in der EU Schrottrecycling ebenso wichtig wie die Aufbereitung von Metallerzen und ihren Konzentraten.

3.2.3   In Bezug auf Importabhängigkeit stufte die europäische Metallindustrie 2005 Bauxit, Magnesium, Silizium und Kupferkonzentrate als die empfindlichsten Rohstoffe ein (50 % der weltweiten Koksexporte kommen aus China und 40 % der weltweiten Kupferkonzentratexporte aus Chile).

3.2.4   Nach Angaben der Industrie drohen derzeit Versorgungsengpässe für Aluminiumschrott, Kupferschrott und Rohkupfer, Zink- und Bleikonzentraten und langfristiger eine Unterversorgung des Marktes mit Aluminium- und Kupferschrott, Kupferkonzentraten und Rohkupfer.

3.2.5   Die Nichteisenmetall-Industrie ist äußerst stromintensiv; dies gilt insbesondere für Aluminium-, Blei- und Zinkhersteller, die sehr bedeutende Stromverbraucher sind.

3.2.6   Ein Großteil des EU-Nichteisenmetallverbrauchs wird schon durch Importe gedeckt, und ohne geeignete Maßnahmen wird dieser Prozentsatz weiter ansteigen, während die europäische Nichteisenmetall-Produktion zum Erliegen kommt. Dies wird zu einer Verlagerung der CO2-Emissionen führen.

3.3   Eisen- und Stahlindustrie

3.3.1   Die europäische Eisen- und Stahlindustrie zählt 360 000 Beschäftigte und erzielte 2010 einen Umsatz von 190 Mrd. EUR. Der Gesamtenergieverbrauch beläuft sich auf 3 700 GJ, das sind rund 25 % des Energieverbrauchs der Verarbeitungsindustrie: die CO2-Emissionen betragen insgesamt rund 350 Mio. Tonnen, was 4 % der Gesamtemissionen der EU entspricht.

3.3.2   Es gibt im Wesentlichen zwei Stahlherstellungsverfahren: die sog. integrierte Route (Verfahrensweg Eisenerze – Hochofen – Konverter), bei der allerdings durchschnittlich auch 14 % Stahlschrott zugegeben werden, und das Verfahren im Elektrostahlwerk (Verfahrensweg Stahlschrott – Elektrolichtbogenofen).

3.3.3   In beiden Fällen bezieht sich der Energieverbrauch auf Brennstoff (hauptsächlich Kohle und Koks) und Elektrizität. Das Verfahren im Elektrostahlwerk weist einen wesentlich geringeren Energieverbrauch (ca. 80 %) auf. Die „integrierte Route“ erfordert Kokereien, Sinteranlagen, Hochöfen und Sauerstoffkonverter.

3.3.4   Gegenwärtig wird der Energieverbrauch der integrierten Route auf 17 bis 23 GJ pro Tonne warm gewalztes Erzeugnis geschätzt (SET-Plan-Workshop 2010). Der untere Wert wird in Europa als guter Referenzwert für ein integriertes Werk angesehen. Ein Wert von 21 GJ/t wird als Durchschnittswert in der EU-27 betrachtet.

3.3.5   Ein Teil der starken Verringerung des Energieverbrauchs der europäischen Industrie in den letzten 40 Jahren (um ca. 50 %) ist auf den zunehmenden Einsatz des Verfahrenswegs Stahlschrott – Elektrolichtbogenofen zu Lasten der integrierten Route zurückzuführen (der Anteil ist von 20 % in den 70er Jahren auf mittlerweile 40 % gestiegen).

3.3.6   Allerdings sind einer möglichen Verlagerung auf Schrott-Recycling durch die Verfügbarkeit und die Qualität von Schrott Grenzen gesetzt. In Europa entfallen ca. 80 % der CO2-Emissionen der integrierten Route auf Abgase. Diese Abgase werden großteils innerhalb derselben Industrie zur Erzeugung von ca. 80 % ihres Strombedarfs verwendet (Quelle: Eurofer (2009a)).

3.3.7   Die Herstellung von Rohstahl betrug im Jahr 2008 in der EU 198 Mio. t, also 14,9 % der weltweiten Gesamtproduktion (1 327 Mio. t Rohstahl) (Quelle: Worldsteel (2009)). Zehn Jahre vorher machte der Anteil derselben europäischen Länder mit einer etwas geringeren Produktion (191 Mio. t Rohstahl) noch 24,6 % aus.

3.4   Keramikindustrie

3.4.1   In der Keramikindustrie sind 300 000 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Produktpalette reicht von Bau- und Dachziegeln, Kacheln und Fliesen über Sanitärartikel, Geschirr und Ziergegenstände bis hin zu Schleifstoffen, feuerfesten keramischen Werkstoffen und technischer Keramik (6).

3.4.2   Dabei werden Artikel für Bauindustrie, Hochtemperaturtechnik, Automobilindustrie, Energie, Umwelt, Verbrauchsgüter, Bergbau, Schiffbau, Verteidigung, Luftfahrt, Medizin usw. erzeugt. Die Keramikindustrie ist von heimischen und importierten Rohstoffen abhängig.

3.4.3   Die in der europäischen Keramikindustrie tätigen Unternehmen sind großteils KMU, die rund 10 % der im EU-EHS erfassten Anlagen ausmachen, aber weniger als 1 % der Emissionen verursachen.

3.5   Zement

3.5.1   Die europäische Zementindustrie zählte 2010 48 000 Beschäftigte und erzielte mit einer Produktion von 250 Mio. Tonnen einen Umsatz in Höhe von 95 Mrd. EUR. Der Benchmark für Stromverbrauch liegt bei 110 kW/h pro Tonne: Der CO2-Gesamtausstoß entsprach 3 % der EU-Gesamtemissionen.

3.5.2   Zement ist ein wichtiger Werkstoff für den Hochbau sowie für Tief- und Wasserbau. Die Zementindustrieproduktion steht in einem direkten Zusammenhang mit der allgemeinen Lage des Bausektors und spiegelt die gesamtwirtschaftliche Lage wider.

3.5.3   In der Europäischen Union wird Zement überwiegend mittels moderner Trockenverfahren hergestellt. Dies erfordert ca. 50 % weniger Strom als das Brennen von Klinkern in Rohröfen mithilfe des Nassverfahrens.

3.5.4   Im Jahr 2009 belief sich die Zementproduktion in den 27 EU-Mitgliedstaaten auf rund 250 Mio. Tonnen, was 8,6 % der weltweiten Produktion von 3 Mrd. Tonnen entspricht (7). Der weitaus größte Anteil der Produktion, und zwar 75 %, entfiel auf Asien, wobei China allein für knapp über die Hälfte des produzierten Zements verantwortlich zeichnete (54,2 %). Aus diesen Daten geht hervor, dass ein Großteil der weltweiten Zementherstellung in den Ländern stattfindet, die das Kyoto-Protokoll nicht umsetzen.

3.5.5   Kennzeichnend für die europäische Zementindustrie sind: die hohe Kapitalintensität – 150 Mio. EUR pro 1 Mio. Tonnen Produktionskapazität – und der hohe Energieverbrauch – 60-130 kg pro Tonne Öl oder Öläquivalent plus zusätzliche 90-130 kW/h Stromenergie pro Tonne.

3.5.6   Ein zusätzliches wichtiges Merkmal der europäischen Zementindustrie ist die Existenz von regionalen Zementmärkten mit einem Lieferradius von höchstens 300 km um eine Anlage.

3.5.7   Die Zementindustrie ist einer der größten CO2-Emittenten. Ihr Anteil des Kohlendioxidausstoßes an den weltweiten anthropogenen CO2-Emissionen beläuft sich auf 5 % (8). Die Hauptquellen der CO2-Emissionen der Zementindustrie sind die Kalzinierung von Kalkstein im Rohmaterial und die Verbrennung.

3.5.8   Schätzungsweise entstehen ca. 50 % der Gesamtemissionen der Zementwerke bei der Kalzinierung und weitere 40 % bei der Verbrennung. Diese CO2-Emissionen werden als direkte Emissionen bezeichnet. Indirekte Emissionen (ca. 10 % der Gesamtemissionen der Zementindustrie) entstehen beim Transport und bei der Erzeugung von Strom für die Zementherstellung (9).

3.5.9   Die Entwicklung der Zementindustrie in der EU ist stark von der EU-Politik und den Entscheidungen über die Emissionen von CO2 und anderen Schadstoffen abhängig.

3.5.10   In der Zementbranche wird das Europäische Emissionshandelssystem auf die Zementproduktion (Klinker) in Drehrohröfen mit einer Tagesleistung von mehr als 500 Tonnen angewendet. Daten der letzten Jahre (10) offenbaren Zementsektoremissionen, die geringer als erwartet ausfallen. Der Verkauf von CO2-Emissionsrechten kann sich als lukrativer erweisen als die Produktion von größeren Zementmengen. Das EU-EHS könnte zu Produktionseinbrüchen führen. Entsprechend sollte vor der Zuteilung von Emissionsrechten eine Analyse vorgenommen werden, um nachhaltige Ziele festzulegen, Marktstörungen zu vermeiden und gleichzeitig die Unternehmer zur Verbesserung der Energieeffizienz und Verringerung der CO2-Emissionen zu motivieren.

3.6   Glasindustrie

3.6.1   In der Glasindustrie sind in 1 300 Glasherstellungs- und -verarbeitungsunternehmen 200 000 Mitarbeiter beschäftigt. Die Produktion belief sich 2010 auf 34 Mio. Tonnen (30 % des Weltmarktes). Durch die Wiederverwertung von 1 Tonne Glas wird der Ausstoß von 670 kg CO2 vermieden. Die jährlichen CO2-Emissionen belaufen sich auf rund 25 Mio. Tonnen.

3.6.2   Glas besteht hauptsächlich aus einem Glasbildner, und zwar Quarzsand (qualitativ hochwertiger Sand), Laugen als Glaswandler/Flussmittel, hauptsächlich Soda und Pottasche, Stabilisatoren zur Reduzierung von Glasverwitterung (Calciumoxid, Magnesium und Aluminiumoxid), einige Läutermittel und kleine Mengen anderer Zusatzstoffe, um den einzelnen Glasarten bestimmte Eigenschaften zu verleihen.

3.6.3   Die am weitesten verbreitete Klassifikation für Glasarten erfolgt anhand der chemischen Zusammensetzung, woraus sich vier Hauptgruppen ergeben: Natron-Kalkglas, Bleikristall und Kristallglas, Borsilikatglas und Spezialgläser.

3.6.4   „Behälterglas“ ist der größte Teilbereich der EU-Glasindustrie und macht mehr als 60 % der gesamten Glasproduktion aus. Bei den hergestellten Produkten handelt es sich um Glasbehälter (Flaschen und Gefäße). Behälterglas wird in allen EU-Mitgliedstaaten produziert, mit Ausnahme von Irland und Luxemburg. Die EU ist mit circa 140 Anlagen der weltweit größte Glasbehälter-Produzent.

3.6.5   Flachglas ist der zweitgrößte Teilbereich der Glasindustrie in Europa und stellt etwa 22 % der gesamten Glasproduktion dar. Der Industriezweig umfasst die Produktion von Floatglas und Gussglas. In der EU gibt es fünf Floatglas- und fünf Gussglas-Hersteller. Die gesamten CO2-Emissionen der Flachglasindustrie betrugen 2008 ca. 7 Mio. t, und zwar ca. 6,5 Mio. t aus der Floatglasproduktion und ca. 0,5 Mio. t aus der Gussglasproduktion (Quelle: CITL).

3.6.6   Endlosglasfasern werden in vielen Formen hergestellt und geliefert: als Roving, Matten, Schnittglas, Garn, Gewebe und Glasmehl. Der bedeutendste Anwendungsbereich (ca. 75 %) ist die Verstärkung von Verbundmaterialien, d.h. hauptsächlich duroplastische Harze, aber auch Thermoplasten. Der Hauptmarkt für Verbundmaterialien ist das Bauwesen, der Automobil- und Transportsektor (50 %) und die Elektrotechnik- und Elektronikindustrie.

3.6.7   Einige Daten zu dem CO2-Fußabdruck:

Durchschnittsproduktion: 870 000 t/Jahr Endlos-Glasfaser;

Durchschnittliche CO2-Direktemissionen: 640 000 t;

Durchschnitt CO2-Ausstoß je Tonne: 735 kg CO2/t Endlos-Glasfaser.

3.6.8   Spezialglas macht etwa 6 % der Glasindustrieproduktion aus, auf die Produktion in Tonnen bezogen ist dies der viertgrößte Teilbereich. Die wichtigsten Produkte sind Glas für Fernseh- und andere Bildschirme, Beleuchtungsglas (Röhren und Lampen), optisches Glas, Laborglas und technisches Glas, Borsilikatglas und Glaskeramik (Kochgeschirr und hochtemperaturbeständige Haushaltsanwendungen) und Glas für die Elektronikindustrie (LCD-Bildschirme).

3.6.9   Auf Haushaltsglas als einem kleineren Teilbereich der Glasindustrie entfallen etwa 4 % der Gesamtproduktion. Dieser Sektor umfasst die Produktion von Tischgeschirr, Kochgeschirr und Dekorationsgegenständen, u.a. Trinkgläser, Tassen, Schüsseln, Teller, Kochgeschirr, Vasen und Schmuck.

4.   Allgemeine Übersicht zu den CO2-Emissionen in Europa 2010

4.1   Das EU-EHS begrenzt die Emissionen von ca. 12 600 Anlagen, darunter Kraftwerke, Fabriken und Ölraffinerien. Das System erfasst etwa 40 % der gesamten Treibhausgasemissionen in der EU. Ausgehend von den Industrieproduktionsdaten schätzen Analysten, dass die Emissionen nach einem Rückgang von beinahe 11,3 % im Jahr 2009 im Jahr 2010 um 3,2 % gestiegen sind (Barclays Capital, Nomisma Energia, IdeaCarbon).

4.2   Laut Europäischer Umweltagentur beliefen sich die Treibhausgasemissionen in der EU im Jahr 2009 insgesamt auf etwa 4,6 Mrd. Tonnen. Wenn sie im letzten Jahr im gleichen Verhältnis wie der Kohlenstoffausstoß der Industrie gestiegen sind, würde das bedeuten, dass die EU ihr Ziel von 4,5 Mrd. Tonnen Treibhausgasausstoß für 2020 um ca. 300 Mio. Tonnen überschreitet. Die EU wird unter diesem Zielwert bleiben, so einschlägige EU-Dienststellen, wenn sie die Zielvorgaben für erneuerbare Energien und Energieeffizienz erreicht.

4.3   CO2

Die im EU-EHS erfassten Emissionen stiegen 2010, als die Energienachfrage und die allgemeine Industrieproduktion zunahmen, was bedeutet, dass die Unternehmen zur Erzeugung von Strom und Wärme mehr fossile Brennstoffe einsetzten (Sikorski).

Die höheren Gaspreise zwangen die Kraftwerke dazu, mehr Kohle zu verbrennen, was einen erhöhten Kohlenstoffausstoß bedeutet.

5.   Bemerkungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

5.1   Die Wertschöpfungskette hängt von Verfügbarkeit und Qualität der Rohstoffe ab; die Grundstoffindustrien in Europa liefern Rohstoffe von höchster Qualität. Der europäischen Verarbeitungsindustrie kommen das hohe Qualitätsniveau und die kontinuierliche Innovation aufgrund der Forschungsarbeit zugute. In der Stahlindustrie hängt die Qualität z.B. zu 70 % von der Art des Gusses ab. Diese Qualität gilt es aufrechtzuerhalten und wenn möglich noch zu steigern.

5.2   Europa wird ohne eine starke, wettbewerbsfähige und innovative Industrie keines der Nachhaltigkeitsziele erreichen können, wie z.B. die von der Kommission vorgegebenen CO2-Ziele.

5.3   Das EU-EHS ist ein Emissionsrechtehandelssystem („Cap-and-Trade“), das als wichtiges Instrument zur Erreichung des EU-Ziels eingeführt wurde, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um mindestens 20 % und im Fall einer internationalen Vereinbarung um 30 % gegenüber 1990 zu senken. Dieses System findet auf ca. 12 500 Energieerzeugungs- und Industrieanlagen Anwendung, die zusammen für beinahe die Hälfte der CO2-Emissionen der EU und 40 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich sind.

5.4   Das EU-EHS kommt in 30 Ländern zur Anwendung (die 27 EU-Mitgliedstaaten plus Island, Liechtenstein und Norwegen). Im Vergleich zu nicht berücksichtigten Sektoren wie dem Verkehrswesen konnten die Treibhausgasemissionen der im EU-EHS erfassten Anlagen erheblich reduziert werden. Angesichts der unaufhörlich steigenden Energiekosten stehen energieintensive Industrien ständig unter Druck, ihre Energieeffizienz kontinuierlich zu verbessern. Eine Aufschlüsselung der dem EU-EHS zugeschriebenen Emissionsminderungen wäre äußerst wünschenswert.

6.   Der soziale und ökologische Aspekt

6.1   Der Schutz der europäischen Industrie, Arbeitnehmer und Interessen, der Umwelt Gesundheit und Verbraucher kann nur gelingen, wenn keines dieser Interessen dominiert und wenn ein optimales Gleichgewicht zwischen Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik angestrebt wird.

6.2   Der Ausschuss unterstützt die Ziele der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit und möchte in einigen vorrangigen Handlungsfeldern auf Leitlinien hinweisen, an denen ein integriertes Handeln unter einem ganzheitlichen Blickwinkel auszurichten ist.

6.3   Vonnöten sind zunächst solide Programme zur Förderung der beruflichen Weiterentwicklung im Zuge einer gezielten Ausbildung zur Entwicklung der für die Bewältigung der technischen Herausforderungen erforderlichen Fähigkeiten und um weitere und bessere Ergebnisse im Bereich der Energieeffizienz zu erzielen. Ein Merkmal energieintensiver Industrien sind kontinuierliche Produktionsverfahren und hohe Verantwortung, weshalb sie für junge Menschen nicht interessant sind. Es müssen spezielle Anreize zur Förderung von Berufsbildungsprogrammen (einschl. Stipendien) geschaffen werden, um die europäischen Kompetenzen in diesem Bereich zu wahren.

6.4   Es müssen gleichfalls Anreize zur Förderung der Mobilität von Technikern und Fachkräften geschaffen werden, um Wissen und bewährte Verfahren national und grenzübergreifend zu verbreiten.

6.5   Besonderes Augenmerk sollte den Übergangsperioden gewidmet werden, indem den Arbeitnehmern, die von den erforderlichen Umstrukturierungsprozessen zur Anpassung der Produktion an den neuen Bedarf betroffen sind, eine angemessene Unterstützung zugesichert wird. Dies sollte durch öffentliche Investitionen gefördert werden.

6.6   Ein echtes Engagement für den industriellen Wandel in den energieintensiven Industrien muss durch kongruente Bewertungen der Auswirkungen für die Gesellschaft und die Arbeitnehmer flankiert werden, um negative soziale Folgen zu vermeiden und sich vorab auf neue Produktionsmodelle vorzubereiten.

6.7   Ganz wichtig ist hierbei die Entwicklung von Wissen, Einsicht und Bewusstsein aufseiten der Bürger bezüglich der Vorteile, die eine Industrie mit hoher Energieeffizienz bewirken kann. Zu diesem Zweck sollten neben einer entsprechenden Kennzeichnung der Produkte auch die energieeffizienten Herstellungsprozesse ausgewiesen werden. D.h. es sollte eine doppelte Kennzeichnung geben: des Produkts, aber auch der Anlage, die zu einer hohen Gesamteffizienz beigetragen hat.

6.8   Energieintensive Industrien müssen in Forschung und Innovation stärker unterstützt werden. Das derzeitige EU-Finanzierungssystem sollte eigene Instrumente (z.B. nach dem Vorbild der öffentlich-privaten Partnerschaft SPIRE für eine nachhaltige verarbeitende Industrie) vorsehen, um industriellen Projekten mehr Platz einzuräumen. Die Technologieplattformen haben hart an der Schaffung eines industriefreundlicheren Umfelds gearbeitet, damit die Industrien besser auf die EU-Rahmenprogramme eingestellt sind. Die Rolle der Forschungs- und Technologieeinrichtungen sollte ebenfalls mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, da sie in der Innovationskette die außerordentlich wichtige Aufgabe haben, eine Idee in eine industrielle Anwendung umzusetzen.

7.   Internationale Aspekte

7.1   Die USA, Japan, Russland, Brasilien, Indien und vor allem China (das Land mit den höchsten Emissionswerten, nämlich 22 % der Gesamtemissionen) müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Diese Länder sind zusammen mit Europa für mehr als 70 % der CO2-Emissionen (2007) verantwortlich. Ein Klimaübereinkommen zum Schutz unseres Planeten ist unverzichtbar, um die Herausforderungen im Zuge der durch den Menschen verursachten Erderwärmung bewältigen zu können.

7.2   Der Ausschuss hat sich bereits mehrfach für die Unterstützung entsprechender EU-Politiken ausgesprochen und jegliches Bemühen begrüßt, zu einer ausgewogenen internationalen Vereinbarung zu gelangen, mit der die Verantwortung und die Lasten unter Berücksichtigung der vielfältigen Faktoren und nicht nur der absoluten Zahlen aufgeteilt werden.

7.3   Klimaschutzmaßnahmen können nur dann greifen, wenn auf der bevorstehenden Konferenz in Durban die neuen Post-Kyoto-Ziele für die größten globalen Emissionsländer verabschiedet werden. Europa hat sich sogar zu ehrgeizigeren Zielen verpflichtet, sollte es ein globales Übereinkommen geben. Der Ausschuss begrüßt dies, sofern die Überlegungen in Bezug auf die Nachhaltigkeitsbedingungen für die europäischen Unternehmen und die Arbeitnehmer dabei berücksichtigt werden.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 38.

(2)  ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 1, und ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 25.

(3)  Siehe SEC(2011) 779 final (nur auf EN verfügbar).

(4)  Die Daten zum wirtschaftlichen Potenzial des Energieumwandlungssektors beruhen auf Berechnungen der GD Energie.

(5)  Energieeffizienzplan 2011 (KOM(2011) 109 endg.) und dazugehörige Folgenabschätzung (ebda. Ziffer 3); ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 38; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 76.

(6)  ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 7.

(7)  Informationsbericht der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel zum Thema „Entwicklung der europäischen Zementindustrie“ (CCMI/040), CESE 1041/2007.

Cembureau Evolution & Energy Trends, Cembureau Website, Mai 2011.

(8)  Ernst Worrell, Lynn Price, Nathan Martin, Chris Hendriks, Leticia Ozawa Meida: „Carbon dioxide emissions from the global cement industry“, Annual Review of Energy and the Environment, November 2001, Vol. 26, S. 303.

(9)  Bruno Vanderborght, Urs Brodmann: „The Cement CO2 Protocol: CO2 Emissions Monitoring and Reporting Protocol for the Cement Industry. Guide to the Protocol“, 2001, Version 1.6, www.wbcsdcement.org

(10)  In Euronews veröffentlichter Bericht, Mai 2006.


III Vorbereitende Rechtsakte

EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS

476. Plenartagung am 7. und 8. Dezember 2011

15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012“

KOM(2011) 400 endg.

2012/C 43/02

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Die Europäische Kommission beschloss am 7. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012

KOM(2011) 400 endg.

Das Präsidium beauftragte den Lenkungsausschuss Europa 2020 am 14. Juni 2011 mit den Vorarbeiten zu diesem Thema.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 8. Dezember) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 136 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 6 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Die Union und ihre Bevölkerung machen zur Zeit die schwerste wirtschaftliche, soziale und politische Krise ihrer Geschichte durch, die drastische Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und deren Bevölkerungen hat und die die wichtigsten Errungenschaften wie die Einheitswährung, den Stabilitätspakt und den Binnenmarkt bedroht. In der vorhergehenden Finanzkrise konnte eine langwierige Rezession dank eines raschen und entschlossenen gemeinsamen Handelns der Entscheidungsträger in Europa abgewendet werden. Nun steht Europa vor einer weiteren ebenso ernsten Herausforderung, die erneut eine entschlossene und kooperative politische Haltung erfordert. Kein Mitgliedstaat ist in der Lage, die Eurokrise im Alleingang zu bewältigen – die politische Option liegt auf der Hand: Entweder wird die europäische Integration gestärkt, um die Krise zu überwinden, oder die europäische Integration wird durch die Krise erheblich geschwächt und gefährdet.

1.2   Sofortmaßnahmen sind erforderlich, um Schulden abzubauen, die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren und das Vertrauen der Bevölkerung und der Unternehmen zu stärken. Die Politiker sollten jedoch über die jetzige Krise hinausschauen. Der Schwerpunkt sollte nicht ausschließlich auf kurz- und mittelfristigen Maßnahmen liegen. Es besteht eindeutig Bedarf an langfristigen Reformen. Ein Nichttätigwerden wird kurzfristige und sogar unmittelbare Auswirkungen auf die Fremdkapitalkosten der Mitgliedstaaten haben.

1.3   Vor diesem Hintergrund hält der Ausschuss die Europa-2020-Strategie für wichtiger denn je, da sie eine umfassende Agenda für Reformen bietet, die auf die Gewährleistung eines nachhaltigen Wachstums und eine widerstandsfähigere Union in der Zukunft abzielt.

1.4   Erforderlich ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen allen Aspekten der Strategie, insbesondere zwischen dem wirtschaftlichen, dem sozialen und dem ökologischen Aspekt: Die drei Prioritätsbereiche (intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum) sind miteinander verzahnt und stärken sich gegenseitig. Den Bereichen Wirtschaftswachstum, Unternehmertum, KMU, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Nachhaltigkeit und Umwelt, soziale Rechte, Schaffung von Arbeitsplätzen und Unterstützung der Bildung muss das gleiche Maß an Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1.5   Vor dem Hintergrund der schwierigen Wirtschaftslage und den angespannten Finanzen in den Mitgliedstaaten besteht die Herausforderung nun mehr denn je darin, die Strategie angemessen umzusetzen.

1.6   Der Ausschuss ist zutiefst besorgt, dass die von den Mitgliedstaaten in ihren nationalen Reformprogrammen festgelegten Verpflichtungen großteils unzureichend sind (siehe Jahreswachstumsbericht (1), um die Strategieziele zu erreichen (Ziele in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Armutsbekämpfung, Emissionsreduzierung - Energieeffizienz – erneuerbare Energien).

1.7   Die Mitgliedstaaten müssen ihre Anstrengungen intensivieren und ehrgeizigere nationale Anpassungen vornehmen, wenn sie die Ziele bis 2020 erreichen wollen. Der Schwerpunkt muss dabei auf wachstumsfördernde Bereiche gelegt werden (Bildung, Innovation, Energie, Verkehrsverbindungen usw.). Eine angemessene Erfüllung ihrer Verpflichtungen ist von entscheidender Bedeutung.

1.8   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner an der Durchführung von Reformen und der Umsetzung einer Wachstumsstrategie für deren Erfolg ausschlaggebend sein wird. Er wird die nationalen Verwaltungen und die EU dazu ermutigen, konkrete Ergebnisse zu zeitigen. Aus diesem Grund wird er seine Zusammenarbeit mit dem Netz der nationalen Wirtschafts- und Sozialräte (WSR) und vergleichbaren Organisationen im Rahmen der Europa-2020-Strategie fortsetzen. Zum einen wird der Ausschuss in den Mitgliedstaaten das Bewusstsein schärfen, und zum anderen wird er dafür Sorge tragen, dass die politischen Entscheidungsträger auf EU-Ebene die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten vor Ort kennen.

2.   Hintergrund

2.1   Das erste Europäische Semester, eine neue Steuerungsmethode, mit der die wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten verbessert werden soll, begann im Januar 2011 mit dem Jahreswachstumsbericht (2) der Kommission. Dieser wurde auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates (3) bestätigt und ergänzt.

2.2   Vor diesem Hintergrund legten die Mitgliedstaaten Ende April 2011 Stabilitäts- oder Konvergenzprogramme zur Haushaltslage und nationale Reformprogramme mit den wichtigsten Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie vor. Darüber hinaus haben die meisten Mitglieder des Euro-Plus-Pakts spezifische Verpflichtungen auf der Grundlage des Pakts (4) vorgelegt.

2.3   Nach der Bewertung dieser Programme und Verpflichtungen hat die Kommission länderspezifische Empfehlungen sowie Empfehlungen für das Euro-Währungsgebiet vorgelegt (5). Der Schwerpunkt lag dabei auf Bereichen, in denen weitere Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Beschleunigung der Strukturreformen erforderlich waren. Auf seiner Tagung im Juni (6) bestätigte der Europäische Rat diese Empfehlungen. Damit schloss er das erste Europäische Semester ab und läutete das „nationale Semester“ ein.

2.4   Die Grundlage des vorliegenden Dokuments bildet die Kommissionsmitteilung „Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012“ (7) vom Juni 2011. Der Schwerpunkt liegt dabei auf mehreren wichtigen Aspekten:

Stärkung der Governance der Strategie,

Verbesserung der Kommunikation über die Strategie und

Verbesserung der konkreten Umsetzung der Strategie durch die Mitgliedstaaten.

2.5   Es wird in den neuen „Integrierten Bericht“ (8) einfließen, den das vom EWSA und den nationalen WSR sowie anderen vergleichbaren Partnerorganisationen aufgebaute interaktive Netz vorlegen wird.

2.6   Die spezifischen Maßnahmen der Europa-2020-Strategie wurden bereits in der Stellungnahme zum Thema „Jahreswachstumsbericht: Das Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an“ (9) ausführlicher behandelt. Nach einer Konsultation zum Jahreswachstumsbericht 2011 unterstützte der Ausschuss in seiner Stellungnahme nachdrücklich die Europa-2020-Strategie und das Europäische Semester und forderte die Kommission auf, sich für den europäischen Integrationsprozess stark zu machen. Gleichzeitig bedauerte der Ausschuss jedoch, dass in dem ersten Jahreswachstumsbericht die Chance vergeben wurde, politische Vorschläge zur Förderung des intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums zu unterbreiten. Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage müssen diese Vorschläge nun in die Tat umgesetzt werden.

2.7   Die Stellungnahme enthielt auch mehrere konkrete Vorschläge zu den zehn von der Kommission vorgelegten Punkten: Die Haushalte konsequent konsolidieren, Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, Stabilisierung des Finanzsektors, Arbeit attraktiver machen, Reform der Rentensysteme, Arbeitslose wieder in die Arbeit bringen, ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Flexibilität, Ausschöpfung des Binnenmarktpotenzials, Beschaffung von privatem Kapital zur Finanzierung des Wachstums und kostengünstige Energieversorgung.

2.8   Nach der Veröffentlichung des Jahreswachstumsberichts 2012 (10) durch die Kommission, möchte der Ausschuss mit Blick auf die Tagung des Europäischen Rates im März 2012 eine Stellungnahme vorlegen, in der er sich vorrangig mit dem Fortschrittsbericht zur Europa-2020-Strategie befasst.

3.   Governance

3.1   Der Europa-2020-Prozess sollte ein Prozess für alle und von allen sein und nicht den politischen Entscheidungsträgern, Gesetzgebern und Sachverständigengruppen vorbehalten bleiben.

Impulse aus allen gesellschaftlichen Kreisen sind wünschenswert, um von dem Fachwissen vor Ort zu profitieren, herauszufinden, welcher Ansatz für die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen am besten geeignet ist, und um kreative Lösungen zu finden. Ein Beispiel könnte das Konzept des sozialen Unternehmertums sein, das positive Auswirkungen sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich hat.

Eine angemessene Umsetzung der Strategie in den Mitgliedstaaten hängt weitgehend vom Engagement und von der Verantwortung aller interessierten Kreise ab. Deshalb ist eine gemeinsame Verantwortung für die Strategie von entscheidender Bedeutung, und zur Gewährleistung dynamischer Reformen ist eine uneingeschränkte Partnerschaft erforderlich.

3.2   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Anhörung, Teilhabe und Mobilisierung der organisierten Zivilgesellschaft sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene gestärkt werden sollten.

3.3   Die organisierte Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten sollte als aktiver Partner in die Überwachung und Umsetzung der Europa-2020-Strategie eingebunden werden.

3.4   Die europäischen Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft müssen zu den länderspezifischen Empfehlungen für jeden Mitgliedstaat konsultiert werden. In diesem Zusammenhang ist der Zeitplan von entscheidender Bedeutung, damit die organisierte Zivilgesellschaft frühzeitig an der Konzipierung der Zukunftsperspektiven für den Zyklus nach 2011 beteiligt wird. Umso mehr müssen die von den Mitgliedstaaten ratifizierten ILO-Grundlagenübereinkommen eingehalten werden, insbesondere das Übereinkommen 98 zur Gewährleistung der Tarifautonomie.

3.5   Der Ausschuss spricht sich für eine Stärkung der besonderen Rolle und des Profils der nationalen WSR und vergleichbarer Organisationen aus. Dadurch werden die bestehenden Konsultationsverfahren der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten in keiner Weise beeinträchtigt.

3.6   Es sollten Schritte unternommen werden, um die Debatte über die Umsetzung der Europa-2020-Strategie in den Mitgliedstaaten anzukurbeln, und die Regierungen sollten in Bezug auf die Ergebnisse eines umfassenderen zivilen und sozialen Dialogs über die Strategie wirksamere Feedback-Verfahren entwickeln.

3.7   Der EWSA spricht sich für regelmäßige Konferenzen über die Überwachung der Europa-2020-Strategie in den Mitgliedstaaten aus, an denen alle Interessenträger und Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligt würden.

3.8   Der Ausschuss empfiehlt, in den Mitgliedstaaten einen ständigen Dialog einzurichten zwischen nationalen WSR oder vergleichbaren Organisationen und anderen Sozialpartnern und Interessenträgern wie KMU, Akteuren der Sozialwirtschaft, Vertretern von Think Tanks und Hochschulen und allen, die im Bereich der Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Chancengleichheit tätig sind. In einigen Mitgliedstaaten existierende Vereinbarungen und Verfahrensweisen im Bereich des zivilen Dialogs sollten gebührend berücksichtigt werden.

3.9   Strukturelle Hindernisse, die einem echten Dialog mit den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen entgegenstehen, müssen beseitigt werden. Dazu zählen etwa die Vermeidung der bereits zur Regel gewordenen knappen Fristen bei der Erstellung der nationalen Reformprogramme.

3.10   Governance auf europäischer Ebene - der Mehrwert einer stärkeren europäischen Dimension

3.10.1   Es wird deutlich, dass nationale Maßnahmen alleine nicht ausreichen und dass die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene gestärkt werden sollte. Asymmetrische und isolierte makroökonomische, industrie- oder sozialpolitische Maßnahmen in den Mitgliedstaaten können die EWU und den Binnenmarkt untergraben und gravierende Ausstrahlungseffekte in anderen Mitgliedstaaten haben.

3.10.2   Der Ausschuss spricht sich für einen Dialog zwischen nationalen WSR und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Vertretern der Kommission über spezifische nationale Gegebenheiten aus. Ähnlich sollten die nationalen WSR stärker in die jährlichen Konsultationen der Kommission eingebunden werden. Der EWSA befürwortet einen solchen Ansatz: Er entspricht dem Ansatz des Europäischen Parlaments, der eine Ausweitung der Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten ermöglicht, sowie jenem des Ausschusses der Regionen in Bezug auf die europäischen regionalen und lokalen Gebietskörperschaften.

3.10.3   Die Durchführung des Europäischen Semesters wurde vom Europäischen Parlament aufgrund der fehlenden Legitimität, der unbedeutenden Rolle des Europäischen Parlaments, der marginalen Beteiligung der nationalen Parlamente und der fehlenden Transparenz des Prozesses kritisiert. Es wurde vorgeschlagen, die Wirksamkeit des Europäischen Semesters durch einen regelmäßigen wirtschaftspolitischen Dialog über dessen Ergebnisse zu stärken. Der Ausschuss unterstützt die Einrichtung eines EP-Unterausschusses für Fragen im Zusammenhang mit dem Europäischen Semester, und bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, in die Arbeiten dieses Unterausschusses umfassend eingebunden zu werden.

3.10.4   Darüber hinaus möchte der Ausschuss seine Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Regionen im Hinblick auf die Förderung des Verantwortungsbewusstseins der Bürger für die Europa-2020-Strategie und ihre wirksame Umsetzung fortführen.

3.10.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass die organisierte Zivilgesellschaft zur Teilnahme an den Territorialpakten (11) für die Europa-2020-Strategie eingeladen werden sollte.

3.11   Verfügbare Instrumente zur Stärkung der Governance

3.11.1   Nach Auffassung des Ausschusses muss die gesamte Palette der verfügbaren Instrumente der Union (12) zum Einsatz kommen, wenn der Erfolg der Europa-2020-Strategie gewährleistet werden soll.

3.11.2   Der EWSA betont, dass das Europäische Semester die Grundzüge der Wirtschaftspolitik und die beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ersetzen darf.

3.11.3   Der mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 sollte die Erreichung der Ziele der Europa-2020-Strategie unterstützen.

3.11.4   Die Strukturfonds für den Zeitraum 2014-2020 sollten in vollem Umfang an die Prioritäten der Europa-2020-Strategie (13) angepasst werden.

3.11.5   Mit einer besseren Koordinierung der Ausgaben auf europäischer und nationaler Ebene ließe sich die Wirksamkeit verbessern.

3.11.6   Öffentliche Investitionen (auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten) in ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum würden ebenfalls zur Förderung zusätzlicher privater Investitionen beitragen und damit eine Hebelwirkung haben.

4.   Kommunikation über die Europa-2020-Strategie

4.1   Die politische Resonanz der Europa-2020-Strategie sollte gestärkt und das Bewusstsein der Bürger für diese Strategie geschärft werden, insbesondere mit Blick auf die ernsthaften Herausforderungen für unsere Gesellschaften.

4.2   Die Kommunikation auf allen Ebenen (europäische, nationale und insbesondere lokale Ebene) sollte intensiviert werden, da die Europa-2020-Strategie in vielen Mitgliedstaaten der einzige neue Beitrag ist, der in gedanklicher und politischer Hinsicht einen Mehrwert darstellt und der den Menschen eine gewisse Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. Die wichtigsten Botschaften der Europa-2020-Strategie in Bezug auf Wachstum, Beschäftigung und soziale Eingliederung müssen immer wieder neu erläutert werden.

4.3   Die nationalen Reformprogramme sollten den nationalen Parlamenten vorgelegt und von ihnen erörtert werden.

5.   Umsetzung der Europa-2020-Strategie

5.1   Der Ausschuss ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Hindernisse zu ermitteln, die das Wachstum auf nationaler und internationaler Ebene behindern. Diese Hindernisse nehmen unterschiedliche Formen an, so beispielsweise:

Fragmentierung des Binnenmarkts,

unzureichender Zugang von KMU zum Binnenmarkt,

Notwendigkeit der Stärkung des Unternehmergeistes,

mangelhafte Rahmenbedingungen für Unternehmen (einschl. Regelungsumfeld),

Hindernisse im Zusammenhang mit der Beschäftigung und Verlagerung von Arbeit (Segmentierung des Arbeitsmarkts),

Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie aufgrund der fehlenden Gegenseitigkeit im Welthandel und auf den internationalen Beschaffungsmärkten,

Notwendigkeit einer stärkeren Erwerbsbeteiligung,

Unzureichende Qualität und Wirksamkeit der allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme,

Notwendigkeit eines gut funktionierenden, regulierten und stabilen Finanzsektors, der den Bedürfnissen der Realwirtschaft gerecht wird.

5.2   Solche potenziellen Hindernisse könnten im Rahmen der vorgenannten ständigen Dialoge ermittelt werden. Es könnten auch neue Anreize für verbesserungsbedürftige Bereiche vorgeschlagen werden.

5.3   Der Ausschuss unterstützt den Einsatz moderner öffentlicher Verwaltungsinstrumente zur Gewährleistung einer wirksamen Umsetzung der Europa-2020-Strategie und einer umfassenden Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner. Zu diesen Instrumenten gehören u.a.:

5.3.1    Festlegung von Bezugswerten, Zielen und Fristen: Der Ausschuss ist sich der Tatsache bewusst, dass derzeit in vielen Fällen konkrete und messbare Ziele fehlen und die Fristen zu knapp bemessen sind. Er spricht sich für die Festlegung von klaren und konkreten Zielen und für realistische Zeitvorgaben für deren Erreichung aus. Präzise Bezugswerte sind von wesentlicher Bedeutung, um die Messung der Wirkung der Europa-2020-Strategie zu erleichtern. Zu diesem Zweck empfiehlt der Ausschuss, verstärkt auf ESPON zurückzugreifen.

5.3.1.1   Die Kommission sollte die Fortschritte mitverfolgen und von ihrem Recht zur Warnung Gebrauch machen, sollte ein Mitgliedstaat den vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommen.

5.3.2    Benchmarking und Indikatoren : Der Ausschuss betont erneut, wie wichtig es ist, Fortschritts- und Erfolgsindikatoren einzusetzen – ergebnisorientierte, quantitative, aber auch qualitative Indikatoren sind erforderlich.

5.3.2.1   Ein solches Benchmarking, das auf den Zielen der nationalen Reformprogramme basieren und von Interessenträgern in Zusammenarbeit mit Regierungsvertretern erstellt würde, könnte konkrete Informationen für die Messung der Fortschritte der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Europa-2020-Strategie liefern. Jeder nationale WSR bzw. jede vergleichbare Einrichtung müsste seine/ihre eigenen prioritären Kriterien analysieren und festlegen. Einige nationale WSR führen bereits in regelmäßigen Abständen ein Benchmarking durch und greifen dabei auf Statistiken zurück, die auf der Website von Eurostat kostenlos zugänglich sind. Andere nationale WSR könnten diesem Beispiel folgen.

5.3.2.2   Der Ausschuss erklärt sich bereit, auf seiner Website (CESLink-Website) (14) eine digitale Plattform für den Austausch von Informationen und Daten bereitzustellen.

5.3.2.3   Ferner erklärt sich der EWSA bereit, jährlich eine Konferenz zu veranstalten, auf der die Ergebnisse des Benchmarking analysiert werden könnten.

5.3.3    Regelmäßige Bewertung der Umsetzung und Auswirkung der politischen Maßnahmen : Mithilfe des Benchmarking könnten die Interessenträger die Umsetzung der Reformen stets mitverfolgen. Es würde auch angemessene Informationen für die Überarbeitung der nationalen Reformprogramme liefern und die Ermittlung bewährter Verfahrensweisen in den Mitgliedstaaten erleichtern.

6.   Verbreitung bewährter Verfahrensweisen

6.1   Nach Auffassung des Ausschusses sollte der Austausch bewährter Verfahrensweisen auf EU-Ebene nachdrücklich gefördert werden. Aus diesem Grund führt er Informationsbesuche in den Mitgliedstaaten durch, um den Austausch bewährter Verfahrensweisen und die Umsetzung der Reformen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erörtern und zu fördern.

6.2   Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Interessenträger neue Formen des Austausches von bewährten Verfahrensweisen entwickeln sollten: Eine Vernetzung auf mehreren Ebenen würde bedeuten, dass ein Informationsaustausch mit den verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsebenen stattfinden kann, und im Rahmen einer engeren Zusammenarbeit zwischen Grenzregionen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ließen sich grenzüberschreitende Ziele festlegen. Darüber hinaus ist eine Analyse der bewährten Verfahrensweisen erforderlich, um sie auch im länderspezifischen Kontext in anderen Mitgliedstaaten umsetzen zu können.

6.3   Der Ausschuss ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, durch den Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel neue Schritte zur Förderung des grenzüberschreitenden Austausches bewährter Verfahrensweisen zu unternehmen (z.B. Datenbanken mit Beispielen für bewährte Verfahren, Leistungsanzeiger usw.). Dies setzt jedoch voraus, dass die Mitgliedstaaten einen angemessenen europäischen Rahmen annehmen, der eine solche Vorgehensweise ermöglichen würde. Erforderlichenfalls sollte die Schaffung innovativer Instrumente in Erwägung gezogen werden.

6.4   Der Ausschuss erklärt sich erneut bereit, sowohl als Plattform (14) für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen nationalen WSR, Sozialpartnern, Akteuren der Zivilgesellschaft und den europäischen Institutionen als auch als Plattform für den Austausch von Meinungen und Erfahrungen zwischen nationalen Interessenträgern zu fungieren. Bei dieser Gelegenheit bekräftigt der Ausschuss, dass er den Diskussionsbeiträgen der nationalen WSR und vergleichbarer Einrichtungen große Bedeutung beimisst.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Jahreswachstumsbericht 2012, KOM(2011) 815 endg. vom 23.11.2011.

(2)  „Jahreswachstumsbericht 2011: Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an“, KOM(2011) 11, 12.1.2011. Das KOM-Dokument enthält auch den Entwurf des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts.

(3)  Europäischer Rat 24./25. März 2011, Schlussfolgerungen, EUCO 10/1/11/rev. 1.

(4)  Anhang 1 zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24./25. März 2011, EUCO 10/1/11/rev. 1.

(5)  Für einige Mitgliedstaaten, die eine Finanzhilfe vonseiten der Euro-Länder und des IWF in Anspruch nehmen, empfahl die Kommission lediglich die Umsetzung ihrer Absichtserklärung und der entsprechenden Aktualisierungen, in denen die wirtschaftspolitischen Bedingungen festgelegt sind, die als Grundlage für die Verteilung der Finanzhilfe dienen. Diese Finanzhilfe sollte mit der Erreichung der Ziele der Europa-2020-Strategie im Einklang stehen.

(6)  Europäischer Rat, 23./24. Juni 2011, Schlussfolgerungen, EUCO 23/11.

(7)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedstaaten 2011-2012, KOM(2011) 400 endg.

(8)  Ein erster „Integrierter Bericht zu der Strategie für die Zeit nach 2010“ wurde vom Ausschuss mit Blick auf die Konzipierung der neuen europäischen Strategie für die Zeit nach 2010 vorgelegt. Dieser Bericht wurde von der EWSA-Beobachtungsstelle für die Lissabon-Strategie erarbeitet und enthielt Beiträge nationaler Wirtschafts- und Sozialräte (WSR) und Partnerorganisationen sowie die EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die Lissabon-Strategie nach 2010“ (Berichterstatter: Wolfgang Greif).

(9)  EWSA-Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26-38.

(10)  Jahreswachstumsbericht 2012, KOM(2011) 815.

(11)  Ein Territorialpakt für die Europa-2020-Strategie ist ein Abkommen zwischen den Regierungsebenen eines Landes (lokale, regionale und nationale Ebene). Alle Parteien, die sich zu einem Territorialpakt zusammenschließen, verpflichten sich zur Koordinierung und Synchronisierung ihrer politischen Agenden, um ihr politisches Handeln und ihre verfügbaren Finanzmittel auf die Ziele der Europa-2020-Strategie auszurichten. Siehe http://portal.cor.europa.eu/europe2020/news/Pages/TPUsefuldocuments.aspx

(12)  Instrumente wie Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen, Stellungnahmen und Normen für Leitlinien, gemeinsame Ziele, gemeinsame Programme, Strukturfonds, Koordinierung der Politiken und Instrumente des außenpolitischen Handelns der EU.

(13)  Siehe insbesondere EWSA-Stellungnahme „Die Zukunft des Europäischen Sozialfonds nach 2013“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 8.

(14)  Siehe http://www.eesc.europa.eu/ceslink/


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/13


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zu Risikoteilungsinstrumenten für Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind“

KOM(2011) 655 endg. — 2011/0283 (COD)

2012/C 43/03

Hauptberichterstatter: Michael SMYTH

Der Rat beschloss am 8. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 177 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates hinsichtlich bestimmter Vorschriften zu Risikoteilungsinstrumenten für Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind

KOM(2011) 655 endg. — 2011/0283 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 25. Oktober 2011 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember (Sitzung vom 8. Dezember) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 128 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Kommission zur Änderung der Artikel 14 und 36 der Verordnung Nr. 1083/2006 zur Kenntnis. Zum einen wird dadurch der Einsatz von Risikoteilungsinstrumenten im Rahmen der indirekten zentralen Mittelverwaltung ermöglicht, und zum anderen können Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind, einen Teil der Mittel, die ihnen im Rahmen der kohäsionspolitischen Ziele „Konvergenz“ und „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ zugewiesen wurden, für die Bildung von Rücklagen und die Kapitalzuweisung für Darlehen und Garantien zur Verfügung stellen, die direkt oder indirekt von der EIB und anderen internationalen Finanzinstitutionen an Projektträger bzw. öffentliche und private Partner vergeben werden. Die für die operationellen Programme des Programmplanungszeitraums 2007-2013 festgelegten Höchstbeträge für die Unterstützung bleiben von den vorgeschlagenen Änderungen unberührt.

1.2

Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

2.   Begründung

2.1

Mit dem aktuellen Vorschlag würde die Genehmigung von Darlehen nach Artikel 36 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 für einen oder mehrere Schwerpunkte eines operationellen Programms durch die EIB oder durch andere internationale Finanzinstitutionen erleichtert, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem solche Darlehen aufgrund der Herabstufung der öffentlichen und privaten Kreditwürdigkeit eines Staates bzw. von Finanzinstituten der Mitgliedstaaten nicht verfügbar sind.

2.2

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass einschlägige Projekte und die Erholung der Wirtschaft unbedingt unterstützt werden müssen und befürwortet daher die Kommissionsvorlage.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine bessere Governance für den Binnenmarkt mittels verstärkter administrativer Zusammenarbeit: Eine Strategie für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Binnenmarkt-Informationssystems (‚Internal Market Information System/IMI‘)“

KOM(2011) 75 endg.

und zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems (‚IMI-Verordnung‘)“

KOM(2011) 522 endg. — 2011/0226 (COD)

2012/C 43/04

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Die Europäische Kommission beschloss am 21. Februar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Eine bessere Governance für den Binnenmarkt mittels verstärkter administrativer Zusammenarbeit: Eine Strategie für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Binnenmarkt-Informationssystems (‚Internal Market Information System/IMI‘)

KOM(2011) 75 endg.

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 14. September 2011 bzw. am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 114 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems (‚IMI-Verordnung‘)

KOM(2011) 522 endg. — 2011/0226 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 172 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Absicht der Kommission, die Governance für den Binnenmarkt durch eine verstärkte Verwaltungszusammenarbeit zu verbessern, indem das Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) ausgebaut und weiterentwickelt wird und ein unmittelbar nutzbares elektronisches Netz für die verschiedenen Verwaltungen geschaffen wird.

1.2   Der EWSA stellt mit Zufriedenheit fest, dass im Verordnungsvorschlag Regeln für die Nutzung des IMI bei der Verwaltungszusammenarbeit aufgestellt werden, die u.a. die Funktionen der verschiedenen Nutzer des IMI, den Informationsaustausch, die Meldeverfahren, die Warnmechanismen und die Vereinbarungen über gegenseitige Amtshilfe betreffen.

1.3   In Anbetracht der Art der ausgetauschten Daten befürwortet er ferner die Einrichtung von Mechanismen zum Schutz der Privatsphäre, die u.a. die Aufbewahrungsfrist für die ausgetauschten Daten und das Recht auf Benachrichtigung und Berichtigung umfassen.

1.4   Bei diesem grundlegenden Rechtsrahmen sollten die Begriffsbestimmungen in Artikel 5 um den Begriff „IMI-Daten“ ergänzt werden, definiert als Daten aus dem wirtschaftlich-beruflichen Bereich, die sich auf die Ausübung wirtschaftlicher und beruflicher Aktivitäten im Binnenmarkt beziehen und die über das IMI ausgetauscht werden. Diese Daten sind in den Richtlinien vorgesehen, in deren Bereich das IMI die Verwaltungszusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden unterstützt.

1.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass das IMI entscheidend zur Veränderung der Verwaltungszusammenarbeit im Binnenmarkt und zur Anpassung an die Anforderungen und Erwartungen der Bürger und Unternehmen sowie der Organisationen der Zivilgesellschaft beitragen kann, und weist auf die Rolle hin, die Letztere künftig bei der Weiterentwicklung und dem Betrieb des Systems spielen können.

1.6   Daher empfiehlt er, bei der Entwicklung des Systems kenntlich zu machen, welche Daten objektiv sind und sich auf die Bedingungen für die Ausübung wirtschaftlicher und beruflicher Aktivitäten in den verschiedenen Mitgliedstaaten beziehen, um diese Daten allen Bürgern und Unternehmen zugänglich machen zu können.

1.7   Nach dem Verständnis des EWSA erfordert die in den IMI-relevanten Richtlinien vorgesehene Verwaltungszusammenarbeit im Wesentlichen und neben anderen Schritten einen Informationsaustausch zwischen Behörden, wobei - und darauf ist zu insistieren - die europäischen Datenschutzvorschriften einzuhalten sind. Er spricht sich jedoch entschieden gegen die im Verordnungsvorschlag vorgesehene Möglichkeit aus, die ausgetauschten Daten auch zu verarbeiten, und zwar aus zwei Gründen: einerseits weil in keiner der Richtlinien, auf die sich das IMI erstreckt, die Notwendigkeit der Datenverarbeitung zum Zweck der darin geregelten Verwaltungszusammenarbeit vorgesehen ist, und andererseits, weil die von der Kommission genannten praktischen Erfordernisse der Aufsicht und Kontrolle der Funktionsweise des IMI-Systems seines Erachtens keineswegs ausreichend sind, um eine so erhebliche Ausdehnung des Umfangs dessen, was mit den ausgetauschten personenbezogenen Daten geschieht, zu rechtfertigen, die bis zur Erstellung unabhängiger, separater Dateien im Wege der Datenverarbeitung reichen kann.

1.8   Schließlich empfiehlt der Ausschuss angesichts des quantitativen Sprungs, den dieses System bedeutet, der Zahl der Teilnehmer und des Informationsflusses, ein grundlegendes Streitbeilegungssystem für den Fall „transnationaler“ Divergenzen vorzusehen. Mit Hilfe eines solchen Systems - selbst einfacher Art - könnten die eventuellen Verantwortlichkeiten im Falle einer Fehlfunktion oder einer mangelhaften Verwaltung des Systems klargestellt werden, was zu einer größeren Rechtssicherheit für die Bürger führen würde.

2.   Erläuterungen zur Sache

2.1   Das Binnenmarkt-Informationssystem („IMI“) ist eine über Internet zugängliche Software-Anwendung, die von der Europäischen Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten entwickelt wurde (und im Europäischen Wirtschaftsraum anzuwenden ist), um diese dabei zu unterstützen, die in Rechtsakten der Union festgelegten Anforderungen an den Informationsaustausch in der Praxis zu erfüllen; dies erfolgt durch ein zentralisiertes Kommunikationsverfahren, das einen grenzüberschreitenden Informationsaustausch und die Amtshilfe erleichtert.

2.2   Das ursprünglich als „Projekt gemeinsamen Interesses“ errichtete IMI ist als ein flexibles und dezentralisiertes System konzipiert, das leicht zur Unterstützung verschiedener Bereiche der Binnenmarktvorschriften herangezogen werden kann, die auf dem Gebiet der Verwaltungszusammenarbeit erlassen wurden.

2.3   Die grundlegenden Prinzipien des IMI-Systems sind:

a)

Wiederverwendbarkeit

b)

organisatorische Flexibilität

c)

einfache vereinbarte Verfahren

d)

Mehrsprachigkeit

e)

Benutzerfreundlichkeit

f)

Datenschutz und

g)

keine IT-Kosten für die Nutzer.

2.4   Dieses System wird derzeit für die Verwaltungszusammenarbeit im Rahmen der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (1) und der Dienstleistungsrichtlinie (2) eingesetzt. Außerdem wird es probeweise im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern (3) angewandt werden.

2.5   Das IMI-System kann derzeit nicht von Verbrauchern oder Unternehmen genutzt werden. Es handelt sich um ein Instrument, das ausschließlich für die Behörden konzipiert wurde, die für die von ihm abgedeckten spezifischen Bereiche zuständig sind.

2.6   Der EWSA hat sich bereits zu der Mitteilung der Kommission „Die Vorteile des Binnenmarkts durch engere Verwaltungszusammenarbeit erschließen (4) geäußert (5) und den stärker dezentralisierten, netzgestützten Ansatz in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit begrüßt, den das Binnenmarktinformationssystem für den Binnenmarkt bedeutet.

3.   Die Mitteilung der Kommission

3.1   Nach Ansicht der Kommission müssen die Verwaltungen der Mitgliedstaaten im Rahmen einer gegenseitigen Amtshilfe und des Informationsaustauschs eng zusammenarbeiten, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten.

3.2   Unter den 50 Vorschlägen in ihrer Mitteilung „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte (6) kündigte die Kommission die Schaffung eines elektronischen „Face-to-face“-Netzes der europäischen Verwaltungen mit Hilfe einer Strategie zur Ausdehnung des IMI an, das auf einem mehrsprachigen Informationssystem fußt.

3.3   Das IMI ist im Hinblick auf seine jeweilige Organisation in den einzelnen Mitgliedstaaten flexibel. Die dezentralisierte Struktur des IMI-Netzes fordert von jedem Teilnehmerland, einen nationalen IMI-Koordinator (NIMIC) für die gesamte IMI-Projektkoordination zu benennen.

3.4   Das Potenzial des IMI beruht auf der Möglichkeit:

neue Politikbereiche aufzunehmen,

neue Funktionen zu entwickeln,

das IMI mit anderen IT-Systemen zu vernetzen und

die bestehenden IMI-Funktionen für neue Zwecke zu nutzen.

3.5   Sollte in einem bestimmten legislativen Bereich kein Informationssystem zur Unterstützung der Verwaltungszusammenarbeit bestehen, hat ein Rückgriff auf das IMI anstelle der Entwicklung eines neuen zweckorientierten Systems viele Vorteile:

a)

höhere Kosteneffizienz

b)

größere Benutzerfreundlichkeit

c)

schnellere und besser vorhersehbare Lösungen

d)

größere Sicherheit und

e)

niedrige Schwelle für Pilotprojekte.

3.5.1   Neue Bereiche können in unbegrenzter Zahl in das IMI aufgenommen werden, allerdings stößt eine Ausweitung des Systems an organisatorische Grenzen, da die weitere Entwicklung geplant und die konzeptuale Kohärenz des Systems gewahrt werden müssen, wobei folgende Kriterien herangezogen werden sollten:

die neue Nutzergruppe sollte vorzugsweise mit bestehenden Nutzergruppen verbunden sein oder sich mit ihnen teilweise überschneiden,

Vorzug sollten jene neuen Bereiche erhalten, die die bestehenden Funktionen nutzen können;

falls die Aufnahme eines neuen Rechtsbereichs die Entwicklung neuer Funktionen notwendig macht, sollte dies auf generische Art und Weise erfolgen, sodass das neue Modul für andere Nutzergruppen leicht angepasst werden kann,

die Kosten sollten mit dem sich aus der Nutzung des IMI für die neuen oder bestehenden Nutzergruppen ergebenden Mehrwert und mit den für die Bürger und Unternehmen entstehenden Vorteilen gerechtfertigt werden und

neue Bereiche und Funktionen bzw. Links zu anderen Instrumenten sollten das System für seine Nutzer nicht komplizierter machen.

3.6   Das IMI verfolgt den Grundsatz „privacy by design“ („mit eingebautem Datenschutz“), d.h. die Privatsphäre und der Datenschutz werden im System von Anfang an beachtet, wobei der Grundsatz der Zweckbindung streng eingehalten wird und angemessene Kontrollen durchgeführt werden.

3.7   Die Ausgaben für das IMI betreffen die Weiterentwicklung und Verbesserung des Systems, das Hosting des IMI im Datenzentrum der Kommission, die Wartung, Systemverwaltung, zweite Unterstützungsebene, Aus- und Weiterbildung, Kommunikation und Bewusstseinsschaffung.

3.8   Die Ausweitung des IMI auf neue Bereiche, die Aufnahme neuer Funktionen oder Schaffung von Links mit anderen Instrumenten dürfte nach Ansicht der Kommission das System für die Nutzer nicht komplizierter machen. Die Anforderungen für die Verwaltungszusammenarbeit sollten hinreichend klar und konkret sein. Auch sollte die Notwendigkeit eines IT-Instruments zur Unterstützung des Prozesses analysiert werden.

3.9   Die Kommission erachtet es als wichtig, dass das System über eine transparente und effiziente Governance-Struktur verfügt und alle Interessengruppen die Verfahren und Foren verstehen, mit und in denen an einer Einigung auf verschiedene Aspekte des Projekts gearbeitet wird. Hierfür sieht sie eine tägliche Verwaltung des Systems, politische Entscheidungen, eine Beratung und Orientierung durch Experten-Interessengruppen und einen Ausbau der Governance-Struktur vor.

3.10   Schließlich soll das System eine Systemleistung und -sicherheit auf hohem Niveau gewährleisten. Was die Leistungsfähigkeit anbelangt, muss bei einer wachsenden Zahl von Nutzern und einem steigenden Datenvolumen im IMI unbedingt gewährleistet werden, dass die Systemleistung auf hohem Niveau bleibt. Was die Sicherheit betrifft, so speichert und verarbeitet das IMI persönliche und sonstige Daten, die nicht öffentlich verfügbar sein sollen.

4.   Allgemeine Bemerkungen zur Kommissionsmitteilung

4.1   Der EWSA befürwortet das Konzept der Kommission für eine Strategie für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI“) mit dem Ziel der Förderung der Verwaltungszusammenarbeit.

4.1.1   Eine kohärentere Verwaltungszusammenarbeit im Binnenmarkt muss zumindest auf der Grundrechtecharta fußen, insbesondere auf den Grundsätzen gute Verwaltung, Zugang zu den Dokumenten, Datenschutz und den durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätzen.

4.1.2   Der EWSA weist jedenfalls darauf hin, dass die im Hinblick auf die persönlichen Daten ergriffenen Vorsichts- und Schutzmaßnahmen je nachdem, ob es sich um Händler oder Unternehmer in ihrer Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer handelt, unterschiedlich streng sein sollten.

4.1.3   Zwar ist es richtig, dass mit dem IMI die herrschende Unsicherheit beseitigt wird, doch geschieht dies lediglich zugunsten der Behörden, nicht aber in Bezug auf die KMU oder andere Teile der Gesellschaft, auf die das System auch ausgedehnt werden sollte, wie das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 6. April 2001 anmerkt.

4.2   Der Datenschutz muss nicht nur konkret und genau geregelt werden, sondern im Sinne einer guten Rechtsetzung auch in anderen Vorschriften Berücksichtigung finden. Dies gilt im Allgemeinen für die Verfahren zur Umsetzung einer Gemeinschaftspolitik und im Besonderen für das IMI-System, das an sich ein komplexes Verfahren ist.

4.2.1   Hinsichtlich der Einreichung von Klagen sollte bei diesem Verfahren ein „Streitbeilegungssystem“ für den Fall „transnationaler“ Divergenzen vorgesehen werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, für einen raschen und effizienten Zugang zu einfachen und für die Betroffenen - seien es Bürger oder Unternehmer - kostengünstigen Möglichkeiten der Streitbeilegung zu sorgen.

4.3   Was den Zugang zum System zur „Bereitstellung und Einholung von Information“ betrifft, so sollte dieser sorgfältig geregelt werden, damit die entsprechende nationale Behörde verpflichtet ist, die Konsultation weiterzuleiten, nachdem per Standardformular ein begründeter Antrag gestellt wurde, sofern der Antragsteller ein legitimes Interesse daran nachweist.

4.4   Hinsichtlich der Synergien mit anderen bereits existierenden Informationsinstrumenten und Datenbanken für reglementierte Berufe, in die „Listen“ mit Berufen eingespeist werden, die in den einzelnen Mitgliedstaaten reglementiert sind, ist der EWSA der Auffassung, dass zusätzlich zu dieser „Liste“ auch alle für die Ausübung des jeweiligen Berufs zu erfüllenden Anforderungen (neben dem Abschluss auch die Zugehörigkeit zu einer Berufskammer, Versicherungen, Genehmigungen usw.) aufgenommen werden sollten. Auf diese Weise würden einige Konsultationen nahezu automatisch erfolgen und könnten Akteuren der Zivilgesellschaft zugänglich sein. Der EWSA hofft diesbezüglich, dass diese Aspekte im Text der derzeit erörterten Richtlinie berücksichtigt werden.

4.4.1   Diese Notwendigkeit lässt sich aus dem Jahresbericht 2010 über das IMI-System selbst ableiten, in dem auf die Herausforderung hingewiesen wird, die die Verwaltung der vielfältigen, im Dienstleistungsbereich zuständigen Behörden darstellt. Jede dieser Behörden sollte in ihrem konkreten Zuständigkeitsbereich (zumindest sollte eine grundlegende Unterscheidung zwischen Regulierung, Intervention und Überwachung vorgenommen werden) auf der Liste der reglementierten Berufe stehen.

4.5   Es sollten die eventuellen Verantwortlichkeiten im Falle einer Fehlfunktion oder einer mangelhaften Verwaltung des Systems aus Gründen von Fehlern, übermäßiger Verspätung, Berichtigungen usw. bei den ausgetauschten Informationen klargestellt werden, um die Rechtssicherheit und den rechtlichen Schutz der Bürger und der Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf personenbezogene Daten zu gewährleisten. Hierbei handelt es sich um einen in allen Mitgliedstaaten anerkannten allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, nämlich die vermögensrechtliche Haftung der Verwaltung für eine unzureichende Arbeitsweise der Behörden.

5.   Der Verordnungsvorschlag

5.1   Mit der von der Kommission vorgeschlagenen Verordnung werden folgende Ziele angestrebt:

a)

Schaffung eines soliden Rechtsrahmens für das IMI und Festlegung gemeinsamer Vorschriften, die ein effizientes Funktionieren des Systems gewährleisten;

b)

Schaffung eines umfassenden Datenschutzrahmens durch Festlegung der Vorschriften für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen des IMI;

c)

Erleichterung einer etwaigen künftigen Ausweitung des IMI auf weitere Bereiche des Unionsrechts und

d)

Klärung der Rolle der verschiedenen Akteure des IMI-Systems.

5.2   Mit der vorgeschlagenen Verordnung werden darüber hinaus die Grundprinzipien des Schutzes der über das IMI ausgetauschten Daten, einschließlich der Rechte der Betroffenen, in einem einzigen Rechtsinstrument festgelegt, wodurch für mehr Transparenz und Rechtssicherheit gesorgt wird. In dem Vorschlag werden Form und Mittel der Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des IMI genau festgelegt.

5.2.1   Eine Aufstellung der Rechtsakte der Union, in deren Rahmen derzeit das IMI zur Anwendung kommt, findet sich in Anhang I des Vorschlags. Bereiche, auf die das IMI gegebenenfalls künftig ausgeweitet werden könnte, sind in Anhang II aufgeführt.

5.3   Mit dem Vorschlag werden bessere Rahmenbedingungen für das Funktionieren des Binnenmarkts geschaffen durch Bereitstellung eines effizienten, benutzerfreundlichen Instruments, das die praktische Umsetzung unionsrechtlicher Vorschriften erleichtert, die eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission und einen Informationsaustausch auferlegen, wobei ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten gewährleistet wird.

5.3.1   Der Vorschlag enthält bestimmte gemeinsame Vorschriften für die Governance und Nutzung des IMI. Dies beinhaltet die Verpflichtung, für jeden Mitgliedstaat einen nationalen IMI-Koordinator zu ernennen, die Verpflichtung für die zuständigen Behörden, Anfragen rechtzeitig und angemessen zu beantworten, sowie die Vorschrift, dass über das IMI ausgetauschte Informationen in gleicher Weise als Nachweis herangezogen werden können wie vergleichbare Informationen, die im betreffenden Mitgliedstaat selbst eingeholt wurden.

5.3.2   Außerdem enthält der Vorschlag einen Mechanismus zur Ausweitung des IMI auf weitere Rechtsakte der Union, mit dem bezweckt wird, die nötige Flexibilität für die Zukunft und gleichzeitig ein hohes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten. Im Anschluss an eine Bewertung der technischen Durchführbarkeit, der Kosteneffizienz, der Benutzerfreundlichkeit und der Gesamtauswirkungen auf das System sowie gegebenenfalls der Ergebnisse einer etwaigen Testphase wird die Kommission ermächtigt, die Liste der in Anhang I genannten Bereiche im Wege eines delegierten Rechtsakts zu aktualisieren.

5.3.3   Die Aufgabe der Kommission ist die Gewährleistung von Sicherheit, Verfügbarkeit, Wartung und Entwicklung der Software und der IT-Infrastruktur des IMI. Die Kommission könnte aber auch eine aktive Rolle in den IMI-Arbeitsabläufen übernehmen, gestützt auf einschlägige Rechtsvorschriften oder anderweitige Regelungen für die Nutzung des IMI in einem bestimmten Binnenmarktbereich.

5.3.4   Hinsichtlich der Datenverarbeitung und Datensicherheit sollen mit dem Vorschlag Garantien in Bezug auf die Transparenz gegeben werden. Die personenbezogenen Daten sollten nicht länger zugänglich sein als nötig, weshalb eine maximale Aufbewahrungsdauer festgelegt wird, nach deren Ablauf die Daten, die fünf Jahre nach Abschluss des Verfahrens der Verwaltungszusammenarbeit automatisch gelöscht werden können, gesperrt werden.

5.3.5   Was den geografischen Anwendungsbereich anbelangt, kann beim IMI als flexiblem Instrument die Einbeziehung von Drittländern in den Informationsaustausch in bestimmten Bereichen oder eine Nutzung des Systems in einem rein nationalen Kontext zugelassen werden.

6.   Allgemeine Bemerkungen zum Verordnungsvorschlag

6.1   Der EWSA begrüßt den Verordnungsvorschlag, mit dem Vorschriften für die Nutzung des IMI zum Zwecke der Verwaltungszusammenarbeit festgelegt werden. Da es sich um eine unmittelbar anwendbare Vorschrift handelt, mit der ein allgemeiner Regelungsrahmen aufgestellt werden soll, äußert der Ausschuss jedoch Bedenken hinsichtlich zweier Probleme:

der mangelnden Genauigkeit einiger grundlegender Rechtsbegriffe und

der erheblichen Ausweitung der Befugnisse der IMI-Nutzer in Bezug auf die ausgetauschten Daten.

6.2   Das IMI ist im Wesentlichen eine mehrsprachige Software-Anwendung, mit der mehr als 6 000 zuständige Behörden miteinander verknüpft werden, die innerhalb angemessen kurzer Fristen Informationen über die Ausübungsbedingungen bestimmter wirtschaftlicher und beruflicher Aktivitäten in den jeweiligen Mitgliedstaaten austauschen.

6.2.1   Der materielle Austausch von Informationen über diese Software-Anwendung unterliegt Verfahrensmindestvorschriften, die in dem Vorschlag festgelegt sind. Weit über diesen spezifischen und begrenzten Zweck des Informationsaustauschs hinaus wird in dem Vorschlag gemäß Artikel 6 nun auch die Verarbeitung der ausgetauschten personenbezogenen Daten gestattet, obwohl in keiner der Richtlinien, auf die sich das IMI erstreckt und denen es dient, eine solche „Verarbeitung“ vorgesehen ist. Angesichts des Nichtvorhandenseins derartiger Bestimmungen in den Richtlinien spricht sich der Ausschuss dagegen aus, dass die ausgetauschten Daten auch verarbeitet werden dürfen.

6.2.2   Folglich stellt sich die Frage nach der Reichweite dieser neuen Befugnisse, die im Verordnungsvorschlag im Bereich der „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Artikel 2 Buchstabe b) der Richtlinie 95/46/EG gewährt werden.

6.2.3   Während die allgemeine Übertragung der Befugnis zur Verarbeitung der ausgetauschten personenbezogenen Daten auf die IMI-Nutzer in dem Artikel vorgesehen ist, geht der Verordnungsvorschlag an keiner anderen Stelle weder auf die Zwecke ein, die eine Datenverarbeitung rechtfertigen, noch auf eventuelle Garantien oder Einschränkungen, denen sie unterliegt.

6.2.4   Nur den in Erwägungsgrund 15 angegebenen Gründen lässt sich entnehmen, warum die Kommission nun die Datenverarbeitung zu den allgemeinen Zielen des IMI hinzufügt. Diese Gründe hält der EWSA vorbehaltlich späterer Präzisierungen und Klarstellungen für unzureichend, um die Übertragung einer Befugnis von so großer Tragweite zu rechtfertigen, insbesondere:

a)

die Überwachung der Nutzung des Systems durch IMI-Koordinatoren und die Kommission.

6.2.5   Nach Kenntnis des EWSA haben sowohl die IMI-Koordinatoren als auch die Kommission bereits jetzt Zugang zu den ausgetauschten Daten, sodass sie bereits spezifische Evaluierungen des Systems zur Bewertung der Reaktionszeit und der u.a. nach Sektor aufgeschlüsselten beteiligten Verwaltungen durchführen konnten.

6.2.6   Daher erscheint es unbeschadet späterer Klarstellungen nicht erforderlich, für die „Überwachung der Nutzung des Systems“ anhand der ausgetauschten Daten spezielle Dateien zu erstellen:

b)

Erhebung von Informationen über Verwaltungszusammenarbeit bzw. Amtshilfe im Binnenmarkt.

6.2.7   Diese Informationen sind bereits öffentlich über die Berichte der Kommission über das IMI-System zugänglich und wären zur Bewertung der Verwaltungszusammenarbeit nutzbar, von der sie eine rein instrumentelle Funktion abbilden:

c)

Schulungs- und Sensibilisierungsinitiativen.

6.2.8   Der EWSA ist der Auffassung, dass für derartige Initiativen keine „Verarbeitung“ der Daten (im Sinne der Richtlinie 95/46/EG) erforderlich ist, sondern eine bloße „Verwendung“ der im System enthaltenen Daten genügt.

7.   Auf Präzisionserfordernisse wird mit einem grundlegenden Konzept eingegangen, auf das wiederholt im Verordnungsvorschlag hingewiesen wird, nämlich dem der „personenbezogenen Daten“. Es ist im Zusammenhang mit dem Konzept der Richtlinie 95/46/EG zu sehen, das, so betrachtet, weit über die Erfordernisse des Funktionierens des IMI-Systems hinausgeht, das sich letztlich immer auf eine spezifische Kategorie dieser Daten bezieht, für die das gemeinsame Kriterium gilt, dass sie für die Ausübung wirtschaftlicher und/oder beruflicher Aktivitäten im Binnenmarkt relevant sind.

7.1   Daher sollte in dem Vorschlag der Begriffsumfang festgelegt werden. Hierbei sollte die Kategorie von „personenbezogenen Daten“ auf diejenigen eingeschränkt werden, die in den entsprechenden Richtlinien vorgesehen sind, in deren Bereich das IMI die Verwaltungszusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden unterstützt. Sie beziehen sich auf die Ausübung wirtschaftlicher und beruflicher Aktivitäten im Binnenmarkt. Aus diesem Grund sollte der Begriff den Begriffsbestimmungen in Artikel 5 hinzugefügt werden.

8.   In Erwägungsgrund 12 des Vorschlags wird darauf hingewiesen, dass das IMI ein Instrument ist, das „nicht der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung“ steht und es „externen Akteuren“ ermöglicht, „Auskünfte zu erteilen oder Daten abzurufen“. Der EWSA ist nicht mit diesem Ansatz einverstanden, da seines Erachtens gewisse Informationen den externen Akteuren - Bürgern, Unternehmen oder Organisationen - zugänglich sein sollten, sofern sie keine personenbezogenen Daten enthalten. Dieser Zugang sollte u.a. die Verwaltungsauflagen des Landes umfassen, in dem geschäftliche oder berufliche Beziehungen aufgebaut werden sollen.

8.1   Die Zugänglichkeit dieser Informationen schließt keineswegs den Zugang zu anderen Daten und schon gar nicht die Verarbeitung dieser Daten ein, wie die Definition des Begriffs „externe Akteure“ in Artikel 5 Buchstabe i) des Vorschlags nahezulegen scheint.

8.2   Diesen externen Akteuren sollte das Recht zuerkannt werden, eine Informationsanfrage an den nächsten IMI-Nutzer zu richten, sodass dieser verpflichtet ist, diese im System weiterzuleiten, sofern dieser externe Akteur sein Interesse mit geschäftlichen oder beruflichen Beziehungen mit dem Land rechtfertigt, für das die Informationen angefordert werden.

9.   In Artikel 4 des Vorschlags wird die Kommission ermächtigt, die Verwaltungszusammenarbeit in das IMI aufzunehmen, die in den in Anhang II aufgeführten Vorschriften vorgesehen ist. Hierzu gehört u.a. die künftige Verknüpfung der Handelsregister; der diesbezügliche Vorschlag ist noch nicht verabschiedet worden. Angesichts der Tragweite dieser eventuellen Maßnahme hält es der EWSA für erforderlich anzugeben, auf welche Art von Rechtsakt bei der Ausweitung des IMI zurückgegriffen werden soll.

10.   Auf der Grundlage der Definition von „externe Akteure“ und im Einklang mit dem oben Gesagten schlägt der EWSA vor, diese Definition folgendermaßen umzuformulieren:

Definition externer Akteure als Bürger, Unternehmen oder Organisationen, die eine mit dem Gegenstand einiger der in das System aufgenommenen Richtlinien zusammenhängende Anfrage an einen IMI-Nutzer richten, der diese weiterleiten muss;

Gewährleistung des Zugangs externer Akteure zu den Informationen des Systems, die keine personenbezogenen Daten enthalten;

ausdrücklicher Ausschluss der Verarbeitung der Informationen, zu denen sie Zugang erhalten haben.

11.   Der EWSA begrüßt es im Sinne eines guten Funktionierens des Binnenmarktes, dass Informationen, die eine zuständige Behörde über das IMI aus einem anderen Mitgliedstaat erhalten hat, in Verwaltungsverfahren dieselbe Beweiskraft besitzen.

12.   Was die Ausübung der Rechte der Betroffenen betrifft, bedauert der EWSA, dass der Vorschlag keine Einheitslösung enthält, sondern darin auf die Pflichten der zuständigen Behörden verwiesen wird, die auf unterschiedliche Weise in den nationalen Datenschutzvorschriften geregelt sind. Ebenso ist er der Ansicht, dass die Möglichkeit der Aufbewahrung der Daten unter Festlegung unterschiedlicher Fristen nicht für das Funktionieren des Binnenmarkts und für die Ausübung der Rechte der Bürger geeignet ist.

13.   Der EWSA hält es im Hinblick auf den Informationsaustausch mit Drittstaaten für erforderlich klarzustellen, ob die in Artikel 22 Absatz 1 des Vorschlags festgelegten Bedingungen alle zugleich oder wahlweise zu erfüllen sind. Im zweiten Fall sieht der EWSA keinen Grund dafür, dass ein Beschluss der Kommission über die Hinlänglichkeit und Gleichwertigkeit des Datenschutzes in einem Drittstaat einen ausreichende Grundlage bilden sollte, um das IMI auf diesen Drittstaat auszuweiten - im Gegensatz zu den anderen Voraussetzungen, die insofern ausreichend sind, als es sich hierbei um die in das IMI aufgenommenen Richtlinien bzw. ein internationales Abkommen handelt, worin ein externer Datenaustausch vorgesehen ist.

14.   Im Interesse einer größeren Rechtssicherheit sollten die aufgehobenen und die weiterhin geltenden Vorschriften über das Funktionieren des IMI-Systems im verfügenden Teil und nicht in den Erwägungsgründen des Verordnungsvorschlags genannt werden.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Richtlinie 2005/36/EG (ABl. L 255 vom 30.9.2005, S. 22).

(2)  Richtlinie 2006/123/EG (ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 36).

(3)  Richtlinie 96/71/EG.

(4)  KOM(2008) 703 endg.

(5)  Stellungnahme des EWSA (ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 103).

(6)  KOM(2010) 608 endg.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer Raumfahrtstrategie der Europäischen Union im Dienst der Bürgerinnen und Bürger“

KOM(2011) 152 endg.

2012/C 43/05

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Die Europäische Kommission beschloss am 4. April 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Auf dem Weg zu einer Weltraumstrategie der Europäischen Union im Dienst der Bürgerinnen und Bürger“

KOM(2011) 152 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 174 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erachtet den Weltraum als eine unersetzbare strategische Ressource, mit der die EU ihren Bedürfnissen im sozialen, wirtschaftlichen und sicherheitsspezifischen Bereich gerecht werden kann, und als wertschöpfenden Wachstums- und Innovationsmotor, der hochqualifizierte Arbeitsplätze und innovative Dienstleistungen schafft, Marktchancen auch in anderen Industriesektoren eröffnet und die Forschung unterstützt, die ihrerseits Innovation für die Industrie produziert.

1.2   Der EWSA weiß um die Bedeutung einer wettbewerbsfähigen Raumfahrtindustrie einschließlich der gesamten Wertschöpfungskette, also von der Herstellung, über Start und Flugbetrieb bis hin zu Anwendungen und Diensten.

1.3   Der EWSA erkennt an, dass die Weltraumpolitik in die geteilte Zuständigkeit der EU mit den Mitgliedstaaten fällt, die auch eigene Initiativen in diesem Bereich verwirklichen. Der Ausschuss spricht sich für eine stärkere Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten, auch jenen, die nicht der ESA angehören, aus, um deren einzelne Maßnahmen und Kompetenzen in der Raumfahrt zu koordinieren. Es sollte auch die Möglichkeit geprüft werden, dass Staaten, die nicht Mitglied der ESA sind, an den Kooperationsprogrammen, wie z.B. an der Internationalen Raumstation ISS, teilnehmen.

1.4   Der EWSA begrüßt daher die Bemühungen, das Fundament der Europäischen Raumfahrtpolitik (ESP) dadurch auszubauen, dass es dank den einschlägigen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon mit den EU-Gründungsverträgen und im Rahmen der Europa-2020-Strategie mit der europäischen Industriepolitik sowie im Rahmen der Initiative Horizont 2020 mit dem Bereich der Forschung und Innovation verknüpft wird.

1.5   Das globale Überwachungsprogramm GMES ist die Voraussetzung dafür, dass Europa seine Unabhängigkeit bei der Sammlung von Daten und Informationen über das System Erde sowohl in Echtzeit als auch über auf Jahrzehnte angelegte Beobachtungsserien bewahrt, um die Überwachung und die Sicherheit der Umwelt und der Erde zu gewährleisten und die Mechanismen zu verstehen, die dem Klimawandel zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund nimmt der EWSA mit großer Besorgnis zur Kenntnis, dass die Haushaltsmittel für das GMES nicht im mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 aufgeführt sind und ersucht die Kommission um Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel, damit ein Zusammenbruch dieses Programms verhindert werden kann.

1.6   Der EWSA weiß um die zentrale Rolle, die die Europäische Weltraumorganisation (ESA) als Sammelstelle für das technische und wissenschaftliche Fachwissen und die Führungskenntnisse spielt, die zusammen die Grundlage für eine erfolgreiche Durchführung der Weltraumprogramme bilden.

1.7   Andere wichtige Organisationen sind EUMETSAT als Lieferant von Wetterdaten ebenso wie die European Environment Agency  (1) (EEA) und das European Centre for Medium-range Weather Forecasts  (2) (ECMWF).

1.8   Der EWSA weist auf den maßgeblichen Beitrag des Raumes für Sicherheit und Recht hin. Er betont die Notwendigkeit, den Erfordernissen der gemeinsamen Verteidigungspolitik auch durch Entwicklung neuer Kooperationsprogramme und Infrastrukturen Rechnung zu tragen (3).

1.9   Der EWSA sieht die Notwendigkeit, den Wert der eigenen Weltrauminfrastruktur durch die Entwicklung des europäischen Weltraumlageerfassungssystems (SSA) zu schützen.

1.10   Im Bereich der Erforschung und Nutzung des Weltraums sollten die Zusammenarbeit mit den langjährigen Partnern der EU verstärkt und möglichst bilaterale Abkommen mit den aufsteigenden Weltraummächten wie China, Indien und Brasilien geschlossen werden.

1.11   Die internationale Zusammenarbeit im Weltraum ist nicht nur für die Förderung der europäischen Technologie und Weltraumdienste sondern auch für die Verbreitung der sozialen und humanitären Werte der EU ein zentraler Faktor.

1.12   Die Forschung ist nicht nur ein Grundwert Europas, sondern trägt auch ganz entscheidend zur Entwicklung einer Eigenständigkeit Europas im Bereich der Schlüsseltechnologien bei, die für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auf dem Weltmarkt unverzichtbar ist.

1.13   Forschungsinvestitionen der EU müssen durch die Schaffung eines gemeinsamen strategischen Rahmens für die Finanzierung von Forschung und Innovation noch wirksamer gestaltet werden.

2.   Einleitung

2.1   In der Mitteilung wird der rechtliche, wirtschaftliche, soziale und strategische Rahmen für die Europäische Raumfahrtpolitik (ESP) abgesteckt und dabei die Verbindung zu den Grundlagen der Europäischen Union, d.h. zum Vertrag von Lissabon, zur Industrie- und Forschungspolitik der EU und zur gemeinsamen Verteidigungspolitik hergestellt.

2.2   Es werden die vorrangigen Maßnahmen genannt, welche die ESP prägen sollen. Es wird ein Überblick über die internationale Dimension der ESP gegeben, und die entsprechenden Governance-Erfordernisse werden analysiert. So ebnet die Kommission mit ihrer Mitteilung den Weg zur Festlegung und Umsetzung eines europäischen Raumfahrtprogramms.

2.3   In der Mitteilung kündigt die Kommission an, dass sie im Jahr 2011 einen Vorschlag für ein europäisches Raumfahrtprogramm vorlegen und die Umsetzung der vorgeschlagenen Strategie vorbereiten wird (Industriepolitik, Durchführung von Weltraumaktivitäten).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Raumfahrtindustrie macht rund 1,1 % des EU-Haushalts und rund 5 % der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie aus.

3.2   Trotz ihres relativ kleinen Ausmaßes wird die wirtschaftliche, strategische und soziale Bedeutung des Weltraums mittlerweile sowohl von der Europäischen Kommission als auch vom Europäischen Parlament umfassend anerkannt: Europa ist als Raum des Wohlstands nicht vorstellbar ohne die Unterstützung und den Antrieb, der von seiner Führungsposition in der Raumfahrt ausgeht, die neben positiven wirtschaftlichen Auswirkungen (im Durchschnitt das Doppelte der Investitionsquoten mit Spitzenwerten von bis zu 4,5 Mal, wie etwa in Norwegen (Quelle: OECD 2011)) auch eine Zulieferindustrie für unersetzliche und gesellschaftlich nützliche Anwendungen schafft: Wetterbeobachtung, Navigation, Standortbestimmung, Kontrolle des Luftverkehrs und der Flotten, Agrarwirtschaft und Raumplanung, humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz, nationale Sicherheit, Grenzkontrollen, u.a.

3.3   In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, hätte ein Investitionsabbau in diesem Sektor im Vergleich zu den absolut minimalen Vorteilen in Form absoluter Einsparungen den schwerwiegenden Folgeeffekt, den Fundus an wissenschaftlichem Wissen und industriellen Kapazitäten verkommen zu lassen, den Europa in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Sektor aufgebaut hat.

3.4   Die Entwicklung einer Eigenständigkeit Europas im Bereich der Schlüsseltechnologien und ein unabhängiger Zugang zum Weltall werden als äußerst wichtige Ziele angesehen, die einer aktiven Unterstützung bedürfen.

3.5   Angesichts der aufstrebenden neuen Weltraummächte wie China, Indien, Brasilien u.a. muss sich Europa ein strategisches Konzept geben, um seine herausragende Position in der Raumfahrt und seine Glaubwürdigkeit gegenüber seinen wichtigsten Partnern, insbesondere den USA und Russland, zu behaupten.

3.6   Mit den großen Leitprogrammen GMES und Galileo kann Europa auch weiterhin ein Zugpferd in den im Zusammenhang mit der Nutzung von Satellitennavigationssystemen und den Erdbeobachtungsdiensten strategisch wichtigen Bereichen sein.

3.7   Die Lösung der Finanzierung des GMES-Programms ist heute eine vorrangige Frage und darf nicht verschoben werden, da ansonsten die konkrete Gefahr besteht, dass Investitionen, die Europa während eines Jahrzehnts in den heute immer wichtigeren Bereich der Erdbeobachtung getätigt hat, umsonst gewesen wären. Auf diese Weise würden Europa, seine Industrien und seine Forschung die errungene Führungsrolle einbüßen.

3.8   Auch die Programme zur Erforschung des Weltraums als Versuchslabor für die Erprobung zukunftsfähiger Technologien könnten von der aktuellen Krise der EU-Staaten gefährdet werden. Deshalb muss dringend darauf geachtet werden, dass die Kontinuität in diesem Sektor erhalten bleibt.

3.9   Tabelle 1 veranschaulicht beispielhaft und nicht erschöpfend die Größenordnung der Investitionen in die Raumfahrt in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten der ESA im Jahr 2009. Diese Investitionen liegen im Durchschnitt bei einem Prozentsatz zwischen 0,01 und 0,05 % des BIP (Quelle: OECD 2009). Im Vergleich dazu investieren Großmächte wie China, Russland und die Vereinigten Staaten einen bedeutend höheren Anteil, nämlich 0,12 %, 0,20 % bzw. 0,31 %. Für Russland und China ist dieser Anteil in den Jahren 2005-2009 sogar doppelt so groß. In Europa setzt sich Frankreich durch einen höheren Investitionsanteil ab, der 0,1 % des nationalen BIP entspricht (Quelle: OECD).

Tabelle 1

2009 Raumfahrtbudget der Länder mit den größten Beiträgen zur ESA

(in Mio. EUR)

Land

Raumfahrtbudget (4)

Beitrag zur ESA (5)

FR

1 960

(716)

DE

1 190

(648)

IT

685

(369)

UK

350

(269)

ES

190

(184)

BE

170

(161)

Finanzmittel der ESA 2009 insgesamt

3 600

 

3.10   Die ESA verfügt über das technische Wissen und die Fähigkeit, Weltraumprogramme aufzustellen und durchzuführen und die Entwicklung neuer Technologien und Anwendungen zu fördern. Sie betreibt viele von ihr entworfene Systeme, insbesondere im Bereich Wissenschaft und Forschung. Für Infrastrukturen der großen operationellen Programme wie Galileo und GMES ist die Kommission als Betreiberin zuständig. Auch obliegt es der Kommission, das Wissen über die Anwendungen aus den Weltraumprogrammen unter den potenziellen Nutzern, Industrien wie Bürgern, in unterschiedlichen Bereichen (wie etwa Umwelt, Verkehr, Landwirtschaft, Energie, Sicherheit) zu verbreiten.

3.11   EUMETSAT ist ein wichtiges Element der Aktionsfähigkeit Europas.

3.12   Andere zwischenstaatliche Einrichtungen sind die Europäische Umweltagentur (EEA) und das Europäische Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW), die beide Vertragsparteien der Vereinbarung über die Nutzung der GMES-Daten und -Dienste sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die Stützpfeiler der Europäischen Raumfahrtpolitik (ESP) sind ihr rechtlicher und industriepolitischer Rahmen, ihre internationale Dimension, die Governance, ihr Bezug zur europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und eine angemessene und nachhaltige Finanzierung.

4.2   Der Rechtsrahmen der ESP ist im Lissabon-Vertrag verankert.

4.2.1   Durch Artikel 189 EUV erhält die Union ein umfassendes Mandat zur Festlegung einer Raumfahrtpolitik sowie für Vorschläge konkreter Maßnahmen in Form eines europäischen Raumfahrtprogramms.

4.2.2   Die Generaldirektion Unternehmen und Industrie (DG ENTR) verwaltet unmittelbar die Raumfahrtpolitik der EU und das Programm Galileo.

4.2.3   Die Verordnung zur Einrichtung des Programms GMES (6) legt die Regeln für seine Durchführung und die Finanzausstattung für seine Entwicklung und seine ersten operativen Tätigkeiten im Zeitraum von 2011 bis 2013 fest. Die technische Koordinierung und Umsetzung der GMES-Weltraumkomponente wird der ESA übertragen; diese nimmt dabei gegebenenfalls die Unterstützung durch EUMETSAT in Anspruch.

4.3   Der industriepolitische Rahmen

4.3.1   Die Raumfahrtindustrie macht rund 5 % der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie aus (die zu 92 % von der Luftfahrtindustrie dominiert wird). Die Produktionsleistung der gesamten Luft- und Raumfahrtindustrie lag in Europa bei rund 130 Mrd. EUR, von denen 6 für die Raumfahrt bestimmt sind (Daten aus dem Jahr 2008, Quelle: Ecorys Report to the EC). In Europa sind rund 375 000 Menschen in der Luft- und Raumfahrtindustrie und 31 000 in der Raumfahrtindustrie beschäftigt (Quelle: OECD 2011), die sich durch hohe Qualifikationen auszeichnen, da 35 % von ihnen Hochschulabsolventen, Ingenieure und Manager sind.

4.3.2   Die Raumfahrtindustrie spielt für die Innovation, insbesondere für die Entwicklung neuer Technologien und Materialien, eine unersetzbare Rolle.

4.3.3   Der industriepolitische Rahmen der Europäischen Raumfahrtpolitik ist die Europa-2020-Strategie.

4.3.4   In deren Leitinitiative, die in der Mitteilung (KOM(2010) 614 endgültig) skizziert wird, wird die Raumfahrt als „ein Motor für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Dienste der Bürger“ bezeichnet. Darin wird auch ausdrücklich auf die Programme Galileo/EGNOS und GMES als gut eingeführte Programme verwiesen. Ihr Abschluss und ihre Fortsetzung über 2013 hinaus sollten im Einklang mit den Vorschlägen für den mehrjährigen Finanzrahmen Gegenstand von Rechtsetzungsvorschlägen im Jahr 2011 sein. Weltraumgestützte Infrastrukturen gelten als ein für die Sicherheit der Bürger wesentliches Instrument. Als Instrument für die Erfassung der Weltraumlage fungiert das SSA-Programm (SSA = Space Situational Awareness).

4.3.5   Die Satellitenkommunikation ist aufgrund ihrer Auswirkung auf die Verbreitung des Breitbands ein Schlüsselsektor der Raumfahrtindustrie und trägt zu den Zielen der Digitalen Agenda für Europa bei.

4.4   Internationale Zusammenarbeit

4.4.1   Wie in der Gründungsverordnung vorgesehen stellt das GMES-Programm den europäischen Beitrag zur Errichtung des Global Earth Observation System of Systems  (7) (GEOSS) dar, der von der Group on Earth Observations  (8) entwickelt wurde.

4.4.2   Die mit Afrika eingegangene Partnerschaft wird durch die Nutzung von EGNOS, GMES und der Telekommunikationsinfrastruktur Auswirkungen auf entscheidende Bereiche wie Ressourcenmanagement, Sicherheit, Kartographie, Geodäsie, Telekommunikation und Information haben.

4.4.3   Der Löwenanteil der institutionellen Investitionen in die Raumfahrt entfällt auf die G7, die 2009 nach Angaben der OECD 53 Mrd. US-Dollar dafür aufbrachten. Allein der Beitrag der Vereinigten Staaten betrug 44 Mrd. Dollar, von denen 17 Mrd. auf die NASA entfielen. Die restlichen 9 Mrd. wurden von den übrigen G7-Staaten beigetragen.

4.4.4   Es liegt auf der Hand, dass neben den traditionellen Akteuren wie USA, Russland und Japan auch die neuen aufstrebenden Mächte wie Brasilien, Indien China, deren Raumfahrtbudget zusammen 7,2 Mrd. US-Dollar beträgt (9), im Weltraum eine wichtige Rolle spielen. Das Budget der Russischen Föderation umfasst 2,5 Mrd. US-Dollar.

4.4.5   Zum Vergleich: Die ESA verfügte 2009 über ein Budget von 3,6 Mrd. EUR (siehe auch Tabelle 1).

4.4.6   Europa praktiziert eine „unbeschränkte und offene“ Politik der Datenverbreitung, die durch die ESA im Rahmen des GMES-Programms zur Anwendung gebracht wird.

4.5   Governance

4.5.1   Gemäß Artikel 189 AEUV stellt die Union „die zweckdienlichen Verbindungen zur Europäischen Weltraumorganisation her“; sie stärkt darüber hinaus deren Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten und koordiniert die Anstrengungen zur Erkundung und Nutzung des Weltraums.

4.5.2   Die ESA ist eine zwischenstaatliche Organisation mit demnächst 19 Mitgliedern. Die Mitgliedschaft ist nicht auf EU-Mitgliedstaaten (siehe Schweiz) oder europäische Länder beschränkt (auch Kanada hat ein Partnerschaftsabkommen mit der ESA). Die Verwaltung der ESA-Mittel funktioniert nach dem Prinzip des geografischen Mittelrückflusses („geographic return“), d.h. sie investiert über Industrieaufträge für Raumfahrtsprogramme in jedem Mitgliedsstaat Beträge, die mehr oder weniger den ESA-Beitragsgeldern des jeweiligen Landes entsprechen. Dieses Prinzip hat bislang die Verbindlichkeit umfangreicher Mittel seitens der Mitgliedstaaten ermöglicht. Auch die Personalstruktur folgt einem ähnlichen „fair return“-Prinzip (angemessene Gegenleistung), auch wenn die Voraussetzungen dafür nicht ganz so stichhaltig sind wie bei den Industrieaufträgen, da im Grunde ja nicht das Personal die nationalen Interessen vertreten oder diesen gerecht werden muss. Und so neigt die EU mittlerweile auch dazu, den Grundsatz der Summe nationaler Interessen zugunsten eines europäischen Zusatznutzens (10) aufzugeben.

4.5.3   Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der ESA ist in einem Rahmenabkommen niedergelegt, das im Mai 2004 in Kraft trat (ABl. L 261, 6.8.2004). Die Europäische Kommission und die ESA koordinieren ihre Aktivitäten durch das gemeinsame Sekretariat, das aus Verwaltungsräten der Kommission und Mitgliedern des ESA-Lenkungsgremiums besteht. Die Mitgliedstaaten der beiden Organisationen treffen sich auf Ministerebene im Weltraumrat, eine gemeinsame Tagung des Rates der Europäischen Union und des Rats der ESA. Der Weltraumrat wird von Vertretern der Mitgliedstaaten in der hochrangigen Gruppe „Raumfahrtpolitik“ vorbereitet. Die ESA unterhält ein Verbindungsbüro in Brüssel, um die Verbindungen zu den europäischen Institutionen zu erleichtern.

4.5.4   Der „Weltraumrat“ hat den Aufbau enger Beziehungen zwischen der ESA und der Kommission ermöglicht.

4.5.5   EUMETSAT ist eine zwischenstaatliche Organisation mit derzeit 26 Mitgliedern. Sie fasst ihre Beschlüsse in einem Rat aus Vertretern der meteorologischen Dienste der Mitgliedstaaten, die auch die Aktivitäten finanzieren. Die Beiträge sind proportional zum Bruttonationaleinkommen des jeweiligen Mitgliedstaats gestaffelt. Im Haushaltsplan 2010 waren Mittel in Höhe von ca. 300 Mio. EUR eingestellt.

4.5.6   Andere zwischenstaatliche Einrichtungen werden durch die Europäische Umweltagentur (EEA) und das Europäische Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW) vertreten, die beide Vertragsparteien der Vereinbarung über die Nutzung der GMES-Daten und –Dienste sind.

4.6   Forschung und Innovation

4.6.1   Forschung ist ein Grundwert der europäischen Kultur. Forschung und Innovation tragen zu Beschäftigung, Wohlstand und Lebensqualität bei. Forschung ist ferner eine Grundlage der Unabhängigkeit Europas bei den Schlüsseltechnologien. Der Weltraum gilt als privilegierter Bereich, in dem Beziehungen zwischen akademischer Forschung und industrieller Innovation und der Entwicklung bahnbrechender Technologien geknüpft werden.

4.6.2   Die Finanzierung der Weltraumforschung ist Bestandteil der Forschungsfördersysteme der EU. Im Bereich der Anwendungen ist Europa gleichwohl unzureichend vertreten, weshalb darauf hingewirkt werden muss, dass sich die europäische Forschungsfähigkeit in neuen und innovativen Anwendungen niederschlägt.

4.6.3   Der Forschungshaushalt der EU wird überwiegend mit dem Siebten Forschungsrahmenprogramm (2007-2013) finanziert und beträgt 50,5 Mrd. EUR. Etwa 3 % des 7. RP (1,4 Mrd. EUR) sind für Weltraumforschung vorgesehen.

4.6.4   Nach dem Entwurf des mehrjährigen Finanzrahmens für 2014-2020 wird die Finanzierung für Forschung und Innovation in einem gemeinsamen strategischen Rahmen für Forschung, Innovation und technologische Entwicklung („Horizont 2020“) zusammengefasst; die Forschungsförderung für den Programmplanungszeitraum steigt dabei auf 80 Mrd. EUR.

4.6.5   Die EU setzt sich in der Europa-2020-Strategie das ehrgeizige Ziel, 3 % des jeweiligen BIP in die Forschung fließen zu lassen.

4.7   Sicherheit und gemeinsame Verteidigung

4.7.1   Die weltraumgestützten Infrastrukturen liefern für die Sicherheit und Verteidigung grundlegende Dienste, insbesondere in den Bereichen Krisenprävention und –bewältigung, wie in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik anerkannt wird.

4.7.2   Die Sicherheit der Weltrauminfrastrukturen wird durch den zunehmenden Weltraumschrott gefährdet. Die ESA für den zivilen Teil, und die EVA für den militärischen Teil, haben Programme für das europäische Weltraumlageerfassungssystem (SSA) eingeleitet. Die EU erarbeitet derzeit einen internationalen Verhaltenskodex für Weltraumaktivitäten (Code of Conduct for Outer space activities).

4.8   Europäisches Weltraumprogramm - Haushaltsrahmen

4.8.1   In der zu prüfenden Mitteilung wird die Möglichkeit erwogen, im Juni 2011 einen Vorschlag für ein europäisches Raumfahrtprogramm in den mehrjährigen Finanzrahmen einfließen zu lassen. Der im Juni 2011 vorgelegte Haushaltsplan für 2014-2020 war auf die Erfüllung der europäischen Agenda 2020 ausgerichtet (11).

4.8.2   Der Vorschlag für ein europäisches Raumfahrtprogramm wird darin zwar nicht explizit genannt, allerdings sind Bestimmungen für GMES und Galileo enthalten.

Mehrjähriger Finanzrahmen, Rubrik 1 (Intelligentes und integratives Wachstum): 7 Mrd. EUR für Galileo.

Außerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens: Finanzierung von GMES mit einem Haushalt von 5,8 Mrd. EUR.

Dieser Vorschlag zur Finanzierung von GMES außerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens steht in eindeutigem Gegensatz sowohl zu den Empfehlungen im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (SEC(2011) 868 endg. vom 29.6.2011), welches die Mitteilung „Ein Haushalt für Europe 2020“ begleitet, als auch zu den Empfehlungen des EU-Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ vom 31. Mai 2011.

4.8.3   Zu klären ist noch, wie die für GMES vorgesehenen Haushaltsmittel gesichert werden können, um zu verhindern, dass ein für die künftige Wettbewerbsfähigkeit Europas unverzichtbares Programm im strategisch wichtigen Bereich der Erdbeobachtung verloren geht, das bislang ein Jahrzehnt an Arbeit und Investitionen in Höhe von 3 Milliarden Euro gekostet hat. In den Schlussfolgerungen der 3094. Tagung des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Weltraum) vom 31. Mai 2011 heißt es, dass „die Kommission einen Vorschlag für die Finanzierung dieser Leitprogramme (GMES und Galileo, Anm.d.R.) als Teil des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens erarbeiten wird“ und „dass beide Programme als europäische Programme, für die die EU verantwortlich zeichnet, auch weiterhin aus dem EU-Haushalt finanziert werden sollten“.

4.8.4   Der im mehrjährigen Finanzrahmen skizzierte Ansatz wird vor Ende 2011 in den Legislativvorschlägen für die Ausgabenprogramme und -instrumente in den einzelnen Politikbereichen detailliert dargelegt.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Europäische Umweltagentur.

(2)  Europäisches Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW).

(3)  „Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen. Die Politik der Union nach diesem Abschnitt berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) verwirklicht sehen, aus dem Nordatlantikvertrag und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ (Vertrag über die Europäische Union, Titel V, Kapitel 2, Abschnitt 2, Artikel 42 Absatz 2).

(4)  Quelle: OECD;

(5)  Quelle: ESA

(6)  Verordnung (EU) Nr. 911/2010, ABl. L 276 vom 20.10.2010, S. 1.

(7)  Globales Überwachungssystem für Erdbeobachtungssysteme.

(8)  Gruppe Erdbeobachtung.

(9)  China: 6,1 Mrd. US-Dollar, Indien: 861 Mio. US-Dollar, Brasilien: 205 Mio. US-Dollar.

(10)  Siehe Ziffer 166 der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2011 zu „Investition in die Zukunft: ein neuer mehrjähriger Finanzrahmen (MFR) für ein wettbewerbsfähiges, nachhaltiges und inklusives Europa“: „… dass die Art und Weise der Entwicklung des Systems der Eigenmittel, bei der die wirklichen Eigenmittel schrittweise durch die sogenannten ‚nationalen Beiträge‘ ersetzt wurden, einen unverhältnismäßigen Schwerpunkt auf die Nettosalden zwischen den Mitgliedstaaten legt und damit dem Grundsatz der Solidarität der EU widerspricht, das gemeinsame europäische Interesse verwässert und den europäischen Zusatznutzen weitgehend ignoriert…“

(11)  KOM(2011) 500 endg. Teil I, Ein Haushalt für „Europa 2020“.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/25


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2010“

KOM(2011) 328 endg.

2012/C 43/06

Berichterstatter: Paulo BARROS VALE

Die Europäische Kommission beschloss am 10. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Bericht der Kommission — Bericht über die Wettbewerbspolitik 2010

KOM(2011) 328 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 116 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1.1   Der EWSA wertet jährlich den Bericht der Kommission über die Wettbewerbspolitik aus und nutzt die Gelegenheit, eine Reihe von Überlegungen und Vorschlägen zu äußern, die im Laufe der Zeit von den Behörden berücksichtigt wurden. Dies hat zu verschiedenen Anpassungen beigetragen, die zu einer merklichen Effizienzsteigerung geführt haben. Die vorliegende Analyse wird zu einem Zeitpunkt vorgenommen, zu dem das Projekt Europa vor großen Herausforderungen steht. Dabei wird den Risiken einer Zersplitterung oder – nach Meinung vieler – gar eines Endes des außergewöhnlichen Integrationsprozesses Rechnung getragen, der in etwas mehr als einem halben Jahrhundert erreicht wurde. Zwei Generationen lang haben die Europäer eine großartige Zeit des Friedens und des Wohlstands erlebt, die auf der Solidarität zwischen Ländern und Regionen und einem langen Prozess der Verwirklichung gemeinsamer Politiken beruhte. Angesichts der Wahl zwischen einem unabsehbaren Rückschritt und einem historischen Fortschritt müssen wir unsere Aufmerksamkeit nun auf die verschiedenen europäischen Politikbereiche richten, vor allem die Wettbewerbspolitik. Die mögliche Renationalisierung bestimmter Politikbereiche als Folge der Krise und des Konfliktpotenzials zwischen den Mitgliedstaaten und die protektionistischen Eingriffe der Regierungen in die Wirtschaft sind Szenarien, die nicht nur den Binnenmarkt stark beeinflussen würden, sondern auch die Wettbewerbspolitik, die ihre große Bedeutung, zumindest auf interner Ebene, bereits unter Beweis gestellt hat.

1.2   Diese jüngste Ausgabe des Berichts erscheint zu dessen 40. Jahrestag. Darin werden die wichtigsten Entwicklungen der Wettbewerbspolitik und ihre Bedeutung für die Ziele der EU aufgeführt: Schaffung des Binnenmarkts, Auswirkungen seiner Vorteile auf die Verbraucher als diejenige Gruppe, die daraus die meisten Vorteile ziehen kann, und Aufbau einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft. Der EWSA beglückwünscht die Kommission zu diesem Bericht und zu den Errungenschaften der letzten 40 Jahre. Er weist jedoch darauf hin, dass es in diesem Dokument vornehmlich darum zu gehen scheint, die bisherige Arbeit der Kommission zu loben, die, wie im Bericht festgestellt wird, aktuellen Fragen eine untergeordnete Rolle zuweist. Dieses Dokument ist zwar sicherlich positiv zu bewerten; es wäre aber nützlicher, die Stärken und Schwächen der bisherigen Arbeit zu untersuchen und zu beurteilen, möglicherweise sogar Vergleiche zwischen EU-Mitgliedstaaten und anderen relevanten Ländern anzustellen, statt nur einen Abriss der eigenen Erfolge zu bieten. Der 40. Jahrestag wäre für die Kommission die ideale Gelegenheit gewesen, anhand einer korrekten Analyse der Geschichte eine Modernisierung und Erweiterung der Wettbewerbspolitik vorzuschlagen: Sie hätte die Entwicklung analysieren können, die durch die beschleunigte Globalisierung hervorgerufen wurde, und sie hätte die Negativfolgen von Umstrukturierungen und Standortverlagerungen für Europa abschätzen können, die auf dem ungebremsten Raubbau an personellen, materiellen und ökologischen Ressourcen in jenen Teilen der Welt beruhen, in denen nicht die Werte der europäischen Gesellschaften gelten, sondern die Kaufkraft ausgenutzt wird, die Europa seinen Bürgern bis heute garantieren konnte.

1.3   Das Jahr 2010 stand weiterhin ganz im Zeichen einer Wirtschafts- und Finanzkrise, der sich eine Staatsschuldenkrise anschloss. Der EWSA weist auf mögliche Wettbewerbsstörungen hin, die zu einer Verlängerung der Krise und der einschlägigen befristeten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung führen können, und unterstreicht, dass es einer strengen Überwachung und frühestmöglicher angemessener Korrekturen bedarf. Wesentlich ist die Überwachung der Umsetzung der nationalen Konjunkturprogramme und ihrer Wettbewerbsfolgen mittels einer Bewertung der ergriffenen Maßnahmen: Nur so kann eine bewusste Entscheidung über die Zukunft der noch laufenden befristeten Maßnahmen zur Krisenbekämpfung herbeigeführt werden.

1.4   Der EWSA begrüßt die Entwicklungen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit, weist aber erneut darauf hin, dass ein fairer Außenhandel gewährleistet sein muss, bei dem die Drittstaaten nicht durch Sozial- oder Umweltdumping auf unangemessene Weise von der Liberalisierung des Handelaustauschs profitieren. Die Einhaltung der internationalen Regeln des fairen Handels und der fundamentalen Normen für den Umweltschutz sowie die Niederlassungsfreiheit und das Recht auf Gründung von Wirtschaftsverbänden müssen gewährleistet werden – und Europa spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die EU muss auch sicherstellen, dass die Regeln der WTO über ein Verbot aller Maßnahmen, die europäische Unternehmen am Zugang zu den unterschiedlichen Märkten hindern würden, rigoros eingehalten werden, indem sie Vorschriften zur Förderung der Chancengleichheit erlässt – ungeachtet der Größe, des Standorts und des steuerlichen Rahmens. Die Wettbewerbspolitik der EU muss in eine neue Phase eintreten, es müssen neue Prioritäten und neue Instrumente festgelegt und wirksamere Maßnahmen im Bereich des Handels mit Drittstaaten ergriffen werden. Der EWSA ist enttäuscht, dass seine früheren einschlägigen Forderungen nicht zur Erneuerung und Erweiterung der Vision der EU in diesem Bereich geführt haben.

1.5   Die rigorose Einhaltung der grundlegenden ILO-Übereinkommen über Gewerkschaftsrechte und -freiheiten, Kinderarbeit, unmenschliche Arbeitsbedingungen und Streikrecht muss umfassend gewährleistet werden. Auf interner Ebene müssen außerdem die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Bereichen Beschäftigung und Chancengleichheit angeglichen werden, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Der von der Krise stark betroffene Arbeitsmarkt erfordert die gesamte Aufmerksamkeit, damit das Ziel des integrativen Wachstums – eine Priorität der Strategie Europa 2020 – erreicht wird, indem die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen und die Mobilität gefördert werden.

1.6   Es wird auf eine Reihe von Entwicklungen im Bereich der Strategie Europa 2020 hingewiesen, deren sektorspezifische Instrumente und Tendenzen im Bericht dargelegt werden. Es werden die Risiken der Liberalisierung des Energiesektors herausgestellt, was die Qualität und Kontinuität der Versorgung wie auch den Preis betrifft. In Bezug auf die Digitale Agenda wird erneut betont, dass die Verwalter und Nutzer von elektronischen Kommunikationsdiensten ihre Kenntnisse verbessern müssen, damit sie aus den Anstrengungen in diesem Bereich den größtmöglichen Nutzen ziehen können.

1.7   Die Spekulation auf Rohstoffpreise hat gewisse Folgen gezeitigt, wenngleich hierauf im Bericht nicht eingegangen wird. Es ist wichtig, den Markt zu unterstützen, indem Instrumente zur Kontrolle der Preisschwankungen und zur Eindämmung ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb geschaffen oder angewendet werden.

1.8   Der EWSA äußert sich besorgt darüber, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Rolle als Regulierungsinstanzen in Bereichen, in denen die Preise in erheblichem Maße dem Schwanken der Rohstoffpreise unterliegen und sich die Zunahme der Kosten für Rohstoffe sofort und unmittelbar auf die Endpreise auswirkt, die Senkung der Kosten aber keine entsprechenden Folgen zeitigt, nicht wahrnehmen können. Wegen ihrer Marktnähe müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden als zentrale Schnittstellen für wettbewerbspolitische Maßnahmen dienen, indem sie die Maßnahmen auf die regionalen Märkte konzentrieren.

1.9   Es ist darauf hinzuweisen, dass der Bereich der großen Einzelhandelsunternehmen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden überwacht werden sollte, da die Handelsmacht der wichtigsten Wirtschaftskonzerne zu gravierenden Wettbewerbsverzerrungen führen kann, wenn diese ihre dominierende Marktstellung missbrauchen. Auch wenn die Unternehmen frei entscheiden können, wie sie ihre Produkte vertreiben, besteht Anlass zur Sorge, dass in der Praxis Verträge geschlossen werden könnten, bei denen die großen Abnehmer die Preise festlegen, was offenkundig den Gesetzen und Regeln für ein Verhandlungsgleichgewicht widersprechen und allmählich den Produktionssektor und die kleinen Groß- und Einzelhändler zerstören würde.

1.10   Die Initiative des Weißbuchs von 2008 für Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts zeigt keine maßgebliche Wirkung; auch der Verbraucherschutz in diesem Bereich wird weiter geschwächt, die Verstöße gegen die Rechte der Verbraucher nehmen zu und bleiben ungeahndet. Deshalb ist es dringend geboten, die notwendigen EU-Legislativvorschläge in diesem Bereich vorzulegen, um einen wirksamen Schadensersatz bei kollektiven oder nicht klar abgegrenzten Schädigungen zu gewährleisten. Fairer Handel und lauterer Wettbewerb sind für die Verbraucher von entscheidender Bedeutung. Es müssen sachdienliche Informationen über die Qualität der Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt und Beschwerden erleichtert werden, um die Verbraucherrechte zu garantieren.

1.11   Der EWSA begrüßt die Arbeiten für ein europäisches Patent als Instrument zur Erleichterung des Zugangs zum Eigentumsschutz, da es wichtig ist, um FuE-Investitionen anzuregen, und hofft auf einen allgemeinen Konsens bei der Übernahme dieses neuen Systems des Eigentumsschutzes.

1.12   Die Selbstregulierung kann ein wirksames Mittel sein, um die Entwicklung bestimmter Märkte unter Förderung des fairen Handels zu stimulieren. Für den Umgang mit den Folgen von Entwicklungen der Märkte und ihrer Produkte und Dienstleistungen hat sie sich bereits als effektiver und flexibler erwiesen als einige Regelungen und Gesetze. In dem Bericht der Kommission wird nicht auf diese Möglichkeit eingegangen, die untersucht und erwogen werden sollte.

1.13   Im Falle der Regionen in Rand- oder Insellage der EU erschweren die Beförderungskosten für den Zugang zu den zentralen Märkten oft den gesunden Wettbewerb zwischen Unternehmen dieser Regionen und Unternehmen mit günstigerem Standort. Für derartige Fälle müssen Ausgleichsmaßnahmen und Instrumente zur Förderung der Chancengleichheit gefunden werden.

1.14   Der EWSA begrüßt die erklärte Absicht der Kommission, Änderungen im Bericht über Wettbewerbspolitik zu fördern, indem sie das Modell der bloßen Aufzählung allgemein bekannter Punkte aufgibt und jetzt den verschiedenen Forderungen des Ausschusses nachkommt. Es ist zu unterstreichen, dass der Inhalt des Dokuments auf einem strategischeren Ansatz beruhen sollte, um den Weg für eine Debatte zu bereiten, die sich nicht auf das Wettbewerbsrecht, sondern die Wettbewerbspolitik bezieht.

1.15   Der EWSA fragt sich jedoch, weshalb im Bericht der Europäischen Kommission nicht darauf hingewiesen wird, dass öffentliche Stellen, die in Bereichen tätig werden, die privatwirtschaftlichen Unternehmen offenstehen, den europäischen Verträgen gemäß zur Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften angehalten werden müssen.

2.   Inhalt des Wettbewerbsberichts 2010

2.1   Der Bericht ist in sechs Abschnitte gegliedert: Instrumente, Entwicklungen in einzelnen Wirtschaftszweigen, europäisches Wettbewerbsnetz und Zusammenarbeit mit einzelstaatlichen Gerichten, internationale Tätigkeiten, Dialog mit den Verbraucherorganisationen und Beteiligten, interinstitutionelle Kooperation.

2.2   Instrumente

2.2.1   Anwendung des vorübergehenden Beihilferahmens

2.2.1.1   Als Reaktion auf die Schwierigkeiten im Finanzsektor infolge der Staatsschuldenkrise wurde die Anwendung der Fördermaßnahmen zur Erleichterung des Zugangs der Banken zu Finanzierungsmitteln verlängert. Die Bereitstellung staatlicher Garantien zur Erleichterung dieses Zugangs erwies sich als wirksames Mittel.

2.2.1.2   Auch die Maßnahmen zur Förderung des Zugangs zur Finanzierung seitens der Unternehmen wurden verlängert, aber zahlenmäßig begrenzt und auf KMU eingeschränkt.

2.2.1.3   Es ist dringend notwendig, die Folgen und realen Vorzüge dieser Maßnahmen zu ermitteln. Dies wäre eine Grundlage, auf der die Vor- und Nachteile der Gewährung solcher Hilfen und ihre Wettbewerbsfolgen sowie die Relevanz der Fortsetzung der Hilfen im Jahr 2012 beurteilt werden könnten.

2.2.2   Programme zur Anpassung der Wirtschaft

2.2.2.1   Im Zuge der Programme zur Anpassung der Wirtschaft in Griechenland und Irland wurden Wettbewerbsmaßnahmen auferlegt. Im Falle Griechenlands betrafen diese die Reform der nationalen Wettbewerbsbehörden, die Öffnung reglementierter Berufe und ein neues Investitionsgesetz. Im Falle Irlands wurden Gesetzesänderungen zur Aufhebung der Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen in derzeit durch nationales Recht geschützten Bereichen zur Auflage gemacht.

2.2.2.2   Die Überschuldung der Länder ist natürlich eine Quelle für Wettbewerbsverzerrungen, weil sie der Aktivität bestimmter Wirtschaftsakteure Vorschub leistet. Obendrein wird dadurch, dass die Bürger zu größeren Anstrengungen aufgefordert werden, die für den Ausgleich der öffentlichen Haushalte wichtig sind, ihre Position im Vergleich zu anderen geschwächt. Die Hilfen für Griechenland und Irland, zu denen die Hilfen für Portugal hinzugekommen sind, verdienen weiterhin besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Auswirkungen dieser Maßnahmen im Hinblick auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen.

2.2.3   Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften

2.2.3.1   Die Wettbewerbsvorschriften wurden nach den von der Kommission vorgenommenen Änderungen an den vertikalen und horizontalen Gruppenfreistellungsverordnungen streng angewandt.

2.2.3.2   In Rahmen des Weißbuchs von 2008 zu Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts wurde entgegen der vom EWSA in mehreren Stellungnahmen erhobenen Forderung nach Schaffung eines kollektiven Wiedergutmachungs- und Entschädigungsverfahrens (Sammelklage auf Gemeinschaftsebene) beschlossen, eine neuerliche öffentliche Anhörung einzuleiten, von der nicht zu erwarten ist, dass sie zur Ermittlung gemeinsamer Grundsätze führen wird, welche dann bei der Erarbeitung von Legislativvorschlägen über kollektiven Rechtsschutz berücksichtigt werden sollten. In diesem Bereich müssen dringend rechtliche Lösungen zum Schutz von Verbrauchern und Unternehmen gefunden werden.

2.2.3.3   Erwähnenswert ist, dass 70 Unternehmen (27 mehr als 2009) infolge der sieben Kartellentscheidungen Geldbußen erhielten und eine erste Kartellentscheidung im Markt für Gesundheitsdienstleistungen gefällt wurde.

2.2.3.4   Die Bekämpfung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung war Anlass für 4 Entscheidungen im Energiesektor und die Aufnahme mehrerer Verfahren in der Informations- und Kommunikationstechnologiebranche (IKT).

2.2.4   Fusionskontrolle

Aufgrund der Wirtschaftskrise war die Zahl der Unternehmenszusammenschlüsse im Jahr 2010 relativ niedrig. 274 Transaktionen wurden der Kommission gemeldet, 16 Entscheidungen an Bedingungen geknüpft und kein Verbot ausgesprochen.

2.2.5   Beihilfenkontrolle

2.2.5.1   Die meisten 2010 gebilligten Beihilfen betrafen horizontale Ziele von europäischem Interesse (Kultur und Erhalt des Kulturerbes, regionaler Zusammenhalt, Umweltschutz, Forschung, Entwicklung, Innovation und Beseitigung von durch Naturkatastrophen entstandenen Schäden).

2.2.5.2   Erwähnenswert ist die Veröffentlichung des Handbuchs über „Die Durchsetzung des EU-Beihilfenrechts durch die einzelstaatlichen Gerichte“, das zum Ziel hat, den Richtern in den Mitgliedstaaten die Arbeit zu erleichtern und so auf die steigende Zahl von Beihilfeprozessen vor einzelstaatlichen Gerichten zu reagieren.

2.3   Entwicklungen in einzelnen Wirtschaftszweigen

2.3.1   Im Bereich der Finanzdienstleistungen war die Umsetzung des vorübergehenden Rechtsrahmens die wichtigste wettbewerbspolitische Maßnahme. Es wurden nur einige wenige Fusionsfälle untersucht, die mit den Umstrukturierungsbedingungen für die Gewährung von staatlichen Beihilfen im Zusammenhang standen. Die Bemühungen um Finanzstabilität sind von wesentlicher Bedeutung und müssen fortgesetzt werden, obschon die Gefahren durch Marktspekulationsrisiken nicht unterschätzt werden dürfen, um eine Situation wie in den USA zu verhindern.

Als Konsequenz aus ihrer bisherigen Arbeit erklärte die Kommission die von Visa unterbreiteten Verpflichtungsangebote in Bezug auf multilaterale Interbankenentgelte (MIF) für rechtsverbindlich.

2.3.2   Im November 2010 wurde im Rahmen der Strategie Europa 2020 die Energiestrategie für die nächsten zehn Jahre zur Schaffung eines Energiebinnenmarkts vorgelegt. Die Schaffung eines offenen und konkurrenzfähigen Markts in dieser Branche ist für die Verbraucher sicherlich von Nutzen, aber es ist darauf hinzuweisen, dass die Verbraucher über die Qualität und Kontinuität der Energieversorgung besorgt sind, insbesondere wenn die Dienstleistungen durch ausländische Unternehmen erbracht werden.

Im Einklang mit den Klima- bzw. Energiezielen der Strategie Europa 2020 wurden weiterhin Maßnahmen zur Erzeugung erneuerbarer Energien, Energieeinsparung und Sanierung schadstoffbelasteter Standorte gefördert.

2.3.3   Die Kommission brachte die Digitale Agenda für Europa auf den Weg, die in die Strategie Europa 2020 eingebettet ist und in erster Linie darauf abzielt, einen Binnenmarkt für Telekommunikationsdienste zu schaffen, unter besonderer Berücksichtigung der Angleichung von Roaminggebühren an nationale Verbindungsgebühren sowie eines allgemeinen Breitbandzugangs für alle Unionsbürger. Als große Herausforderungen erweisen sich jetzt die Erreichung eines ausgewogenen Wettbewerbs zwischen im elektronischen Handel tätigen Unternehmen und Kleinunternehmen sowie der Schutz der Verbraucher vor missbräuchlichen Praktiken. Das Vertrauen der Verbraucher in die Legitimität der Unternehmen, die Sicherheit des Zahlungsverkehrs und den Schutz personenbezogener Daten muss gestärkt werden.

2.3.4   Bezüglich des IKT-Markts konzentrierte die Kommission ihr Handeln auf die Bereitstellung von Leitlinien zu Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit als Mittel, den Wettbewerb auf dem Markt anzuregen und zu einem der Ziele der Strategie Europa 2020 – der Verfügbarkeit effizienter IKT-Produkte und -Dienstleistungen – beizutragen. Aufmerksamkeit verdient in diesem Bereich weiterhin die Ausbildung sowohl der Unternehmen als auch der Endnutzer zwecks Verbesserung ihrer Kompetenzen.

2.3.5   Im Bereich der Medien überwachte die Kommission weiterhin den Übergang vom analogen zum digitalen Rundfunk.

2.3.6   Angesichts der Dringlichkeit der Schaffung eines EU-Patents wurden die Arbeiten mit dem Ziel fortgesetzt, einen einheitlichen EU-weiten Patentschutz in der pharmazeutischen Industrie zu erreichen. Es wurde die Überarbeitung der „Transparenzrichtlinie“ angekündigt, die Anforderungen für die Preisfestsetzung und Kostenrückerstattung für Arzneimittel enthält.

2.3.7   Im Gesundheitsbereich wurden verschiedene Beschwerden von privaten Gesundheitsdiensten über eine im Verhältnis zu öffentlichen Diensten diskriminierende Behandlung geprüft. Allerdings wird nichts über die Ergebnisse dieser Verfahren gesagt.

2.3.8   Der von der Krise im Jahr 2009 schwer betroffene Verkehrssektor konnte sich 2010 erholen, wobei sich die Preise dem Vorkrisenniveau annäherten.

2.3.8.1   Im Luftverkehr wurden 2010 die von British Airways, American Airlines und Iberia angebotenen Verpflichtungen bezüglich Transatlantikstrecken rechtsverbindlich. Auch wurden die Zusammenschlüsse von British Airways mit Iberia und von United Airlines mit Continental Airlines genehmigt.

2.3.8.2   Im Schienenverkehr und im innerstaatlichen Verkehr wurde, um den Wettbewerb zu stärken, ein Vorschlag zur Überarbeitung des ersten Eisenbahnpakets angenommen, mit dem ein einheitlicher europäischer Eisenbahnraum geschaffen werden soll.

2.3.8.3   In Bezug auf den Seeverkehr wurde auf der Grundlage der Leitlinien für diesen Sektor und der Leitlinien für ergänzende staatliche Beihilfen eine Anschubfinanzierung für ein „Meeresautobahnen“-Vorhaben genehmigt, um den Schienenverkehr zwischen Frankreich und Spanien zu verlagern. Die Kommission brachte auch eine Studie über die Funktionsweise und öffentliche Finanzierung der Hafeninfrastruktur auf den Weg.

2.3.9   Die Frist für die vollständige Öffnung des Postmarkts wurde für elf Mitgliedstaaten verlängert. Dabei überwachte die Kommission weiterhin die Liberalisierung und achtete darauf, dass die Erbringer öffentlicher Dienstleistungen keine unrechtmäßigen Vorteile erhalten.

2.3.10   In der Automobilindustrie waren die Hauptanliegen im Bereich des Wettbewerbs die notwendige Umstrukturierung der Branche und die Unterstützung für die Entwicklung umweltfreundlicherer Autos.

Es wurde eine Gruppenfreistellungsverordnung in Bezug auf den Anschlussmarkt und den Neuwagenmarkt für vertikale Vereinbarungen zwischen Kfz-Herstellern und zugelassenen Händlern, Werkstätten und Ersatzteilanbietern gebilligt. Darüber hinaus wurden 15 Fusionen in der Automobilbranche genehmigt.

2.3.11   Als Reaktion auf die Wettbewerbsschwierigkeiten infolge der Unterschiede bei der Verhandlungsmacht zwischen Anbietern und Abnehmern im Lebensmittelvertrieb wurde das hochrangige Forum für die Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette eingerichtet.

Der Sektor wird zunehmend von Konzernen dominiert – zum klaren Nachteil von kleinen Unternehmen, die in preislicher Hinsicht nicht konkurrieren können, und von kleinen Einzelhändlern, Produzenten und Vertreibern, deren Gewinnmargen unter dem Druck der Konzerne wegbrechen. In diesem Sektor fehlen Vorsichtsmaßnahmen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Falle etwaiger Missbräuche der beherrschenden Stellung, die sich vernichtend auf den Markt auswirken. Es genügt deshalb nicht, bewährte Methoden zu ermitteln: Vielmehr muss das Handeln auf die Überwachung und Bestrafung von Praktiken, die einen Missbrauch der beherrschenden Stellung fördern, konzentriert werden.

2.4   Europäisches Wettbewerbsnetz und Zusammenarbeit mit einzelstaatlichen Gerichten

Das Europäische Wettbewerbsnetz setzte seine Tätigkeit fort und stellte so seine Bedeutung im Rahmen der Diskussion und des Austauschs bewährter Verfahren bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts unter Beweis. Neben der Einsetzung einer Arbeitsgruppe „Unternehmenszusammenschlüsse“ wurden die Gruppenfreistellungsverordnungen und die einschlägigen Leitlinien für horizontale Vereinbarungen und vertikale Beschränkungen überarbeitet.

2.5   Internationale Tätigkeiten

2.5.1   Die Anstrengungen zur internationalen Zusammenarbeit im Wettbewerbsbereich wurden fortgesetzt. Die Kommission beteiligte sich weiterhin am Internationalen Wettbewerbsnetz (ICN) und am Wettbewerbsausschuss der OECD. Die Zusammenarbeit mit den USA war sehr eng. Außerdem wurden Verhandlungen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Wettbewerbsfragen aufgenommen. Vorrang erhielten die Zusammenarbeit und die Gespräche über das Antimonopolgesetz mit China sowie die Zusammenarbeit der GD Wettbewerb mit Indien bezüglich wettbewerbsbeschränkender Absprachen, Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und Fusionskontrolle.

2.5.2   Schließlich ist auf die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zum Wettbewerbskapitel mit Kroatien und die Verabschiedung eines Gesetzes über staatliche Beihilfen durch das türkische Parlament hinzuweisen.

2.6   Dialog mit den Verbraucherorganisationen und Beteiligten

2.6.1   Das Internetportal der GD Wettbewerb, das Informationen für Verbraucher über die Bedeutung der Wettbewerbspolitik und ihre wichtigsten Initiativen und Ziele enthält, wurde in allen Amtssprachen in Betrieb genommen.

2.6.2   Die Europäische Beratende Verbrauchergruppe (EBVG) wurde zu vertikalen Beschränkungen konsultiert und nahm zu Schadenersatzklagen Stellung.

2.7   Interinstitutionelle Kooperation

2.7.1   Im Oktober trat eine neue Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission in Kraft.

2.7.2   Das Europäische Parlament nahm Entschließungen zum Wettbewerbsbericht 2008, zur Gruppenfreistellungsverordnung für den Kraftfahrzeugsektor, zu den horizontalen Vereinbarungen und zum Beschluss des Rates zur Erleichterung der Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlebergwerke an.

2.7.3   Der Rat wurde durch die Kommission über Wettbewerbsinitiativen unterrichtet, wobei besonderes Augenmerk auf krisenbezogene staatliche Beihilfen gelegt wurde.

2.7.4   Der EWSA leistete mit Stellungnahmen zum Bericht über die Wettbewerbspolitik 2008, zur Stilllegung nichtwettbewerbsfähiger Steinkohlebergwerke, zum Schiffsbau sowie zur Kfz-GVO seinen Beitrag zur wettbewerbspolitischen Debatte.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Sportboote und Wassermotorräder“

KOM(2011) 456 endg. — 2011/0197 (COD)

2012/C 43/07

Berichterstatter: Miklós PÁSZTOR

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 1. September bzw. am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Sportboote und Wassermotorräder

KOM(2011) 456 endg. — 2011/0197 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 8. Dezember) mit 143 gegen 7 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag für eine Richtlinie über Sportboote und Wassermotorräder. Er erachtet ihn als einen wichtigen Fortschritt auf dem Weg zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele der EU. Zwar bezieht sich diese Richtlinie auf einen Bereich , doch ihr Inkrafttreten wird einen Beitrag zur Verwirklichung mehrerer Querschnittsziele leisten. So trägt sie zum Beispiel zur Erreichung der Wettbewerbs- und Beschäftigungsziele der Europa-2020-Strategie bei. Durch die Verschärfung der Umweltschutzvorschriften wird die Verwirklichung der Ziele der Biodiversitäts- und der Luftqualitätsstrategie in einem wichtigen Bereich unterstützt.

1.2   Der EWSA hält es für besonders wichtig, dass durch die neuen Vorschriften trotz einer Verschärfung der Umweltanforderungen die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftszweiges erhöht wird, denn sie helfen ihm bei der Anpassung an die Erwartungen der Weltmärkte, wodurch die vorhandenen Wettbewerbsnachteile beseitigt werden. Der EWSA bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass sich bald in immer mehr Bereichen vergleichbare Synergien zwischen Qualitätsanforderungen und Wettbewerbsfähigkeit finden lassen werden. Ferner empfiehlt er eine engere Zusammenarbeit mit den transatlantischen Partnern, um für einen vergleichbaren Umgang mit Qualitätsparametern zu sorgen.

1.3   Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, für ein lückenloses und angemessenes Funktionieren der verschiedenen Stellen zu sorgen. Zugleich stellt der Ausschuss fest, dass die Formulierung in der Tat derart allgemein ist, dass dieselben Verfahren und Stellen auch bei anderen Gütern angewandt bzw. eingerichtet werden müssten.

1.4   Der EWSA stimmt außerdem generell den Einzelheiten des Richtlinienvorschlags zu. Er empfiehlt jedoch, folgende Punkte zu präzisieren:

es muss eindeutig klargestellt werden, dass die Sicherheits- und Emissionsvorschriften für alle Gewässer gelten, nicht nur für das Meer;

die Sicherheitsvorschriften beziehen sich auf alle betreffenden Arten von Wasserfahrzeugen;

bei Kleinmotoren kann auch eine kürzere Übergangsfrist vorgesehen werden;

was die Geräuschemissionen betrifft, sollte die Kontrolle lokaler Vorschriften auf EU-Ebene verstärkt werden.

1.5   Der EWSA bringt die Erwartung zum Ausdruck, dass sich die Europäische Union bemüht, im Bereich der Umweltvorschriften und -regelungen eine Vorreiterrolle zu spielen und der übrigen Welt ein Vorbild zu geben.

1.6   Aufgrund der im Rahmen der Erarbeitung der Richtlinie gesammelten Erfahrungen erwartet der EWSA von der Kommission, dass sie möglichst umfassende Gruppen in die Konsultationen einbezieht und dafür sorgt, dass die Fragebögen in allen Sprachen der Teilnehmer verfügbar sind und ausgefüllt werden können.

2.   Wesentlicher Inhalt des Richtlinienvorschlags

2.1   Mit dem Vorschlag der Kommission soll die 1994 verabschiedete Richtlinie über privat genutzte Sportboote in zweierlei Hinsicht neu geregelt werden: einerseits geht es um die Verschärfung der Umweltanforderungen, andererseits um eine Änderung des Rechtsrahmens.

2.1.1   Eine Änderung der Umweltvorschriften ist aus zwei Gründen wünschenswert. Einerseits aufgrund der gestiegenen Zahl von Wasserfahrzeugen und der damit verbundenen Umweltwirkung. In erster Linie haben die Stickoxidemissionen drastisch zugenommen, doch ist in den betreffenden geografischen Gebieten auch ein Anstieg anderer Schadstoffe zu beobachten. Andererseits deshalb, weil die lockeren Emissionsnormen der EU bereits heute einen Wettbewerbsnachteil auf dem Weltmarkt mit sich bringen, insbesondere im Verhältnis zu den USA, was die europäischen Exporteure in eine schwierige Lage bringt.

2.1.2   Infolge des Erlasses der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und des Beschlusses Nr. 768/2008/EG muss auch eine neue Richtlinie in Bezug auf Sportboote ausgearbeitet werden. Die genannten Vorschriften verpflichten die Kommission zu einer Harmonisierung sektorbezogener Rechtsvorschriften – betreffend die Pflichten der Wirtschaftsakteure, die Konformitätsbewertungsstellen und deren Kompetenzen, die Marktüberwachungsbehörden und die CE-Kennzeichnung –, insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung der mit den Folgenabschätzungen verbundenen Unsicherheiten. Hierdurch wird die Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöht.

2.2   Mit dem Vorschlag sollen einige Definitionen in dem zu regelnden Bereich besser als bisher festgelegt werden. Die Begriffe „Sportboot“ und „privat genutztes Wasserfahrzeug“ werden definiert, und die jeweiligen Ausnahmen aufgelistet. Außerdem werden die verschiedenen Marktakteure definiert.

2.3   Des Weiteren werden in dem Vorschlag im Detail die für die Bewertung der Konformität im Bereich Verbraucher- und Umweltschutz zuständigen Stellen sowie ihre Funktionsweise und ihre Kompetenzen behandelt. Insgesamt ermöglicht es der Vorschlag den lokalen und nationalen Behörden, die Vorschriften als Grundlage zu nehmen und im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip den örtlichen Möglichkeiten und Erfordernissen bei der Umsetzung Rechnung zu tragen.

2.4   Die Anhänge des Richtlinienvorschlags enthalten Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen, Umweltschutznormen und sonstige Verfahrensdokumente. All diese Bestimmungen sind auf die Sicherheitsbedingungen der Schifffahrt zugeschnitten. Die Schadstoffemissionsnormen werden verschärft und somit vergleichbaren US-amerikanischen Normen angepasst.

2.4.1   Im Richtlinienvorschlag wird jedoch nicht empfohlen, die Grenzwerte für Geräuschemissionen zu ändern. Dies ist damit zu erklären, dass sie sich aus einer Gesamtheit von Einflüssen ergeben, die sich nur schwer auf Unionsebene regeln lassen. Hier ist die Rolle örtlicher Vorschriften besonders wichtig.

2.5   Angesichts der Natur des Gegenstands wird in der Richtlinie der Europäischen Kommission das Recht vorbehalten, Änderungen an den technischen Unterlagen und Konformitätsverfahren in Bezug auf die in die Anhänge aufgenommenen Umweltschutzvorschriften vorzunehmen, mit Ausnahme der Grenzwerte. Hierdurch wird es möglich sein, sich mit der erforderlichen Flexibilität technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen anzupassen.

2.6   Ein wichtiger Aspekt der Richtlinie ist die für Hersteller und Händler vorgesehene Übergangsfrist, die ausreichend lang ist, damit diese sich auf die neuen Vorschriften einstellen können. Hierbei handelt es sich im Allgemeinen bei den Emissionsnormen um einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Inkrafttreten der Richtlinie. Die Anpassungsfrist kann für KMU, die Außenbordmotoren mit einer Leistung von weniger als 15 kW herstellen und in Verkehr bringen, um drei Jahre verlängert werden.

3.   Allgemeine Bewertung

3.1   Mit dem vorliegenden Vorschlag werden neue Vorschriften für einen Wirtschaftszweig eingeführt, in dem 37 000 Unternehmen mit 270 000 Mitarbeitern Endprodukte, Motoren und Bauteile herstellen (1) und der auch eine „Produktion für den Eigengebrauch“ als besondere Freizeitform umfasst. Gemäß der Begriffsbestimmung geht es darin um Wasserfahrzeuge mit einer Länge von 2,5 m bis 24 m, die nicht zur gewerblichen Beförderung von Passagieren dienen. In der Neuregelung bilden privat genutzte Wasserfahrzeuge mit einer Länge von bis zu 4 m eine gesonderte Kategorie, womit bisherige Lücken geschlossen werden sollen.

3.2   Der EWSA begrüßt die Anstrengungen der Kommission, entsprechend den allgemeinen Zielen auch in diesem Bereich die Anforderungen in Bezug auf den Umwelt- und Verbraucherschutz zu verschärfen. Glücklicherweise wird durch die neuen Vorschriften trotz einer Verschärfung der Umweltanforderungen die Wettbewerbsfähigkeit der Branche erhöht, sodass diese den Erwartungen der Weltmärkte gerecht werden und vorhandene Wettbewerbsnachteile überwinden kann. Der EWSA hofft, dass sich in immer mehr Bereichen bald vergleichbare Synergien zwischen Qualitätsanforderungen und Wettbewerbsfähigkeit finden lassen werden. Ferner empfiehlt er eine engere Zusammenarbeit mit den transatlantischen Partnern im Hinblick auf einen vergleichbaren Umgang mit Qualitätsparametern.

3.3   Zwar hat sich die Kommission bemüht, auf viele Fragen eine Antwort zu geben, und in vielen Punkten ist es ihr auch gelungen, doch stellt sich dennoch die Frage, auf welche geografische Einheit sich die Vorschriften eigentlich beziehen. Mehrere Anzeichen deuten darauf hin, dass auf den Bereich der Seeschifffahrt abgezielt wird. In der Richtlinie sollte deutlicher zum Ausdruck kommen, dass sie für Wasserfahrzeuge gilt, die auch in Binnengewässern genutzt werden können.

3.4   In dem Richtlinienentwurf werden sehr ausführlich die für die Konformitätsbewertungsstellen geltenden Grundsätze, deren Akteure und die Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Aufgaben behandelt. Der EWSA akzeptiert und begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, für ein lückenloses und angemessenes Funktionieren der verschiedenen Stellen zu sorgen. Seines Erachtens erfüllt der Richtlinienentwurf in diesem Bereich die Erwartungen.

3.4.1   Zugleich stellt der Ausschuss fest, dass der Text derart allgemein formuliert ist, dass er über die Ziele der Regelung der für Sportboote geltenden Instrumente hinausgeht. Im Prinzip könnten dieselben Verfahren und Stellen auch bei anderen Gütern angewandt bzw. eingerichtet werden. Die eigentlichen schifffahrtsspezifischen Bestimmungen stehen in den Anhängen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Zeit für einheitliche Verbraucherschutzvorschriften mit einer gemeinsamen Herangehensweise an all diese Verfahren und institutionellen Strukturen gekommen ist, damit die Sektorvorschriften wirklich branchenspezifischen Fragen Rechnung tragen können. Diese Vorgehensweise würde in großem Maße zur Verbesserung der Transparenz, der Klarheit und der Akzeptanz der europäischen Rechtsvorschriften beitragen.

3.5   Der EWSA befürwortet, dass der Kommission Befugnisse zur Änderung der Anhänge übertragen werden, sofern er im Fall einer Änderung das Recht auf Stellungnahme und auf Mitwirkung an den einschlägigen Arbeiten der Kommission behält.

3.6   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission insofern nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um alle betroffenen Akteure so umfassend wie möglich in die Konsultation einzubeziehen, als die schriftliche Konsultation ausschließlich auf Englisch durchgeführt wurde. Der EWSA erwartet von der Kommission, dass die Fragebögen künftig in allen betreffenden Sprachen verfügbar sein werden und ausgefüllt werden können.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Der EWSA stimmt den definierten Wasserfahrzeugkategorien und generell den Ausnahmen zu.

4.1.1   Allerdings fragt sich der Ausschuss, ob nicht auch in gewissem Maße die Emissionen von für Rennen bestimmten Wasserfahrzeugen geregelt werden sollten. Dies würde auch einen erheblichen Beitrag zur technischen Entwicklung leisten. Es könnte sich als gerechtfertigt erweisen, Emissionshöhen pro Leistungskategorie festzulegen.

4.1.2   Auch im Hinblick auf die gewerbliche Nutzung von Wasserfahrzeugen treten Fragen auf. Nach Ansicht des EWSA sollten die Sicherheits- und Emissionsnormen unabhängig vom Einsatzzweck des Wasserfahrzeugs gelten.

4.1.3   Der EWSA empfiehlt darüber hinaus, auch Wasserfahrzeuge ohne eigenen Antrieb ausdrücklich in den Vorschriften aufzuführen, da die Sicherheitsanforderungen für sie die gleichen sind wie für motorbetriebene Wasserfahrzeuge: Zwar sehen die technischen Lösungen anders aus, doch ist dies ohne Belang für die Normen.

4.2   Der EWSA stimmt den Schadstoffemissionsnormen zu und befürwortet deren Verschärfung. Der Ausschuss hält es jedoch für wichtig zu betonen, dass die Union entsprechend ihrer Verpflichtungen künftig nicht der Tendenz zur Verschärfung der Anforderungen folgen, sondern deren Vorreiter sein sollte. Dies sollte vor allem in den Umsetzungsberichten deutlich zum Vorschein treten, und eine der Aufgaben des „Ausschussverfahrens“ könnte darin bestehen, diese Richtlinie mit Innovationsmaßnahmen zu koppeln.

4.3   Der EWSA hält zur Bekämpfung der Geräuschemissionen ebenfalls eine Verschärfung örtlicher Vorschriften für erforderlich, zusammen mit der Möglichkeit einer Kontrolle auf Unionsebene unter Einbeziehung der Akteure der Zivilgesellschaft.

4.4   Der EWSA befürwortet die Übergangsfristen für die Marktakteure.

4.5   Der EWSA stimmt dem Vorschlag bezüglich der Konformitätsbewertungsstellen zu und hofft, dass diese nicht lediglich den Verwaltungsaufwand erhöhen, sondern wirksam dem Verbraucher- und Umweltschutz dienen werden. In solchen Fragen ist eine Selbstregulierung und die Arbeit von Ausschüssen, die die betreffenden Wirtschaftsakteure vertreten, aus seiner Sicht nicht ausreichend, wobei jedoch deren beratende Rolle durchaus gestärkt werden sollte.

4.5.1   Hierfür ist die neueste Informationstechnik anzuwenden, wozu die Kommission die Mitgliedstaaten ermuntern sollte.

4.6   Der EWSA befürwortet, dass alle in diese Kategorie fallenden Wasserfahrzeuge, einschließlich der für den Eigengebrauch gebauten Wasserfahrzeuge, den Konformitätsverfahren unterliegen.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Ein unabhängiges Erzeugnis, das in ein anderes Produkt eingebaut wird, aber auch getrennt verwendet werden kann.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

a)   Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen (Artikel 54 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.4

Ändern:

Der EWSA stimmt außerdem generell den Einzelheiten des Richtlinienvorschlags zu. Er empfiehlt jedoch, folgende Punkte zu präzisieren:

es muss werden, dass die Sicherheits- und Emissionsvorschriften für alle Gewässer gelten, ;

die Sicherheitsvorschriften beziehen sich auf alle betreffenden Arten von Wasserfahrzeugen;

Kleinmotoren

was die Geräuschemissionen betrifft, sollte die Kontrolle der lokalen Vorschriften auf EU-Ebene verstärkt werden.

Begründung

Aus den am Anfang des Kommissionsvorschlags implizit sowie in anderen Abschnitten wie z.B. bezüglich der Navigationslichter und in Anhang I explizit gegebenen Definitionen geht hervor, dass die Vorschriften für alle Gewässer gelten. Es wird kein Schwerpunkt auf Meeresgewässer gelegt, wie es die Auffassung des Berichterstatters zu sein scheint.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

69

Nein-Stimmen

:

78

Stimmenthaltungen

:

13

b)   Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt:

Ziffer 1.3

Ändern:

Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, für ein lückenloses und angemessenes Funktionieren der verschiedenen Stellen zu sorgen. Zugleich stellt der Ausschuss fest, dass die Formulierung in der Tat derart allgemein ist, dass dieselben Verfahren und Stellen auch bei anderen Gütern angewandt bzw. eingerichtet werden müssten. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Zeit für einheitliche Verbraucherschutzvorschriften mit einer gemeinsamen Herangehensweise an all diese Verfahren und institutionellen Strukturen gekommen ist, damit die Sektorvorschriften wirklich branchenspezifischen Fragen Rechnung tragen können. Diese Vorgehensweise würde in großem Maße zur Verbesserung der Transparenz, der Klarheit und der Akzeptanz der europäischen Rechtsvorschriften beitragen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

73

Nein-Stimmen

:

70

Stimmenthaltungen

:

13

Ziffer 4.4

Ändern:

Der EWSA befürwortet die Übergangsfristen für die Marktakteure. Bei Kleinmotoren könnte es gerechtfertigt sein, anstelle der vorgeschlagenen drei Jahre höchstens ein oder zwei weitere Jahre zu gewähren.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen

:

78

Nein-Stimmen

:

49

Stimmenthaltungen

:

10


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine EU-Agenda für die Rechte des Kindes“

KOM(2011) 60 endg.

2012/C 43/08

Berichterstatterin: Kinga JOÓ

Die Europäische Kommission beschloss am 15. Februar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine EU-Agenda für die Rechte des Kindes

KOM(2011) 60 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 170 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1

Der EWSA begrüßt die von der Kommission am 15. Februar 2011 veröffentlichte Mitteilung zur „EU-Agenda für die Rechte des Kindes“ (im Folgenden „die Mitteilung“) und hofft, dass sie der Ausgangspunkt für die vollständige Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention sowie für die weitestgehende Berücksichtigung der Rechte von Kindern sein wird. Der nach vierjähriger Vorbereitung publizierten Mitteilung ging im Juli 2006 die „Mitteilung der Kommission im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie“ voraus, zu der der EWSA Stellung nahm (1).

1.2

Kinder sind eine der Bevölkerungsgruppen der EU, deren Wohlergehen von grundlegender Bedeutung ist, und dies in Bezug auf ihre allgemeine Lage und Lebensqualität wie auch als eine Investition in die Zukunft. Durch eine mit Rechten gesicherte und rundum lebenswerte Kindheit wird die sozioökonomische Entwicklung gewährleistet und die EU in die Lage versetzt, ihre Ziele in allen Bereichen zu verwirklichen. An dieser Stelle sollte betont werden, dass beim Blick auf Kinder als Investitionen in die Zukunft parallel dazu auch die Vorstellung einer glücklichen Kindheit entwickelt werden muss, da sowohl für die Kinder als auch für die gesamte Gesellschaft die Gegenwart ebenso wichtig ist wie die Zukunft.

1.3

Der Ausschuss stellt fest, dass der durch Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union eingeführte Schutz der Rechte des Kindes zu einem der Ziele der Europäischen Union wurde und in der rechtlich bindenden Charta der Grundrechte verankert ist. Diese Charta gilt für die Aktivitäten sämtlicher Institutionen und Gremien der EU, und bei der Umsetzung von EU-Recht unterliegen ihr auch die Mitgliedstaaten. Jeder neue Legislativvorschlag der EU wird demzufolge danach beurteilt, inwieweit er sich auf die Grundrechte und damit auch auf die Rechte des Kindes auswirkt.

1.4

Der EWSA weist auf die bescheidenen und begrenzten Ziele hin, die in der Mitteilung gesetzt werden. Die Europäische Union hat die VN-Kinderrechtskonvention - im Gegensatz zur VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2) - bisher nicht ratifiziert. Die EU sollte Mittel und Wege finden, der VN-Kinderrechtskonvention einseitig beizutreten (3) Die Mitgliedstaaten sollten alle zwei Jahre umfassende Berichte über die Lage der Kinder erstellen, in denen auf der Grundlage systematisch erhobener Daten, Forschungsergebnisse und Analyse nicht nur deren wirtschaftliche Lage, sondern alle anderen zum Kindeswohl beitragenden Faktoren berücksichtigt werden sollten. Dadurch würde die Einrichtung einer EU-Datenbank und eines Bewertungsinstruments zur Ergänzung der bereits verfügbaren Informationen erleichtert.

1.5

Nach Meinung des EWSA sollten mehr Daten und Informationen herangezogen werden, wie etwa Berichte, die von Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen für den VN-Ausschuss für die Rechte des Kindes erstellt werden, um die Maßnahmen vergleichbar zu machen, die die Mitgliedstaaten zum Schutz und zur Durchsetzung der Rechte des Kindes ergreifen; zugleich sollten verschiedene internationale Organisationen, wie etwa Eurostat, die OECD oder die Weltbank, dazu angeregt werden, kinderrechtsspezifische Daten zu erheben und die einschlägigen Indikatoren zu nutzen, indem diese systematisch kompiliert und untersucht werden. Der EWSA empfiehlt eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Europarat, um Synergieeffekte zwischen ihren Maßnahmen zu bewirken (4).

1.6

Der EWSA bedauert, dass in der Mitteilung keine wirksame Strategie für deren Umsetzung oder Anwendung enthalten ist, obwohl die von der EU-Agentur für Grundrechte aufgestellten Indikatoren und die umfangreiche Liste der für die Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention entwickelten Evaluierungsinstrumente hier als Grundlage ausreichten; letzten Endes würde das Vorhandensein einer Umsetzungsstrategie Gewähr für die Anwendung und Durchsetzung der Kinderrechtsstrategie leisten.

1.7

Kinder müssen in angemessener Weise an der Ausarbeitung von Entscheidungen, die sie betreffen, und an der Bewertung von Maßnahmen beteiligt werden; von Nutzen wäre auch, ihre Zufriedenheit zu messen und ihre Meinung zu evaluieren. Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission, Kinder einzubeziehen und sie die für sie wichtigen Themen mitgestalten zu lassen. Ferner müssen unbedingt die Meinungen von Berufsverbänden und mit Kindern arbeitenden Fachkräften berücksichtigt werden.

1.8

Der EWSA schlägt vor, dass Programme zur Gewährleistung der Durchsetzung und des Schutzes der Rechte des Kindes mit anderen EU-Programmen (in den Bereichen Bildung, Jugend, Integration der Roma, Armutsbeseitigung, kinderfreundliche Justiz, Solidarität zwischen den Generationen, Außenbeziehungen) zusammenwirken; in diesen Programmen sollte zudem der Schwerpunkt deutlich auf Themen gelegt werden, die mit den Rechten des Kindes und dem Kindeswohl verknüpft sind. Überdies erachtet es der Ausschuss als wichtig, die Rechte des Kindes durch ein integriertes Konzept zu garantieren, bei dem die verschiedenen Generaldirektionen der Kommission eng zusammenarbeiten und sich abstimmen.

1.9

Der EWSA empfiehlt, die Umsetzung der Europa-2020-Strategie vor allem im Hinblick auf die Rechte des Kindes und das Kindeswohl zu bewerten, und zwar auf eine Weise, die mit den Zielen der Strategie in Einklang steht. Da Kinder eine Investition in die Zukunft sind, sollten diese Ziele zugleich einer gesonderten Bewertung unter dem Aspekt der langfristigen Planung unterzogen werden.

1.10

Der EWSA empfiehlt der EU, besonders auf den Schutz und die Durchsetzung der Rechte hochgradig schutzbedürftiger Kategorien von Kindern (Kinder, die in Armut, getrennt von ihren Familien oder in Heimen leben, die von Gewalt oder Ausbeutung bedroht sind oder darunter leiden, die Behinderungen haben, einer ethnischen Minderheit angehören oder einen Migrationshintergrund haben, unbegleitete Kinder, Flüchtlinge, von zu Hause ausgerissene oder von eingewanderten Eltern zurückgelassene Kinder) sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene zu achten. Der Schutz der Kinderrechte sowie des Rechts auf Unversehrtheit und Menschenwürde veranlasst den EWSA, Gewalt gegen Kinder in sämtlichen Ausprägungen zu verurteilen, darunter auch die im häuslichen Umfeld zu „Erziehungszwecken“ ausgeübte Gewalt; er fordert daher alle Mitgliedstaaten auf, die körperliche Züchtigung von Kindern zu untersagen, und wiederholt die Forderung nach einem Sonderbeauftragten.

1.11

Der Ausschuss erachtet es als besonders wichtig, über die Rechte des Kindes zu informieren, Lehrveranstaltungen zu dem Thema anzubieten und zugleich aufzuzeigen, wie diese Rechte geschützt und durchgesetzt werden können. Es sollte besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, nicht nur der Öffentlichkeit, sondern Entscheidungsträgern, Angehörigen der Rechtsberufe und anderen Fachleuten sowie Sachverständigen und Politikern auf nationaler und EU-Ebene hochwertige Informationen bereitzustellen; ein weiterer Schwerpunkt sollte auf der Schulung derjenigen liegen, die mit Kindern und Familien arbeiten, und auf der Schulung der Eltern und der Kinder selbst. Diese Maßnahmen sollen nicht nur für die Rechte des Kindes sensibilisieren, sondern auch zu der Einsicht führen, dass Menschenrechte auch Kindern unbedingt zustehen und sie, statt „Miniaturerwachsene mit Miniaturrechten“ zu sein, vielmehr angesichts ihrer Schutzbedürftigkeit, ihres Alters und ihrer Lage größeren Schutz genießen müssen. Die Mitgliedstaaten sollten Familien in jeder erdenklichen Weise unterstützen, da dies am meisten im Interesse der Kinder liegt.

1.12

Zwar erkennt der Ausschuss an, dass die Rechte des Kindes nicht gesondert, sondern ganzheitlich und komplex zu betrachten sind, doch empfiehlt er, bestimmte Themen gesondert zu beachten, wie etwa hochwertige, allgemein und kostenfrei zugängliche Gesundheitsfürsorge für Mütter vor und nach der Geburt als ein Aspekt der öffentlichen Gesundheit und der Gesundheit von Kindern, sowie die in der Mitteilung behandelten Themen, wie etwa kinderfreundliche Justiz und jugendliche Straftäter (5).

1.13

Zur Gewährleistung einer Justiz, die keine negativen Auswirkungen auf die Kinder hat, fordert der EWSA die Verabschiedung von Maßnahmen für geschützte Anhörungen von Kindern, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden bzw. von dem Scheidungsverfahren ihrer Eltern betroffen sind. Bei Zeugenvernehmungen sind zusätzliche Traumatisierungen des Kindes zu vermeiden, weshalb sie mit Unterstützung besonders ausgebildeter Fachleute und möglichst in neutralen Räumlichkeiten außerhalb des Gerichts durchgeführt werden müssen.

1.14

Die Kinderarmut und ein Leben voller Entbehrungen sowie die Diskriminierung und Ausgrenzung von Kindern sind einige der größten Hindernisse bei der Durchsetzung der Rechte des Kindes; der EWSA erneuert daher seine in früheren Stellungnahmen abgegebene Empfehlung, bei der Umsetzung, Überwachung und Bewertung von Maßnahmen in diesen Bereichen ganz besonders auf eine enge Verknüpfung mit den Zielen der Europa-2020-Strategie zur Verringerung der Armut und im gesamten Bildungsbereich zu achten. Zu diesem Zweck müssen angemessene Mittel bereitgestellt werden. Kinderpolitische Strategien und Maßnahmen sollten stets Vorrang genießen.

1.15

Angesichts der Wirtschaftskrise, der angespannten finanziellen Situation und begrenzter Mittel empfiehlt der EWSA, besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass die bestehenden Probleme nicht verschärft werden und die gegenwärtigen Maßnahmen zum Schutz und zur Stärkung der Rechte des Kindes nicht bei Ausgabenkürzungen geopfert werden.

2.   Hintergrund

2.1

Alle Mitgliedstaaten der EU haben die VN-Kinderrechtskonvention (6) ratifiziert, und in den meisten Staaten ist sie nationales Recht geworden; sie ist daher verbindlich. Die VN-Kinderrechtskonvention ist die meistratifizierte Menschenrechtskonvention weltweit; durch sie sind im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte Prinzipien und Verfahren hinsichtlich der Stellung, Rechte und Rolle der Kinder grundlegend verändert worden.

2.2

Die Kommission bezeichnete die Rechte des Kindes als eines ihrer vorrangigen strategischen Ziele 2005-2009, und im Juli 2006 veröffentlichte sie eine gesonderte Mitteilung im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie  (7), durch die einerseits eine umfassende Strategie festgelegt, andererseits der Schutz und die Durchsetzung der Rechte des Kindes in sämtlichen Bereichen der Innen- und Außenpolitik der EU berücksichtigt und die Arbeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet unterstützt werden sollte.

2.3

Der EWSA hat eine umfassende, komplexe und ganzheitliche EU-Strategie angemahnt, durch die eine vollständige und wirksame Durchsetzung der Rechte des Kindes im Einklang mit der VN-Kinderrechtskonvention gewährleistet wird, und zwar sowohl in der Innen- und Außenpolitik der EU als auch im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Kinderrechtsstrategie (8).

2.4

In seiner 2006 veröffentlichten Stellungnahme vertritt der EWSA die Ansicht, dass die EU-politischen Kinderrechtsansätze auf der VN-Kinderrechtskonvention und ihren beiden Fakultativprotokollen sowie den einschlägigen Millenniums-Entwicklungszielen der Vereinten Nationen (9) und der Europäischen Menschenrechtskonvention fußen sollten. Der EWSA veröffentlichte in jüngerer Vergangenheit mehrere Stellungnahmen zu verschiedenen Kinderrechtsaspekten (10).

2.5

Die Charta der Grundrechte der EU, in deren Artikel 24 der Grundsatz des Schutzes und der Förderung der Rechte des Kindes verankert ist, wurde mit Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union am 1. Dezember 2009 rechtsverbindlich. Artikel 3 des Vertrags von Lissabon bezieht sich erstmals in der Geschichte der EU ausdrücklich auf den Schutz der Rechte des Kindes (11). „Der Schutz und die Förderung von Kinderrechten ist eines der Ziele der Europäischen Union. Alle Politiken und Maßnahmen, die Kinder betreffen, sind so auszugestalten, umzusetzen und zu überwachen, dass dem Wohl des Kindes bestmöglich Rechnung getragen wird“ (12).

2.6

Folgende vier Themen finden sich in den Kinderrechtsprogrammen sowohl der EU als auch des Europarates und der Vereinten Nationen: Armut und soziale Ausgrenzung, Kinder als Opfer von Gewalt, besonders schutzbedürftige Kategorien von Kindern sowie die Notwendigkeit, Kinder bei Themen, die sie betreffen, aktiv mitwirken zu lassen, sie zu konsultieren und ihnen zuzuhören. Die EU und der Europarat haben ein weiteres Thema gemeinsam, nämlich die kinderfreundliche Justiz und Familienpolitik.

2.7

Der Ausschuss der Regionen betont in seiner Stellungnahme (13) vom Juni 2010, dass die Rechte des Kindes ein Querschnittsthema seien, das alle Bereiche betreffe; daher sei ein mehrdimensionaler Ansatz erforderlich, und kinderpolitische Aspekte müssten bei allen europäischen und nationalen politischen Maßnahmen berücksichtigt werden.

2.8

Die Kommission hat für die Organisationen der Zivilgesellschaft ein Europäisches Forum für die Rechte des Kindes eingerichtet, das bislang fünfmal zusammenkam und Stellung zu der Strategie nahm, die derzeit erarbeitet wird. Zudem wurden zwei Umfragen dazu durchgeführt, wie gut Kinder ihre Rechte kennen und wie sie dieses Thema betrachten; die Umfrageergebnisse flossen in die Programmvorbereitung ein (14). In ihrer Mitteilung verweist sie auch auf die vom Europarat festgelegten Kinderrechte, insbesondere in Bezug auf Gewalt gegen Kinder, auf die Bemühungen zur Gewährleistung einer kinderfreundlichen Justiz und auf die einschlägigen Empfehlungen und Konventionen.

2.9

Die Aktionsgruppe Kinderrechte (Child Rights Action Group, CRAG) (15) ist ein bedeutender Zusammenschluss von Organisationen der Zivilgesellschaft. CRAG ist eine informelle Gruppe von Nichtregierungsorganisationen mit dem Ziel, bei den Folgemaßnahmen und der Umsetzung der Mitteilung im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie der Europäischen Kommission zusammenzuarbeiten.

2.10

Im Frühjahr 2011 riefen die Parteien des Europäischen Parlaments eine informelle Allianz für Kinderrechte ins Leben, die sich in Kinderfragen und insbesondere in Kinderrechtsfragen einen koordinierten und einheitlichen Ansatz als oberstes Ziel gesetzt hat (16).

3.   Kinderrechte in der EU

3.1

Der EWSA begrüßt den am 31. März 2011 veröffentlichten ersten Bericht über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (17), der den sechs Kapiteln der Charta (Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) gewidmet ist und unter der Überschrift „Gleichheit“ einen eigenen Abschnitt zu den Kinderrechten enthält. Durch die Charta der Grundrechte wird die EU dazu verpflichtet, die Rechte des Kindes durchzusetzen sowie Kindern das Recht auf Leben, Schutz, Entwicklung und aktive Mitwirkung zu gewähren.

3.2

Der EWSA stellt erfreut fest, dass die EU-Agentur für Grundrechte auf der Grundlage einer breit angelegten Konsultation von Fachleuten und zivilgesellschaftlichen Organisationen Indikatoren entwickelt hat, mit denen die Durchsetzung der Kinderrechte gemessen werden kann (18). Überdies erstellte sie eine Studie zum Kindeswohl in der EU, die jedoch nur Daten zu materiellen Bedingungen und Fürsorge enthält und keine zusammengesetzten Indikatoren zur Messung der Lebensqualität und des Kinderschutzes in der Praxis und hinsichtlich des Umfangs (19).

3.3

Der EWSA betont, dass die Rechte des Kindes nur dann geschützt und wirksam umgesetzt werden können, wenn die Mitgliedstaaten, die verschiedenen Regierungsebenen, nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft, Foren für verschiedene Interessengruppen (etwa Kinder und Organisationen, die ihre Interessen vertreten), aber auch Sozialpartner (etwa Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Wirtschaft) in einer bereichsübergreifenden Partnerschaft zusammenarbeiten, um bestimmte Ziele zu erreichen.

3.4

Zwar berührt die Mitteilung die Themen Kinderarmut und verschiedene Gruppen besonders schutzbedürftiger Kinder, aber beide Themen stehen nicht im Mittelpunkt, obwohl sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bekannten demographischen Probleme, vor denen Europa steht, sowohl für das augenblickliche Wohlergehen der Kinder als auch für ihren späteren Übergang ins Erwachsenenleben und ihre Integration von erheblicher Bedeutung sind. Besonderes Augenmerk sollte auch darauf gelegt werden, jegliche Form geschlechtsspezifischer Diskriminierung unter Kindern zu verhindern.

3.5

Die Wirtschaftskrise ist ein Risikofaktor für das Kindeswohl und betrifft insbesondere Kinder, die in schwierigen Umständen leben, auf vielerlei Weise: in den meisten Fällen haben die Dienste und die Fachkräfte, die mit ihnen arbeiten, selbst Schwierigkeiten, und die Grundversorgung ist zusehends entweder gar nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang vorhanden.

3.6

In ihren Außenbeziehungen misst die EU bestimmten Themen, die für den Schutz und die Durchsetzung der Rechte des Kindes von Belang sind, großen Wert bei; dazu gehören grenzübergreifende Vormundschaft, vermisste, eingewanderte, unbegleitete, in Gewahrsam genommene illegal eingewanderte und ausgebeutete Kinder sowie Kinder, die Opfer von sexuellem Missbrauch oder Sextourismus werden (20). Indes geht sie das immer weitere Kreise ziehende Problem der Kinder, die von eingewanderten Eltern in deren Heimatländern zurückgelassen werden, nicht an. Für solche Kinder ist es ein gravierendes Problem, während eines Arbeitsaufenthaltes ihrer Eltern in einem EU-Mitgliedstaat nicht betreut zu werden, etwa dann, wenn Eltern ihre Kinder nicht mitnehmen können, da die Umstände es nicht erlauben; selbst wenn die Arbeitskraft der Eltern in einem anderen Land benötigt wird und sie dort Steuern und Abgaben zahlen, haben ihre Kinder in diesem Fall keine Rechte und sind besonderen Risiken ausgesetzt.

3.7

Der EWSA hält es für besonders wichtig, dass eine erste Empfehlung zur Verknüpfung von Kinderrechten und unternehmerischer Tätigkeit (21) ausgesprochen wurde, als nämlich UNICEF, der Globale Pakt der Vereinten Nationen (Global Compact) und das Kinderhilfswerk Save the Children die Entwicklung von Grundsätzen und Leitlinien zur Unterstützung von Unternehmen beim Schutz und der Förderung von Kinderrechten in Gang setzten. Dies schafft zum einen Raum für konkrete Maßnahmen, zum anderen werden dabei mögliche nachteilige Auswirkungen berücksichtigt, vor allem mit Blick auf Werbung (durch die der Konsum von Produkten, die der körperlichen und geistigen Gesundheit abträglich sind, oder gewalttätiges, riskantes oder erotisch-pornografisches Verhalten gefördert wird), Konsumverhalten (einschließlich Gesundheit und Ernährung), Tourismus, Kinderarbeit und Diskriminierung. Allen Branchen kommt hierbei große Bedeutung zu, weshalb sie eng mit staatlichen, nichtstaatlichen, zivilgesellschaftlichen und Wirtschaftsorganisationen sowie den Gewerkschaften zusammenarbeiten sollten, um die Ziele sowohl in der Europäischen Union als auch in den Mitgliedstaaten zu erreichen.

3.8

Nach Ansicht des EWSA nimmt die Zahl der EU-Empfehlungen und -Aktivitäten in vielen Bereichen (z.B. Kleinkinder, berufliche Bildung, Schulabbrecher, vermisste Kinder) immer weiter zu, während für die meisten kinderpolitischen Maßnahmen staatliche Stellen zuständig sind. Politische Maßnahmen auf nationaler Ebene werden so zwar beeinflusst, doch bleibt häufig unklar, wie groß der Einfluss auf die Umsetzung in den Mitgliedstaaten wirklich ist.

3.9

Bei verschiedenen EU-Programmen (z.B. zu den Themen Jugend, Bildung, lebenslanges Lernen, Integration der Roma, Beseitigung der Armut, Solidarität zwischen den Generationen, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Außenbeziehungen) sollte besonderer Wert darauf gelegt werden, wie die Rechte des Kindes geschützt und durchgesetzt werden können, und der Schwerpunkt sollte auf den verschiedenen Gruppen besonders schutzbedürftiger Kinder liegen, darunter auch Kinder, die von im Ausland arbeitenden Eltern in der Heimat zurückgelassen werden.

3.10

Der EWSA hatte die Europäische Kommission bereits in einer früheren Stellungnahme (22) ersucht, einen Sonderbeauftragten für Gewalt gegen Kinder zu ernennen, und an die Mitgliedstaaten appelliert, Gewalt gegen Kinder in all ihren Formen zu untersagen. Der EWSA bedauert, dass die Europäische Kommission nicht gegen die körperliche Züchtigung von Kindern Stellung bezieht. Körperliche Züchtigung von Kindern verletzt das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Kinder, die geschlagen werden, lernen, selbst Gewalt anzuwenden. Der Schutz der Kinderrechte sowie des Rechts auf Unversehrtheit und Menschenwürde veranlasst den EWSA, Gewalt gegen Kinder in sämtlichen Ausprägungen zu verurteilen, darunter auch die im häuslichen Umfeld zu „Erziehungszwecken“ ausgeübte Gewalt; er fordert daher die Kommission und alle Mitgliedstaaten auf, auf ein Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern hinzuwirken, und wiederholt die Forderung nach einem Sonderbeauftragten. Zugleich ruft er die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten dazu auf, die körperliche Züchtigung von Kindern EU-weit zum Verschwinden zu bringen.

3.11

Der Ausschuss teilt die Meinung, dass Kinderrechte durchsetzbar und Kinder auf die aktive Ausübung ihrer Rolle als Bürger vorbereitet werden, indem man ihnen zuhört, sie befragt und in alle sie betreffenden Themen einbindet. Zu diesem Zweck ist es auch wichtig, Dokumente in kinderfreundlichen Fassungen zugänglich zu machen und ähnlich verständliche Broschüren und Internetseiten (bzw. einzelne Abschnitte darauf) zu schaffen und zu verwalten, wie dies von der GD Justiz geplant ist (23).

3.12

Zur Gewährleistung einer Justiz, die die Kinder achtet und ihnen keine psychischen Schäden zufügt, müssen in sämtlichen Rechtssystemen der EU folgende Maßnahmen verabschiedet werden:

bei Kindern, die sexuellem Missbrauch zum Opfer gefallen sind, müssen zusätzliche Traumatisierungen im Rahmen der Zeugenvernehmung vermieden werden, weshalb diese mit Unterstützung besonders ausgebildeter Fachleute und möglichst in neutralen Räumlichkeiten außerhalb des Gerichts durchzuführen ist;

bei Kindern, die von dem zivilgerichtlichen Scheidungsverfahren ihrer Eltern betroffen sind, muss die Anhörung mit denselben Vorkehrungen wie den oben genannten durchgeführt werden, wobei die Kinder vor jeglicher Instrumentalisierung durch ihre Eltern und die Verteidigung zu schützen sind.

3.13

Damit die Rechte des Kindes wirksamer vermittelt werden, muss das Thema über die Medien (einschließlich der sozialen Medien) Eltern, Fachkräften und Kindern selbst nähergebracht werden.

3.14

Der EWSA tritt dafür ein, neben anderen möglichen Methoden die der offenen Koordinierung anzuwenden, die sich bewährt hat, da dank ihrer die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sowie die Ermittlung und Anwendung bewährter Verfahren für den Schutz und die Durchsetzung der Rechte des Kindes eingesetzt werden können, wobei zugleich gewährleistet wird, dass Kinderfragen in anderen Politikbereichen Berücksichtigung finden.

3.15

Als wichtiger Vertreter der Zivilgesellschaft möchte der EWSA einen Beitrag leisten, indem er die Ergebnisse systematisch beobachtet und über seine Mitglieder Kinderrechte propagiert und stärkt.

3.16

Um die Rechtsvorschriften wirksamer durchzusetzen, ist es nach Auffassung des EWSA angemessen und erforderlich, dass die verschiedenen VN-Gremien, der VN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der Europarat sowie internationale Kinderorganisationen und Organisationen, die Kinder vertreten, enger als bisher zusammenarbeiten, dienen doch die Ziele und Tätigkeiten solcher Organisationen auch der weitreichenden und umfassenden Durchsetzung der Rechte des Kindes.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2006) 367 endg. und ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65-70.

(2)  http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/11/4&format=HTML&aged=1&language=DE&guiLanguage=en.

(3)  Die Unterzeichnung der bzw. der Beitritt zur VN-Kinderrechtskonvention ist Staaten vorbehalten, im Gegensatz zur VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in der diese Möglichkeit auch für regionale Organisationen vorgesehen ist. Ein Ausweg böte sich durch eine einseitige Beitrittserklärung der EU, die in der Praxis ähnliche Auswirkungen hätte wie ein Beitritt, ohne dass sich das Problem der Ratifizierung stellte.

(4)  Bei der künftigen Kinderrechtsstrategie 2012-2015 des Europarates und weiteren Strategien in benachbarten Gebieten.

(5)  ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 75.

(6)  http://www2.ohchr.org/english/law/crc.htm.

(7)  KOM(2006) 367 endg.

(8)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65-70.

(9)  Generalversammlung der Vereinten Nationen, VN-Millenniumserklärung vom 8.9.2000.

(10)  ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 138-144, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 34-39, ABl. C 339 vom 14.12.2010, S. 1-6, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43-48.

(11)  http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:115:0013:0045:DE:PDF

(12)  http://ec.europa.eu/justice/fundamental-rights/rights-child/index_en.htm.

(13)  ABl. C 267 vom 1.10.2010, S. 46-51.

(14)  Eurobarometer: http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl_235_en.pdf.

(15)  Mitglieder dieser Gruppe sind Terre des Hommes, World Vision, die Europäische Stiftung für Straßenkinder weltweit (European Foundation for Street Children Worldwide, EFSCW), das Kinderhilfswerk Save the Children, das Europäische Kindernetzwerk Euronet, Eurochild, Plan International und SOS-Kinderdorf International, http://www.epha.org/a/2610.

(16)  http://www.eurochild.org/ (http://www.eurochild.org/index.php?id=208&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1819&tx_ttnews%5BbackPid%5D=185&cHash=cc6d4444ebae436b2a844a082a0ea2a8).

(17)  http://fra.europa.eu/fraWebsite/attachments/charter-applic-report-2010_EN.pdf.

(18)  http://fra.europa.eu/fraWebsite/attachments/FRA-report-rights-child-conference2010_EN.pdf.

(19)  http://www.tarki.hu/en/research/childpoverty/tarki_chwb_mainreport_online.pdf.

(20)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Schutz gefährdeter Kinder vor auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43-48.

(21)  Initiative für Kinderrechte und Unternehmensprinzipien (Children’s Rights and Business Principles Initiative).

(22)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65-70.

(23)  Ein eigener Bereich für Kinder auf www.europa.eu.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Opferrechte in der EU“

KOM(2011) 274 endg.

und zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe“

KOM(2011) 275 endg. — 2011/0129 (COD)

2012/C 43/09

Berichterstatterin: Kathleen WALKER SHAW

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 18. Mai bzw. am 29. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Opferrechte in der EU

KOM(2011) 274 endg.

und zu dem

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe

KOM(2011) 275 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 142 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht die Kommission, eine genauere Untersuchung über die Folgen der Krise für Opfer von Straftaten durchzuführen und auf deren Ergebnissen fußende Begleitmaßnahmen in Erwägung zu ziehen.

1.2   Der EWSA ist besorgt über das geringe Vertrauen von Opfern in die Strafjustiz; er sieht es als erforderlich an, die Position von Opfern – insbesondere solchen, die mehrfach zu Opfern wurden – zu stärken und Vertrauen bei den Bürgern zu schaffen, um den Teufelskreis der Viktimisierung zu durchbrechen. Er fordert die Kommission auf, unterstützende Maßnahmen und Finanzmittel zu erwägen.

1.3   Der EWSA schlägt der Kommission eine Neufassung des Begriffs „Opfer“ vor, um den Angehörigen und den Vertretern von Opfern zu mehr Rechten und Anerkennung zu verhelfen.

1.4   Der EWSA ruft die Kommission auf, die Schutzmaßnahmen für diejenigen gründlich zu untersuchen, die durch Straftaten am Arbeitsplatz geschädigt werden, und Begleitmaßnahmen für ein Mindestmaß an Rechten und Anerkennung sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich überall in der EU vorzulegen.

1.5   Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich in einer Untersuchung eingehend mit Opfern von Straftaten im Straßenverkehr zu befassen und Maßnahmen vorzuschlagen, durch die Gerechtigkeit, Unterstützung und Entschädigung gewährleistet werden.

1.6   Der EWSA empfiehlt der Kommission, wirksamere Schutzvorkehrungen gegen die direkte oder indirekte Diskriminierung von Opfern in die Vorschläge einzuarbeiten.

1.7   Der EWSA fordert einen tiefgreifenden Einstellungswandel hin zur Akzeptanz von Opfern, der durch Schulungen von Angehörigen der Rechtsberufe auf allen Ebenen der Justiz und in sonstigen betroffenen Behörden unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips unterstützt werden sollte. Dies sollte auch die allgemeine Behandlung von Opfern in den Medien betreffen; Opfer dürfen nicht zu politischen Zwecken missbraucht werden.

1.8   Der EWSA räumt ein, dass manche Opfer eines besonderen Schutzes bedürfen und entsprechend behandelt werden müssen, jedoch sollte die Kommission nicht bestimmte „schutzbedürftige Opfer“ ausmachen und auf diese Weise womöglich eine Opferhierarchie schaffen, sondern vielmehr vorschlagen, dass allen Opfern von Straftaten besondere Maßnahmen offenstehen, und zwar über eine Einzelprüfung unter Einhaltung der Verfahrensregeln auf nationaler Ebene, bei der die Schutzbedürftigkeit der Opfer unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Merkmale, der Art der Straftat und der Beziehung zu dem Tatverdächtigen festgestellt wird.

1.9   Der EWSA fordert Begleitmaßnahmen zur Stärkung und Formalisierung des Netzes der Opferhilfsdienste in der gesamten EU und schlägt vor, dieses Netz dauerhaft aus EU-Haushaltsmitteln finanziell zu unterstützen. Zudem empfiehlt er, dass Hilfsdienste Personen, die im Ausland Opfer von Straftaten geworden sind, sowie deren Familien auch beim Rücktransport in die Heimat betreuen sollten. Der EWSA ist ferner der Überzeugung, dass Opferhilfsdienste flexibel und fähig sein sollten, Mittel gezielt an potenzielle regionale Brennpunkte zu leiten.

1.10   Der EWSA ist für die stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Erarbeitung konkreter Hilfsmaßnahmen für Opfer von Straftaten und ersucht die Kommission, Begleitmaßnahmen und finanzielle Mittel bereitzustellen, damit dies möglich wird.

1.11   Für die anstehende Überarbeitung der Richtlinie fordert der EWSA die Kommission zu weitreichenden und notwendigen Verbesserungen der Bestimmungen zur Opferentschädigung auf, wobei eine EU-weite Entschädigungsregelung für Opfer von Straftaten in Betracht gezogen werden sollte. Dabei sollte die Kommission den Mitgliedstaaten deutlich machen, dass mit der Richtlinie Mindeststandards gesetzt werden und ein Grundstock an Rechten geschaffen wird, der nationale Umsetzungsvorschriften zulässt, die einen weiter reichenden Schutz ermöglichen.

1.12   Der EWSA befürwortet die Vorschläge zum Täter-Opfer-Ausgleich und fordert die Kommission auf, die Finanzierung von Pilotprojekten zur Entwicklung EU-weiter Normen und Schulungsmaßnahmen im Bereich der opferorientierten Justiz zu unterstützen.

1.13   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, für den Transport und die Rücküberführung der sterblichen Überreste von Menschen, die in einem anderen Mitgliedstaat zu Opfern wurden, gemeinsame, innerhalb einer eindeutig gesetzten Frist (1) durchzuführende Verfahren zu entwickeln, die Vorrang vor Regelungen auf nationaler oder subnationaler Ebene erhalten.

2.   Einleitung

2.1   Durch das Bündel an Vorschlägen, das die Kommission am 18. Mai 2011 vorgelegt hat, sollen die von der EU bereits verabschiedeten Maßnahmen zu den Opferrechten ausgeweitet werden. Beabsichtigt ist, Opfern von Straftaten klare und konkrete Rechte einzuräumen und ihnen Anerkennung, Respekt, Schutz und Zugang zum Recht zu gewährleisten - ganz gleich, aus welchem Mitgliedstaat sie stammen oder wo in der EU sie leben.

2.2   Der EWSA stellt fest, dass der Vertrag von Lissabon der EU nun eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Festlegung eines Mindestmaßes an Rechten und Schutz für Opfer von Straftaten gibt. Die Vorschläge gründen auf dem Stockholmer Programm (2) und dem zugehörigen Aktionsplan (3) und stehen im Einklang mit dem Budapester Programm für Opferschutz (4).

2.3   Der EWSA begrüßt, dass der polnische Ratsvorsitz die Verbesserung der Sicherheit in der EU zur Priorität erklärt hat, und er befürwortet die Anstrengungen des Ratsvorsitzes, die Arbeit am Maßnahmenpaket für Opfer im Rat voranzutreiben.

2.4   Der EWSA hat in diesem Bereich bereits umfangreiche Arbeiten geleistet, u.a Stellungnahmen zu den Themen Entschädigung der Opfer von Straftaten (5), Menschenhandel (6), sexuelle Ausbeutung, sexueller Missbrauch und Kinderpornografie (7), Kinderrechte (8), Anti-Terror-Politik der EU (9), digitale Integration (10) und Computerkriminalität (11).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA betont, dass die Mitgliedstaaten die Auswirkungen der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise auf diese Thematik nicht ignorieren können und die Verbrechensdynamik in diesem Kontext verstehen müssen. Im Rahmen strenger Sparmaßnahmen nehmen viele Mitgliedstaaten Kürzungen bei der Polizei, der Gesundheits- und Sozialfürsorge, der Gemeinwesenarbeit und bei der Finanzierung von Opferhilfsdiensten und anderen, in diesem Bereich tätigen nichtstaatlichen Organisationen vor. Zudem vergrößern sich bestehende Unterschiede, und die immer weiter um sich greifende Armut sowie stetig steigende Arbeitslosenzahlen werden höchstwahrscheinlich weitere soziale Probleme nach sich ziehen, die ein Nährboden für Verbrechen sein können.

3.2   Die EU-weiten Opferzahlen sind alarmierend. Jährlich fallen mehr als 75 Millionen Menschen unmittelbar einer Straftat zum Opfer. Es ist eine nicht hinnehmbare Tatsache, dass die meisten Straftaten an einem kleinen Bevölkerungsanteil verübt werden, der immer wieder in die Opferrolle gerät. Diese Opfer leben üblicherweise in Gebieten mit hoher Kriminalität, in denen die Angst vor Straftaten sehr verbreitet ist, während kaum Anzeigen gemacht werden. Annähernd 90 % der Straftaten in diesen Gebieten werden nicht zur Anzeige gebracht.

3.3   Eine bessere EU-weite Hilfe für Opfer von Straftaten ist für die Bürgerinnen und Bürger Europas ein Grundstein beim Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Angesichts der steigenden Zahl der Menschen, die durch Europa reisen oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat leben und arbeiten – ein Trend, der sich in Zukunft noch weiter verstärken wird –, kommt diesem Aspekt entscheidende Bedeutung zu.

3.4   Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in ihren Vorschlägen Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat Opfer einer Straftat werden, die Möglichkeit einräumt, diese Straftat in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat anzuzeigen. Besonders wichtig ist dies im Fall schwerer Verletzungen oder Unfälle bzw. im Todesfall für die Angehörigen.

3.5   Zudem unterstützt der EWSA den gewählten Querschnittsansatz, der Rechte für alle Opfer vorsieht.

3.6   Er erachtet es als wichtig, dass die Kommission das Leid und die Belastungen für die Angehörigen der Opfer und der Opfer selbst anerkennt, was jedoch einheitlicher in allen Vorschlägen berücksichtigt werden sollte.

3.7   Straftaten haben für die Opfer verheerende physische, emotionale und finanzielle Auswirkungen, sodass sowohl Opfern als auch ihren Angehörigen geholfen werden muss, spielen Letztere doch eine ganz zentrale Rolle bei der Unterstützung der Opfer, im Umgang mit den Behörden, bei der medizinischen Versorgung, den vielen Verwaltungsdingen, der Suche nach dem/den Straftäter(n), dem Beschreiten des Rechtsweges und Entschädigungsforderungen.

3.8   Der EWSA ist der Ansicht, dass die zusätzlichen Schwierigkeiten und die Zusatzbelastung berücksichtigt werden müssen, die sich für die Opfer und ihre Angehörigen aus einer grenzübergreifenden Situation ergeben, in der die Sprachunterschiede, die unvertrauten Verfahren und die kulturellen Unterschiede eine weitere, u.U. unüberwindbar erscheinende Hürde darstellen.

3.9   Generell melden über 50 % der Opfer von Straftaten diese der „zuständigen Behörde“ nicht. Dies ist auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen, u.a. darauf, dass Opfer nicht wissen, wie sie eine Straftat anzeigen oder eine Beschwerde einreichen sollen oder nur wenig Vertrauen darin haben, dass die Behörden ihnen Hilfe, Schutz und Unterstützung bieten, um ihre Rechte durchzusetzen oder eine Entschädigung zu erhalten. Dem EWSA ist sehr daran gelegen, dass die Vorschläge in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, durch die dem mangelnden Vertrauen der Opfer in die Justiz abgeholfen wird.

3.10   Untersuchungen (12) haben gezeigt, dass zahlreiche praktische und technische Probleme, auf die Opfer und ihre Angehörigen in Momenten äußerster Schutz- und Hilfsbedürftigkeit stoßen, mit den bestehenden Maßnahmen nicht gelöst werden können.

3.11   Die Vorschläge der Kommission sind ein wichtiger Schritt, um zu gewährleisten, dass Opfern und ihren Angehörigen Vorrang eingeräumt wird, dass sie Anerkennung erfahren und mit Würde und Respekt behandelt werden und ihnen der Schutz, die Unterstützung und der Rechtsschutz gewährt werden, die ihnen von Rechts wegen zustehen. In solch bedrohlichen Situationen dürfen sich die Opfer nicht alleingelassen fühlen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Derzeit bestehen zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede in der Stringenz und Wirksamkeit der Vorschriften; es bedarf daher eines radikalen Wandels, um ein adäquates Niveau an Unterstützung, Schutz und Rechten sicherzustellen, auf das sich die Bürgerinnen und Bürger der EU verlassen können, egal ob sie sich in ihrem Heimatland oder in einem anderen Mitgliedstaat befinden. Es ist nicht hinnehmbar, dass das Ausmaß der gewährten Unterstützung schicksalhaft davon abhängt, in welchem Mitgliedstaat jemand einer Straftat zum Opfer fällt.

4.2   Nach Auffassung des EWSA sind seine Mitglieder prädestiniert, einen Beitrag zur wirksamen Umsetzung dieser Vorschläge und der in der Mitteilung genannten Begleitmaßnahmen zu leisten, und der Ausschuss fordert die Kommission auf, weiterhin gemeinsam mit dem EWSA die jeweils zuständigen Gremien gegebenenfalls dazu anzuhalten, die für eine systematischere und wirksamere Unterstützung von Opfern von Straftaten und ihrer Angehörigen erforderlichen konkreten Strukturen, Maßnahmen und Verfahren zu erarbeiten.

4.3   Anerkennung und Schutz

4.3.1   In der Richtlinie erstreckt sich der Begriff „Opfer“ nur auf „die Familienangehörigen einer Person, die infolge einer Straftat ums Leben gekommen ist“. Nach Ansicht des EWSA geht dies nicht weit genug, und es wird dabei außer Acht gelassen, dass viele überlebende Verbrechensopfer so schwere Verletzungen davontragen, dass sie ein sehr hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen, um die Tat selbst anzuzeigen oder ihr Recht und ihre Ansprüche auf Schadenersatz vor Gericht einzuklagen, weshalb dies von den Angehörigen oder anderen Hilfspersonen übernommen werden muss. Auch sie müssen Anerkennung erfahren. Der EWSA schlägt vor, Artikel 2 (Begriffsbestimmungen) in KOM(2011) 275 um die Ziffer 2 a) iii) zu erweitern: „Die anerkannte Hilfsperson, sei es ein Familienmitglied oder ein Beschäftigter eines Opfers, das vor oder nach einer Straftat ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigt“.

4.3.2   Der EWSA bedauert, dass trotz der Anstrengungen zur Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften der Schutz von Menschen, die am Arbeitsplatz Opfer kriminellen Verhaltens werden, etwa Beschäftigte im Straßenverkehr und in sonstigen Zweigen des Verkehrswesens, in den Vorschlägen nicht angesprochen wird. Die Mitgliedstaaten definieren eine Straftat im Sinne eines Verstoßes gegen Rechte und Schutzvorschriften am Arbeitsplatz auf unterschiedliche Weise, wodurch die Gewährleistung von EU-Mindestnormen unter Umständen unterminiert wird. Dies hat auch Folgen für entsandte Arbeitnehmer. Der EWSA fordert daher von der Kommission eine gründliche Untersuchung dieses Umstands und sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor anwendbare Begleitmaßnahmen zur Förderung von Mindestrechten für Personen, die am Arbeitsplatz Opfer kriminellen Verhaltens werden.

4.3.3   Der EWSA hat Bedenken, dass mit der Begriffsbestimmung eines Opfers als „natürliche Person“ Organisationen oder Unternehmen, die Straftaten zum Opfer fallen, von den durch die Richtlinie gewährten Rechten ausgenommen sein könnten. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission eine Untersuchung durchführt, um zu ermitteln, ob vor allem mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen besondere, auf die Verbesserung des Schutzes gegen fortgesetzte Viktimisierung gerichtete Maßnahmen in diesem Bereich erforderlich sind.

4.3.4   Der EWSA ist der Meinung, dass die Kommission das grundlegende Problem der direkten und indirekten Diskriminierung von Opfern, auch der kulturellen Diskriminierung, nicht in angemessener Weise angeht, und schlägt ihr vor, wirksamere Schutzvorkehrungen in die Vorschläge einzuarbeiten, um dies zu ändern. Eine doppelte Opferrolle und Diskriminierung ist dort möglich, wo Opfer aufgrund ihrer Rasse, Religion, Weltanschauung, sexuellen Ausrichtung, einer Behinderung, ihres Geschlechts oder ihres sozialen Hintergrunds zur Zielscheibe von Beleidigungen werden, was einer der Hauptgründe für die extrem hohe Dunkelziffer nicht zur Anzeige gebrachter Verbrechensfälle ist. Opfer können dadurch diskriminiert werden, dass sie von den Behörden oder der Justiz in unzulässiger Weise behandelt werden, indem ihnen nicht geglaubt oder sie nicht mit Würde, Respekt und Anerkennung behandelt werden.

4.3.5   Hier plädiert der EWSA für einen Einstellungswandel hin zur Akzeptanz der Rolle des Opfers im Justizsystem. Die Gewährleistung geeigneter Schulungsmaßnahmen für die Angehörigen der Rechtsberufe – unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips – ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Der EWSA schlägt der Kommission vor, Finanzierungsprogramme ins Auge zu fassen, damit dieser Einstellungswandel in den wesentlichen Behörden bewirkt wird.

4.3.6   Der Opferschutz steht im Mittelpunkt der Vorschläge. Besonders wichtig ist er dann, wenn sich Opfer und ihre Angehörigen in unmittelbarer Nähe oder im selben Gebäude wie der Angeklagte aufhalten, sei es in Krankenhäusern, Gerichtsgebäuden oder Polizeidienststellen. Die üblichen Verfahren müssen angepasst werden, um sicherzustellen (statt, wie im Verordnungsvorschlag formuliert, „nach und nach die Voraussetzungen dafür zu schaffen“), dass der Kontakt zwischen Opfern und ihren Angehörigen und den Tatverdächtigen vermieden wird, indem sie in unterschiedlichen Räumen untergebracht und unterschiedliche Einrichtungen genutzt werden.

4.3.7   Wichtig ist aber auch, die Menschen davor zu schützen, in eine Opferrolle zu geraten. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Überwachung neuer Arten, auf die man zum Opfer werden kann (z.B. Computerkriminalität), zu fördern und einzuschätzen, welche Maßnahmen für den Schutz und die Unterstützung der Opfer erforderlich sind. Um die Opferzahlen zu senken, ist es von grundlegender Bedeutung, auf erfolgreichen Vorgängern wie Daphne aufbauende Programme zur Sensibilisierung für potenzielle Gefahren zu entwickeln und Vorkehrungen für den Fall einer Bedrohung zu treffen.

4.3.8   Statistiken belegen, dass Menschen, die einmal Opfer geworden sind, weitaus anfälliger dafür sind, erneut Opfer zu werden. Wer in der Kindheit entweder zuhause oder in staatlich oder anderweitig finanzierten Einrichtungen Missbrauchsopfer wird, behält die Opferrolle nicht selten sein Leben lang. Vielen Opfern fällt es schwer, über ihre Lage zu sprechen und zur Anzeige zu schreiten. Der EWSA erhofft sich Begleitmaßnahmen und EU-Fördermittel, die gezielt eingesetzt werden, damit Opfer und in die Opferrolle Gedrängte den Kreislauf der fortgesetzten Viktimisierung durchbrechen und insbesondere in Gebieten mit hoher Kriminalitätsrate staatsbürgerliches Vertrauen aufbauen können.

4.3.9   Der EWSA schließt sich zwar der Auffassung der Kommission an, dass bestimmte Opfer wie etwa Kinder oder Menschen mit Behinderungen besonders schutzbedürftig und entsprechend zu behandeln sind, hat jedoch Bedenken, dass die Herausstellung „schutzbedürftiger Opfer“ zur Etablierung einer Opferhierarchie und in der Folge zur Diskriminierung mancher Opfer gegenüber anderen führen könnte. Alle Opfer sind schutzbedürftig, und nach Meinung des EWSA sollte eher vorgeschlagen werden, dass allen Opfern von Straftaten besondere Maßnahmen offenstehen, und zwar über eine Einzelprüfung nach Maßgabe innerstaatlicher Verfahrens, bei der die Schutzbedürftigkeit der Opfer unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Merkmale, der Art der Straftat und der Beziehung zu dem Tatverdächtigen festgestellt wird. Unabdingbar sind Methoden, bei denen das soziale Umfeld und die Lebensbedingungen der Opfer anerkannt und durchdrungen werden sowie verständnisvoll darauf eingegangen wird. Der EWSA empfiehlt, in Artikel 18 der Mitteilung KOM(2011) 275 die Ziffern 1, 2 und 5 zu streichen und die Bezüge und den Wortlaut des verbleibenden Texts entsprechend zu ändern, einschließlich einer eventuellen Umformulierung von „sämtliche Opfer“ in der ersten Zeile von Ziffer 3.

4.3.10   Der EWSA begrüßt den Verordnungsvorschlag über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und erkennt diesen als notwendige ergänzende Rechtsvorschrift zum Richtlinienvorschlag CSL 00002/2010 über die europäische Regelung zur Europäischen Schutzanordnung (im Strafrecht) an. Der EWSA stellt fest, dass der Ministerrat und das Europäische Parlament eine Einigung über diesen Vorschlag erzielt haben. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Anwendung und die Form beider Maßnahmen im Interesse einer leichteren Durchführbarkeit vereinheitlicht werden sollten. Außerdem muss dafür gesorgt werden, dass Schutzanordnungen wirksam durchgesetzt werden.

4.3.11   Der EWSA würdigt die konstruktive Rolle, die die Medien bei der Unterstützung der Rechte und der Anerkennung von Opfern spielen können, fordert aber in den Vorschlägen Bestimmungen, durch die ein Gleichgewicht zwischen der Anerkennung dieser konstruktiven Rolle auf der einen und dem Schutz der Privatsphäre von Opfern und ihren Angehörigen während Gerichtsverhandlungen sowie vor aufdringlicher und unerwünschter Medienberichterstattung auf der anderen Seite, zu der auch die politisch motivierte Zuschreibung der Opferrolle durch die Medien zählt, gewährleistet wird. Zu oft kommt es vor, dass Abbildungen, Fotos und intime Details ohne Zustimmung der Betroffenen veröffentlicht werden – ein solches Eindringen in die Privatsphäre und das Familienleben kann nicht akzeptiert werden. Es muss gewährleistet werden, dass mit Opfern und ihren Angehörigen in einer für sie extrem prekären Situation respektvoll umgegangen wird und ihre Würde und Menschenrechte gewahrt werden. In derlei Fällen sollten die Medien verpflichtet sein, die zugefügte Verletzung durch eine Gegendarstellung wiedergutzumachen, der ein ebensolcher Platz wie der ursprünglichen Opferberichterstattung selbst eingeräumt wird hat.

4.3.12   Der EWSA fordert, dass in den Vorschlägen auch staatliche Stellen und insbesondere die Polizei dazu verpflichtet werden, die Privatsphäre der Opfer und ihrer Angehörigen zu schützen. Dies ist insofern wichtig, als die Polizei die Hauptinformationsquelle für die Medien ist. In Großbritannien lösten schockierende Enthüllungen über das Abhören der Telefongespräche von Opfern und ihrer Angehörigen jüngst einen Skandal aus. Die EU muss in diesem Bereich einen besseren Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen gewährleisten, und zwar sowohl in deren Heimatland als auch im Ausland.

4.4   Recht auf Information und Recht, verstanden zu werden, sowie auf Verdolmetschung und Übersetzung

4.4.1   Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die darauf abzielen, Opfern klare und weitreichende Rechte hinsichtlich der frühzeitigen Bereitstellung relevanter Informationen zu ihrem Fall und der laufenden Information über dessen Fortgang einzuräumen. Allzu häufig gehen wertvolle Zeit, Informationen und Beweismaterialien verloren, insbesondere in Fällen, in denen nicht von vornherein klar ist, ob eine Straftat vorliegt, etwa im Falle von Vermissten, Ertrunkenen, Sturzunfällen und ungeklärten Todesursachen. In grenzübergreifenden Fällen können vor allem dann, wenn es keine Tatzeugen gibt, die zeitlichen Verzögerungen noch größer sein. Dies sollte jedoch nicht die Einleitung von Hilfs- und Schutzmaßnahmen für Opfer verzögern. Über die Europäische Stelle für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust) oder auf Grundlage bilateraler Rechtshilfeabkommen sind nur begrenzte Ermittlungen möglich, da Letztere sich rein auf strafrechtliche Angelegenheiten beziehen. Der EWSA befürwortet Begleitmaßnahmen, durch die Hindernisse für Anträge auf Nachforschungen oder Ermittlungen beseitigt werden.

4.4.2   Es ist wichtig zu wissen, wo und wie eine Drohung oder ein Zwischenfall angezeigt werden können. Im Fall von Auslandsaufenthalten sollten diese Informationen unkompliziert bei den zuständigen Behörden erhältlich sein, etwa bei der Polizei, in Konsulaten/Botschaften, Krankenhäusern und kommunalen Verwaltungsbehörden bzw. auf deren Internetseiten. Sie sollten überdies den Reiseunterlagen von Reisebüros/Fluglinien entnommen werden können, in doppelter Ausfertigung mit einer abtrennbaren Kopie, die Reisende bei engen Familienangehörigen oder Freunden hinterlegen können.

4.4.3   Gegenwärtig reicht die Abstimmung und Zusammenarbeit der zuständigen Behörden in grenzübergreifenden Fällen nicht aus, in denen Unterschiede der Rechtssysteme und Kulturen oft hinderlich sind bzw. dazu führen, dass Behörden nur zögerlich Informationen bereitstellen und zusammenarbeiten. Der EWSA würde es begrüßen, wenn die Außen- und Justizministerien der EU weiter kooperieren und eine Vereinbarung über den Austausch polizeilicher Informationen zwischen Konsularbediensteten erarbeiten, damit berechtigte Fragen des Opfers oder seiner Familienangehörigen zu den Ermittlungen beantwortet werden können. Dabei sollten die zuständigen Behörden verpflichtet werden, Kontaktdaten der ermittelnden Behörde bzw. des jeweiligen Ermittlers an einen bevollmächtigten Kollegen in einem anderen Staat weiterzuleiten, der sich mit dem Opfer und dessen Angehörigen in Verbindung setzen könnte, um diese zu informieren, gegebenenfalls unter Wahrung der Vertraulichkeit.

4.4.4   In vielen Staaten gibt es in den Polizeidienststellen und in der Untersuchungsrichterschaft keine Kontaktstellen für Angehörige, sodass diese gezwungen sind, sich vor der Weitergabe von Informationen einen Anwalt zu nehmen, was sehr kostspielig sein und die Mittel vieler Familien übersteigen kann. Der EWSA empfiehlt der Kommission, Begleitmaßnahmen zur Entwicklung von Beispielen für bewährte Verfahren in diesem Bereich in Betracht zu ziehen, die EU-weit möglichst einheitlich umgesetzt werden sollten.

4.4.5   Die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, Informationen über Opferrechte und Hilfsangebote regelmäßig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Außerdem sollten sie verpflichtet werden, bei der Erstellung mehrsprachiger Informationen zur Kostenminimierung auf EU-Ebene zusammenzuarbeiten.

4.4.6   Dem Recht, zu verstehen und verstanden zu werden, kommt bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen entscheidende Bedeutung zu. Der EWSA schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten überprüfen, welche Kommunikationsbedürfnisse Opfer und ihre Angehörigen im Rahmen von Strafprozessen haben, um sicherzustellen, dass ihnen die Unterstützung gewährt wird, die sie brauchen, um zu verstehen und verstanden zu werden.

4.4.7   Das umfassende Recht auf kostenlose Verdolmetschung und Übersetzung in Strafprozessen ist ein grundlegendes Menschenrecht, das insbesondere wichtig ist für Menschen, die im Ausland einer Straftat zum Opfer gefallen sind, sowie für deren Familienangehörige. Der EWSA begrüßt, dass diese Rechte nunmehr auf Opfer ausgeweitet werden sollen. Bedenken wegen der Kosten dieser Dienstleistungen sind unangebracht, erfüllen doch bereits heute zahlreiche Mitgliedstaaten derlei Ersuchen der Opfer.

4.4.8   Der EWSA begrüßt, dass Opfern und ihren Angehörigen das Recht eingeräumt wird, Entscheidungen anzufechten, die besagen, dass derartige Dienstleistungen nicht erforderlich sind, sowie eine Beschwerde einzubringen, wenn die Qualität der Verdolmetschung nicht ausreicht, um ihre Rechte im Strafprozess zu wahren. Er unterstützt die in der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren vorgeschriebene Einrichtung eines nationalen Registers qualifizierter Dolmetscher und Übersetzer, welches das anerkannte, von Rechtsbeiständen und zuständigen Behörden zu nutzende Reservoir sein sollte. Der EWSA befürchtet, dass einige Mitgliedstaaten zwar Register einrichten, doch Agenturen mit diesen Dienstleistungen beauftragen und so die Register umgehen, was dem Geist der Richtlinie nicht entspricht und nach Meinung des Ausschusses beendet werden muss.

4.5   Recht auf Opferhilfe

4.5.1   In den Vorschlägen wird festgelegt, welche Mindestdienstleistungen EU-weit bereitgestellt werden müssen, damit Opfer und ihre Angehörigen in einer Situation, in der sie es am meisten brauchen, wissen, was sie überall in der EU an rechtzeitiger und wirksamer Unterstützung erwarten können. Dabei kommt es darauf an, dass diese Dienstleistungen kostenlos und vertraulich sind und – sei es von öffentlichen Stellen oder von privaten Anbietern – von hochqualifiziertem Personal erbracht werden.

4.5.2   Der EWSA zeigt sich besorgt über die derzeit bestehenden erheblichen Unterschiede im Umfang und in der Qualität der Opferhilfe in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie darüber, dass sie im Allgemeinen bei weitem nicht so umfassend finanziert ist wie die Hilfestellung für Tatverdächtige oder Angeklagte. Der EWSA fordert Begleitmaßnahmen zur Stärkung und Formalisierung der Normen, der Qualität und der geografischen Reichweite der Opferhilfseinrichtungen in der gesamten EU und eine sichere und dauerhafte finanzielle Unterstützung dieses Netzes aus EU-Haushaltsmitteln. Aufgrund der Entwicklung gemeinsamer Online-Schulungsprogramme und Informations- und Kommunikationsstrukturen sowie des Austausches bewährter Verfahren wird dies Skaleneffekte ermöglichen. Zudem wird es eine besser strukturierte Betreuung von Opfern sowie die Anwendung und Durchsetzung des Pakets von Rechtsvorschriften erleichtern und dessen Wirksamkeit steigern.

4.5.3   Das Recht der Opfer auf Unterstützungsdienste ist von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der Tatfolgen und die wirksame Durchsetzung ihrer Rechte. Obwohl viele Mitgliedstaaten durch die Finanz- und Wirtschaftskrise vor ernsthafte Probleme gestellt wurden, dürfen sie ihre Verpflichtungen in diesem Bereich nicht vernachlässigen. Dabei sind die Kosten für die Bereitstellung dieser Dienstleistungen den Kosten bei einer Unterlassung gegenüberzustellen, d.h. den wirtschaftlichen und sozialen Kosten, die anfallen, weil Opfer und deren Angehörige viel Zeit für ihre Genesung brauchen bzw. das erlittene Trauma nicht überwinden können. Mehrere Länder finanzieren nationale Opferhilfsprogramme aus Geldstrafen für Vergehen. Der EWSA schlägt der Europäischen Kommission vor, eine Studie über die Wirksamkeit solcher Verfahren mit Blick auf eine mögliche weitere Verbreitung zu finanzieren.

4.5.4   Der EWSA weist darauf hin, dass die Zahl der Opfer von Land zu Land und von Region zu Region variiert. Der Zustrom von Menschen in der Hauptreisezeit kann, gepaart mit alkoholinduzierter Aggression, den Druck weiter ansteigen lassen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Hilfe flexibel und regional verfügbar sein sollte, und er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, zu überlegen, wie Ressourcen und Unterstützungsmaßnahmen für bessere Kommunikation und Dienstleistungen dort gebündelt werden können, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Besonders wichtig ist dies dort, wo für den Anstieg des Risikos bzw. der konkreten Gefahr, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, in unverhältnismäßig hohem Maße Tatverdächtige verantwortlich und/oder Opfer betroffen sind, die nicht aus der Region bzw. dem Land stammen.

4.5.5   Entscheidend sind rechtliche Verpflichtungen, durch die Opfer auf Unterstützungsleistungen hingewiesen werden und die anschließende tatsächliche Erbringung dieser Hilfsdienste gewährleistet wird. In der EU ist es meist Aufgabe der Polizei, Opfer an Hilfsdienste zu verweisen. Nichtsdestotrotz wird heutzutage die überwiegende (13) Mehrheit der Opfer nicht an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Dies ist das größte Hindernis bei der Gewährleistung europaweiter Opferhilfe.

4.5.6   Auch sonstigen einschlägigen Behörden, die mit Opfern in Kontakt kommen – u.a. Krankenhäusern, Botschaften und Konsulaten, Schulen und Wohnbehörden – sollte gegebenenfalls die Verantwortung für die Weiterleitung von Opfern an Hilfseinrichtungen übertragen werden. Datenschutzrechtlich wäre dies wohlgemerkt unbedenklich.

4.5.7   Im Ausland einer Straftat zum Opfer Gefallene und ihre Angehörigen erhalten nach der Rückkehr in ihr Heimatland nicht immer Hilfe von den bestehenden Opferhilfsdiensten. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Mitunter brauchen Opfer nach der Rückkehr in ihr Heimatland viel Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten, und müssen gesundheitliche, rechtliche und administrative Probleme meistern. Der EWSA ruft dazu auf, den Zuständigkeitsbereich von Opferhilfsdiensten auszuweiten, damit die dafür nötige Unterstützung auch tatsächlich gewährt wird.

4.5.8   Der EWSA fordert EU-Finanzierungsprogramme zum Ausbau der Zusammenarbeit und zum Aufbau der Kapazitäten von Opferhilfsdiensten, Polizei- und Justizbehörden, Krankenhäusern, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen im Hinblick auf die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an der Verbesserung der Hilfe für Opfer von Straftaten und die Förderung bewährter Vorgehensweisen und konkreter Maßnahmen zur Verbesserung der Opferhilfe. Freiwillige, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit durch kriminelles Verhalten zu Schaden kommen, sollten ebenfalls als Opfer von Straftaten anerkannt und unterstützt werden.

4.5.9   Auch wenn natürlich der Justiz und den sonstigen zuständigen Behörden eine Schlüsselrolle beim Schutz und der Unterstützung von Opfern zukommt, ist der EWSA doch der Ansicht, dass Firmen und Organisationen aus den betroffenen Branchen (Reiseveranstalter, Versicherungen, Fluglinien, Hotels, Banken, Mobilfunk- und sonstige Telefonanbieter, Autovermietungen und Taxiunternehmen, Gewerkschaften und im sozialen Bereich tätige Nichtregierungsorganisationen) einen großen Gestaltungsspielraum haben, um in konstruktiver Zusammenarbeit erfolgversprechende und konkrete Strategien und Strukturen zur Unterstützung von Opfern und ihren Angehörigen in Krisensituationen zu entwickeln. Diese Initiativen sollten nicht als Bürde, sondern vielmehr als Chance begriffen werden, erfolgversprechende Maßnahmen zur sozialen Verantwortung der Unternehmen zu entwickeln.

4.5.10   Der EWSA schlägt der Kommission vor, in einer Studie über die EU-Versicherungsbranche zu untersuchen, inwieweit Opfer von Straftaten und Unfällen finanziell abgedeckt, geschützt und entschädigt werden. Ziel muss die Förderung bewährter Vorgehensweisen bei der Bereitstellung fairer und angemessener rechtlicher und administrativer Unterstützung, der Entschädigung und bei den Kosten sein, damit Opfer oder deren Angehörige an Strafverfahren teilnehmen können. Die Verständlichkeit von Bedingungen und Ausschlussklauseln der Policen sollten unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Alphabetisierungs-, Bildungs- und möglichen Behinderungsgrade der Versicherungskunden bewertet werden. Klauseln in Reiseversicherungen, denen zufolge gar nicht oder nur teilweise gehaftet wird, falls der Versicherte Alkohol zu sich genommen und unter Alkoholeinwirkung zu einem Unfall beigetragen hat, sollten deutlich hervorgehoben werden. Zugleich sollten die Versicherungsunternehmen angeregt werden, in diesem Bereich angesichts des Umstandes, dass in der Tat viele Urlaubsreisende in Maßen Alkohol zu sich nehmen, Ausgewogenheit an den Tag zu legen und den Einsatz herkömmlicher Alkoholtestverfahren in Erwägung zu ziehen, die es etwa für Trunkenheit im Straßenverkehr gibt. Die Mitgliedstaaten sind nach Maßgabe der EU-Richtlinie zur Entschädigung der Opfer von Straftaten weiterhin zu Entschädigungsleistungen verpflichtet. Dies entbindet jedoch die Versicherungsunternehmen nicht davon, ihrer vorrangigen Pflicht nachzukommen.

4.5.11   Nach Auffassung des EWSA sollte zur fortlaufenden Überwachung und Entwicklung von Schulungen sowie als Triebfeder für den Wandel der Einstellung gegenüber Opfern eine Monitoring-Gruppe auf EU-Ebene eingerichtet werden, in der Opfer und ihre Familien, Opferhilfseinrichtungen und in diesem Bereich tätige Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Vertreter der Wirtschaft mitwirken.

4.5.12   Wo es relevant ist, sollte die Durchsetzung von Opferrechten auch in anderen EU-Politikfeldern und Legislativvorschlägen Berücksichtigung finden. Auf diese Weise könnte sichergestellt werden, dass in diesem Bereich tatsächlich Fortschritte erzielt werden.

4.6   Recht und Schadenersatz

4.6.1   Die Rechte von Opfern müssen in einem ausgewogeneren Verhältnis zu den Rechten von Angeklagten stehen. Derzeit erhalten Opfer weniger Unterstützung und haben weniger Rechte. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, damit Opfer wirksam Rechtsbehelfe einlegen können, falls ihnen Informationen und Unterstützung bzw. andere in der Richtlinie vorgesehene Mindestrechte verwehrt und deren Bestimmungen nicht angewandt werden.

4.6.2   Das Recht des Opfers, im Strafprozess gehört zu werden und auszusagen, ist ein Menschenrecht und ein entscheidender Faktor für eine wirksame Rechtspflege. Dieses Recht wird bereits in einigen Mitgliedstaaten gewährt und muss auf die gesamte EU ausgeweitet werden. In dieser Hinsicht sollte die EU-Gesetzgebung wirkungsvollen Zeugenschutzprogrammen Rechnung tragen und deren Aufstellung entschieden begünstigen.

4.6.3   Die Rechte Angeklagter müssen gewahrt werden, aber auch die legitimen Interessen von Opfern und ihren Angehörigen müssen anerkannt und unterstützt werden. Opfern sollte im gleichen Ausmaß rechtliche und administrative Unterstützung gewährt werden. Der EWSA begrüßt, dass das Recht von Opfern auf Prozesskostenhilfe anerkannt wird, wenn sie als Parteien im Strafverfahren auftreten. Hierdurch wird die Inanspruchnahme der in der Richtlinie festgeschriebenen Rechte von Opfern ermöglicht. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Unterstützung auch den Angehörigen des Opfers und einer anerkannten Hilfsperson gewährt werden sollte, falls das Opfer verstorben ist oder zur Teilnahme am Strafverfahren ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigt, und er fordert die Kommission auf, die Bestimmungen hinsichtlich Rechtshilfe und -beistand für Opfer und deren Angehörige in der EU einer Prüfung zu unterziehen, damit bei künftigen Maßnahmen die Unterstützung in diesem Bereich ausgeweitet wird.

4.6.4   Der EWSA bedauert, dass in manchen Mitgliedstaaten die Rücküberführung Verstorbener erheblich erschwert wird. Den Familien der Opfer wird häufig das Recht verweigert, ihre Angehörigen zur Bestattung in die Heimat zu überführen, oder aber sie müssen jahrelang warten und sich komplizierten Gerichtsverfahren unterziehen, bevor der Leichnam freigegeben wird. Dies verursacht den Familien neben der Trauer um ihre Angehörigen zusätzliches Leid und Frustration. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, für den Transport und die Rücküberführung der sterblichen Überreste von Menschen, die in einem anderen Mitgliedstaat zu Opfern wurden, gemeinsame, innerhalb einer eindeutig gesetzten Frist (14) durchzuführende Verfahren zu entwickeln, die Vorrang vor Regelungen auf nationaler oder subnationaler Ebene erhalten.

4.6.5   Der EWSA wertet es positiv, dass Opfern Anspruch auf Erstattung ihrer Reise- und Aufenthaltskosten gewährt wurde, die aufgrund ihrer Teilnahme als Zeugen oder Opfer an Prozessen anfallen. Er geht davon aus, dass dieses Recht auch für die Hinterbliebenen eines Mordopfers gilt, ist jedoch der Ansicht, dass es auf Angehörige und Hilfspersonen von Opfern, die ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen, ausgeweitet werden sollte und vom Staat zu garantieren ist.

4.6.6   Eine schriftliche Bestätigung über die Anzeige einer Straftat sollte eine Mindestanforderung sein. Gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat der Staat Beschwerden von Opfern angemessen nachzugehen.

4.6.7   Nach Ansicht des EWSA sollten im Falle von Straftaten, die ein Tatverdächtiger in einem anderen Mitgliedstaat verübt, Vorkehrungen getroffen werden, um zu gewährleisten, dass das Auslieferungsverfahren nicht von einem gegen denselben Verdächtigen im Inland anhängigen Verfahren blockiert wird, sofern dieses weniger schwerwiegend ist als das ausländische Strafverfahren. Ein im Inland anhängiges Verfahren sollte im beschleunigten Verfahren verhandelt oder so lange zurückgestellt werden, bis das ausländische Verfahren verhandelt wird.

4.6.8   Der EWSA ist der Auffassung, dass das Recht gewährt werden sollte, jedwede Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung von einer unabhängigen Stelle überprüfen zu lassen. Eine wirksamere Handhabe hätten Opfer dann, wenn sie zu Beschlüssen über eine strafrechtliche Verfolgung konsultiert würden.

4.6.9   Der EWSA ist sich bewusst, dass der durch eine Straftat zugefügte Schaden durch eine finanzielle Entschädigung nicht wieder rückgängig machen kann und es häufig vor allem darauf ankommt, den Opfern Anerkennung zu geben und respektvoll mit ihnen umzugehen. Opfer haben ein anerkanntes Recht auf Entschädigung, sind sie sich jedoch häufig dessen nicht bewusst oder schrecken vor einem langwierigen Schadenersatzprozess zurück. Bei einer Straftat im Ausland ist es oft unmöglich, eine Entschädigung zu erhalten, es sei denn, das Opfer oder dessen Angehörige strengen ein kompliziertes und kostspieliges Verfahren vor einem ausländischen Zivilgericht an. Es muss mehr getan werden, um sicherzustellen, dass Opfer ihre Schadenersatzansprüche einfacher und kostenlos geltend machen können. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Richtlinie zur Opferentschädigung zu überarbeiten und für weitreichende und notwendige Verbesserungen in diesem Bereich zu sorgen, wobei eine EU-weite Entschädigungsregelung für Opfer von Straftaten in Betracht gezogen werden sollte.

4.6.10   Zudem fordert der EWSA die Kommission auf, bei dieser Überarbeitung besonderes Augenmerk auf Entschädigungen für Opfer von Straftaten im Straßenverkehr zu richten. Er weist auf die vorbildlichen Verfahren für Opferentschädigung und -unterstützung hin, die es in einigen Mitgliedstaaten gibt. Dies gilt etwa dort, wo ein beträchtlicher Teil der Einnahmen aus Geldstrafen und -bußen für Verkehrsdelikte in die Unterstützung und Entschädigung der Opfer fließt. Da Verkehrsunfälle die Hauptursache für erworbene Behinderungen sind, sollten die Behindertenverbände in die Gestaltung, Umsetzung und Verwaltung dieser Entschädigungsregelungen eingebunden werden.

4.6.11   Auch Vorschusszahlungen zur Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen in der Zeit unmittelbar nach einem Vorfall – also dann, wenn die meisten Kosten anfallen – sind in Erwägung zu ziehen.

4.6.12   Der EWSA begrüßt die Vorschläge zum Täter-Opfer-Ausgleich in der Richtlinie, hält jedoch dessen Definition für nicht umfassend genug. Bei der Begriffsbestimmung sollte Gewicht darauf gelegt werden, dass es verschiedene Möglichkeiten des Ausgleichs zwischen Tätern und Opfern gibt, in deren Rahmen die Beteiligten nicht unmittelbar miteinander in Kontakt kommen. Er unterstreicht, dass die Wünsche und der Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen auf jeden Fall im Vordergrund stehen müssen. Ganz entscheidend sind dabei strenge Schutzmaßnahmen, wobei auch Maßnahmen zu begrüßen wären, die gewährleisten, dass der Staat die Weiterleitung an entsprechend geschulte Hilfseinrichtungen erleichtert. Der EWSA stellt fest, dass gegenwärtig sehr wenige Mitgliedstaaten Mittel für die opferorientierte Justiz bereitstellen, und empfiehlt der Kommission, Pilotprojekte zur Entwicklung von Normen und Schulungsmaßnahmen in diesem Bereich zu fördern, damit Größenvorteile geschaffen werden und der Austausch bewährter Verfahren gefördert wird.

4.6.13   Der EWSA weist darauf hin, dass die Strafverfolgungsbehörden jährlich EU-weit große Mengen von Diebesgut veräußern, die die Polizei den Eigentümern nicht zurückzugeben vermochte. Ein weiteres Problem stellen inakzeptable Wartezeiten auf die Rückgabe von Eigentum dar (15). Der EWSA fordert eine Verschärfung der Bestimmungen über die Rückgabe von Eigentum, die dahin geht, dass die Behörden dazu verpflichtet werden, detailliertere Informationen zur Verfügung zu stellen, Angaben darüber zu machen, in wessen Verantwortung sich das Eigentum befindet, sowie sicherzustellen, dass Eigentum innerhalb einer kurzen, festgelegten Frist zurückgegeben wird.

4.7   Umsetzung von Rechtsvorschriften und Maßnahmenvollzug

4.7.1   Werden die Vorschriften der Richtlinie nicht eingehalten, hat dies nicht nur für Opfer und ihre Angehörigen erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen, sondern auch für die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, und zwar in Form von Arbeitsausfällen und Belastungen für das Gesundheits- und Sozialsystem sowie Rechtsdienste. Es kommt daher darauf an, dass diese neuen Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen entsprechend umgesetzt werden, damit diese das Geschehene umfassender und schneller verarbeiten können.

4.7.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorschläge auch effektive Maßnahmen umfassen sollten, die die Einhaltung von Mindeststandards in der gesamten EU gewährleisten. Dazu bedarf es Maßnahmen, durch die die ständige Überwachung und wirksame Durchsetzung dieser Standards gewährleistet wird, sowie abschreckender Sanktionen zur Verhinderung von Verstößen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Er schlägt eine Frist von 28 Tagen vor, innerhalb deren gerichtsmedizinische Untersuchungen und DNA-Tests von zwei Pathologen durchgeführt werden könnten, einschließlich eines unabhängigen Berichts auf Ersuchen des Konsulats des Herkunftslandes des Verstorbenen.

(2)  http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/111877.pdf.

(3)  KOM(2010) 171 endg.

(4)  Vom Ministerrat am 10. Juni 2011 verabschiedet.

(5)  ABl. C 95 vom 23.4.2003, S. 40-44.

(6)  ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 50-54.

(7)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 60-64, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43-48, und ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 138-144.

(8)  ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65-70.

(9)  ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 91.

(10)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9-18.

(11)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 21-26.

(12)  KOM(2011) 274 endg. und SEK(2011) 580.

(13)  Laut Angaben von Victim Support Europe.

(14)  Siehe Fußnote 1.

(15)  Opferhilfsdienste in ganz Europa erhalten immer wieder Beschwerden von Opfern, in denen diese den Verzug bei der Rückgabe von Eigentum an das Opfer durch Strafverfolgungsbehörden beklagen.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/47


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (20. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)“

KOM(2011) 348 endg. — 2011/0152 (COD)

2012/C 43/10

Alleinberichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 22. Juli 2011 bzw. am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (20. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)

KOM(2011) 348 endg. — 2011/0152 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an. Alleinberichterstatterin war An LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 144 gegen 45 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA empfiehlt, diese Richtlinie anzunehmen und sie baldmöglichst in einzelstaatliches Recht umzusetzen.

1.2   Gleichzeitig spricht sich der Ausschuss dafür aus, unverzüglich die Anwendung des Vorsorgeprinzips zur Berücksichtigung der Risiken nichtthermischer biologischer Auswirkungen von Emissionen elektromagnetischer Felder auf den Weg zu bringen. Die langfristige Gesundheit der Arbeitnehmer muss in vollem Umfang und auf einem hohen Niveau durch den Einsatz der besten verfügbaren Technologien zu wirtschaftlich vertretbaren Preisen gewährleistet werden. Der Ausschuss erwartet, dass der Wortlaut der Richtlinie entsprechend geändert wird.

1.3   Mit Blick auf die Gewährleistung der Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit dieses Vorsorgeprinzips unterstützt der Ausschuss den Ansatz der Kommission zur Festlegung von Grenzwerten. Um den vollen Nutzeffekt zu erzielen, empfiehlt der Ausschuss jedoch feste Grenzwerte in Anlehnung an jene Werte, die bei der Umsetzung der Richtlinie 2004/40/EG (durch Österreich, die Tschechische Republik, die Slowakei, Litauen, Lettland, Estland und Italien) festgesetzt wurden. Die Unabhängigkeit der Forschungseinrichtungen, die an der Definition der Grenzwerte für die Exposition von Arbeitnehmern gegenüber elektromagnetischer Strahlung, der Feststellung ihrer Wirkung und Folgen für die öffentliche Gesundheit und der Festlegung der Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der dieser Strahlung ausgesetzten Arbeitnehmer beteiligt sind, muss gestärkt werden.

1.4   Die Interessenkonflikte, in denen Mitglieder dieser Einrichtungen in Bezug auf die Finanzierung ihrer Forschungsarbeit oder ihre Aufträge stehen, müssen beendet werden (Verfahren und Ausschreibungen, Vergabe an unabhängige öffentliche Forschungsinstitute).

1.5   Der Ausschuss räumt ein, dass eine Ausnahmeregelung für Berufe, die die Magnetresonanz (MR) für medizinische Anwendungen nutzen, erforderlich ist. Diese muss jedoch befristet sein und mit einer Aufstockung der Mittel für die Erforschung neuer Technologien, die dem Schutz der Arbeitnehmer vor Auswirkungen der elektromagnetischen Felder dienen, und alternativer Techniken einhergehen. Für Arbeitnehmer, die unter die Ausnahmeregelung fallen, sollten umfassendere Schutzmaßnahmen, eine besondere ärztliche Betreuung und eine Haftpflichtversicherung für während der Arbeit auftretende Fehler im Zusammenhang mit der starken Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern vorgesehen werden. Nach Auffassung des Ausschusses sollten diese Maßnahmen nicht nur für medizinische Berufe gelten, sondern auch für alle anderen Arbeitnehmer, die aufgrund der Ausnahmeregelung in Artikel 3 des Vorschlags von den allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie ausgenommen werden könnten.

2.   Einleitung

2.1   Mit diesem Vorschlag für eine Richtlinie soll die Richtlinie 2004/40/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) geändert werden, deren Umsetzung in einzelstaatliches Recht ursprünglich bis zum 30. April 2008 vorgesehen war. Es geht nicht um den Schutz der breiten Öffentlichkeit. Angesichts spezifischer Vorbehalte in Bezug auf die Magnetresonanztomographie (MRT) und der Notwendigkeit einer weiteren Abschätzung der Folgen der Richtlinie schlug die Kommission vor, die Frist für die Umsetzung der Richtlinie bis zum 30. April 2012 zu verlängern, was auch gebilligt wurde.

2.2   Dieser Vorschlag ist eine Neufassung der Richtlinie von 2004. Er enthält ein neues System für Expositionsgrenzwerte und Auslösewerte für Niedrigfrequenzen, und zielt darauf ab, den Schutz der Arbeitnehmer vor direkten und indirekten Auswirkungen elektromagnetischer Felder zu gewährleisten, wobei jedoch lediglich auf die bekannten Kurzzeitauswirkungen eingegangen wird. Insbesondere die aktuell debattierten Risiken im Zusammenhang mit den nichtthermischen Auswirkungen bestimmter Niedrigfrequenzfelder sind nicht Gegenstand des Vorschlags.

2.3   Mit Blick auf eine spezifische medizinische Anwendung ist für medizinische Bereiche, die die MRT nutzen, eine Ausnahmeregelung vorgesehen. Darüber hinaus ist für Streitkräfte eine Ausnahme von den in der Richtlinie festgelegten Schutzmaßnahmen vorgesehen, und den Mitgliedstaaten wird die Möglichkeit eingeräumt, in „spezifischen Situationen“ die festgelegten Werte zeitweilig zu überschreiten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Zur Richtlinie von 2004 wurde der EWSA nicht direkt angehört. 2008 wurde er jedoch um die Erarbeitung einer Stellungnahme zum Vorschlag ersucht, die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie um weitere vier Jahre zu verlängern. In dieser Stellungnahme (1)

erinnerte der EWSA an seine 1993 (2) formulierte Aufforderung „zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen […], um das Ausmaß der Gesundheitsgefährdung für Arbeitnehmer festzustellen, das sich […] durch die Exposition gegenüber magnetostatischen Feldern […] (auch bei langjähriger Exposition) ergibt“,

und erklärte Folgendes: „Bei dem Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch eine Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern [bestehen] derzeit Unterschiede von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat […]. Der möglichst raschen Erarbeitung einer Neufassung der Richtlinie, die den entsprechenden Schutz aller Arbeitnehmer […] gewährleistet, sollte daher Priorität eingeräumt werden.

3.2   In wissenschaftlichen Studien wurden eine Reihe gesundheitsschädlicher Wirkungen elektromagnetischer Felder festgestellt:

3.2.1   Bei einer Exposition gegenüber magnetostatischen Feldern: Hautreaktionen, Veränderungen im EKG (bei einer Feldstärke von höchstens 2 Tesla (3) verschwinden diese Veränderungen nach Beendigung der Exposition wieder), Beschwerden wie starke Übelkeit, Lichtblitze, Schwindel usw., die bereits bei einer Feldstärke von 1,5 Tesla auftreten können (4).

3.2.1.1   Bei einer Exposition gegenüber niederfrequenten Feldern (< 10 MHz): Störung elektrophysiologischer Prozesse im Organismus, die optische Wahrnehmungen (Auslösung sog. Phosphene), Reizung von Nerven und Muskeln, Herzbeschwerden usw. verursachen kann (5).

3.2.2   Im Hochfrequenzbereich (über 100 kHz): Hyperthermie aufgrund der Absorption von Energie durch biologisches Gewebe.

3.2.3   Ferner besteht das Risiko indirekter Auswirkungen, die die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer ebenso gefährden können, so z.B.: Explosion oder Brand infolge eines Lichtbogens, Projektilwirkung ferromagnetischer Gegenstände, Ausfall elektronischer Systeme, negative Auswirkungen auf Arbeitnehmer, die zu den durch elektromagnetische Felder „besonders gefährdeten“ Gruppen zählen, z.B. Personen mit medizinischen Implantaten, die elektronische Geräte am Körper tragen, Schwangere, Personen mit einer Tumorerkrankung usw.

3.3   Über die physiologischen, nichtthermischen und mittelfristigen Auswirkungen niedrigfrequenter Felder findet eine Grundsatzdebatte statt.

3.3.1   Folgende Risiken werden vermutet: Beeinträchtigung des neuroendokrinologischen Systems (Hormone, Melatonin), neurodegenerative Erkrankungen (Parkinson, Alzheimer, Sklerose), Auswirkungen auf die Reproduktionsfähigkeit und die menschliche und/oder tierische Entwicklung (Fehlgeburten, Missbildungen) und erhöhte Krebsgefahr (Gehirntumor, Leukämie bei Kindern).

3.3.2   Das Internationale Krebsforschungszentrum (IARC) der Weltgesundheitsorganisation hat die niedrigfrequenten und die hochfrequenten elektromagnetischen Felder in die Kategorie 2 b eingestuft („für den Menschen möglicherweise krebserregend“) - 2001 aufgrund des möglichen Auftretens von Leukämie bei Kindern und erneut 2011 infolge der Interphone-Studie (erhöhtes Risiko einer Erkrankung an bösartigen Hirntumoren, den so genannten Gliomen).

3.4   In dem unlängst veröffentlichen Huss-Bericht (6) wird vor den biologischen nichtthermischen und für Pflanzen, Insekten, Tiere sowie den menschlichen Organismus möglicherweise schädlichen Auswirkungen gewarnt, die mit der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern zusammenhängen, einschließlich der Exposition gegenüber Feldern, deren Frequenz unter der von der ICNIRP (7) empfohlenen Höchstgrenze liegt und die im Wesentlichen Bestandteil des vorliegenden Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission sind.

3.5   In ihrem Bericht, der sich auf die zusammenfassende Analyse zahlreicher wissenschaftlicher Ergebnisse und auf die Anhörung aller betroffenen Akteure stützt (Wissenschaftler, Europäische Umweltagentur, Nichtregierungsorganisationen, Bürgervereinigungen, Unternehmerverbände usw.), gelangen die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass die EU ein Vorsorgeprinzip in Anlehnung an den ALARA-Grundsatz (as low as reasonably achievable - so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar) und wirksame Präventivmaßnahmen annehmen sowie die derzeitigen Schwellenwerte überarbeiten muss, und zwar ohne die Übereinstimmung aller wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse abzuwarten, da dies sehr hohe Kosten für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft nach sich ziehen könnte, wie dies bereits beispielsweise für Asbest, PCB und Tabak der Fall war.

3.6   Infolge dieses Berichts verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Entschließung (8), in der sie in Bezug auf die Normen und Schwellenwerte für die Emissionen elektromagnetischer Felder aller Arten und aller Frequenzbereiche die Anwendung des ALARA-Vorsorgeprinzips empfiehlt, wonach die Emissionen so gering wie vernünftigerweise erreichbar gehalten werden sollten. In der Entschließung wird ferner darauf verwiesen, dass das Vorsorgeprinzip zur Anwendung kommen sollte, wenn die wissenschaftliche Auswertung es nicht zulässt, eine mögliche Gefährdung der menschlichen Gesundheit mit hinreichender Gewissheit zu bestimmen. Bei den Empfehlungen werden nicht nur die so genannten thermischen, sondern auch die nichtthermischen biologischen Auswirkungen der Emissionen bzw. Strahlungen elektromagnetischer Felder berücksichtigt. Es müsse gehandelt werden, denn angesichts der zunehmenden Exposition der Bevölkerung könnten die wirtschaftlichen und menschlichen Folgekosten durch Untätigkeit sehr hoch sein, sollten die frühzeitigen Warnungen vernachlässigt werden. In der Entschließung wird darüber hinaus betont, dass eine uneingeschränkte Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Gutachten unabdingbar ist, um eine transparente und objektive Bewertung der potenziellen schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit zu gewährleisten. Abschließend sprechen sich die Autoren der Entschließung dafür aus, die wissenschaftlichen Grundlagen der von der ICNIRP festgelegten geltenden Grenzwerte für die Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern, die große Mängel aufweisen, zu überprüfen.

3.7   In ihren begründeten Stellungnahmen zum Richtlinienvorschlag haben die Sozialpartner unlängst folgendes herausgestellt:

Keine Arbeitnehmerkategorie darf ausgenommen werden. Die im EU-Recht bestehende Lücke hinsichtlich der Exposition der Arbeitnehmer gegenüber elektromagnetischen Feldern muss geschlossen werden.

Keine Einwände gegen eine Ausnahmeregelung für Arbeitnehmer, die die MRT nutzen, vorausgesetzt, diese Ausnahmeregelung wird befristet (was in der Richtlinie nicht der Fall ist) und geht mit einer spezifischen medizinischen Überwachung dieser Arbeitnehmer einher.

Um den Schutz der Arbeitnehmer vor möglichen Langzeitauswirkungen zu gewährleisten (die in dem Richtlinienvorschlag außer Acht gelassen werden), wird die Einrichtung einer Austauschplattform zwischen den Sachverständigen der ICNIRP und jenen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgeschlagen.

3.8   Trotz der potenziellen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gibt es derzeit keine europäischen Rechtsvorschriften zur unionsweiten Vereinheitlichung des Schutzes der Arbeitnehmer, die elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind.

3.9   Der EWSA bekräftigt erneut, dass Rechtvorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer vor den Auswirkungen einer Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern erforderlich sind – ein Bereich, in dem die wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse noch nicht zu wirklich greifbaren Ergebnissen geführt haben, obwohl einige wissenschaftliche Erkenntnisse die negative Wirkung elektromagnetischer Felder auf die Arbeitnehmer bestätigen, wobei allerdings die Meinungen über Umfang und Niveau dieser Wirkung auseinandergehen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Die Europäische Kommission stützt ihren Richtlinienvorschlag auf Vorsichtsmaßnahmen, die in Abhängigkeit von Schwellenwerten gesteigert werden, und sieht von einem allgemeineren Vorsorgeprinzip in Anlehnung an den ALARA-Grundsatz ab. In Bezug auf die menschliche Gesundheit sollten alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, um die Arbeitnehmer vor einer Gefährdung durch Langzeitauswirkungen zu schützen; die Vermutungen bezüglich dieser Auswirkungen gründen auf zahlreichen wissenschaftlichen Studien, werden jedoch von zwei wissenschaftlichen Einrichtungen, der ICNIRP und dem SCENIHR (9), schlicht zurückgewiesen. Es sollte betont werden, dass dies in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass in den letzten Jahren nur wenige wissenschaftliche Studien an Arbeitnehmern durchgeführt wurden. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass sich die Wissenschaftler vorrangig der Gefährdung der Menschen durch die Exposition gegenüber Mobilfunkstrahlung widmen.

4.2   Ein weiteres Argument, das diese Einrichtungen derzeit ins Feld führen und damit die Existenz jeglicher Langzeitauswirkung in Abrede stellen, ist das fehlende Wissen über die biologischen Mechanismen, über die sich eine Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern auf lebende Organismen auswirken könnte. Ein solches Argument sollte aber eher für die Anwendung des Vorsorgeprinzips sprechen, wenn regelmäßig Auswirkungen beobachtet werden, für die die Wissenschaft aber noch keine genauen biologischen Erklärungen liefern kann.

4.3   In dieser unsicheren Lage ist der Ausschuss der Auffassung, dass sobald eine Reduzierung der Umweltbelastung möglich ist, diese auch in Erwägung gezogen werden muss, und zwar durch den Einsatz der besten verfügbaren Technologien zu wirtschaftlich vertretbaren Preisen.

4.3.1   Das im Rahmen der Richtlinie zugelassene Expositionsniveau darf zumindest nicht über den Grenzwerten liegen, die anerkannte Sachverständige der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer auf wissenschaftlichen Daten basierenden und nach den Grundsätzen wissenschaftlicher Publikationen veröffentlichten Studien ermittelt haben.

4.4   Es ist zweckmäßig, an dieser Stelle auf die Stellungnahme der französischen Agentur für Gesundheitssicherstellung in der Umwelt und am Arbeitsplatz (AFSSET) zu verweisen:

 

Unter Berücksichtigung

der in zahlreichen Studien zu Tage getretenen methodologischen Mängel in Bezug auf die Charakterisierung der Exposition unter Versuchsbedingungen,

der möglichen Langzeitauswirkungen auf bestimmte Krankheitsbilder und der Notwendigkeit, die Wirkung von Langzeit- bzw. chronischer Exposition besser zu dokumentieren,

der Bedeutung, die Erforschung bestimmter möglicher biologischer Auswirkungen bei „nichtthermischer“ Exposition fortzuführen,

 

schlug die AFSSET 2009 vor,

1)

die methodologische Qualität der In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen zu gewährleisten, insbesondere in Bezug auf den physischen Aspekt (Charakterisierung der Exposition und Art der Anzeichen), aber auch in Bezug auf den biologischen Aspekt (Blindversuche, angemessene Kontrollen, Ermittlung falsch positiver Ergebnisse, Versuchswiederholungen, Sicherstellung einer ausreichenden statistischen Aussagekraft usw.);

2)

Versuche durchzuführen, insbesondere über die Fortpflanzung und die Entwicklung mehrerer Generationen von Tieren (z.B. an Tieren, die eine Prädisposition zu Krankheiten aufweisen, für die auch menschliche Veranlagungsgene bekannt sind - neurodegenerative Krankheiten, bestimmte Krebsarten, Autoimmunkrankheiten); diese Versuche sind unter realistischen und genau charakterisierten Expositionsbedingungen durchzuführen und die Ergebnisse stets mit Versuchen an gesunden Tieren zu vergleichen;

3)

einige Versuche erneut durchzuführen, die in diesem Bericht analysiert wurden und die biologische Auswirkungen mit einem wahrscheinlich physiologischen Charakter aufweisen (insbesondere in Bezug auf die Gehirndurchblutung);

4)

Studien für Frequenzbänder von weniger als 400 MHz (insbesondere in Bezug auf die chronischen Auswirkungen niedrigfrequenter Felder) und von mehr als 2,5 GHz durchzuführen  (10).

4.5   In Bezug auf das Vorsorgeprinzip wird nachdrücklich auf den Artikel von Olivier GODARD, Forschungsdirektor am CNRS (französisches Zentrum für wissenschaftliche Forschung), Ökonometrielabor (UMR 7176) der französischen École polytechnique, „Principe de précaution: un bon principe en manque d'organisation de sa mise en œuvre (11) (Vorsorgeprinzip: ein gutes Prinzip ohne systematische Umsetzung) vom 31. Mai 2011 verwiesen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 110.

(2)  Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen. ABl. C 249 vom 13.09.1993, S. 12.

(3)  Die Stärke eines elektromagnetischen Feldes wird in Tesla (T) ausgedrückt. Tesla ist somit die Einheit des Internationalen Einheitensystems (SI) für die magnetische Flussdichte, die einem Weber (1 Wb) pro m2 entspricht.

(4)  WILÉN J, DE VOCHT F.: „Health complaints among nurses working near MRI scanners - A descriptive pilot study“. European Journal of Radiology, 13. Oktober 2010.

(5)  Guidelines for Limiting Exposure to Time-Varying Electric, Magnetic, and Electromagnetic Fields (up to 300 GHz). Health Physics 74 (4): 494-522; 1998. (ICNIRP-Richtlinien für die Begrenzung der Exposition durch zeitlich veränderliche elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder (bis 300 GHz) - http://www.icnirp.de/documents/emfgdlger.pdf).

(6)  Die potenziellen Gefahren elektromagnetischer Felder und ihre Auswirkungen auf die Umwelt, 6. Mai 2011, Parlamentarische Versammlung des Europarates, Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, kommunale und regionale Fragen. Dokument 12608, S. 3, http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/WorkingDocs/Doc11/EDOC12608.htm.

(7)  Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung.

(8)  Entschließung 1815 (2011) - http://assembly.coe.int/Mainf.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta11/FRES1815.htm.

(9)  Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks (Wissenschaftlicher Ausschuss „Neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken“).

(10)  Stellungnahme der Afsset zur Aktualisierung des Sachverstands im Bereich der Radiofrequenzen. http://www.afsset.fr/upload/bibliotheque/403036549994877357223432245780/09_10_ED_Radiofrequences_Avis.pdf.

(11)  http://www.gabrielperi.fr/IMG/article_PDF/article_a1246.pdf und http://www.gabrielperi.fr/IMG/pdf/PubOlivier_Godard-precaution-0411.pdf.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme“

KOM(2011) 326 endg. — 2011/0154 (COD)

2012/C 43/11

Alleinberichterstatter: Edouard DE LAMAZE

Der Rat beschloss am 1. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme

KOM(2011) 326 endg. — 2011/0154 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember 2011) mit 181 gegen 3 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA begrüßt das Anliegen dieser Richtlinie ausdrücklich. Die Annahme einer rechtlichen Regelung, bei der die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Hinblick auf die Verteidigungsrechte berücksichtigt wird, wäre ein unbestreitbarer Fortschritt, sowohl was die erforderliche Rechtssicherheit als auch was die Gewährleistung dieser Rechte in den verschiedenen Mitgliedstaaten betrifft.

1.2   Die aktive Unterstützung eines frei gewählten Rechtsbeistands vom Beginn des Strafverfahrens an ist eine Gewähr für ein faires Verfahren. Der EWSA teilt die Sorge der Kommission um die Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit dieses Rechts.

1.3   Deshalb und angesichts der hochgesteckten Ziele, die mit den in dem Richtlinienvorschlag niedergelegten Grundsätzen verknüpft sind, ist der EWSA besorgt, was die Schwierigkeiten bei der künftigen Umsetzung betrifft.

1.4   Der EWSA bedauert zutiefst, dass die Maßnahme zur Prozesskostenhilfe, die im Fahrplan des Rates mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand verknüpft war, zunächst zurückgestellt wurde, was die Gefahr mit sich bringt, dass die Wirksamkeit dieser Rechte beeinträchtigt wird.

1.5   Ziel des Richtlinienvorschlags ist es in erster Linie, das Recht von Verdächtigen auf einen Rechtsbeistand auszuweiten.

1.5.1   Wenn diese Rechte grundsätzlich ab dem Zeitpunkt des Entzugs der Freiheit einzuräumen sind, muss nach Auffassung des EWSA jede vernommene Person nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der die Wahrheitsfindung bestimmt, in den Genuss eines Rechtsbeistands kommen, sobald gegen sie strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden.

1.5.2   Es ist deshalb im Sinne des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, schlüssig, dass Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, einen Rechtsbeistand beiziehen können und dass Aussagen einer Person, der kein Rechtsbeistand gewährt wurde, nicht als Beweis gegen diese herangezogen werden dürfen.

1.5.3   Der EWSA plädiert deshalb für veränderte Begrifflichkeiten, d.h. dafür, den Begriff „Verdächtiger“ durch „Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde“ zu ersetzen, da mit einer solchen Formulierung weniger Unsicherheit und mehr Objektivität einhergehen würde.

1.6   Ein weiteres Ziel des Richtlinienvorschlags besteht darin, das Recht auf einen Rechtsbeistand zu vertiefen, der die betreffende Person, vor allem bei Vernehmungen, aktiv unterstützt.

1.7   Das im Richtlinienvorschlag vorgesehene Recht auf einen Rechtsbeistand ist nach Auffassung des EWSA mit den Erfordernissen der Ermittlungen vereinbar und kann sogar – indem es dazu beiträgt, die Zulässigkeit der erhobenen Beweise zu gewährleisten – zum ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens beitragen, sofern folgende Voraussetzungen gewahrt sind.

1.7.1   Demnach muss einerseits die Richtlinie

vorsehen, dass der Rechtsbeistand das Recht hat, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, für die die Anwesenheit des Betroffenen nur vorgeschrieben ist, wenn sie zum Schutz der Verteidigungsrechte erforderlich ist,

eine angemessene Frist vorsehen, nach deren Ablauf die Ermittlungsbehörden tätig werden können, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend ist, wobei nachzuweisen ist, dass der Rechtsbeistand ordnungsgemäß unterrichtet wurde,

vorsehen, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Festlegungen für die Dauer und Häufigkeit der Gespräche zwischen dem Rechtsbeistand und seinem Mandanten trifft und dass solche Gespräche zumindest vor jeder Vernehmung stattfinden können,

vorsehen, dass jeder Mitgliedstaat Verfahren für die Ermittlungen und die Strafverfolgung einführen kann, die von bestimmten Grundsätzen abweichen, vor allem in den Fällen, in denen minder schwere und gleichzeitig häufig begangene Straftaten nicht geleugnet werden und unstrittig sind,

darauf verweist, dass für Anwälte die Schweigepflicht gilt,

das „Recht auf Benachrichtigung“ eines Dritten oder des betreffenden Konsulats statt des Rechts auf Kontaktaufnahme vorsieht.

1.7.1.1   Allerdings müssen die Ermittlungsbehörden nach wie vor den zeitlichen Ablauf und die Durchführung der Ermittlungen bestimmen.

1.7.1.2   Der EWSA ist auf jeden Fall der Auffassung, dass Ausnahmeregelungen für den Fall vorzusehen sind, dass der ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen absehbar beeinträchtigt wird.

1.7.2   Dabei müssen andererseits die Mitgliedstaaten Strukturen einrichten, die im Notfall den unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand für den Fall gewährleisten, dass der frei gewählte Rechtsbeistand nicht sofort verfügbar ist.

1.8   Da der Verteidigung neue Rechte eingeräumt werden, fordert der EWSA den Rat auf, aus Gründen der Ausgewogenheit auch Leitlinien für einen besseren Schutz der Opferrechte festzulegen. Opfer müssen die Möglichkeit haben, einen Rechtsbeistand beizuziehen, wenn sie von Ermittlungsbehörden vernommen werden, ganz besonders dann, wenn sie Beschuldigten gegenübergestellt werden, die ihrerseits ja auch diese Möglichkeit haben.

2.   Hintergrund und Inhalt des Richtlinienvorschlags

2.1   Der Rat räumte ein, dass bislang auf europäischer Ebene keine hinreichenden Anstrengungen unternommen worden sind, um die Grundrechte des Einzelnen in Strafverfahren zu wahren. Am 30. November 2009 nahm der Rat „Justiz“ eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung dieser Verfahrensrechte an. In diesem Fahrplan, der dem Stockholmer Programm als Anhang beigefügt wurde, wird die Kommission ersucht, Vorschläge in Bezug auf folgende Maßnahmen zu unterbreiten:

 

Maßnahme A) Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen,

 

Maßnahme B) Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung,

 

Maßnahme C) Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe,

 

Maßnahme D) Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden,

 

Maßnahme E) Besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte.

2.2   Als erste Maßnahme wurde die Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (Maßnahme A) verabschiedet.

2.3   Die zweite Maßnahme besteht in einer Richtlinie über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren (1), über die derzeit verhandelt wird. Darin sollen Mindestvorschriften für das Recht auf Belehrung über die Rechte des Betroffenen und über den Tatvorwurf sowie auf Einsicht in die Prozessakte (Maßnahme B) festgelegt werden.

2.4   In dem vorliegenden Richtlinienvorschlag geht es um die dritte Maßnahme des Legislativpakets. Die Kommission hat dabei beschlossen, das Recht auf einen Rechtsbeistand (C1) und das Recht auf Kommunikation (D) gemeinsam zu behandeln. Der Vorschlag zur Prozesskostenhilfe, die nach dem Fahrplan des Rates mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand verknüpft war, ist dagegen auf einen späteren Zeitpunkt (2013) vertagt worden. Wie bei den vorangegangenen Maßnahmen hat die Kommission beschlossen, dass Personen, die auf der Grundlage eines europäischen Haftbefehls festgenommen wurden, Anspruch auf diese Rechte haben.

2.5   Mit diesem Richtlinienvorschlag, der sich auf die Artikel 3 und 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in denen das Verbot der Folter und das Recht auf einen Verteidiger festgeschrieben sind, in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stützt, soll die Anwendung der Charta der Grundrechte der EU, insbesondere ihrer Artikel 4, 6, 7 und 47, gewährleistet werden.

2.6   In ihm ist vorgesehen, dass jeder Verdächtige oder Beschuldigte umgehend einen Rechtsbeistand beiziehen kann. Unabhängig von einem Freiheitsentzug ist der Rechtsbeistand grundsätzlich bei der Vernehmung zu gewähren (Artikel 3).

2.6.1   Der Rechtsbeistand nimmt aktiv an den Vernehmungen und Verhandlungen teil (indem er Fragen stellt oder Erklärungen abgibt) und hat das Recht, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, für die das Beisein des Verdächtigen oder Beschuldigten erforderlich oder ausdrücklich zulässig ist, es sei denn, die zu erhebenden Beweise könnten in dem Zeitraum, bis der Rechtsbeistand eintrifft, verändert, beseitigt oder vernichtet werden. Der Rechtsbeistand hat Zugang zu dem Ort, an dem die Person festgehalten wird, um die Haftbedingungen zu prüfen (Artikel 4).

2.7   Der Vorschlag sieht auch das Recht auf Kontaktaufnahme mit einem Dritten oder dem betreffenden Konsulat bei der Festnahme vor, um diese von der Festnahme in Kenntnis zu setzen (Artikel 5 und 6).

2.8   Nur in Ausnahmefällen darf von den in dem Richtlinienvorschlag niedergelegten Rechten abgewichen werden (Artikel 8). Abweichungen müssen von einer Justizbehörde im Wege einer Einzelfallentscheidung genehmigt werden und dürfen nicht ausschließlich durch die Schwere der Straftat begründet sein.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der EWSA begrüßt die politische Neuausrichtung, die in dem Fahrplan des Rates vom 30. November 2009 zur Stärkung der Grundrechte in Strafverfahren zum Ausdruck kommt.

3.2   Im Einklang mit den Fortschritten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll mit dem vorliegenden Vorschlag, der nur Mindestvorschriften, über die die Mitgliedstaaten hinausgehen können, enthält, tatsächlich eine Harmonisierung der nationalen Strafverfahren „von oben“ erreicht werden.

3.3   Im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften sind die Verteidigungsrechte bislang noch in sehr unterschiedlichem Maße geschützt. Die Festlegung gemeinsamer Normen für die gesamte EU ist unabdingbar, um einen gemeinsamen Raum der Rechte zu schaffen und das gegenseitige Vertrauen der nationalen Justizbehörden zu stärken. Der EWSA misst der Umsetzung dieser Ziele, die Bedingung und zugleich notwendige Folge des freien Personenverkehrs ist, besondere Bedeutung bei.

3.4   Der EWSA betont zudem, dass die Zahl der Beschwerden, mit denen sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu befassen hat und die finanzielle Sanktionen für die Mitgliedstaaten nach sich ziehen, dringend reduziert werden muss.

3.5   Der EWSA verweist jedoch darauf, dass derartige Regeln nur dann angewandt und umfassend umgesetzt werden können, wenn gemäß Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die verschiedenen Rechtstraditionen und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Regeln für die Anklageerhebung und die Ermittlungsverfahren) berücksichtigt werden. Dieser Aspekt ist nach Ansicht des EWSA eingehender zu untersuchen.

3.6   Vorgehen und Zeitplan

3.6.1   Der EWSA kann nicht erkennen, warum es sinnvoll sein soll, das Recht auf einen Rechtsbeistand mit dem Recht auf Kontaktaufnahme zu verknüpfen. Die Person, zu der Kontakt aufgenommen wird, ist streng genommen nicht am Schutz der Verteidigungsrechte beteiligt.

3.6.2   Der EWSA bedauert dagegen, dass das Recht auf einen Rechtsbeistand

nicht mit dem Recht auf Belehrung in Strafverfahren (B) verknüpft wurde,

unabhängig von der Prozesskostenhilfe behandelt wird, obwohl beide Punkte im Fahrplan des Rates gemeinsam genannt wurden.

3.6.3   Der EWSA kann zwar die Gründe für eine spätere Behandlung der Prozesskostenhilfe nachvollziehen, beanstandet jedoch die Entscheidung der Kommission, Grundsätze festzulegen, bevor die finanziellen Mittel zu ihrer Umsetzung geprüft wurden. Die finanziellen Auswirkungen sind zwar für sich genommen keine Rechtfertigung dafür, dass Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht umgesetzt wird, doch wäre die Wirksamkeit der niedergelegten Rechte dadurch beeinträchtigt.

3.6.4   Der EWSA ist umso mehr besorgt darüber, als die Kosten, die aus der Umsetzung der Richtlinie erwachsen, in der Folgenabschätzung zu dem Richtlinienvorschlag offenbar unterschätzt werden.

3.6.5   Der EWSA bezweifelt nicht, dass im Rahmen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls der Zugang zu zwei Rechtsbeiständen (im Ausstellungsmitgliedstaat sowie im Vollstreckungsmitgliedstaat) gerechtfertigt ist, stellt sich jedoch die Frage, wie dies finanziert werden soll.

3.7   Inhalt

3.7.1   Erweiterung des Rechts auf einen Rechtsbeistand auf Verdächtige (Artikel 2 und 3)

3.7.1.1   Die grundlegende Neuerung des Richtlinienvorschlags besteht darin, dass das Recht auf einen Rechtsbeistand auf Verdächtige ausgedehnt wird.

3.7.1.2   Die jüngsten Entwicklungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden derzeit mitunter widersprüchlich ausgelegt. Der EWSA ist der Auffassung, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand ab dem Zeitpunkt des Entzugs der Freiheit zu gewährleisten ist.

3.7.1.3   Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn gegen die vernommene Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, die nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der die Wahrheitsfindung bestimmt, dann nicht mehr als bloßer Zeuge vernommen werden kann und das Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistands hat.

3.7.1.4   Diese Sichtweise dürfte im Einklang mit den jüngsten Entwicklungen der Rechtsprechung stehen.

3.7.2   Inhalt des Rechts auf Rechtsbeistand (Artikel 4)

3.7.2.1   Aktive Teilnahme des Rechtsbeistands an Vernehmungen (Artikel 2)

3.7.2.1.1   Dem EWSA ist bewusst, dass es bei dem Richtlinienvorschlag vor allem um die wirksame Unterstützung durch einen Rechtsbeistand geht, der die Möglichkeit haben soll, bei Vernehmungen und Verhandlungen Fragen zu stellen, Erläuterungen zu verlangen und Erklärungen abzugeben. Angesichts der Besonderheiten der verschiedenen Rechtsordnungen ist der EWSA der Auffassung, dass die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts von jedem Mitgliedstaat selbst geregelt werden können.

3.7.2.1.2   Nach Auffassung des EWSA könnte dem Rechtsbeistand auch die Möglichkeit eingeräumt werden, zu verlangen, dass seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beigefügt werden, um Probleme mit den Ermittlungsbehörden von vornherein zu vermeiden.

3.7.2.1.3   Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die Unterstützung von Verdächtigen – sofern dieser Begriff weiterhin verwendet wird – durch einen Rechtsbeistand auf praktische Schwierigkeiten stoßen wird, vor allem was die Übermittlung der Prozessakte in Echtzeit (2) betrifft. Bei Massendelikten liegt den Ermittlungsbehörden vor der Vorladung bzw. Vernehmung des Beschuldigten in der Regel gar keine Akte vor.

3.7.2.2   Recht des Rechtsbeistands, Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beizuwohnen, die in Anwesenheit der betreffenden Person stattfinden (Artikel 3)

3.7.2.2.1   Dieses Recht stellt zwar einen unbestreitbaren Fortschritt im Hinblick auf den Schutz der Verteidigungsrechte dar, doch sollte nach Auffassung des EWSA nach der Art der Maßnahme unterschieden werden. Bei einer Durchsuchung beispielsweise muss die betroffene Person das Recht auf Beiziehung eines Rechtsbeistands haben.

3.7.2.2.2   Bei technischen oder wissenschaftlichen Maßnahmen (Fingerabdrücke, Entnahme von körpereigenem Material usw.), in Bezug auf die der Rechtsbeistand keine besonderen Kompetenzen aufweist, brächte ein solches Recht nach Auffassung des EWSA keinerlei Nutzen. Ausreichend wäre dann die Unterzeichnung eines Formulars, in dem der betreffenden Person die Folgen einer Ablehnung mitgeteilt werden.

3.7.2.2.3   Der EWSA ist sich jedoch der Zwänge bewusst, die ein solches Recht für den Ablauf der Ermittlungen mit sich bringen könnte. Seiner Auffassung nach ist es von grundlegender Bedeutung, den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen. Die Beweise müssen – auch im Interesse des Verdächtigen – möglichst rasch erhoben werden können. Der EWSA schlägt vor, dass in der Richtlinie eine Frist festgelegt wird, nach deren Ablauf die Ermittlungsbehörden in Abwesenheit des Rechtsbeistands tätig werden dürfen, wobei nachzuweisen ist, dass der Rechtsbeistand ordnungsgemäß unterrichtet wurde.

3.7.2.2.4   Nur in bestimmten Fällen, in denen die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtigt ist, könnten nach Auffassung des EWSA die nationalen Gerichte über die Zulässigkeit von Beweisen befinden, die in Abwesenheit des Rechtsbeistands erhoben wurden.

3.7.2.3   Gespräche zwischen dem Rechtsbeistand und seinem Mandanten (Artikel 5)

3.7.2.3.1   Die Gespräche mit dem Rechtsbeistand müssen von ausreichender Dauer und Häufigkeit sein. Die Tatsache, dass keine weitere Einschränkung festgelegt wird als „werden nicht in einer Weise eingeschränkt, dass die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt werden könnte“, was recht vage und subjektiv formuliert ist, wird nach Meinung des EWSA zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Rechtsanwälten und Polizei führen.

3.7.2.3.2   Der EWSA stellt sich die Frage nach der Zeit, die die Wahrnehmung dieser Rechte (Stellungnahme des Rechtsanwalts, tatsächliche Anwesenheit, Einsicht in die Prozessakten, Gespräch mit dem Mandanten, Unterstützung bei Vernehmungen und bestimmten Ermittlungen usw.) im Rahmen eines Verfahrens in Anspruch nehmen würde, das innerhalb der dafür vorgesehenen Frist nicht mehr wirksam durchgeführt werden kann.

3.7.2.3.3   Nach Auffassung des EWSA ist zu verlangen, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Festlegungen für die Dauer und die Häufigkeit der Gespräche des Rechtsanwalts mit seinem Mandanten trifft, damit der ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen nicht beeinträchtigt wird und die betreffende Person gleichzeitig ihre Rechte weiter wirksam wahrnehmen kann. Nach Meinung des EWSA müssen solche Gespräche zumindest vor jeder neuerlichen Vernehmung stattfinden.

3.7.2.4   Haftbedingungen (Artikel 4)

3.7.2.4.1   Dass die Haftbedingungen Auswirkungen auf eine im Freiheitsentzug befindliche Person haben, liegt auf der Hand. Aus naheliegenden Gründen, die die Würde des Menschen betreffen, betont der EWSA, dass dringend die notwendigen Mittel aufgebracht werden müssen, um die Haftbedingungen zu verbessern. Zwar gehört es nach Auffassung des EWSA nicht zu den Aufgaben eines Rechtsbeistands, die Haftbedingungen der betreffenden Person zu „prüfen“, doch könnte festgelegt werden, dass der Rechtsanwalt die Haftbedingungen „feststellt“ (3) und verlangt, dass seine Bemerkungen zu den Akten genommen werden. Der EWSA schlägt vor, klarzustellen, dass der Rechtsanwalt das Recht auf möglichst raschen Zugang zu dem Ort hat, an dem die betreffende Person festgehalten wird.

3.7.2.5   Grundsatz der freien Wahl des Rechtsbeistands

3.7.2.5.1   Aus dem Recht auf einen Rechtsbeistand ergibt sich gemäß Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Europäischen Menschenrechtskonvention zwangsläufig der Grundsatz der freien Wahl des Rechtsbeistands. Da darauf in dem Richtlinienvorschlag nicht Bezug genommen wird, schlägt der EWSA vor, auf den genannten Grundsatz hinzuweisen. Bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität könnte auf Antrag der Justizbehörde eine Ausnahmeregelung getroffen werden, wonach der Rechtsbeistand durch die berufsständischen Organisationen bestellt wird.

3.7.2.5.2   Zur Anwendung des Grundsatzes der freien Wahl des Rechtsbeistands sollte in dem künftigen Instrument zur Prozesskostenhilfe vorgesehen sein, dass die Leistungen jedes europäischen Rechtsanwalts durch die Prozesskostenhilfe abgedeckt werden können.

3.7.2.5.3   Damit die Wirksamkeit der in der Richtlinie niedergelegten Rechte gewährleistet wird, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, rasch über die Schaffung von Strukturen nachzudenken, die im Notfall den unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand für den Fall gewährleisten, dass der frei gewählte Rechtsbeistand nicht sofort verfügbar ist.

3.7.2.6   Schweigepflicht

3.7.2.6.1   Der EWSA verweist darauf, dass für Anwälte die Schweigepflicht gilt. Diese Verpflichtung wird nach Auffassung des EWSA dazu beitragen, dass die Vertiefung der in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Rechte nicht den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen beeinträchtigt.

3.7.3   Recht auf Kontaktaufnahme (Artikel 5 und 6)

3.7.3.1   Der EWSA erkennt die Bedeutung der Unterrichtung Dritter an, will jedoch die Gefahren für die Ermittlungen ausschalten, die mit dem Recht auf direkte Kontaktaufnahme verbunden sein könnten, und empfiehlt daher die Formulierung „Recht auf Benachrichtigung“ eines Dritten oder des betreffenden Konsulats.

3.7.4   Anwendungsbereich (Artikel 2) und Abweichungen (Artikel 8)

3.7.4.1   Der EWSA ist besorgt, dass ein übermäßiger Formalismus der Strafverfahren die Wirksamkeit der Ermittlungen beeinträchtigen könnte. Er hält es für notwendig, es jedem Mitgliedstaat freizustellen, Verfahren für die Ermittlungen und die Strafverfolgung einzuführen, die von bestimmten Grundsätzen abweichen, vor allem in den Fällen, in denen minder schwere und gleichzeitig häufig begangene Straftaten nicht geleugnet werden und unstrittig sind.

3.7.4.2   Da der ordnungsgemäße Ablauf der Untersuchung nicht beeinträchtigt werden darf, schlägt der EWSA vor, auf jeden Fall Ausnahmeregelungen für den Fall vorzusehen, dass eine derartige Beeinträchtigung absehbar ist. Er schlägt vor, Artikel 8 Buchstabe a in diesem Sinne zu ändern (siehe Besondere Bemerkungen).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Im gesamten Text ist „Verdächtiger oder Beschuldigter“ durch „Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde“ zu ersetzen.

4.2   Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a: nach „Vernehmung“ ist „und Verhandlung“ zu ergänzen.

4.3   Artikel 4 Absatz 1: „vertritt“ ist zu ersetzen durch „unterstützt“.

4.4   Artikel 4 Absatz 2: nach „Vernehmungen und Verhandlungen“ ist zu ergänzen „der Person, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde,“ sowie nach „aufgezeichnet werden“ ist zu ergänzen „, und seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beifügen zu lassen“.

4.5   Artikel 4 Absatz 4: „zu prüfen“ ist zu ersetzen durch „festzustellen“, nach „Zweck“ ist einzufügen „möglichst raschen“, nach „festgehalten wird“ ist einzufügen, und kann seine Bemerkungen zu den Akten nehmen lassen.

4.6   Artikel 5, Titel: „Kontaktaufnahme“ ist zu ersetzen durch „Benachrichtigung“, Absatz 1: „zu mindestens einer von ihr benannten Person Kontakt aufzunehmen“ ist zu ersetzen durch „mindestens eine von ihr benannte Person zu benachrichtigen“.

4.7   Artikel 5 Absatz 2: betrifft nicht die deutsche Fassung [„Kind“ in der französischen Fassung ist zu ersetzen durch „Minderjähriger“].

4.8   Artikel 6: „mit ihnen in Kontakt zu treten“ ist zu ersetzen durch „und sie zu benachrichtigen“.

4.9   Artikel 8 Buchstabe a nach „abzuwehren“ ist einzufügen „und den ordnungsgemäßen Ablauf der Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen“.

4.10   Artikel 8 zweiter Unterabsatz: „Justizbehörde“ ist zu ersetzen durch „zuständige Behörde“.

4.11   Artikel 11 Absatz 2 dritter Spiegelstrich: nach „aufgezeichnet werden“ ist zu ergänzen „, und seine Bemerkungen dem Vernehmungsprotokoll als Anlage beifügen zu lassen“.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 48–50.

(2)  Nach Artikel 7 des Vorschlags für eine Richtlinie über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren muss jedem Verdächtigen oder Beschuldigten bzw. seinem Rechtsbeistand Einsicht in die Prozessakten gewährt werden.

(3)  Anmerkung der Übersetzung: Im Französischen wird „constater“ vorgeschlagen, da dies nach Auffassung des Berichterstatters das englische „to check up“ korrekter wiedergibt.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates betreffend die Maßnahmen für die nachhaltige Bewirtschaftung der Fischereiressourcen im Mittelmeer“

KOM(2011) 479 endg. — 2011/0218 (COD)

2012/C 43/12

Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 6. bzw. am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates betreffend die Maßnahmen für die nachhaltige Bewirtschaftung der Fischereiressourcen im Mittelmeer

KOM(2011) 479 endg. — 2011/0218 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 166 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 12 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen der Verordnung von 2006, deren Ziel auch weiterhin in einer nachhaltigen Fischerei im Mittelmeerraum besteht, indem einerseits die Bewirtschaftung lebender aquatischer Ressourcen verbessert und die natürlichen Lebensräume geschützt und andererseits die Besonderheiten der kleinen Küstenfischerei im Mittelmeer berücksichtigt werden.

1.2   Obwohl die Folgen der Änderungen nicht bewertet wurden, geht der EWSA davon aus, dass die neuen Maßnahmen lediglich unbedeutendere Auswirkungen auf die Fischereiressourcen im Mittelmeer insgesamt haben werden.

2.   Vorschläge der Europäischen Kommission

2.1   Zusammenfassung

Ziel des Vorschlags ist die Feststellung der in der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 vorgesehenen delegierten Befugnisse der Kommission und die Festlegung des Verfahrens zur Verabschiedung entsprechender delegierter Rechtsakte durch die Kommission, die hierdurch Folgendes festlegen bzw. erlassen kann:

delegierte Rechtsakte zur Gewährung von Ausnahmen von einigen Vorschriften der Verordnung, wenn diese Möglichkeit ausdrücklich vorgesehen ist und die strengen Bedingungen der Verordnung erfüllt sind;

die Kriterien für die Erstellung und Zuweisung von Kurslinien für Schiffe mit Fischsammelvorrichtungen für die Fischerei auf Goldmakrele in der 25-Meilen-Zone um Malta;

die Modalitäten für die Aufstellung weiterer technischer Vorschriften über die Merkmale von Fanggeräten;

delegierte Rechtsakte zu Änderungen der Anhänge der Verordnung.

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (und Artikel 290 und 291 AEUV).

—   Subsidiaritätsprinzip

Der Vorschlag fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Union.

—   Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Vorgeschlagen werden Änderungen zu bereits erlassenen Maßnahmen der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates, sodass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht angetastet wird.

—   Wahl der Instrumente

Vorgeschlagenes Instrument: Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates.

Ein anderes Instrument wäre aus folgendem Grund nicht angemessen: Eine Verordnung muss durch eine Verordnung geändert werden. (Grundsatz der Parallelität der Form)

AUSWIRKUNGEN AUF DEN HAUSHALT

Diese Maßnahme bewirkt keine zusätzlichen Ausgaben der EU.

2.1.1   Gegenstand ist die Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 des Rates vom 21. Dezember 2006 – des endgültigen Rechtsakts – betreffend die Fischereiressourcen im Mittelmeer. Die wichtigste Rechtsgrundlage für diese Aktualisierung der Verordnung ist Artikel 43 AEUV (ex-Artikel 37 EGV), nach dem die Kommission befugt ist, Vorschläge zur Ausarbeitung und Umsetzung der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik vorzulegen.

2.2   Der Vorschlag stützt sich jedoch auch auf Artikel 290 AEUV (ex-Artikel 202 EGV), in dem eine neue Kategorie von Rechtsakten eingeführt wird, nämlich die „delegierten“ Rechtsakte, „in denen bestimmte Teile eines Gesetzgebungsaktes im Rahmen einer vom Gesetzgeber festgelegten Ermächtigung näher ausgeführt oder geändert werden“.

2.3   In jedem Gesetzgebungsakt, der dieser Rechtsregelung unterliegt, müssen ausdrücklich Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung festgelegt werden (Artikel 290 Absatz 1 AEUV). Der auf diese Weise der Kommission übertragene Rechtsakt hat keinen Gesetzescharakter und betrifft nicht die wesentlichen Bestimmungen des Gesetzgebungsaktes, in dem die Bedingungen der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden müssen. Der Befugnisübertragung an die Kommission ist somit ein enger Rahmen gesetzt, und das Parlament bzw. der Rat können diese unter bestimmten Bedingungen widerrufen (Absatz 2 Buchstabe a).

2.4   Der delegierte Rechtsakt kann des Weiteren nur in Kraft treten, wenn das Parlament oder der Rat innerhalb der im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist keine Einwände erhebt (Absatz 2 Buchstabe b). In den Titel der delegierten Rechtsakte wird das Wort „delegiert“ eingefügt.

2.5   Im Übrigen wird die Kommission mit den ihr übertragenen Befugnissen ermächtigt, einheitliche Regeln für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union gemäß Artikel 291 Absatz 2 AEUV (Durchführungsrechtsakte) zu erlassen.

2.6   Im Rahmen der Anpassung der Verordnung (EG) Nr. 1967/2006 an die neuen Bestimmungen des AEUV wurden die Befugnisse, die die Kommission derzeit nach jener Verordnung ausübt, in dem Entwurf für eine geänderte Verordnung vom 9. August 2011 (1) neu als Maßnahmen delegierter oder aber durchführender Natur eingestuft.

3.   Allgemeine Bemerkungen des EWSA

3.1   Der EWSA stellt fest, dass es allein dem Gesetzgeber obliegt, über die Verwendung delegierter Rechtsakte zu befinden. Dadurch kann er sich auf die wesentlichen Bestimmungen der Rechtsetzung konzentrieren, ohne auf technische Einzelheiten eingehen zu müssen, die bis zur späteren Änderung bestimmter unwesentlicher Elemente des betreffenden Gesetzgebungsaktes reichen können. Was wesentlich und unwesentlich ist, bestimmt der Gesetzgeber im Voraus.

3.2   Das Evokationsrecht (Recht auf Rückgängigmachung) des Parlaments oder des Rates ermächtigt den Gesetzgeber, jederzeit seine vollen Gesetzgebungsbefugnisse zurückzuerlangen; einen entsprechenden Beschluss fällt das Parlament mit einfacher Mehrheit seiner Mitglieder, der Rat mit qualifizierter Mehrheit. Die Befugnisübertragung endet zu dem im Gesetzgebungsakt festgelegten Zeitpunkt, wenn dieser eine entsprechende Klausel („sunset clause“) enthält. Die Befugnisübertragung muss daher möglicherweise bei Ablauf der Befugnisübertragung an die Kommission erneuert werden.

3.3   Die Rechtsgrundlage dieses Vorschlags für eine geänderte Verordnung ist Artikel 43 Absatz 2 (neu) AEUV, in dem die EU als für die GFP zuständig erklärt wird; der EWSA teilt die Ansicht der Kommission, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch diesen Vorschlag eingehalten wird, da lediglich Elemente geändert werden, die bereits in der Verordnung von 2006 enthalten sind, durch die der Kommission Befugnisse zur Aktualisierung bestimmter, nicht wesentlicher Bestimmungen übertragen wurden.

3.4   Der EWSA nimmt ebenfalls zur Kenntnis, dass bezüglich der Art des Rechtsakts der Grundsatz der Parallelität der Form gewahrt wurde, nach dem eine Verordnung nur durch eine andere Verordnung geändert werden kann. Mit der Umsetzung der geänderten Verordnung dürften außerdem keine neuen Ausgaben verbunden sein. Folgendes sind die Hauptmerkmale der zu ändernden Verordnung:

Einführung von Grundschleppnetzen mit einer Maschengröße von 40 mm (Quadratmaschen) und (in bestimmten Fällen) von 50-mm-Rautenmaschennetzen spätestens zum 1. Juli 2008.

Generell verboten bleibt der Einsatz von Schleppnetzen innerhalb von 1,5 Seemeilen vor den Küsten. Jedoch könnte der Schleppnetzfang innerhalb der Küstenstreifen (zwischen 0,7 und 1,5 Seemeilen) im Rahmen der vorgeschlagenen Änderungen unter bestimmten Voraussetzungen auch weiterhin gestattet sein.

3.4.1   Die zu ändernde Verordnung sieht außerdem vor:

Einführung technischer Maßnahmen zur Verbesserung der Selektivität der geltenden Maschenöffnung von 40 mm für Schleppnetze;

Verschärfung des Verbots von Zug- und Schleppgerät in Küstengewässern;

Beschränkung der Gesamtgrößen bestimmter Fanggeräte, die sich auf den Fischereiaufwand auswirken;

Einführung eines Verfahrens, mit dem bestimmte Gebiete in gemeinschaftlichen oder internationalen Gewässern für bestimmte Fangmethoden vorübergehend oder endgültig gesperrt werden;

Einführung von Bewirtschaftungsplänen für das Mittelmeer, die Maßnahmen zur Aufwandsteuerung und technische Maßnahmen umfassen;

Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen in ihren Hoheitsgewässern Fangtätigkeiten zu regulieren, die für die Gemeinschaft nicht von signifikanter Bedeutung sind und kaum Auswirkungen auf die Umwelt haben, einschließlich bestimmter lokaler Fischereien, die nach Gemeinschaftsrecht erlaubt sind.

4.   Besondere Bemerkungen des Ausschusses

4.1   In der geänderten Verordnung sind zwei Kategorien von Bestimmungen vorgesehen, nämlich einerseits Verfahrensvorschriften zur Ausübung übertragener Befugnisse durch die Kommission und andererseits technische Maßnahmen bezüglich der Gewährung von Ausnahmen für bestimmte Fischereifahrzeuge hinsichtlich der Größe der für eine Ausnahme in Betracht kommenden Fahrzeuge, ihrer Maschinenleistung und der auf ihnen eingesetzten Fanggeräte sowie der genehmigten Fanggebiete.

4.2   Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Verfahrensvorschriften mit dem neuen Vertrag (AEUV) vereinbar sind.

4.3   Er fragt sich jedoch, ob die technischen Bestimmungen, die Ausnahmen von den technischen Bestimmungen der Verordnung von 2006 erlauben, auch wirklich die gemäß Artikel 290 AEUV erforderlichen Eigenschaften nicht wesentlicher Bestimmungen aufweisen. Es geht hierbei schließlich um Ausnahmen von Bestimmungen, durch die die Fischereiressourcen im Mittelmeer geschützt werden sollen, die von Überfischung bedroht sind.

4.4   Der EWSA stellt fest, dass diese Bestimmungen Gegenstand langwieriger Diskussionen im Rat waren, und dass sich ein Mitgliedstaat enthalten hat. Die Behauptung, die vorgeschlagenen Änderungen seien „nicht wesentlich“, wird von keiner Folgenabschätzung gestützt, die einen Rückgriff auf die neuen Bestimmungen in Artikel 290 und 291 AEUV gerechtfertigt hätte.

4.5   Nichtsdestotrotz ist der EWSA der Ansicht, dass die Vorschläge für Ausnahmen den kleinen Fischereibetrieben in der Mittelmeerregion bei der Bewältigung der globalen Wirtschaftskrise und der steigenden Betriebskosten – insbesondere für Kraftstoffe – eine Hilfe sind.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2011) 479 endg.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch — Den Verbraucher auf den Geschmack bringen: eine Strategie mit hohem europäischen Mehrwert zur Absatzförderung für Europas Agrarerzeugnisse“KOM(2011) 436 endg. und zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt und in Drittländern“

KOM(2011) 663 endg. — 2011/0290 (COD)

2012/C 43/13

Berichterstatterin: Dilyana SLAVOVA

Die Kommission, das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 14. Juli 2011, am 27. Oktober 2011 bzw. am 29. November 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Grünbuch — Den Verbraucher auf den Geschmack bringen: eine Strategie mit hohem europäischen Mehrwert zur Absatzförderung für Europas Agrarerzeugnisse

KOM(2011) 436 endg.

und

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 über Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt und in Drittländern

KOM(2011) 663 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 188 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse der Europäischen Union sind in ihrer Qualität und Vielfalt einzigartig. Auf einem offenen globalen Markt reicht es jedoch nicht aus, ausgezeichnete Lebensmittel und Getränke zu produzieren, um eine gute Marktposition zu sichern. Indem sie die Verbraucher über die hohen Qualitätsstandards der Agrarerzeugnisse der EU informieren und den Export anregen, können Informations- und Absatzförderungsprogramme den europäischen Erzeugern helfen, sich den Herausforderungen eines immer schärferen weltweiten Wettbewerbs zu stellen.

1.2

Die derzeitige Informations- und Absatzförderungspolitik für Agrarerzeugnisse hat gute Ergebnisse gezeitigt. Dennoch ist der EWSA überzeugt, dass sie weiter vereinfacht und verbessert werden sollte, um auf die Anforderungen der europäischen und weltweiten Märkte besser eingehen und die Bedürfnisse der europäischen Erzeuger besser erfüllen zu können.

1.3

Der EWSA begrüßt das Grünbuch „Den Verbraucher auf den Geschmack bringen: eine Strategie mit hohem europäischen Mehrwert zur Absatzförderung für Europas Agrarerzeugnisse“ und empfiehlt der Kommission, die Absatzförderungsstrategie für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse sowohl im Binnen- als auch im Außenmarkt zu einer der politischen Prioritäten der kommenden Jahre zu machen.

1.4

Der EWSA unterstützt zwei grundlegende Ziele der neuen, an den Zielmarkt angepassten Absatzförderungspolitik: zum einen Information und Aufklärung der Verbraucher auf dem EU-Markt durch stärkere Garantien bei Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Gesundheitsschutz sowie größere Anforderungen an Umwelt- und Tierschutz und die Wahrung der Arbeitnehmerrechte und zum anderen Exportförderung auf dem Außenmarkt.

1.5

Der EWSA erkennt die durch die derzeitige Finanzkrise entstandenen Beschränkungen zwar an, hält es jedoch für absolut unerlässlich, die Haushaltsmittel für Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse im Binnenmarkt und in Drittländern aufzustocken. Das amerikanische „Market Access Program“ beispielsweise wird bis einschließlich des Steuerjahres 2012 mit 200 Mio. US-Dollar gefördert.

1.6

Der EWSA empfiehlt, die Verwaltungsverfahren zur Vorbereitung und Überwachung von Absatzförderungsprogrammen zu vereinfachen, insbesondere durch die Reduzierung der Zahl der von der Kommission geforderten Berichte. Hier ist es besonders wichtig, die Verwaltungslasten zu verringern.

1.7

Der EWSA ist der Ansicht, dass es bei der Auswahl der Programme auf nationaler Ebene größerer Transparenz bedarf und dass die Kommission klare Leitlinien für die Mitgliedstaaten aufstellen sollte. Die Bewertung der Programme sollte auf der Grundlage eines strengen Bewertungssystems anhand konkreter Indikatoren wie der Steigerung des Marktanteils verbessert werden. Die Dauer des Auswahlverfahrens sollte verkürzt werden. Darüber hinaus ist es sehr wichtig, dass die Programme einen europäischen Mehrwert, einschließlich der Schaffung von Arbeitsplätzen, im Blick haben und dass Mehrländerprogramme, die sich auf eine Reihe von Erzeugnissen erstrecken, über ein vorteilhafteres Finanzierungssystem (60 % statt 50 %) Priorität erhalten.

1.8

Es sollte für mehr Flexibilität gesorgt werden, damit Programme in der Umsetzungsphase an veränderte Marktbedingungen angepasst werden können. Zu diesem Zweck sollte auch die Vielzahl an Details, die bei der Vorlage der Programme anzugeben sind, reduziert werden.

1.9

Der EWSA empfiehlt der Kommission, die unterschiedlichen Kapazitäten der Branchenverbände in den alten und neuen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Aufgrund mangelnder Erfahrung und niedriger Kapazitäten wird die Möglichkeit der Branchenverbände aus den neuen Mitgliedstaaten, an der Absatzförderungsstrategie umfassend teilzunehmen, erheblich eingeschränkt. Der EWSA empfiehlt der Kommission, erhöhte Vorauszahlungen (z.B. 30 % der jährlichen Kosten) für diese Verbände zu erwägen.

1.10

Nach Ansicht des EWSA sollte in den Förderbestimmungen die Rolle der Marken geklärt und dafür Sorge getragen werden, dass generische Produkte und Markenprodukte gleichermaßen gefördert werden, insbesondere in Drittländern. Zur Gewährleistung vollständiger und transparenter Informationen sollte die Herkunftsangabe bei Erzeugnissen zugelassen werden, auch bei Erzeugnissen, die keine Ursprungsbezeichnung oder geschützte geografische Angabe aufweisen.

1.11

Die Kommunikation und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission sowie zwischen den Mitgliedstaaten untereinander sollten verbessert werden. Auf Konferenzen und Seminaren sollten vorbildliche Praktiken und Sachkenntnisse ausgetauscht werden.

1.12

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zur Schaffung einer europäischen Plattform zum Austausch vorbildlicher Praktiken unter Fachleuten als wertvolles Hilfsmittel für die Entwicklung von Absatzförderungskampagnen. Ein Austauschdienst auf EU-Ebene (Workshops, Websites usw.), der allen an der Information und Absatzförderung von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen beteiligten Akteuren zur Verfügung stünde, würde der Konzipierung gut strukturierter und koordinierter Mehrländer-Programme besonders zugute kommen.

1.13

Zwischen den verschiedenen laufenden Förderprogrammen müssen Synergien geschaffen werden. Kontinuität ist für Programme von ausschlaggebender Bedeutung, damit sie die gewünschte Wirkung entfalten können. Es sollte möglich sein, ein erfolgreiches Förderprogramm ohne großen Aufwand neu aufzulegen. Es muss ein wirklich aktives Absatzförderungsnetz geschaffen werden.

1.14

Der EWSA empfiehlt der Kommission die Erstellung eines umfassenden und einfachen „Handbuchs“, das den Begünstigten bei der Einhaltung der Regeln und Verfahren der Strategie helfen könnte.

1.15

Im Rahmen der Absatzförderungspolitik müssen die Exportaktivitäten der EU-Wirtschaftsteilnehmer und insbesondere der KMU unterstützt werden, um vom Anstieg des Verbrauchs in den neu entstehenden Märkten profitieren zu können. Die Exportaktivität steht nicht nur für neue Märkte, sondern ist auch ein wichtiger Motor für die Verbesserung der Leistung von Unternehmen. Deshalb empfiehlt der EWSA der Kommission, Pilotprojekte zur Erarbeitung von Exportstrategien zu unterstützen, durch die ein Rahmen oder Netz geschaffen werden kann, das auf die individuellen Exportstrategien und -erfordernisse der Unternehmen zugeschnitten ist, um auf diese Weise die Marktdurchdringung der Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse der EU in diesen Märkten zu erleichtern.

1.16

Die Liste der unter die Rechtsvorschriften fallenden Erzeugnisse sollte erweitert werden, um die Absatzförderung all derjenigen Produkte zu ermöglichen, die für „europäische Qualitätserzeugnisse“ stehen oder deren guten Ruf stärken können. Zudem sollte auch für andere Produkte wie Starterkulturen eine Lösung gefunden werden.

1.17

Der EWSA wünscht sich eine starke Betonung des ernährungsphysiologischens Nutzens von Erzeugnissen und von gesunder Nahrung bzw. Ernährung, indem die Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse der EU in den Kontext von Ernährung und Gesundheit gestellt werden. Es sollten Initiativen zur Förderung einer ausgewogeneren Ernährung ergriffen werden. Diesbezüglich könnte der Schwerpunkt auf die Propagierung zentraler gesundheitsbezogener Schlüsselbotschaften und auf die Produktqualität gelegt werden.

1.18

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Befugnisse zum Erlass delegierter Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte nach Maßgabe des Vorschlags der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 (KOM(2011) 663 endg.) die Kohärenz der Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse verbessern und zu ihrer einheitlichen Anwendung beitragen werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, regelmäßige Kontakte zu Interessenträgern und vorschlagenden Organisationen zu halten und auf ihre Vorschläge angemessen zu reagieren.

2.   Einführung

2.1

Die EU-Strategie zur Absatzförderung für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse ist eine horizontale Maßnahme, die sich auf alle landwirtschaftlichen Bereiche erstreckt und die allgemeinen Merkmale und den Mehrwert der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) unterstreicht. Sie ergänzt die privaten und öffentlichen Absatzförderungsbemühungen auf Ebene der Mitgliedstaaten.

2.2

Die Europäische Kommission weist jährlich ca. 50 Mio. EUR zur Unterstützung von Absatzförderungskampagnen für europäische Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse und Erzeugungsverfahren zu. Diese Hilfe erhalten normalerweise Branchenverbände landwirtschaftlicher Erzeuger oder solche Verbände, die hochwertige europäische Konzepte für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse fördern.

2.3

In Absatzförderungskampagnen werden Qualität, Nährwert und Sicherheit der EU-Agrarerzeugnisse hervorgehoben, und es wird u.a. auf den hohen Mehrwert von Erzeugungsmethoden, Kennzeichnung, Tierwohl und Umweltschutz aufmerksam gemacht.

2.4

Durchgeführt werden können die Kampagnen innerhalb der EU oder jenseits ihrer Grenzen, um neue Märkte zu erschließen. Zwischen 2000 und 2010 wurden 458 Absatzförderungsprogramme von der EU mitfinanziert - eine Maßnahme, von der alle Mitgliedstaaten profitierten. Zu den Absatzförderungsmaßnahmen können Werbekampagnen in den Medien, Verkaufsstellenwerbung, die Teilnahme an Ausstellungen und Messen sowie etliche weitere Aktionen gehören.

2.5

Die EU-Mittel decken bis zur Hälfte der Gesamtkosten für die Kampagnen ab. Die vorschlagende Organisation sollte mindestens 20 % beisteuern; die restlichen Mittel können von nationalen Behörden und aus sonstigen Quellen bereitgestellt werden.

2.6

Die Programme sollten vorzugsweise mehrjährig angelegt und ausgedehnt genug sein, um eine erhebliche Wirkung auf die Zielmärkte zu haben. Vorrang haben Programme, die von Verbänden aus mehreren Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden oder sich auf mehrere Mitgliedstaaten oder Drittländer erstrecken.

2.7

Mehr als zwei Drittel aller in den letzten fünf Jahren genehmigten Informations- und Absatzförderungskampagnen des Agrar- und Lebensmittelsektors der EU waren auf den Binnenmarkt ausgerichtet. Nur 8 % der genehmigten Programme sind Mehrländerprogramme, und mehr als die Hälfe aller Anträge im Zeitraum 2006-2010 wurden abgelehnt.

2.8

Die Absatzförderungsstrategie wird in Berichten der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament schon von Anfang an regelmäßig überwacht. Der Europäische Rechnungshof hat in seinem Sonderbericht 2009 überdies Empfehlungen zu ihrer Verbesserung ausgesprochen.

3.   Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1

Ungeachtet seiner großen Erfolge ist der europäische Agrar- und Lebensmittelsektor mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Die Fortschritte der EU-Erzeuger in den Bereichen Gesundheits-, Umwelt- und Tierschutz werden nicht immer gewürdigt. Neue Konkurrenten sind sowohl auf den traditionellen Absatzmärkten als auch auf den neu entstehenden Märkten der EU hinzugekommen. Und nicht zuletzt besitzt die EU ein kulinarisches Erbe von großer Vielfalt, das voll zur Geltung gebracht werden sollte.

3.2

Mit der laufenden Reform der GAP nach 2013 soll gewährleistet werden, dass diese Politik direkt zur Strategie Europa 2020 beiträgt - durch die Förderung einer Landwirtschaft, die die Voraussetzungen für Lebensmittelsicherheit, eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen und mehr Dynamik im ländlichen Raum bietet. Parallel zur GAP-Reform hat die Kommission eine breit angelegte Konsultation der Interessenträger eingeleitet, um die Umrisse einer zielgerichteteren und ehrgeizigeren Absatzförderungsstrategie für den Agrar- und Ernährungssektor in Europa zu definieren.

3.3

Die spezifischen Ziele für den lokalen, europäischen und weltweiten Markt werden später festgelegt, um die jeweils erforderlichen Maßnahmen noch gezielter einzusetzen. Die Gesamtzielsetzungen der überarbeiteten Informations- und Absatzförderungspolitik werden beinhalten, dass

die landwirtschaftliche Erzeugung Europas besser zur Geltung gebracht und ihre Stellung auf den Märkten gestärkt werden;

für die sehr strengen EU-Vorschriften im Bereich Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Tierschutz geworben und den Verbrauchern mehr Information zum europäischen Erzeugungsmodell geboten wird;

die Verbraucher an neue Produkte herangeführt werden und die Vielfalt des europäischen Angebots hervorgehoben wird;

Qualitätssysteme und Erzeugnisse mit hoher Wertschöpfung stärker ins Blickfeld gerückt werden.

3.4

Das Grünbuch ist in vier Teile gegliedert, in denen Fragen zu verschiedenen Aspekten der Informations- und Absatzförderungspolitik aufgeworfen und erörtert werden: ihr Mehrwert für Europa, Ziele und Maßnahmen für den Binnenmarkt (einschließlich des örtlichen und regionalen Markts) und für den Außenmarkt sowie allgemeinere Aspekte bezüglich Programminhalt und Verwaltungsmodalitäten.

3.5

Im Grünbuch wird das nicht hinreichend ausgeschöpfte Potenzial regionaler und örtlicher Märkte betont. Es sollten Maßnahmen zur Finanzierung von Grunddiensten wie beispielsweise für den Aufbau von Einkaufszentren, Läden oder Märkten angeboten werden. Darüber hinaus könnte das LEADER-Instrument bei besserer Einbindung in die GAP nach 2013 eine wichtigere Rolle bei der Förderung kurzer Absatzwege spielen.

3.6

Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten könnte unterstützt werden, um eine komplementäre Wirkung zwischen den Informations- und Absatzförderungskampagnen der Mitgliedstaaten und/oder der Privatwirtschaft zu schaffen und Synergieeffekte zu fördern.

3.7

Derzeit können repräsentative Branchen- oder Dachverbände aus den betroffenen Sektoren in einem oder mehreren Mitgliedstaaten oder auf europäischer Ebene Vorschläge einreichen. Im Grünbuch wird die Möglichkeit vorgeschlagen, den Zugang zu Finanzierung neben den Branchenverbänden auch auf andere Einrichtungen, wie z.B. Unternehmen oder Handelskammern, auszudehnen.

3.8

Die gegenwärtigen Programme beziehen sich auf einzelne Produkte oder auf Qualitätssysteme (z.B. Information über Milch und ihren Nährwert). Im Grünbuch wird ein flexibleres und möglicherweise schlagkräftigeres neues Konzept vorgeschlagen, das darin besteht, zunächst Schlüsselbotschaften, die auf europäischer Ebene festgelegt werden, in den Vordergrund zu stellen und sie dann durch Veranschaulichung mit Erzeugnissen so zu nuancieren, dass die Vielfalt, der Abwechslungsreichtum und die Komplementarität des europäischen Angebots deutlich werden.

3.9

Im Grünbuch wird unterstrichen, dass die Umsetzung der Programme über einfache Verfahrensabläufe erfolgen muss. Das Auswahlverfahren verläuft zweistufig (Mitgliedstaaten und Europäische Kommission) und ist langwierig (sieben Monate zwischen dem Einreichungstermin im Mitgliedstaat und der Entscheidung der Kommission), sodass pragmatische und bedarfsgerechte Kampagnen nur begrenzt möglich sind.

3.10

Die Kommission hat ferner einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 vorgelegt, um sie mit den Artikeln 290 und 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf eine Linie zu bringen. In dem Vorschlag geht es um die Befugnisse der Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 des Rates und die Festlegung geeigneter Verfahren zum Erlass der betreffenden Rechtsakte. Mit diesem Vorschlag werden zudem bestimmte Befugnisse, die bislang von der Kommission ausgeübt wurden, als Regelungsbestandteil in die Verordnung (EG) Nr. 3/2008 einbezogen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Die wichtigsten Herausforderungen für die europäische Agrarpolitik sind: der Klimawandel; die Finanz- und Wirtschaftskrise; die ungleichen Bedingungen von alten und neuen EU-Mitgliedstaaten und Spannungen, die sich aus dem ungleichen Wettbewerb zwischen ihnen ergeben; die Dumpingpreisgefahren durch die Anwendung der GAP; Arbeitsplatzunsicherheit; instabile Märkte mit hoher Preisfluktuation. Angesichts dieser Herausforderungen ist es umso wichtiger, den Absatz der Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse der EU zu fördern und so dazu beizutragen, dass sie sich als Erzeugnisse mit hohem Mehrwert etablieren und die führende Rolle der EU als Lebensmittelanbieter gesichert wird.

4.2

Mit der Absatzförderungspolitik der EU werden die Vorteile der europäischen Produktion herausgestellt, insbesondere im Hinblick auf Qualität, Hygiene und Lebensmittelsicherheit, die durch ein hochentwickeltes Kennzeichnungs- und Rückverfolgbarkeitssystem sichergestellt werden, in Kombination mit der Wahrung der Arbeitnehmerrechte und mit Tier- und Umweltschutz. Dafür sind erhebliche finanzielle Fördermittel notwendig.

4.3

Die Agrarnahrungsmittelkette erfüllt die hohen Standards in den Bereichen Lebensmittelsicherheit, Pflanzen- und Tiergesundheit sowie Tier- und Umweltschutz. Informations- und Werbekampagnen sind ein wirksames und effizientes Mittel, um der Arbeit der Landwirte, Hersteller und Händler zu mehr Anerkennung zu verhelfen. Mit der Absatzförderungspolitik sollten diesbezüglich deshalb zwei grundlegende Ziele verfolgt werden:

Absatzförderung und Verkauf europäischer Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse auf dem Außenmarkt (Exportförderung, insbesondere für KMU, da sie als Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung in dieser Branche fungieren);

Information der Verbraucher auf dem EU-Markt, insbesondere über bestimmte Vorschriften für Qualität, Sicherheit und Rückverfolgbarkeit, Nährstoffgehalt, Umwelt- und Tierschutz, Arbeitsbedingungen usw. Mit der Strategie sollte insbesondere erreicht werden, dass die Verbraucher bereits in der Schule im Sinne eines verantwortlichen Konsums besser informiert und die Anstrengungen der Hersteller von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen - Landwirte und Industrie - zur Einhaltung der hohen EU-Standards (1) stärker anerkannt werden.

4.4

Die Absatzförderungspolitik sollte neue Kommunikationsmittel (z.B. Internetseiten) umfassen, um die Verbraucher über die Initiativen der örtlichen Erzeuger und über den Zugang zu Erzeugnissen zu informieren, die im Direktverkauf angeboten werden. Die Entwicklung „kurzer Vertriebsketten“ entspricht faktisch einer der neuen Erwartungshaltungen der Gesellschaft.

4.5

Der Rechnungshof hat empfohlen, zielgerichtete technische Unterstützung für Erzeuger bereitzustellen, und zwar durch

stärkere Synergien zwischen Erzeugern und Programmen. Kleine und mittlere Unternehmen sollten mithilfe von EU-Maßnahmen ermutigt werden, sich zusammenzuschließen und so eine kritische Größe bei der Vermarktung auf dem Außenmarkt zu erreichen. Der Aufbau von Netzwerken könnte bei der Verwirklichung dieses Ziels helfen und die Schaffung von Synergien zwischen Erzeugern auf EU-Ebene unterstützen;

Hilfe für die neuen Mitgliedstaaten durch Ausdehnung der förderfähigen Maßnahmen auf Sondierungsarbeiten (z.B. einjährige Testkampagne, Marktstudie).

4.6

Bezüglich des Vorschlags der Kommission, den Kreis der Begünstigten von Absatzförderungsmaßnahmen auszuweiten, sollte nach Ansicht des EWSA den Branchenverbänden Priorität eingeräumt werden, da sie es sind, die die Unternehmen zusammenbringen und Maßnahmen mitfinanzieren.

4.7

Der EWSA ist der Auffassung, dass bestimmte traditionelle Produkte, Marken oder Ursprungsangaben Absatzmärkte für weitere europäische Erzeugnisse eröffnen können, insbesondere auf dem Außenmarkt. In Absatzförderungsprogrammen von Branchen- und/oder Dachverbänden könnte hervorgehoben werden, dass es sich um europäische Erzeugnisse handelt, ohne dass diese Verbände auf eine Ursprungs- oder Markenangabe verzichten müssen. Dabei sollte jedoch sichergestellt werden, dass die Kenntlichmachung als europäisches Erzeugnis gegenüber der Marke klar im Vordergrund steht. Im Hinblick auf eine vollständige und transparente Information sollte es gestattet sein, den Ursprung eines Erzeugnisses anzugeben, auch bei den Erzeugnissen, die keine Ursprungsbezeichnung oder geschützte geografische Angabe aufweisen.

4.8

Gemäß Artikel 290 und 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wird die Kommission mehr Befugnisse haben. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Befugnisse zum Erlass delegierter Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte nach Maßgabe des Vorschlags der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3/2008 (KOM(2011) 663 endg.) die Kohärenz der Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse verbessern und zu ihrer einheitlichen Anwendung beitragen werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, regelmäßige Kontakte zu Interessenträgern und vorschlagenden Organisationen zu halten und auf ihre Vorschläge für einfache und unkomplizierte Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse im Binnenmarkt und in Drittländern angemessen zu reagieren.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Der EWSA schlägt der Kommission vor, die Branchenverbände der EU als vorschlagende Organisationen anzuerkennen.

5.2

Die Absatzförderung für EU-Agrarerzeugnisse in Drittländern würde es den Landwirten und Verarbeitern in der EU ermöglichen, Zugang zu großen Märkten wie u.a. Brasilien, Russland, China, Indien, Nordamerika, Australien und dem Nahen Osten zu erhalten. Eine zielgerichtete EU-Absatzförderungspolitik in Drittländern könnte zu einem gewaltigen Anstieg des Absatzes europäischer Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse außerhalb der EU führen.

5.3

Die Wirtschaftskraft überseeischer Märkte im Jahr 2010 ist ein wichtiger Faktor für die Ermittlung der Chancen für EU-Unternehmen.

5.4

Der EWSA schlägt der Kommission zur Stärkung ihrer Wettbewerbsposition vor,

sich für die Öffnung und die Entwicklung von Märkten einzusetzen, namentlich bei den Verhandlungen über internationale Übereinkommen, damit die europäischen Erzeuger stärker Gelegenheit erhalten, ihre Erzeugnisse zu exportieren;

die Lösung von Exportfragen zu erleichtern und Exporteure durch die Bereitstellung von Informationen sowie möglicherweise eine übergreifende, auf EU-Themen ausgerichtete Tätigkeit zu unterstützen.

5.5

Zur Optimierung des Vorgehens der Europäischen Union auf dem Außenmarkt empfiehlt der EWSA,

Einzel- und Großhändlern relevante Exportdaten, Länder- und Kontaktinformationen, Exportleitlinien usw. an die Hand zu geben;

zur Förderung des Exports ergänzender Erzeugnisse anzuhalten und die sektorübergreifende Zusammenarbeit für mehr Gewicht und Effizienz zu fördern;

kleine und mittlere Unternehmen zu ermutigen, sich zusammenzuschließen und so eine kritische Größe bei der Vermarktung auf dem Außenmarkt zu erreichen;

Pilotprojekte in Drittländern für die Durchdringung neuer Märkte zu unterstützen.

5.6

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, angeschlagene Branchen während und nach Krisen im Bereich Lebensmittelsicherheit zu unterstützen, um das Vertrauen wiederherzustellen und den Verbrauch neu anzukurbeln. Dynamische und sofort eingeleitete Informations- und Kommunikationskampagnen können bei der Wiederherstellung des Verbrauchervertrauens sehr hilfreich sein.

5.7

Die EWSA ist der Ansicht, dass Branchenorganisationen, die Absatzförderungsprogramme erfolgreich durchgeführt haben, die Gelegenheit erhalten sollten, sich nach einem vereinfachten Verfahren als nutznießende Organisationen und Umsetzungsstellen zu bewerben.

5.8

Der EWSA fordert die Kommission auf, Veranstaltungen/Kampagnen ins Leben zu rufen, um Branchenorganisationen aus den EU-Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, sich noch aktiver um Teilnahme an Absatzförderungsprogrammen außerhalb der EU zu bewerben: Ziel wäre es dabei, das Beste zu präsentieren, was die europäischen Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse an Geschmack, Tradition und Qualität zu bieten haben. In diesem Zusammenhang sollte Mehrländerprogrammen, die sich auf eine Reihe von Erzeugnissen erstrecken, über eine vorteilhaftere Finanzierung (60 % statt 50 %) Vorrang eingeräumt werden, da es gerade diese Erzeugnisse sind, die dem Programm eine wirklich europäische Dimension verleihen und die auch auf die Unterstützung von Seiten der EU angewiesen sind. Dabei sollten die Länder in Abhängigkeit ihres Markpotenzials priorisiert werden. Der EWSA schlägt der Kommission vor, ihren Beitrag zu Programmen in aufstrebenden Volkswirtschaften zu erhöhen.

5.9

Der EWSA empfiehlt der Kommission, eine zentrale Rolle bei der Förderung und Unterstützung kleiner Erzeuger und Verarbeiter der EU beim Zugang zu Drittmärkten zu spielen.

5.10

Die Binnenmarktprogramme müssen einen europäischen Mehrwert im Blick haben, der über den Tellerrand des rein Nationalen hinausgeht: Je vielfältiger die Erzeugnisse und Märkte, desto besser das Programm. Außerdem müssen die Programme einander ergänzen oder Synergien mit nationalen oder regionalen Programmen schaffen, um eine Verdopplung der Maßnahmen oder widersprüchliche Botschaften zu vermeiden. Um die Wirksamkeit der Informationsmaßnahmen zu verstärken, kann und muss das Potenzial des Bildungs- und Gesundheitsbereichs genutzt werden. Und nicht zuletzt sollten bei der Konzeption und Umsetzung der künftigen Informations- und Absatzförderungsstrategie für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse die Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigt werden.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 114 und ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 118.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 64/432/EWG des Rates hinsichtlich der elektronischen Datenbanken, die Teil der Überwachungsnetze in den Mitgliedstaaten sind“

KOM(2011) 524 endg. — 2011/0228 (COD)

und dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von Rindfleisch“

KOM(2011) 525 endg. — 2011/0229 (COD)

2012/C 43/14

Berichterstatter: Henry BRICHART

Der Rat beschloss am 14. bzw. 20. September und das Parlament am 13. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 64/432/EWG des Rates hinsichtlich der elektronischen Datenbanken, die Teil der Überwachungsnetze in den Mitgliedstaaten sind

KOM(2011) 524 endg. — 2011/0228 (COD)

und

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 hinsichtlich der elektronischen Kennzeichnung von Rindern und zur Streichung der Bestimmungen über die freiwillige Etikettierung von Rindfleisch

KOM(2011) 525 endg. — 2011/0229 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 180 gegen 3 Stimmen bei 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der EWSA würdigt die enorme Arbeit, die der Rindfleischsektor geleistet hat, um in der Folge der BSE-Krise (bovine spongiforme Enzephalopathie) das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen.

1.2

Das derzeitige System der Kennzeichnung und Registrierung von Rindern stellt Transparenz und Rückverfolgbarkeit sicher und gewährt ein hohes Maß an Genauigkeit und Handlungsfähigkeit.

1.3

Die Möglichkeit, Tiere zu lokalisieren und zu identifizieren, trägt zudem entscheidend zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten bei.

1.4

Der Einsatz der verschiedenen Technologien stellt jedoch für den Sektor eine große finanzielle Belastung dar.

1.5

Die technischen Entwicklungen seit 1997, insbesondere die elektronische Kennzeichnung, können in diesem Bereich für die beteiligten Akteure eine große Hilfe sein.

1.6

Es ist jedoch festzustellen, dass die direkten Kosten und Vorteile, die diese Technologien mit sich bringen, nicht gleichmäßig entlang der Lebensmittelkette verteilt sind; die Kosten werden im Wesentlichen von den Landwirten getragen, während die finanziellen Vorteile zum großen Teil den nachgeschalteten Akteuren in der Lebensmittelkette zugutekommen.

1.7

Da es wenig wahrscheinlich ist, dass die sehr hohen Kosten dieser Technologie durch den Markt kompensiert werden können, ist es nach Ansicht des EWSA besser, das System der elektronischen Kennzeichnung von Rindern auf europäischer Ebene nicht zwingend vorzuschreiben. Zudem würden den Verbrauchern hierdurch keine echten zusätzlichen Vorteile entstehen.

1.8

Für den Fall jedoch, dass in einem Mitgliedsland die Akteure der Lebensmittelkette mit der Anwendung dieser Technologie einverstanden wären, muss die Möglichkeit vorgesehen sein, dass dieser Mitgliedstaat die Technologie auf seinem Gebiet zwingend vorschreibt.

1.9

Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass den Züchtern die Möglichkeit einer freiwilligen Anwendung der elektronischen Kennzeichnung gewährt werden muss.

1.10

Um jegliche Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden, die sich negativ auf den gemeinsamen Binnenmarkt auswirken könnte, müsste somit das Land, das die Kennzeichnung zwingend vorschreibt, die Kosten für die elektronische Kennzeichnung der in sein Gebiet importierten Tiere übernehmen.

1.11

Der EWSA ist außerdem der Ansicht, dass im Hinblick auf eine Harmonisierung der Verfahren die elektronischen Marken alle auf derselben Technologie beruhen sollten. Es ist daher unabdingbar, dass diese unter Berufung auf internationale Normen vereinheitlicht werden.

1.12

Der EWSA begrüßt somit im Großen und Ganzen den Kommissionsvorschlag, möchte aber sichergestellt sehen, dass dabei besonders auf das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Marktes und die Folgen für die einzelnen Teile der Produktionskette geachtet wird.

1.13

Bezüglich der freiwilligen Kennzeichnung von Rindfleisch hat der EWSA keine Einwände gegen die Streichung der gemeinschaftlichen Bestimmungen, sofern die Marktteilnehmer zusätzliche Informationen, die sie als wichtig ansehen, auf den Etiketten angeben können.

2.   Hintergrund

2.1

Die Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 schreibt vor, dass jeder Mitgliedstaat ein System zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern einführt, das folgende Elemente umfasst: die individuelle Kennzeichnung der Tiere mit Ohrmarken, ein Bestandsregister in jedem Betrieb, einen Rinderpass für jedes Tier mit Angaben zu sämtlichen Verbringungen und die Meldung aller Verbringungen an eine elektronische Datenbank, wodurch eine rasche Rückverfolgung der Tiere und Identifizierung der Kohorten bei Krankheit ermöglicht wird. Mit dieser Regelung gelang es, das Vertrauen der Verbraucher in die Qualität von Rindfleisch durch Transparenz und lückenlose Rückverfolgbarkeit von Rindern und Rindfleisch wiederherzustellen, sowie die Möglichkeit einer Lokalisierung von Tieren und deren Rückverfolgbarkeit für tierärztliche Zwecke zu schaffen (ein entscheidender Faktor für die Bekämpfung ansteckender Krankheiten).

2.2

Die Verordnung zählt zu den „Informationspflichten mit besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Belastung für die Unternehmen“ im Sinne der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union“. Der Aktionsplan für die neue Tiergesundheitsstrategie der Europäischen Union sieht vor, dass die Kommission im Zuge der Einführung der elektronischen Kennzeichnung für Rinder die Informationspflichten vereinfacht.

2.3

Als die derzeit geltenden Vorschriften für die Kennzeichnung von Rindern 1997 erlassen wurden, war die elektronische Kennzeichnung jedoch aus technischer Sicht für die Anwendung bei Rindern noch nicht ausgereift. Die elektronische Kennzeichnung mittels Funkfrequenzkennzeichnung (RFID) hat in den letzten zehn Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht und bietet eine schnellere und genauere Erfassung der individuellen Kenncodes der Tiere in Datenverarbeitungssystemen. Die Verwendung elektronischer Kennzeichnungsmittel könnte, insbesondere wenn das Register in elektronischer Form geführt wird (was bei einer zunehmenden Zahl von Betrieben der Fall ist) zur Reduzierung des Verwaltungs- und Papieraufwandes beitragen. Ein schnelleres und zuverlässigeres System wird eine schnellere und genauere Erfassung als durch herkömmliche Ohrmarken erlauben und damit das Verfahren zur Meldung von Tierverbringungen an die zentrale Datenbank vereinfachen sowie eine bessere und schnellere Rückverfolgbarkeit infizierter Tiere und/oder infizierter Lebensmittel ermöglichen.

2.4

Die elektronische Kennzeichnung wurde in der Union bereits für mehrere Tierarten eingeführt. Mehrere EU-Mitgliedstaaten haben begonnen, die elektronische Kennzeichnung von Rindern auf freiwilliger Basis einzusetzen. Da keine harmonisierten technischen EU-Normen vorliegen, ist es möglich, dass jeweils unterschiedliche elektronische Kennzeichnungsmittel und Lesegeräte mit unterschiedlicher RFID-Frequenz verwendet werden. Die damit verbundene fehlende Harmonisierung könnte den elektronischen Datenaustausch behindern und die Vorteile der elektronischen Kennzeichnung zunichtemachen.

2.5

Die Folgenabschätzung kommt zu dem Schluss, dass im Rahmen der Einführung einer elektronischen Kennzeichnung von Rindern auf freiwilliger Basis als Instrument für eine amtliche Kennzeichnung den Akteuren Zeit gelassen werden sollte, sich mit dem System vertraut zu machen. Andererseits könnte die obligatorische Einführung der elektronischen Kennzeichnung für einige Unternehmen mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden sein.

2.6

Die Verordnung (EG)Nr. 1760/2000 sieht ferner ein Kennzeichnungssystem für Rindfleisch auf freiwilliger Basis vor, dessen Mängel die Kommission in dem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand und den Kosten sowie in der uneinheitlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten sieht.

3.   Zu den Vorschlägen der Kommission

3.1

Der Vorschlag der Kommission (KOM(2011) 525 endg.) berücksichtigt die Ergebnisse der Konsultationen mit interessierten Parteien und das Ergebnis einer Folgenabschätzung. Die Kommission schlägt vor, die elektronische Kennzeichnung von Rindern auf freiwilliger Basis einzuführen. Im Rahmen dieses freiwilligen Systems

könnten Rinder mit zwei herkömmlichen Ohrmarken (derzeitiges System) oder mit einer herkömmlichen sichtbaren Ohrmarke und einem elektronischen Kennzeichnungsmittel nach EU-weit harmonisierten Normen gekennzeichnet werden.

Ferner ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten sich für eine verbindliche Regelung in ihrem Hoheitsgebiet entscheiden können.

3.2

Der Vorschlag enthält zudem die Abschaffung der Mitteilungspflicht in Bezug auf die Verwendung zusätzlicher Angaben im Rahmen des Systems der freiwilligen Etikettierung, da die Kosten und der Verwaltungsaufwand hierfür zu hoch sind.

3.3

Der Vorschlag bringt die Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 in Einklang mit den Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

3.4

Das vorgeschlagene System der elektronischen Kennzeichnung von Rindern macht es erforderlich, die Richtlinie 64/432/EWG des Rates hinsichtlich der elektronischen Datenbanken, die Teil der Überwachungsnetze in den Mitgliedstaaten sind, entsprechend zu ändern. Die in der Richtlinie 64/432/EWG festgelegten Datenelemente enthalten bislang keine Bezugnahme auf elektronische Mittel zur Kennzeichnung. Auf dieser Grundlage werden beide Vorschläge im Rahmen desselben Legislativpakets vorgelegt.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse“

KOM(2011) 530 endg. — 2011/0231 (COD)

2012/C 43/15

Berichterstatter: José María ESPUNY MOYANO

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 14. September 2011 bzw. am 15. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse

KOM(2011) 530 endg. — 2011/0231 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 186 gegen 4 Stimmen bei 8 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse, der die spezifischen Gemeinschaftsvorschriften über diese Erzeugnisse vereinfacht, aktualisiert und ersetzt (d.h. die Verordnung (EWG) Nr. 1601/91 des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln für die Begriffsbestimmung, Bezeichnung und Aufmachung aromatisierter weinhaltiger Getränke und aromatisierter weinhaltiger Cocktails (1) und die Verordnung (EG) Nr. 122/94 der Kommission über Vorschriften für den Zusatz von Aromastoffen und Alkohol für bestimmte Erzeugnisse (2).

1.2

Der EWSA stellt fest, dass der Verordnungsvorschlag im Wesentlichen auf die Vereinfachung und Modernisierung dieser Rechtsakte, die das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts für diese Erzeugnisse ermöglicht sowie die sachgerechte Information der Verbraucher und deren angemessenen Schutz sichergestellt haben, beschränkt ist und darauf abzielt, diese an die rechtliche Entwicklung im Bereich der Weinqualitätspolitik sowie an die Regeln der WTO und die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: „der Vertrag“) anzupassen. Dabei werden einige technische Anpassungen vorgenommen, die zu folgenden Verbesserungen führen:

Verbesserung der Anwendbarkeit, Lesbarkeit und Eindeutigkeit der EU-Rechtsvorschriften für aromatisierte Weinerzeugnisse;

Stärkung und Aktualisierung der Qualitätspolitik für diese Erzeugnisse; gleichzeitig Verbesserung der Qualität und des guten Rufs, die diese Erzeugnisse auf dem Binnen- und Weltmarkt genießen, auf der Grundlage der derzeit geltenden Begriffsbestimmungen, Aktualisierung bestimmter Verkehrsbezeichnungen und Schaffung der Möglichkeit, anstelle des direkten Zusatzes von Agraralkohol den Weingehalt anzuheben, Gewährleistung einer angemessenen Verbraucherinformation;

Anpassung der Vorschriften über die Herstellung dieser Erzeugnisse an die neuen Voraussetzungen und technischen Möglichkeiten;

Anpassung der EU-Vorschriften an die Erfordernisse im Rahmen der WTO, einschließlich des TRIPS-Übereinkommens;

Aktualisierung der Kriterien für die Anerkennung neuer geografischer Angaben.

2.   Einleitung

2.1

Die Europäische Kommission schlägt vor, die Vorschriften über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse zu aktualisieren und dadurch die Qualität und den guten Ruf, die diese Erzeugnisse auf dem Binnen- und Weltmarkt genießen, zu verbessern, um so den technologischen Innovationen, der Entwicklung der Märkte und der Erwartungen der Verbraucher Rechnung zu tragen und die traditionellen Herstellungsverfahren zu erhalten.

2.2

Dem Vorschlag der Europäischen Kommission zufolge gilt die Verordnung für alle auf dem Binnenmarkt vermarkteten aromatisierten Weinerzeugnisse, unabhängig davon, ob sie in der EU oder in Drittländern hergestellt wurden, um den Schutz der Verbraucherinteressen zu gewährleisten, sowie für alle in der EU hergestellten aromatisierten Weinerzeugnisse, die für die Ausfuhr bestimmt sind, um den Ruf dieser Erzeugnisse auf dem Weltmarkt zu verbessern.

2.3

Im Vorschlag wird im Wesentlichen an den klassischen Begriffsbestimmungen für aromatisierte Weinerzeugnisse gemäß den traditionellen Verfahren zur Sicherstellung der Qualität festgehalten, wobei sie jedoch aufgrund der technologischen Entwicklungen aktualisiert und verbessert werden sollten. Es wird insbesondere die Möglichkeit geschaffen, anstelle des direkten Zusatzes von Agraralkohol den Weingehalt anzuheben. Für einige aromatisierte Weinerzeugnisse wird vorgeschlagen, den Mindestalkoholgehalt deutlich zu senken, um der steigenden Nachfrage der Verbraucher nach Erzeugnissen mit geringem Alkoholgehalt zu begegnen und den technischen Entwicklungen Rechnung zu tragen, die eine Qualität ermöglichen, die bisher nur durch einen höheren Mindestalkoholgehalt gewährleistet werden konnte. Darüber hinaus werden besondere Maßnahmen für die Bezeichnung und Aufmachung dieser Erzeugnisse festgelegt, die die horizontalen EU-Rechtsvorschriften über die Lebensmittelkennzeichnung ergänzen, um einem Missbrauch der Verkehrsbezeichnungen von aromatisierten Weinerzeugnissen, die den Anforderungen der vorliegenden Verordnung nicht entsprechen, entgegenzuwirken.

2.4

Dem Vorschlag zufolge müssen aromatisierte Weinerzeugnisse nach Regeln erzeugt werden, die gewährleisten, dass den Erwartungen der Verbraucher in Bezug auf Qualität und Herstellungsverfahren entsprochen wird. Um die internationalen Normen in diesem Bereich zu erfüllen, sollten diese Regeln in Einklang mit den Bestimmungen über Weinerzeugnisse generell auf den von der Internationalen Organisation für Rebe und Wein (OIV) veröffentlichen Empfehlungen beruhen.

2.5

Der Vorschlag enthält Sondervorschriften für den Schutz geografischer Angaben bei aromatisierten Weinerzeugnissen, die nicht in den Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. XXXX/20YY des Europäischen Parlaments und des Rates [KOM(2010) 733 endg.] über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse, der Verordnung (EU) Nr. XXXX/20YY des Europäischen Parlaments und des Rates [KOM(2010) 799 endg.] über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung „Einheitliche GMO“) und der Verordnung (EG) Nr. 110/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von Spirituosen sowie zum Schutz geografischer Angaben für Spirituosen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1576/89 des Rates fallen und mit denen ein gemeinschaftliches Verfahren für die Eintragung, Kontrolle der Einhaltung, Änderung und eventuelle Streichung von geografischen Angaben aus Drittländern und der EU gemäß den Bestimmungen über Weinerzeugnisse festgelegt wird.

2.6

Der Vorschlag sieht auch Änderungen vor, die nötig sind, um die der Kommission gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1601/91 und der Verordnung (EG) Nr. 122/94 übertragenen Befugnisse an die Artikel 290 und 291 des Vertrags anzugleichen.

2.7

Der Vorschlag hat keine Auswirkungen auf den EU-Haushalt.

3.   Bemerkungen

3.1

Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung über die Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse.

3.2

Aromatisierte Weinerzeugnisse sind für die Verbraucher, die Hersteller und den Agrarsektor in der EU von großer Bedeutung. Die EU zeichnet für ca. 90 % der weltweiten Produktion dieser Erzeugnisse (ca. 3 Mio. hl pro Jahr) und einen Verbrauch von ca. 2 Mio. hl pro Jahr verantwortlich. Die wichtigsten Erzeugerländer in der EU sind Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland, obwohl es auch traditionelle Erzeugnisse gibt, die in der Kultur zahlreicher anderer Mitgliedstaaten - sowohl in Nord- als auch in Mittel- und Osteuropa - verwurzelt sind. Diese Erzeugnisse bilden zudem einen Markt, der für die Wertschöpfungskette des europäischen Weinsektors quantitativ und qualitativ sehr wichtig ist. Sie bieten gleichzeitig stabile Absatzmöglichkeiten für europäische Weine (insbesondere Weißweine) und fördern das Gleichgewicht des Weinmarkts und die Stärkung seiner Wettbewerbsfähigkeit - eines der Hauptziele der GAP für diesen Sektor.

3.3

Die vorgeschlagenen Maßnahmen tragen dazu bei, den Ruf, den diese Erzeugnisse auf dem Binnen- und Weltmarkt genießen, zu festigen, die traditionellen Verfahren für ihre Herstellung zu erhalten und ihre Anpassung an die Nachfrage der Verbraucher und die technologische Innovation - sofern diese zur Qualitätsverbesserung beiträgt - zu ermöglichen und schließlich ein hohes Verbraucherschutzniveau, die Herbeiführung der Markttransparenz und die Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb zwischen den Marktteilnehmern zu gewährleisten.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. L 149 vom 14.6.1991, S. 1.

(2)  ABl. L 21 vom 26.1.1994, S. 7.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten“

KOM(2011) 555 endg. — 2011/0239 (COD)

2012/C 43/16

Berichterstatterin: Anna BREDIMA

Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschlossen am 30. September bzw. 28. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten

KOM(2011) 555 endg. — 2011/0239 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 176 gegen 3 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Eine bessere Ausbildung von Seeleuten ist für die Anziehungskraft der Seeschifffahrtsberufe in der EU von zentraler Bedeutung und führt zu einer höheren Sicherheit und Gefahrenabwehr im Seeverkehr. Schifffahrtsbezogenes Fachwissen ist strategisch wichtig für die weltweite Führungsrolle der EU im Bereich der Seefahrt.

1.2   Der EWSA unterstützt den Richtlinienentwurf zur Anpassung der Richtlinie 2008/106/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten an die 2010 in Manila vorgenommenen Änderungen des Internationalen Übereinkommens von 1978 über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten (STCW-Übereinkommen).

1.3   Für die EU-Mitgliedstaaten ist die Annahme des Richtlinienvorschlags unerlässlich, da die Ausbildung von Seeleuten infolge des Inkrafttretens der in Manila beschlossenen Änderungen an dem STCW-Übereinkommen ab 2012 neuen Bestimmungen über Fähigkeiten, Berufsprofile, Sicherheit und Befähigungszeugnisse auf internationaler Ebene unterliegt.

1.4   Der EWSA ist mit dem vorgeschlagenen Wortlaut von Artikel 15 Absatz 11 nicht einverstanden, wo es heißt, dass „die Mitgliedstaaten Tarifverträge genehmigen oder registrieren [können], die Ausnahmen von den […] vorgeschriebenen Ruhezeiten [der Seeleute] gestatten“. Die EU-Richtlinie darf nicht vom Wortlaut der bestehenden internationalen und europäischen Rechtsvorschriften abweichen, nämlich von dem ILO-Übereinkommen Nr. 180, dem ILO-Übereinkommen über Mindestarbeitsnormen im Seeverkehr von 2006 und der Richtlinie 1999/63/EG. Diese Richtlinie zur Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten ist das Ergebnis langer und schwieriger Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern; dieses Ergebnis des sozialen Dialogs sollte von den EU-Institutionen respektiert werden.

1.5   Der EWSA schlägt vor, das Standardmuster zur Registrierung der Ruhe- und der Arbeitszeit in der vorgeschlagenen Richtlinie zu spezifizieren. In dem Standardmuster könnte auf die IMO- bzw. ILO-Leitlinien für die Erstellung von Übersichten über die Arbeitsorganisation an Bord und von Verzeichnissen über die Arbeits- und Ruhezeiten der Seeleute verwiesen werden.

1.6   Der EWSA merkt an, dass das STCW-Übereinkommen bereits am 1. Januar 2012 in Kraft treten wird, die vorgeschlagene Richtlinie aber aufgrund der vorbereitenden Gesetzgebungsverfahren im Rat der EU und im Europäischen Parlament nicht vor Juli 2012. Der EWSA verweist darauf, dass es mit den neuen Arbeitszeiten der Seeleute Probleme bei der Kontrolle durch den Hafenstaat außerhalb der EU geben wird und dass die europäischen Seeleute zunächst keine Befähigungszeugnisse nach STCW 2010 haben werden. Diesbezüglich bedarf es rechtlicher Klarstellungen.

1.7   Bezüglich der Bewertung von Drittländern zur Anerkennung ihrer Ausbildungseinrichtungen und Befähigungszeugnisse geht der EWSA davon aus, dass die Verlängerung von derzeit drei auf 18 Monate realistisch ist, wenn man das hohe Arbeitsaufkommen für Seefahrtnationen und den Ressourcenmangel in Ländern ohne Seefahrt berücksichtigt.

1.8   Der EWSA begrüßt, dass die EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, der Europäischen Kommission für statistische Analysen standardisierte Informationen über die Ausstellung von Befähigungszeugnissen für Seeleute zu übermitteln.

1.9   Der EWSA schlägt vor, die Definition eines Schiffsbetriebstechnikers gemäß den Bestimmungen des STCW-Übereinkommens in die vorgeschlagene Richtlinie aufzunehmen.

1.10   Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, angesichts der weltweiten Zunahme von Piratenangriffen umgehend die Frage eines Piratenabwehrtrainings für Seeleute zu prüfen. Grundlage eines solchen Trainings sollten die einschlägigen bewährten Praktiken der Vereinten Nationen und der Internationale Kodex für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen (ISPS) sein.

2.   Einleitung

2.1   Der Schlüssel zu gewinnbringender Schifffahrt ist die Qualität der Ausbildung von Seeleuten. Selbst in Zeiten globaler wirtschaftlicher Schwierigkeiten darf die Ausbildung in Schifffahrtsberufen nicht als Kostenfaktor angesehen werden, sondern muss als Investition gelten. Der Weg für mehr Sicherheit und eine bessere Gefahrenabwehr im Seeverkehr führt über die Ausbildung der Seeleute.

2.2   Im Internationalen Übereinkommen über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten (STCW-Übereinkommen von 1978) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) wird hauptsächlich auf die Anforderungen für die Ausbildung von Offizieren eingegangen. Das STCW-Übereinkommen wurde zunächst 1995 und jüngst im Juni 2010 in Manila geändert.

2.3   In früheren Stellungnahmen (1) hat der EWSA die Bedeutung des europäischen Fachwissens im Bereich der Seefahrt, der Kohärenz der EU-Richtlinien mit dem STCW-Übereinkommen sowie einer besseren Ausbildung von Seeleuten als eine wesentliche Maßnahme zur Steigerung des Interesses junger Leute für Schifffahrtsberufe hervorgehoben (EWSA-Konferenz zur Attraktivität der maritimen Berufe am 11. März 2010). Für die EU ist der Erhalt der Arbeitsplätze ihrer 250 000 Seefahrer von zentraler Bedeutung, denn mit ihnen würden auch über 2 Mio. weitere Arbeitsplätze im europäischen Schifffahrtssektor verlorengehen. Daher ist eine bessere Ausbildung von Seeleuten strategisch wichtig für die weltweit führende Rolle der EU im Bereich der Seefahrt.

2.4   Mit dem Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2008/106/EG werden zwei Ziele verfolgt, nämlich erstens das EU-Recht durch die Umsetzung des 2010 auf der Konferenz in Manila angenommenen überarbeiteten STCW-Übereinkommens von 1978 den internationalen Vorschriften anzugleichen und zweitens die Mitgliedstaaten zur Übermittlung von Angaben in Bezug auf die Befähigungszeugnisse zu verpflichten und den Zeitraum für die Anerkennung der Ausbildungssysteme von Drittländern zu verlängern. Die neuen internationalen Normen treten am 1. Januar 2012 in Kraft. Die vorgeschlagene Frist zur Umsetzung auf europäischer Ebene endet am 31. Dezember 2012. Letztendlich soll sichergestellt werden, dass das aktualisierte STCW-Übereinkommen von den Mitgliedstaaten einheitlich angewandt wird und dass Seeleute, die auf Schiffen unter einer EU-Flagge arbeiten und über Befähigungszeugnisse verfügen, die von einem Drittland erteilt wurden, ordnungsgemäß ausgebildet sind.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Ausbildung von Seeleuten wird ab 2012 neuen Bestimmungen über Fähigkeiten, Berufsprofile, Sicherheit und Befähigungszeugnisse unterliegen. Ausbildung und Befähigungszeugnisse sind für die Sicherheit im Seeverkehr von zentraler Bedeutung, da eine unzureichende Ausbildung und ein Mangel an angemessen qualifiziertem Personal die Unfallgefahr ansteigen lassen. Das STCW-Übereinkommen der IMO gehört zu den vier wichtigsten internationalen Schifffahrtsübereinkommen. Die anderen drei sind das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), das Internationale Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL) und das Seearbeitsübereinkommen (MLC). Da die Mitgliedstaaten der EU das Übereinkommen ebenfalls unterzeichnet haben, sollten das internationale und das europäische Recht miteinander im Einklang stehen. Diese Änderungen erhöhen die Normen in Bezug auf körperliche Eignung, Diensttüchtigkeit und Alkoholmissbrauch und führen neue Berufsprofile ein – beispielsweise „Vollmatrosen“ und „Offiziere mit der Fachbefähigung in Elektrotechnik“, Ausbildungsmaßnahmen im Bereich der Gefahrenabwehr für alle Seeleute sowie einfachere und klarere Arten von Befähigungszeugnissen. Der Richtlinieentwurf enthält Verbesserungen in Bezug auf die Verfahren (z.B. Ausschussverfahren und Anerkennung von Ausbildungsstätten in Drittländern) und die Vorschrift, dass Mitgliedstaaten Statistiken über die Ausbildung von Seeleuten vorzulegen haben.

3.2   Der EWSA unterstützt den Vorschlag zur Anpassung der Richtlinie 2008/106/EG über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten an die 2010 in Manila vorgenommenen Änderungen des STCW-Übereinkommens. Er schlägt vor, dass die Europäische Kommission die Umsetzung der STCW-Richtlinie durch die Mitgliedstaaten sorgfältig überwacht, und betont, dass die Bewertung von Drittländern zur Anerkennung ihrer Ausbildungseinrichtungen und Befähigungszeugnisse unter Beachtung des STCW-Übereinkommens erfolgen muss. Auch wenn der Vorschlag in weiten Teilen eine wörtliche Übernahme der Manila-Änderungen in das EU-Recht ist, enthält er auch leichte Änderungen bestehender europäischer Vorschriften zur Anerkennung der Befähigungszeugnisse von Seeleuten.

3.3   Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass die Task Force für Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit im Seeverkehr (GD MOVE) der Europäischen Kommission (Juli 2011) Vorschläge zur Aufnahme der Vereinbarung von Manila bezüglich des STCW-Übereinkommens in das EU-Recht vorgelegt hat. Die globale Normierung der Ausbildung macht es möglich, dass auf europäischen Schiffen gut ausgebildete Seeleute arbeiten, ohne dass dies vom Ort ihrer Ausbildung abhängt. So stellte auch das für Verkehr zuständige Kommissionsmitglied Siim Kallas fest, dass es auf internationaler Ebene unbedingt Mindestnormen für die Ausbildung geben muss, da der Seeverkehr ein globaler Wirtschaftszweig ist.

3.4   In seiner Stellungnahme zum Verkehrsweißbuch (Stellungnahme zu dem Weißbuch: Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – CESE 1607/2011 vom 26. Oktober 2011, Berichterstatter: Pierre-Jean COULON, Mitberichterstatter: Stefan BACK) wiederholte der EWSA, dass die „EU-Rechtsvorschriften (…) im Einklang mit internationalen Vorschriften stehen (sollten), insbesondere (…) dem STCW-Übereinkommen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO (Internationales Übereinkommen über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungsnachweisen, Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten).“

3.5   Jüngste Untersuchungen belegen, dass insbesondere bei den einfachen Seeleuten auf dem internationalen Arbeitsmarkt gefälschte Zeugnisse ein besorgniserregendes Problem darstellen und Zweifel über die Gültigkeit ihrer Befähigungsnachweise aufkommen lassen Außerdem können viele Matrosen aus Drittländern wegen kultureller Unterschiede, Sprachproblemen und Beschäftigungsbeschränkungen nicht dazu beitragen, das Defizit an europäischen Seeleuten auszugleichen (2).

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Artikel 15 Absatz 9 (Standardmuster zur Erfassung der täglichen Ruhezeiten)

4.1.1   In Artikel 15 Absatz 9 wird das Standardmuster zur Registrierung der Ruhe- und Arbeitszeiten, das die Verwaltungen führen müssen, nicht spezifiziert. In Abschnitt A-VIII/1 Absatz 7 des in Manila geänderten STCW-Übereinkommens wird auf die IMO- bzw. ILO-Leitlinien für die Erstellung von Übersichten über die Arbeitsorganisation an Bord und von Verzeichnissen über die Arbeits- und Ruhezeiten der Seeleute verwiesen. Auch im Seearbeitsübereinkommen der ILO von 2006 wird unter Regel 2.3 – Norm A2.3 Absätze 10 und 11 auf ein Standardmuster für Arbeits- und Ruhezeiten verwiesen.

4.1.2   Der EWSA schlägt vor, das Standardmuster zur Registrierung der Ruhe- und Arbeitszeiten in dem Richtlinienentwurf zu spezifizieren. In dem Standardmuster sollte auf die IMO- bzw. ILO-Leitlinien für die Erstellung von Übersichten über die Arbeitsorganisation an Bord und von Verzeichnissen über die Arbeits- und Ruhezeiten der Seeleute verwiesen werden.

4.2   Artikel 15 Absatz 11 (Ruhezeiten)

4.2.1   Im überarbeiteten Artikel 15 Absatz 11 heißt es, dass „die Mitgliedstaaten Tarifverträge genehmigen oder registrieren [können], die Ausnahmen von den […] vorgeschriebenen Ruhezeiten gestatten“. Dies stellt eine erhebliche Einengung des Wortlauts dar, der in den bestehenden internationalen und europäischen Rechtsakten zu finden ist, insbesondere im Vergleich zum STCW-Übereinkommen und dem Übereinkommen Nr. 180 der ILO (und damit dem Seearbeitsübereinkommen der ILO).

4.2.2   Der Wortlaut von Artikel 15 Absatz 11 unterscheidet sich von dem der Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21.6.1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (ETF) getroffene Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten. Solche Vereinbarungen sind das Ergebnis langwieriger und schwieriger Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern, und das Endergebnis solcher Verhandlungen ist ein fein austariertes Gleichgewicht. Eine Änderung des Wortlauts einer Vereinbarung der Sozialpartner sollte im Wege von Gesprächen und Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern beschlossen werden. Der neue – und engere – Wortlaut in Artikel 15 Absatz 11 ist nicht der Niederschlag eines Gesprächs oder einer Verhandlung zwischen Sozialpartnern. Er wurde ohne jegliche vorherige Konsultation der Sozialpartner von der Europäischen Kommission eingeführt. Der EWSA fordert die Kommission auf, den in der Richtlinie 1999/63/EG gewählten Wortlaut hinsichtlich der Vereinbarung der Sozialpartner über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten zu wahren.

4.3   Inkrafttreten der neuen Richtlinie

4.3.1   Die Manila-Änderungen des STCW-Übereinkommens werden am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Die Kommission hat jedoch angesichts des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren im Ministerrat und im Europäischen Parlament vorgesehen, „dass die vorgeschlagene Richtlinie in Kraft treten soll, sobald sie im Amtsblatt veröffentlicht wird“, weil „der vorliegende Vorschlag bis zu diesem Zeitpunkt (d.h. dem 1. Januar 2012) noch nicht verabschiedet sein wird.“

4.3.2   Aufgrund der Verzögerung bei der Annahme der Richtlinie wird es zu einem rechtlichen Paradoxon kommen, nämlich einem Konflikt zwischen dem STCW-Übereinkommen von Manila und der überarbeiteten STCW-Richtlinie, insbesondere in Bezug auf das Datum des Inkrafttretens. Entweder befinden sich die Mitgliedstaaten am 1. Januar 2012 nicht im Einklang mit ihren internationalen Verpflichtungen, oder – wenn sie das Übereinkommen ratifizieren – sie werden gegen die bestehende STCW-Richtlinie verstoßen. Die Mitgliedstaaten werden wahrscheinlich die Endform der Richtlinie abwarten, bevor sie das Manila-Übereinkommen ratifizieren. In der Zwischenzeit werden Schiffe unter EU-Flagge weiterhin Drittländer anlaufen, die das Manila-Übereinkommen eventuell bereits ratifiziert haben. Dies würde ein ernstes Problem für die Schiffe unter EU-Flagge mit sich bringen, da sich die EU-Flaggenstaaten noch nicht nach den Vorschriften des Manila-Übereinkommens richten würden.

4.3.3   Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass es in Drittländern Probleme mit der Hafenstaatkontrolle geben wird, insbesondere hinsichtlich der neuen Bestimmungen über Ruhezeiten. Das Problem wird bei der Anwendung der neuen Bestimmungen über Ruhezeiten auftreten. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass einige Schiffe unter EU-Flagge Probleme mit der Hafenstaatkontrolle in Drittlandshäfen haben könnten. Seeleute aus der EU könnten an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, da sich nicht rechtzeitig über ein STCW-2010-Befähigungszeugnis verfügen. Des Weiteren wird es Probleme mit der Gültigkeit der Befähigungszeugnisse und den Auswirkungen auf die Geltungsdauer von Vermerken geben, die europäischen Seeleuten von Drittländern ausgestellt wurden. Angesichts dieser Probleme bedarf es rechtlicher Klarstellungen.

4.4   Anerkennung von Ausbildungs- bzw. Zeugnissystemen von Drittländern

4.4.1   Bezüglich der Bewertung von Drittländern zur Anerkennung ihrer Ausbildungseinrichtungen und Befähigungszeugnisse wird die Dauer in dem Vorschlag von derzeit drei auf 18 Monate verlängert. Aufgrund des absehbaren Arbeitsaufkommens für Seefahrtnationen (z.B. Malta) oder des Ressourcenmangels in Ländern ohne Seefahrt fordern einige Mitgliedstaaten eine längere Frist. Der EWSA hält die Verlängerung im Sinne der Berücksichtigung des Arbeitsaufkommens für Seefahrtnationen für realistisch.

4.5   STCW-Informationssystem

4.5.1   Die Kommission bedauert, dass häufig nur ungenaue Angaben über Befähigungszeugnisse vorliegen. Sie schlägt einen einheitlichen und kohärenten Abgleich der in den nationalen Registern vorhandenen Information vor. Der EWSA begrüßt, dass die EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, der Europäischen Kommission für statistische Analysen standardisierte Informationen über die Ausstellung von Befähigungszeugnissen für Seeleute zu übermitteln. Die Nutzung des „STCW-Informationssystems“ der EMSA als Plattform für die Sammlung der erforderlichen Informationen würde der Wirtschaft bei der Berechnung des aktuellen und der Schätzung des künftigen Angebots von und Bedarfs an Seeleuten behilflich sein.

4.6   Schiffsbetriebstechniker

4.6.1   Während im Richtlinienentwurf auf Regel III/7 verwiesen wird, wurde die Definition des Schiffsbetriebstechnikers gemäß Regel I/1 (36) nicht in den neuen Richtlinienvorschlag aufgenommen.

4.6.2   Der EWSA schlägt vor, die in der Regel I/1 (36) des STCW-Übereinkommens formulierte Definition eines Schiffsbetriebstechnikers mit folgendem Wortlaut in die vorgeschlagene Richtlinie aufzunehmen: „Schiffsbetriebstechniker - ein Seemann, der eine Befähigung gemäß Regel III/7 des Übereinkommens besitzt“.

4.7   Piratenabwehrtraining

4.7.1   Der EWSA geht davon aus, dass angesichts der sprunghaften Zunahme der Piraterie und ihrer Folgen für die Seeleute dringend ein Piratenabwehrtraining für Seeleute benötigt wird. Er fordert die Kommission daher auf, diese Frage mit den Mitgliedstaaten zu erörtern und hierbei die diesbezüglichen Regelungen der bewährten Praktiken (zur Verhütung seeräuberischer Handlungen) der Vereinten Nationen und den Internationalen Kodex für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen (ISPS) zu berücksichtigen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 50-56.

ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 31-36.

ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 103-109.

ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 22-30.

ABl. C 14 vom 16.1.2001, S. 41.

ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 9-14.

ABl. C 133 vom 6.6.2003, S. 23-25.

ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 42-47.

ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 53-55.

ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 33-34.

ABl. C 151 vom 17.6.2008, S. 35.

(2)  ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 9-14.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Handel, Wachstum und Weltgeschehen — Handelspolitik als Kernbestandteil der Strategie Europa 2020“

KOM(2010) 612 endg.

2012/C 43/17

Berichterstatterin: Evelyne PICHENOT

Die Europäische Kommission beschloss am 9. November 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Handel, Wachstum und Weltgeschehen — Handelspolitik als Kernbestandteil der Strategie Europa 2020

KOM(2010) 612 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 22. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 185 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Europäische Kommission veröffentlichte diese Mitteilung Ende 2010, d.h. zu einer Zeit, da der Welthandel tiefgreifende Änderungen erfährt, in denen sich der gegenwärtige Globalisierungsprozess von früheren Phasen unterscheidet. Als einer der außenpolitischen Aspekte der Strategie Europa 2020 (1) hat die Handelspolitik der EU die Aufgabe sicherzustellen, dass der Handel zu einem stetigen Wachstum - das für die Überwindung der Krise jetzt noch fehlt – beiträgt und dabei den Fortbestand der sozialen Marktwirtschaft gewährleistet und den Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft unterstützt.

1.2   Der EWSA stellt mit Interesse fest, dass diese „aktualisierte Handelspolitik“, wie sie in der Mitteilung „Handel, Wachstum und Weltgeschehen“ (2) beschrieben wird, einen wichtigen Schritt darstellt und zweckmäßige Präzisierungen zu den nachfolgend aufgeführten Handelsprioritäten im Zusammenhang mit der Strategie Europa 2020 der Union liefert:

eine Handelsliberalisierung, die der geografischen Verlagerung des Handels nach Asien Rechnung trägt;

die wichtige Verknüpfung der Handelspolitik mit der Rohstoff- und Energieversorgungssicherheit;

die erheblichen (nichttarifären oder regulatorischen) Handels- und Investitionshindernisse, die unter anderem auch den Zugang zu den öffentlichen Beschaffungsmärkten erschweren;

das Erfordernis der Gegenseitigkeit in den multilateralen und bilateralen Verhandlungen mit den wirtschaftsstrategischen Partnern der EU, unter anderem auch im Hinblick auf Aspekte bezüglich des geistigen Eigentums;

der Rückgriff auf Handelsschutzmechanismen.

1.3   Bezüglich einiger Themen hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die EU das geltende Recht, insbesondere bei den staatlichen Zuschüssen und Beihilfen, klarstellt. Sie muss auf ihren Werten und Normen bestehen und dabei ggf. die Verfahren des WTO-Organs zur Streitbeilegung (Dispute Settlement Body, DSB) anwenden, um zur Schaffung einer Rechtsprechung beizutragen, die ihrer Sicht eines fairen Wettbewerbs gerecht wird, insbesondere im Hinblick auf die Schwellenländer.

1.4   Die immer häufigeren und komplexeren bilateralen Verhandlungen dürfen nicht dazu führen, dass die EU ihre Anforderungen im sozialen und ökologischen Bereich lockert. Diese beiden Komponenten müssen in den Gesprächen umfassend und in gleichem Maße wie die wirtschaftliche Komponente berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang schenkt der Ausschuss dem Inhalt des Kapitels zur nachhaltigen Entwicklung und seiner Überwachung besondere Aufmerksamkeit. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass die Vorbereitung dieses Kapitels eng mit der Qualität der Folgenabschätzungen und der Zweckmäßigkeit der Begleitmaßnahmen verwoben ist.

1.5   Der EWSA empfiehlt der UNO, eine Weltcharta zu erarbeiten, in der unter Anknüpfung an die Initiative der ILO zur Schaffung eines Mindestsockels im Sozialschutz ein Mindestmaß an Rechten festgeschrieben wird und die der für 2015 vorgesehenen Überprüfung der Millenniumsentwicklungsziele beigefügt werden könnte. Diese Charta würde somit als kohärenter Bezugspunkt zu den Verpflichtungen im Bereich des Handels und der Entwicklung fungieren. In erster Linie muss die ILO innerhalb der WTO einen Beobachterstatus erhalten und Schritt für Schritt in deren Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (Trade Policy Review Mechanism, TPRM) einbezogen werden.

1.6   Der EWSA fordert dazu auf, das Thema Entwicklungszusammenarbeit, die weltweite Solidarität und die Debatte über die Millenniumsentwicklungsziele stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Er schlägt vor, das Jahr 2015 zum „Jahr der Entwicklung und Zusammenarbeit“ auszurufen. Da auch die EU und ihre Mitgliedstaaten sich dazu verpflichtet haben, diese Ziele bis 2015 zu erreichen, sollte nach Ansicht des Ausschusses das Europäische Jahr dazu genutzt werden, um bei jedem Einzelnen, in der Zivilgesellschaft sowie auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene das Verständnis und die Mitverantwortung sowohl für das Erreichen der gesteckten Ziele als auch für die neuen Zielsetzungen nach 2015 zu erhöhen.

1.7   Im Hinblick auf die Frage der weltweiten Ernährungssicherheit ist der Welthandel gleichzeitig ein Teil des Problems und ein Teil der Lösung. Die Regeln des Welthandels müssen insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern die Ernährungssicherheit fördern und ihnen nach dem Grundsatz der differenzierten Sonderbehandlung von Entwicklungsländern einen freien Zugang zu den Märkten sowohl der entwickelten Länder also auch der Schwellenländer gewähren.

1.8   Für die Entwicklung einer ökologischen Wirtschaft in einem wettbewerbsorientierten globalisierten Umfeld und die Aufrechterhaltung seiner Führungsrolle in diesem Bereich sollte Europa in seinem eigenen Interesse und im Interesse des Klimas an seinem ehrgeizigen Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen festhalten. Der EWSA schlägt vor, Folgenabschätzungen (zu den Aspekten Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Umwelt) durchzuführen und öffentliche Debatten zu veranstalten, um sich auf die Veränderungen zwischen 2020 und 2050 vorzubereiten und den Wirtschaftsakteuren und Bürgern einen stabilen Rahmen für ihre Zukunftsannahmen zu geben.

1.9   Langfristig sollte die Union einen Beitrag zur Reform der WTO leisten – die im Sinne des ursprünglichen Vorhabens der Internationalen Handelsorganisation (ITO), wie sie 1948 durch die Charta von Havanna definiert wurde, zur multilateralen Steuerung der Globalisierung konzipiert wurde - und dabei ausdrücklich auch Fragen der Beschäftigung und der Investitionen einbeziehen.

1.10   Der Ausschuss unterstreicht, dass die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Umsetzung und Überwachung der Handelsabkommen der EU - wie im Falle des jüngsten Freihandelsabkommens mit Südkorea - von immer größerer Bedeutung ist, insbesondere mit Blick auf die Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung. Der EWSA verfügt über die erforderliche Sachkenntnis, um sich aktiv an der Anwendung der Bestimmungen sowohl dieses Abkommens als auch weiterer künftiger Handelsabkommen zu beteiligen. Er ist bereit, sich am Überwachungsverfahren zu beteiligen und für den jährlichen Bericht die Beobachtungen der auf alle Beteiligten erweiterten europäischen Zivilgesellschaft zusammenzutragen. Des Weiteren steht er zur Verfügung, um im Zuge gemeinsamer Arbeiten mit der Zivilgesellschaft des Partnerlandes die Vermittlerrolle zu übernehmen und dafür Sorge zu tragen, dass die konkreten Auswirkungen dieser Abkommen auch wirklich berücksichtigt werden. Nach Ansicht des EWSA würde eine revidierte Handelspolitik einen großen Schritt vorankommen, wenn die Überwachungsmechanismen der ersten Abkommen rasch greifen würden. Auf diese Weise würde zwischen den Partnerländern ein Klima gegenseitigen Vertrauens geschaffen und dazu beigetragen, die Einbindung der Zivilgesellschaft in die laufenden Handelsverhandlungen zu erleichtern.

2.   Sich auf die großen Umwälzungen der Globalisierung einstellen!

2.1   Ein fairer und offener Welthandel ist ein globales Rechtsgut, das es zu schützen und zu stärken gilt. Dabei hat jeder Staat oder Staatenbund zur nachhaltigen Regulierung dieses Gutes beizutragen, die darauf ausgerichtet ist, dass jeder Beteiligte nach Maßgabe der allseitigen Bemühungen davon profitiert. Das ist die Grundlage des Engagements der EU für die Liberalisierung des Handels in einem multilateralen Rahmen, wie er heute von der WTO vertreten wird. In diesem Sinn unterstützt der EWSA seit 2006 die Handelspolitik der Union (3).

2.2   Die Ende 2010 von der Europäischen Kommission veröffentliche neue Mitteilung erscheint zu einem Zeitpunkt, da der Welthandel tiefgreifende Änderungen erfährt, in denen sich der gegenwärtige Globalisierungsprozess von früheren Phasen unterscheidet. Als einer der außenpolitischen Aspekte der Strategie Europa 2020 hat die Handelspolitik der EU die Aufgabe sicherzustellen, dass der Handel zu einem stetigen Wachstum und zum Fortbestand der sozialen Marktwirtschaft beiträgt und dabei den Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft unterstützt.

2.3   Der EWSA legt bei der Analyse der derzeitigen Transformationsvorgänge der Globalisierung den Schwerpunkt auf fünf große Tendenzen dieses Jahrzehnts, an denen die Debatte im Forum der Zivilgesellschaft sowohl in der Welthandelsorganisation wie auch im Forum der Zivilgesellschaft der Generaldirektion Handel ausgerichtet sein wird mit dem Ziel, der EU-Handelspolitik einen strategischeren und langfristig ausgerichteten Anstrich zu verleihen:

Ausweitung des Wettbewerbsbereichs. Die neuen Technologien - von der Informations- oder Verkehrstechnik bis zu künftigen grünen Technologien - verändern die Art der Erzeugung von Wohlstand und die Verteilung der Wertschöpfung und verschärfen den Wettbewerb zwischen den Staaten. Sie verstärken die Mobilität von Gütern, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren und vor allem des Kapitals (4) und erhöhen somit die Zahl der Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, die dem internationalen Wettbewerb offenstehen.

Kenntnisse und Innovation sind weiterhin die Motoren des Wachstums, kehren aber heute das aus den klassischen Theorien überkommene Konzept des internationalen Warenverkehrs völlig um. Die Länder handeln nicht mehr, wie in den Zeiten von David Ricardo, Wein gegen Tuch. Seit etwa einem Jahrzehnt spezialisieren sich die Staaten auf Ebene der Arbeitskräfte auf Leistungen, bei denen diese komparative Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten besitzen, mitunter um den Preis eines sozialen und steuerlichen Dumpings. Der „Handel mit Leistungen“ überlagert allmählich den Handel mit Industriegütern, die aber vorherrschend bleiben. Der Anteil der Dienstleistungen am Handelsaustausch gewinnt zunehmend an Bedeutung (20 %) und steht eher im Verhältnis zu dem Anteil, den diese am nationalen Wohlstand der Staaten (70 % des europäischen BIP) haben.

Der Wettbewerb zwischen einer zunehmenden Zahl von Branchen und wirtschaftlichen Akteuren fördert im Ergebnis die Innovation, eröffnet mehr Geschäftsmöglichkeiten und steigert somit die globale Effizienz. Jedoch trägt er auch dazu bei, dass die Ungleichheiten innerhalb der Staaten wachsen. Ungleichheiten hinsichtlich der Chancen und der Entlohnung zwischen mobilen und immobilen, qualifizierten und unqualifizierten Arbeitnehmern, zwischen Besitzern von Kapital und Menschen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, zwischen Beschäftigten in Branchen mit handelsfähigen Gütern und Dienstleistungen und denen der anderen Wirtschaftszweige.

Durch Verlagerung von Aktivitäten und Ressourcen nach Maßgabe der Kosten und Preise wirkt der internationale Handel wie eine Lupe: Er hebt die Stärken eines Landes hervor und legt zugleich dessen Schwächen bloß. Die Handelspolitik ist also nicht losgelöst von den übrigen Politikbereichen der Union vorstellbar - insbesondere von den Maßnahmen für Umstellung und Anpassung auf dem Arbeitsmarkt, der Politik zur Verringerung der Treibhausgasemissionen und der Politik des sozialen und territorialen Zusammenhalts, insbesondere der Binnenmarktpolitik, und der Politik zur Entwicklung und Zusammenarbeit.

In einer Welt, die die Knappheit neu entdeckt, kommt das Problem der Versorgungssicherheit  (5) zu dem traditionelleren Problem der Stabilität des Zugangs zu den Außenmärkten noch hinzu. Der anhaltende Druck auf Energie- und Nahrungsressourcen und der steigende Wettbewerb um den Zugang zu natürlichen Ressourcen werden zu bestimmenden Parametern der Handels- und Sicherheitspolitik.

3.   Eckpunkte für ein neues, offenes und mit einem gerechten Wandel vereinbares Handelssystem

3.1   Druck machen für eine künftige Reform der Welthandelsorganisation

3.1.1   Die großen Umwälzungen aufgrund der Globalisierung und deren Folgen für die Union sind nicht ausschließlich Gegenstand der Handelspolitik, sondern Aufgaben für die Union insgesamt. Folglich sollte die Union mit Sondierungsarbeiten beginnen und auch eine öffentliche Debatte zu den Bedingungen eines gerechten Übergangs einleiten. Diesbezüglich erkennt der EWSA den Bericht der „Reflexionsgruppe über die Zukunft der EU 2030“ (6) des Europäischen Rates an, in dem das „strategische Konzept“ und die langfristigen Prioritäten des auswärtigen Handelns der Union definiert und überarbeitet wurden.

3.1.2   Europa muss seine Handelspolitik als einen Hebel der künftigen WTO-Reform gestalten. Der EWSA befürwortet den Vorschlag der Kommission zur Einrichtung eines „Gremiums herausragender Persönlichkeiten aus Industrie- und Entwicklungsländern, das unabhängige Empfehlungen aussprechen und uns dabei helfen soll, unsere europäische Sicht der künftigen Agenda und der Funktionsweise der WTO für die Zeit nach Doha zu bestimmen“. Der Ausschuss will dazu beitragen und würde es begrüßen, wenn er um eine Sondierungsstellungnahme zu diesem Thema ersucht werden würde.

3.1.3   Nach Ansicht des EWSA muss die Union auf lange Sicht darauf hinarbeiten, einen Beitrag zur Neugestaltung der WTO zu leisten, und den Multilateralismus mehr im Sinne ihres ursprünglichen Projekts überdenken. Die Internationale Handelsorganisation (ITO), wie sie 1948 durch die Charta von Havanna definiert wurde, sollte eine multilaterale Organisation sein, die sich mit ausnahmslos allen Aspekten des Welthandels befasst, also einschließlich der Fragen von Beschäftigung und Investitionen.

3.1.4   Die in die Sackgasse geratenen Doha-Verhandlungen und die Verzögerungen bei der Aushandlung von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zwingen Europa, die Verbindungen zwischen Entwicklung und Handel zu überdenken. Der EWSA verweist auf die Bilanz der Initiative „Alles außer Waffen“ und der WPA, um die EU-Strategie für Handel und Entwicklung auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Handelspolitik wird in einem größeren Kontext gesehen, und der Ausschuss begrüßt daher die im Rahmen der aktuellen Mitteilung zur Reform des Allgemeinen Präferenzsystems (APS) und der künftigen Mitteilung zu Handel und Entwicklung durchgeführten zusätzlichen Arbeiten.

3.2   Vorrang für die Ernährungssicherheit

3.2.1   Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen (7) mögliche Antworten auf die Frage gegeben, wie eine strategischere Betrachtung der Handelspolitik erreicht werden kann. Zudem hat er zum Abschluss seiner Konferenz zur Ernährungssicherheit im Mai 2011 seine Empfehlungen als Beitrag zu den Arbeiten der G20 vorgelegt und dabei die Ansicht vertreten, dass der Welthandel einer der entscheidenden Faktoren für die Gewährleistung der Ernährungssicherheit und zur Durchsetzung des Rechts auf Nahrung ist. In den Schlussfolgerungen dieser Konferenz (8) werden die Auswirkungen des Handels auf Ernährungssicherheit und Entwicklung deutlich:

3.2.2   Es muss sichergestellt werden, dass die Regeln des Welthandels die Ernährungssicherheit erhöhen.

3.2.3   Es muss dafür gesorgt werden, dass bei den Reformen des Welthandels und in den Handelsverhandlungen die Notwendigkeit eines Beitrags zur Minderung der Ernährungsnot für die schwächsten Bevölkerungsgruppen in den Entwicklungsländern gebührend berücksichtigt wird.

3.2.4   Die staatlichen Beihilfen, die Handelsverzerrungen hervorrufen, müssen erheblich reduziert und die Ausfuhrsubventionen sollten abgeschafft werden:

Es sollte genau festgelegt werden, wann und wie es möglich sein könnte, ausfuhrbeschränkende Maßnahmen anzuwenden, und zugleich Prozesse der Anhörung und Notifizierung stärken. Insbesondere ist zu prüfen, welche negativen Auswirkungen solche Maßnahmen auf die Ernährungssicherheit anderer Staaten haben können.

Behinderungen von Ausfuhren, des Transports und der Einfuhr von Lebensmittelhilfen zu humanitären Zwecken in den Empfängerstaaten und den benachbarten Staaten müssen beseitigt werden.

3.2.5   Es sollte dafür Sorge getragen werden, dass die Entwicklungsländer einen größeren Nutzen aus den Handelsvorschriften ziehen:

Den Entwicklungsländern sollte es erlaubt sein, dass sie die Vorschriften für eine gesonderte und differenzierte Behandlung im Sinne eines Schutzes ihrer Lebensmittelmärkte ausreichend nutzen, und entsprechende Fördermaßnahmen durchführen. Vor allem müssen diese Länder auf multinationaler, regionaler und bilateraler Ebene Schutzmaßnahmen treffen können, mit denen sie auf starke Zunahmen der Einfuhren reagieren können, wenn diese die lokale Lebensmittelerzeugung bedrohen.

Der Zugang von Agrarerzeugnissen aus den Entwicklungsländern zu den Märkten der entwickelten Länder muss verbessert werden. Die anderen entwickelten Länder sollten dem Beispiel der Europäischen Union folgen, indem sie ein der Initiative „Alles außer Waffen“ vergleichbares System einführen. Zudem sollten die Zölle auf Verarbeitungserzeugnisse aus Entwicklungsländern beträchtlich gesenkt werden, um so die Herausbildung lokaler Verarbeitungsstrukturen zu begünstigen.

Für die Initiative „Aid for Trade“ sollten zusätzliche Ressourcen bereitgestellt werden, um so die Fähigkeit der Entwicklungsländer zur Teilnahme am Weltlebensmittelhandel zu ihrem Vorteil zu stärken. Zweckmäßig wäre auch, die technische Unterstützung der Entwicklungsländer im Sinne einer Einhaltung der geltenden land- und ernährungswirtschaftlichen Normen zu verstärken.

Die regionale Integration sowie der Süd-Süd-Handel und die Süd-Süd-Zusammenarbeit sollten im Wege wirtschaftlicher Zusammenschlüsse auf regionaler Ebene gefördert werden. Die internationale Gemeinschaft sowie die EU sollten gestützt auf die wertvolle einschlägige Erfahrung der EU diesen Prozess unterstützen.

3.2.6   Der Ausschuss hofft, dass diese Vorschläge von der Kommission bei den Vorbereitungsarbeiten der Mitteilung zu Handel und Entwicklung berücksichtigt werden.

3.2.7   Um diese Empfehlungen zur Geltung zu bringen und zu gewährleisten, dass das Thema Entwicklungszusammenarbeit, die weltweite Solidarität und die Debatte über die Millenniumsentwicklungsziele stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden, schlägt der EWSA vor, das Jahr 2015 zum „Jahr der Entwicklung und Zusammenarbeit“ (Arbeitstitel) auszurufen. Da auch die EU und ihre Mitgliedstaaten sich dazu verpflichtet haben, diese Ziele bis 2015 zu erreichen, schlägt der Ausschuss vor, das Europäische Jahr dazu zu nutzen, um bei jedem Einzelnen, in der Zivilgesellschaft sowie auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene das Verständnis und die Mitverantwortung sowohl für das Erreichen der gesteckten Ziele als auch für die neuen Zielsetzungen nach 2015 zu erhöhen.

4.   Wirksame Instrumente für einen faireren Wettbewerb schaffen

4.1   Im Hinblick auf den Wettbewerb weist die internationale Ordnung erhebliche Mängel auf. Der Wettbewerb wird in der WTO weiterhin nur teilweise und unbefriedigend behandelt. Vor allem fallen die Probleme aufgrund privater Monopole, des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung oder nichttarifäre Hemmnisse, die durch private Initiativen (Normen und Standards) verursacht werden, nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Das Handelsrecht unterliegt bezüglich Dumping, Subventionen und staatlichen Beihilfen noch immer der Auslegung nach dem Ermessen der Rechtsprechung durch das WTO-Organ zur Streitbeilegung.

4.2   Da die EU nicht allein die Unzulänglichkeiten der Weltordnung abdecken kann, muss sie daran mitwirken, das bestehende Recht zu klären, und dafür sorgen, dass ihre Werte und Normen in den Instrumenten zum Tragen kommen, mit denen der lautere Wettbewerb geschützt und gewährleistet wird:

durch die Konsolidierung (in Zusammenarbeit mit dem WTO-Sekretariat) der Bewertung der Wettbewerbsbedingungen bei der Ausfuhr im Rahmen des Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (Trade Policy Review Mechanism, TPRM),

durch die Förderung der jährlichen Berichterstattung über Handels- und Investitionshemmnisse,

durch die Unterstützung der verschiedenen Initiativen zur Aufnahme der sogenannten Singapur-Themen (Investitionen, öffentliches Auftragswesen und Wettbewerb) und des Festhaltens an der Erleichterung des Warenverkehrs in eine neue multilaterale Agenda. Vor allem muss die Notwendigkeit eines multilateralen Abkommens über öffentliche Aufträge bekräftigt werden, bei Bedarf unterstützt durch Maßnahmen als „Zuckerbrot“ (z.B. Technologietransfers) oder durch Spitzenzölle als „Peitsche“ (Beschränkungen des Zugangs zu öffentlichen Aufträgen der EU),

durch die Begrenzung der Wettbewerbsverzerrungen zwischen europäischen Mitgliedstaaten in der Erschließung von Auslandsmärkten durch ihre jeweiligen Unternehmen dank einer Harmonisierung der Politiken und Maßnahmen für Exportförderung, -absicherung und -bürgschaften und die allmähliche Integration der Handelskammern und ihrer Vertretungen in den Drittländern. Durch die Förderung und Entwicklung europäischer Zentren zur Unterstützung von KMU in Drittstaaten (EU-Infostelle, European Business Centre (9)) und die Herstellung der vollen Einsatzfähigkeit der Kompetenzteams für die Marktöffnung (Market access teams (10)) würden der EU in dieser Hinsicht wirksame Instrumente an die Hand gegeben,

durch die Unterstützung des Schutzes geistigen Eigentums im Rahmen des WTO-Abkommens über geistiges Eigentum (TRIPS), des Übereinkommens zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie (ACTA) und der bilateralen Abkommen,

durch die Nutzung der Mechanismen des WTO-Organs zur Streitbeilegung bei Bedarf, um einen Beitrag zur Schaffung einer Rechtsprechung im Sinne der Sichtweisen und Werte der EU zu leisten.

5.   Wirkungsvolle Unterstützung einer integrativen Strategie durch den Handel und Förderung der sozialen Dimension im Handel

5.1   Die soziale Dimension der Globalisierung ist weiter eine akute Frage, für die langfristig eine in den multilateralen Gremien und insbesondere in der WTO ausgehandelte Lösung gefunden werden muss. Jetzt unmittelbar muss der ILO unbedingt ein Beobachterstatus in der WTO verschafft werden, und die EU muss sich weiter bemühen, widerstrebende Staaten davon zu überzeugen. Darüber hinaus könnte die ILO Schritt für Schritt an den Arbeiten des Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (Trade Policy Review Mechanism, TPRM) der WTO-Mitglieder beteiligt werden, um Beiträge über die Sozialpolitik der betroffenen Staaten zu liefern.

5.2   Der EWSA bekräftigt, dass Europa konstruktive Erfahrungen bei der Berücksichtigung der sozialen Dimension im Handelsaustausch mitbringt, die als konkrete Referenz auf internationaler Ebene dienen können, ohne dass dies als versteckter Protektionismus kritisiert werden könnte. So ist der EWSA stets darum bemüht, die Einführung eines Kapitels zur nachhaltigen Entwicklung einschließlich der sozialen Dimension in alle Handelsabkommen ebenso zu fördern wie die Berücksichtigung der grundlegenden Übereinkommen der ILO im Sozialkapitel, die Auflagenbindung im Rahmen des Mechanismus „APS“ und das Fortbestehen des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung.

5.3   Zu diesen jüngsten dynamischen Schritten kommen noch Folgenabschätzungen hinzu, durch die mit einer überarbeiteten Methodik die Folgen für die Beschäftigung besser vorhergesagt und flankierende Maßnahmen noch besser vorbereitet werden könnten (11). Der EWSA verfolgt mit besonderer Aufmerksamkeit die Einrichtung der Begleitausschüsse, die in den von der EU unterzeichneten Handelsabkommen vorgesehen sind und die Überwachung der sozialen und ökologischen Dimension dieser Abkommen gewährleisten werden.

5.4   Die EU und die Mitgliedstaaten sollten ihr finanzielles Engagement fortführen, um die Förderung und Umsetzung der acht grundlegenden ILO-Übereinkommen zu gewährleisten; sie müssen sich jedoch dabei im Klaren sein, dass diese Bestimmungen die Probleme der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung in Europa nicht unmittelbar lösen können. Mit großer Aufmerksamkeit muss ebenso die Initiative der ILO zur Schaffung eines Mindestsockels im Sozialschutz verfolgt werden, und die Programme für eine menschenwürdige Arbeit sind zu unterstützen, um neue Chancen für die Verbindung von Handel und Beschäftigung zu eröffnen. Der EWSA erwartet von der G20, dass diese sich gemeinsam mit dem IWF und der Weltbank mit den möglichen Finanzierungsarten für diesen Mindestsockel im Sozialschutz beschäftigt.

5.5   Die EU muss im Hinblick auf die Festlegung von Maßnahmen zur Anpassung an ihre handelspolitische Ausrichtung in den Folgenabschätzungen den sozialen Dialog in einzelnen Branchen aufwerten. Sie muss auch den Folgen der bereichsübergreifenden Sozialklausel (12) im Vertrag von Lissabon in ihrer Handelspolitik ausdrücklich Rechnung tragen. In den Verhandlungen über die nächste Finanzielle Vorausschau muss der Europäische Sozialfonds erhalten bleiben und auf die Fragen des industriellen Wandels aufgrund von Umstellungen und Restrukturierungen vorbereitet werden. Die Bedingungen für den Zugriff auf den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung müssen so gelockert werden, dass möglichst viele Beschäftigte, die zu Opfern der Entwicklungen in der Industrie wie auch in der Landwirtschaft wurden, Begünstigte sein können. Dieser Fonds könnte auch soziale Experimente fördern.

5.6   Der EWSA empfiehlt, in das Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung in den Abkommen die Dimension der Menschenrechte aufzunehmen und die Begleitmaßnahmen zum jeweiligen Abkommen mit dem Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) zu verknüpfen. Wenn die Leitprinzipien der Vereinten Nationen besser umgesetzt werden, wird damit auch ein Beitrag zur Verwirklichung der Ziele geleistet, die sich die EU zu spezifischen Menschenrechtsfragen gesetzt hat. Gemäß der Mitteilung zur sozialen Verantwortung der Unternehmen (Oktober 2011) (13) sind diese Grundsätze wichtige Vorgaben für Handel und Entwicklung.

6.   Die umweltpolitischen Verpflichtungen in der Handelspolitik aufgreifen

6.1   Die Verhandlungen über Umweltgüter und -leistungen im Rahmen der Doha-Runde können zu den Zielen der EU beitragen, den Zugang zu klimafreundlichen Gütern und Technologien zu verbessern. Allerdings sind zwar für eine breite Palette von Produkten – und dies gilt insbesondere für erneuerbare Energien - die Zolltarife niedrig oder gemäßigt, doch bilden die nichttarifären Hemmnisse eine ernsthafte Hürde für ihre Verbreitung. Es sollte ein frühzeitiges und isoliertes Übereinkommen über Umweltgüter und -leistungen mit tarifären wie auch nichttarifären Elementen in der WTO erzielt werden - dies ist ein neuer Vorschlag der Kommission, dem sich der EWSA anschließt.

6.2   Damit Europa in einem wettbewerbsorientierten globalisierten Umfeld eine grüne Wirtschaft entwickeln und seine Führungsposition auf diesem Gebiet verteidigen kann, müsste die EU schon im eigenen Interesse und für das Klima weiterhin das ehrgeizige Ziel verfolgen, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 % zu verringern, beispielsweise mit einem Zwischenziel von 40 % zwischen 2020 und 2030. Der EWSA schlägt vor, Folgenabschätzungen (zu den Aspekten Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Umwelt) durchzuführen und öffentliche Debatten zu veranstalten, um sich auf die Veränderungen zwischen 2020 und 2050 vorzubereiten und den Wirtschaftsakteuren und Bürgern einen stabilen Rahmen für ihre Zukunftsannahmen zu geben.

6.3   Die Festsetzung dieses Zwischenziels muss durch die Schaffung rechtlicher und steuerlicher Voraussetzungen zur Förderung verstärkter Investitionen in die Erforschung und Entwicklung sauberer Technologien untermauert werden. Die Kommission ist in ihrer Analyse (14) zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einführung von „Kohlenstoff-Anpassungsmaßnahmen“ an den Grenzen ausschließlich für die Fälle in Betracht gezogen werden darf, in denen ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und Verlagerungen von CO2-Emissionen festgestellt wurden, und dass dabei die Regeln der Welthandelsorganisation einzuhalten sind.

6.4   Angesichts der Tatsache, dass Projekte zur Schaffung eines weltweiten Marktes für Emissionszertifikate nur langsam und unsicher vorangehen, werden die EU-Mitgliedstaaten noch einige Jahre lang zu den wenigen Ländern gehören, die einen Preis für CO2 festsetzen. Vor dem Hintergrund der Gefahr einer Verlagerung des CO2-Ausstoßes einiger europäischer Branchen, die dem Emissionshandelssystem unterworfen sind, empfiehlt der Ausschuss zudem, zusätzlich zu den von der Kommission derzeit kostenfrei zugeteilten Emmissionszertifikaten die langfristigen Investitionen zur Kohlenstoffreduzierung der Wirtschaft deutlich aufzustocken und vorhersehbare und beständige Anreize zur Förderung von Innovationen sowie von Forschung und Entwicklung im Bereich der „sauberen“, noch nicht marktfähigen Technologien zu schaffen.

6.5   Im Bereich Verkehr unterstützt der EWSA die Festlegung weltweiter Klimaziele im Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen: 10 % weniger Emissionen im Luftverkehr und 20 % weniger im Seeverkehr. Die Entscheidung, gemeinsame Anstrengungen zur Verringerung der Emissionen zu unternehmen, betrifft auch den Verkehr, denn der Luftverkehr wird ab 2012 schrittweise in das Emissionshandelssystem der EU (EU ETS) einbezogen. Einen Beitrag dazu könnte eine europäische Initiative zur Festlegung von Energieeffizienzzielen im Seeverkehr leisten.

6.6   Bei den Nachhaltigkeitsprüfungen bekräftigt der EWSA seine in einer früheren Stellungnahme ausgesprochenen Empfehlungen, dass das geltende Instrumentarium zu überprüfen ist (15). Vor allem muss durch die engere Einbeziehung der Sekretariate der multilateralen Umweltabkommen besser über die ökologischen Auswirkungen der Handelspolitik informiert werden.

6.7   Obwohl die Initiativen zur Normierung und Kennzeichnung als „umweltfreundlich“ oder „nachhaltig“ innerhalb der EU privat und dezentral organisiert bleiben müssen, ist es Aufgabe der Kommission oder einer entsprechenden Agentur, für den unverzichtbaren gemeinsamen Bemessungs- und Bewertungsrahmen zu sorgen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Vgl. Kapitel 3.3 „Entfaltung unserer außenpolitischen Instrumente“, in: Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020 endg. vom 3.3.2010.

(2)  Handel, Wachstum und Weltgeschehen, KOM(2010) 612 endg.

(3)  Stellungnahme des EWSA: ABl. C 211 vom 19.08.2008, S. 82; ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150; ABl C 255 vom 22.09.2010, S. 1.

(4)  Stellungnahme des EWSA ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150.

(5)  ABl. C 132 vom 03.05.2011, S. 15; ABl. C 54 vom 19.02.2011, S. 20.

(6)  „Projekt Europa 2030 - Herausforderungen und Chancen“ Bericht an Herman VAN ROMPUY, vorgelegt am 9. Mai 2010: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/de_web.pdf.

(7)  ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 150; ABl. C 248 vom 25.08.2011, S. 55; ABl. C 218 vom 23.07.2011, S. 25; ABl. C 21 vom 21.01.2011, S. 15; ABl. C 255 vom 22.09.2010, S. 1; ABl. C 128 vom 18.05.2010, S. 41; ABl. C 211 vom 19.08.2008, S. 82.

(8)  http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/food-for-everyone-conclusions-en.pdf.

(9)  In China, Thailand, Indien und Vietnam.

(10)  ABl. C 218 vom 23.07.2011, S. 25.

(11)  ABl. C 218 vom 23.07.2011, S. 19.

(12)  Stellungnahme des EWSA „Stärkung des EU-Zusammenhalts und der EU-Koordinierung im Sozialbereich durch die neue Horizontale Sozialklausel nach Artikel 9 AEUV“ (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(13)  KOM(2011) 681 endg.: Mitteilung der Kommission „Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen“.

(14)  Der Handel als Wohlstandsfaktor (nur in englischer Sprache verfügbar), SEK(2010) 269. http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2010/november/tradoc_146940.pdf.

(15)  ABl. C 218 vom 23.07.2011, S. 19.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates“

KOM(2011) 451 endg. — 2011/0196 (COD)

2012/C 43/18

Berichterstatter: Jan SIMONS

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 1. September bzw. am 29. September 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 91 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates

KOM(2011) 451 endg. — 2011/0196 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 136 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt generell den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern, da hierdurch die Verkehrssicherheit und die Arbeitsbedingungen von Fahrern verbessert und ein lautererer Wettbewerb zwischen Straßenverkehrsunternehmen ermöglicht werden.

1.2   Der Ausschuss begrüßt die von der Kommission angestrebte Zusammenführung der Funktionsmerkmale von Fahrerkarte und Führerschein, da hierdurch die Sicherheit verbessert und die Verwaltungslasten verringert werden – zumindest soweit dies praktisch möglich ist. Gleiches gilt für die in Artikel 6 vorgesehene Möglichkeit, den digitalen Fahrtenschreiber in intelligente Verkehrssysteme (IVS) zu integrieren, was anderen IVS-Anwendungen einen leichteren Zugriff auf die vom Fahrtenschreiber aufgezeichneten oder erstellten Daten ermöglichen würde.

1.3   Zustimmen kann der Ausschuss auch der Möglichkeit der Fernkommunikation vom Fahrtenschreiber zu Kontrollzwecken, die durch diesen Vorschlag geschaffen wird, damit Fahrer, die die Vorschriften einhalten, weniger gezielten Straßenkontrollen unterzogen werden.

1.4   Der Ausschuss nimmt die vorgeschlagenen Artikel 7 bis einschließlich 16 bezüglich der Bauartgenehmigung erfreut zur Kenntnis. Die deutliche und umfassende Beschreibung von Aufgaben, deren Ausführung den Mitgliedstaaten aufgrund europäischer Rechtsvorschriften übertragen wird, sollte als wegweisendes Beispiel dienen.

1.5   In Artikel 19 Absatz 4 schlägt die Kommission vor, in ganz Europa den Marktzugang für eigene Werkstätten von Verkehrsunternehmen für digitale Fahrtenschreiber auf fremde Fahrzeuge zu beschränken, um Interessenkonflikte zu vermeiden, jedoch ohne dass sie hierfür eine Rechtfertigung vorlegen würde. Hauptsächlich aufgrund der hiermit verbundenen höheren Kosten sollten über diese Beschränkung, wie in Absatz 4 Satz 1 angegeben, eventuell die Mitgliedstaaten beschließen dürfen, unter der Voraussetzung, dass ein unabhängiges anerkanntes Kontrollorgan eine Konformitätsgarantie für diese Reparaturen und Kalibrierungen ausstellt.

1.6   In Bezug auf die Haftung bei Verstößen gegen diese Verordnung wird von der Kommission vorgeschlagen, diese insgesamt dem Verkehrsunternehmen aufzuerlegen, mit der Möglichkeit zu belegen, dass das Verkehrsunternehmen billigerweise nicht für den begangenen Verstoß haftbar gemacht werden kann. Der Ausschuss hält dies für eine faire Regelung.

1.7   Bei künftigen Änderungen der Verordnung und ihrer Anhänge sollten nach Auffassung des Ausschusses der in Artikel 40 des Verordnungsvorschlags genannte Ausschuss und die Sozialpartner einbezogen werden.

1.8   Nach Auffassung des Ausschusses könnte die künftige europäische Satellitenkommunikation u.U. andere Kontrollmechanismen ermöglichen, die auf lange Sicht kostengünstiger und zuverlässiger sind, weniger Platz im Fahrerhaus einnehmen und die Kontrolle erleichtern. Der Ausschuss fordert die Kommission auf zu prüfen, ob z.B. mithilfe passender Software über den schon in vielen Lkw vorhandenen Bordcomputer nicht dasselbe oder gar ein höheres Qualitätsniveau der Ziele des digitalen Fahrtenschreibers erreicht werden könnte.

2.   Einleitung

2.1   Am 19. Juli 2011 hat die Kommission ihren „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern“ (KOM(2011) 451 endg.) veröffentlicht. Das Europäische Parlament und der Rat haben den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine diesbezügliche Stellungnahme ersucht.

2.2   Der Ausschuss kommt diesem Wunsch gerne nach, da er mit der Kommission darin übereinstimmt, dass eine Verbesserung des Fahrtenschreibersystems und dessen Kontrolle aus den im Folgenden aufgeführten Gründen wichtig ist.

2.3   Die Sicherheit im Straßenverkehr wird erhöht, da ein besserer Einblick in die Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern im Straßenverkehr möglich ist.

2.4   Die Arbeitsbedingungen der Kraftfahrer werden verbessert.

2.5   Auf diese Weise soll ein lauterer Wettbewerb zwischen Straßenverkehrsunternehmen herbeigeführt werden.

2.6   Kostengünstigere Fahrtenschreiber sind eines der Schlüsselelemente der im Verkehrsweißbuch vom 28. März 2011 dargelegten Strategie der Kommission für die weitere Integration des Verkehrsmarkts und für einen sichereren, effizienteren und wettbewerbsfähigeren Güterkraftverkehr.

2.7   In der Praxis kommen noch zwei Arten von Fahrtenschreibern bei ca. 6 Mio. Kraftfahrern zum Einsatz: in vor dem 1. Mai 2006 zugelassenen Fahrzeugen wird seit 1985 der analoge Fahrtenschreiber verwendet, während für Fahrzeuge, die seit dem 1. Mai 2006 zugelassen wurden, ein digitaler Fahrtenschreiber vorgeschrieben ist.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Der Ausschuss begrüßt generell den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern. Der Ausschuss fühlt sich vor allem durch die Ziele angesprochen, insbesondere weil mit der geplanten Änderung der Verordnungen die Verkehrssicherheit und die Arbeitsbedingungen der Fahrer verbessert werden sollen und ein lautererer Wettbewerb zwischen Straßenverkehrsunternehmen geschaffen werden soll.

3.2   Die Kommission schlägt in Artikel 27 der vorgeschlagenen Änderung der Verordnung die Zusammenführung der Funktionsmerkmale von Fahrerkarte und Führerschein vor, was die Systemsicherheit erhöhen und die Verwaltungslasten erheblich verringern dürfte. Denn die Fahrer dürften weniger geneigt sein, ihren Führerschein für betrügerische Zwecke zu verwenden. Die leichten Anpassungen der Richtlinie über den Führerschein (Richtlinie 2006/126/EG) sollen gleichzeitig mit dem hier erörterten Vorschlag für eine Verordnung angenommen werden. Der Ausschuss erklärt sich hiermit einverstanden, zumindest soweit diese Möglichkeit praktisch machbar ist.

3.3   Der Ausschuss nimmt die vorgeschlagenen Artikel 7 bis einschließlich 16 bezüglich der Bauartgenehmigung erfreut zur Kenntnis. Die deutliche und umfassende Beschreibung von Aufgaben, deren Ausführung den Mitgliedstaaten aufgrund europäischer Rechtsvorschriften übertragen wird, sollte als wegweisendes Beispiel dienen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Hinsichtlich des Anwendungsbereichs (Artikel 3) wird nicht nur auf den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 mit den hierin enthaltenen Sozialvorschriften verwiesen, sondern die Mitgliedstaaten erhalten in Absatz 4 auch die Möglichkeit, bei allen Fahrzeuge, also auch Fahrzeugen unter 3,5 t, den Einbau eines Kontrollgeräts vorzuschreiben. Der Ausschuss kann dem zustimmen.

4.2   Die vorgeschlagene Verordnung soll die Fernkommunikation vom Fahrtenschreiber zu Kontrollzwecken ermöglichen; dadurch erhalten die Kontrollbehörden einige grundlegende Hinweise auf die Einhaltung der Vorschriften, bevor sie das Fahrzeug zur Straßenkontrolle anhalten. Wenn diese Möglichkeit genutzt wird, werden Fahrer, die die Vorschriften einhalten, weniger gezielten Straßenkontrollen unterzogen. Der Ausschuss begrüßt diesen in Artikel 5 ausgeführten Ansatz.

4.2.1   Der EWSA macht auf das wesentliche Datenschutzproblem aufmerksam, auf das der Europäische Datenschutzbeauftragte am 6. Oktober 2011 (EDPS/11/9) hinwies, nämlich dass datenschutzunfreundliche Maßnahmen seitens der Industrie verhindert werden müssen, solange klare Modalitäten für die Verwendung und Speicherung von Fahrer-Daten sowie eine Aktualisierung der technischen Spezifikationen ausstehen.

4.3   Die automatische Aufzeichnung des genauen Standorts durch GNSS-Anbindung soll 48 Monate nach Inkrafttreten dieser Verordnung eingeführt werden. Der Kommission zufolgen erhalten dadurch die Kontrollbehörden mehr Informationen für die Kontrolle der Einhaltung der Sozialvorschriften. Dies ist Gegenstand von Artikel 4. Der Ausschuss könnte sich vorstellen, dass der in Artikel 40 genannte Ausschuss („Ausschuss“ im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 182/2011) in Zusammenarbeit mit der Kommission hierbei eine Rolle spielt.

4.4   Der Ausschuss hält die in Artikel 6 vorgesehene Möglichkeit einer Integration digitaler Fahrtenschreiber in intelligente Verkehrssysteme (IVS) für positiv; hierdurch erhalten andere IVS-Anwendungen einen leichteren Zugriff auf die vom digitalen Fahrtenschreiber aufgezeichneten oder erstellten Daten.

4.5   In Artikel 19 Absatz 4 möchte die Kommission die Vertrauenswürdigkeit der Werkstätten durch die Stärkung des rechtlichen Rahmens für die Zulassung der Werkstätten erhöhen. Einer der Vorschläge läuft darauf hinaus, dass größere Verkehrsunternehmen, die über eigene Werkstätten für die Reparatur und Kalibrierung von digitalen Fahrtenschreibern verfügen, dies in Zukunft nicht mehr für ihre eigenen Fahrzeuge tun dürften. Auf diese Weise soll ein möglicher Interessenkonflikt vermieden werden. Hauptsächlich aufgrund der hiermit verbundenen höheren Kosten sollten über eine solche Beschränkung, wie in Absatz 4 Satz 1 dieses Artikels angegeben, eventuell Mitgliedstaaten beschließen dürfen, unter der Voraussetzung, dass ein unabhängiges anerkanntes Kontrollorgan eine Konformitätsgarantie für diese Reparaturen und Kalibrierungen ausstellt.

4.6   In Artikel 29 wird ein Verkehrsunternehmen für Verstöße gegen die Verordnung, die von Fahrern des Unternehmens begangen werden, haftbar gemacht, mit der Möglichkeit zu belegen, dass das Verkehrsunternehmen billigerweise nicht für den begangenen Verstoß haftbar gemacht werden kann. Der Ausschuss kann einer solchen Haftungsregelung zustimmen.

4.7   Der Ausschuss stimmt dem von der Kommission in den Artikeln 30 bis 36 vorgeschlagenen Wortlaut zu; hierin werden die Vorschriften in Bezug auf die Benutzung von Fahrerkarten und Schaublättern sowie bezüglich der sonstigen Dokumente, die ein Fahrer mit sich führen muss, und der Aus- und Fortbildung der Kontrolleure aufgeführt. Insbesondere letzteren Aspekt begrüßt der Ausschuss, da dies eine stärker harmonisierte und wirksamere Durchsetzung der EU-Rechtsvorschriften ermöglichen wird.

4.8   In Artikel 37 schlägt die Kommission einen Text zu Sanktionen vor. In Absatz 3 führt sie an, dass die von den Mitgliedstaaten für sehr schwerwiegende Verstöße im Sinne der Richtlinie 2009/5/EG festgelegten Sanktionen zu den höchsten Kategorien gehören müssen, die in dem Mitgliedstaat für Verstöße gegen das Straßenverkehrsrecht gelten. Der Ausschuss kann der Kommission hier zustimmen.

4.9   In den Artikeln 38 bis 40 schlägt die Kommission vor, dass sie ermächtigt wird, delegierte Rechtsakte zur Anpassung der Anhänge I, I B und II an den technischen Fortschritt zu erlassen. Der Ausschuss spricht sich dafür aus, dass der in Artikel 40 genannte Ausschuss Vorschläge für Anpassungen vorbringt und dass die Sozialpartner zu den Sitzungen dieses Ausschusses eingeladen werden.

4.10   Der Ausschuss begrüßt den in Artikel 41 enthaltenen Vorschlag der Kommission, ein Fahrtenschreiberforum einzurichten, an dem Fachleute aus den Mitgliedstaaten und Fachleute aus AETR-Ländern beteiligt sind. Auf diese Weise können die einschlägigen Rechtsvorschriften und die technische Durchführung in den EU-Mitgliedstaaten und in den Ländern, die AETR-Vertragsparteien sind, aufeinander abgestimmt werden.

4.11   Der vorliegende Vorschlag ist ein weiterer Schritt in die von der Kommission bereits eingeschlagene Richtung, nämlich die Vorlage technischer Verbesserungen hinsichtlich des digitalen Fahrtenschreibers. Der Ausschuss stellt sich die Frage, ob die künftige europäische Satellitenkommunikation nicht u.U. andere Kontrollmechanismen ermöglichen wird, die auf lange Sicht kostengünstiger und zuverlässiger sind, weniger Platz im Fahrerhaus einnehmen und die Kontrolle erleichtern. Der Ausschuss schlägt der Kommission vor zu prüfen, ob z.B. mithilfe passender Software über den schon in vielen Lkw vorhandenen Bordcomputer nicht dasselbe oder gar ein höheres Qualitätsniveau der Ziele des digitalen Fahrtenschreibers erreicht werden könnte. Dem Ausschuss schwebt diesbezüglich vor, die Kombination der einzelnen Aufgaben, die sich aus Rechtsvorschriften oder der Betriebsführung ergeben, von einem einzigen Gerät im Fahrerhaus eines Lkw ausführen zu lassen.

4.12   Verordnung Nr. 561/2006, die als solche in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist, und anschließend noch sechs weitere, nicht rechtsverbindliche Leitfäden zu verschiedenen Auslegungspunkten, die mit und für Kontrollbehörden erstellt wurden, haben offensichtlich noch immer nicht alle unterschiedlichen Auslegungen für die Durchführung der Verordnung durch eben diese Kontrollbehörden beseitigt. Der Ausschuss empfiehlt, möglichst noch vor dem erst in zwei Jahren geplanten Inkrafttreten der neuen geänderten Verordnung diese Unterschiede aus dem Weg zu räumen, um die Durchführung der Kontrollen tatsächlich einheitlich zu gestalten.

4.13   Ferner hat der Ausschuss noch drei weitere Anmerkungen vorzubringen, die zwar nicht Gegenstand der beiden jetzt und später noch einer dritten zu ändernden Verordnung sind, seiner Auffassung jedoch in dieser Stellungnahme zur Sprache gebracht werden können.

4.13.1   Durch den Einbau von Gewichtssensoren kann Überladung angezeigt werden, was sowohl dem Verkehrsunternehmer als auch den Kontrollbehörden nutzen könnte.

4.13.2   Im Ausschuss wurde vorgeschlagen, dass das digitale Kontrollgerät auch über den GNSS-Satelliten den Abfahrt- und Zielort einer Fahrt speichern sollte. Auf diese Weise könnte die Kontrolle der Kabotage durch die Mitgliedstaaten verbessert werden. In diesem Zusammenhang wird daran erinnert, dass die Kabotagebeschränkungen ab 2014 – bzw. wenn nicht schon früher – aufgehoben werden, wie es in dem auch in diesem Punkt vom Ausschuss begrüßten Weißbuch 2011 heißt.

4.13.3   Die einheitliche Anwendung und Durchsetzung von Vorschriften im grenzüberschreitenden Verkehr wurde vom Ausschuss schon immer befürwortet. Diese Elemente spielen eine wichtige Rolle. Denn ein lauterer Wettbewerb zwischen Straßenverkehrsunternehmen ist nur dann möglich, wenn die Vorschriften und die Kontrolle der Einhaltung dieser Vorschriften in der EU einheitlich sind. Die hier erörterten Verordnungsvorschläge sind, abgesehen von den in dieser Stellungnahme vorgebrachten kritischen Anmerkungen, ein Beispiel dafür, wie diese Einheitlichkeit zustande gebracht werden kann. Der Ausschuss fordert dazu auf, dies auch bei künftigen neuen oder geänderten Rechtsvorschriften zu berücksichtigen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/82


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen“

KOM(2011) 241 endg.

2012/C 43/19

Berichterstatter: Jonathan PEEL

Die Europäische Kommission beschloss am 14. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen

KOM(2011) 241 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 22. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 8. Dezember) mit 120 gegen 7 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Ausschuss begrüßt nachdrücklich, dass sich die Kommission bei ihrer Überarbeitung des Allgemeinen Zollpräferenzsystems (APS) entschlossen dafür engagiert, noch mehr Gewicht auf die Unterstützung der bedürftigsten Länder zu legen, indem deren Exporteinnahmen gefördert werden, um so besser für einen wirklichen Rückgang der Armut sorgen zu können. Er zeigt sich darüber besorgt, dass sich der Wettbewerbsnachteil bei vielen ärmeren Ländern in den letzten Jahren durch den Aufstieg einer ganzen Reihe von Schwellenländern verstärkt hat; er befürwortet voll und ganz die Absicht, vor dem Hintergrund allgemein weiter sinkender Zölle die von der EU gewährten Handelspräferenzen auf die Länder auszurichten, die diese am dringendsten benötigen.

1.1.1   Deshalb befürwortet der Ausschuss die Absicht der Kommission, die Zahl der zur Teilnahme am APS berechtigten Länder zu reduzieren, jedoch die Zahl der Zolltarifpositionen und betroffenen Waren nicht wesentlich zu erhöhen, damit die Hauptbegünstigten die bedürftigsten Länder sind. Daher weist der Ausschuss darauf hin, dass einige „empfindliche“ Waren, vor allem Agrarerzeugnisse und Textilien, selbst im Rahmen von APS+ nicht von einer vollkommen Zollbefreiung profitieren werden, womit die am wenigsten entwickelten Ländern im Rahmen der Regelung „Alles außer Waffen - Everthing but Arms“ (EBA) weiterhin in den Genuss dieser Vergünstigungen kommen können.

1.1.2   Der Ausschuss stellt fest, dass das APS - und besonders das APS+ - als ein anreizgestütztes (und nicht sanktionsgestütztes) Entwicklungsinstrument für alle förderfähigen Länder ausreichend attraktiv bleiben muss.

1.2   Der Ausschuss begrüßt außerdem nachdrücklich die Tatsache, dass diese Gelegenheit ergriffen wurde, neben der Einhaltung der Grundprinzipien nachhaltige Entwicklung und verantwortungsvolle Staatsführung zu einer stärkeren Wahrung grundlegender Menschen- und Arbeitnehmerrechte anzuhalten und zugleich eine größere Rechtssicherheit und Stabilität zu fördern.

1.3   Der Ausschuss stimmt der Absicht der Kommission zu, als Grundlage von APS+ nicht die Gesamtzahl der in der Verordnung vorgesehenen Übereinkommen zu erhöhen, nicht zuletzt, weil die ausgewählten Übereinkommen den Ländern eine realistische Chance geben, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren (1). Besonders begrüßt der Ausschuss jedoch, dass an dieser Stelle erstmals die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (1992) aufgenommen wurde. Zwischen der Gewährleistung der Menschenrechte, der Erzielung sozialer, ökologischer und politischer Verbesserungen und den technischen und finanziellen Fähigkeiten ärmerer Länder zur Erfüllung der zusätzlichen Anforderungen muss ein Gleichgewicht gefunden werden, auch dann, wenn diese Länder technisch unterstützt werden: Die Wahl muss letztlich jedes Empfängerland entsprechend den eigenen landesspezifischen kulturellen und politischen Gegebenheiten treffen.

1.4   Der Ausschuss betont deshalb, dass diese Vorschläge mit gezielteren Maßnahmen zum Kapazitätenaufbau einhergehen müssen, die darauf ausgerichtet sind, mehr Unterstützung bereitzustellen, damit die Länder die vorgeschriebenen Übereinkommen und ethischen Normen einhalten können. Der Ausschuss drängt auf eine frühzeitige Einführung eines spezifischen EU-Programms parallel zu dieser Verordnung, in dem die für diesen Kapazitätenaufbau verfügbare Unterstützung dargelegt wird, die diejenigen APS-Empfänger in Anspruch nehmen können, die diese beantragen.

1.4.1   Ferner empfiehlt der Ausschuss, diesen Kapazitätenaufbau auch auf einen Dialog zu stützen, bei dem die Erfahrungen der Zivilgesellschaft genutzt werden, um die tatsächlichen Bedürfnisse zu ermitteln und sich an diesen zu orientieren. Sogar CARIS (2), das dank seines Zugangs zu gründlichen Analysen und Analysten eine offizielle Bewertung des APS im Auftrag der Kommission durchgeführt hat, tut sich schwer damit, in seinem Bericht zu einem Ergebnis zu kommen, wenn es um die Überprüfung der im Rahmen des APS im Handelsbereich erzielten Fortschritte geht. Dennoch wird von Entwicklungsländern mit wenig Mitteln erwartet, dass sie politische Entscheidungen treffen, obwohl sie kaum in der Lage sind, eine genaue Prognose zu stellen.

1.5   Der Ausschuss begrüßt insbesondere die erklärte Absicht der Kommission, die Zivilgesellschaft und vor allem den Ausschuss selbst einzubeziehen. Der EWSA ist als Sprachrohr der organisierten Zivilgesellschaft in der Lage, einen umfassenden Überblick zu geben, indem er alle im Sinne von Artikel 14 zweckdienlich erscheinenden Angaben in Bezug auf die Einhaltung der in Anhang VIII aufgeführten wichtigen Übereinkommen berücksichtigt. In dieser Hinsicht hofft der Ausschuss, dass die Kommission zu gegebener Zeit eine gesonderte Verordnung vorlegen wird, mit der geregelt werden: die Verfahren in Bezug auf Bewerbungen für eine Teilnahme am APS+, sowie insbesondere die Rücknahme und erneute Gewährung von Zollpräferenzen im Rahmen des APS, APS+ und der EBA-Regelung im Einklang mit Artikel 10 Absatz 8, Artikel 15 Absatz 2 und Artikel 19 Absatz 12 sowie Schutzmaßnahmen nach Artikel 22 Absatz 4.

1.5.1   Unbeschadet der Rechte und Fähigkeit sämtlicher interessierter Akteure, sich zu Fragen der Einhaltung zu äußern, empfiehlt der Ausschuss der Kommission, dem Rat und dem Parlament, einen „Überwachungs-“ oder Konsultationsmechanismus einzurichten, über den die Zivilgesellschaft mutmaßliche Verstöße gegen die in der Verordnung vorgesehenen Übereinkommen durch APS-Empfänger melden kann. Hierbei sollte der Ausschuss aufgrund des in ihm versammelten Sachverstands als Vermittler oder Koordinator sowie als Anlaufstelle für die Einreichung von Beschwerden agieren.

1.5.2   Der Ausschuss empfiehlt, dass hierbei die Präzedenzfälle, die in Kürze voraussichtlich durch die zivilgesellschaftliche Überwachung der Umsetzung des Abkommens EU/Südkorea und anderer jüngst ausgehandelter Freihandelsabkommen geschaffen werden, die Grundlage bilden, insbesondere die Regelungen für die Einbringung spezifischer Beiträge aus der EU und/oder die Schaffung von Beratungsgremien auf EU-Ebene, die im Vorfeld einer Befassung der offiziellen, im Rahmen dieser Freihandelsabkommen vorgesehenen gemeinsamen Gremien konsultiert werden können.

1.6   Mit Blick hierauf legt der Ausschuss der Kommission nahe, frühzeitig zusammen mit ihm eine gemeinsame Arbeitsgruppe zu bilden, die damit beauftragt wird nachdrückliche Empfehlungen abzugeben.

2.   Hintergrund des neuen Vorschlags

2.1   Die vorgeschlagene Verordnung wird das aktuelle Allgemeine Zollpräferenzsystem (APS) ersetzen, das Ende 2011 ausläuft, aber um zwei Jahre verlängert wurde, um einen nahtlosen Übergang zu gewährleisten. Durch die Verordnung würde das APS außerdem an den Lissabon-Vertrag angepasst, indem die erforderlichen Änderungen, einschließlich einer stärkeren Einbindung des EP, vorgenommen würden. Es wird die Gelegenheit ergriffen, tief greifende Änderungen vorzuschlagen, insbesondere beim APS einen deutlicheren Schwerpunkt zu setzen und es zielgenau auf die bedürftigsten Länder auszurichten, aber auch, für eine Vereinfachung und eine größere Berechenbarkeit und Stabilität zu sorgen, was von grundlegender Bedeutung ist, wenn die Importeure zur Nutzung des Systems bewegt werden sollen. Zu diesem Zweck soll das APS nach weiteren fünf Jahren nur überprüft, nicht aber ersetzt werden.

2.2   Als Teil ihrer gemeinsamen Handelspolitik hat die EU im Einklang mit den WTO-Vorschriften den Entwicklungsländern seit 1971 im Rahmen ihres damals aus den Empfehlungen der UNCTAD entwickelten APS Handelspräferenzen gewährt. Das APS ist eines der zentralen Instrumente der EU, das dazu dient, die Entwicklungsländer bei der Bekämpfung der Armut durch die Erzielung von Einnahmen dank eines verstärkten Handels zu unterstützen und diese zugleich dazu anzuhalten, ihre Anstrengungen zur Gewährleistung grundlegender Menschen- und Arbeitnehmerrechte, zur Bekämpfung der Armut sowie zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung und verantwortungsvollen Staatsführung zu verstärken.

2.3   Wie den Anhängen V und IX des Verordnungsentwurfs zu entnehmen ist, funktioniert das APS so, dass die Zollcodes (KN-Codes) bestimmt werden, bei denen die Einfuhrzölle der EU für den Warenhandel gesenkt werden oder wegfallen sollen. Es handelt sich also nicht um ein Instrument, das in erster Linie dazu dient, den Klimawandel einzudämmen oder die Ernährungssicherheit zu fördern oder auch die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Die - einem Laien womöglich unverständlich erscheinenden - KN-Codes setzen sich aus bis zu acht Ziffern zusammen, mit denen beispielsweise zwischen geröstetem, koffeiniertem (0901 21 00) und entkoffeiniertem Kaffee (0901 22 00) unterschieden wird. Das APS können Importeure in Anspruch nehmen, die von den in dessen Rahmen gebotenen reduzierten Tarifen oder Nulltarifen profitieren wollen: Damit das System auch genutzt wird, muss es unkompliziert, stabil und ausreichend berechenbar sein. Der Ausschuss weist darauf hin, dass nicht alle Importeure, die das System in Anspruch nehmen könnten, automatisch aus APS-begünstigten Ländern stammen: Nur rund 69 % der für die am wenigstens entwickelten Länder verfügbaren potenziellen Zollermäßigungen im Rahmen der EBA-Regelung wurden auch genutzt. Dieser Anteil beträgt beim APS+ immerhin 85 %.

2.4   Im Zuge der weltweiten Senkung der Zölle wird der Anwendungsbereich des APS insgesamt immer kleiner. Importe aus APS-begünstigten Ländern machen nur 4 % der Gesamteinfuhren in die EU aus (9,3 % der Einfuhren kommen aus Entwicklungsländern), und 2009 beliefen sich die Zollmindereinnahmen der EU infolge des APS netto auf lediglich 2,97 Mrd. EUR (Nettoverlust von 2,23 Mrd. EUR nach Abzug der Erhebungskosten). Diese werden nun auf etwa 1,77 Mrd. EUR gesenkt. Einige Mitgliedstaaten fragen sich daher, ob die vorgeschlagenen technischen Einschränkungen in Zeiten der Wirtschaftskrise, der handelspolitischen Unwägbarkeiten und der ständigen Gefahr eines verstärkten Protektionismus als verführerisches Mittel zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme eines Landes nicht zu weit gehen. Nachdem sich der Ausschuss näher mit diesen technischen Fragen beschäftigt hat, ist er jedoch zu der Ansicht gelangt, dass jedwede Schwächung der vorgeschlagenen Änderungen, sowohl im Hinblick auf die Graduierung als auch auf die strengen Kriterien für die Förderfähigkeit, den besser gestellten Ländern zum Vorteil gereichen würde. Hauptziel des APS ist es, die Länder zu unterstützen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind.

2.5   Seit 2004, als sich der Ausschuss zuletzt mit dem APS befasst hat (3) und das System zuletzt überarbeitet wurde, stehen drei Arten von Präferenzregelungen zur Verfügung:

im Rahmen der allen förderfähigen Ländern (derzeit 176) offenstehenden allgemeinen Regelung werden Zollpräferenzen in Form reduzierter oder wegfallender Zollsätze bei ca. 6 200 Zolltarifpositionen von etwa 7 100 insgesamt mit Tarifen von über Null gewährt (4). Die meisten (3 800) dieser Positionen - in erster Linie landwirtschaftliche Erzeugnisse, aber auch Textilwaren und Kleidung -, für die Festsatzermäßigungen bestehender Zölle gewährt werden, werden als „empfindlich“ bezeichnet. 2009 wurden im Rahmen des (ca. 111 Ländern offenstehenden) APS Waren im Wert von 48 Mrd. EUR in die EU importiert - 81 % des gesamten APS;

APS+: ein Anreizmechanismus für kleinere, „gefährdete“ ärmere Länder mit einer schmalen Steuerbemessungsgrundlage, die aber nicht in die Kategorie der am wenigsten entwickelten Länder fallen und deren Ausfuhren in die EU stark auf einige wenige Produkte ausgerichtet sind (wobei die fünf größten Einfuhrabschnitte mehr als 75 % der Gesamteinfuhren ausmachen). Hierbei werden bei einigen „empfindlichen“ Waren zusätzliche Präferenzen gewährt, vorwiegend Zollbefreiungen, aber nur 70 weitere Zolltarifpositionen zu den vom APS abgedeckten 6 200 hinzugefügt. APS+ umfasst außerdem besondere Anreizmaßnahmen zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung und verantwortungsvollen Staatsführung für die teilnehmenden Länder, die sich zur Einhaltung einer breiteren Spanne universeller Grundwerte in den Bereichen Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte, Umwelt und verantwortungsvolle Staatsführung verpflichten müssen (siehe Ziffer 4 unten). 2009 exportierten 15 Länder über die APS+-Regelung Waren im Wert von 5 Mrd. EUR in die EU (9 % des gesamten APS);

„Alles außer Waffen“ (EBA) oder zoll- und kontingentfreier (DFQF) Zugang zur EU für alle Einfuhren aus den 49 von den Vereinten Nationen als am wenigsten entwickelte Länder eingestuften Ländern mit Ausnahme von Waffen und Munition (sowie ursprünglich auch Zucker, Reis und Bananen). Diese Regelung wurde 2004 zum APS hinzugefügt und geht auf eine Initiative der EG im Zusammenhang mit den Doha-Verhandlungen zurück. Trotz der 2005 gefassten WTO-Ministervereinbarung, ähnliche Maßnahmen für einen zoll- und kontingentfreien Zugang im Rahmen der Doha-Runde vorzusehen, ist die EU immer noch die weltweit einzige Handelsregion, die tatsächlich solche großzügigen Handelsbedingungen gewährt. 2009 wurden im Rahmen der EBA-Regelung Waren im Wert von 6 Mrd. EUR in die EU importiert (10 % des gesamten APS).

2.6   Nur 9 % der Zolltarifpositionen bleiben völlig von der APS- und der APS+-Regelung ausgeschlossen (fallen aber unter die EBA-Regelung) - hierbei handelt es sich größtenteils um landwirtschaftliche Erzeugnisse. Eine Einbeziehung dieser Erzeugnisse in die APS- oder APS+-Regelung würde bedeuten, dass einige der Vorteile der EBA-Regelung (bzw. der APS+-Regelung) auf Kosten der ärmsten Länder wegfallen würden (5). Hierzu gehören jedoch Bereiche in Bezug auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, bei denen im Rahmen der Doha-Verhandlungen einige der hartnäckigsten Probleme auftraten. Zuckererzeugnisse sind hier wahrscheinlich das Beispiel für die empfindlichste Ware. Nach über zwei Jahrhunderten der Wettbewerbsverzerrung (6) ist Zucker eine für die EU sehr empfindliche Importware, eine Kulturpflanze, die Mosambik (das zu den am wenigsten entwickelten Länder gehört) zum Marktpreis produzieren kann, das aber wiederum durch vollkommen freien Wettbewerb mit einem Land mit mittlerem Einkommen/obere Einkommenskategorie (UMIC) wie Brasilien unter großen Konkurrenzdruck geraten würde. Solche Erwägungen können auch für Textilwaren und Kleidung angeführt werden, eine weitere sehr empfindliche Warengruppe hinsichtlich ihrer Einfuhr in die EU sowie mit Blick auf den Wettbewerb zwischen den am wenigsten entwickelten Ländern und ihren Nachbarstaaten.

2.7   Die wichtigste Konsequenz der vorgeschlagenen Änderungen wird eine Neuordnung des Ursprungs einiger Einfuhren in die EU sein. Um das APS zielgenauer auszurichten und stärker auf die bedürftigsten Länder zu konzentrieren, wird im Verordnungsentwurf vorgeschlagen, über die Hälfte der derzeit im Rahmen des APS begünstigten Länder zu streichen, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Wie in der Begründung der Kommission erklärt wird, konnten sich „[d]ank des verstärkten Handels […] viele Entwicklungsländer und Ausfuhrsektoren erfolgreich in den globalen Markt integrieren [und] können nunmehr ohne Hilfe weiter expandieren“. Diese weiter entwickelten Länder „üben dadurch allerdings Druck auf […] weitaus ärmere […] Länder aus, die wirklich Hilfe benötigen“.

2.7.1   Nebenbei weist der Ausschuss auf eine große Sorge der EU-Importeure hin: Veränderungen hinsichtlich der Ursprungsregeln, die bereits im Gange sind, könnten zu einer deutlich geringeren Nutzung des Systems bis 2017 führen, wenn die Anforderungen für die von den staatlichen Behörden auszustellenden Ursprungsbescheinigungen durch Erklärungen registrierter Exporteure ersetzt werden sollen. Dies wird von vielen KMU als zu riskant angesehen. Diesbezüglich ist der Ausschuss der Auffassung, dass das vorgeschlagene System der Ausstellung von Bescheinigungen durch die Erzeuger selbst überwacht, bewertet und von unabhängigen, international tätigen Fachgremien anerkannt werden muss. In der jüngsten Vergangenheit gab es im Bereich der EU-Einfuhren, vor allem für Zucker, zu viele Fälle von Betrug bzw. Versuche, die geltenden Regelungen zu umgehen.

2.8   Länder mit hohem Einkommen (laut Klassifizierung der Weltbank) werden nach wie vor ausgeschlossen, allerdings ohne die zuvor genannten Ausnahmeregeln. Nun wird außerdem vorgeschlagen, alle 33 überseeischen Länder und Gebiete (ÜLG) von der Regelung auszunehmen, d.h. Länder mit Verbindungen zur EU, zu den USA, Australien und Neuseeland, für die das APS nur marginal angewendet wird. Hierzu gehören Grönland, Bermuda und Amerikanisch-Samoa.

2.8.1   Von der Regelung ausgenommen werden außerdem:

alle Freihandelspartner und andere Länder, die in den Genuss einer präferenziellen Marktzugangsregelung mit der Europäischen Union zu den gleichen oder besseren Zollbedingungen kommen (auch wenn diese Länder förderfähig bleiben, wenn diese Regelungen nicht mehr gelten) - in diesem Fall wird das entsprechende Land zwei Jahre im Voraus informiert. Zuvor war die Unterscheidung unklar, doch nun muss auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass in den nächsten Jahren die Zahl der ratifizierten Freihandelsabkommen der EU möglicherweise deutlich zunehmen wird, da dies mit der Zeit zu einem erheblichem Rückgang der Zahl der förderfähigen Länder führen könnte;

Länder, die in den vorangegangenen drei Jahren von der Weltbank als Land mit mittleren Einkommen/obere Einkommenskategorie (UMIC) eingestuft wurden (auf der Grundlage des Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens) - in diesem Fall wird das entsprechende Land ein Jahr im Voraus informiert. Im nachfolgenden Kapitel 3 wird hierauf näher eingegangen.

2.9   Das derzeitige Graduierungssystem, mit dem sichergestellt werden soll, dass die Präferenzen für Sektoren, die sie nicht mehr benötigen, aufgehoben werden, wird sich ändern. Die früheren Grenzwerte, laut deren die Ausfuhren eines Landes in die EU nicht mehr förderfähig sind, wenn sie drei Jahre in Folge 15 % der unter das APS fallenden Gesamteinfuhren überschreiten (sofern dieser Warenabschnitt bzw. diese Produktgruppe nicht mehr als 50 % der unter das APS fallenden Gesamteinfuhren dieses Landes ausmacht), werden aufgrund der größeren Zielgenauigkeit des APS nun bei 17,5 % liegen, auch wenn dies in Wirklichkeit eine leichte Verschärfung bedeutet. Bei Kleidung und Textilwaren wird der Grenzwert von 12,5 % auf 14,5 % angehoben.

2.10   Ebenso wird die Zahl der vorgesehenen Warenabschnitte von 21 auf 32 erhöht, um eine größere Objektivität und Genauigkeit zu gewährleisten, aber eine Beschränkung zu vermeiden, durch die die entscheidende Einfachheit, Stabilität und Berechenbarkeit verloren gehen. Dies ist eine wichtige Überlegung, auch wenn dieses Instrument selten genutzt wird – derzeit lässt es sich nur auf sieben Länder anwenden, insbesondere China, aber auch Brasilien, Indien und andere asiatische Länder. In der Vergangenheit wurde es auch für Russland und Indien eingesetzt, dann aber wieder abgeschafft.

2.10.1   Die Graduierung wird nicht mehr für die APS+-begünstigten Länder gelten - bei der EBA-Regelung hat sie noch nie Anwendung gefunden.

2.10.2   Bei der APS+-Regelung wird die an die teilnehmenden Länder gestellte Anforderung, weniger als 1 % zu den unter das APS fallenden Einfuhren in die EU beizutragen, aufgrund der größeren Zielgenauigkeit und Beschränkung des APS nun auf 2 % angehoben. Tatsächlich wird dies allerdings diese Regelung nur Pakistan zugänglich machen (ein Land, bei dem das Niveau der Textilimporte in die EU ein Problem ist, nicht zuletzt, weil einige es für wahrscheinlich halten, dass Pakistan auf Kosten der am wenigsten entwickelten Länder in der Region hieraus Nutzen ziehen wird) sowie den Philippinen, sofern sie die Bedingungen erfüllen und sie die Regelung in Anspruch nehmen wollen.

3.   Künftige Förderfähigkeit im Rahmen des APS und des APS+

3.1   Im Zuge der allgemeinen weltweiten Senkung der Zölle (ausgenommen vor allem die auf landwirtschaftliche Erzeugnisse und Textilwaren erhobenen Zölle) und der voraussichtlich künftig in Kraft tretenden neuen Freihandelsabkommen der EU wird der Anwendungsbereich des APS immer kleiner. Nach den oben beschriebenen voraussichtlichen Änderungen und Streichungen, wird von Folgendem ausgegangen:

insgesamt werden ca. 80 Länder auch weiterhin im Rahmen des APS förderfähig sein, je nachdem, welche Länder zum entsprechenden Zeitpunkt die Kriterien erfüllen werden;

49 davon gehören zu den am wenigsten entwickelten Ländern und sind gemäß der EBA-Regelung förderfähig;

von den etwa 30 im Rahmen der APS- und der APS+-, nicht aber der EBA-Regelung förderfähigen Ländern dürften alle bis auf sieben oder acht im Rahmen der APS+-Regelung förderfähig sein. Es ist jedoch bei weitem nicht klar, ob die Nutzung des APS+ für die meisten dieser Länder ausreichend attraktiv sein wird, um diese Regelung in Anspruch zu nehmen. Viele Länder sehen derzeit hiervon ab. Die APS+-Regelung könnte daher auf lediglich drei oder fünf Länder beschränkt werden (7) - selbst unter der Annahme, dass der höhere Prozentsatz von 2 % (siehe Ziffer 2.10.2) festgelegt wird, vor allem wenn die EU in vollem Umfang Freihandelsabkommen mit Zentralamerika (die Ratifizierung steht noch aus) und den relevanten Ländern der Östlichen Partnerschaft schließen würde;

andererseits könnten die meisten der ausschließlich im Rahmen der APS-Regelung förderfähigen Länder bald aus dieser Regelung herausfallen. Hierzu zählen Indien, China, die Ukraine und drei ASEAN-Länder, die sich alle rasch entwickeln. Einige dieser Länder handeln derzeit außerdem Freihandelsabkommen mit der EU aus;

dieser eventuelle weitere Rückgang der Zahl der voraussichtlich förderfähigen Länder wirft daher die Frage auf, ob die EU auf lange Sicht sowohl die APS- als auch die APS+-Regelung beibehalten sollte.

3.2   Der Ausschuss erkennt an, dass die Kommission sehr zögert, die Förderfähigkeit im Rahmen der APS+-Regelung auszuweiten, nachdem sie 2004 im Zusammenhang mit dem APS einen WTO-Streit mit Indien in Bezug auf Drogen verloren hat. Die EU könnte womöglich weitere WTO-Streitfälle verlieren, da eine rechtliche Unterscheidung zwischen Entwicklungsländern nur unter ganz spezifischen Bedingungen zulässig ist.

3.3   Der Ausschuss ist sich bewusst, dass andererseits zur Erhöhung der Zahl der ausschließlich im Rahmen der APS-Regelung förderfähigen Länder alle Länder, die von der Weltbank als UMIC (Land mit mittleren Einkommen/obere Einkommenskategorie, d.h. mehr als 3,976 USD pro Jahr) eingestuft werden, eingeschlossen werden müssten, auch wenn ihre Zahl gering ist. Hierzu gehören Russland, Brasilien, Argentinien und Malaysia (die alle über ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen verfügen, das über dem von Rumänien und Bulgarien liegt). Der entscheidende Punkt bleibt, dass es Sinn und Zweck des APS ist, die hilfsbedürftigsten Länder zu unterstützen.

3.4   Dem Ausschuss scheint daher der Hauptunterschied zwischen der Nutzung der APS- bzw. der APS+-Regelung in den meisten Fällen auf der Wahl der förderfähigen Länder zu beruhen. Es stellt sich demzufolge die Frage, ob oder inwieweit die APS+-Regelung so attraktiv gestaltet werden kann, dass sie möglichst viele dieser Länder umfasst, zu denen Zentralasien und Nigeria (die sich bereits gegen eine Inanspruchnahme der APS+-Regelung entschieden haben), Syrien, der Iran sowie eine Reihe von Inselstaaten gehören dürften. Wenn mehr dieser Länder dazu ermutigt werden, die APS+-Regelung in Anspruch zu nehmen, und somit die in den vorgesehenen 27 Übereinkommen enthaltenen Grundsätze umfassend zu befolgen und einzuhalten, dürfte dies zu einer für alle Seiten gewinnbringenderen Situation führen.

4.   Wichtige Übereinkommen – Menschen- und Arbeitnehmerrechte, Umwelt und verantwortungsvolle Staatsführung

4.1   Das Schlüsselmerkmal des APS+ sind nach Auffassung des Ausschusses die auf universellen Rechten beruhenden Verpflichtungen, die die begünstigten Länder als Gegenleistung eingehen. Um Anspruch auf Förderung im Rahmen der APS- oder EBA-Regelung zu haben, dürfen die Bewerberländer keine schwerwiegenden und systematischen Verstöße gegen die Prinzipien begangen haben, die in den in Teil A von Anhang VIII des Verordnungsvorschlags aufgeführten Übereinkommen enthalten sind, zu denen auch die wesentlichen Übereinkommen der Vereinten Nationen zu den Menschen- und Arbeitnehmerrechten und die acht wesentlichen Übereinkommen der ILO gehören. Die einzige in dem Verordnungsvorschlag vorgeschlagene Änderung besteht darin, dass das Übereinkommen über Apartheid wegfällt.

4.2   Um im Rahmen der APS+-Regelung Anspruch auf Förderung zu haben, müssen die Länder jedoch die in Teil A von Anhang VIII des Verordnungsvorschlags aufgeführten Übereinkommen sowie weitere 12 Übereinkommen (die in Teil B aufgeführt sind) ratifiziert haben und einhalten. Es wird vorgeschlagen, an dieser Stelle die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (1992) hinzuzufügen, was der Ausschuss nachdrücklich begrüßt.

4.2.1   In Bezug auf die APS+-Regelung wird vorgeschlagen, dass die Begünstigten nun größere Verpflichtungen eingehen, mehr Gewicht auf die Einhaltung der Übereinkommen legen und die Mechanismen zur Sicherstellung der Umsetzung verbessern müssen. Zu diesem Zweck wird Folgendes vorgesehen:

die Begünstigten müssen fortan die Zusage machen, die Ratifizierung der Übereinkommen, die Begleitgesetze und andere Umsetzungsmethoden beizubehalten, sie dürfen nicht Gegenstand schwerwiegender, von den zuständigen Überwachungsorganen aufgedeckter Verstöße sein und müssen eine regelmäßige Überwachung und Überprüfung akzeptieren;

da es sich beim APS um ein anreizgestütztes (und nicht sanktionsgestütztes) System handelt, wird ein regelmäßiger Dialog zwischen der Kommission und den einzelnen Begünstigten stattfinden, nicht zuletzt, um sicherzustellen, dass sich die Umsetzung mit der Zeit verbessert und nicht verschlechtert;

die Überwachungsmaßnahmen werden verschärft, wobei alle zwei (statt drei) Jahre dem Rat und nun auch dem EP Berichte übermittelt werden;

eine mangelnde Kooperation wird ohne weitere Untersuchungen zu einem raschen Ausschluss führen;

die Beweislast wird umgekehrt - sie obliegt nun dem Empfängerland;

die Kommission wird jetzt andere Quellen für zuverlässige Informationen nutzen können, einschließlich Beiträge der Zivilgesellschaft, was von entscheidender Bedeutung ist.

4.3   Dies wird an viele APS+-Empfänger hohe technische und finanzielle Anforderungen stellen, weshalb eine Unterstützung durch die EU wesentlich sein wird. Im Verordnungsentwurf ist hiervon jedoch keine Rede. Der Ausschuss drängt auf eine frühzeitige Einführung eines EU-Programms parallel zu dieser Verordnung, in dem die für diesen Kapazitätenaufbau verfügbare Unterstützung und finanzielle Förderung dargelegt werden, die diejenigen APS-Empfänger in Anspruch nehmen können, die diese beantragen. Die Wahl trifft letztlich jedes Empfängerland entsprechend den landesspezifischen Gegebenheiten.

4.4   Der Ausschuss befürwortet die Beibehaltung der Liste der 27 Übereinkommen mit den beiden vorgeschlagenen Änderungen. Die Kommission betont, dass die ausgewählten Übereinkommen den Ländern eine realistische Chance bieten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren (8). Als ein anreizgestütztes Entwicklungsinstrument muss die APS+-Regelung für alle relevanten Länder so attraktiv gestaltet werden, dass sie diese Förderung auch anstreben. Zwischen der Erlangung von Menschenrechten sowie der Erzielung sozialer, ökologischer und politischer Verbesserungen einerseits und den Fähigkeiten ärmerer Länder zur Erfüllung der zusätzlichen Anforderungen andererseits muss ein Gleichgewicht gefunden werden, auch dann, wenn diesen Ländern handelsbezogene technische Unterstützung zuteil wird. Laut dem CARIS-Bericht sind die Fortschritte bislang immer noch marginal.

4.4.1   Nicht jedes förderfähige Land möchte das APS+ in Anspruch nehmen, und zwar aus einem der drei folgenden Gründe:

bei den wichtigsten Exporten handelt es sich nicht um „empfindliche“ Waren, so dass die Vorteile nur gering sind;

die Regierungen möchten nicht die Anforderungen erfüllen müssen;

aufgrund interner Probleme, einschließlich Kriege, Konflikte und/oder mangelnde Verwaltungskapazitäten, können die Anforderungen nicht erfüllt werden.

4.4.2   Bislang hat die EU lediglich der Ratifizierung von Übereinkommen und der klaren Abmachung, dass die Länder für eine wirkungsvolle Umsetzung sorgen werden, Bedeutung beigemessen. Würde die Umsetzung dieser Anforderungen von Anfang an verlangt werden und würde nur dieses Kriterium gelten, dann wären wahrscheinlich keine anderen Länder als Norwegen und die Schweiz jemals förderfähig. Im CARIS-Bericht wird darauf hingewiesen, dass das APS+ wirksam die Ratifizierung der 27 Übereinkommen zu fördern scheint, sich tatsächliche Auswirkungen allerdings schwerer feststellen lassen. Durch das APS werden jedoch in den Fällen weitere interne Anreize für eine wirksame Umsetzung geschaffen, in denen die Akteure bei einem späteren Entzug der entsprechenden Vorteile wesentliche Einbußen hinnehmen müssten.

4.5   Alle APS-Regelungen können bei schwerwiegenden und systematischen Verstößen gegen die entsprechenden Kerngrundsätze und aus einer Reihe anderer Gründe wie unlautere Handelspraktiken, betrügerische Praktiken oder schwerwiegende Mängel bei den Zollkontrollen ausgesetzt werden.

4.5.1   Bislang wurden die Vorteile des APS sowohl in Myanmar (9) (1997) als auch in Belarus (2006) infolge des Verstoßes gegen Arbeitnehmerrechte entzogen und noch nicht wieder gewährt. Sri Lanka wurden 2010 die APS-Vorteile entzogen, weil es nicht für die tatsächliche Anwendung der Menschenrechtsübereinkommen gesorgt hatte. Bei einigen Ländern wie El Salvador genügte jedoch die Einleitung von Untersuchungen, um Änderungen herbeizuführen.

4.5.2   Dem Ausschuss stellt sich die zentrale Frage, ob die Einleitung eines umfassenden Untersuchungsverfahrens - und viele Länder haben noch viel Unerledigtes vor sich - insbesondere nach dem überarbeiteten, strengeren System nicht unweigerlich zur Einstellung der präferenziellen Behandlung führt, wenn nicht rasch eine Lösung gefunden werden kann. Dies würde niemandem nützen. Zwischen Sanktionen und Anreizen muss ein Gleichgewicht gefunden werden. Bei einigen sehr armen Ländern, in denen die Menschen mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und vom Hungertod bedroht sind, könnten diese Ziele kurzfristig unerreichbar sein. Zwar hat die Kommission alle zwei Jahre dem Parlament Bericht zu erstatten, doch geht der Ausschuss davon aus, dass in der Zwischenzeit ein Dialog stattfinden wird und die Kommission die Lage in den begünstigten Ländern ständig überwachen wird, u.a. unter Nutzung des von den einschlägigen internationalen Überwachungsorganen erstellten Materials. Der Ausschuss erwartet von der Kommission im derzeitigen Stadium ein möglichst transparentes Vorgehen, wenn echte Problembereiche erkannt werden.

4.5.3   Eine besondere Frage ergibt sich im Zusammenhang mit Usbekistan (das ansonsten im Rahmen des APS+ förderfähig ist, aber auf dessen Inanspruchnahme verzichtet). Hier bestehen große Bedenken hinsichtlich der Kinderarbeit bei der Baumwollernte. Das erklärte Ziel des APS+ besteht darin, die begünstigten Länder dazu anzuhalten, ihre Leistungen zu verbessern. Daher muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen der Förderung positiver Veränderungen und dem Abdrängen von Ländern in noch größere Isolation, wodurch der Fortschritt vielleicht mehrere Jahre lang gebremst wird oder sogar erzielte Fortschritte wieder zunichte gemacht werden.

5.   Die Rolle der Zivilgesellschaft

5.1   Im Zusammenhang mit dem in Ziffer 4.3 angesprochenen Aufbau zusätzlicher Kapazitäten empfiehlt der Ausschuss, diesen auf einen Dialog zu stützen, bei dem die Erfahrungen der Zivilgesellschaft genutzt werden, um die tatsächlichen Bedürfnisse zu ermitteln und sich an diesen zu orientieren. Wie weiter oben bereits gesagt, tut sich sogar CARIS, das Zugang zu gründlichen Analysen und Analysten hat, schwer damit, in seinem Bericht zu einem Ergebnis zu kommen, wenn es um die Überprüfung der im Rahmen des APS im Handelsbereich erzielten Fortschritte geht, und wird dennoch von Entwicklungsländern mit wenig Mitteln erwartet, dass sie politische Entscheidungen treffen, obwohl sie kaum in der Lage sind eine genaue Prognose zu stellen.

5.2   In Artikel 14 des Verordnungsvorschlags wird festgestellt, dass die Kommission in Bezug auf die Einhaltung der in Anhang VIII aufgeführten wichtigen Übereinkommen „alle […] zweckdienlich erscheinenden Angaben“ berücksichtigen kann. Die Kommission macht deutlich, dass sie über die Berichte der internationalen Aufsichtsgremien hinaus auf weitere Quellen für genaue Informationen wird zurückgreifen können (10). Hierbei muss es sich um nachweisbare und verlässliche Informationsquellen handeln.

5.3   Die Kommission sieht den Ausschuss als eine dieser Quellen an, die als „ausgewogener“ zu begrüßen ist, weil er als Sprachrohr der organisierten Zivilgesellschaft in der Lage ist, einen umfassenden Überblick zu geben. Weitere potenzielle Quellen sind Unternehmen und Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und sonstige Organisationen, die sich aktiv engagieren können.

5.4   Der Ausschuss verweist ferner auf die Absicht der Kommission, zu gegebener Zeit eine gesonderte Verordnung vorzulegen, mit der die Verfahren in Bezug auf Bewerbungen für eine Teilnahme am APS+ sowie insbesondere die Rücknahme und erneute Gewährung von Zollpräferenzen im Rahmen des APS, APS+ und der EBA-Regelung im Einklang mit den Artikeln 10 Absatz 8, 15 Absatz 2 und 19 Absatz 12 der vorgeschlagenen Verordnung sowie Schutzmaßnahmen nach Artikel 22 Absatz 4 geregelt werden. Der Ausschuss hofft auf eine Befassung, während die Prüfungen und Beratungen zu der Vorlage noch im Gange sind.

5.4.1   Unbeschadet der Rechte und Fähigkeit sämtlicher interessierter Akteure, sich zu Fragen der Einhaltung zu äußern, empfiehlt der Ausschuss der Kommission, dem Rat und dem Parlament allerdings, einen „Überwachungs-“ oder Konsultationsmechanismus einzurichten, über den die Zivilgesellschaft mutmaßliche Verstöße gegen die vorgesehenen Übereinkommen durch APS-Empfänger melden kann. Außerdem fordert er nachdrücklich, dass der Ausschuss selbst als Vermittler oder Koordinator sowie als Anlaufstelle für die Einreichung von Beschwerden fungiert. Hierbei sollten ggf. die Präzedenzfälle, die in Kürze durch die zivilgesellschaftliche Überwachung der Umsetzung des Abkommens EU/Südkorea und anderer Freihandelsabkommen geschaffen werden, die Grundlage bilden, insbesondere die Regelungen in Bezug auf spezifische Beiträge aus der EU und/oder Beratungsgremien auf EU-Ebene, die im Vorfeld einer Befassung der offiziellen, im Rahmen dieser Freihandelsabkommen vorgesehenen gemeinsamen Gremien konsultiert werden können.

5.4.2   Mit Blick hierauf legt der Ausschuss der Kommission nahe, frühzeitig und zeitnah zusammen mit ihm eine gemeinsame Arbeitsgruppe zu bilden, die damit beauftragt wird, nachdrückliche Empfehlungen abzugeben.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  INFO PACK Regarding the European Commission’s proposal on a new GSP (INFOPACK in Bezug auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für ein neues APS), GD Handel, Seite 8.

(2)  Centre for the Analysis of Regional Integration at Sussex (an der Universität von Sussex): Mid term GSP evaluation report (Bericht über die Halbzeitbewertung des APS), 2009.

(3)  ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 34.

(4)  Weitere 2 300 Zolltarifpositionen weisen bereits jetzt einen Standardtarif von Null auf.

(5)  CARIS-Bericht.

(6)  Diese gehen auf die Napoleonischen Kriege und den Einfuhrstopp für Zucker nach Kontinentaleuropa zurück.

(7)  Bolivien, Ecuador und die Mongolei, mit einer möglichen Ausweitung auf Pakistan und die Philippinen.

(8)  INFO PACK Regarding the European Commission’s proposal on a new GSP (INFOPACK in Bezug auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für ein neues APS), GD Handel, Seite 8, Ziffer 5.

(9)  Ansonsten wäre das Land jetzt im Rahmen der EBA-Regelung förderfähig.

(10)  INFO PACK Regarding the European Commission’s proposal on a new GSP (INFOPACK in Bezug auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für ein neues APS), GD Handel, Seite 8.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/89


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Vorlage „Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“

KOM(2011) 303 endg.

2012/C 43/20

Berichterstatterin: Emmanuelle BUTAUD-STUBBS

Die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik beschlossen am 19. Juli 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel

KOM(2011) 303 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe für Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 22. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 119 gegen 3 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die gemeinsame Mitteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Europäischen Kommission als eine rechtzeitige und dringend notwendige Anpassung der Politik der Europäischen Union. Er befürwortet das in der Mitteilung genannte Ziel, einen neuen Ansatz für die EU-Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, um die Partnerschaft zwischen der EU und den Partnerländern zu stärken.

1.2   Der EWSA weist darauf hin, dass die Mitteilung nur als Anstoß für eine künftige Partnerschaft zu betrachten ist, und ruft die EU-Institutionen dazu auf, eine im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2014-2020 umzusetzende längerfristige Strategie zu entwickeln, in der die aufgezeigten Prioritäten zu berücksichtigen und entsprechende Haushaltsmittel für eine engere Partnerschaft sowie für die einzelnen Bereiche der EU-Politik vorzusehen sind.

1.3   Der EWSA hofft, dass die EU angemessen, d.h. resolut und geschlossen, und entsprechend dem in ihrer Mitteilung zu den Ländern der Partnerschaft Europa-Mittelmeer (1) skizzierten Ansatz auf die jüngsten Ereignisse in einigen Nachbarstaaten, in denen sich noch kein echtes und dauerhaftes demokratisches System etabliert hat, reagieren wird.

1.4   Der EWSA befürwortet die Grundsätze der Differenzierung und der Konditionalität und stimmt mit der Ansicht überein, dass es in den Beziehungen zu den Partnerländern größerer Flexibilität bedarf. Gleichzeitig fordert er die EU aber dazu auf, sicherzustellen, dass die Anwendung des Prinzips „weniger für weniger“ nicht das Potenzial der Partnerländer schmälert, die Reformprozesse nach ihrem jeweils eigenen Tempo und entsprechend ihren Kapazitäten voranzutreiben.

1.5   Der EWSA stellt mit Zufriedenheit fest, dass in der Mitteilung ein neuer Schwerpunkt auf die Schlüsselrolle der Zivilgesellschaft bei der Stärkung des Demokratisierungsprozesses gelegt und die Unterstützung einer breiten Palette zivilgesellschaftlicher Organisationen einschließlich der Sozialpartner als prioritär erachtet wird.

1.6   Der EWSA weist nachdrücklich darauf hin, dass die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Aktivitäten, für den Schutz der Menschenrechte sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und für die freie Religionsausübung ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der Regierungsführung eines Landes sind.

1.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU-Förderung aus dem Europäischen Fonds für Demokratie (EFD) für den spontanen Bedarf einer breiteren Palette zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie auch für nicht registrierte Oppositionsgruppierungen zugänglich sein und auf diese Bedürfnisse zugeschnitten werden sollte. Der EFD sollte bereits bestehende Instrumente wie das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) und das Stabilitätsinstrument ergänzen.

1.8   In diesem Zusammenhang weist der EWSA nachdrücklich darauf hin, dass den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden und anderen wirtschaftlichen und sozialen Gruppierungen mehr und gezieltere Unterstützung gewährt werden sollte, da sie eine wichtige Rolle im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben einnehmen und potenzielle Garanten für Stabilität sind. In der Tat spielten einige davon eine Schlüsselrolle in der Demokratiebewegung. Zudem begrüßt der EWSA, dass vorgesehen ist, diese Akteure aus dem EFD zu unterstützen und hofft, dass auch die Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft zu diesem Zweck genutzt werden wird.

1.9   Der EWSA fordert, die Effizienz von aus EU-Mitteln geförderten Projekten zu verbessern. Aufgrund der Komplexität der EU-Förderverfahren bleiben zahlreiche nichtstaatliche Akteure außen vor. Eines der Ziele der Initiative sollte sein, Organisationen bei der Beantragung von Fördermitteln zu helfen, etwa mittels Weiterbildungsmaßnahmen der EU-Delegationen im Bereich des Kapazitätenaufbaus.

1.10   Zudem fordert der EWSA die EU dazu auf, Vorsichtsmaßnahmen und Grundregeln der guten Regierungsführung für die Regierungen jener Partnerländer festzulegen, die eine Unterstützung im Rahmen des dritten Aktionsbereichs der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft in Anspruch nehmen wollen, der den Partnerländern die Möglichkeit bietet, Projekte für den Kapazitätenaufbau zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und deren Einbindung in die Politikgestaltung und die Beschlussfassungsprozesse des jeweiligen Landes durchzuführen.

1.11   Was die Handelsbeziehungen betrifft, ist eines der wichtigsten Ziele der vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) die Erreichung einer tiefen wirtschaftlichen Integration der EU und der Partnerländer. Der EWSA fordert die EU dazu auf, beim DCFTA-Acquis differenzierte „Pakete“ zu schnüren, die jeweils das unterschiedliche Interesse an der wirtschaftlichen Integration mit der EU und die unterschiedlichen Agenden in den Partnerländern berücksichtigen. Von entscheidender Bedeutung sind die Während der Verhandlungs- und Umsetzungsphase von DCFTA und anderer Abkommen ist es wichtig, bindende Bestimmungen bezüglich der Einbindung der Zivilgesellschaft und der Etablierung eines ständigen Dialogs mit der Zivilgesellschaft vorzusehen. Außerdem sollte die Zivilgesellschaft im Rahmen von Abschätzungen der Folgen auf die Nachhaltigkeit konsultiert werden.

1.12   Ebenso wichtig sind die Stärkung der Meinungs-, Religions- und Medienfreiheit als Teil der bürgerlichen Freiheiten und des ungehinderten Zugangs zum Internet und zu sozialen Medien, da diese die Transparenz fördern und den Demokratisierungsprozess voranbringen. Deshalb sollte diesen Bereichen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, und es sollten hier gezielte Maßnahmen ergriffen werden.

1.13   Obwohl dabei nur recht bescheidene Erfolge erzielt wurden, begrüßt der EWSA das Engagement der EU im Bereich der Konfliktprävention in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und ruft sie dazu auf, diesbezüglich umfassende Strategien zu entwickeln.

1.14   Des Weiteren fordert der EWSA, die Mobilität der Bevölkerung der Nachbarstaaten - insbesondere die von Jungen, Studierenden, Künstlern, Forschern, Wissenschaftlern und Unternehmern - zu erleichtern, um zum Wohle der Partnerländer wie auch der EU mehr direkte Kontakte zwischen den Menschen zu ermöglichen.

1.15   Als Vertreter der Zivilgesellschaft auf der EU-Ebene ist der EWSA bereit, eine aktive Rolle zu übernehmen und seinen Sachverstand im Hinblick auf die Schaffung eines effizienteren europäischen Rahmens für die Zusammenarbeit mit den Gesellschaften der Nachbarstaaten zu teilen (2). Dazu kann er insbesondere beitragen durch:

Unterstützung bei der systematischen Erfassung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Erstellung von Lageberichten über die Aktivitäten dieser Organisationen vor Ort durch einen offenen und integrativen Dialog mit einer breiten Palette von Akteuren;

Austausch von Sachverstand bezüglich der Festlegung spezifischer Kriterien und Prozesse für den Aufbau tatsächlich repräsentativer Institutionen zur Einbindung der Zivilgesellschaft in die Politikgestaltung in den Partnerländern, wobei die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarstaaten der EU mit einfließen sollte;

Unterstützung unabhängiger und repräsentativer Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere derjenigen, die sich aktiv am Widerstand gegen die undemokratischen Regimes beteiligt haben, durch Maßnahmen im Bereich des Kapazitätenaufbaus sowie durch den Austausch von Sachverstand in einer Vielzahl von Bereichen wie dem sozialen Dialog (auch auf Sektorebene) und den wirtschaftlichen und sozialen Rechten;

Austausch nachahmenswerter Vorgehensweisen in Bereichen wie sozialer Dialog, Geschlechtergleichstellung, unternehmerische Initiative und soziale Verantwortung der Unternehmen;

Mitarbeit an der Gestaltung von Instrumenten, Aktionsplänen und Programmen der EU mit dem Ziel der Stärkung sozialer und wirtschaftlicher Organisationen und der Überwachung ihrer Umsetzung;

aktive Beteiligung an der Festlegung der Durchführungsmodalitäten der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und des Europäischen Fonds für Demokratie.

2.   Aus der Vergangenheit lernen

2.1   Kritische Überprüfung früherer EU-Maßnahmen

2.1.1   Das - mit einigen Ausnahmen - völlige Fehlen eines demokratischer Rahmenbedingungen hat die EU dazu gezwungen, ihre Maßnahmen nach pragmatischen Grundsätzen auszurichten und Persönlichkeiten als Gesprächspartner zu akzeptieren, die in keiner Weise als demokratisch legitimierte Vertreter ihrer Bevölkerungen zu bezeichnen sind.

2.1.2   Die EU hat z.B. im Verlauf des gesamten Barcelona-Prozesses nicht genug mit von der jeweiligen Regierung nicht anerkannten Organisationen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen kommuniziert und zusammengearbeitet, wodurch eine Chance auf Beeinflussung der politischen und sozialen Entwicklungen versäumt wurde.

2.1.3   In der Vergangenheit hat sich insbesondere in den Ländern der Partnerschaft Europa-Mittelmeer gezeigt, dass die verfügbaren Mittel zur Förderung der Zivilgesellschaft aufgrund der Schwäche der zivilgesellschaftlichen Organisationen in nicht-demokratischen Staaten tendenziell nicht vollständig ausgeschöpft werden.

2.1.4   Es gibt einige Beispiele für eine erfolgreiche Einbindung der Zivilgesellschaft, wie die Schaffung von thematischen Plattformen, Arbeitsgruppen und Foren im Rahmen der Östlichen Partnerschaft, die entsprechend angepasst auch im Süden nutzbringend eingesetzt werden könnten.

3.   Hauptaspekte eines neuen Ansatzes

3.1   Anwendung der Grundsätze der Differenzierung und der Konditionalität

3.1.1   Der EWSA schließt sich der in der Mitteilung vorgenommenen Priorisierung dieser beiden Grundsätze vorbehaltlos an; er ist selbst gerade dabei, diese in seiner Arbeit stärker anzuwenden, etwa bei den Kriterien für die Teilnahme am Gipfeltreffen Europa-Mittelmeer der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Institutionen sowie bei der Veranstaltung seiner Fachexkursionen im Ausland.

3.1.2   Bei ihrem Ansatz „mehr für mehr“ muss die EU der unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklung der Regionen und Länder, deren Entwicklungsstand, dem unterschiedlichen Stand ihrer Beziehungen zur EU sowie ihren spezifischen Bedürfnissen und Problemen Rechnung tragen. Ein solcher Ansatz wird auch zu einer effizienteren Nutzung von EU-Mitteln beitragen, was eine der Hauptverpflichtungen der EU gegenüber dem europäischen Steuerzahler ist.

3.1.3   Gleichzeitig muss nach Auffassung des EWSA sichergestellt werden, dass das Prinzip „weniger für weniger“ nicht so angewandt wird, dass es das Entwicklungspotenzial eines Partnerlandes hemmt, das geringere Fortschritte erzielt.

3.2   Unterstützung von „vertiefter“ und dauerhafter Demokratie

3.2.1   Die EU hat zurecht betont, dass es notwendig sei, eine „vertiefte“ Demokratie zu fördern, indem die Zivilgesellschaft insgesamt gestärkt, ihre Rolle im Demokratisierungsprozess aufgewertet wird und die Grundsätze der guten Regierungsführung in den Ländern der EU-Nachbarschaftspolitik verankert werden.

3.2.2   Der EWSA begrüßt die Schaffung neuer Instrumente zum Zweck der Konsolidierung der Errungenschaften des Demokratisierungsprozesses. Er erklärt sich in diesem Zusammenhang bereit, sich an der Festlegung der Durchführungsmodalitäten des Europäischen Fonds für Demokratie und insbesondere der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft zu beteiligen. Diese Instrumente sollten flexibel und auf die sich wandelnden Bedürfnisse zugeschnitten sein und gezielte Maßnahmen zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in den EU-Nachbarländern umfassen, darunter auch Maßnahmen zur Förderung der Gründung politischer Parteien und freier Medien sowie zur Stärkung der Einbindung der Zivilgesellschaft in die demokratischen Prozesse.

3.2.3   Obwohl sich das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR), das Stabilitätsinstrument, der Europäische Fonds für Demokratie und die Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft sowohl in finanzieller, operationeller und verwaltungstechnischer Hinsicht voneinander unterscheiden, müssen die Abstimmung und die Synergien zwischen diesen Instrumenten gewährleistet und verstärkt werden.

3.2.4   Der EWSA fordert die Kommission auf, die Erläuterungsdokumente einfach und benutzerfreundlich zu gestalten, damit die Organisationen stärker auf diese Instrumente aufmerksam werden und sie besser ausschöpfen können.

3.2.5   Der EWSA ist zudem der Ansicht, dass sowohl die freie Religionsausübung als auch die bürgerlichen Freiheiten grundlegende Menschenrechte sind, die in Regionen mit religiöser und politischer Vielfalt umfassend zu schützen sind. Er ruft jene Länder, die die bestehenden allgemeinen und regionalen Konventionen und Vereinbarungen über politische, bürgerliche und kulturelle Freiheiten sowie über wirtschaftliche und soziale Rechte, die sich auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung stützen, noch nicht ratifiziert haben, dies unverzüglich zu tun.

3.2.6   Den Medien in den Ländern der Partnerschaft Europa-Mittelmeer kommt eine entscheidende Rolle bei der Berichterstattung und der Vorwegnahme der Ergebnisse der laufenden Transformationsprozesse zu. Die EU muss insbesondere jene Initiativen unterstützen, die auf eine Professionalisierung und auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit der bestehenden Medien abzielen und ein Umfeld fördern, in dem die Medienvielfalt und –freiheit gedeihen kann.

3.3   Stärkere Rolle der EU bei der Konfliktlösung

3.3.1   Das Andauern langwieriger Konflikte in den südlichen und östlichen Nachbarländern der EU stellt sowohl die EU als auch die Partnerländer selbst vor große Herausforderungen. Die EU hat eingestanden, dass ihre Maßnahmen bislang nur wenig Erfolg gezeitigt haben. Mit dem Vertrag von Lissabon hat die EU einen neuen Auftrag zur Friedensschaffung und eine neue Unterstützungsstruktur erhalten, die die Chance auf eine neue Schwerpunktsetzung eröffnen.

3.3.2   Der EWSA ruft die EU dazu auf, insbesondere mit Blick auf ihre unmittelbaren Nachbarstaaten umfassende Strategien zur Konfliktverhütung und Friedensschaffung zu entwickeln und sich stärker um eine bessere Abstimmung der einzelnen EU-Programme und –maßnahmen in diesem Bereich zu bemühen.

3.3.3   Der EWSA fordert, dass alle friedensbildenden Projekte die Grundsätze der Demokratie fördern und berücksichtigen und dass unter Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen Überwachungssysteme zur Bewertung der Reformfortschritte geschaffen werden. Zudem sollte jenen Gruppen, die bei der Friedensbildung eine entscheidende Rolle spielen, denen aber kaum Gehör geschenkt wird, stärkeres Augenmerk gewidmet werden. Dazu zählen Frauen- und Jugendorganisationen, Gewerkschaften und lokale Unternehmen. Unterstützung verdienen auch die gezielte Weiterführung der Wirtschaftsbeziehungen in Konfliktzonen als Zeichen des Widerstands sowie gewerkschaftliche Aktivitäten wie Friedens- und Solidaritätskundgebungen. Den besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Kindern und Opfern von Konflikten sind besondere Aufmerksamkeit und eigene Maßnahmen zu widmen.

4.   Verstärkte Handelsbeziehungen

4.1   Neben der Förderung der Handelsbeziehungen ist die Schaffung einer weitreichenden wirtschaftlichen Integration zwischen der EU und den Partnerländern eines der Hauptziele des DCFTA. Zur Umsetzung der Freihandelszone und zur Erfüllung der diesbezüglichen Anforderungen müssen die Partnerländer ihr Rechts- und Wirtschaftssystem grundlegend reformieren. Dazu bedarf es deutlich mehr Unterstützung seitens der EU, damit die Länder die zur Erfüllung der Anforderungen notwenige Entwicklungsstufe erreichen können.

4.2   Der EWSA fordert die EU dazu auf, in alle Handelsabkommen, die sie mit ihren Partnern abschließt, ein Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung aufzunehmen. Er ist der Auffassung, dass die Zivilgesellschaft im Vorfeld der Verhandlungsaufnahme auch im Rahmen von Abschätzungen der Folgen für die Nachhaltigkeit konsultiert werden sollte. Eine solche Einbindung würde die Öffentlichkeit stärker für den kurz- und langfristigen Nutzen der DCFTA sensibilisieren und dazu beitragen, dass sich die Menschen mit dem Prozess identifizieren können (3).

4.3   In künftigen DCFTA-Abkommen und in anderen Vereinbarungen sollten daher Mechanismen zur Konsultation der Zivilgesellschaft wie z.B. gemischte beratende Ausschüsse vorgesehen werden, um eine wirksame Überwachung der Umsetzung der Bestimmungen des Kapitels über die nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

4.4   Hinsichtlich Sozialnormen und Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern fordert der EWSA nachdrücklich die Ratifizierung und Einhaltung der entsprechenden ILO-Konventionen.

5.   Schaffung funktionierender Regionalpartnerschaften

5.1   Die EU muss die richtige Balance finden und Synergien zwischen der bilateralen und der regionalen Dimension ihrer Beziehungen zu den Partnerländern schaffen.

5.2   Es ist allgemein anerkannt, dass regionale Partnerschaften im Osten und Süden die Beziehungen der EU zu ihren Nachbarstaaten vorangebracht haben. Nichtsdestoweniger weisen die Östliche Partnerschaft und die Union für den Mittelmeerraum, die die Partnerschaft Europa-Mittelmeer ergänzen, einige Mängel auf.

5.3   Die Union für den Mittelmeerraum, deren Aufgabe es ist, die bilateralen Beziehungen der EU zu den Partnerländern zu ergänzen, hat bislang nicht die erwarteten Ergebnisse gezeitigt. Ihre Rolle und Ziele müssen daher grundlegend neu definiert werden. Zudem müssen ständige Mechanismen für die Einbindung der Zivilgesellschaft in diese Initiative vorgesehen werden. Der EWSA fordert, dass unverzüglich Beschlüsse über die Rolle, Aufgabe, Organisation und Finanzierung der Union für den Mittelmeerraum gefasst werden. Außerdem vertritt er die Auffassung, dass die Maßnahmen der Union für den Mittelmeerraum besser mit der EU-Gesamtstrategie für die Region abgestimmt werden müssen (4).

5.4   Insgesamt haben die meisten Partnerländer ihre Beziehungen zur EU mittels des Dialogs über Assoziierungsabkommen und vertiefte und umfassende Freihandelszonen (DCFTA), Visaerleichterungen und Mobilitätspartnerschaften, Kooperationen bei Energielieferungen und andere Themen verbessert und intensiviert. Leider hat Weißrussland hinsichtlich der demokratischen Freiheiten erhebliche Rückschritte gemacht, und das Umfeld für die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen hat sich auch in anderen Partnerländern wie der Ukraine verschlechtert.

5.5   Die Entwicklung der politischen Situation in den EU-Nachbarstaaten sollte weiterhin genau beobachtet werden, wobei sich das Maß der wirtschaftlichen Integration und Handelsbeziehungen nach dem Engagement dieser Länder für den Aufbau dauerhafter demokratischer Strukturen und die Achtung der Menschenrechte richten sollte.

5.6   Der EWSA ist davon überzeugt, dass die Förderung der Mobilität, insbesondere die von jungen Menschen und Studierenden aus den Nachbarstaaten, letzteren zugute käme und mehr direkte Kontakte zwischen den Bevölkerungen ermöglichen würde. Das gilt ebenso für Künstler, Wissenschafter, Forscher und Geschäftsreisende. In Ergänzung dazu sollten Visaerleichterungen, Gebührenbefreiungen und Mehrfachvisa gewährt werden und die Anstrengungen im Bereich des integrierten Grenzmanagements, der wirksamen Migrationssteuerung, der Bekämpfung der illegalen Einwanderung, des Asylrechts und der humanitären Hilfe für Flüchtlinge fortgesetzt werden.

6.   Unterstützung der Zivilgesellschaft in den EU-Nachbarstaaten mittels der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und des Europäischen Fonds für Demokratie

6.1   Zivilgesellschaftlichen Organisationen muss umfassende, glaubwürdige, vielfältige und maßgeschneiderte Unterstützung gewährt werden. Der EWSA fordert seit Jahren die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Erarbeitung der EU-Nachbarschaftspolitik und die Überwachung ihrer Umsetzung sowie spezifische Programme zum Aufbau der Kapazitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und eine Verbesserung des Dialogs zwischen den Regierungen und diesen Organisationen in den EU-Nachbarländern (5). Er befürwortet daher die drei Aktionsbereiche der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft.

6.2   Zur Umsetzung dieser drei Aktionsbereiche bedarf es, wie von der Kommission in ihrer Mitteilung zu den Mindestanforderungen für die Konsultation (6) vorgeschlagen, einer breiten und integrativen Definition des Begriffs „Organisation der Zivilgesellschaft“. Der systematischen Erfassung der Zivilgesellschaft kommt daher bei der Umsetzung dieser drei Aktionsbereiche entscheidende Bedeutung zu. Der EWSA ist mit seinen zahlreichen Netzen bereit, auch weiterhin an der Erfassung neu hinzukommender nichtstaatlicher Akteure mitzuwirken und Netze mit den nichtstaatlichen Organisationen auf regionaler Ebene zu knüpfen. Dabei lassen sich ohne Schwierigkeiten Synergien mit der Arbeit der Kommission, des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Delegationen in diesen Ländern erzielen.

6.3   Darüber hinaus könnte die Erfahrung der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Erarbeitung von Programmen für den Kapazitätenaufbau genutzt werden. Neben einer breiten Palette an Netzen nichtstaatlicher Organisationen aus der EU sollten auch die wirtschaftlichen und sozialen Akteure Europas eingebunden werden. Sie könnten ihren Erfahrungsschatz mit den entsprechenden Akteuren in den Partnerländern teilen, so für einen Wissenstransfer bezüglich der EU-Politik sorgen und die Zivilgesellschaft in den Nachbarländern bei der Politikanalyse, Interessenvertretung und der Überwachung der Übereinstimmung mit der EU-Politik unterstützen.

6.4   Der Vorschlag, die zivilgesellschaftlichen Organisationen stärker in den sektoralen Dialog zwischen der EU und den Partnerländern einzubinden, ist nach Auffassung des EWSA überaus begrüßenswert, da dieser Bereich in den vergangenen Jahren leider oftmals vernachlässigt wurde. Was die wirtschaftlichen und sozialen Akteure betrifft, sollte besonderes Augenmerk auf Programme zur Stärkung des sektoralen sozialen Dialogs in den Partnerländern gelegt werden. Der EWSA ist bereit, zur Stärkung des sozialen Dialogs beizutragen und fordert in diesem Zusammenhang auch die Einbindung der ILO - der seiner Ansicht nach eine entscheidende Rolle zukommt - und der Europäischen Stiftung für Berufsbildung, die den Sozialpartnern in den Nachbarstaaten Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich des sektoralen Dialogs anbieten könnte.

6.5   Im dritten Aktionsbereich der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft ist die Unterstützung länderspezifischer bilateraler Projekte vorgesehen, wobei die Regierungen in den Partnerländern ermutigt werden, die Kapazität zivilgesellschaftlicher Organisationen und deren Einbindung in die politischen Maßnahmen und die Beschlussfassungsprozesse in diesen Ländern zu stärken. Der EWSA ist überzeugt, dass es dringend eines institutionalisierten Mechanismus zur Konsultation der Zivilgesellschaft bedarf und die Wirtschafts- und Sozialräte ein ideales Forum für einen solchen Dialog sind. Nichtsdestoweniger sollten gegenüber Regierungen, die diese Unterstützung in Anspruch nehmen wollen, gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen und diesen die Einhaltung einiger grundlegender Regeln der guten Regierungsführung auferlegt werden. Der EWSA ist bereit, eine Reihe von Grundsätzen zu erarbeiten, die im Hinblick auf die Errichtung repräsentativer Wirtschafts- und Sozialräte bzw. vergleichbarer Einrichtungen einzuhalten sind.

6.6   In den Nachbarstaaten gibt es bereits regionale Plattformen der Organisationen für die Zivilgesellschaft: Das Forum der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft und die Versammlung Europa-Mittelmeer der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen, die aufgrund einer Initiative eingerichtet wurde, bei der der EWSA federführend war. Der EWSA hat zudem eine entscheidende Rolle bei der Einrichtung von Wirtschafts- und Sozialräten (WSR) in zahlreichen Ländern des südlichen Mittelmeerraums gespielt. Dabei hat er sich stets für eine möglichst breite Vertretung der verschiedensten nichtstaatlichen Akteure in den WSR eingesetzt. Es wäre nützlich, als eine der Möglichkeiten zur Zusammenarbeit im Rahmen der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft auch die Nutzung des Sachverstands des EWSA und die Unterstützung durch diesen bei der Errichtung von WSR als Institutionen zur Konsultation der Zivilgesellschaft vorzusehen.

6.7   Wegen der Komplexität der EU-Förderverfahren bleiben oftmals viele nichtstaatliche Akteure außen vor, die zwar über das größte Potenzial, aber nur über wenig Erfahrung bei der Beantragung von EU-Mitteln verfügen. Dieses Problem zeigt sich in allen Ländern und Regionen, die Mittel aus den EU-Zusammenarbeitsfonds erhalten. Eines der Ziele dieses Instruments könnte es daher sein, diesen Organisationen Unterstützung etwa in Form von Weiterbildungsmaßnahmen der EU-Delegationen zur Antragsstellung zu leisten.

6.8   Der EWSA ist bereit, sich an der Festlegung der Durchführungsmodalitäten des Europäischen Fonds für Demokratie zu beteiligen. Er ist der Auffassung, dass dieses Instrument flexibel gehandhabt werden sollte, um auf spontane Bedürfnisse reagieren zu können. Vorzusehen sind gezielte Maßnahmen zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in den EU-Nachbarstaaten durch die Förderung der Gründung politischer Parteien, freier Medien und unabhängiger Gewerkschaften sowie durch die Stärkung der Einbindung der Zivilgesellschaft in den Demokratisierungsprozess.

6.9   Der EWSA ist der Ansicht, dass der Europäische Fonds für Demokratie ein nachfrageorientiertes, nicht projektbezogenes, sondern auf den Kapazitätenaufbau ausgerichtetes, flexibles und transparentes Instrument sein sollte. Unterstützung sollte insbesondere Organisationen gewährt werden, die keinen Zugang zu anderen EU-Mittel wie der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft, dem Europäischen Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) oder dem Programm für nichtstaatliche Akteure und lokale Gebietskörperschaften haben. Der Fonds sollte mit minimalem Verwaltungsaufwand und geringer Berichtspflicht auf Länderebene verwaltet werden, wobei jedoch ein wirksamer Mechanismus zur Bewertung der Ergebnisse vorzusehen ist. Außerdem sollte die Möglichkeit geschaffen werden, gemeinsame Maßnahmen mit anderen Geldgebern durchzuführen.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Mitteilung „Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“, KOM(2011) 200 endg.

(2)  Siehe dazu die spezifischen Empfehlungen des EWSA in seinen jüngsten Stellungnahmen zu den Themen „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Östlichen Partnerschaft“, ABl. C 248 vom 25.8.2011, S. 37-42 sowie „Förderung repräsentativer Zivilgesellschaften in den Euromed-Partnerländern“, ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 32-37 und „Die neue Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Rolle der Zivilgesellschaft“ vom 27. Oktober 2011, die noch nicht im ABl. veröffentlicht wurde.

(3)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“, ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 14-18.

(4)  Siehe KOM(2011) 200 endg.

(5)  Siehe die EWSA-Stellungnahmen zu den Themen „Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Östliche Partnerschaft“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 30-36; „Zivilgesellschaftliche Beteiligung an der Umsetzung der ENP-Aktionspläne in den Ländern des Südkaukasus: Armenien, Aserbaidschan und Georgien“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 37-41.

(6)  Mitteilung der Kommission „Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs - Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission“, KOM(2002) 704 endg. vom 11.12.2002, S. 6.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der Union“

KOM(2011) 634 endg. — 2008/0183 (COD)

2012/C 43/21

Berichterstatter: Yves SOMVILLE

Der Rat beschloss am 17. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der Union

KOM(2011) 634 endgültig — 2008/0183 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 21. November 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 8. Dezember) mit 139 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission und insbesondere die Ausweitung der für die Durchführung des Programms für die Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der EU 2012 und 2013 vorgeschlagenen Rechtsgrundlage. Dadurch würde das Programm zur Erreichung der GAP-Ziele und gleichzeitig zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Union beitragen. Diese Änderung ist umso wichtiger, als sie an die Ziele der Europa-2020-Strategie anknüpft.

1.2

Der EWSA unterstützt die Notwendigkeit, die Durchführung des Programms fortzusetzen und die aus dem Haushalt der Gemeinsamen Agrarpolitik für die Jahre 2012 und 2013 bereitgestellten Haushaltsmittel auf dem jetzigen Niveau beizubehalten. Die Solidarität mit den benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist ein Wert, den die Union stets in all ihren Politiken verteidigt hat. Dies muss auch in Zukunft der Fall sein.

1.3

Nach Auffassung des EWSA ist diese Unterstützung wirklich von entscheidender Bedeutung, da infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise die Anzahl der Menschen, die auf das Programm angewiesen sind, kontinuierlich wächst.

1.4

Als Vertreter der Zivilgesellschaft unterstützt der EWSA diesen Vorschlag umso mehr, als seine Umsetzung in den Mitgliedstaaten von zahlreichen Freiwilligen und Mitgliedern humanitärer Organisationen bewerkstelligt wird, für die eine Kürzung der für das Nahrungsmittelhilfeprogramm vorgesehenen Mittel für 2011 und 2012 um 75 % bzw. seine beinahe gänzliche Einstellung aufgrund unzureichender Interventionsbestände 2013 nicht nachvollziehbar wäre. Nach Auffassung des EWSA trägt dieses aus europäischen Mitteln finanzierte Programm dazu bei, den Europäerinnen und Europäern ein positives Bild der Union zu vermitteln.

1.5

Darüber hinaus begrüßt der EWSA, dass die Kommission einige Empfehlungen aus seiner vorangegangenen Stellungnahme vom Januar 2011 (1) berücksichtigt hat, u.a. die Fortschreibung einer 100 %igen Finanzierung aus dem GAP-Haushalt für die Jahre 2012 und 2013 sowie die Möglichkeit, bestimmte Kosten zu erstatten, die den humanitären Organisationen im Zusammenhang mit der Verwaltung, Beförderung und Lagerung entstehen.

1.6

Der EWSA begrüßt, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, sich vorzugsweise für Nahrungsmittel europäischer Herkunft zu entscheiden. Auf diese Weise wird das Programm nicht nur zur Stabilität des Binnenmarktes beitragen, sondern auch in vollem Umfang gewährleisten, dass die gelieferten Erzeugnisse den hohen Standards entsprechen, die für europäischen Erzeuger gelten.

2.   Hintergrund

2.1

Die kostenlose Verteilung von Nahrungsmitteln an besonders bedürftige Personen in der Gemeinschaft fand erstmals 1986/87 nach einem außergewöhnlich strengen Winter statt. Die Nahrungsmittel, die von Hilfsorganisationen in den verschiedenen Mitgliedstaaten verteilt wurden, stammten aus Interventionsbeständen.

2.2

Die Inanspruchnahme von Interventionsbeständen wurde anschließend formalisiert und trägt nunmehr zur Verwirklichung zweier Ziele bei: Zum einen wird den Bedürftigen in der Union geholfen und zum anderen zur Gewährleistung einer gewissen Stabilität der Agrarmärkte beigetragen.

2.3

Die verschiedenen, 1992 eingeleiteten Reformen der GAP haben zu einer beträchtlichen Verringerung der Interventionsbestände geführt. Die ursprünglich strukturellen Bestände haben nach und nach einen zunehmend konjunkturellen Charakter angenommen. Die jetzigen Interventionsbestände reichen seit einigen Jahren nicht mehr aus, um den Bedarf an Nahrungsmittelhilfe zu decken.

2.4

Bereits 1995 konnte dank einer Anpassung des Programms das Defizit an Erzeugnissen aus den Interventionsbeständen durch Käufe am Markt ausgeglichen werden.

2.5

Die Erweiterung der Europäischen Union veranlasste die Kommission dazu, das Programm 2009 anzupassen und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel aufzustocken.

2.6

2008 hat die Kommission angesichts der damaligen Entwicklung Überlegungen zum Nahrungsmittelhilfeprogramm für bedürftige Bevölkerungsgruppen angestellt. Diese mündeten in einem Vorschlag für eine Verordnung des Rates, mit dem das System der Hilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen dauerhaft etabliert werden sollte.

2.7

Dieser Vorschlag enthielt zahlreiche Änderungen an den bestehenden Vorschriften: Bezugsquellen, Vergrößerung der Palette verfügbarer Erzeugnisse, dreijähriger Verteilungsplan, Festlegung prioritärer Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten, schrittweise Einführung einer Kofinanzierung und Aufstockung der verfügbaren Mittel. Im Rat scheiterte der Vorschlag an der Sperrminorität.

2.8

Am 17. September 2010 nahm die Kommission einen geänderten Vorschlag an, bei dem sie teilweise die Stellungnahme des EP (vom 26. März 2009) zum ursprünglichen Vorschlag berücksichtigt hat: Anhebung des Kofinanzierungssatzes, Obergrenze von 500 Mio. EUR für den jährlichen finanziellen Beitrag der EU und Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, Nahrungsmitteln europäischer Herkunft den Vorrang einzuräumen.

2.9

Im Rat Landwirtschaft und Fischerei fand am 27. September 2010 ein Meinungsaustausch statt, bei dem die Sperrminorität bestätigt wurde.

2.10

Der EWSA hat am 20. Januar 2011 eine Stellungnahme zu diesem geänderten Vorschlag verabschiedet (2).

2.11

Am 13. April 2011 befand der Gerichtshof der Europäischen Union über die Klage Deutschlands (Rechtssache T-576/08) gegen den Plan 2009 betreffend die Lieferung von Nahrungsmitteln aus Interventionsbeständen zur Verteilung an Bedürftige in der Union. Die Nichtigerklärung bezieht sich auf alle Marktkäufe. Die Mengen aus Interventionsbeständen bleiben unberührt.

2.12

Infolgedessen hat die Kommission für das Haushaltsjahr 2012 eine starke Reduzierung der Mittel vorgesehen, da lediglich die Herkunft „Interventionsbestände“ berücksichtigt wurde.

2.13

In seiner Sitzung am 20. September 2011 konnte der Rat Landwirtschaft und Fischerei in Bezug auf den Vorschlag vom 17. September 2010 keine ausreichende Mehrheit erzielen.

2.14

Am 20. Oktober 2011 wurde dem Rat Landwirtschaft und Fischerei ein neuer Vorschlag vom 3. Oktober 2011 vorgelegt, der jedoch ungeachtet der Ergänzungen zum ursprünglichen Vorschlag erneut an einer Sperrminorität scheiterte. In Bezug auf diesen neuen Vorschlag wurde der EWSA um unverzügliche Stellungnahme ersucht.

3.   Vorschlag der Kommission

3.1

Seit über zwanzig Jahren stammt die Nahrungsmittelhilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen aus den Interventionsbeständen. Ursprünglich waren diese Bestände umfassend. Dank der verschiedenen Reformen der GAP konnten sie jedoch beträchtlich reduziert werden. Die ursprünglich strukturellen Bestände richten sich zunehmend nach der Konjunktur.

3.2

Das erste Ziel der ursprünglichen GAP, die Steigerung der Produktivität, ist allmählich dem Konzept der Nachhaltigkeit der Landwirtschaft, einschließlich einer besseren Anpassung von Angebot und Nachfrage, gewichen. Diese neue Ausrichtung erfordert eine Anpassung des Rechtsrahmens des Nahrungsmittelhilfeprogramms.

3.3

Infolge der verschiedenen Erweiterungen, der steigenden Lebensmittelpreise und der Wirtschaftkrise, von der wir unmittelbarer betroffen sind, ist der Bedarf beträchtlich gestiegen. Die Zahl der Bedürftigen in der Union steigt in der Tat kontinuierlich an. So kam das Hilfsprogramm im Jahr 2008 mehr als 13 Mio. Menschen zugute. 2010 waren es über 18 Mio. Menschen in den 20 Mitgliedstaaten, in denen das Nahrungsmittelhilfeprogramm eingeführt wurde.

3.4

Auch wenn das derzeitige Nahrungsmittelhilfeprogramm weiterhin auf der Abgabe von Erzeugnissen aus den Interventionsbeständen der Union basiert, ist angesichts dieser Entwicklungen vorgesehen, die festgestellten Mängel in den Beständen durch zeitlich befristete Käufe am Markt zu ergänzen.

3.5

Im April 2011 erklärte der Gerichtshof der Europäischen Union die Bestimmungen des Verteilungsprogramms 2009, die eine Beschaffung am Markt vorsahen, für nichtig, wobei die Interventionsbeständen zu jenem Zeitpunkt reduziert waren.

3.6

Infolge dieses Urteilsspruchs hat die Kommission in ihrer Durchführungsverordnung festgelegt, dass für das Nahrungsmittelhilfeprogramm 2012 ausschließlich auf die vorhandenen Interventionsbestände zurückgegriffen wird. Konkret wird das Programm 2012 mit 113 Mio. EUR ausgestattet sein, was einem Viertel der Mittel der vorhergehenden Programme entspricht.

3.7

Im Vorschlag, der Gegenstand dieser Stellungnahme ist, nimmt die Kommission auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juli 2011 Bezug. Darin fordert das Parlament die Kommission und den Rat auf, eine Übergangslösung für die verbleibenden Jahre des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens zu erarbeiten, um eine sofortige und drastische Kürzung bei der Nahrungsmittelhilfe zu vermeiden und um sicherzustellen, dass die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesenen Menschen nicht unter Ernährungsarmut leiden.

3.8

Die Kommission basiert ihren neuen Vorschlag auf einer doppelten Rechtsgrundlage und bezieht sich nicht nur auf die GAP-relevanten Artikel des Vertrags, sondern auch auf den Artikel betreffend den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt.

3.9

In dem Vorschlag werden verschiedene Elemente des Vorschlags von 2010 aufgegriffen. So sollte den Mitgliedstaaten gestattet sein, Erzeugnissen mit EU-Ursprung Vorrang einzuräumen, oder bestimmte Kosten zu erstatten, die den damit beauftragten Einrichtungen im Zusammenhang mit der Verwaltung, Beförderung und Lagerung entstehen. Dieses hat selbstverständlich im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel zu erfolgen.

3.10

Von der Kofinanzierung, die im ursprünglichen Vorschlag von 2008 enthalten war und in jenem von 2010 bestätigt wurde, wurde im neuen Vorschlag abgesehen. Darin wird eine Fortschreibung des Satzes der EU-Finanzierung für das jetzige Nahrungsmittelhilfeprogramm in Höhe von 100 % vorgeschlagen. Die jährliche Obergrenze von 500 Mio. EUR für die finanzielle Beteiligung der EU wird beibehalten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

Wie der EWSA in seiner früheren Stellungnahme erklärt hat, wird „die Nahrungsmittelhilferegelung für Bedürftige […] in 20 Mitgliedstaaten durchgeführt. […]. Die Abgabe von Nahrungsmitteln an die Empfänger [erfolgt] in Partnerschaft mit […] nichtstaatlichen Organisationen.“

4.2

An diesen Organisationen wirken zahlreiche Freiwillige mit, die nur schwer verstehen können, dass ihre humanitären Hilfsaktionen im Vergleich zu den Vorjahren möglicherweise auf 25 % reduziert werden, wenn auf europäischer Ebene nicht bald eine Einigung erzielt wird. Indes ist der Bedarf an Hilfsmaßnahmen vor Ort höher als je zuvor.

4.3

Die seit 1992 durchgeführten GAP-Reformen haben nach und nach dazu geführt, dass die Interventionsbestände erneut einen konjunkturellen Charakter angenommen haben. In Zukunft dürften diese Reformen gekoppelt mit den Marktaussichten dazu führen, dass die Bestände reduziert werden bzw. in bestimmten Perioden je nach Erzeugnis gar ganz wegfallen.

4.4

Um die unzureichenden Bestände aufzufüllen, ist es nach Auffassung des EWSA in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung, dass möglichst bald ein Vorschlag unterbreitet wird, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, zur Ergänzung der Bestände Käufe am Markt zu tätigen. Dies ist nach Ansicht des Ausschusses umso wichtiger, als die Zahl der Menschen, die auf diese Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, kontinuierlich wächst.

4.5

Um bis 2014 (für den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 werden neue Bestimmungen erwartet) einen drastischen Rückgang der im Rahmen des Nahrungsmittelhilfeprogramms verfügbaren Lebensmittel zu vermeiden, muss nach Auffassung des EWSA die in Ziffer 4.4 formulierte Forderung unverzüglich umgesetzt werden.

4.6

Der EWSA, der die europäische Zivilgesellschaft in ihrer Vielfalt vertritt, kann nicht nachvollziehen, warum die EU ihre Unterstützung für die bedürftigen Bevölkerungsgruppen gerade in diesen Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise zurückfährt. Es sei daran erinnert, dass 2008 die Zahl der Nahrungsmittelhilfeempfänger in 18 EU-Mitgliedstaaten 13 Mio. betrug und diese Zahl im Jahr 2010 auf über 18 Mio. anstieg.

4.7

Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA, dass der polnische EU-Ratsvorsitz ungeachtet des am 20. Oktober 2011 im Rat Landwirtschaft und Fischerei gescheiterten Vorschlags seine Bemühungen um eine Lösung in dieser Frage fortführen will, um einer Reduzierung der für das Nahrungsmittelhilfeprogramm 2012 vorgesehenen Mittel um 75 % vorzubeugen und zu verhindern, dass 2013 aufgrund unzureichender Interventionsbestände kein Hilfsprogramm für die Bedürftigen zustande kommt.

4.8

Der EWSA begrüßt nachdrücklich, dass dieser Vorschlag (der sich – und dies sei nochmals betont – lediglich auf die Jahre 2012 und 2013 bezieht) auf einer doppelten Rechtsgrundlage basiert, und dass das Programm nicht nur darauf abzielt, den GAP-Zielen und somit der Gewährleistung der Ernährungssicherheit der Bevölkerung zu entsprechen, sondern auch den sozialen Zusammenhalt in der Union zu stärken.

4.9

Diese Aspekte sind integrale Bestandteile der Europa-2020-Strategie. In Bezug auf den sozialen Zusammenhalt verweist der EWSA auf das in der Strategie enthaltene Kapitel zum Thema Armutsbekämpfung. Das Recht auf eine ausreichende und ausgewogene Ernährung ist die Grundlage aller Programme zur Bekämpfung der Ausgrenzung.

4.10

Der EWSA ist erfreut über den erneuten Vorschlag der Kommission, die Erstattung bestimmter Kosten, die den damit beauftragten Einrichtungen im Zusammenhang mit der Verwaltung, Beförderung und Lagerung entstehen, zu gestatten. Gleichwohl verweist er darauf, dass diese Erstattung mit einer Reduzierung des Finanzrahmens für die Umsetzung des Programms einhergeht.

4.11

Wie das Europäische Parlament begrüßt auch der EWSA, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, bei ihren Ausschreibungen Erzeugnissen mit EU-Ursprung Vorrang einzuräumen. Dieses Hilfsprogramm trägt durch seine Ausrichtung auf soziale wie auch wirtschaftliche Ziele zur Stabilisierung des Binnenmarktes bei. Es wäre daher nicht zweckmäßig, wenn es in Bezug auf die zur Abgabe vorgesehenen Erzeugnisse nicht die erforderliche Gewähr für die Einhaltung der hohen Standards gäbe, die für die europäischen Erzeuger gelten.

4.12

Hinsichtlich der Kofinanzierung stellt der EWSA mit Zufriedenheit fest, dass im Gegensatz zum vorhergehenden Änderungsvorschlag die EU-Finanzierung für das Nahrungsmittelhilfeprogramm in Höhe von 100 % fortgeschrieben wurde. Dies entspricht einer der Empfehlungen, die der EWSA in seiner letzten Stellungnahme formuliert hat. Dieser Aspekt ist umso wichtiger, als die finanzielle Leistungsfähigkeit einiger Mitgliedstaaten aufgrund der jetzigen Wirtschafts- und Finanzkrise eingeschränkt ist und sie nicht in der Lage wären, das Programm mitzufinanzieren, wenn die in der vorhergehenden Fassung vorgeschlagenen Prozentanteile beibehalten würden.

Brüssel, den 8. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 49.

(2)  ABl. C 84 vom 17.3.2011, S. 49.


15.2.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 43/98


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe“ (Neufassung)

KOM(2011) 566 endg. — 2011/0243 (COD)

2012/C 43/22

Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 29. September bzw. am 18. Oktober 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe“ (Neufassung)

KOM(2011) 566 endg. — 2011/0243 (COD).

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 177 Stimmen bei 11 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 7. Dezember 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON