ISSN 1725-2407 doi:10.3000/17252407.C_2011.018.deu |
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Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18 |
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Ausgabe in deutscher Sprache |
Mitteilungen und Bekanntmachungen |
54. Jahrgang |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen |
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STELLUNGNAHMEN |
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss |
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462. Plenartagung am 28./29. April 2010 |
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2011/C 018/01 |
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2011/C 018/02 |
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2011/C 018/03 |
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2011/C 018/04 |
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2011/C 018/05 |
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2011/C 018/06 |
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2011/C 018/07 |
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2011/C 018/08 |
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III Vorbereitende Rechtsakte |
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Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss |
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462. Plenartagung am 28./29. April 2010 |
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2011/C 018/09 |
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2011/C 018/10 |
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2011/C 018/11 |
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2011/C 018/12 |
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2011/C 018/13 |
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2011/C 018/14 |
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2011/C 018/15 |
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2011/C 018/16 |
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2011/C 018/17 |
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2011/C 018/18 |
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2011/C 018/19 |
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2011/C 018/20 |
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2011/C 018/21 |
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I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen
STELLUNGNAHMEN
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
462. Plenartagung am 28./29. April 2010
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/1 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Stärkung des europäischen Modells der Nahrungsmittelerzeugung“ (Sondierungsstellungnahme)
2011/C 18/01
Berichterstatter: José María ESPUNY MOYANO
Mitberichterstatter: Carlos TRÍAS PINTO
Der spanische EU-Ratsvorsitz ersuchte den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss mit Schreiben vom 23. Juli 2009 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgendem Thema:
„Stärkung des europäischen Modells der Nahrungsmittelerzeugung“ (Sondierungsstellungnahme).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 124 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Das gemeinschaftliche Modell der Nahrungsmittelerzeugung heute
1.1 Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ist nicht nur die erste im Wortsinne gemeinsame Politik, die mit dem Vertrag von Lissabon sogar noch eine Zuständigkeitsausweitung erfahren hat, sondern auch ein spezifisches Modell der Nahrungsmittelerzeugung. Sie ist daher von höchstem strategischen Interesse für Europa und sollte auf internationaler Ebene aktiv Einfluss nehmen.
1.2 Ihre Zielsetzungen sind zwar seit den Anfängen und mit den verschiedenen Vertragsreformen gleich geblieben, doch hat sich die Gemeinsame Agrarpolitik im Lauf von nahezu 50 Jahren den neuen Erfordernissen angepasst, die der Gang der Dinge mit sich brachte: so gab es Reformen ihrer Instrumente und Verwaltungssysteme und ihres Budgets, neue gesellschaftliche Anforderungen und eine Öffnung zu Drittländern, sodass wir es heute mit einem nachhaltigen Modell der Nahrungsmittelerzeugung zu tun haben, das immer besser darauf ausgerichtet ist, ökonomische, ökologische und soziale Erwägungen miteinander in Einklang zu bringen.
1.3 Dieses europäische Modell der Nahrungsmittelerzeugung ist im Laufe der Zeit seinen Grundzielen gut gerecht geworden: Versorgung der Bevölkerung mit gesunden, unbedenklichen Lebensmitteln, Aufbau eines weltweit führenden Systems der Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft und Aufrechterhaltung einer Produktion, die durch Vielfältigkeit und Qualität gekennzeichnet ist und die Wertschätzung der Verbraucher genießt.
2. Licht und Schatten
2.1 Selbst bei einer allgemein positiven Einschätzung ist doch ebenfalls klar, dass zur Weiterentwicklung des Modells Verbesserungen vorgenommen und Fortschritte erreicht werden müssen. Zu nennen sind insbesondere:
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die Notwendigkeit gemeinsamer Instrumente zur Bewältigung der Volatilität der Preise, die in den kommenden Jahren wieder auftreten kann, sodass Situationen wie 2007 und 2008 vermieden werden; |
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die Verbesserung der Systeme zur spezifischen Kennzeichnung von Agrarerzeugnissen, wie Ursprungsbezeichnungen, geschützte geografische Angaben und garantiert traditionelle Spezialitäten. Sie müssen vereinfacht und nach gestrafften Bedingungen vergeben und die technischen Anforderungen erhöht werden, um das Modell zu stärken. Außerdem müssen sie auf Drittmärkten stärker verteidigt werden; |
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die Gewährleistung einer gezielten Politik zur Förderung gemeinschaftlicher Agrarerzeugnisse, die dem Reichtum und der Vielfalt der hiesigen Agrarerzeugung einen europäischen Mehrwert gibt und die vor allem die Propagierung europäischer Werte harmonisch mit der Vermarktung der Produkte verbindet; |
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die Fokussierung auf eine strategische Gesamtsicht der Lebensmittelversorgungskette -Erzeugung, Verarbeitung und Handel -, um die Transparenz des Systems zu erhöhen und Maßnahmen zu ergreifen, die den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oder unlautere Praktiken, die seine Funktionsweise beeinträchtigen, verhindern; |
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die Verbesserung der Verbraucherinformation durch ein gemeinsames Modell für die Produktkennzeichnung und ein System, das die heutigen informationstechnischen Möglichkeiten optimal nutzt, sodass die Verbraucher eine möglichst sachkundige Wahl treffen können. |
3. Die drängendsten Aufgaben
3.1 Die Europäische Union tritt mit ihren neubesetzten Institutionen und dem neuen Vertrag in eine neue Phase ein. Wir stehen vor einer Reihe neuer Herausforderungen und tiefgreifenden Veränderungen, die die Union in ihrer führenden Position stärken und insbesondere einen Weg aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise weisen sollen.
3.2 In diesem Kontext hat das gemeinschaftliche System der Nahrungsmittelerzeugung eigene Erfordernisse, denen bei den derzeitigen Überlegungen über die neue Gemeinsame Agrarpolitik für die Zeit ab 2013 Rechnung zu tragen ist. Einige davon werden in der vorliegenden Stellungnahme thematisiert und wurden bereits in anderen EWSA-Stellungnahmen ausdrücklich genannt (1).
3.3 In dieser Stellungnahme will sich der EWSA näher zu den Werten der Nachhaltigkeit des gemeinschaftlichen Modells der Nahrungsmittelerzeugung äußern und deren Bedeutung unterstreichen. Da dies das einzige auf Dauer tragfähige Modell ist, sollte dafür Sorge getragen werden, dass es im Gemeinschaftsmarkt einheitlich angewendet und nicht nur von den europäischen Marktbeteiligten befolgt wird. Dies ist erwiesenermaßen der einzige Weg, um seine Kontinuität zu wahren.
4. Für ein sicheres, ausgewogenes, gerechtes Modell
4.1 Das europäische Modell der Nahrungsmittelerzeugung baut klar auf dem Konzept der Nachhaltigkeit auf, das deren drei Aspekten Rechnung trägt: dem wirtschaftlichen, dem ökologischen und dem sozialen.
4.2 So wurden in den letzten Jahren und insbesondere bei der letzten Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik weitreichende Rechtsvorschriften u.a. in folgenden wichtigen Bereichen aufgenommen:
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Verbesserung von Lebensmittelsicherheit und Rückverfolgbarkeit |
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Regelung der biologisch-ökologischen Erzeugung, der integrierten Erzeugung, umweltfreundlicherer Methoden und des Umweltschutzes im Allgemeinen |
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Anwendung verschiedener Tierschutzbestimmungen in allen Produktionsbereichen |
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Bekräftigung von Sozial- und Arbeitnehmerschutzbestimmungen. |
4.3 Dieses Modell ist nach dem Dafürhalten des EWSA grundlegend für den künftigen Fortbestand der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Schlüssel zur weiteren Wettbewerbsfähigkeit in einer mehr und mehr globalisierten Welt. Diese in ein Regelwerk gegossenen Werte zusammen mit Anstrengungen zur Intensivierung der Forschung und der Nahrungsmittelproduktion werden es der EU erlauben, die Herausforderung in einer Welt zu meistern, in der sich laut der FAO der Nahrungsmittelbedarf bis 2020 verdoppeln wird.
4.4 Die Verwirklichung dieses Modells verlangte und verlangt jedoch erhebliche Anstrengungen vonseiten der Marktteilnehmer der Gemeinschaft, sowohl in der Agrarerzeugung als auch in der Weiterverarbeitung. Daher ist es nicht begreiflich, dass in seiner praktischen Anwendung Schwachstellen unterschiedlicher Art bestehen, die letztlich seine Existenz bedrohen können.
4.5 Die erste Schwachstelle ist im Bereich der Lebensmittelsicherheit und der Einhaltung der gemeinschaftlichen Normen durch importierte Nahrungsmittel, Futtermittel, Tiere und Pflanzen zu konstatieren. Europa hat selbst die Erfahrung gemacht, dass die Gesundheit sowohl der Verbraucher als auch der Tiere und Pflanzen auf einem hohen Niveau geschützt werden muss. Dies führte zur Einführung neuer Standards mit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 178/2002, in der allgemeine Grundsätze des gemeinschaftlichen Lebensmittelrechts festgelegt wurden. Der Gesetzgeber beschränkte sich jedoch auf die Regelung der Pflichten der gemeinschaftlichen Marktteilnehmer und vernachlässigte die Anforderungen an Importware.
4.5.1 Heute ist nach Angaben der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mehr als ein Drittel der im Binnenmarkt registrierten Lebensmittelwarnungen auf einen Ursprung außerhalb der EU zurückzuführen. Der EWSA erinnert daran, dass die EU die Pflicht hat, die Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher zu garantieren und dafür zu sorgen, dass alle in Verkehr gebrachten Erzeugnisse - auch die importierten - den Normen entsprechen.
4.6 Das zweite Problem, dem sich Erzeuger und Verarbeitungsbetriebe der Gemeinschaft gegenübersehen, ist, dass diese Unausgewogenheit im Binnenmarkt letztlich ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Importprodukten verschlechtert.
4.6.1 Die Anforderungen unseres eigenen Modells erhöhen erheblich die Produktionskosten. Importware genügt einigen dieser Anforderungen jedoch nicht und kommt außerdem in einigen Fällen in den Genuss reduzierter Zollsätze (2).
4.6.2 Laut dem Bericht 2008-071 LEI der Universität Wageningen bedeutet zum Beispiel die Erfüllung der neuen, durch die Richtlinie Nr. 99/74/EG aufgestellten Tierschutzerfordernisse für die Legehennenhaltung eine Kostenerhöhung von 8-10 %für den durchschnittlichen EU-Erzeuger, der mit Importware aus Brasilien und den USA konkurrieren muss, die nicht nur diese Tierschutzerfordernisse nicht erfüllen, sondern auch über Produktionssysteme verfügen, deren Standards weit hinter den in den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften verankerten Anforderungen zurückbleiben (Intensivhaltung, weniger restriktiver Medikamenteneinsatz, unbeschränkte Verwendung gentechnisch veränderter Organismen (GVO) im Tierfutter usw.).
4.6.3 Einen ähnlichen Effekt haben durch Reglementierung entstehende Kosten. Die europäische Tierfutterindustrie ist auf bestimmte Ausgangsstoffe angewiesen, die eingeführt werden müssen, weil die europäische Erzeugung nicht ausreicht. Die strikten Grenzen, die ihnen das Gemeinschaftsrecht betreffend GVO hier setzt, erschweren jedoch die Einfuhr von Erzeugnissen, die für das Tierfutter grundlegend sind, wie Getreide, Soja oder Eiweißpflanzen aus Ländern wie Brasilien oder Argentinien. Diese Begrenzungen beeinträchtigen unmittelbar die europäische Fleischerzeugung und Fleischverarbeitungsindustrie, die mit höheren Kosten zurechtkommen müssen, unter denen ihre Wettbewerbsfähigkeit sowohl im europäischen Binnenmarkt als auch bei ihren Ausfuhren in Drittländer leidet. Der Ausschuss äußert sich hier nicht zu der Frage, ob GVO zum Einsatz kommen sollen.
4.6.4 Auch die Europäische Kommission erkennt dies in einem Bericht der GD AGRI zur Anwendung der GVO-Normen an und spricht davon, dass die Politik der „Nulltoleranz“ Verluste von bis zu 200 Mrd. EUR für die europäische Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft bedeuten könnte. Hinzu kommt, dass das vermeintlich hohe Niveau des Schutzes der europäischen Verbraucher in der Praxis nicht gegeben ist, denn es werden weiterhin Fleisch, Milch und andere Erzeugnisse von Tieren importiert, die GVO-haltiges Futter erhielten. Daher sollten die Bedingungen für die Entwicklung einer Produktionskette geschaffen werden, die den Erwartungen der Verbraucher stärker Rechnung trägt.
4.6.5 Ähnliche Probleme wie die hier genannten bestehen auch in anderen Bereichen, in denen die Reglementierung ebenfalls hohe Kosten verursacht, so bei Pestiziden (Höchstwerte für Rückstände und sonstige Umweltgrenzwerte), Pflanzengesundheit und Kennzeichnung der Tiere.
4.7 Schließlich tragen auch politische Erwägungen dazu bei, dass die gegenwärtige Situation kaum tragbar ist. Es ist nicht begreiflich, dass die europäischen Wirtschaftsbeteiligten auf ihrem eigenen angestammten Markt gegenüber Drittanbietern benachteiligt werden.
5. Suche nach Lösungen
5.1 Nach Auffassung des EWSA muss die Europäische Union Wege finden, wie die Anwendung des Gemeinschaftsmodells im Binnenmarkt bei gleichzeitiger Achtung des freien Wettbewerbs und der internationalen Normen verbessert werden kann.
5.2 Eine Lösung erfordert einen Handlungsansatz an verschiedenen Fronten und kann in einigen Fällen eine schrittweise Umsetzung nötig machen. Aus den verschiedenen möglichen Maßnahmen möchte der EWSA folgende herausgreifen:
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Bessere Zugangsbedingungen: Durch die Einfuhrkontrolle muss sichergestellt werden, dass in die EU eingeführte Tiere und Pflanzen, insbesondere wenn sie zur Nahrungsmittelherstellung bestimmt sind, gesundheitlich unbedenklich sind und die europäischen Normen erfüllen. Wichtig ist zudem, dass die Kontrolle nach einheitlichen Verfahren durchgeführt wird, sodass bei allen Produkten unabhängig vom Ort ihrer Einfuhr das gleiche Maß an Sicherheit garantiert ist. Dies ist eine Frage der Gegenseitigkeit für die europäischen Wirtschaftsbeteiligten. |
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Bessere internationale Absicherung des europäischen Modells: Die Europäische Union muss mehr über das europäische Modell informieren und seine internationale Akzeptanz fördern, denn schließlich basiert es auf Werten der Nachhaltigkeit, die weltweit auch im System der Vereinten Nationen verankert sind. Organisationen wie WTO, FAO und Codex Alimentarius Mundi, Internationales Tierseuchenamt OIE, ILO, UNCTAD und andere müssen Teil der Verbreitungsbemühungen sein. Desgleichen ist ein möglichst hohes Maß an Angleichung der Rechtsvorschriften auf internationaler Ebene anzustreben, sodass Ungleichbehandlungen vermieden werden. |
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Stärkere Nutzung des Mittels der gegenseitigen Anerkennung von Systemen für den Schutz der Verbrauchergesundheit und des Tierschutzes im Verhältnis zu Drittländern: Die Europäische Union muss in ihre Handelsabkommen gesonderte Kapitel zur gegenseitigen Anerkennung von Systemen in den Bereichen Gesundheitsschutz, Pflanzenschutz und Lebensmittelsicherheit aufnehmen, sodass im gegenseitigen Einvernehmen ein angemessenes Gesundheitsschutzniveau innerhalb des WTO-Rahmens erreicht werden kann. |
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Bessere internationale technische Hilfe, u.a. durch Förderung von Initiativen wie „Bessere Schulung für sicherere Lebensmittel“, mit denen die technische Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern unterstützt wird, die nach Europa exportieren oder in Zukunft exportieren könnten, durch die Ausbildung von Fachleuten, die Erstellung von Normen und Standards, den Austausch von Beamten usw. |
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Handelsanreize: Die EU könnte zudem die Möglichkeit prüfen, Entwicklungsländer, die ihre Systeme dem Gemeinschaftsmodell angleichen, handels-, finanz- oder entwicklungspolitisch besserzustellen. |
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Bessere Rechtsetzung: Wenn Europa nicht zu protektionistischen Maßnahmen greifen darf, die den Zugang zu den europäischen Märkten einschränken, dürfen wir andererseits nicht zulassen, dass die Anwendung des Gemeinschaftsmodells den eigenen europäischen Wirtschaftsbeteiligten zum Nachteil gereicht. Die Vereinfachung der Rechtsvorschriften kann darüber hinaus sehr nützlich für den Abbau unnötigen Verwaltungsaufwands sein. |
5.2.1 Ein Teil unseres Modells basiert auf jenen „öffentlichen Gütern“, die Bürger und Verbraucher als notwendig ansehen und von denen die aus Ursprung und Herstellungsmethoden erwachsende Qualität, Tierschutz, Vorsorgeprinzip und Umweltschutz die relevantesten sind.
5.2.2 Die europäische Politik muss Mittel und Wege finden, durch die die Verlagerung von Arbeitsplätzen in andere Gebiete verhindert wird, sodass gleiche Wettbewerbsbedingungen gegeben sind und die Durchsetzung arbeitsrechtlicher Normen (3) über menschenwürdige Arbeit gefördert wird, für die wir im Binnenmarkt eintreten. Die Europäische Union muss darüber hinaus bei den relevanten internationalen Organisationen (insbesondere der WTO) darauf hinwirken, dass die grundlegenden Sozial- und Arbeitsnormen unter die „nicht handelsbezogenen Anliegen“ aufgenommen werden, denn wirklich frei kann der Handel nur sein, wenn er auch fair ist.
5.2.3 Der Gesetzgeber muss es sich folglich zur vorrangigen Aufgabe machen, die gegenwärtige Situation durch geeignete Rechtsetzungsschritte wieder in das nötige Gleichgewicht zu bringen.
5.3 Der EWSA ersucht das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission um Berücksichtigung dieser Stellungnahme und ruft den spanischen Ratsvorsitz auf, diesbezügliche Maßnahmen vorzuschlagen.
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 81.
(2) Der EWSA weist darauf hin, dass die EU der weltweit größte Importeur von Agrarerzeugnissen ist. Diese Position entstand unter anderem durch Zollpräferenzregelungen (APS, APS+, Alles außer Waffen) für Erzeugnisse aus weniger entwickelten Ländern und Entwicklungsländern.
(3) ILO-Übereinkommen Nr. 87, 98, 105, 111, 135 und 182; Erklärung der ILO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit; Dreigliedrige Grundsatzerklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik; Erklärung der ILO zur Zwangsarbeit; Erklärung der ILO zur Diskriminierung; Agenda der ILO für menschenwürdige Arbeit; Erklärung der ILO zur Kinderarbeit; OECD-Grundsätze der Corporate Governance; OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen; Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/5 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Das gemeinschaftliche Agrarmodell: Produktionsqualität und Verbraucherkommunikation als Elemente der Wettbewerbsfähigkeit“ (Sondierungsstellungnahme)
2011/C 18/02
Berichterstatter: Carlos TRÍAS PINTO
Der spanische Ratsvorsitz beschloss am 20. Januar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:
„Das gemeinschaftliche Agrarmodell: Produktionsqualität und Verbraucherkommunikation als Elemente der Wettbewerbsfähigkeit“ (Sondierungsstellungnahme).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 116 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt, die Qualitätspolitik und die Verbraucherkommunikation als Schlüsselfaktoren für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Lebensmittelindustrie und für die Verbesserung des Warenimages der landwirtschaftlichen Erzeugnisse auszubauen. Dazu ist es unabdingbar:
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die Übernahme der mit der Agrarproduktion in Zusammenhang stehenden sozialen, ökologischen, gesundheitlichen und tierschützerischen Aspekte zu fördern und dazu die neuen auf der Grundlage der Informations- und Kommunikationstechnologien konzipierten Instrumente (IKT) zu nutzen; |
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den bestehenden Instrumenten zur Bescheinigung durch Leitlinien zur Klärung, Harmonisierung und Vereinfachung mehr Konsistenz und Kohärenz zu verleihen; |
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Kanäle für den Dialog zwischen Erzeugern, Verarbeitungsindustrie, Händlern und Verbrauchern auszubauen sowie effiziente Strategien zur Kommunikation mit den Bürgern zu entwickeln. |
1.2 Ganz konkret schlägt der EWSA die Umsetzung verschiedener Maßnahmen vor:
1.2.1
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Einbindung der IKT als Kommunikationsinstrument. Die IKT sind in unserem Alltag präsent, werden jedoch noch nicht für den Kaufprozess genutzt. Mit ihrer Einführung in den Regalen als Informationsinstrument wäre die ständige Aktualisierung von Informationen (Agrarprodukte unterliegen einem häufigen Wechsel), ihre Auswahl durch den Verbraucher und ihr Abruf von überall möglich. |
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Rückverfolgbarkeit als Instrument zur Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Angaben. Im Verlauf der Produktionskette kommen viele verschiedene Akteure ins Spiel, die für die diversen sozioökologischen Aspekte der Gesamtqualität verantwortlich sind. Durch die Rückverfolgbarkeit lässt sich nicht nur erfahren, welche Akteure beteiligt waren, sondern auch, wie sie mit dem Produkt umgegangen sind und welche Indikatoren mit dieser Handhabung verbunden sind. |
1.2.2
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Einbeziehung von Gesamtqualitätskriterien in bestehende freiwillige Systeme, wie das Umweltzeichen der EU, falls sein Anwendungsbereich auf Agrarprodukte ausgeweitet wird, oder in bestehende Qualitätsnormen, wie geschützte Ursprungsbezeichnungen oder geschützte geografische Angaben. |
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Schaffung eines neuen freiwilligen Systems zur Zertifizierung von sozioökologischen Aspekten, die es dem Verbraucher ermöglichen, die Gesamtqualität eines Produkts schnell, leicht und zuverlässig zu bewerten. |
1.2.3
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Propagierung der europäischen Qualität. Der EWSA schlägt den Ausbau von Kommunikationskampagnen für europäische Agrarprodukte vor, bei denen deren hohe Standards bezüglich Qualität und Vielfalt hervorgehoben werden. |
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Förderung und Einbindung von Maßnahmen: Die Verwaltung hat die Möglichkeit, die ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmittel zur Propagierung von sozial- und umweltverträglichen Agrarprodukten zu nutzen: öffentliches Beschaffungswesen, differenzierte Besteuerung, Informationskampagnen und Produktionsanreize. |
2. Einleitung
2.1 Jeden Tag wird unsere Gesellschaft durch die Wahrnehmung der Auswirkungen des Klimawandels, der allmählichen Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und des wachsenden Ungleichgewichts bei der Verteilung des Wohlstands weiter für die großen sozialen und ökologischen Herausforderungen sensibilisiert.
2.2 Paradoxerweise wird diese allmähliche Bewusstwerdung kaum durch entsprechende Kaufentscheidungen untermauert (sogenannten „bewussten und verantwortungsvollen Konsum“), was leider die wachsende Kluft zwischen der theoretischen Haltung (1) des Verbrauchers und der täglichen Praxis verdeutlicht.
2.3 Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass es in Zeiten großer wirtschaftlicher Unsicherheit sehr schwierig ist, in die traditionelle Preisbildung (2) des Produkts dauerhaft Variablen wie soziale und ökologische Auswirkungen einzubeziehen, besonders wenn sich dies auf die Verbraucherpreise auswirkt. Und dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die sozioökonomische mit der sozioökologischen Krise zusammengefallen ist und sich die eine nicht ohne Berücksichtigung der anderen betrachten lässt. Anders gesagt und um mit den Worten von Jacques DELORS zu sprechen: „die Wertekrise besteht darin, dass wir in einer Welt leben, in der sich alles kaufen lässt“. Also müssen unsere Werte wieder aufgewertet werden.
2.4 Glücklicherweise verfügen wir innerhalb der Europäischen Union über ein Lebensmittelproduktionssystem, das auf strengen gesundheitlichen, ökologischen, sozialen und tierschützerischen Normen beruht, die sich als System für Gesamtqualität definieren ließen und zweifellos einen Mehrwert gegenüber der übrigen Welt bescheren, aber auch Wettbewerbsrisiken bergen.
2.5 Viele der Aspekte, die die Gesamtqualität ausmachen, sind Teil der Rechtsvorschriften oder der Verfahrensweisen der europäischen Lebensmittelindustrie, weshalb sie bereits bei Produkten und Erzeugern gegeben sind. Bedauerlicherweise ist das bei vielen aus Drittstaaten importierten Erzeugnissen nicht der Fall. Dieser Unterschied erklärt das immer größer werdende Preisgefälle zwischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen der EU und solchen aus Drittstaaten, was zu einem Wettbewerbsfähigkeitsverlust der europäischen Produkte führt.
2.6 Letzten Endes muss sich dieses Streben nach Qualität, Ergebnis einer langen Tradition und beharrlicher auf Exzellenz ausgerichteter Anstrengungen, von einer - wie es derzeit der Fall ist - Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit zu einer bedeutenden Entwicklungschance wandeln. Dazu sind neue Strategien erforderlich, die die Unterscheidungsmerkmale unseres Produktionsmodells hervorheben und den Verbraucher dazu anleiten, dem europäischen Erzeugnis den Vorzug zu geben. Dabei ist vor allem auf die Maßnahmen zur Kommunikation mit dem Verbraucher abzustellen, wozu viele verschiedene Kanäle aktiviert und insbesondere über die IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) leistungsfähige Verbrauchererziehungs- und -informationsinstrumente (3) genutzt werden sollten.
2.7 Gleichzeitig muss über die nötige Unterstützung, technischer wie wirtschaftlicher Art, nachgedacht werden, um das multifunktionale Agrarmodell weiter voranzubringen und die Lebensfähigkeit der europäischen Agrarbetriebe, faire Preise für die Erzeuger und den Erhalt stabiler und hochwertiger Arbeitsplätze zu gewährleisten, was für das Fortbestehen des Modells von grundlegender Bedeutung ist.
2.8 Gleichzeitig hebt der EWSA hervor, dass die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit mit Hilfe von Maßnahmen für die Qualitätssicherung in der Landwirtschaft und zur Kommunikation mit dem Verbraucher mit Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Wertschöpfungskette der Lebensmittelindustrie Hand in Hand gehen muss, in der derzeit zahlreiche Preisverzerrungen gegeben sind, da einige Akteure ihre beherrschende Stellung missbrauchen (4).
3. Verbraucher, Qualität und sozioökologische Aspekte
3.1 Der EWSA hat bereits wiederholt sein Engagement für eine nachhaltige Entwicklung als Weg zu einer ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Weiterentwicklung der Europäischen Union bekräftigt. Durch dieses Engagement kann das bereits bestehende europäische Agrarmodell gestärkt werden. Dabei wäre das derzeitige Qualitätskonzept, bei dem grundsätzlich die klassischen Qualitätsaspekte des Produktes selbst (Geschmack, Erscheinungsbild, Größe usw.) Vorrang haben, zu überarbeiten und auf andere Kriterien im Zusammenhang mit dem Produktionsumfeld abzustellen, wie soziale, ökologische, gesundheitliche, sicherheitsbezogene und tierschützerische Aspekte. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von der sogenannten „Gesamtqualität“, die auf neuen Exzellenzindikatoren beruht.
3.1.1 Als Beispiele, die weder erschöpfend noch einschränkend gemeint sind, werden verschiedene zu erwägende Kriterien bzw. Indikatoren vorgeschlagen (5):
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Umweltauswirkungen:
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Soziale Faktoren:
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Tierschutz:
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3.2 In diesem neuen Rahmen der Gesamtqualität könnten sich die europäischen Produkte von denen aus anderen Erzeugerländern abheben, da erstere aufgrund der im Vergleich wesentlich strengeren Vorschriften der EU und ihrer Mitgliedstaaten bereits jetzt viele der genannten Aspekte erfüllen. Das Problem besteht darin, dass dem Verbraucher die einer Regelung unterliegenden Aspekte zumeist nicht bekannt sind, weshalb er sie bei seiner Kaufentscheidung nicht berücksichtigt, besonders wenn er Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben hat. Daher ist eine entsprechende Verbrauchererziehung und -information erforderlich, um die Nachfrage nach Erzeugnissen mit besseren Produkteigenschaften zu fördern.
3.3 Auf die Lebensmittelsicherheit wird nicht eingegangen, da sie nicht als ein bloßes Kriterium für herausragende Produktqualität, sondern vielmehr als unverzichtbarer Aspekt für die Gewährleistung des Rechts der Unionsbürger auf Gesundheit betrachtet wird. Der EWSA bekräftigt nachdrücklich seine Bestürzung über die Laschheit, mit der weiterhin die Einfuhr von Lebensmitteln gestattet wird, bei denen keine vollständige Rückverfolgbarkeit gewährleistet ist (aufgrund der zweifelhaften Auslegung des Lebensmittelrechts durch die Kommission und die Mitgliedstaaten) oder die mit in der EU verbotenen synthetischen Produkten behandelt wurden. Das Inverkehrbringen dieser Lebensmittel ist Betrug am Verbraucher und als unlauteres Wettbewerbsverhalten gegenüber europäischen Erzeugern anzusehen.
4. Rückverfolgbarkeit als Informationsinstrument für Qualität
4.1 Derzeit entstehen weltweit verschiedene Initiativen (6), mit deren Hilfe die Merkmale eines Produkts über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg erfasst werden sollen. Es gibt bereits einige Experimente, sowohl obligatorischer (z.B. für Rindfleisch in der EU) als auch freiwilliger Art (verschiedene Handelsketten oder Initiativen wie der „CO2-Fußabdruck“).
4.2 Der EWSA hat eine neue, zunächst freiwillige Nutzanwendung des Instruments im Auge: Im Qualitätsbereich könnten unterschiedliche, mit dem Produkt verknüpfte sozioökonomische Aspekte bzw. Indikatoren einbezogen werden, um dem Verbraucher das Verständnis der Produktinformationen zu erleichtern. Deshalb wird vorgeschlagen, dieses leistungsfähige und zuverlässige Instrument zusammen mit den entsprechenden Bescheinigungen und Überprüfungen dazu zu nutzen, dass der Verbraucher seine Kaufentscheidungen bewusst und mit der Gewähr gesicherter brauchbarer Daten trifft.
4.3 Es müssen die erforderlichen Mechanismen eingeführt werden, um die zugehörigen Indikatoren bekannt zu machen, Indikatoren die von den klassischen Informationen auf dem Etikett - Wertskala (wie das Energieeffizienzetikett), Logo (Umweltzeichen, Ursprungskennzeichnung) oder Claim (recyclebares Erzeugnis) - bis zur Nutzung der IKT reichen können.
5. Potenzial der IKT für die Information von Verbrauchern über die Qualität von Agrarprodukten
5.1 Bisher hatte der Verbraucher als Hauptquelle für Informationen über ein Produkt das Etikett. Dieses spielt zwar für die Transparenz der Angaben eine maßgebliche Rolle, die freiwilligen bzw. obligatorischen Angaben auf dieser kleinen Fläche werden jedoch immer umfassender, wodurch die Lesbarkeit der Aussagen und ihr Verständnis nicht nur durch die Anhäufung von Informationen, sondern auch durch ihre teilweise gegebene Komplexität erschwert werden kann (ein eindeutiger Fall ist der Druckcode auf Eiern, der Angaben zur Aufzuchtmethode und zum Herkunftsland sowie den Erzeugercode umfassen kann).
5.2 Außerdem gilt für Agrarprodukte eine Besonderheit: ihr häufiger Wechsel in den Regalen, der sowohl durch die Saisonalität der Produkte als auch durch die Variabilität des Lieferanten im Laufe des Jahres oder sogar der Saison gegeben ist.
5.3 Andererseits sind viele Bürger bereits mit den IKT vertraut und haben sich diese erheblich entwickelt: höhere Kapazität zur Speicherung und Übertragung von Informationen (z.B. QR-Codes (7) und günstigere Preise. Für die Information der Verbraucher ist sowohl an die Nutzung bereits vorhandener persönlicher Geräte (z.B. Mobiltelefone) als auch an den bewussten Gebrauch von im Laden selbst befindlichen Geräten (LCD-Touchscreens) oder die Nutzung des Internets vor und nach dem Kauf zu denken.
5.4 Länder wie z.B. Italien machen sich diese Technologien bereits zunutze, um die Systeme zur Verbraucherinformation und zur Qualitätszertifizierung der Produkte zu verbessern:
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Die „Campagna Amica“-Bauernmärkte zeigen, dass bei der Preisspanne zwischen Produktion und Verbrauch reichlich Spielraum besteht, um angemessene Einkaufspreise für Familien zu gewährleisten und gleichzeitig das Einkommen der Landwirte zu stützen; |
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„Tac salva mozzarella“ ist das erste Analysesystem, mit dem ermittelt werden kann, ob ein Mozzarella auch tatsächlich aus Frischmilch oder etwa aus gefrorener oder gekühlter älterer Molke hergestellt wurde. Die neue Technologie ist ein konkretes Instrument zum Schutz der Viehzüchter und Verbraucher vor Lebensmittelfälschung. |
5.5 Vor diesem Hintergrund schlägt der EWSA vor, das Potenzial der IKT zur Verbesserung der Verbraucherinformation zu untersuchen, insbesondere diejenigen, die für den Kaufakt nützlich sein können, da die Verbraucher die Kaufentscheidung zumeist vor dem Regal treffen.
6. Die Kennzeichnung und die neuen Exzellenzindikatoren
6.1 Ausdehnung des Anwendungsbereichs des EU-Umweltzeichens (Euro-Blume) auf Lebensmittel
6.1.1 Das EU-Zeichen ist ein Symbol zur Kennzeichnung der Umweltqualität. Der Ausgangspunkt für die Festlegung der Umweltqualitätskriterien, die eine mit dem EU-Umweltzeichen gekennzeichnete Ware oder Dienstleistung erfüllen muss, ist die Analyse des Lebenszyklus, um zu gewährleisten, dass das Produkt während seiner gesamten Lebensdauer bestimmten Umweltanforderungen gerecht wird.
6.1.2 Wenn die von der Kommission vorgesehene Studie (8) abgeschlossen ist (bis zum 31. Dezember 2011), wird sich der EWSA dazu äußern, wobei zwei wichtige Aspekte zu berücksichtigen sind:
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die Einführung eines neuen Kennzeichens auf den ohnehin schon eng bedruckten Lebensmitteletiketten; |
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die mögliche inhaltliche Verwechslung mit dem Etikett für ökologische/biologische Erzeugnisse (Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen). |
6.1.3 Positiv wäre, dass der Verbraucher möglicherweise das Symbol kennen würde, da es bereits auf anderen Produkten zu finden ist, und dass weiter gefasste Kriterien bestünden als für die ökologische/biologische Erzeugung.
6.1.4 Der EWSA schlägt der Kommission vor, im Rahmen der durchzuführenden Studie die Möglichkeit zu prüfen, im Falle von Lebensmitteln für das gesamte System als Pilotversuch sozioökonomische Kriterien (wie Tiergesundheit oder Chancengleichheit) einzubeziehen, ohne dabei den durch die Verordnung (EG) 1980/2000 zur Vergabe eines Umweltzeichens gesteckten Rahmen zu überschreiten.
6.2 Aufnahme ökologischer und sozialer Kriterien in die verschiedenen bestehenden Qualitätsstandards
6.2.1 Wie bekannt und bereits mehrfach vom EWSA herausgestellt, gibt es viele verschiedene Qualitätsregelungen für EU-Agrarerzeugnisse und eine Vielzahl privater Etikettierungen und Zertifizierungen, mit denen u.a. folgende gemeinsame Zielen verfolgt werden:
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Gewährleistung der Produktsicherheit und -qualität für den Endverbraucher; |
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Schaffung eines größeren Mehrwerts für das jeweilige Produkt, um die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Marktakteure (Erzeuger, Verarbeitungs- und Vermarktungsbetriebe) zu steigern. |
6.2.2 Angesichts dieser großen Vielfalt an öffentlichen und privaten Bezugswerten, die es heute innerhalb des Handlungsrahmens der Europäischen Union gibt, werden die genannten Ziele in starkem Maße verwässert, was dazu führen kann, dass im Endeffekt das Gegenteil der ursprünglich verfolgten Ziele erreicht wird, wie z.B.:
— |
Verwirrung bei den Verbrauchern, da sie über die verschiedenen Regelungen nicht informiert sind; |
— |
mangelndes Vertrauen der Verbraucher in die jeweiligen Etikettierungen und/oder Zertifizierungen; |
— |
Erzeugung von Konflikten zwischen Erzeugern, die Zertifizierungs- und/oder Etikettierungssysteme anwenden, und solchen, die dies nicht tun. Auch kann es zu Spannungen zwischen Erzeugern kommen, die verschiedenen Zertifizierungs- und/oder Etikettierungssystemen angehören; |
— |
mangelnder Schutz zertifizierter Lokalerzeugnisse (auf europäischer Ebene) gegenüber Drittländern. |
6.2.3 Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, seitens der EU Maßnahmen anzustoßen, um die Qualitätsregelungen für EU-Agrarerzeugnisse zu vereinfachen und ihre Zahl zu verringern.
6.2.4 Im Rahmen dieser Vereinheitlichung der Regelungen und/oder Kriterien legt der EWSA der Kommission nahe, die Aufnahme ökologischer und sozialer Kriterien in die bestehenden offiziellen Zertifizierungssysteme zu fördern (bzw. diese entsprechend zu ändern) - Kennzeichnung der Erzeugnisse aus ökologischem Anbau, geschützte Ursprungsbezeichnungen (g.U.), geschützte geografische Angabe (g.g.A.), garantiert traditionelle Spezialität (g.t.S.) usw. - und sie als zu erfüllende Mindestanforderungen zu integrieren.
6.2.5 In bestimmte Vermarktungsnormen sollten diese Exzellenzindikatoren ebenfalls aufgenommen werden, insbesondere bei Normen, auf die teilweise bereits zurückgegriffen wird (mögliche fakultative geschützte Bezeichnungen für Erzeugnisse „aus Bergregionen“ oder „mit geringem Kohlenstoffausstoß“ (9).
6.2.6 Auf dem Gebiet der privaten Zertifizierungen wäre es sinnvoll, auf EU-Ebene bestimmte Mindestniveaus festzulegen, die von allen Standards zu erfüllen sind, wobei auch ökologische und soziale Indikatoren berücksichtigt werden sollten. Zudem sollte eine Harmonisierung und Vereinheitlichung der verschiedenen Zertifizierungsarten seitens der EU gefördert werden. Als Beispiel könnte hierbei der COSMOS-Standard (http://www.cosmos-standard.org) dienen, unter dem sich verschiedene europäische Zertifizierungsstellen zusammengeschlossen haben, um einen einheitlichen Bezugspunkt für die Zertifizierung natürlicher und ökologischer Kosmetikprodukte zu schaffen. Die Grundlage bilden dabei einige einfache Vorschriften betreffend Prävention und Sicherheit auf allen Produktionsebenen, von der Rohstoffgewinnung bis zum Endprodukt. Dieses Zertifizierungssystem wird ab April 2010 in Kraft treten können.
6.3 Schaffung eines neuen freiwilligen Zertifizierungssystems für sozioökologische Aspekte
6.3.1 Ziel ist die Förderung eines neuen Zertifizierungssystems für hervorragende Produktqualität, bei dem soziale und ökologische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, um auf diese Weise zu gewährleisten, dass die Umweltauswirkungen von Agrarerzeugnissen in ihrem gesamten Lebenszyklus auf ein Minimum reduziert werden und gleichzeitig soziale Kriterien wie die Grundsätze der Gleichheit, der gerechten Entlohnung und des Gleichgewichts in der Wertschöpfungskette usw. Beachtung finden.
6.3.2 Dieses System würde auch die Aufnahme neuer Informationen in die Etikettierung beinhalten, um Produkte (und/oder Erzeuger), die sich durch beispielhafte Sozial- und Umwelteigenschaften auszeichnen, gegenüber anderen besonders kenntlich zu machen. Die Einrichtung solcher Systeme wird derzeit von verschiedenen öffentlichen wie privaten Gremien untersucht.
6.3.3 Das neue System müsste die Anforderungen der Normen aus der Reihe ISO 1402X erfüllen, zu deren Kriterien u.a. Genauigkeit, Überprüfbarkeit, Sachbezogenheit und wahrheitsgetreue Angaben gehören. In der Entwicklungsphase des Systems müssten verschiedene Eckpunkte berücksichtigt werden, so z.B. folgende Fragen:
— |
Handelt es sich um ein qualitatives (Logo oder anderes Bewertungssystem) oder quantitatives (Aufführung von Indikatoren und entsprechenden Werten) Modell? |
— |
Sind Eigenerklärungen zulässig oder bedarf es eines Zertifizierungsprozesses? |
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Haben die Indikatoren verbindlichen Charakter (JA/NEIN), beruhen sie auf einem Punktesystem oder sind sie gemischt? |
— |
Wie kann die Transparenz des Systems gewährleistet werden? |
7. Förderung europäischer Erzeugnisse (Qualität aus Europa)
7.1 Zwar hat sich der Ausschuss bereits gegen die Verwendung des Siegels „EU-Auflagen“ (NAT/413 (10) ausgesprochen, doch müssen die Qualitätsmerkmale (ausgeweitet auf Umweltaspekte) der europäischen Agrarerzeugnisse hervorgehoben werden, um sie gegenüber Produkten aus Drittländern besser zu positionieren.
7.2 Der EWSA fordert die Kommission auf, spezifische Kommunikationsmittel und -instrumente für die Agrar- und Ernährungswirtschaft zu fördern, um auf der Grundlage eines Konsenses der interessierten Kreise die Qualitätsmerkmale der EU-Erzeugnisse hervorzuheben. In dieser Hinsicht gibt es - sei es mit gewissen Unterschieden - bereits in anderen Bereichen Orientierungshilfen, die es dem Verbraucher erleichtern, qualitativ hochwertige Produkte zu erkennen, wie z.B. das Energieeffizienzsiegel (Kennzeichnung und Klassifizierung der Produkte nach ihrer Energieeffizienz; dieses Siegel hat dazu geführt, dass sich die Hersteller eindeutig in Richtung effizienterer Produkte bewegen) oder die-Kennzeichnung (Erfüllung der Sicherheitsnormen für den Verkauf eines Produkts in der EU; diese Kennzeichnung verpflichtet Importeure aus Drittländern zur Einhaltung der EU-Vorschriften).
7.3 Auch müssen mehr Informationen über diese (meist verbindlichen) Qualitätsmerkmale verbreitet werden, und zwar im Zuge von Sensibilisierungskampagnen mit einem aussagekräftigen Motto oder Slogan, mit dem bestimmte Hauptqualitätsmerkmale des jeweiligen Produkts herausgestellt werden. Diese Kampagnen können allgemeiner Art sein (z.B. Kampagne für Bio-/Öko-Produkte) oder sich auf ein besonderes Erzeugnis oder eine Gruppe von Erzeugnissen beziehen.
8. Auf dem Weg zu integrierten Maßnahmen (integrierte Produktpolitik)
8.1 Bereits in dem Grünbuch vom 7. Februar 2001 zur integrierten Produktpolitik geht es um die Integration von Maßnahmen zur Förderung umweltfreundlicher Produkte, wobei alle den Verwaltungen zur Verfügung stehenden Mittel - vom Ankauf über differenzierte Besteuerung bis hin zur Informationspolitik - genutzt werden sollten. In der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über den Aktionsplan für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch und für eine nachhaltige Industriepolitik“ wird dasselbe Thema erneut aufgegriffen, wobei allerdings insbesondere auf Industrieprodukte eingegangen und kaum auf Erzeugnisse landwirtschaftlichen Ursprungs Bezug genommen wird.
8.2 Stärkere Beachtung müsste unter anderem den Möglichkeiten geschenkt werden, die das öffentliche Beschaffungswesen bietet (derzeit stehen dabei lediglich Konzepte der ökologischen und/oder integrierten Landwirtschaft sowie der Tierschutz im Mittelpunkt), ebenso wie vermehrt auf die Schaffung von Anreizen für eine verantwortungsvolle Produktion (Subventionierung umwelt- und sozialgerechter Produkte) und die Information der Verbraucher hingewirkt werden muss. In diesem Zusammenhang muss unbedingt betont werden, dass die Exzellenzindikatoren als Bezugswert für ein qualitativ hochwertiges Produkt integriert werden müssen. Heute bringen viele Verbraucher den Begriff der Qualität immer noch mit dem guten Aussehen oder sonstigen produktspezifischen Eigenschaften in Verbindung. Auch gibt es Verbraucher, die davon ausgehen, dass ein Erzeugnis aus ökologischer Landwirtschaft auch gleichzeitig ein äußerst umwelt- und sozialgerechtes Produkt ist, auch wenn dies nicht immer gesichert ist.
8.3 Nur durch eine Wechselwirkung dieser Faktoren, die sich an der Schnittstelle zwischen Angebot und Nachfrage befinden, wird es möglich sein, die Dichotomie zwischen ethischer Überzeugung und tatsächlichem Verhalten sowohl bei den Verbrauchern als auch bei den Erzeugern bzw. Herstellern und den Händlern zu überwinden.
8.4 Abschließend schlägt der EWSA die Durchführung einer Folgenabschätzung vor, um zu ermitteln, welche Vor- und Nachteile die Einführung der vorgeschlagenen Maßnahmen für das Agrarmodell der Gemeinschaft mit sich bringen würde.
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Aus der im Juli 2009 veröffentlichten Umfrage von Eurobarometer geht hervor, dass 80% der Europäer den Auswirkungen, die die von ihnen gekauften Produkte auf die Umwelt haben, Rechnung tragen, da sie mehrheitlich für die Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltverträglichkeit der Produkte sind.
(2) Die Kaufentscheidung wird durch Eigenschaften des Produkts, wie Aussehen, Prestige oder Nährwert, und des Verbrauchers selbst, wie verfügbare Zeit oder Entfernung, beeinflusst.
(3) Im weiteren Sinne, d.h. einschließlich der künftigen Verbraucher: auch Schüler müssen erreicht werden, auf die Instrumente zur Verbraucheraufklärung auszudehnen sind.
(4) Mitteilung KOM(2009) 591 „Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“
(5) Diese Aufzählung ist nur als Beispiel zu verstehen, um verschiedene Arten von Indikatoren für unterschiedliche Aspekte der integralen Qualität zu veranschaulichen. Je nach Art der Produkte und ihrem Behandlungsgrad wird es notwendig sein, spezifische Indikatoren festzulegen.
(6) www.tracefood.org oder www.foodtraceability.eu.
(7) Der QR-Code (Quick Reference) ist ein „Strichcode“ oder grafisches Raster, das zur Speicherung von Daten dient. Mittels eines mobilen Geräts mit Kamera oder einer Webcam kann der Code gelesen werden, so dass die in ihm enthaltenen Daten angezeigt werden.
(8) Wie in Artikel 6 des Entwurfs für einen Vorschlag zur Überarbeitung der Verordnung über das EU-Umweltzeichen angegeben (Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Regelung für das Umweltzeichen der Gemeinschaft (KOM(2008)0401 – C6-0279/2008 – 2008/0152(COD))).
(9) Mitteilung KOM(2009) 234 über die Qualitätspolitik für Agrarerzeugnisse
(10) ABl. C 218 vom 11.9.2009.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/11 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen EU/Montenegro“
2011/C 18/03
Berichterstatterin: Vladimira DRBALOVÁ
Mit Schreiben vom 14. Juli 2009 ersuchten die Kommissionsmitglieder Margot WALLSTRÖM und Olli REHN den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema
„Die Rolle der Zivilgesellschaft in den Beziehungen EU/Montenegro“.
Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 12. April 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 101 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Empfehlungen für ein höheres Gewicht dieser Stellungnahme sowohl für Montenegro als auch für die europäischen Institutionen:
An das montenegrinische Parlament:
1.1 |
Das Parlament sollte per Dekret ein Verfahren zur Entsendung von NGO-Vertretern in den Nationalen Rat für EU-Integration (1) festlegen, gestützt auf klare Kriterien hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Legitimität der NGO mit nachgewiesener einschlägiger EU-Erfahrung. |
1.2 |
Das noch ausstehende Gesetz über ehrenamtliche Arbeit sollte unter Einbeziehung der Positionen von NGO formuliert werden. |
An die montenegrinische Regierung:
1.3 |
Die Regierung sollte im Einklang mit der Empfehlung aus dem Zwischenbericht der Kommission den Kampf gegen die Korruption verstärken. Korruption ist nach wie vor ein in vielen Bereichen verbreitetes, besonders ernstes Problem. |
1.4 |
Die Umsetzung der Nationalen Strategie für die Zusammenarbeit zwischen der montenegrinischen Regierung und Nichtregierungsorganisationen sollte intensiviert werden. Mit klaren Verfahrensweisen sollte sichergestellt werden, dass NGO entsprechend dem Geist des vorhandenen Regelwerks in verschiedenen Gremien wirksam vertreten sind, vor allem aber in dem zu gründenden Rat für Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen, wobei die Vertreter der NGO nicht von der Regierung ausgewählt, sondern nur anhand der Auswahlkriterien überprüft werden sollten. |
1.5 |
Das existierende Amt für die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen verfügt nur über begrenzte personelle und technische Ressourcen; diese reichen nicht aus, um die NGO angemessen zu unterstützen und die weitere Entwicklung des NGO-Sektors in Montenegro sicherzustellen. Der Plan zur Einrichtung eines Staatlichen Rats für die Zusammenarbeit mit NGO unter Beteiligung tatsächlicher Vertreter von NGO muss hohe Priorität haben. |
1.6 |
Die Steuervorschriften sollten klare Bestimmungen für NGO enthalten; gegebenenfalls sollten Begleitgesetze erlassen werden. Darüber hinaus sollten NGO wirksamer in öffentliche Diskussionen über Gesetzesvorlagen eingebunden werden, damit sie zur schrittweisen Anpassung der montenegrinischen Gesetzgebung an EU-Standards und bewährte Praktiken beitragen. Entsprechendes gilt für die Aktualisierung des Nationalen Integrationsförderungsplans und die IPA-Programmplanung. |
1.7 |
Das NGO-Register sollte aktualisiert und auf der Website der zuständigen Behörde veröffentlicht werden, um genaue Einzelheiten über die Zahl der NGO zur Verfügung zu stellen und Manipulationen in diesem Bereich zu unterbinden. Alle NGO sollten regelmäßig ausführliche Tätigkeits- und Finanzberichte veröffentlichen, um die Transparenz in der Gesellschaft insgesamt zu verbessern und ihre eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Es bedarf einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage für die Wirtschaftstätigkeit in der Landwirtschaft, der Fischerei und anderen selbstständigen Berufen; darüber hinaus muss jeder - nicht nur Arbeitnehmer - das Recht erhalten, einer Gewerkschaft beizutreten. |
1.8 |
Mit der noch nicht verabschiedeten Gesetzesvorlage zur Gewerkschaftsrepräsentativität muss eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, die nachvollziehbare und nicht diskriminierende Kriterien der Repräsentativität gewerkschaftlicher Organisationen definiert. Ziel des Gesetzes ist außerdem die Förderung eines Mehrgewerkschaftensystems in Montenegro. Darüber hinaus sollte es detaillierte Kriterien für die Repräsentativität von Arbeitgeberverbänden enthalten, wie sie für Gewerkschaften bereits formuliert wurden. |
1.9 |
Die Regierung sollte das Potenzial des Sozialrats ausschöpfen und ihn als effizientes Mittel zur Beratung und Information der Sozialpartner in allen relevanten wirtschaftlichen und sozialen Belangen nutzen. |
1.10 |
Sie sollte die Staatliche Kommission für europäische Integration für Vertreter der Sozialpartner öffnen und diese Schritt für Schritt in den Prozess der EU-Integration Montenegros einbinden. |
An die Europäische Kommission:
1.11 |
Die Kommission sollte neue Indikatoren für die Überwachung verwenden - einen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und einen zweiten für den sozialen Dialog -, um mit dafür zu sorgen, dass die Zivilgesellschaft besser und effizienter in den Heranführungsprozess einbezogen wird. |
1.12 |
Sie sollte ihre Unterstützung für zivilgesellschaftliche Partnerschaften und die Entwicklung von Fertigkeiten und Kenntnissen fortführen, die Zivilgesellschaft in die IPA-Programmplanung einbeziehen und die Gründung eines Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Montenegro unterstützen, sobald Montenegro der Status eines Kandidatenlandes zuerkannt wurde. |
Der EWSA:
1.13 |
wird seine Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft Montenegros weiterführen, Hilfe im Heranführungsprozess leisten und konkrete Schritte auf dem Weg zur Gründung eines Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Montenegro unternehmen. |
2. Montenegro in Kürze: Fakten und Zahlen
2.1 |
Mit dem Zerfall der Jugoslawischen Föderation nach 1989 geriet Montenegro in eine heikle Lage. Zwischen 1991 und 1992 sagten sich Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien von Jugoslawien los. Serbien und Montenegro kamen am 27. April 1992 in Belgrad zusammen, um die Verfassung der Bundesrepublik Jugoslawien zu verabschieden. Trotz dem wiederbeschworenen politischen Bündnis mit Serbien blieb in Montenegro das Bewusstsein einer eigenständigen montenegrinischen Identität lebendig. Am 4. Februar 2003 wurde die Verfassungscharta der Staatenunion Serbien und Montenegro verabschiedet. |
2.2 |
Nach einem erfolgreichen Referendum vom 21. Mai 2006 über die Unabhängigkeit erklärte sich die Republik Montenegro am 3. Juni unabhängig. |
2.3 |
Montenegro ist mit 13 812 km2 und einer Bevölkerung von 620 145 Einwohnern der kleinste Staat des Westbalkans, was seine Lage im weiteren regionalen geostrategischen und politischen Kontext mit determiniert. |
2.4 |
Die multiethnische Zusammensetzung der Gesellschaft galt immer schon als einer der wichtigsten Vorzüge Montenegros. Außer der montenegrinischen Bevölkerungsmehrheit (43,16 %) leben hier Serben (31,99 %), Bosniaken (7,77 %), Albaner (5,03 %), (slawische) Muslime (2) (3,97 %) und Kroaten (1,10 %). |
2.5 |
2008 (3) betrug das Pro-Kopf-BIP 4 908 EUR (43 % des EU-Durchschnitts), die Arbeitslosenquote lag bei 16,8 %. Das Durchschnittsnettoeinkommen betrug 416 EUR (4), wobei 12,2 % der Bevölkerung weniger als 116 EUR im Monat zur Verfügung hatten und 4,7 % in äußerster Armut lebten. Die Inflation der Verbraucherpreise lag 2008 bei 9 %. 2009 betrug die Staatsverschuldung 1 071,1 Mio. EUR oder 34,7 % des BIP (5); die Inlandsverschuldung belief sich auf 426 Mio. EUR (13,8 %) und die Auslandsverschuldung lag bei 645,2 Mio. EUR (20,9 %). Der Alphabetisierungsgrad der erwachsenen Bevölkerung betrug 97,5 %. |
3. Beziehungen zwischen der EU und Montenegro
3.1 |
Zu den großen Herausforderungen für Montenegro gehören heute der Staats- und Verwaltungsaufbau, die Erfüllung der durch die EU vorgegebenen Standards und Kriterien und letztlich die Schaffung eines funktionierenden Rechtsstaats unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen. Da diese Herausforderungen zu ein und demselben Prozess gehören und sich wechselseitig stark beeinflussen, sind sie stets im Kontext dieser Wechselbeziehungen zu betrachten. |
3.2 |
Die Beziehungen zwischen der EU und Montenegro gründen sich auf das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) zwischen den Europäischen Gemeinschaften, ihren Mitgliedstaaten und Montenegro und auf das Interimsabkommen über Handel und Handelsfragen vom Oktober 2007. Montenegro verzeichnet Fortschritte in der Umsetzung der Europäischen Partnerschaft. |
3.3 |
Seit 2007 erhält Montenegro Heranführungshilfen im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (IPA), das von der neuen EU-Delegation in Podgorica verwaltet wird. Im Rahmen der IPA-Komponenten I und II erhielt Montenegro zuletzt 31,4 Mio. EUR (2007), 32,6 Mio. EUR (2008) bzw. 33,3 Mio. EUR (2009). |
3.4 |
Regionale Zusammenarbeit und gutnachbarschaftliche Beziehungen sind ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses der Annäherung an die Europäische Union. Montenegro beteiligt sich an der Arbeit regionaler Initiativen wie dem Südosteuropäischen Kooperationsprozess (SEECP), dessen Vorsitz es 2010-2011 übernehmen wird, und dem Regionalen Kooperationsrat (RCC), der an die Stelle des Stabilitätspakts für Südosteuropa getreten ist und eine verstärkt regionale Trägerschaft des Aktionsrahmens anstrebt. Montenegro hatte 2009 den Vorsitz des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens (CEFTA) inne und beteiligt sich darüber hinaus am Energiegemeinschaftsvertrag und dem Abkommen über den Gemeinsamen Europäischen Luftverkehrsraum (ECAAA). |
3.5 |
Das Land pflegt weiterhin gute bilaterale Beziehungen zu Nachbarländern und EU-Mitgliedstaaten. Die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern wurde insbesondere in folgenden Bereichen intensiviert: grenzüberschreitende Zusammenarbeit (es bestehen vier Programme für die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit Bosnien und Herzegowina, Albanien, Serbien und Kroatien), Wissenschaft und Technologie (mit Albanien), Minderheitenschutz (mit Kroatien) und doppelte Staatsbürgerschaft (mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien). Die Beziehungen zu Serbien bleiben aufgrund der Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos (6) durch Montenegro weiterhin belastet. Zur Türkei unterhält Montenegro gute Beziehungen. Es wurden Abkommen über freien Handel und bilaterale Verteidigungszusammenarbeit unterzeichnet. Die bilateralen Beziehungen mit Italien, dem wichtigsten EU-Handelspartner Montenegros, wurden ausgebaut. Der wichtigste Handelspartner in der Region ist weiterhin Serbien, auf das ein Anteil von einem Drittel des montenegrinischen Gesamthandelsvolumens entfällt. |
3.6 |
Auf der internationalen Bühne zeigt Montenegro zunehmend Präsenz, unter anderem als Mitglied der UNO, der OSZE, des IWF und des Europarats und einer Reihe anderer regionaler und internationaler Organisationen. Der Beitritt zur EU ist das erklärte Ziel der montenegrinischen Regierung, das von der Bevölkerung in überwältigendem Maße geteilt wird (7). |
3.7 |
In dem Fortschrittsbericht Montenegro 2009 (8) werden die Beziehungen zwischen Montenegro und der Europäischen Union beschrieben, die Fortschritte des Landes bei der Erfüllung der politischen Kriterien von Kopenhagen untersucht, die wirtschaftliche Lage in Montenegro analysiert und die Fähigkeit des Landes erörtert, europäische Standards umzusetzen und damit seine Rechtsvorschriften und politischen Konzepte nach und nach mit dem Acquis in Einklang zu bringen. Der Bericht befasst sich auch mit den von Montenegro ergriffenen Maßnahmen zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise. |
3.8 |
Er bescheinigt dem Land zwar wesentliche Fortschritte auf vielen Gebieten, dennoch bleiben die Zukunftsaussichten in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Justiz und Korruptionsbekämpfung problematisch. |
3.9 |
Die Regierung treibt ihre Maßnahmen zur europäischen Integration durch eine weiterhin außerordentlich zügige Verabschiedung neuer Gesetze voran. Klar unterscheiden sollte man hierbei jedoch zwischen dem Entwurf und der Verabschiedung neuer Gesetze, die in meist angemessener Zeit und in überwiegend guter Qualität vollzogen werden, und deren Umsetzung, die oft unter einem Mangel an Ressourcen oder politischem Willen leidet. |
3.10 |
Die Lockerung der Visumbestimmungen war 2009 eine Kernfrage: Am 15. Juli schlug die Europäische Kommission vor, das System zu liberalisieren, falls Montenegro die Bedingungen des Fahrplans erfüllt. Am 30. November 2009 einigten sich die Innenminister der Europäischen Union offiziell auf die Aufhebung der Visumpflicht für Bürger der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Serbiens und Montenegros bei der Einreise in das Schengen-Gebiet ab dem 19. Dezember 2009. |
3.11 |
Bei den wirtschaftlichen Kriterien blieb der nationale Konsens über die wesentlichen Elemente der Wirtschaftspolitik gewahrt. Das Funktionieren des Marktmechanismus wurde durch die Vielzahl von Anpassungen in der Zahlungsbilanz und im Finanzwesen erschwert. Die öffentlichen Finanzen gerieten 2009 stärker unter Druck. Die makroökonomische Politik stand weitgehend im Zeichen der Finanzkrise. Vorrangige Aufgaben waren die Umsetzung einer umsichtigeren Steuerpolitik und die Beschleunigung von Strukturreformen. |
4. Die Zivilgesellschaft (9) in neuem sozioökonomischem Kontext
4.1 Vorbemerkungen
4.1.1 |
Die montenegrinische Zivilgesellschaft besitzt im Allgemeinen keine historisch tiefen Wurzeln oder Traditionen (10). Der erste ehrenamtliche Verein entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts und widmete sich hauptsächlich wohltätigen Zielen. Die Gründung der ersten Gewerkschaften und Arbeitervereine fiel in das frühe 20. Jahrhundert. Mit Beginn des kommunistischen Regimes 1945 wurde die Tätigkeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen unterbunden und die Arbeit gemeinnütziger Vereinigungen stark eingeschränkt. |
4.1.2 |
Zivilgesellschaft ist im montenegrinischen Kontext gleichbedeutend mit Nichtregierungsorganisationen - NGO machen einen Teil der Zivilgesellschaft aus, der laut der von CIVICUS (11) entwickelten Definition 19 weitere Elemente enthält. Auch bei Anlegung großzügigerer Maßstäbe muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass zur Zivilgesellschaft noch andere Repräsentanten gehören, darunter Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften, Medien, Berufsverbände, Stiftungen und soziale Bewegungen. In der Wahrnehmung montenegrinischer Bürger werden allerdings NGO und Zivilgesellschaft gleichgesetzt, und dies entspricht weitgehend dem realen Beitrag der NGO zur Festigung der Prinzipien einer offenen Zivilgesellschaft und einem gesunden Gleichgewicht der Kräfte; andererseits weist diese Wahrnehmung auch auf ein alarmierend niedriges Niveau von gesellschaftlichem Engagement, Potenzial und Initiative in anderen Kategorien der Zivilgesellschaft. |
4.2 Verschiedene Interessengruppen in Montenegro
4.2.1 |
Solider rechtlicher Rahmen für NGO - Die Gründung von NGO fußt auf der verfassungsmäßig garantierten Versammlungsfreiheit (12) und wird im Gesetz über NGO (13) und anderen Rechtsakten detaillierter gefasst. Allerdings sind bestimmte Aspekte der Arbeit von NGO noch nicht klar umrissen, vor allem im Bezug auf das Steuersystem, und es gibt noch Möglichkeiten der Verbesserung. Hinzu kommt, dass der am 14. Januar 2010 von der Regierung verabschiedete Entwurf eines Gesetzes über ehrenamtliche Arbeit der Stellung von NGO-Vertretern nicht Rechnung trägt und damit den Grundgedanken dieses Gesetzes insgesamt in Frage stellt. |
4.2.2 |
Registrierung einer NGO - Das Verfahren ist einfach, was stellenweise zur Anmeldung einer großen Zahl von NGO geführt hat. Das Register wurde beim Justizministerium geführt, bis es 2006 im Zuge eines Mandatswechsels in der Regierung dem Ministerium für Inneres und Öffentliche Verwaltung übertragen wurde. Die in der Öffentlichkeit oft genannte Zahl von 4 500 registrierten NGO ist nicht zuverlässig, weil das Register nicht einwandfrei geführt wird, d.h. zwar neue Organisationen hinzugefügt, aber nicht mehr bestehende nicht gelöscht werden. Die Regierung hat die baldige Einführung einer Software angekündigt, die dieses kontroverse Problem lösen wird. Im Übrigen sind auch Berufsverbände wie Bauern- oder Fischervereinigungen als NGO registriert, weil es für ihre Wirtschaftstätigkeit keine andere gesetzliche Grundlage gibt. |
4.2.3 |
Finanzierung aus öffentlichen Mitteln - Die langjährigen Anstrengungen von NGO zum Erhalt öffentlicher Mittel haben dazu geführt, dass den NGO formal recht beträchtliche Summen zur Verfügung stehen - auf lokaler Ebene (aus den Haushalten der kommunalen Selbstverwaltungen, ca. 883 900 EUR (14)) und auf nationaler Ebene (über den Parlamentarischen Ausschuss zur Zuteilung von Mitteln an NGO mit einem geschätzten Mittelvolumen von 200 000 EUR (15) und über eine Kommission, die mit der Vergabe eines Teils der Lotterieeinnahmen betraut ist und über ca. 3 440 000 EUR (16) verfügt). Darüber hinaus stehen bestimmten Ministerien Sondermittel für Organisationen zu, die im Zuständigkeitsbereich der Ministerien arbeiten (17). Insgesamt könnten diese Mittel in erheblichem Maß zur Entwicklung der Zivilgesellschaft beitragen. Weil jedoch der größte Teil der Mittel - vor allem aus den Lotterieeinnahmen als größtem Posten (18) - auf eine begrenzte Zahl von NGO-Arbeitsbereiche entfällt, aufgrund des allgemeinen Mangels an Transparenz in der Arbeit der Kommission und erheblicher Unregelmäßigkeiten bei der Verteilung der Mittel (19) erreichen diese Gelder nur die wenigsten aktiven und echten NGO und unterstützen nicht die Programme, die auf die Demokratisierung der Gesellschaft ausgerichtet sind. Die Bestimmungen über die Verteilung dieser Mittel wurden von einer Task Force aus Regierungsbeamten und NGO-Vertretern entworfen und von der Regierung 2008 verabschiedet. Sie bilden zwar solide Rahmenbedingungen, ihre Anwendung unterliegt aber verbreiteten Manipulationen und bietet daher Grund zur Besorgnis (20). Eine neue bereichsübergreifende Gruppe wird 2010 eingerichtet, um neue Bestimmungen zu erarbeiten und damit diese Probleme zu lösen. |
4.2.4 |
Finanzierung aus internationalen Quellen - Die NGO in Montenegro funktionieren bisher weitgehend mit der Unterstützung internationaler Geldgeber. In letzter Zeit ist diese Art der Finanzierung schwierig geworden, weil zahlreiche bilaterale Geber aufgrund ihrer eigenen Prioritäten die Finanzierung eingestellt haben und die Unterstützung aus den USA erheblich reduziert wurde. Dadurch ist der NGO-Bereich hauptsächlich auf EU-Mittel angewiesen, die relativ kompliziert zu beantragen sind. Dies führt bereits jetzt zu einer Situation, in der nur die größten Organisationen Überlebens- und Wachstumsaussichten haben, während andere sich auf eingeschränkte Handlungs- und Wachstumsmöglichkeiten einstellen müssen. |
4.2.5 |
Kapazitätsaufbau bei NGO - NGO haben eine hohe Fluktuationsrate bei ihren Mitarbeitern, und es fehlt an Zugang zu institutionellen Zuschüssen, was sich dämpfend auf ihre Aktivitäten auswirkt, sogar bei gut entwickelten NGO. Das CRNVO (21) betrieb früher verschiedene Programme zum Aufbau von Fähigkeiten und Fertigkeiten; das Versiegen der Gebermittel für solche Aktivitäten führte jedoch zu erheblichen quantitativen Kürzungen des CRNVO-Angebots. Neue, durch EU-Mittel finanzierte technische Hilfe für zivilgesellschaftliche Organisationen der Westbalkanregion (22) wird derzeit auf den Weg gebracht. Allgemein besteht der Bedarf an kontinuierlichen Programmen zum Kapazitätsaufbau und der Entwicklung spezifischer Kenntnisse und Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen sowie an institutionellen Zuschüssen, die auf die Förderung des Aufbaus individueller Kapazitäten ausgerichtet sind. Darüber hinaus sollten die NGO ihre Aktivitäten mehr an Sachthemen orientieren und dafür eigens eingerichtete oder langfristige Plattformen und Netzwerke nutzen, um mit ihren Aktionen Wirkung und größeren Einfluss auf Interessenträger zu erzielen. |
4.2.6 |
Selbstregulierung der NGO - Im NGO-Bündnis „Durch Zusammenarbeit ans Ziel“, dem größten seiner Art mit rund 200 NGO aus Montenegro (23), wurde ein Selbstregulierungsorgan eingerichtet und ein Verhaltenskodex erstellt, der von den meisten großen NGO ebenso wie von zahlreichen kleineren übernommen wurde, die ihre Beschreibung und ihren Finanzbogen im Einklang mit diesem Finanzbogen veröffentlicht haben. Dies ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Verbesserung der Transparenz der NGO und damit für das Vertrauen der Öffentlichkeit. |
4.2.7 |
Vertretung in den Räten, die verschiedene gesellschaftliche Interessen vertreten - Nach dem Erlass neuer Gesetze, die die Einbeziehung aller Interessengruppen vorschreiben, erhielten NGO gesetzlich garantierte Positionen u.a. im Rundfunk- und Fernsehrat (RTCG) (24), im Rat für Polizeiaufsicht (25), im Nationalen Rat für europäische Integration (26), in der Nationalen Kommission zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, im Rat für Behindertenbetreuung, im Rat für Kinderbetreuung und in einer Reihe von Gremien auf lokaler Ebene. In vielen dieser Fälle sind nach jahrelangen Bemühungen der NGO Verbesserungen erreicht worden, aber der Nationale Rat für europäische Integration gibt nach wie vor Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Legitimität und Legalität der NGO-Vertreter. |
4.2.8 |
Beständigkeit des NGO-Sektors in Montenegro - Der montenegrinische NGO-Sektor hat eine geringe Tradition und angesichts der generell unterentwickelten politischen Kultur und Menschenrechtskultur auch eine ungewisse Zukunft (27). Die NGO sind in hohem Maße abhängig von ausländischer Unterstützung und von ihren eigenen Führungspersönlichkeiten und kommen leicht ins Wanken, wenn sich an der Spitze ein Wechsel vollzieht oder ein Geldgeber abspringt. Die größeren Verbände haben Schritte in Richtung interner Umorganisation und strategischer Planung unternommen und bieten Dienste an, die Geld in die Kasse bringen, aber dies ist noch keine feste Garantie für die generelle Beständigkeit des NGO-Sektors. |
4.3 Sozialer Dialog und Organisationen der Sozialpartner
4.3.1 |
Das 2008 verabschiedete Arbeitsrecht (28) enthält Bestimmungen über Kollektivvereinbarungen und über das Verfahren für die Änderung der Beziehungen der Tarifpartner zueinander und regelt sonstige für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedeutsame Fragen. Ein allgemeiner Tarifvertrag muss vom zuständigen Organ der betreffenden Gewerkschaft, dem Arbeitgeberverband und der Regierung geschlossen werden. |
4.3.2 |
Das Arbeitsrecht enthält auch Bestimmungen über die Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Arbeitnehmern und Arbeitgebern steht es frei, eine Organisation zu gründen und sich ihr anzuschließen, ohne vorherige Genehmigung und nach den in der Satzung und den Regeln dieser Organisationen festgelegten Bedingungen. |
4.3.3 |
Freiheit zur Bildung einer Gewerkschaft. Arbeitnehmer haben das Recht, ohne vorherige Genehmigung eine Gewerkschaft zu gründen und sich an gewerkschaftlichen Tätigkeiten zu beteiligen. Gewerkschaften werden in das Register gewerkschaftlicher Organisationen eingetragen, das vom Arbeits- und Sozialministerium geführt wird. Laut Gesetz ist eine gewerkschaftliche Organisation als repräsentativ anzusehen, wenn sie die größte Mitgliederzahl hat und als solche im Ministerium eingetragen ist. Faktisch bedeutet dies, dass ungeachtet der Zahl oder tatsächlichen Repräsentativität anderer gewerkschaftlicher Organisationen nur eine Gewerkschaft landesweit repräsentativ sein kann. Auf der Tagesordnung des Sozialrates ist ein Vorschlag für ein Gesetz über die Repräsentativität von Gewerkschaften. |
4.3.4 |
Die gewerkschaftlichen Dachverbände sind der Montenegrinische Gewerkschaftsbund (MGB) und die Union freier Gewerkschaften Montenegros (UFGM). Der MGB ist Mitglied im IGB (29) und steht kurz vor der Angliederung an den EGB (30) als beobachtendes Mitglied. Die UFGM ist eine neu geschaffene Organisation, die durch Abspaltung vom MGB entstand und im November 2008 offiziell ihre Arbeit aufnahm; sie ist daher bisher weder dem IGB noch dem EGB angeschlossen, steht aber mit beiden Verbänden in Kontakt. Die UFGM hat den Status eines Sozialpartners erhalten, auch wenn sich in der Praxis keine der gewerkschaftlichen Organisationen irgendwelchen rechtlichen Verfahren unterzogen hat, um als repräsentativ im Sinne des neuen Arbeitsgesetzes zu gelten. |
4.3.5 |
Arbeitgeberverbände. Ein Arbeitgeberverband gilt nach dem Gesetz als repräsentativ, wenn bei seinen Mitgliedsfirmen mindestens 25 % der Arbeitnehmer der montenegrinischen Wirtschaft beschäftigt sind und die Mitgliedsfirmen mindestens ein Viertel des montenegrinischen BIP erwirtschaften. Arbeitgeberverbände müssen sich in das beim Arbeits- und Sozialministerium geführte Register eintragen lassen. Das Ministerium bestimmt, wie die Angaben der Arbeitgeberverbände in das Register aufzunehmen sind, und legt detaillierte Kriterien für deren Repräsentativität fest. |
4.3.6 |
Die Vertretung der montenegrinischen Arbeitgeber ist der Montenegrinische Arbeitgeberverband (MAV) in Podgorica. Der MAV ist ein sehr aktives Mitglied der International Organisation of Employers (IOE) in Genf und arbeitet an zahlreichen Projekten mit. Darüber hinaus hat er Beobachterstatus bei BUSINESSEUROPE (31). |
4.3.7 |
Montenegro hat auch eine Handelskammer, eine 1928 errichtete Organisation mit Zwangsmitgliedschaft, die auf europäischer Ebene beobachtendes Mitglied von Eurochambers und Eurocommerce ist. Die Handelskammer hat nicht den Status eines Sozialpartners. Auf Landesebene ist sie Mitglied im Nationalen Rat für den Abbau von Hemmnissen in der Wirtschaft und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und in der staatlichen Kommission für europäische Integration. |
4.3.8 |
Der Sozialrat ist das höchste dreigliedrige Organ und wurde im Juni 2008 auf der Grundlage eines Gesetzes von 2007 (Gesetz über den Sozialrat) errichtet. Dem Rat gehören elf staatliche Vertreter, elf Vertreter der autorisierten Gewerkschaften und elf Vertreter des Arbeitgeberverbandes an. Unter dem Dach des Sozialrats bestehen verschiedene Arbeitsausschüsse, die sich mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Fragen befassen. |
4.3.9 |
Die Vereinbarung über die Sozialpartnerschaft im Kontext der weltweiten Wirtschaftskrise wurde im April 2009 unterzeichnet. Den Sozialpartnern steht es frei, bei verschiedenen Gelegenheiten formelle und informelle Arten der Konsultation im gegenwärtigen Kontext der globalen Wirtschaftskrise durchzuführen. |
4.3.10 |
Trotz einiger Fortschritte im dreigliedrigen Dialog ist der bilaterale soziale Dialog nach wie vor sehr schwach und vorwiegend auf die Aushandlung der Tarifverträge für die einzelnen Branchen ausgerichtet. Zwar wird ein Allgemeiner Tarifvertrag auf Landesebene angestrebt, der von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat unterzeichnet wird, doch wird auch über die Möglichkeit geredet, zwei Verträge aufzustellen, einen für die Wirtschaft und einen für den Öffentlichen Dienst. Einem Beschluss in dieser Angelegenheit muss eine eingehendere Prüfung vorausgehen. Die Errichtung eines zweigliedrigen Ressourcenzentrums für sozialen Dialog könnte allgemein für den sozialen Dialog und für gemeinsame Analysen der Sozialpartner von großer Bedeutung sein. |
5. Besondere Bemerkungen
5.1 |
Der vierte Zwischenbericht der Europäischen Kommission über Montenegro enthält keine einschränkenden Bemerkungen in Bezug auf die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit. Fortschritte gibt es bei der Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen. Eine Reihe von NGO genießt weiterhin ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit und hat ein hohes politisches Profil. Auf Landesebene besteht eine Staatliche Strategie für die Zusammenarbeit mit NGO, doch ist die Umsetzung schleppend, und der wirkliche Einfluss der NGO auf die Politikgestaltung ist trotz ihres Know-hows und der im NGO-Sektor verfügbaren Mittel sehr begrenzt. NGO sind der Regierung genehm, wenn sie politisch ins Bild passen oder wenn sie Dienste unterschiedlicher Art erbringen, doch kommt es in dieser Hinsicht zu Problemen bei Watchdog- und Monitoring-Programmen und bei ihrer effektiven Konsultation und Einbeziehung in Politikgestaltung und Entscheidungsfindung. |
5.2 |
Das bestehende Amt für die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen, das dem Generalsekretariat der montenegrinischen Regierung angegliedert ist, hat eigentlich die Aufgabe, die NGO zu unterstützen und ihre stabile Entwicklung in dem Land zu fördern. In Wirklichkeit sind aber Kapazität und Ausstattung dieses Amtes unzureichend. Der Mitarbeiterstab gibt sich Mühe, doch wird seine Arbeit von den NGO-Vertretern kaum wahrgenommen. Die Errichtung des Staatlichen Rates für die Zusammenarbeit mit NGO ist in Vorbereitung; geplant ist, dass das Amt dann als Sekretariat des Rates fungiert. Das wäre ein guter Schritt zur Verbesserung der Situation. |
5.3 |
Außerdem verfügt die Zivilgesellschaft über zwei Vertreter im Nationalen Rat für EU-Integration. Allerdings wurden Legalität und Legitimität der Ernennung der derzeitigen Mitglieder von glaubwürdigen NGO ernsthaft in Frage gestellt. Per Parlamentsdekret müssen klare Kriterien festgelegt werden, durch die Transparenz, Repräsentativität und Qualität der jeweiligen Delegierten gewährleistet werden. Der Nationale Rat für EU-Integration könnte ein interessanter Ort für eine engere, wirkungsvollere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den EU-Beitrittsprozess sein. Die Möglichkeiten, die sich hier auftun, müssen genutzt werden. |
5.4 |
Trotz den Bekundungen der Regierung und der zuständigen Ministerien, Konsultationen der Zivilgesellschaft seien Teil des Gesetzgebungsprozesses, lässt die Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft nach wie vor zu wünschen übrig. |
5.5 |
Die Bedingungen (insbesondere die finanziellen), unter denen die Organisationen der Zivilgesellschaft arbeiten, müssen verbessert werden, und ihre Kapazität muss durch die Diversifizierung und Dauerhaftigkeit ihrer Finanzquellen ausgebaut werden. |
5.6 |
Auch in den Vorbereitungen auf einen EU-Beitritt kommen zivilgesellschaftliche Organisationen nur begrenzt zum Zuge. Die nötigen Strukturen und Verfahren wurden bereits geschaffen, werden aber noch nicht ausreichend genutzt. Die aktive Mitwirkung der Zivilgesellschaft kann helfen, dem EU-Verhandlungsprozess Schärfen zu nehmen. So kann eine wirkliche Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und den EU-Institutionen geschlagen werden. |
5.7 |
Der dreigliedrige Dialog im Sozialrat läuft. Allerdings werden die Rolle und das Potenzial der Organisationen der Sozialpartner immer noch zu niedrig angesetzt. Der Sozialrat könnte für den EU-Beitritt sehr hilfreich sein, indem er zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen beiträgt. |
5.8 |
Die geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen, die die Bedingungen für die Anerkennung der Repräsentativität gewerkschaftlicher Organisationen auf nationaler Ebene festlegen, benachteiligen die kleineren Organisationen und verhindern gewerkschaftlichen Pluralismus. Obwohl die UGFM in der staatlichen Arbeitsgruppe mitwirkt, die an dem neuen Legislativvorschlag über die Repräsentativität von Gewerkschaften arbeitet, ist es ihr nicht gelungen, diese Arbeit zu beeinflussen. Die Regierung hat einseitig eine Schwelle von 20 % beschlossen, was bedeutet, dass 20 % aller montenegrinischen Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert sein müssen, damit diese das Kriterium der landesweiten Repräsentativität erfüllt. Die Kriterien sollten hingegen auch andere Faktoren berücksichtigen, wie die territoriale Gliederung und die Branchenstruktur und die Fähigkeit, Arbeitnehmerrechte wirksam zu vertreten. |
5.9 |
Die Sozialpartner waren im Hinblick auf den EU-Fragebogen nicht in dem Maße eingebunden, das nötig wäre. Nur der Verband montenegrinischer Arbeitgeber und die Handelskammer wirkten als staatliche Arbeitsorgane an der Beantwortung des Fragebogens mit. Gemäß den Anweisungen der EU hätten alle Sozialpartner im entsprechenden Teil des Fragebogens konsultiert werden müssen. |
5.10 |
Die staatliche Kommission für europäische Integration, die dem Ministerium für europäische Integration angegliedert ist, koordiniert die staatliche Verwaltung im Verlauf der Heranführung des Landes an die EU. Nur die Handelskammer ist in diesem Organ vertreten. Die Sozialpartner sind nicht beteiligt. |
5.11 |
Die Kapazität der Sozialpartner muss weiter ausgebaut werden. Alle Formen der Unterstützung auf allen Ebenen sind willkommen. In dieser Hinsicht würdigt der EWSA die Rolle der IOE und des IGB auf internationaler Ebene und von BUSINESSEUROPE und EGB auf europäischer Ebene. Viele integrierte Programme und Projekte werden auf den Weg gebracht, um die Kapazität der Organisationen der Sozialpartner zu stärken und den sozialen Dialog zu verbessern. |
5.12 |
Der EWSA begrüßt außerdem die finanzielle und technische Hilfe, die die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Erweiterungsstrategie und verfügbaren Mittel bereitstellt. Eine stärkere Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft gibt der Demokratie mehr Qualität und fördert die Aussöhnung. Durch die Umsetzung der Fazilität für die Zivilgesellschaft im Rahmen des IPA hat die Europäische Kommission die Einrichtung von Technische-Hilfe-Büros in jedem Empfängerland finanziert; hinzu kommen eine höhere Zahl von Kurzbesuchen bei den EU-Institutionen und Zuschüsse für rund 800 Personen zur Teilnahme an Workshops in den Westbalkanländern und der Türkei. |
6. Die Rolle des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
6.1 |
Die EU-Erweiterung und der Fortschritt, den die Westbalkanländer auf dem Weg zum EU-Beitritt gemacht haben, sind für den EWSA in seinen Außenbeziehungen von vorrangiger Bedeutung. Die Fachgruppe Außenbeziehungen hat effiziente Instrumente entwickelt, um ihre wesentlichen Ziele zu erreichen, nämlich die Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Westbalkanländern und die Verbesserung ihrer Fähigkeit, auf dem Weg zum EU-Beitritt als Partner der Regierung aufzutreten. |
6.2 |
Die Kontaktgruppe Westbalkanländer nahm ihre Arbeit im Oktober 2004 auf. Ihr geografischer Arbeitsbereich erstreckt sich auf Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Serbien und Kosovo gemäß der Resolution Nr. 1244/1999 des UN-Sicherheitsrates. Die Kontaktgruppe ist dasjenige ständige Arbeitsorgan des EWSA, das sich gezielt mit dieser Region beschäftigt. |
6.3 |
Auf zwei Foren der Zivilgesellschaft der Westbalkanländer (Brüssel 2006 und Ljubljana 2008) stellten die Akteure der Zivilgesellschaft ihre Bereitschaft unter Beweis, sich grenzüberschreitend zu begegnen und gemeinsam über eine bessere Zukunft zu diskutieren. Das dritte Forum der Zivilgesellschaft der Westbalkanländer findet am 18./19. Mai 2010 in Brüssel statt. |
6.4 |
Ein weiteres wichtiges Instrument für den Aufbau von Kontakten zwischen der Zivilgesellschaft der EU und der Zivilgesellschaft der Westbalkanländer sind die Gemischten Beratenden Ausschüsse (GBA). In seiner Sondierungsstellungnahme von 2006 zur Situation der Zivilgesellschaft im Westbalkanraum (32) verwies der EWSA auf seine Stellung, sein umfangreiches Know-how und seine beträchtlichen Humanressourcen und hob die Bedeutung der GBA für den gesamten Erweiterungsprozess hervor. |
6.5 |
Angesichts dessen empfiehlt der EWSA die Gründung eines Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Montenegro, sobald Montenegro der Status eines Kandidatenlandes für den Beitritt zur EU zuerkannt wurde. Dieser GBA würde es den zivilgesellschaftlichen Organisationen beider Seiten ermöglichen, eingehendere Gespräche zu führen und die Fortschritte des Landes auf dem Weg in die EU zu kommentieren. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Der Nationale Rat für EU-Integration gehört organisatorisch zum Parlament, zählt aber zu seinen Mitgliedern neben Parlamentsabgeordneten auch Vertreter der Justiz, von NGO, der Montenegrinischen Universität, der Montenegrinischen Akademie der Wissenschaften, des Sozialrats und des Präsidentenamtes.
(2) Angaben der amtlichen Volkszählung. Muslime werden in dieser Volkszählung in Montenegro wie eine ethnische Gruppe behandelt, was der Praxis im früheren Jugoslawien entspricht.
(3) Eurostat.
(4) Monstat, http://www.monstat.org/Mjesecna%20saopstenja.htm.
(5) Wirtschafts- und Steuerprogramm 2009-2012 vom 21. Januar 2010.
(6) Gemäß Resolution 1244/1999 des UN-Sicherheitsrats.
(7) In Meinungsumfragen der letzten Jahre sprachen sich 75 % bis fast 80 % der Bürger Montenegros für einen EU-Beitritt aus.
(8) Fortschrittsbericht Montenegro 2009 (SEK(2009) 1336) als Begleitdokument zu der Mitteilung der Kommission Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2009–2010 (KOM(2009) 533).
(9) Der Begriff Zivilgesellschaft im hier zugrundeliegenden weiteren Sinne umfasst Nichtregierungsorganisationen, Berufsverbände, Organisationen der Sozialpartner, Verbraucher, Handwerker, Glaubensgemeinschaften, Stiftungen, soziale Bewegungen, Medien usw.
(10) TRIALOG, Montenegrinische Zivilgesellschaft, Maša LEKIČ.
(11) CIVICUS - World Alliance for Citizen Participation, www.civicus.org.
(12) Die Verfassung wurde im Oktober 2006 angenommen, doch auch die vorherige Verfassung enthielt entsprechende Bestimmungen.
(13) Verabschiedet 1999, geändert 2002 und 2007.
(14) Angaben aus Erhebungen des CRNVO (Zentrum für NGO-Entwicklung) 2008, denen zufolge 883 900 EUR vorgesehen waren und 860 764,66 EUR tatsächlich vergeben wurden.
(15) Angaben von 2009.
(16) Entsprechend den Bestimmungen über die Verteilung eines Teils der Lotterieeinnahmen sollen 75 % der Gesamtsumme an NGO und der Rest an andere Organisationen und Institutionen vergeben werden. Aus demselben Budget werden die Aufwandsentschädigungen für die Mitglieder der Kommission und allgemeine Verwaltungsausgaben bezahlt. Die Angaben gelten für 2009; 2010 sind die Beträge niedriger.
(17) Es handelt sich um das Ministerium für Tourismus, das Ministerium für Kultur, Medien und Sport und das Ministerium für Menschen- und Minderheitsrechte.
(18) Dies betrifft folgende Bereiche: 1) Sozialfürsorge und humanitäre Aktivitäten, 2) Bedürfnisse Behinderter, 3) Sportentwicklung, 4) Kultur und technische Kultur, 5) außerinstitutionelle Bildung, 6) Bekämpfung von Drogen und aller Formen von Abhängigkeit.
(19) Überwachungsbericht des Zentrums für Zivile Bildung über die Verteilung der Mittel durch die Kommission zur Vergabe eines Teils der Lotterieeinnahmen 2009.
(20) Überwachungsbericht des Zentrums für Zivile Bildung über die Verteilung der Mittel durch die Kommission zur Vergabe eines Teils der Lotterieeinnahmen 2009.
(21) CRNVO (Zentrum für NGO-Entwicklung).
(22) Programm „Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft“.
(23) Näheres dazu unter www.saradnjomdocilja.me.
(24) Gesetz über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (RTCG) von 2002 und Gesetz über öffentlich-rechtliche Rundfunkdienste in Montenegro von 2008 (das das frühere Gesetz aufhebt).
(25) Gesetz über die Polizei von 2005.
(26) Beschluss über die Errichtung des Nationalen Rates für europäische Integration, angenommen 2008.
(27) CIVICUS-Bericht über die montenegrinische Zivilgesellschaft „Weak Tradition, Uncertain Future“ 2006, Hg. S. MUK, D. ULJAREVIĆ und S. BRAJOVIĆ.
(28) Arbeitsrecht, Staatsanzeiger Montenegros, Nr. 49/08.
(29) Internationaler Gewerkschaftsbund.
(30) Europäischer Gewerkschaftsbund.
(31) BUSINESSEUROPE, Europäischer Arbeitgeberverband.
(32) ABl. C 195 vom 18.5.2006, S. 88.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/18 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bildung für Inklusion: Ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (Sondierungsstellungnahme)
2011/C 18/04
Berichterstatterin: María Candelas SÁNCHEZ MIGUEL
Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der spanische Staatssekretär für die Europäische Union des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit, Diego LÓPEZ GARRIDO, im Namen des künftigen spanischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dem Thema
„Bildung für Inklusion: Ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 103 gegen 13 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Entscheidung, das Jahr 2010 der Intensivierung der Bemühungen um die Beseitigung von Ausgrenzung und Armut zu widmen, und unterstreicht, wie wichtig es ist, die allgemeine und berufliche Bildung als wirksames Instrument zur Erreichung dieser Ziele einzusetzen. |
1.2 |
Der Ausbau der Bildung als Mittel zur Bekämpfung von Ungleichheiten und Armut ist eine der Prioritäten der „EU-Strategie für 2020“, und der turnusmäßige Dreiervorsitz der EU - Spanien, Belgien und Ungarn - hat „Bildung für alle“ zu einem seiner Ziele erklärt. Dies ermöglicht es, eine Reihe von Aktionen vorzuschlagen, um aus der allgemeinen und beruflichen Bildung ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu machen. |
1.3 |
Die Bildung ist schon seit den Anfängen der EU als grundlegendes Menschenrecht anerkannt, und es wurden zahllose positive Anstrengungen unternommen, um aus diesem Recht ein für alle frei zugängliches öffentliches Gut zu machen. Der EWSA hat hierzu mit zahlreichen Stellungnahmen beigetragen, in denen anerkannt wird, dass das zentrale Ziel der Bildung auch weiterhin darin besteht, freie, kritische, selbständige Bürgerinnen und Bürger herauszubilden, die in der Lage sind, zur Entwicklung der Gesellschaft, in der sie leben, beizutragen und die über ein hohes Maß an den erforderlichen Kompetenzen verfügen, um den neuen Herausforderungen - insbesondere in der Arbeitswelt - gewachsen zu sein, die sich jedoch auch bewusst sind, dass sie kulturelle Werte teilen und die Welt, in der sie leben, für künftige Generationen bewahrt werden muss. |
1.4 |
Der EWSA empfiehlt, die EU und die Mitgliedstaaten ausgehend von dem Konzept der Bildung für Inklusion zu einer Überarbeitung der Bildungspolitik, ihrer Inhalte, Ansätze, Strukturen und Mittelausstattung anzuhalten. Es sind jedoch auch eine Revision und/oder Aktualisierung der beschäftigungspolitischen Maßnahmen, hochwertige öffentliche Dienstleistungen und die Berücksichtigung von Besonderheiten (Kinder, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Migranten) sowie die Einbeziehung der Geschlechterperspektive in alle diese Politikbereiche erforderlich. Inklusive Bildung kann in zahlreichen formalen und nichtformalen Zusammenhängen, in Familien und im Gemeinwesen erfolgen, ohne dass die gesamte Last den Schulen aufgebürdet wird. Sie ist weit mehr als eine marginale bzw. nur auf die Armen fokussierte Frage und muss allen sozialen Gruppen, die sie benötigen, offen stehen. Für eine inklusive Bildung sprechen:
|
1.5 |
In der EU wird seit vielen Jahren über die Anerkennung der Ergebnisse der nichtformalen Bildung diskutiert, d.h. der Bildung, die außerhalb herkömmlicher Bildungsstrukturen stattfindet, die formale Bildung aber dadurch ergänzt, dass sie den Menschen praktische Fertigkeiten, soziale Kompetenz und eine positive Einstellung vermittelt und die aktive Bürgerschaft fördert. Zwar haben diese Diskussionen noch zu keinen Konsensvereinbarungen auf EU-Ebene geführt, doch wird die nichtformale Bildung zunehmend dafür anerkannt, dass sie den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Nach Ansicht des EWSA ist es zweckmäßig, dass die EU den diesbezüglichen Stand der Dinge im Lichte der Bildung für Inklusion untersucht; dementsprechend empfiehlt er,
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1.6 |
Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die hochwertige öffentliche Bildung für alle ein Instrument zur Förderung von Gleichheit und sozialer Inklusion ist. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass allen von Ausgrenzung Betroffenen eine überwiegend öffentliche (1), hochwertige Bildung zuteil wird, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und eine menschenwürdige und gut bezahlte Arbeit ermöglicht. |
1.7 |
Der EWSA empfiehlt schließlich, dass die künftigen Maßnahmen in Kohärenz mit den bereits festgelegten politischen Prioritäten zu verfolgen sind, als Triebfeder und Anreiz für anspruchsvollere und ehrgeizigere Verpflichtungen in diesem Bereich dienen und die unterschiedlichsten Einrichtungen und Akteure erreichen sollen. |
1.8 |
Die Konferenz zum Thema „Bildung zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“, die der EWSA vom 20. bis 22. Mai 2010 in Florenz organisiert, fügt sich voll und ganz in diese Perspektive ein. Sie wird sich auf einen bereichsübergreifenden Ansatz stützen und eine große Zahl von Akteuren aus diesem Bereich zusammenbringen. |
2. Einleitung
2.1 |
Das Recht auf Bildung ist als grundlegendes Menschenrecht anerkannt und in sämtliche Instrumente aufgenommen worden, mit denen sich die Europäische Union seit ihrer Gründung ausgestattet hat. Europa hat zahllose positive Anstrengungen unternommen, um aus diesem Recht ein für alle zugängliches öffentliches Gut zu machen (2). Es gibt jedoch weiterhin vereinzelte Bevölkerungsgruppen, die von dessen Nutzen ausgeschlossen sind, wodurch sich die nach wie vor bestehenden Armutsszenarien noch verschlimmern. Die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament haben wichtige Maßnahmen zur Armutsbekämpfung vorgeschlagen und angenommen und sich dabei eine öffentliche und hochwertige Bildung für alle als Inklusionsinstrument zu Eigen gemacht. Dementsprechend hat die EU beschlossen, 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut auszurufen (3). |
2.2 |
Soziale Inklusion und Armutsbekämpfung sind ferner integrale Bestandteile der EU-Ziele im Bereich Wachstum und Beschäftigung. Die Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Sozialschutz und zur sozialen Inklusion erfolgt über ein als „offene Koordinierungsmethode“ (OKM) bekanntes Verfahren des Austauschs und des Lernens, das in den Zuständigkeitsbereichen der Mitgliedstaaten mit dem Ziel zur Anwendung kommt, die einzelstaatlichen Politiken im Interesse gemeinsamer Ziele aufeinander abzustimmen. Die OKM erleichtert insbesondere im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie den Prozess der Koordinierung sozialpolitischer Maßnahmen. |
2.3 |
Zudem stellt die allgemeine und berufliche Bildung einen Schlüsselfaktor dar, wenn es darum geht, die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu verbessern. Das Scheitern bei der Erreichung der Armutsbekämpfungsziele, die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftskrise auf die soziale Ausgrenzung und der Anstieg der Arbeitslosigkeit machen einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, Instrumente zu finden, um Fortschritte in Richtung der aktiven Inklusion zu machen. |
2.4 |
Eine der wichtigsten Prioritäten der EU für die Strategie 2020 (4) ist die „Wertschöpfung durch wissensbasiertes Wachstum“. Dadurch wird anerkannt, dass Wissen der Motor für nachhaltiges Wachstum ist und durch Bildung, Forschung, Innovation und Kreativität etwas bewirkt werden kann. Die Schlussfolgerungen des Beschäftigungsgipfels in Prag vom Mai 2009 gehen in dieselbe Richtung. Dementsprechend müssen angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise, die erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und die Unternehmen, insbesondere die KMU, gehabt hat, und aufgrund der Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit mit Werten von nahezu 20,2 % historische Höhen erreicht hat, wobei zwischen den einzelnen Ländern der EU große Unterschiede bestehen, sämtliche Maßnahmen intensiviert werden, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und für mehr Gleichheit zwischen allen Unionsbürgern sorgen, insbesondere im Bereich der Bildungspolitik. |
2.5 |
In einer immer stärker globalisierten Welt, die auch in zunehmendem Maße von Ungleichheit, Spaltung und Asymmetrie geprägt ist, steht das öffentliche Bildungssystem, das eines der wichtigsten Instrumente zur Förderung der sozialen Gleichheit ist, heute neuen und zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Die schulische und soziale Integration aller Lernenden ist für den Staat ebenso wie für internationale und regionale Organisationen eine Priorität. „Bildung für Inklusion“ ist ein Ansatz, mit dem die Lernbedürfnisse aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen und insbesondere der von Diskriminierung, Marginalisierung, Armut und sozialer Ausgrenzung am stärksten betroffenen Gesellschaftsbereiche erfüllt werden. |
2.6 |
Die allgemeine und berufliche Bildung kann als wirksames Instrument zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung dienen. Sozial schlechter gestellte Jugendliche sind mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, weil sie einem in Bezug auf Bildung, sozioökonomische oder geografische Faktoren benachteiligten Umfeld angehören oder mit einer Behinderung leben. |
2.7 |
Nach den UNESCO-Leitsätzen ist die inklusive Bildung ein Prozess, der darauf abzielt, die vielfältigen Bedürfnisse aller Lernenden zu erkennen und durch eine verstärkte Teilhabe am Lernprozess, an der Kultur und an den Werten des Gemeinwesens zu erfüllen sowie soziale Ausgrenzung und Armut zu verringern. Die Bildung für Inklusion verlangt nach Neugestaltung der Inhalte, Ansätze, Strukturen und Bildungsstrategien, nach einer daraus resultierenden Weiterentwicklung der Lehrerausbildung und nach mehr Mittelzuweisungen - in der Vorstellung, dass alle Lernenden umfasst werden, und in der Überzeugung, dass es Aufgabe des allgemeinen Bildungssystems ist, allen Menschen Wissen zu vermitteln. Die inklusive Bildung hat zum Ziel, Antworten auf die verschiedenen Lernbedürfnisse der sozialen Gruppen zu geben und kann über formale und nichtformale Kanäle vermittelt werden. |
2.8 |
Die inklusive Bildung ist weit mehr als die marginale Frage der Integration bestimmter Lernender in das allgemeine Schulsystem bzw. eine Frage, die sich nur auf die Ärmsten konzentriert; ihr Ansatz besteht vielmehr darin, die Bildungssysteme und sonstigen Lernumfelder weiterzuentwickeln, um sie an die Vielfalt der Lernenden anzupassen, und sich dabei gleichzeitig in ein wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung zu verwandeln. Sie muss es ermöglichen, dass sich sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden mit der Vielfalt wohlfühlen und sie nicht als Problem, sondern als eine Herausforderung und ggf. Bereicherung im Lernumfeld betrachten. |
2.9 |
Das Aufkommen von Massenarbeitslosigkeit löst noch nie da gewesene Armutsszenarien aus. Die heutige Weltwirtschaftskrise ist nichts weiter als eine schmerzhafte Bestätigung dieser Situation (5). Armut ist heute nicht mehr nur durch unzureichende Einkünfte gekennzeichnet; sie kann sich auch in einem begrenzten oder mangelnden Zugang zu Gesundheit oder Bildung, einem gefährlichen Umfeld sowie dem Fortbestand von Diskriminierung und Vorurteilen und von sozialer Ausgrenzung manifestieren. Ein Arbeitsplatz allein, sofern es sich nicht um eine qualitativ hochwertige Stelle handelt, ist kein ausreichendes Bollwerk gegen Armut mehr. Auch ist die extreme Armut unter Frauen weiter verbreitet als unter Männern: Das Risiko, in extreme Armut zu fallen, ist in 17 der EU-Mitgliedstaaten für Frauen erheblich höher, wobei allein erziehende Frauen am stärksten gefährdet sind. In einer Welt, in der 60 % der Bevölkerung von nur 6 % des weltweiten Einkommens lebt, in der 50 % von weniger als 2 US-Dollar pro Tag leben und mehr als 1 Mrd. Menschen ein Einkommen von weniger als 1 US-Dollar pro Tag haben, darf Europa nicht zu einer Festung werden, die ihr Lebensumfeld ignoriert. |
2.10 |
Die wachsenden Phänomene der städtischen Armut, der Landflucht und der Massenzuwanderung sind eine Herausforderung für die sozialpolitischen Maßnahmen der Region. Laut Daten von EUROSTAT 2009 leben 16 % der europäischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze, und einer von zehn Europäern lebt in einem Haushalt, in dem kein Familienmitglied erwerbstätig ist. In vielen Mitgliedstaaten sind die Kinder stärker von Armut bedroht als die übrige Bevölkerung: Schätzungen zufolge sind es 19 % (d.h. 19 Mio. Kinder). Dieser Kreislauf, der so viele Menschen in die Armut führt, muss durchbrochen werden, indem ein stabiles und sicheres Bildungsumfeld geschaffen wird, das den Lernenden die umfassende Ausübung ihrer Grundrechte sowie die Entfaltung ihrer Zukunftsperspektiven und -chancen zu garantieren vermag. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 |
Die Armutsbekämpfung ist ein wichtiges Element der Eingliederungs- und Beschäftigungspolitik der EU und der Mitgliedstaaten. Ehemals als Unterstützungspolitik erachtet, hat sich die Bekämpfung von Armut in die Bekämpfung von Ausgrenzung gewandelt. Es geht nicht mehr nur darum, die Gesellschaft vor den gefürchteten Folgen der Armut zu schützen, sondern den von Armut Betroffenen ihre Menschenrechte zuzuerkennen. 2007, als „die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ zum Ziel für das Jahr 2010 auserkoren wurde, erklärten das Parlament und der Europäische Rat, dass derzeit ca. 78 Mio. Menschen in der EU von Armut bedroht seien und diese Zahl ständig wachse. Das stehe in krassem Widerspruch zu den gemeinsamen Grundwerten der Union, weshalb es Maßnahmen bedürfe, an denen sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten beteiligt seien. |
3.2 |
Überdies nahmen die UN-Mitgliedstaaten im Jahr 2000 die Millenniumsentwicklungsziele an, mit denen insbesondere die Halbierung der extremen Armut erreicht werden sollte. Diese acht Ziele müssen bis 2015 verwirklicht werden. Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Kontext wird es jedoch anerkannterweise sehr schwierig werden, alle Ziele fristgerecht umzusetzen. Die EU hat denn auch beschlossen, das Jahr 2010 der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu widmen, um ihre Anstrengungen zur Erreichung der Millenniumsziele zu verdoppeln. |
3.3 |
Der EWSA hat wiederholt eine kohärente Position in Bezug auf die Wissensgesellschaft als einem grundlegenden Instrument zur umfassenden Integration aller Bürgerinnen und Bürger und nicht nur einer Elite sowie insbesondere als einem Mittel zur Erreichung der Lissabon-Ziele eingenommen. |
3.4 |
Der EWSA hat unlängst die Ansicht vertreten (6), dass Personen mit geringerem Bildungsstand stärker von Ausgrenzung bedroht sind und das Recht auf Bildung ihnen die Chance bieten muss, ihre Lebensqualität und den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Veränderungen eine inhaltliche Anpassung der Bildungsmaßnahmen erfordern, insbesondere wenn man den Arbeitsmarkterfordernissen gerecht werden möchte. Der EWSA schlägt daher vor, die schulische und universitäre Ausbildung so zu verändern, dass sie im Falle eines Schulabbruchs um Berufsbildungsprogramme ergänzt werden können, die die Eingliederung in den Arbeitsmarkt erleichtern (7), mit dem Ziel, die durch soziale Ausgrenzung verursachten Schäden zu verhindern und zu beheben. |
3.5 |
Der EWSA (8) hat zudem eine Stellungnahme verabschiedet, in der er die Mitteilung der Kommission zum Thema „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ begrüßt. In den Schlussfolgerungen fordert er „die Steigerung des Kompetenzniveaus auf allen Ebenen [als] eine wesentliche Voraussetzung für eine kurzfristige Ankurbelung der Wirtschaft wie auch für eine langfristige Entwicklung, die Erhöhung der Produktivität, für Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung sowie für die Gewährleistung der Chancengleichheit und des sozialen Zusammenhalts.“ |
3.6 |
Auf jeden Fall erscheint es unvermeidlich, das unseren Überlegungen zugrunde liegende Konzept der inklusiven Bildung zu präzisieren, da es sowohl eine Strategie als auch ein Prozess ist, der uns nicht nur zu einer Überarbeitung der bildungs-, sondern auch der beschäftigungspolitischen Maßnahmen, der Erbringung hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen und der Berücksichtigung der Vielfalt der Lernenden (Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, Migranten, Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen oder mit HIV/Aids usw.) zwingt. Ziel der inklusiven Bildung ist es letztendlich, jegliche Art der Ausgrenzung infolge negativer Einstellungen oder mangelnder Wertschätzung der Vielfalt zu beseitigen. Dies kann in zahlreichen formalen und nichtformalen Zusammenhängen, in Familien und im Gemeinwesen erfolgen, ohne dass die gesamte Last den Schulen aufgebürdet wird. |
3.7 |
Die „nichtformale Bildung“ ist eine Bildungsform, die in vielen Ländern in großem Maßstab über mehrere Generationen hinweg zur sozialen und beruflichen Integration von Menschen eingesetzt wurde. Hier sei Grundtvig (1782-1873) erwähnt, der Vater des skandinavischen Modells, das in zahlreichen Ländern übernommen wurde und dem EU-Erwachsenenbildungsprogramm sogar seinen Namen gab. Die nichtformale Bildung beruht sehr häufig auf nichthierarchischen und partizipativen Pädagogikformen und Arbeitsweisen. Sie ist eng verbunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für ihre Vermittlung zuständig sind. Es ist nahe liegend, dass sich die nichtformale Bildung auch aufgrund ihres Bottom-up-Ansatzes als wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erwiesen hat. Daher unterstreicht der EWSA, dass die „nichtformale Bildung“ bei der Umsetzung der EU-2020-Strategie eine maßgebliche Rolle spielen kann. |
3.8 |
Der Erfolg des lebenslangen Lernens wird durch die nicht-formale Bildung verstärkt, welche die formale Bildung ergänzt und unterstützt. Diese Verknüpfung kann beispielsweise eine wichtige Rolle dabei spielen, das Lernen für junge Menschen attraktiver zu machen und auf diese Weise Schulabbrüchen durch Einführung neuer Methoden vorzubeugen, die Übergänge zwischen formaler und nicht-formaler Bildung erleichtern und Fähigkeiten anerkennen (9). |
3.9 |
Die OECD hat sich der informellen Bildung intensiv in verschiedenen Untersuchungen und Projekten gewidmet (10). Noch besteht generell wenig Einvernehmen darüber, inwieweit und auf welche Weise die über die „nichtformale Bildung“ oder sogar die „informelle Bildung“ erworbenen Kenntnisse anerkannt werden müssen. Dies setzt u.a. voraus, dass andere Gruppen und Personen, wie Organisationen der Zivilgesellschaft, die Lehrbefähigung außerhalb der formalen Bildung zugesprochen und Bewertungsstandards erstellt werden, mit denen die auf diesem Wege erworbenen Kompetenzen bewertet werden können. In einigen Mitgliedstaaten hat sich die Anerkennung der auf diese Weise erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten über die Bildungsstrategien für lebenslanges Lernen entwickelt; in anderen werden Verfahren zur legalen Anerkennung dieser Kompetenzen und Fähigkeiten durch bestehende nationale Qualifikationsrahmen analysiert, was den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Der EWSA hält es für zweckmäßig, dass die EU den Stand der Dinge auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten untersucht, und empfiehlt den Austausch erfolgreicher Erfahrungen und Beispiele zwischen den Mitgliedstaaten. |
3.10 |
Ein großes Risiko, das es zu vermeiden gilt, besteht darin, diese Bildungsstrategien für Inklusion nur Armen, Immigranten und denjenigen zugänglich zu machen, die dem Schulsystem aus gleich welchen Gründen den Rücken gekehrt haben. Dies würde zu Isolation statt zu Integration und Inklusion der Beteiligten führen. Eine denkbare Alternative wäre, diese Systeme anderen Gruppen zu öffnen, die sie ggf. benötigen (11). Zudem ersetzt die nichtformale Bildung die formale Bildung nicht etwa: Dadurch, dass sie den Wert der auf diesem Wege erlangten Kenntnisse anerkennt, ergänzt sie diese insofern, als die Begünstigten dieser Maßnahmen in die Lage versetzt werden, sich - so sie dies wünschen und brauchen - in das „Curriculum“ der formalen Bildung wiedereinzugliedern. |
3.11 |
Nach Ansicht des EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, dass allen von Ausgrenzung Betroffenen eine überwiegend öffentliche (12), hochwertige Bildung zuteil wird, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet und eine menschenwürdige und gut bezahlte Arbeit ermöglicht. Ebenso wichtig ist, dass durch diese Bildung staatsbürgerliche Grundwerte, echte Gleichstellung zwischen Frauen und Männern und aktive demokratische Teilhabe vermittelt werden. Der EWSA setzt auf eine Bildung, die zur Herausbildung einer individuellen und sozialen Persönlichkeit beiträgt und nicht nur als bloße Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten erachtet wird (utilitaristisches Bildungskonzept) - eine Bildung, die offene, kritische Menschen hervorbringt, die zu einer aktiven Teilhabe an einer in zunehmendem Maße von sozialer Gerechtigkeit und politischer Reife charakterisierten Gesellschaft fähig ist. |
3.12 |
Nach Ansicht des EWSA führt die Förderung der Inklusion im Bildungswesen zu einer Steigerung der kritischen Analysefähigkeit und trägt dazu bei, die bildungsspezifischen und sozialen Gegebenheiten der Lernenden zu verbessern, damit die neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft bewältigt werden können. Die Verknüpfung von Bildung und sozialer Inklusion setzt letztendlich voraus, dass sie an die sozialen und territorialen Entwicklungsziele gekoppelt werden. Auf diese Weise wird die Bildung als Instrument zur schrittweisen Beseitigung der Armut dienen. |
3.13 |
Zusammenfassend sprechen für eine inklusive Bildung:
|
4. Besondere Bemerkungen
4.1 |
Mit dem Europäischen Jahr zur Bekämpfung der Armut werden folgende vier Zielsetzungen verfolgt: — Anerkennung: die Anerkennung des Rechts der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen auf ein Leben in Würde und auf umfassende Teilhabe an der Gesellschaft. — Identifizierung: verstärkte Identifizierung der Öffentlichkeit mit Strategien und Maßnahmen zur Förderung der sozialen Eingliederung durch Betonung der Verantwortung, die jeder Einzelne im Kampf gegen Armut und Marginalisierung trägt. — Zusammenhalt: Förderung eines stärkeren sozialen Zusammenhalts durch Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Vorteile, die für jeden mit einer Gesellschaft verbunden sind, in der es keine Armut mehr gibt und in der niemand an den Rand gedrängt wird. — Engagement: Bekräftigung des starken politischen Engagements der EU für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung und Förderung dieses Engagements auf allen Entscheidungsebenen. |
4.2 |
Kernthemen des Europäischen Jahres sind
|
4.3 |
Das Jahr 2010 ist daher in Europa eine einzigartige Gelegenheit, eine sehr breite und vielfältige Öffentlichkeit für die Armutsbekämpfung und die Rolle der Bildung bei der Armutsbeseitigung zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Ein solch ehrgeiziges Vorhaben lässt sich nur verwirklichen, wenn die Botschaft stark und eindeutig und nicht mehrdeutig und schwammig ist. Deshalb schlägt der EWSA vor, die Aktivitäten an einem zentralen Schwerpunkt zu orientieren: „Bildung für Integration: Wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung. Für ein Europa ohne soziale Ausgrenzung“. |
4.4 |
Während des ersten Halbjahres 2010 hatte Spanien den EU-Ratsvorsitz inne. Spanien hat in den vergangenen Jahren besonderes Interesse an der Armutsbekämpfung, der Beseitigung der sozialen Ausgrenzung und der inklusiven Bildung gezeigt. Das dieser Thematik gewidmete Europäische Jahr wurde unter spanischem Ratsvorsitz am 21. Januar 2010 in Madrid eröffnet. Ende Juni findet der gewöhnliche EU-Gipfel statt, bei dem Spanien turnusgemäß den Vorsitz an Belgien übergibt. Das Interesse und Engagement, das Spanien dem Thema Bildung für alle entgegenbringt, scheint eine ausgezeichnete Gelegenheit zu sein, um vielfältige Aktivitäten zu entwickeln, mit denen das Europäische Jahr lebendige Spuren hinterlässt, nämlich politische Beschlüsse, die uns dem angestrebten Ziel, nämlich der Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung, näher bringen. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Siehe Leitlinien der UNESCO zur Integration im Bildungswesen (Policy Guidelines on Inclusion in Education), Paris 2009.
(2) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000). Die EU-Mitgliedstaaten haben alle internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert, insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und die Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und über bürgerliche und politische Rechte (1966).
(3) ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 106.
(4) KOM(2009) 647 endg. vom 24.11.2009„Arbeitsdokument der Kommission - Konsultation über die künftige EU-Strategie bis 2020“.
(5) Schlüsselzahlen zum Bildungswesen in Europa 2009 (Bericht der Europäischen Kommission), http://eacea.ec.europa.eu/education/eurydice/documents/key_data_series/105DE.pdf.
(6) ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 10.
(7) ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 93.
(8) ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 74.
(9) ABl. C 151 vom 17.6.2008, S. 45 – ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 113.
(10) Z.B. „Recognition of non-formal and informal learning in OECD countries: A very good idea in jeopardy?“ Lifelong Learning in Europe, Patrick WERQUIN, Paris, 2008.
(11) OECD, Beyond Rhetoric: Adult Learning Policies and Practices, Paris, 2003, und Promoting Adult Learning, Paris, 2005.
(12) Siehe die Leitlinien der UNESCO zur Integration im Bildungswesen (Policy Guidelines on Inclusion in Education), Paris 2009.
ANHANG
zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:
Neue Ziffer 1.5
„“
Ergebnis der Abstimmung:
Ja-Stimmen |
: |
44 |
Nein-Stimmen |
: |
61 |
Stimmenthaltungen |
: |
14 |
Ziffer 3.7
„ Die nichtformale Bildung beruht sehr häufig auf nichthierarchischen und partizipativen Pädagogikformen und Arbeitsweisen. Sie ist eng verbunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für ihre Vermittlung zuständig sind. Es ist nahe liegend, dass sich die nichtformale Bildung auch aufgrund ihres Bottom-up-Ansatzes als wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erwiesen hat. Daher unterstreicht der EWSA, dass die nichtformale Bildung bei der Umsetzung der EU-2020-Strategie eine maßgebliche Rolle spielen kann.“
Ergebnis der Abstimmung:
Ja-Stimmen |
: |
37 |
Nein-Stimmen |
: |
73 |
Stimmenthaltungen |
: |
10 |
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/24 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zugang von Verbrauchern und privaten Haushalten zu Krediten: missbräuchliche Praktiken“ (Initiativstellungnahme)
2011/C 18/05
Berichterstatter: Mario CAMPLI
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
„Zugang von Verbrauchern und privaten Haushalten zu Krediten: missbräuchliche Praktiken“.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 75 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Nach Auffassung des EWSA ist die Schaffung eines einheitlichen, transparenten und umfassenden Rechtsrahmens für den Zugang zu Krediten von entscheidender Bedeutung.
1.2 Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, zu untersuchen, wie die Lücken des derzeitigen Rechtsrahmens am besten geschlossen werden können, insbesondere in Bezug auf die angebotenen Kreditprodukte, irreführende Werbung, die Transparenz der Bedingungen, Kreditvermittler, Informationsasymmetrien und die Kompetenz der betroffenen Parteien in Finanzfragen.
1.3 Der EWSA ersucht die Mitgliedstaaten, Aufsichtsbehörden für unlautere Geschäftspraktiken einzurichten, die mit spezifischen Befugnissen für das Kreditwesen ausgestattet sind.
1.4 Der EWSA empfiehlt, das europäische Schnellwarnsystem (RAPEX) auf die Vermarktung von toxischen Finanz- und Kreditprodukten in Europa auszuweiten.
1.5 Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die illegalen und/oder kriminellen Praktiken im Kreditwesen eingehender zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf räuberische Praktiken und Wucher sowie auf spezifische Initiativen im europäischen Rechtsraum.
1.6 Der EWSA empfiehlt die Festlegung einer speziellen umfassenden EU-Regelung für die verschiedenen Kategorien von Kreditvermittlern, die die entsprechenden Definitionen, Anforderungen und Verhaltensregeln enthält, unabhängig von dem vermarkteten Produkt und unabhängig davon, ob die Kreditvermittlung als Haupt- oder Nebentätigkeit ausgeübt wird.
1.7 Der Ausschuss empfiehlt eine spezielle Regelung für die Überwachung der Tätigkeiten, Praktiken und Verhaltensweisen derjenigen, die die Vermittlungstätigkeit zusätzlich zu anderen Geschäftstätigkeiten ausüben, wie beispielsweise gewerbliche Händler.
1.8 Der EWSA dringt darauf, die Anforderungen für die Registrierung der verschiedenen Finanz- und Kreditintermediäre in einem Netzwerk nationaler Register auf der Grundlage europäischer Tätigkeitsstandards hinsichtlich Professionalität, Gewährleistung der Aufsicht und Ethik festzulegen, einschließlich gemeinschaftlicher Regeln für die Löschung von Akteuren, die die Verbraucher durch missbräuchliche oder illegale Praktiken schädigen.
1.9 Nach Auffassung des EWSA muss die Möglichkeit geprüft werden, die Gemeinschaftsvorschriften über die Haftung, wie sie in der Richtlinie 85/374/EWG und den folgenden Änderungen vorgesehen sind, mit den geeigneten Änderungen und Anpassungen auf Finanz- und Kreditprodukte auszuweiten.
1.10 Der EWSA empfiehlt die Einführung einer angemessenen Palette von „zertifizierten“ oder „standardisierten“ Kreditprodukten als Ergänzung zu dem bereits bestehenden Angebot auf dem europäischen Markt, um bei den angebotenen Verbraucherkrediten sowohl hinsichtlich der Praktiken als auch der Produkte mehr Transparenz und einen gesunden Wettbewerb zu fördern.
1.11 Der EWSA hält es für unverzichtbar, eine europäische Kampagne für die Information und Schulung der Verbraucher, ihrer Verbände und der sie unterstützenden Berufsgruppen über die Verbraucherrechte im Bereich Kredite und Finanzdienstleistungen durchzuführen und die europäischen Netzwerke für die gerichtliche und außergerichtliche Streitbeilegung (Alternative Dispute Resolution - ADR (alternative Streitbeilegung)) (1) zu stärken.
1.12 Nach Auffassung des EWSA ist es wichtig, in Abstimmung mit den Behörden zivilgesellschaftliche Netzwerke auf- und auszubauen, um Situationen von sozialer Ausgrenzung und Armut im Zusammenhang mit Krediten und Überschuldung zu untersuchen und zu überwachen und in derartigen Fällen Unterstützung zu leisten.
1.13 Der EWSA empfiehlt insbesondere die Einführung gemeinsamer europäischer Verfahren für die Behandlung von Überschuldung, die auch die Grundlage für öffentliche Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für die betroffenen Personen bilden müssen.
1.14 Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission in einer offiziellen Studie die Möglichkeiten und Modalitäten für die Einführung umfassender europäischer Bestimmungen über Wucher prüfen und geeignete gemeinsame Grundsätze und Grundlagen für die Festsetzung einer europaweit anzuwendenden Spanne von Zinssätzen ausarbeiten, die als Wucher zu betrachten sind.
1.15 Der EWSA empfiehlt die Einführung gemeinsamer Verfahren zur Förderung nationaler Systeme für die Bekämpfung von Wucher, die auf der Grundlage eines europäischen Rechtsrahmens koordiniert werden.
1.16 Der EWSA fordert, die Ausgabe von Kreditkarten strengen gemeinschaftlichen Regeln zu unterwerfen, um räuberische und zu Überschuldung animierende Praktiken zu unterbinden, und Vereinbarungen zwischen den Inhabern und Anbietern von Kreditkarten über den Kreditrahmen zwingend vorzuschreiben.
1.17 Die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften müssen EU-weit einen umfassenden und transparenten Schutz im Hinblick auf die Verwendung der von den Kunden übermittelten Daten gewährleisten, insbesondere bei Geschäftsbeziehungen über das Internet.
1.18 Da die Verbraucherinformation und Verbrauchererziehung, auch mit auf der schulischen Grundbildung aufbauenden Bildungsformen und -praktiken, nach Auffassung des EWSA von strategischer Bedeutung sind, empfiehlt er die Förderung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen im Bereich transparente und verständliche Information.
1.19 Der EWSA empfiehlt schließlich, den Termin für die Überprüfung der Wirksamkeit der Richtlinie 2008/48/EG (die erstmals am 12. Juni 2013 stattfinden soll) vorzuziehen und die Überprüfungsintervalle von fünf auf drei Jahre zu verkürzen.
2. Einleitung
2.1 Angesichts der weltweiten Finanzkrise lag der Schwerpunkt der Überlegungen zunächst auf der Frage, wie auf den Finanzmärkten wieder Stabilität und Liquidität hergestellt werden kann, und dann auf den Möglichkeiten, ihre Stabilität zu verbessern und ihre Regelungsstruktur zu erneuern, um in Zukunft neuerliches Marktversagen zu vermeiden.
2.2 Die entsprechenden Maßnahmen sind zwar im Gange und müssen intensiviert werden, aber nach Überzeugung des EWSA müssen jetzt sämtliche Energien auf das Ziel verwandt werden, das Vertrauen der Unionsbürger in das Finanzsystem wiederherzustellen und sie bezüglich der verschiedenen Formen des Kreditzugangs zu beruhigen.
2.3 Die Finanzkrise hat eine Wirtschaftskrise nach sich gezogen, die jetzt zu erheblichem Arbeitsplatzverlust und zu einem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit sowie des Pro-Kopf- und Haushaltseinkommens führt.
2.4 Vor diesem Hintergrund war auch eine Ausbreitung von sozialer und finanzieller Ausgrenzung und Armut (2) zu beobachten.
2.5 Kredite sind ein wichtiges Instrument, das es den Verbrauchern und privaten Haushalten ermöglicht, die für ein normales und geregeltes Leben unverzichtbaren Ausgaben zu bestreiten. Für die soziale Eingliederung ist der Zugang zu erschwinglichen Krediten daher von grundlegender Bedeutung.
2.6 Kredite dürfen jedoch nicht als Ersatz für das Einkommen der Verbraucher und privaten Haushalte oder als Einkommensergänzung betrachtet oder gefördert werden.
2.7 Die größte Herausforderung für die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik besteht darin, den verantwortungsvollen Zugang zu Krediten sicherzustellen, ohne eine Abhängigkeitssituation zu schaffen.
2.8 Um dieses Ziel zu erreichen, muss ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der darauf abzielt, jegliche unverantwortliche Kreditvergabe und Kreditaufnahme und jegliche Form der asymmetrischen Information zwischen Kreditgebern und Verbrauchern zu verhindern.
3. Gegenstand der Stellungnahme
3.1 In dieser Stellungnahme wird auf missbräuchliche Praktiken im Rahmen des Kreditangebots sowie auf rechtswidrige Situationen eingegangen, die für die Verbraucher zu einer Verschärfung der sozialen Ausgrenzung und Armut beitragen. Es geht nicht um spezifische Fragen, die in anderen Stellungnahmen des EWSA behandelt werden.
3.2 In der Stellungnahme soll jedoch der gegenwärtige Rechtsrahmen untersucht werden, um bestehende Lücken auszumachen, die Missbrauch ermöglichen, und um den europäischen und nationalen Behörden Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Außerdem sollen in dieser Stellungnahme auch missbräuchliche und rechtswidrige Praktiken ermittelt werden, die derzeit nicht unter diesen Rechtsrahmen fallen; hierbei handelt es sich um nicht sehr bekannte und schwer zu beseitigende Praktiken, die in engem Zusammenhang mit Missbrauch stehen und häufig dessen Folge sind. Darüber hinaus soll in der Stellungnahme aufgezeigt werden, welche Rolle die Zivilgesellschaft bei der Lösung der festgestellten Probleme spielen kann.
3.3 Die Kommission bekräftigte unlängst in einer öffentlichen Anhörung (3): „Die Finanzkrise hat gezeigt, welchen Schaden eine verantwortungslose Kreditvergabe und -aufnahme bei Verbrauchern, Kreditgebern, Finanzsystem und der Wirtschaft insgesamt anrichten kann. Wir sind deshalb entschlossen, aus möglichen Fehlern zu lernen und so zu gewährleisten, dass bei der Kreditvergabe und -aufnahme verantwortungsvoll gehandelt wird“, so Binnenmarkt- und Dienstleistungskommissar Charlie McCreevy. Bei der gleichen Gelegenheit präzisierte die Kommission, es sei ihre Pflicht, den Menschen die Augen über die mangelhaften Mechanismen zu öffnen, die zu der verantwortungslosen Kreditvergabe und -aufnahme geführt haben, die zahlreiche Unionsbürger finanziell schädigen (Verbraucherschutzkommissarin Meglena Kuneva).
3.4 Das Ziel der Stellungnahme besteht daher letztendlich darin, das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern und zu bewerten, ob und welche Lösungen auf Gemeinschaftsebene vorgeschlagen werden könnten und welche den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben könnten, allerdings innerhalb eines gemeinsamen Rahmens. Nach Ansicht des EWSA müssen Probleme mit supranationaler Dimension auch auf dieser Ebene angegangen, um eine Fragmentierung des Binnenmarktes zu vermeiden.
4. Gegenwärtiger Rechtsrahmen: Lücken und Handlungsoptionen
4.1 Die wichtigste europäische Rechtsvorschrift über Verbraucherkreditverträge ist die Richtlinie 2008/48/EG (Verbraucherkredit-Richtlinie). Diese Richtlinie ist eine Maßnahme zur Maximalharmonisierung: Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten keine abweichenden nationalen Rechtsvorschriften beibehalten oder einführen dürfen, selbst wenn ihre Verbraucher dadurch besser geschützt würden. In der Richtlinie ist der allgemeine Rahmen der Rechte der Verbraucher im Bereich des Verbraucherkredits festgelegt, sie gilt aber nicht für den Hypothekarkredit.
4.2 Ergänzend dazu wird mit der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern ein allgemeiner Rahmen von Definitionen und Sanktionen für derartige Praktiken geschaffen. In Bezug auf die „Finanzdienstleistungen“ bedeutet diese Richtlinie eine Mindestharmonisierung, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, restriktivere oder strengere Vorschriften zum Schutz ihrer Verbraucher einzuführen.
4.3 Für den Hypothekarkredit gibt es keine europäische Regelung, die nationalen Rechtsvorschriften weichen in Abhängigkeit von den kulturellen Unterschieden und den unterschiedlichen heimischen Märkten voneinander ab. Es gibt jedoch einen EU-weiten Verhaltenskodex über die vorvertraglichen Informationspflichten gegenüber den Verbrauchern sowie ein Europäisches Standardisiertes Merkblatt (ESIS). Dieser Verhaltenskodex ist jedoch lediglich ein freiwilliges Instrument, das nur sehr beschränkt zur Anwendung kommt.
4.4 Der EWSA erkennt an, dass die gegenwärtigen Regelungen eine Reihe von Lösungen zur Bekämpfung von missbräuchlichen Verhaltensweisen bei der Kreditgewährung ermöglichen. Es müssen jedoch noch erhebliche Lücken auf europäischer Ebene geschlossen werden. Außerdem muss seitens der nationalen und europäischen Behörden noch viel getan werden - auch hinsichtlich der Umsetzung und der Sanktionsregelungen.
4.5 Der EWSA weist allerdings darauf hin, dass das enorme Ausmaß der Finanzkrise auch auf den wirtschaftlichen Druck zurückzuführen ist, der auf den Beschäftigten im Kredit- und Finanzgewerbe lastete. Das Bestreben, unabhängig davon, ob die Produkte dem Verbraucherprofil entsprachen, immer höhere Verkaufsziele zu erreichen, hat dazu geführt, dass toxische Produkte in die Wertpapierbestände der Unternehmen und Verbraucher und in einigen Fällen auch der Kommunen gelangten.
4.6 Der EWSA ist der Auffassung, dass dieses Phänomen auch auf die Anreiz- und Bonus-Systeme für Topmanager zurückzuführen ist, deren Bezüge teilweise unverhältnismäßig gestiegen sind. Das Verhältnis zwischen dem Jahresgehalt eines abhängig Beschäftigten und dem eines CEO eines der großen Finanzinstitute beträgt mittlerweile 1 zu 400. Trotz aller Bemühungen und feierlichen Erklärungen der EU-Staats- und Regierungschefs sind nach Ansicht des EWSA noch keine wirksamen und konkreten Maßnahmen zur Bewältigung dieser Probleme zu verzeichnen.
4.7 Vor allem ist im gegenwärtigen Rechtsrahmen für Kreditverträge keine Verpflichtung zur Abstimmung des Angebots auf die Bedürfnisse der Verbraucher vorgesehen. Die Richtlinie 2008/48/EG (Artikel 8) enthält begrüßenswerterweise die Verpflichtung, die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers zu beurteilen. In Artikel 5 Absatz 6 ist lediglich festgelegt, dass Kreditgeber dem Verbraucher angemessene Erläuterungen geben, gegebenenfalls durch Erläuterung der vorvertraglichen Informationen, der Hauptmerkmale der angebotenen Produkte und der möglichen spezifischen Auswirkungen der Produkte auf den Verbraucher, damit der Verbraucher beurteilen kann, ob der vorgeschlagene Kreditvertrag für ihn geeignet ist. Die Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum bei der praktischen Anwendung ein, enthält aber keine Bestimmung über die Anpassung des Produkts an die Erfordernisse.
4.8 Dieses Fehlen entsprechender Regelungen hat Missbrauch in der Form ermöglicht, dass die Produkte, die den Verbrauchern angeboten werden, mitunter für deren Bedürfnisse ungeeignet sind. Dies ist der Fall, wenn ihnen nur eine einzige Art von Kredit oder wahllos Kredit- bzw. Debitkarten für den Kauf von Produkten in bestimmten Warenhäusern angeboten werden (gewerbliche Händler).
4.9 Der EWSA unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass eine deutliche Trennung zwischen dem Angebot einer Kreditkarte und dem Angebot von kommerziellen Produkten oder damit verbundenen Anreizen eingehalten werden muss.
4.10 In Bezug auf Werbeinformationen wird darauf hingewiesen, dass die derzeitigen Regelungen zwar Verpflichtungen hinsichtlich der für den Abschluss von Kreditverträgen notwendigen Standardinformationen enthalten (Richtlinie 2008/48/EG Art. 4 ff.), jedoch keine spezifischen Verpflichtungen in Bezug auf irreführende und aggressive oder in jedem Fall zu Überschuldung verleitende Geschäftspraktiken enthalten (4).
4.11 Der EWSA ist sich dessen bewusst, dass es in einer Marktwirtschaft Sache des Marktes wäre, in quantitativer und qualitativer Hinsicht ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu finden. Wird jedoch in Bezug auf die Fähigkeit, geeignete Lösungen zu finden, ein Versagen des Marktes festgestellt, müssen diejenigen öffentlichen Instanzen eingreifen, die für ein angemessenes Reagieren auf soziale Bedürfnisse verantwortlich sind.
4.12 Eine mögliche Lösung könnte nach Auffassung des Ausschusses die Einführung einer angemessenen Palette von „zertifizierten“ oder „standardisierten“ Kreditprodukten auf dem europäischen Markt sein. Derartige Produkte könnten das bereits bestehende Angebot ergänzen. Die Verbraucher könnten so leichter ein geeignetes und besser auf ihre Bedürfnisse abgestimmtes Produkt finden (5).
4.13 Der EWSA erachtet es daher für notwendig, dass die Kommission die Rechts- und Verfahrensgrundlagen vertieft, um mittels „zertifizierter“ oder „standardisierter“ Produkte auf dem europäischen Markt mehr Transparenz zu schaffen und ein europäisches Schnellwarnsystem für die Überwachung der Vermarktung von toxischen Finanz- und Kreditprodukten einzuführen.
4.14 Andererseits müssten die Frage der Verantwortlichkeit der Kreditgeber vertieft werden, um die Vermarktung von Produkten einzudämmen, die für die Bedürfnisse der Verbraucher ungeeignet sind. Hierzu ist es notwendig, gemeinsame Verfahren für die Behandlung von Überschuldung auf europäischer Ebene einzuführen, die auch die Grundlage für die Durchführung öffentlicher Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für diejenigen bilden müssen, die auch aufgrund missbräuchlicher Praktiken der Anbieter von Überschuldung betroffen sind.
4.15 Ein weiterer Sachverhalt, der im EU-Recht nicht geregelt ist, ist Wucher. In einigen Mitgliedstaaten (Spanien, Frankreich, Italien, Portugal) gibt es Rechtsvorschriften über Wucher, jedoch nicht in allen.
4.16 Untersuchungen neueren Datums (6) zeigen überdies, dass sich Rechtsvorschriften über Wucher bei der Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut sowie im Kampf gegen missbräuchliche Praktiken positiv auswirken können.
4.17 Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission in einer offiziellen Studie die Möglichkeiten und Modalitäten für die Einführung umfassender europäischer Bestimmungen über Wucher prüfen. Insbesondere sollten seiner Meinung nach geeignete gemeinsame Grundsätze und Grundlagen für die Festsetzung einer europaweit anzuwendenden Spanne von Zinssätzen ausgearbeitet werden, die als Wucher zu betrachten sind.
4.18 Der EWSA erachtet es für sinnvoll, aufbauend auf den mehrjährigen Erfahrungen einiger Mitgliedstaaten einen europäischen Rechtsrahmen zur Förderung nationaler Systeme für die Bekämpfung von Wucher und die Unterstützung der durch Wucher Geschädigten zu schaffen.
4.19 Der Ausschuss stellt fest, dass missbräuchliche Praktiken im Kreditwesen am häufigsten zwischen Kreditvermittlern und Verbrauchern zu beobachten sind.
4.20 Das EP hat in diesem Zusammenhang einen gemeinschaftlichen Rahmen (7) zur Präzisierung und Harmonisierung der Rechte und Pflichten von Kreditvermittlern nach dem Prinzip „Gleiches Geschäft, gleiche Risiken, gleiche Regeln“ gefordert, um den Verbraucherschutz zu gewährleisten und undurchsichtige Praktiken zu unterbinden, die besonders benachteiligten Verbrauchergruppen schaden. Der EWSA ist mit diesem Ansatz einverstanden, da dies seiner Meinung dazu beiträgt, den Angebotsmarkt zu säubern und Missbrauch sowie unverantwortliche Kreditvermittlung und die kriminellen Machenschaften von „Kredithaien“ stärker zu bekämpfen.
4.21 Nach Auffassung des EWSA könnten Transparenz, Zuverlässigkeit und Professionalität durch die Einrichtung eines Registers für Kreditvermittler gewährleistet werden; es sollten verbindliche Kriterien für die Registrierung gelten, mit Kontrolle durch Gremien, denen Vertreter der Berufsverbände der Banken und der Kreditvermittler / Finanzintermediäre sowie der Verbraucherverbände angehören unter der Überwachung durch die Aufsichtsbehörden, sowie Angabe der Gründe für die Aussetzung, Streichung bzw. Löschung und die gesamtschuldnerische Haftung bei von einem Strafgericht nachgewiesenen Schädigungen.
4.22 Praktiken wie Kreditvergabe per SMS an Jugendliche, „problemlose“ Kredite per Telefon, Kredite im Vorgriff auf Einnahmen oder wahllos angebotene Kredit- bzw. Debitkarten sind Kennzeichen des Missbrauchs, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Bei derartigen Sachverhalten bietet die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken verschiedene Lösungsmöglichkeiten für die Probleme im Zusammenhang mit der unverantwortlichen Kreditvergabe, die entsprechend angepasst auch in die Rechtsvorschriften über Verbraucherkreditverträge aufgenommen werden könnten.
4.22.1 Der EWSA fordert, die Anbieter von Kreditkarten strengen Regeln (Werbeangebote, Obergrenzen für die Gesamtverschuldung, Alter potenzieller Karteninhaber, transparente Kontoauszüge) zu unterwerfen, um räuberische und zu Überschuldung animierende Praktiken zu unterbinden.
4.22.2 Insbesondere sollte der Kreditrahmen für die Kreditkarten im Einvernehmen mit dem Karteninhaber festgelegt werden. Jede spätere Anhebung derartiger Höchstbeträge sollte nur aufgrund einer ausdrücklichen Vereinbarung zwischen dem Inhaber und dem Anbieter der Kreditkarte möglich sein.
4.23 Um wirksam zu sein, müssen die Rechtsvorschriften jedoch erheblich strikter angewandt werden (8). Der EWSA empfiehlt angesichts der neuen Sachlage infolge der weltweiten Finanzkrise, den Termin für die Überprüfung der Wirksamkeit der Richtlinie 2008/48/EG (die erstmals am 12. Juni 2013 stattfinden soll) vorzuziehen und die Überprüfungsintervalle von fünf auf drei Jahre zu verkürzen. Insbesondere in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken bei Kreditangeboten hält es der EWSA für wichtig, auf Ebene der Mitgliedstaaten Marktaufsichtsbehörden mit angemessenen Kompetenzen und technischen Ressourcen speziell für den Kreditbereich einzurichten.
4.23.1 Der EWSA fordert insbesondere einen verstärkten rechtlichen Rahmen, um einen umfassenden und transparenten Schutz im Hinblick auf die Verwendung der von den Kunden übermittelten Daten zu gewährleisten, insbesondere bei Geschäftsbeziehungen über Internet und E-Mail.
4.24 Nach Ansicht des EWSA sollte für den Hypothekarkredit die Möglichkeit geprüft werden, die obligatorische Anwendung des Europäischen Standardisierten Merkblattes (ESIS) und der Angabe der Zinssätze nach dem Vorbild der Richtlinie über Verbraucherkredite auf die Vermittler von Hypothekarkrediten auszuweiten, allerdings mit den in seinen früheren Stellungnahmen empfohlenen Schutzmechanismen (9); dies würde eine stärkere Integration des europäischen Hypothekarkreditmarktes und einen umfassenden Schutz der Verbraucher und der Haushalte ermöglichen.
4.25 In Bezug auf die Beratung bei Verbraucherkrediten spricht sich der EWSA für die Unterstützung der Organisationen der Zivilgesellschaft - und insbesondere der Verbraucherschutzorganisationen - bei der Entwicklung von Beratungstätigkeiten aus, damit Kreditnehmer eine objektive, transparente und professionelle Auskunft darüber einholen können, ob die angebotenen Produkte ihren spezifischen Erfordernissen entsprechen.
4.26 Der EWSA unterstreicht, dass die Kreditberatungstätigkeit gesetzlich geregelt werden sollte, um insbesondere ein hohes Maß an Transparenz und Unabhängigkeit der Kreditgeber und der Vermittler sicherzustellen.
4.27 Um all diese Probleme zu bewältigen ist es nach Auffassung des EWSA notwendig, auf Ebene der Europäischen Union einen gemeinsamen, ausgewogenen und einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen, dessen Grundsätze und Bestimmungen für alle Kreditprodukte gelten.
5. Missbräuchliche und/oder illegale Praktiken im Kreditwesen
5.1 Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die verschiedenen Probleme gleichzeitig angegangen werden müssen bei diesem Moloch, der sich hinter Briefkastenfirmen im Vermittlungs- und Finanzdienstleistungsbereich verbirgt und in räuberischen Praktiken und Wucher in Verbindung mit kriminellen Zinspraktiken und Formen der Erpressung zum Ausdruck kommt. Hierzu zählen folgende Praktiken, wobei die Aufstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:
— |
regelwidrige Kredite an Verbraucher und Haushalte, deren finanzielle Schwierigkeiten die Grenzen einer vertretbaren Verschuldung überschritten haben; |
— |
Kredite mit dem Zweck der Beraubung des Kunden wie z.B. Wucher, die für kriminelle Organisationen charakteristisch sind. |
5.2 Der regelwidrige Kredit kann verschiedene Formen annehmen:
— |
nicht registrierte Vorschüsse in bar oder in Form sonstiger Leistungen, wobei die Liquiditätsspielräume des Einzelnen so weit wie möglich ausgenutzt und sie mit solchen Vorschüssen möglichst lange hingehalten werden; |
— |
regelwidrige Finanzierungsformen, bei denen sich der Gewinn des Kreditgebers aus der Nichteinhaltung der Verhaltenskodizes, der Anwendung schikanöser Klauseln, der mangelnden Transparenz der Bedingungen sowie einem immer höheren Druck hinsichtlich der geforderten Sicherheiten ergeben; |
— |
Darlehen, die typischerweise in rechtswidriger Ausübung einer bankenähnlichen Tätigkeit vergeben werden; |
— |
eindeutige Wucherkredite in verschiedenen kriminellen Ausprägungen und verschiedenen Zusammenhängen. |
5.3 Nach Auffassung des EWSA ist das Wachstumspotenzial bei regelwidrigen Krediten darauf zurückzuführen, dass viele Haushalte und Verbraucher vom regulären Kreditmarkt ausgeschlossen sind, und zwar auch deswegen, weil sie durch unverantwortliche Kreditvergabe in eine Situation der Abhängigkeit und extremen Gefährdung geraten sind.
5.4 Der EWSA erkennt an, dass die Probleme im Zusammenhang mit den niedrigen Einkommen der Haushalte und den verschiedenen Konsumanreizen - die u.a. mit für die Anfälligkeit von Verbrauchern und Haushalten für illegale Kreditpraktiken und informelle Geldmärkte verantwortlich sind - nicht allein durch Rechtsvorschriften im Kreditwesen gelöst werden können.
5.5 Missbräuchliche und/oder illegale Praktiken im Kreditwesen sind im Übrigen sehr häufig strafrechtlich relevant und sollten daher Gegenstand spezifischer strafrechtlicher Initiativen im europäischen Rechtsraum sein, die von den Polizeibehörden durchgesetzt werden. Durch die volle und EU-weite Vollstreckbarkeit nationaler Urteile zur Beschlagnahmung von aus Wucher oder krimineller Erpressung stammenden Gütern könnte ein erheblicher Beitrag zur Bekämpfung derartiger Praktiken geleistet werden (10).
5.6 Der Ausschuss weist darauf hin, dass diesbezüglich keine ausreichenden Daten für alle Unionsgebiete vorliegen, um derartige Phänomene auf europäischer Ebene unter allen qualitativen und quantitativen Aspekten erfassen zu können, und schlägt daher vor, dass die Kommission diese gemeinsam mit den Mitgliedstaaten detailliert auf der Grundlage vergleichbarer Daten analysiert.
6. Die Rolle der Zivilgesellschaft
6.1 Der Zivilgesellschaft - vor allem Verbraucherschutzorganisationen und Wohltätigkeitsverbänden - kommt bei der Feststellung, Untersuchung und Überwachung der Probleme im Zusammenhang mit der missbräuchlichen und/oder illegalen Kreditvergabe an Verbraucher und Haushalte eine wichtige Rolle zu.
6.2 Nach Auffassung des EWSA ist es daher wichtig, in Abstimmung mit den Behörden zivilgesellschaftliche Netzwerke auf- und auszubauen, um die soziale Ausgrenzung und Armut im Zusammenhang mit Krediten und Überschuldung zu untersuchen und zu überwachen und in derartigen Fällen Unterstützung zu leisten. Derartige Netzwerke spielen eine wichtige Rolle beim Austausch von Informationen und bewährten Praktiken, auch in Verbindung mit der harmonisierten Methodik für Verbraucherbeschwerden.
6.3 Der Ausschuss stellt fest, dass in diesem Bereich bereits bewährte Praktiken existieren, wie z.B. der „begleitete Sozialkredit“ oder das europäische Netzwerk für finanzielle Integration „EFIN“, die unionsweit gefördert und verbreitet werden müssten.
6.4 Die Verbraucherinformation und Verbrauchererziehung, auch mit auf der schulischen Grundbildung aufbauenden Bildungsformen und -praktiken, ist nach Auffassung des EWSA ein Bereich, in dem die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft mit ihren Initiativen hervorragende Arbeit leisten können (11). Dies sind wichtige Maßnahmen, um auf europäischer Ebene die Kompetenz in Finanzfragen unionsweit zu fördern.
6.5 Der EWSA hält es für wichtig, derartige Initiativen zu fördern und auszubauen, betont allerdings, dass die Information über die Produkte Aufgabe der Kreditgeber und die Verbrauchererziehung Aufgabe der Behörden ist. Überdies ist der EWSA der Auffassung, dass die Initiativen der Zivilgesellschaft im Bereich transparente und verständlicher Verbraucherinformation und Verbrauchererziehung nur dann greifen können, wenn sie einen einheitlichen und umfassenden Rechtsrahmen ergänzen.
6.6 In der öffentlichen Anhörung, die der EWSA am 28. Januar 2010 in Brüssel mit einschlägigen Vertretern der Zivilgesellschaft auf nationaler und europäischer Ebene organisiert hat, wurde die Notwendigkeit unterstrichen, dass für missbräuchliche und/oder illegalen Praktiken die europäische Ebene zuständig sein muss, sowohl in Bezug auf die rechtliche Regelung als auch die Unterstützung der Opfer und die Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen für alle betroffenen Parteien.
6.7 Um eine soziale Marktwirtschaft im Kreditwesen zu stimulieren, ist nach Ansicht des EWSA der Auf- und Ausbau sozialwirtschaftlicher Unternehmen wie Genossenschaften erforderlich (12). Die staatlichen Stellen sind dafür verantwortlich, die Gründung und die Tätigkeit derartiger Unternehmen zu unterstützen und zu fördern (13).
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) FIN-NET-System (Streitbeilegungs-Netzwerk für den Finanzdienstleistungssektor).
(2) Siehe „Zweite gemeinsame Bewertung des Ausschusses für Sozialschutz und der Europäischen Kommission hinsichtlich der sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der ergriffenen politischen Maßnahmen“ - SPC/2009/11/13 FINAL; Eurobarometer-Umfrage zu Armut und Ausgrenzung - 2010, Europäisches Jahr der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung; Mitteilung der Kommission - Vorschlag für den Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010 - http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=757&langId=de.
(3) Öffentliche Anhörung zum Thema „Verantwortungsvolle Kreditvergabe und -aufnahme“, Brüssel, 3. September 2009.
(4) Brauchbare Definitionen für „irreführende Handlungen“ (Artikel 6) und „aggressive Geschäftspraktiken“ (Artikel 8) finden sich hingegen in der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern.
(5) Siehe hierzu: ISO 22222 (Private Finanzplanung - 2005); UNI-ISO (Pianificazione finanziaria, economica e patrimoniale personale - Private Finanz-, Wirtschafts- und Vermögensplanung - 2008); AENOR - UNE 165001 (Etica. Requisitos de los productos financieros socialmente responsables - Anforderungen an sozial verantwortliche Finanzprodukte - 2009); siehe auch ECO/266 - Sozial verantwortliche Finanzprodukte.
(6) Siehe „Usura“ (Wucher)-– Schlussbericht des Osservatorio socio-economico sulla criminalità, CNEL - Rom 2008.
(7) Entschließung des EP vom 5. Juni 2008 - Wettbewerb: Untersuchung des Retail-Bankgeschäfts.
(8) Die Mitgliedstaaten erlassen bis spätestens zum 12. Juni 2010 die Vorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen.
(9) ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 18 und ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 13.
(10) „Angesichts nunmehr globaler Phänomene können die Regierungen und Institutionen auch weiterhin die Augen verschließen oder Maßnahmen in Erwägung ziehen, die auf nationale Dimensionen beschränkt sind. Würde jedoch nur der Impuls zur Kenntnis genommen, den die Suche nach Flüchtigen durch den ‚Europäischen Haftbefehl‘ erhält, so würde man kohärent und zügig den Weg der Festlegung eines gemeinsamen ermittlerischen und rechtlichen Instrumentariums und eines von allen Staaten mitgetragenen Mindeststrafrechts verfolgen, ausgehend von der Entschädigung der Opfer der Straftat einer mafiösen Vereinigung“ (F. Forgione „Mafia Export“, 2009, Mailand; Anm. d. Übers.: liegt nur auf Italienisch vor).
(11) UNI (Vorschlag für eine Norm für die Vermittlung von Finanzwissen an die Bürger - Anforderungen an die Dienstleistung), Januar 2010.
(12) Siehe „Resilience of the Cooperative Business Model in Times of Crisis“, ILO 2009.
(13) Siehe ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/30 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Satzung der Europäischen Stiftung“ (Initiativstellungnahme)
2011/C 18/06
Berichterstatterin: Mall HELLAM
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
„Satzung der Europäischen Stiftung“.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 30. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 134 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:
1. Allgemeine Empfehlungen und Schlussfolgerungen
1.1 In dieser Initiativstellungnahme werden einige Überlegungen und Vorschläge zur Erarbeitung einer Satzung der Europäischen Stiftung unterbreitet. Außerdem werden Leitlinien vorgeschlagen, an denen sich eine solche Satzung orientieren könnte.
1.2 Bei Betrachtung der bestehenden Erfordernisse und Möglichkeiten wird klar, dass im europäischen Gesellschaftsrecht ein geeignetes Rechtsinstrument für Stiftungen erforderlich ist, um diesen die Tätigkeit im Binnenmarkt zu erleichtern. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie (1) und nach Angaben von Experten aus dem Stiftungssektor (2) ist die Zahl der an grenzüberschreitenden Geschäften und Kooperationen interessierten Stiftungen und Stiftern innerhalb des letzten Jahrzehnts stark angestiegen. Ebenso wird gezeigt, dass grenzüberschreitend arbeitende Stiftungen mit z.B. rechtlichen Hindernissen konfrontiert sind. Dies führt zu erhöhten Transaktionskosten, wodurch die für gemeinnützige Tätigkeiten zur Verfügung stehenden Mittel geschmälert werden.
1.3 Sowohl vom Stiftungssektor als auch von seinen auf EU-Ebene tätigen Verbänden und Netzen (3) wurde bereits mehrfach eine Satzung der Europäischen Stiftung gefordert, da diese das kosteneffizienteste Mittel zur Bewältigung grenzüberschreitender Hindernisse und damit zur Förderung europaweiter Stiftungsaktivitäten darstellt.
1.4 Vor diesem Hintergrund fordert der EWSA die Kommission dazu auf, zur Förderung der Arbeit gemeinnütziger Stiftungen einen Vorschlag für eine Verordnung über die Satzung der Europäischen Stiftung auszuarbeiten und diesen dem Rat und dem Europäischen Parlament zur Verabschiedung zum gegebenen Zeitpunkt vorzulegen.
1.5 Nach Ansicht des EWSA ist die Satzung der Europäischen Stiftung ein wesentlicher Beitrag dazu, die Bürger in den Mittelpunkt des Binnenmarktes zu rücken und Europa bürgernäher zu machen.
1.6 Nach Auffassung des EWSA könnte die Satzung der Europäischen Stiftung als neuer Mechanismus dienen, um das europäische Gemeinwohl zu fördern und Bürgeraktivitäten zu unterstützen. Ebenso könnten durch die Stiftungsatzung wichtige sozioökonomische Probleme und dringende Fragen Europas angegangen werden, beispielsweise in den Bereichen Wissen und Innovation, medizinische Forschung, Gesundheitsversorgung und Sozialdienste, Umwelt und Regionalentwicklung, Beschäftigung und berufliche Bildung, Erhalt des Natur- und Kulturerbes, Förderung der Kunst und der kulturellen Vielfalt, internationale Kooperation und Entwicklung.
1.7 Eine effiziente und attraktive Satzung muss im Bezug auf Gründung, Tätigkeiten und Aufsicht klare und ausführliche Regeln enthalten und eine wirkliche europäische Dimension erreichen. Sie bietet ein effizientes Managementinstrument für gemeinnützige Zwecke und ein anerkanntes europäisches Qualitätszeichen und erleichtert damit grenzüberschreitende Tätigkeiten, Spenden und Kooperationen.
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1 Anwendungsbereich und institutioneller Hintergrund
2.1.1 |
Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es, die Möglichkeiten der Ausarbeitung einer Satzung für die Europäische Stiftung zu untersuchen. Diese soll es den zunehmend grenzüberschreitend tätigen Stiftungen und Stiftern mit ermöglichen, zivil- und auch steuerrechtliche Hürden zu überwinden. Außerdem erhält die Gründung neuer Stiftungen durch diese Stiftungssatzung von Beginn an eine europäische Dimension. |
2.1.2 |
Im November 2009 veröffentlichte die Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen der Europäischen Kommission die Ergebnisse einer öffentlichen Anhörung (4) zum Thema „Satzung der Europäischen Stiftung“. Die zahlreichen Antworten, insbesondere aus dem gemeinnützigen Sektor, ließen die starke Unterstützung dieses Bereichs für eine Satzung der Europäischen Stiftung erkennen. |
2.1.3 |
Im Februar 2009 legte die Europäische Kommission eine Durchführbarkeitsstudie zur Satzung der Europäischen Stiftung (5) vor. Die Studie veranschaulicht den möglichen Nutzen einer solchen Stiftungssatzung im Hinblick auf den Abbau bzw. die Vermeidung unnötiger Kosten und Verwaltungslasten, wodurch es interessierten Stiftungen erleichtert wird, ihre Aktivitäten in der EU länderübergreifend auszuüben. |
2.1.4 |
Im Bezug auf die Satzung der Europäischen Stiftung existieren zwei weitere Empfehlungen:
|
2.1.5 |
Am 4. Juli 2006 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung zu den Entwicklungen und Perspektiven des Gesellschaftsrechts (8), in der die Kommission dazu aufgefordert wird, die Arbeiten an gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften für andere Rechtsformen, wie beispielsweise die Europäische Stiftung, fortzuführen |
2.1.6 |
In einer 2009 verabschiedeten Stellungnahme zum Thema „Unterschiedliche Unternehmensformen“ (9) begrüßt der EWSA den Beginn der Arbeiten an einer Satzung der Europäischen Stiftung und fordert die Kommission dazu auf, die Folgenabschätzung bis Anfang 2010 abzuschließen und einen Vorschlag für eine Verordnung vorzulegen, die es den betreffenden europäischen Stiftungen ermöglicht, unter den gleichen Voraussetzungen im Binnenmarkt tätig zu sein. |
2.1.7 |
2006 entschied der Europäische Gerichtshof (10), dass die unterschiedliche steuerliche Behandlung gebietsansässiger und gebietsfremder gemeinnütziger Stiftungen eine ungerechtfertigte Verletzung des freien Kapitalverkehrs darstellt. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Mitgliedsstaat den nach dem dort geltenden Recht gemeinnützigen Status der Stiftung anerkennt. |
2.1.8 |
In einem Urteil zu grenzüberschreitenden Spenden (11) entschied der Gerichtshof, dass die Steuergesetzgebung, die Spenden an in anderen EU-Mitgliedsstaaten ansässige gemeinnützige Stiftungen benachteiligt, dem EG-Vertrag widerspricht, sofern die in anderen Mitgliedsstaaten ansässigen Empfängerorganisationen als den inländischen gemeinnützigen Stiftungen „gleichberechtigt“ angesehen werden. |
2.2 Der Stiftungssektor in der EU
2.2.1 |
Mit einem Vermögen zwischen 350 und 1 000 Milliarden Euro und jährlichen Ausgaben zwischen 83 und 150 Milliarden Euro ist der europäische Stiftungssektor eine wichtige Wirtschaftskraft (12). In zahlreichen europäischen Ländern wächst der Stiftungssektor beständig. |
2.2.2 |
Den Stiftungen kommt auch auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle zu. Die 110 000 in der Durchführbarkeitsstudie zur Stiftungssatzung erfassten Stiftungen beschäftigen EU-weit zwischen 750 000 und 1 Mio. Menschen im Vollerwerb (13). Durch Zuschüsse und finanzielle Unterstützung für Organisationen und Einzelpersonen fördern Stiftungen zudem die Beschäftigung und Freiwilligentätigkeit. |
2.2.3 |
Die meisten Stiftungen in der EU basieren auf Vermögen und verfolgen einen Zweck. Im Allgemeinen haben sie keine Mitglieder oder Anteilseigner und sind eigens gegründete gemeinnützige Einrichtungen. Sie verfügen über konsolidierte und verlässliche Einnahmequellen; die Mittel werden für gemeinnützige Zwecke verwendet. Ihre Einkünfte können Stiftungen aus Stiftungsgeldern beziehen, einem von Einzelpersonen, Familien, Firmen oder anderen Organisationen zur Verfügung gestellten Vermögen. Dabei kann es sich um bewegliche Sachen (Bargeld, Aktien, Schuldverschreibungen, Kunstwerke, Urheberrechte, Forschungslizenzen) oder unbewegliche Sachen (Grundstücke wie Museen, Betreuungseinrichtungen) handeln. Ihre Einkünfte beziehen Stiftungen auch aus anderen Quellen, beispielsweise durch Vermächtnisse, Schenkungen, öffentliche Spendenaufrufe, Einkünfte aus eigenen Aktivitäten und Verträgen oder Lotteriegewinne. |
2.2.4 |
Stiftungen in der EU arbeiten an Themen und Projekten, die den Menschen unmittelbar zugute kommen und sind auf zahlreichen Gebieten für den Aufbau eines Europas der Bürger unverzichtbar, von den Bereichen Wissen, Forschung und Innovation über Sozialdienstleistungen und Gesundheitsfürsorge, medizinische Forschung, Umwelt, Regionalentwicklung, Beschäftigung und berufliche Bildung und Erhalt des Natur- und Kulturerbes bis hin zur Förderung von Kunst und Kultur sowie internationaler Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit. |
2.2.5 |
Immer mehr Stiftungen und Stifter sind grenzüberschreitend tätig. Dennoch bestehen verwaltungs-, zivil- und steuerrechtliche Hindernisse, die in der Durchführbarkeitsstudie aufgezeigt werden. Dazu gehören:
|
2.3 Notwendigkeit der Schaffung eines geeigneten Rechtsinstruments für Stiftungen
2.3.1 |
Es wäre unrealistisch, auf eine Harmonisierung der zahlreichen in den Mitgliedstaaten geltenden stiftungsrechtlichen Vorschriften (14) zu hoffen, insbesondere angesichts der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede in Bezug auf Zweckbestimmung, Auflagen für die Gründung, Verwaltung sowie die Rechenschaftslegung (15). |
2.3.2 |
Keine der bisherigen europäischen Rechtsformen (16), die geschaffen wurden, um eine Zunahme der Aktivitäten von Privatunternehmen und öffentlichen Einrichtungen im grenzüberschreitenden Bereich in der EU – bzw. die Zusammenarbeit zwischen ihnen – zu fördern, ist auf die Bedürfnisse und besonderen Merkmale von Stiftungen als private Einrichtungen ohne Erwerbszweck, die ein Ziel des Allgemeininteresses verfolgen und keine Anteilseigner oder bestimmende Gesellschafter haben, ausgerichtet. |
2.3.3 |
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Ausarbeitung einer Satzung der Europäischen Stiftung zu erwägen, die allgemein zugänglich und auf die Bedürfnisse der Stiftungen abgestimmt ist, um ihre Tätigkeiten und Kooperationsvorhaben innerhalb des Binnenmarkts zu erleichtern und sie in die Lage zu versetzen, auf Ressourcen aus verschiedenen Ländern zu nutzen und der Gründung Europäischer Stiftungen zur Unterstützung gemeinnütziger Tätigkeiten von Beginn an eine europäische Dimension zu verleihen. |
3. Für eine Satzung der Europäischen Stiftung: Grundziele und Struktur
3.1 Ziele und Nutzen
3.1.1 |
Eine Satzung der Europäischen Stiftung ist politisch sinnvoll, um die Arbeit gemeinnütziger Stiftungen unionsweit zu fördern, da durch ein solches Instrument Folgendes bewirkt würde:
|
3.1.2 |
Eine Satzung der Europäischen Stiftung würde vielfältige Vorteile bringen:
|
3.2 Wesentliche Merkmale
3.2.1 |
Eine effiziente Satzung der Europäischen Stiftung sollte eine Reihe wesentlicher Grundsätze und Merkmale erfüllen. Sie wäre ein zusätzliches und fakultatives Instrument für die gemeinnützige Arbeit, das vornehmlich durch europäisches Recht geregelt wird und einzelstaatliche und regionale Vorschriften ergänzt. |
3.2.2 |
Eine Satzung der Europäischen Stiftung könnte sich an folgenden Eckpunkten orientieren, die in Zusammenarbeit mit den einschlägigen Interessenträgern noch im Einzelnen festgelegt werden müssten. Eine Satzung der Europäischen Stiftung sollte:
|
4. Anwendbares Recht
4.1.1 |
In dem Vorschlag für eine Satzung der Europäischen Stiftung würden die verschiedenen Quellen anwendbaren Rechts aufgeführt: die EU-Verordnung zu einer Satzung der Europäischen Stiftung, die Geschäftsordnung der Europäischen Stiftung sowie sonstige EU- oder einzelstaatliche Rechtsvorschriften. |
4.1.2 |
Die Rechtsvorschriften über eine Satzung der Europäischen Stiftung sollten zwar umfassend, aber auch klar und einfach sein. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Klarheit wird den Europäischen Stiftungen bei der Einhaltung der Rechtsvorschriften helfen und den mit der Aufsicht Beauftragten deren Durchsetzung erleichtern. |
4.1.3 |
In dem Vorschlag für eine Satzung der Europäischen Stiftung sollten die Rahmenbedingungen für Gründung, Tätigkeit und Rechenschaftspflicht Europäischer Stiftungen vorgegeben werden. In den von der Satzung geregelten Bereichen (z.B. Einrichtung, Eintragung, Zweck, Kapital, eingetragener Sitz, Rechtspersönlichkeit, Rechts- und Geschäftsfähigkeit, Befugnisse des Geschäftsführers, Anforderungen hinsichtlich Transparenz und Rechenschaftspflicht) sollten die Rechtsvorschriften umfassend sein und nicht auf einzelstaatliches Recht verweisen. Dadurch werden die Einheitlichkeit, Klarheit und Sicherheit gewährleistet, die die Satzung für Dritte, Partner und Spender bieten sollte. |
4.1.4 |
Für die Beaufsichtigung der Tätigkeit könnten dafür benannte zuständige Behörden in den Mitgliedstaaten mit der Aufsicht über die Europäischen Stiftungen beauftragt werden, wobei als Grundlage die gemeinsam vereinbarten und in der Verordnung zu einer Satzung der Europäischen Stiftung festgeschriebenen Standards in Bezug auf die Eintragungs-, Berichterstattungs- und Überwachungsanforderungen herangezogen würden. |
4.1.5 |
In nicht durch die Rechtsvorschriften zur Satzung der Europäischen Stiftung abgedeckten Fragen wären die Bestimmungen sonstiger Vorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten anzuwenden. |
4.1.6 |
In Steuerfragen verbliebe die Zuständigkeit für die Festlegung der steuerlichen Behandlung der Europäischen Stiftung bei der Steuerbehörde des Mitgliedstaates, in dem die Europäische Stiftung steuerpflichtig ist. |
4.1.7 |
Die EU-Mitgliedstaaten sehen eine besondere steuerliche Behandlung gemeinnütziger Stiftungen vor (18). Eine unterschiedliche steuerliche Behandlung gebietsansässiger und gebietsfremder gemeinnütziger Einrichtungen wird als potenziell mit dem EG-Vertrag in Konflikt stehend erachtet, insbesondere was Spenden, die Erbschafts- und Schenkungssteuer für Nachlässe bzw. Schenkungen sowie Stiftungserträge aus gebietsfremden Quellen betrifft. Deshalb sollte eine Europäische Stiftung von denselben Steuervergünstigungen profitieren können, den einzelstaatliche Gesetzgeber inländischen Stiftungen gewährt haben, einschließlich Befreiungen von der Einkommensteuer, der Schenkungs- und Erbschaftssteuer sowie der Steuer auf den Wert/Transfer ihrer Vermögenswerte (19). |
4.1.8 |
Zur steuerlichen Behandlung von Stiftern/Spendern Europäischer Stiftungen: Jeder Stifter/ Spender, der einer Europäischen Stiftung in einem Mitgliedstaat oder grenzüberschreitend Geld spendet, soll denselben Steuernachlass bzw. dieselbe Steuergutschrift erhalten, die ihm für eine Spende für eine gemeinnützige Organisation in seinem eigenen Mitgliedstaat gewährt würde. |
4.1.9 |
In Bezug auf indirekte Steuern hatte der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema „Unterschiedliche Unternehmensformen“ (20) die Kommission ersucht, die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, die Möglichkeit zur Gewährung von Ausgleichsmaßnahmen für Unternehmen auf der Grundlage ihres erwiesenen sozialen Nutzens oder des anerkannten Beitrags zur Regionalentwicklung zu prüfen. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Durchführbarkeitsstudie für eine Satzung der Europäischen Stiftung, 2009.
(2) Das Europäische Stiftungszentrum (EFC), der größte europäische Dachverband für gemeinnützige Stiftungen, hat diese Tendenz bestätigt. Zwei Drittel der Mitgliedsstiftungen sind in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland tätig.
(3) Europäisches Stiftungszentrum, Spender und Stiftungsnetze in Europa, Netzwerk Europäischer Stiftungen.
(4) http://ec.europa.eu/internal_market/company/eufoundation/index_de.htm.
(5) http://ec.europa.eu/internal_market/company/eufoundation/index_de.htm.
(6) http://www.efc.be/SiteCollectionDocuments/EuropeanStatuteUpdated.pdf.
(7) http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/en/media/xcms_bst_dms_15347__2.pdf.
(8) P6_TA(2006)0295.
(9) ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 22.
(10) Rechtssache Stauffer C-386/04.
(11) Rechtssache Persche C-318/07.
(12) Durchführbarkeitsstudie – Zusammenfassung Ad1.
(13) Siehe Fußnote 12.
(14) Rechtliche und steuerliche Profile von Stiftungen in der EU, ausgearbeitet vom European Foundation Centre (EFC), siehe: http://www.efc.be/Legal/Pages/FoundationsLegalandFiscalCountryProfiles.aspx.
(15) Vom EFC angestellter Vergleich zentraler Vorschriften des Stiftungsrechts, siehe: http://www.efc.be/Legal/Pages/Legalandfiscalcomparativecharts.aspx.
(16) Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, die Gesellschaft europäischen Rechts, die Europäische Genossenschaft und der Europäische Verbund für territoriale Zusammenarbeit.
(17) Das European Foundation Centre legt in seinem Vorschlag von 2005 für eine Satzung der Europäischen Stiftung eine offene Liste zugrunde.
(18) Eine Zusammenfassung der Steuerregelungen für Stiftungen ist in „Comparative Highlights of Foundation Laws“, EFC 2009 enthalten:http://www.efc.be/Legal/Pages/Legalandfiscalcomparativecharts.aspx.
(19) Siehe „The European Foundation a new legal perspective“:http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/en/media/xcms_bst_dms_15347__2.pdf.
(20) Siehe Fußnote 9.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/35 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die europäischen Werften in der aktuellen Krise“
2011/C 18/07
Berichterstatter: Marian KRZAKLEWSKI
Ko-Berichterstatter: Enrique CALVET CHAMBON
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
„Die europäischen Werften in der aktuellen Krise“
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 9. April 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April 2010) mit 168 gegen 14 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt mit großer Besorgnis fest, dass die Schiffbaubranche in der EU eine tiefe Krise durchmacht, die durch eine katastrophale Auftragslage, große Probleme bei der Finanzierung bereits vorliegender Aufträge, Überkapazitäten beim Bau von Handelschiffen, den unwiderruflichen Verlust von Arbeitsplätzen und die Aussicht auf weitere Entlassungen und eine stets zunehmende Zahl von Konkursfällen und Schließungen von Werften und Zulieferbetrieben gekennzeichnet ist.
1.2 Der Ausschuss ist überzeugt, dass in dieser kritischen Situation eine gemeinsame europäische Strategie für die Zukunft des Schiffbaus in der EU sowie eine Koordination der entsprechenden Maßnahmen der Mitgliedstaaten notwendig sind. Mit den ersten Elementen dieser Strategie, die spätestens bis Mitte 2010 festzulegen und umzusetzen sind, sollte dem dringendsten Handlungsbedarf in folgenden Bereichen nachgekommen werden:
— |
Ankurbelung der Nachfrage (siehe Ziffer 4.1 und 4.1.1) |
— |
Finanzierung (u.a. Verlängerung der Geltungsdauer der „Rahmenbestimmungen für Beihilfen an den Schiffbau“ über 2011 hinaus) |
— |
Gewährleistung beschäftigungsrelevanter finanzieller Mittel (unter anderem finanzielle Hilfe bei Werftschließungen) |
— |
Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen. |
Mit diesen Maßnahmen sollen Negativanreize, die die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen könnten, vermieden werden.
1.3 Da es kein weltweit geltendes System von Handelsvorschriften für den Schiffsbau gibt, ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Kommission zu energischeren und entschiedeneren Maßnahmen zum Schutz dieser strategisch wichtigen Branche aufgefordert werden sollte. In Ermangelung eines internationalen Abkommens auf OECD-Ebene muss die EU unmittelbare und entschiedene Maßnahmen ergreifen, um den europäischen Schiffbau gegen unlauteren Wettbewerb zu schützen.
1.4 Die politischen Entscheidungsträger auf europäischer und nationaler Ebene, die Unternehmen der Branche und die Sozialpartner müssen dringend Maßnahmen zur Umsetzung des gemeinsam erarbeiteten Projektes (1) ergreifen, das auf folgender politischer Grundlage basiert:
— |
Erhaltung einer starken und wettbewerbsfähigen industriellen Grundlage für diesen Hochtechnologiesektor in Europa, der in Zukunft für ein hohes Maß an nachhaltiger Beschäftigung sorgen kann |
— |
Vermeidung kurzsichtiger Entlassungen in Zeiten der Konjunkturabschwächung, Erhaltung von Arbeitsplätzen und - was ebenso wichtig ist - der hochqualifizierten Arbeitskräfte in diesem strategisch wichtigen Industriezweig |
— |
Besondere Betonung des Seeverkehrs als umweltschonende, energieeffiziente Verkehrsart - die europäische Schiffbaubranche, insbesondere die Teilbranche Schiffsausrüstung, kann viel für Verbesserungen in diesen beiden Bereichen leisten |
— |
Sicherung des Zusammenhalts in gefährdeten Küstenregionen mit Werftstandorten |
— |
Verhinderung des Absackens der Schiffsproduktion unter die kritische Masse, ab der die EU ihre Schiffbaufähigkeit verliert |
— |
Sicherung des europäischen Know-hows in der Schiffbaufinanzierung (2) |
— |
Erhaltung maritimer Kompetenzen in Europa (auch in Wissenschaft und Hochschulen) |
— |
Erschließung des beträchtlichen Potenzials der Branche für Wachstum, Innovationsfähigkeit und Ausweitung von Forschung und Entwicklung |
— |
Die Kosten der Untätigkeit wären höher als die Kosten der derzeitigen konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der Branche (siehe Beispiel USA) (3). |
1.5 Der Ausschuss fordert den Rat, die Kommission und das Parlament auf, die Erhaltung der notwendigen kritischen Masse in den Bereich Schiffbau und Schiffsreparatur in Europa als strategisches und prioritäres Ziel der EU anzuerkennen. Dies ist notwendig, damit
— |
Fortschritte in Richtung auf einen umwelt- und energieschonenden Verkehr sowie die Verbesserung der Energieeffizienz in diesem Bereich weiterhin kontrolliert werden können; |
— |
der bedeutende technologische Beitrag zur europäischen Industrie, der auch auf andere Industriezweige (Außenwirtschaft) ausstrahlt, nicht verloren geht. Eine einmal geschlossene Werft wird nicht wieder geöffnet; |
— |
das künftige Wachstumspotenzial (z.B. die Nutzung von Windenergie) genutzt wird, das Europa nur mit Hilfe seiner Fähigkeiten im Schiffbau ausschöpfen kann; |
— |
die Fähigkeit, auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren, in ausreichendem Maße erhalten bleibt (in einer Krisensituation wird jedes Schiff zu einem strategischen Element der Auseinandersetzung, auch Handelsschiffe); |
— |
die qualifizierten Arbeitskräfte ebenso erhalten bleiben wie ein ausreichendes Niveau an wissenschaftlicher Spitzenforschung in der Schiffbauindustrie, die andernfalls in den Bereichen Verkehr, nachhaltige Entwicklung, Umweltschutz und innovative Spitzentechnologie ganz in außereuropäische Hand überginge. |
1.6 Der Ausschuss gibt zu bedenken, dass ein Verlust der kritischen Masse im Schiffbau zu einer Schließung von Ausbildungsstätten für Ingenieure und technisches Fachpersonal sowie von Berufsschulen für Facharbeiter führt. Der Europäischen Union droht in diesem Fall der Verlust der kritischen intellektuellen Masse zugunsten ihrer geschäftlichen und politischen Konkurrenten.
1.7 Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten ebenso wie in anderen Branchen (z.B. der Automobilindustrie) im Hinblick auf gemeinsame Maßnahmen auf europäischer Ebene gemeinsame Anstrengungen unternehmen müssen, um diesem Industriezweig durch kurzfristigen Einsatz von Soforthilfen, die den Besonderheiten der Branche Rechnung tragen, ein Überstehen der Krise zu ermöglichen.
1.7.1 Zu den Soforthilfemaßnahmen gehört:
— |
schnellstmöglich für neue Aufträge zu sorgen; |
— |
zu ermöglichen, dass in Zeiten schwacher Konjunktur die Verbindung zwischen den Werften, den kooperierenden Unternehmen und den Mitarbeitern mit unentbehrlichem Know-how erhalten bleibt und somit das Wissenspotenzial nicht wegen einer vorübergehenden Krise für immer verloren geht. |
1.8 Hinsichtlich der Beschäftigungspolitik in der Branche ist der Ausschuss der Auffassung, dass Entlassungen in diesem Industriezweig mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Qualifizierte und kompetente Mitarbeiter, an denen bereits in den vergangenen Jahren Mangel herrschte, müssen gehalten werden. Für Krisenzeiten in der Branche muss die Politik einen gemeinsamen europäischen Rahmen für Kurzarbeit schaffen, damit in Europa gleiche Spielregeln und ein für alle gefährdeten Arbeitnehmer zugänglicher Beschäftigungsschutz sichergestellt sind.
1.8.1 Dieser Rahmen muss die Erhaltung der Arbeitsplätze und der Kaufkraft, soweit möglich, und das Recht aller Arbeitnehmer auf Schulung und Weiterbildung garantieren. Schulungs- und Weiterbildungsprogramme für Werftmitarbeiter sind notwendig, um deren individuelle Kompetenz sowie das allgemeine Qualifikationsniveau in der Werft zu verbessern.
Besondere Empfehlungen und Vorschläge des Ausschusses
1.9 Auf europäischer Ebene müssen die Maßnahmen für eine rasche Erneuerung der Flotten unter dem Aspekt der Umweltfreundlichkeit beschleunigt werden. Dazu müssen die Möglichkeiten, die sich aus den Leitlinien für Umweltschutzbeihilfen von 2008 ergeben, genutzt werden. Ökologische Fragen sind als vorrangig anzusehen und sollten durch die Internationale Seeschifffahrtsorganisation auf globaler Ebene gelöst werden. Dieser Prozess ist bereits im Gange.
1.10 Die Mitgliedstaaten und die EU sollten sich mit dem Problem der dauerhaften Finanzierung der Schiffbauindustrie befassen. Zusammen mit der EIB sollte ein europäisches Instrument zur Werftenfinanzierung geschaffen werden. Die Branche selbst, die politischen Entscheidungsträger und die EIB müssen prüfen, inwiefern dem Schiffbau EIB-Mittel für die Förderung „grüner“ Technologien und sauberer Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt werden können.
1.11 Die Geschäftspraktiken der Reedereien müssen genauer überprüft werden, damit diese europäische und staatliche Subventionen nicht für den Kauf von Schiffen außereuropäischer Werften verwenden.
1.12 Eine ökologisch und ökonomisch vertretbare Demontage und Modernisierung (retrofitting) von Altschiffen in entsprechenden Werften unter Einhaltung der europäischen Qualitätsanforderungen sollte unterstützt und gefördert werden.
1.13 Der Ausschuss unterstützt die Initiative LeaderSHIP 2015 als einen guten Rahmen, innerhalb dessen alle Interessengruppen eine Politik für diese Branche erarbeiten können. Dieser Rahmen sollte auch auf andere Wirtschaftszweige ausgedehnt werden.
1.13.1 Im Rahmen der Initiative LeaderSHIP 2015 muss ein dynamischer und beherzter Maßnahmenplan erarbeitet werden, der die Stärkung der europäischen Werftenindustrie und die Erhaltung von anspruchsvollen Arbeitsplätzen zum Ziel hat und für die ökologischen Herausforderungen der Werftenindustrie Lösungen bietet. Die im Rahmen der Initiative LeaderSHIP 2015 erarbeiteten Vorschläge müssen von allen Interessengruppen, insbesondere von den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten, umgesetzt werden.
1.14 Der Ausschuss empfiehlt den Sozialpartnern, in Krisenzeiten die Möglichkeiten des sozialen Dialogs besonders zu nutzen, um gemeinsame Zukunftsstrategien zu erarbeiten. Der soziale Dialog ist die Plattform für gemeinsame Konzepte und Lösungen zur Bewältigung der aktuellen und künftigen Herausforderungen in der Schiffbaubranche. In diesem Zusammenhang müssen auch die Sozialstandards für Arbeitnehmer in der europäischen Schiffbauindustrie angeglichen und umgesetzt werden.
1.14.1 Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Anwendung des Grundsatzes der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (CSR) in der Branche zu deren nachhaltiger Entwicklung beitragen sollte.
1.14.2 Der Ausschuss regt an, spezifische Maßnahmen anzuwenden, um bei lang anhaltender Auftragsflaute die Bindung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen zu erhalten (labour pools, subventionierte Schulungsmaßnahmen).
1.14.3 Die Möglichkeit, einen bestimmten Teil der „Sozialfonds“ (ESF (4), EFRE, Fond für die Anpassung an die Globalisierung) zeitweise der Werftenbranche zukommen zu lassen, sollte geprüft werden.
1.15 Der Ausschuss tritt gemäß der neuen Strategie der Kommission zur Schaffung von Branchenräten für eine möglichst baldige Gründung eines Rates für Beschäftigung und Qualifikation in der Schiffbaubranche ein.
1.16 Da der Bau „grüner“ und energiesparender Schiffe für das Überleben der Branche von zentraler Bedeutung ist, sollte darauf hingewirkt werden, dass Werften, Hochschulen und Behörden Schulungs- und Weiterbildungsprogramme gewährleisten, mit denen die für einen erfolgreichen Übergang zum Bau von emissionsarmen und energiesparenden Schiffen erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen gefördert und entwickelt werden. Der Ausschuss unterstützt die Idee „grüner Qualifikationen“ für alle Arbeitnehmer der Branche.
1.16.1 Instrumente wie ECVET, EQARF und EQF sollten in der Werftenbranche dazu genutzt werden, die Mobilität zu erleichtern sowie Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität zu steigern.
1.17 Von der Schiffbauindustrie sollte eine Ausweitung ihrer Ziele und Tätigkeiten gefordert werden (Meeresumwelt, Aquakultur, Offshore-Energieerzeugung, Arktis usw.)
1.18 Maßnahmen technologischer Art sollten auch auf neue Gebiete (und somit wissenschaftliche Forschungsbereiche) ausgerichtet und die Rolle der Technologieplattformen (z.B. Waterborne) sowie die Zusammenarbeit zwischen diesen ausgebaut werden.
1.19 Von der Kommission sollte eine stärkere Unterstützung und raschere Maßnahmen für den Kurzstreckenseeverkehr, für Hochgeschwindigkeitsseewege sowie die entsprechenden Schiffe, die den europäischen Umweltschutz- und Energieanforderungen genügen, gefordert werden.
1.20 Der Ausschuss ist der Auffassung, dass bei der Suche nach Lösungen für die europäischen Werften der Blick auch auf die unmittelbar mit diesen verbundenen Hersteller von Schiffsausrüstungen gerichtet werden sollte. Die Situation dieser Branche ist bedeutend besser als die der Schiffbaubranche (unter anderem deshalb, weil die Unternehmen ihre Tätigkeit leichter verlagern können). Es wäre daher interessant zu untersuchen, weshalb die Situation jeweils so unterschiedlich ist, und Schlüsse daraus zu ziehen, die bei der Suche nach geeigneten Lösungen für die europäischen Werften helfen können.
Der Ausschuss plant, einen Bericht über diese Branche und ihren Einfluss auf den Schiffbausektor zu erarbeiten.
2. Einleitung - Begründung und Ziel der Stellungnahme
2.1 In der europäischen Werftenindustrie (5) sind die Folgen der derzeitigen Krise aus folgenden Gründen besonders zu spüren:
— |
Es besteht ein spezifischer und im Vergleich zu anderen Branchen höherer Finanzierungsbedarf. |
— |
Die Branche ist außerordentlich sensibel gegenüber Veränderungen im Welthandel, der zurzeit einen starken Abwärtstrend in der Nachfrage nach Schiffen aufweist, was in hohem Maße darauf zurückzuführen ist, dass die Zahl von Handelsschiffen weltweit auf eine Rekordhöhe gestiegen ist, die bei weitem den Bedarf im Seeverkehr übertrifft. |
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Die Konkurrenz entwickelt sich vor allem in Ländern, die gegenüber der Werftenindustrie eine Politik des Interventionismus betreiben und die diese Branche für strategisch wichtig halten. |
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Die Krise trat in dem Moment auf, als sich auf der ganzen Welt deutlich ein sehr starkes, weit über den Bedarf hinausgehendes Übermaß an Sachkapital bemerkbar macht. |
— |
Die Krise fällt in eine Zeit, in der viele europäische Werften schon eine lange und häufig schmerzhafte Phase der Umstrukturierung, Modernisierung und technischen Entwicklung hinter sich haben - die Situation der polnischen Werften ist hierfür ein Beispiel. |
— |
Die Branche weist spezifische Merkmale auf (hohe Investitionen, langer Produktionszyklus, Produktion von Prototypen, keine Serienproduktion usw.), die ihr unvermeidbar bestimmte Grenzen setzen und im Falle tiefgehender Krisen zu dramatischen Entscheidungen wie Betriebsschließungen zwingen. |
2.2 Es besteht eine reale Gefahr, dass die unentbehrliche kritische Masse (6) des Produktionsvolumens der Werften in Europa verloren geht. Dieser Gefahr muss Rechnung getragen werden und die möglichen Schäden, die ein solcher Verlust unter wirtschaftlichen, sozialen, technologischen und strategischen Aspekten für die Zukunft Europas bedeuten könnte, einer Bewertung unterzogen werden.
2.3 Aus oben genannten Gründen hat der EWSA die vorliegende Stellungnahme erarbeitet, deren Schwerpunkt auf der Erörterung der spezifischen Konsequenzen der Krise für die Schiffbauindustrie liegt. In der Stellungnahme wird versucht, diese Frage unter wirtschaftlichen, sozialen (Beschäftigung, Arbeitsplatzqualität und Auswirkungen auf die Regionen), technologischen und strategischen Gesichtspunkten zu behandeln.
2.4 Der Ausschuss unternimmt in dieser Stellungnahme zudem eine Halbzeitbewertung der Umsetzung der Initiative LeaderSHIP 2015 und versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, wie diese Initiative zum Erfolg geführt werden kann und wie sie angesichts der neuen Gegebenheiten in Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise dem aktuellen Stand angepasst werden kann.
3. Spezifische Folgen der Krise für die Schiffbauindustrie
3.1 Angesichts des außergewöhnlichen Charakters der Werftenbranche ist zu betonen, dass die Häufung von finanziellen Problemen in dieser Branche - eine Folge sowohl andauernder Finanzierungsprobleme (7) als auch einer ungünstigen Wirtschaftsphase sowie des Rückzugs von Investoren aus der Finanzierung früherer Aufträge (und der zunehmenden Bedeutung des Gebrauchtschiffsmarkts (8)) - umso mehr eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, als dieser Industriezweig seit jeher größere Finanzierungsprobleme als andere Branchen hatte.
3.1.1 Die schwierige Situation der Schiffbaubranche in der EU, insbesondere der Werften für große und mittlere Schiffe, ist sowohl bedingt durch das Fehlen gleicher Wettbewerbsbedingungen als auch durch den seit Jahrzehnten andauernden unlauteren Wettbewerb vonseiten anderer Teile der Welt. Bislang gibt es für die Branche kein weltweit verbindliches System von Handelsvorschriften. Zudem darf nicht übersehen werden, dass durch die Krise Überkapazitäten in den Ländern zum Vorschein kamen, die gnadenlos eine Dauerfinanzierung der nationalen Produktion durch die öffentliche Hand betreiben.
3.1.2 Angesichts dieses beispiellosen Zusammentreffens mehrerer ungünstiger Umstände lässt sich das Problem, mit dem die Branche derzeit zu kämpfen hat, nicht als „immer die gleiche Geschichte“ abtun. Wir haben es vielmehr mit einer dramatischen Herausforderung neuer Art zu tun, denn diese Schwierigkeiten sind eher finanzieller als industrieller/struktureller Natur.
3.1.3 Doch gerade die Krise bietet die Chance, etwas für die Wahrung und Sicherung der notwendigen kritischen Masse zu unternehmen, damit Spitzentechnologien in dieser vom Niedergang bedrohten, aber für den Seeverkehr so entscheidend wichtigen Branche gehalten werden. Leider sind die europäischen Werften in Gefahr, genau diese kritische Masse zu verlieren.
3.2 Die Werftenindustrie zeigt die charakteristische Tendenz, mit Verspätung auf eine Konjunkturbelebung zu reagieren. Wegen dieses Handicaps muss der Branche geholfen werden. Ohne eine solche Unterstützung bzw. durch das vorzeitige Einstellen der zeitweiligen Hilfsmaßnahmen stünde die Branche vor dem Aus.
3.2.1 In der Schiffbaubranche folgt auf eine Phase des Aufschwungs stets eine Phase des Abschwungs. Dieses Phänomen ist seit Jahrzehnten in der Schiffbauindustrie bekannt. Die EU sollte in ihrer branchenspezifischen Politik die Folgen dieses Wirtschaftszyklus vorausbedenken.
3.3 Bei der Erörterung der Ursachen und Folgen der schwierigen Situation der Branche müssen auch die spezifischen Umstände von Ländern wie zum Beispiel Polen und Rumänien Erwähnung finden.
3.3.1 Die dramatische Situation in Polen, die sich derzeit durch einen Niedergang der Produktion in zwei Großwerften in Gdingen und in Stettin bemerkbar macht, ist das Ergebnis des Zusammentreffens mehrerer fataler Umstände, die vor einigen Jahren nicht vorausgesehen wurden:
— |
die Erneuerung und Umstrukturierung der Branche wurde insbesondere durch politische Entscheidungen zwischen 2002 und 2003 gebremst; |
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die gute Konjunktur auf dem europäischen Markt und dem Weltmarkt in den Jahren 2003-2008 wurde nicht genutzt. |
3.4 Der Schiffbau ist sowohl für sich genommen als auch in Zusammenhang mit anderen Industriezweigen sowie unter Beschäftigungsaspekten eine Branche von strategischer Bedeutung. In Krisenzeiten zeigt sich dies besonders deutlich und muss hervorgehoben werden. Diese Ansicht vertritt auch die Kommission und - so ist zu hoffen - auch der derzeitige EU-Ratsvorsitz. Darum sind von dieser Seite politische Maßnahmen zu erwarten und einzufordern. Leider lässt es die Mehrzahl der Mitgliedstaaten, in denen es eine Schiffbauindustrie gibt, bislang an deutlicher Unterstützung fehlen.
3.5 Die sozialen Folgen der Krise in der Schiffbauindustrie sind auf regionaler Ebene von beträchtlichem Ausmaß. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den so genannten Werftenregionen und der Verlust eines bedeutenden Teils des regionalen BIP können drastischer ausfallen als in Industriezweigen, die im gesamten Land vertreten sind und für die es landesweite Unterstützungsmaßnahmen gibt.
3.6 Wenn eine Werft geschlossen wird, dann in der Regel für immer. Das Know-how und die Spitzentechnologie gehen dabei unwiederbringlich verloren. Praktisch jedes Schiff, das eine Werft verlässt, ist ein Pilotprodukt oder ein Prototyp, jedes mit einem eigenen Gehalt an F&E-Komponenten. Wenn diese in Europa verloren gehen, gerät die Zukunft des umweltfreundlichen und CO2-armen Verkehrs, der durch „saubere Schiffe“ gewährleistet ist, in andere, unsichere Hände. Zudem besteht durch den Verlust der kritischen Masse die Gefahr eines schlechteren Zugangs zu Energie und Rohstoffen aus den Ozeanen sowie zu Mineralien aus dem Offshore-Abbau.
3.7 Die Teilbranche Schiffsreparaturen ist nicht von der Krise betroffen, kann aber Konkurrenz von Schiffbauunternehmen, die ihr Profil auf Schiffsreparaturen umstellen, zu spüren bekommen. Andererseits ist in jüngster Zeit zu beobachten, dass Elemente der Produktionsinfrastruktur von Schiffbauwerften von Schiffsreparaturwerften aufgekauft (oder geleast) und qualifizierte Arbeitskräfte von Werften, die schließen mussten, dort beschäftigt werden.
3.8 Der Bau und die Reparatur von Schiffen sowie der Einsatz von Hochtechnologiegeräten und -materialien haben auch für die europäische Verteidigungsbereitschaft, für ein höheres Niveau an Schutz und Sicherheit, einen besseren Umweltschutz und für den Technologietransfer in andere Industriezweige eine sehr große Bedeutung - dies ist ein wichtiges Argument bei der Suche nach einem Ausweg aus der derzeitigen kritischen Situation in der Branche.
3.9 Bei einer Darstellung der Situation der Schiffbauindustrie und insbesondere des Zustands der Werften darf eine Bewertung der unmittelbar mit dieser in Zusammenhang stehenden Schiffsausrüstungsindustrie nicht fehlen. In dieser Branche sind in Europa nahezu doppelt so viele Arbeitnehmer beschäftigt wie im Schiffbau (nicht mitgerechnet die Yacht- und Freizeitbootbranche, in der anderthalb mal so viele Arbeitnehmer beschäftigt sind wie in der traditionellen Werftenbranche). Der Anteil der Schiffsausrüstungshersteller in der EU an der weltweiten Produktion von High-Tech-Schiffsausrüstungen ist mit 36 % viel größer als der Anteil der Werften (asiatische Hersteller, die weniger hochwertige Produkte anbieten, machen 50 % aus). Die Lieferanten von Schiffsausrüstungen sind somit in einer unvergleichlich viel besseren Lage als die Werften.
3.10 Es lohnt sich daher zu untersuchen, weshalb die Situation so unterschiedlich ist, und Schlüsse daraus zu ziehen, die bei der Suche nach geeigneten Lösungen für die europäischen Werften helfen können. Die Lösungsmuster dieser Branche und ihre natürliche Verbindung zu den Werften können eine wertvolle und in der gesamten Schiffbaubranche umsetzbare Synergie ergeben. Zugleich dürfen jedoch nicht die Prognosen außer Acht gelassen werden, die für den Fall, dass den europäischen Werften die kritische Masse verloren geht, eine beträchtliche Verschlechterung der Situation der europäischen Schiffsausrüstungsindustrie voraussagen.
4. Mögliche Maßnahmen und Lösungen in der derzeitigen Krise der Branche
4.1 Dringend erforderlich ist eine Steigerung der Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen der gesamten Branche (einschließlich der Schiffsreparaturbranche). Der Ausschuss ist der Auffassung, dass unter diesem Gesichtspunkt eine umweltfreundliche Modernisierung (retrofitting) alter oder unsicherer sowie umweltverschmutzender Schiffe durch gesetzliche Maßnahmen und ökonomische Anreize anzustreben ist.
4.1.1 Um das Problem der schwierigen Marktsituation in der Branche zu überwinden, könnten die EU und die Mitgliedstaaten unter anderem eine Überholung der gemeinschaftlichen Handelsflotte unter Umwelt- und Energiespargesichtspunkten unterstützen/finanzieren und dazu Aufträge an Subunternehmen/Schiffsausrüster vergeben.
4.1.2 Europäische Werften sollten sich darauf konzentrieren, Schiffe zu bauen, die einen relativen Vorteil bieten, nämlich Spezialschiffe hoher Qualität und mit Hochtechnologie ausgestattete Schiffe (9).
4.2 Einzelne Maßnahmen im Rahmen der so genannten „inneren“ Flexicurity, mit denen in Zeiten des Abschwungs (10) die Arbeitnehmer und ihr Know-how in der Branche gehalten werden, sollten in Erwägung gezogen werden. Diese sollten durch Verhandlungen im Rahmen des sozialen Dialogs sowie durch Bereitstellung von zu diesem Zweck vorgesehenen Mitteln der öffentlichen Hand gefördert werden.
4.2.1 Einige regionale Strukturhilfsmaßnahmen könnten einer erneuten Prüfung unterzogen und stärker auf die Branche ausgerichtet werden. Der EFRE (11) könnte durchaus zur Finanzierung einiger Instrumente dieser Art herangezogen werden.
4.3 Das Bemühen um gleiche Wettbewerbsbedingungen auf dem wettbewerbsbestimmten Markt für Schiffbau und Schiffsreparatur war bislang weder ernsthaft noch aufrichtig. In Europa selbst muss ein freier Wettbewerb gewährleistet werden; diese Branche jedoch, die sich mit der übrigen Welt messen muss, sollte in gleichem Maße geschützt werden, wie es bei außereuropäischen Konkurrenten der Fall ist.
4.3.1 Soll der Schiffbau als strategische Branche anerkannt werden, dann muss in der Frage der außereuropäischen Konkurrenz genauso vorgegangen werden wie z.B. in der Automobilindustrie. Im jüngsten Übereinkommen mit Korea wird jedoch noch nicht einmal darauf gepocht, dass das Land seinen jüngsten und auch seinen früheren Verpflichtungen nachkommt. Eine solche Vorgehensweise kann nicht als ernsthaft bezeichnet werden.
4.3.2 Korea muss die Verpflichtung zu „normalen Marktpreisen“ einhalten und die Subventionierung von Werften unterlassen. Dies sollte zu den Maßnahmeempfehlungen gehören, die die Kommission in der Sitzung der OECD zu den Verhandlungen über das neue Schiffbauübereinkommen vorbringt.
4.4 Eine große Bedeutung für die Zukunft der Branche hat auch die Schiffsproduktion für Verteidigungszwecke. In diesem Zusammenhang muss auf die Maßnahmen der Europäischen Verteidigungsagentur hingewiesen werden, die als zukunftsträchtig anzuerkennen sind. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die Chancen, die sich für diese Teilbranche aus Dual-Use-Technologien ergeben.
4.5 Die Möglichkeiten und das Potenzial der Technologieplattform „Waterborne“ für den Schiffbausektor im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms sowie ihre Zusammenarbeit mit anderen Technologieplattformen müssen ausgebaut werden, so dass eine der wichtigsten Waffen der Werften, nämlich ihre Leistungen im Bereich F+E+I, weiter geschärft wird.
4.6 Die Erhaltung der kritischen Masse der Industrie auf europäischer Ebene ist unabdingbar, wenn wir sichere, umweltfreundliche und energiesparende Schiffe wollen, die einen entscheidenden Einfluss auf den künftigen Schutz der Meeresumwelt, die Kosten des Verkehrs insgesamt sowie den Schutz und die Aufrechterhaltung des europäischen Verkehrs in Zusammenhang mit der Energieversorgung haben werden (Küstenschiffe, Plattformen, Unterkünfte für Arbeiter auf Bohrinseln, Offshore-Windparks usw.). In diesem Kontext ist auch die Idee eines „grünen“ Verkehrs (Kurzstreckenseeverkehr, Hochgeschwindigkeitsseewege usw.) zu sehen.
4.6.1 In den Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Umweltschutzbeihilfen (2008/C82/01) wird die Anschaffung umweltfreundlicher Schiffe ausdrücklich erwähnt. Sie müssen wirksam und ohne unnötigen Verwaltungsaufwand umgesetzt werden.
4.7 Angesichts der aktuellen Herausforderungen müsste das für in Serie produzierende Branchen vorgesehene allgemeine System der Beilhilfen aus den Rahmenprogrammen unter dem Gesichtspunkt der Verwendung für die hochtechnologisierte Werftenproduktion an die Anforderungen der Branche angepasst werden, da diese in der Regel Prototypen oder Kleinserien produziert.
4.8 Im Hinblick auf die europäischen Finanzierungsrahmen für die Branche sind die 2003 von der Europäischen Kommission erstellten „Rahmenbestimmungen für Beihilfen an den Schiffbau“ (12) als richtig anzusehen und ihre Gültigkeit über das Jahr 2011 hinaus zu verlängern, um so klare Innovationsbedingungen zu gewährleisten. Die neuen Grundsätze sollten den spezifischen und aktualisierten Erfordernissen der Branche besser entsprechen und diesem ein höheres Maß an Stabilität bringen.
5. LeaderSHIP 2015 – wie nützt diese Initiative der Branche in der derzeitigen Krise und verhindert ein Scheitern?
5.1 Als die Initiative LeaderSHIP 2015 (LS 2015) in den Jahren 2002-2003 von der Industrie ausgearbeitet und von den Entscheidungsträgern der EU unterstützt wurde, schienen die Aussichten des europäischen Schiffbaus ziemlich düster. Die Auftragslage war dürftig, und die Preise für den Bau neuer Schiffe niedrig mit fallender Tendenz aufgrund der beträchtlich gestiegenen Produktionskapazität in Asien.
5.1.1 LeaderSHIP 2015 befindet sich gerade in der Hälfte der Laufzeit. Die Situation in der Branche ist ähnlich bzw. aufgrund der weltweiten Krise vielleicht sogar noch schlechter als zu der Zeit, als diese Initiative erarbeitet wurde.
5.1.2 Die Initiative LeaderSHIP 2015 wurde vor sechs Jahren im Glauben an die Produktionskapazitäten und das Innovationspotenzial der europäischen maritimen Branchen ins Leben gerufen und stand im Zeichen entschlossener Bemühungen um die Zukunft der Branche. Dieser Ansatz ist immer noch aktuell; die Initiative selbst muss allerdings insbesondere durch Schlussfolgerungen aus der Zeit ihrer Entstehung und Anwendung korrigiert und den heutigen Erfordernissen angepasst werden.
5.2 Von den Sozialpartnern der Schiffbauindustrie wird LS2015 folgendermaßen bewertet:
a. |
als wichtigste Errungenschaften gelten:
|
b. |
als wichtigste negative Punkte gelten:
|
5.2.1 Zusammenfassend sind die Sozialpartner der Meinung, dass der langfristige Ansatz durch Maßnahmen zur Krisenbewältigung korrigiert werden muss.
5.3 In ihrem Fortschrittsbericht zu LeaderSHIP 2015, der vor zwei Jahren erstellt wurde, bemerkt die Kommission abschließend, „dass LeaderSHIP 2015 weiterhin einen geeigneten Rahmen für ihre Politik im Schiffbausektor bietet. Diese Initiative sollte fortgesetzt und nach Möglichkeit beschleunigt werden, insbesondere in Bezug auf den Bereich der Finanzierung für den Schiffbau. Es sollte aber auch beachtet werden, dass in vielen Bereichen der Ball großteils bei der Industrie (z.B. Branchenstruktur) oder bei den Mitgliedstaaten liegt.“ Die Kommission erklärt, dass sie an LeaderSHIP 2015 festhalten und sich bemühen werde sicherzustellen, dass auf EU-Ebene optimale Lösungen aus Elementen verschiedener Politikbereiche gefunden werden.
5.4 Ungeachtet des Inhalts und der Intention der oben angeführten Bewertung lässt sich zweifellos feststellen, dass sie zwei Jahre nach ihrer Formulierung dringend aktualisiert werden muss (gerade auch wegen der krisenbedingt veränderten Situation der Branche) und in das Programm der neuen Instrumente aufzunehmen ist. Die wichtigsten Maßnahmen für die Branche scheinen hingegen im Großen und Ganzen nichts an Aktualität eingebüßt zu haben.
5.4.1 Das Hauptproblem für den Erfolg der Initiative LS 2015 ist offenbar, dass die geplanten Maßnahmen nicht wirksam umgesetzt werden und dass die Initiative in einem Teil der Mitgliedstaaten, insbesondere den Ländern, die erst seit kurzem der EU angehören, nur begrenzt Anwendung findet.
5.5 Der Einfluss der Initiative LS 2015 auf die Beschäftigung im Schiffbau wird mitunter recht skeptisch gesehen (14). Als Mangel der Initiative wird das Fehlen konkreter Umsetzungen gesehen. Es wird hervorgehoben, dass durch die Initiative im Wesentlichen lediglich qualitative Veränderungen erzielt wurden, die die Kompetenzen der Arbeitnehmer betreffen.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Das Projekt als Reaktion auf die Krise wurde bereits in der Sitzung der hochrangigen Vertreter im Rahmen der LeaderSHIP-Initiative in Bremerhaven erarbeitet.
(2) Bisher hat Europa die Schiffbau-Kreditmärkte dominiert. Um dieses Know-how zu sichern und auszubauen, muss ein europäisches Kreditgarantiesystem geschaffen werden, mit dessen Hilfe die Werften die Finanzierung bestehender und künftiger Aufträge absichern können. Europa muss seine Position als Zentrum der Schiffsfinanzierung behaupten und weiterentwickeln.
(3) Die kommerziellen Folgen des Verlusts der kritischen Masse in den USA sind um 300 % höhere Kosten für Schiffsneubauten nach der Krise.
(4) Europäischer Sozialfonds.
(5) Das Glossar am Schluss der Stellungnahme enthält eine Definition dieses Begriffs.
(6) Mindestniveau der Gesamtproduktion in den Werften der EU-Mitgliedstaaten, das für den Erhalt der Schiffbaubranche in der EU notwendig ist.
(7) „Immer größere finanzielle Probleme aufgrund der schrumpfenden Gewinnspanne“ (laut dem europäischem Schiffbauerverband CESA).
(8) Das Angebot an Schiffen ist deutlich größer als der Anstieg der Nachfrage im Seeverkehr; alle neuen Schiffe hintereinander würden eine Reihe von 60 Seemeilen Länge ergeben (nach Bloomberg and Clarkson Research Services).
(9) Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier genannt: Passagierschiffe, Kreuzfahrtschiffe, Yachten, Freizeitschiffe, Serviceschiffe, Schiffe für Fahrzeugtransport, Chemikalienfrachter, Flüssiggastanker, Offshore-Schiffe, Eisbrecher mittlerer Eisklasse, Hotelschiffe, Schiffe zum Schutz von Fangschiffen, Hilfsschlepper, Bohrinseln, Offshore-Windparks, Schiffe für militärische Zwecke, mit Technologien mit doppeltem Verwendungszweck ausgerüstete Schiffe, polyvalente moderne Frachtschiffe, Schlepper und Forschungsschiffe.
(10) Zeitraum, in dem sich die Folgen der Krise und Abschwungs im Konjunkturzyklus bemerkbar machen (geringe Zahl von Aufträgen).
(11) Europäischer Fonds für regionale Entwicklung.
(12) ABl. C 317 vom 30.12.2003, S. 11.
(13) Leadership Platform Financing.
(14) Vortrag zum Thema „Bewertung des Einflusses des Programms LeaderSHIP 2015 auf die Beschäftigung in der Schiffbauindustrie“, Jerzy Bieliński, Renata Płoska, Universität Danzig (Gdańsk), Polen.
ANHANG 1
Glossar
— Werftindustrie (einschließlich Schiffsreparatur und -umbau): bezieht sich auf größere (hauptsächlich Hochsee-) Schiffe für Handels- bzw. kommerzielle Zwecke sowie Militärschiffe. Der Begriff schließt auch Produkte und Dienstleistungen für den Bau, den Umbau und die Instandhaltung dieser (Hochsee- und Binnen-) Schiffe mit ein (1). Die beiden wichtigsten Teilbranchen der Werftenindustrie sind (2):
Schiffbau,
Schiffsausrüstung.
— Schiffbau: umfasst den Bau, die Instandhaltung (und den Umbau) von Schiffen und bezieht sich im Wesentlichen auf größere Hochseehandelsschiffe. Der Begriff schließt auch die Teilbranche der Megayachten mit ein.
— Schiffsausrüstung: umfasst alle Produkte und Dienstleistungen für den Bau, den Umbau und die Instandhaltung von Schiffen (für die Hochsee- und die Binnenschifffahrt) sowie Meeresbauten. Hierzu zählen auch technische Dienstleistungen im Bereich Ingenieurwesen, Montage und Abnahme sowie Wartung von Schiffen (einschließlich Reparaturen) (3).
Fakten und Zahlen:
Werften:
In Europa gibt es etwa 150 Großwerften, von denen ungefähr 40 aktive Akteure auf dem Weltmarkt für große Hochseehandelsschiffe sind. Die Werften (für zivile und militärische Zwecke, Schiffbau- und Schiffsreparaturwerften) bieten in der Europäischen Union direkt ca. 120 000 Arbeitsplätze. Mit einem Marktanteil von rund 15 % konkurriert Europa hinsichtlich des Wertes des zivilen Schiffbaus nach wie vor mit ostasiatischen Ländern um die weltweite Führungsposition (2007: 15 Mrd. EUR) (4).
Schiffsausrüstung:
In der Teilbranche Schiffsausrüstungen sind Schätzungen zufolge mehr als 287 000 Personen direkt beschäftigt. Zudem sorgt die Branche indirekt für weitere 436 000 Arbeitsplätze. Der Jahresumsatz der Branche betrug 2008 rund 42 Mrd. EUR (5). Nahezu 46 % der hergestellten Schiffsausrüstungen sind für den Export bestimmt. Die Schiffsausrüstungsbranche nimmt in der maritimen Industrie den dritten Platz hinter dem Seeverkehr und dem Fischfang ein (6).
(1) http://ec.europa.eu/enterprise/sectors/maritime/index_de.htm.
(2) ECORYS, Study on Competitiveness of the European shipbuilding Industry, Rotterdam, Oktober 2009.
(3) http://www.emec.eu/marine_equipment/index.asp.
(4) http://ec.europa.eu/enterprise/sectors/maritime/index_de.htm.
(5) Mitglieder des Europäischen Verbandes der Schiffbauzuliefererindustrie EMEC: Kroatien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Schweden, Niederlande, Norwegen, Türkei und Großbritannien.
(6) http://www.emec.eu/marine_equipment/index.asp.
ANHANG 2
zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Folgender abgelehnter Änderungsantrag erhielt mindestens ein Viertel der Stimmen:
Ziffer 1.11
Ersatzlos streichen:
„“
Ergebnis der Abstimmung:
Ja-Stimmen |
: |
65 |
Nein-Stimmen |
: |
108 |
Stimmenthaltungen |
: |
18 |
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/44 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neue Trends bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit: der Sonderfall der wirtschaftlich abhängigen selbstständigen Erwerbstätigkeit“ (Initiativstellungnahme)
2011/C 18/08
Berichterstatter: José María ZUFIAUR NARVAIZA
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
„Neue Trends bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit: der Sonderfall der wirtschaftlich abhängigen selbstständigen Erwerbstätigkeit“.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Februar 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 137 gegen 52 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Gegenstand dieser Stellungnahme sind die Definitionen, die verschiedene europäische Instanzen für die einzelnen Formen selbstständiger Erwerbstätigkeit vorgenommen haben. Im Einzelnen geht es hier fast ausschließlich um die jüngsten Trends im Bereich der Erwerbstätigkeit „arbeitnehmerähnlicher Personen“, d.h. „wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger“. Die nachfolgenden Ausführungen zur Tätigkeit wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger haben zum Ziel, die Trends bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit besser zu erfassen, d.h. jene neuen Formen, die sich infolge der tiefgreifenden sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen Veränderungen über die traditionellen, in den EU-Mitgliedstaaten seit langem anerkannten Formen hinaus entwickelt haben. Die rechtliche Anerkennung einer neuen Kategorie von Erwerbstätigen, die zwischen den „abhängig Beschäftigten“ einerseits und den „selbstständig Erwerbstätigen“ andererseits angesiedelt ist, existiert nur in einem Teil der europäischen Länder. Das allgemeine Ziel der geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften besteht darin, zu einem besseren Schutz bestimmter Kategorien von Erwerbstätigen beizutragen, ohne diese jedoch mit abhängig Beschäftigten gleichzusetzen. In den Ländern, in denen eine Zwischenstufe zwischen den Kategorien „Beschäftigter“ und „selbstständig Erwerbstätiger“ anerkannt ist, kann festgestellt werden, dass die Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit mit der Gewährung einer Reihe von Rechten einhergeht, welche anderen Kategorien von Selbstständigen nicht gewährt werden, auch wenn die betreffenden Rechte weniger umfangreich sind als die Rechte der abhängig Beschäftigten. Hinsichtlich des Umfangs des in diesem Fall dem Erwerbstätigen gewährten Schutzes bestehen in den einzelnen Ländern signifikante Unterschiede. So können die Rechte des wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen den Sozialschutz berühren. Sie können auch von den im Arbeitsrecht für Beschäftigte vorgesehenen Schutzbestimmungen abgeleitet werden. Somit können sie die individuellen Beziehungen zwischen dem Erwerbstätigen und seinem Kunden betreffen (Mindesteinkommen, Arbeitszeit usw.), aber auch dazu führen, dass den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen das Recht gewährt wird, sich kollektiv zu organisieren und gemeinsam zu handeln, um ihre beruflichen Interessen zu schützen und zu verfolgen.
Abgesehen von der Vielfalt der wirtschaftlichen und sozialen Realitäten in den einzelnen Ländern lässt sich die Vielfalt der nationalen Regelungen auch mit den Fragen erklären, die mit der rechtlichen Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen verbunden sind. Die Existenz solcher Zwischenstufen kann legitime Vorbehalte auslösen. Es ist deshalb zu befürchten, dass, selbst wenn die betreffenden rechtlichen Kategorien geklärt werden, eine Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen in der Praxis dazu führen kann, dass Personen, die bisher abhängig beschäftigt waren, in diese von wirtschaftlicher Abhängigkeit geprägte Selbstständigkeit gedrängt werden, z.B. infolge von Unternehmensstrategien zur Auslagerung von Arbeitsplätzen. Daher lassen sich Überlegungen über die Anerkennung wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger sicherlich nicht ganz von denen bezüglich der Scheinselbstständigkeit trennen. Die Scheinselbstständigkeit ist ein Phänomen, für das es in vielen EU-Mitgliedstaaten Belege gibt. Das trifft insbesondere auf Sektoren wie das Bauwesen zu, wo diese illegale Praktik derart verbreitet ist, dass sie erst vor kurzem zur Verabschiedung eines gemeinsamen Positionspapiers der europäischen Sozialpartner des Sektors geführt hat. Es kann nicht geleugnet werden, dass es Erwerbstätige gibt, die formal betrachtet (besonders hinsichtlich der Bezeichnung, die von den beteiligten Akteuren selbst für ihre Arbeitsbeziehungen gewählt wird) selbstständig sind, aber ihre Tätigkeit unter Bedingungen ausüben, die denen der Beschäftigten entsprechen. Das gilt üblicherweise für Fälle, in denen ein Arbeitgeber eine Tätigkeit als „selbstständige Erwerbstätigkeit“ bezeichnet, um so die Anwendung des Arbeitsrechts und/oder des Sozialversicherungsrechts zu umgehen. In Wirklichkeit stellt der Wechsel in eine durch wirtschaftliche Abhängigkeit geprägte Selbstständigkeit vielfach keine im engeren Sinne freiwillige Wahl dar, sondern wird durch äußere Faktoren erzwungen, wie etwa die Auslagerung von Produktionsbereichen oder die Umstrukturierung eines Unternehmens und die daraus resultierende Aufhebung von Arbeitsverträgen.
Ungeachtet der damit einhergehenden Risiken dient die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen jedoch in allen Staaten, die sie vorgenommen haben, dazu, einen größeren rechtlichen Schutz für Erwerbstätige vorzusehen, die im rechtlichen Sinne keine Beschäftigten, sondern Selbstständige sind, sich aber in einer Situation befinden, in der sie nicht jenen wirtschaftlichen Schutz genießen können, den sie hätten, könnten sie für eine Vielzahl von Auftraggebern arbeiten. In dieser Hinsicht kann die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigkeit - neben dem durch sie möglicherweise geförderten Schutz hinsichtlich der sozialen Sicherheit und des Berufsstatus - auch ein Mittel sein, um den Unternehmergeist zu stärken. Darüber hinaus ist die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen zum Ausgleich des Vertragsverhältnisses zwischen Erwerbstätigem und Auftraggeber dazu angetan, den wirtschaftlichen Druck, der auf dem Erwerbstätigen lastet, zu verringern, und eine Dienstleistung höherer Qualität für den Endverbraucher zu fördern.
Die Diversität der einschlägigen Rechtsvorschriften ist eine Frage, mit der sich die gesamte EU im Zusammenhang mit der Entwicklung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung beschäftigen muss. Eine gemeinschaftliche Harmonisierung des Berufsstatus in der EU – angefangen bei einer Definition wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger – ist gewiss keine einfache Sache. Bei Überlegungen zu diesem Thema darf insbesondere nicht die Vielfalt der nationalen Regelungen und Praktiken außer Acht gelassen werden: Gemäß der europäischen Sozialgesetzgebung ist die Definition der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Unternehmer“ Sache der einzelnen Mitgliedstaaten.
Man kann aber nicht die Augen davor verschließen, dass es dringend erforderlich ist, die Entwicklungen im Bereich der selbstständigen Erwerbstätigkeit besser zu erfassen. Anderenfalls bestünde in den Ländern, in denen die wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen nicht als abhängig Beschäftigte definiert werden, die Gefahr, dass ein immer größerer Teil der europäischen Erwerbstätigen ohne Schutz dastünde.
1.1 Es sollten Instrumente zur statistischen Erfassung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen in der Europäischen Union entwickelt werden.
1.2 Es sollte die Erarbeitung von Studien gefördert werden, die eine genaue Bewertung der nationalen Erfahrungen mit dem Status wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger ermöglichen.
1.3 Die Frage der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen sollte nach festzulegenden Modalitäten ausdrücklich in die „Integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung“ aufgenommen werden.
1.4 Die europäischen Sozialpartner sollten dazu ermuntert werden, die Frage wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger in ihre Arbeitsprogramme aufzunehmen, und zwar sowohl auf branchenübergreifender als auch branchenspezifischer Ebene. Die gemeinsame Untersuchung der europäischen Sozialpartner vom Oktober 2007 (1) illustriert die Bedeutung der Frage des Berufsstatus aus der Sicht der Akteure des europäischen sozialen Dialogs. In diesem Zusammenhang könnte geprüft werden, wie die Beziehungen zwischen den europäischen Sozialpartnern und den (insbesondere nationalen) Organisationen, die die selbstständig Erwerbstätigen vertreten, ausgebaut werden können.
1.5 Gestützt insbesondere auf die im Zuge der Umsetzung der vorliegenden Empfehlungen gesammelten Informationen und Erkenntnisse könnten unter den Kriterien, die die verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Definition des Begriffs „abhängig Beschäftigter“ heranziehen, diejenigen herausgefiltert werden, die ihnen allen gemein sind. Dies wäre nicht nur im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Anwendung der im Bereich des Arbeitsrechts geltenden europäischen Richtlinien, sondern auch im Hinblick auf eine bessere Erfassung des Anstiegs der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität in Europa nützlich. Außerdem ließen sich hierdurch die Informationen sammeln, die erforderlich sind, um besser zu verstehen, was der Begriff „wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger“ abdecken kann. Die Erwerbstätigkeit wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger kann nämlich nur dann erfasst werden, wenn möglichst eindeutige und genaue Elemente einer Definition der abhängigen Beschäftigung vorliegen.
2. Einleitung
Es besteht zunächst ein buchstäblicher Unterschied zwischen einer Person, die selbstständig erwerbstätig ist, und einer Person, die ihre Tätigkeit in Abhängigkeit von jemand anderem ausübt. Dieser scheinbar einfache Unterschied darf jedoch nicht die Tatsache verschleiern, dass die selbstständige Erwerbstätigkeit ein breites Spektrum an sozialen und wirtschaftlichen Situationen abdeckt, die sich gewiss nicht alle über einen Kamm scheren lassen. Eine solche Formenvielfalt der selbstständigen Erwerbstätigkeit existiert in allen Ländern der Europäischen Union. Abhängige Auftragsnehmer stehen im Mittelpunkt dieser Stellungnahme. Es wird darum gehen, die Formen der Selbstständigkeit in der Praxis zu ermitteln und darzulegen, ab wann sie die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines selbstständig Erwerbstätigen in Frage stellen können. Es wird somit nicht versucht, die Frage der nichtgemeldeten Erwerbstätigkeit („Schwarzarbeit“) oder der sog. „Scheinselbstständigen“ zu behandeln, auch wenn beide Phänomene gelegentlich in einem augenscheinlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen stehen.
Der Status wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger ist zunächst ein aktuelles Thema in der Europäischen Union (1). In einigen europäischen Ländern ist er rechtlich anerkannt, und zwar durch Begriffsbestimmungen und einen spezifischen Schutz (2). Schließlich müssen auch die heiklen Fragen umrissen werden, die die Situation wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger aufwirft (3).
3. Wirtschaftlich abhängige Selbstständige: ein aktuelles Thema in der Europäischen Union
3.1 Neue Formen der selbstständigen Erwerbstätigkeit für neue wirtschaftliche und soziale Realitäten
3.1.1 |
Eine Reihe von Faktoren können zum Entstehen von „neuen“ Formen der selbstständigen Erwerbstätigkeit führen, d.h. Tätigkeiten, die a priori nicht in die für die selbstständigen Berufe etablierten traditionellen Kategorien (z.B. Landwirte und freie Berufe) fallen (2). In diesem Zusammenhang sind u.a. folgende Phänomene zu nennen:
|
3.1.2 |
Angesichts dieser Entwicklungen ist in der wissenschaftlichen Literatur auf der Grundlage empirischer Untersuchungen versucht worden, die selbstständig Erwerbstätigen in verschiedene Kategorien zu unterteilen. Folgende Kategorien werden dabei am häufigsten genannt (3):
|
3.1.3 |
Neben diesen Definitionen wird in der Arbeitskräfteerhebung von EUROSTAT zur statistischen Beschreibung der selbstständigen Erwerbstätigkeit zwischen folgenden Kategorien differenziert:
|
3.1.4 |
Es ist schwierig, das Phänomen der Erwerbstätigkeit wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger zu quantifizieren. Nur in den Ländern, in denen diese Kategorie der Erwerbstätigen rechtlich anerkannt ist, kann diese Gruppe der Personen, die als Selbstständige in einer Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit arbeiten, genauer abgegrenzt werden. Es steht jedoch außer Frage, dass sich zumindest ein Teil der statistisch als selbstständig einzustufenden Erwerbstätigen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit in einer Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem Kunden oder einem Auftraggeber befindet. |
3.1.5 |
Werden die verfügbaren europäischen Daten über das Ausmaß der selbstständigen Erwerbstätigkeit zugrunde gelegt (5), kann gesagt werden, dass im Jahr 2007 die selbstständig Erwerbstätigen ohne eigene Beschäftigte in jedem Mitgliedstaat mindestens 50 % aller selbstständig Erwerbstätigen ausmachten. In einigen Mitgliedstaaten lag der Prozentsatz sogar noch höher (70 % oder mehr). Dies gilt für die Tschechische Republik, Litauen, Portugal, die Slowakei und das Vereinigte Königreich. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die das Entstehen neuer Formen der selbstständigen Erwerbstätigkeit erklären, und der Erfahrungen der Länder, die Regelungen für solche neue Formen der Selbstständigkeit vorgesehen haben, liegt der Schluss nahe, dass ein signifikanter Teil dieser wichtigen Gruppe der own-account workers in einer Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit arbeitet. |
3.1.6 |
Die Beobachtung der Veränderungen in den letzten Jahrzehnten führt zu dem Ergebnis, dass einerseits in Europa eine zunehmende Eingliederung eines Teils der Selbstständigen in Beschäftigungsverhältnisse zu verzeichnen ist, andererseits aber die Arten der abhängigen Tätigkeit im Rahmen anderer Rechtsformen als Arbeitsverträge zunehmen. Deshalb ist es notwendig, Kriterien festzulegen, um eine solche wirtschaftliche Abhängigkeit zu definieren, und statistische Mechanismen zu schaffen, um die in diesem System der Dienstleistungserbringung Erwerbstätigen zu erfassen. |
3.2 Wirtschaftlich abhängige Selbstständige: ein Thema von europäischer Tragweite
3.2.1 |
Die Europäische Union kümmert sich seit mehreren Jahren um den Schutz von Selbstständigen. In diesem Zusammenhang ist auf die Empfehlung 2003/134/EG des Rates vom 18. Februar 2003 (6) zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit Selbstständiger am Arbeitsplatz hinzuweisen. Die Schwierigkeiten beim Schutz von Selbstständigen treten auch in den laufenden Debatten über den Vorschlag für eine neue Richtlinie über die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, zutage. |
3.2.2 |
Darüber hinaus steht die Unterscheidung zwischen abhängig Beschäftigten und selbstständig Erwerbstätigen im Zentrum der aktuellen Diskussionen über die Änderung der Richtlinie 2002/15/EG zur Regelung der Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben. |
3.2.3 |
Die Frage der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen wurde ihrerseits auf Ebene der Europäischen Union bereits mehrfach ausdrücklich behandelt. In dem der Europäischen Kommission 2000 vorgelegten Bericht von Alain SUPIOT (7) wurde die Existenz von Erwerbstätigen, die nicht als „abhängig Beschäftigte“ qualifiziert werden können, sich aber in einer Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem Auftraggeber befinden, anerkannt und empfohlen, ihnen gewisse, in dieser Abhängigkeit begründete „soziale Rechte“ zuzuerkennen. |
3.2.4 |
In ihrem 2006 veröffentlichten Grünbuch über die Modernisierung des Arbeitsrechts (8) erklärte die Europäische Kommission: „Auch die Selbstständigkeit ist eine Möglichkeit, den Umstrukturierungsbedarf zu bewältigen, die direkten oder indirekten Arbeitskosten zu senken und in Reaktion auf unvorhergesehene wirtschaftliche Gegebenheiten die Ressourcen flexibler zu verwalten. Sie entspricht auch dem Geschäftsmodell dienstleistungsorientierter Unternehmungen, die ihren Kunden fertige Projekte liefern. In vielen Fällen spiegelt sie die freie Entscheidung wider, selbstständig zu arbeiten bei geringerem sozialem Schutz im Austausch gegen eine unmittelbarere Kontrolle über die Beschäftigungsbedingungen und das Arbeitseinkommen.“ Vor diesem Hintergrund stellte die Europäische Kommission auch fest: „Der Begriff der ‚wirtschaftlich abhängigen Arbeit‘ deckt Situationen ab, die zwischen den beiden herkömmlichen Begriffen der abhängigen Erwerbstätigkeit und der selbstständigen Erwerbstätigkeit stehen. Die betreffenden Personen haben keinen Arbeitsvertrag. Unter Umständen sind sie nicht durch das Arbeitsrecht gedeckt, da sie sich in einer ‚Grauzone‘ zwischen Arbeitsrecht und Handelsrecht bewegen. Wenn auch formal ‚selbstständig‘, sind sie doch von einem einzigen Hauptkunden/Arbeitgeber als Einkommensquelle wirtschaftlich abhängig. Dieses Phänomen sollte klar von der bewussten Falscheinstufung von Selbstständigkeit unterschieden werden.“ |
3.2.5 |
In der Stellungnahme des EWSA zum Grünbuch (9) wird diese Frage ebenfalls erläutert. |
4. Wirtschaftlich abhängige Selbstständige: ein rechtliches Faktum in einigen EU-Mitgliedstaaten
4.1 Existenz rechtlicher Zwischenstufen zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Erwerbstätigkeit
4.1.1 |
Unter rechtlichen Gesichtspunkten kann der Begriff der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen als Zwischenstufe zwischen abhängiger Beschäftigten und selbstständigen Erwerbstätigen aufgefasst werden. |
4.1.2 |
Bisher erkennt nur eine begrenzte Zahl von Mitgliedstaaten den Begriff der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen als solchen an (wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise) bzw. bemüht sich um eine Begriffsbestimmung. Diese Zwischenstufe zwischen „selbstständiger Erwerbstätigkeit“ und „abhängiger Beschäftigung“ führt zur Schaffung neuer Beschäftigungsformen, die sich jedoch von Land zu Land in Ausmaß und Inhalt unterscheiden. Dies trifft insbesondere auf Deutschland, Österreich, Spanien, Italien, Portugal und das Vereinigte Königreich zu. So bezieht sich in Italien der Terminus „parasubordinazione“ auf Personen, die im Rahmen eines „Vertrags für koordinierte und kontinuierliche Zusammenarbeit“ oder eines „Vertrags für projektbezogene Zusammenarbeit“ erwerbstätig sind. Im Vereinigten Königreich wird zwischen den Kategorien „worker“ und „employee“ differenziert. Der „worker“ unterscheidet sich insofern vom „employee“, als er bei der Ausübung seiner Tätigkeit keinem Arbeitgeber unterstellt ist. In Österreich gibt es spezifische gesetzlich anerkannte Vertragsformen, in denen Anzeichen einer allgemeinen Berücksichtigung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen zu finden sind. Dies gilt konkret für „freie Dienstverträge“. Die durch einen solchen Vertrag gebundenen Erwerbstätigen unterscheiden sich von Beschäftigten dadurch, dass sie zwar häufig für eine einzige Person und nach einem bestimmten Zeitplan arbeiten, sich aber in keinem Subordinationsverhältnis befinden. In Deutschland existiert der Begriff „arbeitnehmerähnliche Personen“. Diese Kategorie von Erwerbstätigen, die im Arbeitsrecht von abhängig Beschäftigten unterschieden wird, umfasst Personen, die im Rahmen eines Handels- oder Dienstleistungsvertrags eine Arbeit selbst verrichten, ohne dabei auf eigene Beschäftigte zurückzugreifen, und deren Umsatz zu mehr als 50 % durch einen einzigen Kunden generiert wird. Das jüngste und treffendste Beispiel für eine Definition der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen findet sich in Spanien. In dem 2007 verabschiedeten „Selbstständigenstatut“ wird der Begriff „wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger“ anhand mehrerer Kriterien definiert, nämlich als jemand, der regelmäßig, persönlich, unmittelbar und vorwiegend eine wirtschaftliche oder berufliche Tätigkeit zu Erwerbszwecken für eine als Kunde bezeichnete natürliche oder juristische Person ausübt, von der er wirtschaftlich abhängig ist, da er seine Einkünfte zu mindestens 75 % von diesem Kunden bezieht. Dieser Status ist unvereinbar mit dem einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts oder einer Handelsgesellschaft (10). |
4.1.3 |
Die Untersuchung der einzelstaatlichen Systeme, in denen eine neue rechtliche Kategorie zugelassen wurde, lässt mehrere Schlussfolgerungen zu. In jedem Falle geht es erst einmal um die Schaffung einer neuen Kategorie, die sich von „abhängig Beschäftigten“ und „selbstständig Erwerbstätigen“, insbesondere aber von echten „Unternehmern“ unterscheidet. Das Ziel in diesen Ländern ist also nicht, aus den selbstständig, aber wirtschaftlich abhängig erwerbstätigen Personen Beschäftigte zu machen, sondern ihnen einen spezifischen Status zu verleihen, mit denen ein besonderer, in der wirtschaftlichen Abhängigkeit begründeter Schutz verbunden ist. In den genannten Fällen schließt deshalb die Eigenschaft des wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen das Bestehen eines rechtlichen Subordinationsverhältnisses aus. Letzteres ist ein Schlüsselelement in der Rechtsdefinition des Begriffs „Beschäftigter“, und zwar in der überwiegenden Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. Ein Beschäftigter ist demnach jemand, der unter der Leitung oder Aufsicht einer anderen Person (d.h. eines Arbeitgebers) erwerbstätig ist. Für diese Situation gibt es mehrere Indizien: Arbeit für eine einzige Person und für eine bestimmte Dauer; keine Haftung des Beschäftigten für finanzielle Risiken des Unternehmens; Arbeit für fremde Rechnung usw. Nach diesem Kriterium gilt: Jeder Beschäftigte ist wirtschaftlich abhängig, aber nicht jeder wirtschaftlich abhängige Selbstständige ist zwangsläufig ein abhängig Beschäftigter. |
4.1.4 |
Es müssen jedoch noch Kriterien festgelegt werden, mit denen die wirtschaftliche Abhängigkeit bestimmt werden kann. Das ist eine komplexe Aufgabe – aber keine unmögliche, wie die Existenz verschiedener nationaler Regelungen auf diesem Gebiet zeigt. Die in Frage kommenden Kriterien können sich in erster Linie auf die Person des Erwerbstätigen beziehen: Als wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger kann jemand definiert werden, der die von ihm verlangte Leistung persönlich und ohne eigene Beschäftigte erbringt (siehe insbesondere das Beispiel Spaniens). Weitere, mit den gerade genannten Merkmalen verbundene Kriterien betreffen den eigentlichen Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit, z.B. die Höhe des Umsatzes aus der für einen einzigen Kunden geleisteten Arbeit (es muss also das exakte Umsatzniveau bestimmt werden, ab dem von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit gesprochen werden kann) oder die Dauer der Beziehung zwischen Erwerbstätigem und Kunden (je länger diese Beziehung andauert, desto eher kann von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Kunden die Rede sein). Das letztgenannte Kriterium wird in Italien herangezogen, um die Existenz einer „koordinierten und kontinuierlichen Zusammenarbeit“ zu bestimmen. Schließlich wird von einigen Experten auf diesem Gebiet ein weiteres Kriterium vorgeschlagen. So ist Professor PERULLI (11) der Auffassung, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit eines Erwerbstätigen nur dann gegeben ist, wenn dessen Produktionsorganisation von der Tätigkeit seines Kunden abhängig ist. Mit anderen Worten: Der Erwerbstätige hat aufgrund einer (insbesondere die Geräte und eingesetzten Technologien betreffenden) Produktionsorganisation, die ganz auf die Erfüllung der Erfordernisse eines einzigen Kunden zugeschnitten ist, keinen Zugang zum Markt. |
4.2 Schutz der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen
4.2.1 |
In den Ländern, in denen eine Zwischenstufe zwischen den Kategorien „Beschäftigter“ und „selbstständig Erwerbstätiger“ anerkannt ist, kann festgestellt werden, dass die Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit mit der Gewährung einer Reihe von Rechten einhergeht, welche anderen Kategorien von Selbstständigen nicht gewährt werden, auch wenn die betreffenden Rechte weniger umfangreich sind als die Rechte der abhängig Beschäftigten. So können die Rechte des wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen den Sozialschutz berühren. Sie können auch von den im Arbeitsrecht für Beschäftigte vorgesehenen Schutzbestimmungen abgeleitet werden. Somit können sie die individuellen Beziehungen zwischen dem Erwerbstätigen und seinem Kunden betreffen (Mindesteinkommen, Arbeitszeit usw.), aber auch dazu führen, dass den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen das Recht gewährt wird, sich kollektiv zu organisieren und gemeinsam zu handeln, um ihre beruflichen Interessen zu schützen und zu verfolgen. Dies veranschaulicht die Vorstellung, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, auch wenn es nur wirtschaftlicher und nicht rechtlicher Art ist, einen besonderen Schutz rechtfertigt. |
4.2.2 |
In den betreffenden Staaten gibt es ggf. ein intermediäres Sozialschutzniveau, das höher ist als das Niveau für „einfache Selbstständige“. In Italien gilt dies für Personen, die im Rahmen eines „Vertrags für projektbezogene Zusammenarbeit“ erwerbstätig sind; für sie gelten Schutzbestimmungen bezüglich Schwangerschaft, Krankheit, Arbeitsunfall und Ruhestand, welche sich immer mehr den Bestimmungen annähern, die abhängig Beschäftigten zuerkannt werden. Das trifft auch auf das Vereinigte Königreich zu, wo die workers einen gesetzlichen Krankengeldanspruch haben. |
4.2.3 |
Was die Regelungen betreffend die Ausübung der Berufstätigkeit angeht, so haben wirtschaftlich abhängige Selbstständige im Allgemeinen Anspruch auf einen Teil der Schutzbestimmungen für Beschäftigte, auch wenn sie nicht als solche gelten. |
4.2.4 |
Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus bestehen in den einzelnen Ländern selbstverständlich signifikante Unterschiede hinsichtlich des Umfangs des Schutzes für wirtschaftlich abhängige Selbstständige. In Großbritannien verfügen die workers über einen Schutz in den Bereichen Mindestlohn, Arbeitszeit und Unterbrechung der Tätigkeit in besonderen Fällen. In Spanien wird mit einer sehr viel ehrgeizigeren Zielsetzung im Statut von 2007 den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen Folgendes zuerkannt:
|
4.2.5 |
Neben den Schutzbestimmungen für wirtschaftlich abhängige Selbstständige sollte ein Mindestniveau für den Sozialschutz (z.B. in den Bereichen Sozialversicherung, Berufsausbildung oder Verhütung berufsbedingter Risiken) im Sinne der Empfehlung des Rates vom 18. Februar 2003 für alle selbstständig Erwerbstätigen in der EU gelten, um sicherzustellen, dass generell alle Erwerbstätigen - ungeachtet der Rechtsform ihrer Erwerbstätigkeit – den Basissozialschutz genießen. |
5. Fragen bei der Anerkennung der wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger
5.1 Abhängige Beschäftigte und wirtschaftlich abhängige Selbstständige: Konkurrenz oder Komplementarität?
5.1.1 |
Wie zuvor gesehen, ist die Kategorie der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen nur in einigen wenigen EU-Mitgliedstaaten rechtlich anerkannt. Ganz abgesehen von der Vielfalt der wirtschaftlichen und sozialen Realitäten in den einzelnen Ländern liegt dies auch an legitimen Vorbehalten, die die Existenz solcher Zwischenstufen auslöst. Es ist deshalb zu befürchten, dass, selbst wenn die betreffenden rechtlichen Kategorien geklärt werden, eine Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen in der Praxis dazu führen kann, dass Personen, die bisher abhängig beschäftigt waren, in diese von wirtschaftlicher Abhängigkeit geprägte Selbstständigkeit gedrängt werden, z.B. infolge von Unternehmensstrategien zur Auslagerung von Arbeitsplätzen. Das Beispiel Italiens zeugt in gewissem Maße von dieser Gefahr. 2003 führte die italienische Regierung die „Verträge für projektbezogene Zusammenarbeit“ mit dem Ziel ein, Personen aus der Scheinselbstständigkeit in die abhängige Beschäftigung zu bringen. Zwischen 2003 und 2005 nahm die Zahl der lavoratori parasubordinati (etwa: „arbeitnehmerähnliche Selbstständige“) aber deutlich zu. Diese Bedenken dürften erklären, warum Regierung und Sozialpartner in mehreren EU-Mitgliedstaaten sich nachdrücklich gegen die Schaffung von Zwischenstufen zwischen „Beschäftigten“ und „Selbstständigen“ wenden. Beispielsweise nahm der britische Gewerkschaftsverband TUC 2009 einen Antrag an, in dem empfohlen wird, die Zahl der Beschäftigungsstatus in Großbritannien auf zwei zu beschränken, nämlich auf „abhängige Beschäftigte“ und „selbstständig Erwerbstätige“. |
5.1.2 |
Überlegungen über die Anerkennung wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger lassen sich sicherlich nicht ganz von denen bezüglich der Scheinselbstständigkeit trennen. Die Scheinselbstständigkeit ist ein Phänomen, für das es in vielen EU-Mitgliedstaaten Belege gibt. Das trifft insbesondere auf Sektoren wie das Bauwesen zu, wo diese illegale Praktik derart verbreitet ist, dass sie erst vor kurzem zur Verabschiedung eines gemeinsamen Positionspapiers der europäischen Sozialpartner des Sektors geführt hat. Es kann nicht geleugnet werden, dass es Erwerbstätige gibt, die formal betrachtet (besonders hinsichtlich der Bezeichnung, die von den beteiligten Akteuren selbst für ihre Arbeitsbeziehungen gewählt wird) selbstständig sind, aber ihre Tätigkeit unter Bedingungen ausüben, die denen der Beschäftigten entsprechen. Das gilt üblicherweise für Fälle, in denen ein Arbeitgeber eine Tätigkeit als „selbstständige Erwerbstätigkeit“ bezeichnet, um so die Anwendung des Arbeitsrechts und/oder des Sozialversicherungsrechts zu umgehen. Angesichts dessen fordert die ILO in ihrer Empfehlung Nr. 198 (12) die Staaten auf, in ihre Rechtsvorschriften klare Kriterien zur Bestimmung der Situation einer abhängigen Beschäftigung aufzunehmen, um die Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Diese Frage ist zweifellos von grundlegender Bedeutung. Sie unterscheidet sich jedoch von der Frage der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen. Tatsächlich gibt es große rechtliche Unterschiede zwischen wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen - auch in den Ländern, in denen diese Beschäftigungsform anerkannt ist - und abhängigen Beschäftigten. Anders gesagt: Ein rechtlicher Status für wirtschaftlich abhängige Selbstständige ist nur vorstellbar, wenn sich ihre Definition von der der abhängigen Beschäftigten deutlich unterscheidet. In diesem Zusammenhang spielt das Kriterium des rechtlichen Subordinationsverhältnisses eine wesentliche Rolle. Ist eine Person unter Bedingungen erwerbstätig, die aus ihr einen Beschäftigten machen, sollte sie nicht als wirtschaftlich abhängig bezeichnet werden. Das setzt natürlich voraus, dass es - im Sinne der Empfehlung der ILO - in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine so klar und genau wie möglich formulierte Definition der abhängigen Beschäftigung gibt. Mit anderen Worten: Es muss möglich sein, wirtschaftlich abhängige Selbstständige von abhängigen Beschäftigten zu unterscheiden; und das setzt voraus, dass jeder dieser beiden Begriffe eindeutig festlegt wird. Das setzt auch wirksame Mittel zur Kontrolle der Einhaltung der Rechtsvorschriften voraus. Unter diesen Voraussetzungen ermöglicht es die Anerkennung des Status des wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen, nicht die Scheinselbstständigen, sondern die wirklich Selbstständigen besser zu schützen. Sie kann dann auch den Status des abhängigen Beschäftigten ergänzen. |
5.1.3 |
Darüber hinaus ist zu befürchten, dass bei Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen die Geschäftsbeziehung zwischen einem Kunden und einem wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen so lange fortgeführt wird, bis der wirtschaftlich abhängige Selbstständige letztlich eine Dauerbeschäftigung für Rechnung seines Kunden ausübt. Auch wenn die handelsrechtliche Beziehung anfänglich ganz real ist, muss ihre Fortsetzung über einen mehr oder weniger langen Zeitraum zur Erörterung der Frage führen, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise ein wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger den Status eines bei seinem bisherigen Kunden abhängig Beschäftigten erlangen kann, so dass dieser nun zu seinem Arbeitgeber wird. |
5.2 Chancen durch die Anerkennung wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger
5.2.1 |
Die Anerkennung eines Status des wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen dient in allen Staaten, die sie vorgenommen haben, dazu, einen größeren rechtlichen Schutz für Erwerbstätige vorzusehen, die keine Beschäftigten, sondern echte Selbstständige sind, sich aber in einer Situation befinden, in der sie nicht jenen wirtschaftlichen Schutz genießen können, den sie hätten, könnten sie für eine Vielzahl von Auftraggebern arbeiten. In dieser Hinsicht kann die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigkeit- neben dem durch sie möglicherweise geförderten Schutz hinsichtlich der sozialen Sicherheit und des Berufsstatus - auch ein Mittel sein, um Unternehmergeist und Unternehmerfreiheit zu stärken. Denkbar ist somit, dass ein wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger im Rahmen seiner Geschäftsausübung eine besondere Begleitung (Beratung, finanzielle Hilfen) in Anspruch nehmen kann, die es ihm erlauben, sein eigenes Unternehmen zu entwickeln und letztlich die wirtschaftliche Abhängigkeit zu überwinden. |
5.2.2 |
Schließlich dürfen bei den Überlegungen bezüglich der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen nicht die Interessen der Verbraucher übersehen werden. Tatsächlich geht die Erbringung von Dienstleistungen für Verbraucher häufig mit der Schaffung von Unterauftragsketten einher, in die selbstständig Erwerbstätige und selbstständig, aber wirtschaftlich abhängig Erwerbstätige einbezogen sind. Wenn mithin ein Verbraucher ein Großunternehmen kontaktiert, damit dieses eine (Gas-, Strom-, Telefon-, Digitalfernseh- usw.) Anlage einrichtet oder ein Gerät kontrolliert oder repariert, ist es normalerweise ein selbstständig Erwerbstätiger, der im Namen eben dieses Unternehmens beim Kunden erscheint und dann die volle Verantwortung für eine zufriedenstellende Dienstleistungserbringung trägt. In einer Oligopolsituation können Großunternehmen durch ihre marktbeherrschende Position dem Subunternehmer sehr harte preisliche Bedingungen auferlegen; der Subunternehmer ist dadurch gezwungen, erhebliche Einbußen bei der üblichen Gewinnmarge für die betreffende Dienstleistung hinzunehmen. In diesem Szenario steht der selbstständig Erwerbstätige vor der Alternative, entweder die notwendige Gewinnschwelle zu erreichen oder gute Arbeit abzuliefern. In diesem Zusammenhang ist die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen zum Ausgleich des Vertragsverhältnisses zwischen Erwerbstätigem und Auftraggeber dazu angetan, den wirtschaftlichen Druck, der auf dem Erwerbstätigen lastet, zu verringern, und eine Dienstleistung höherer Qualität für den Endverbraucher zu fördern. |
5.3 Wirtschaftlich abhängige Selbstständige: eine europäische Herausforderung
5.3.1 |
Die Vielfalt der geltenden Berufsstatus in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten wirkt sich zwangsläufig auf die Funktionsweise des europäischen Binnenmarkts aus, vor allem was die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung betrifft. Das gilt insbesondere für Dienstleistungen, die im Zielland von einem selbstständig Erwerbstätigen aus einem anderen Land erbracht werden, da sich dieser, der ja kein Beschäftigter ist, nach den Regelungen seines Heimatlands richten muss (13). Diese Situation ist tatsächlich eine Frage von europäischer Tragweite. |
5.3.2 |
Generell wird in der gemeinsamen Untersuchung der europäischen Sozialpartner vom Oktober 2007 (14) eine Tendenz hin zur Konzentration der Beschäftigung im Dienstleistungssektor bekräftigt – eine Konzentration, die aus den die Produktionsorganisationen betreffenden Veränderungen resultiert. Dieses Untersuchungsergebnis legt den Schluss nahe, dass angesichts der modernen Formen der Arbeitsorganisation und der Produktion der Begriff der Abhängigkeit in der Erwerbstätigkeit über das rein rechtliche Abhängigkeitsverhältnis hinaus überdacht werden muss. |
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) „Key Challenges facing European labour markets: a joint analysis of European social partners“.
(2) Siehe insbesondere den Bericht des Europäischen Observatoriums für die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen (EIRO): „Self-employed workers: industrial relations and working conditions“, 2009.
(3) Siehe den unter Fußnote 2 genannten EIRO-Bericht.
(4) Im Erwägungsgrund 43 der Richtlinie 2005/36/EG vom 7. September 2005 wird eine Definition der freien Berufe vorgeschlagen.
(5) Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen des Begriffs durch EUROSTAT.
(6) Einige Abschnitte dieser Empfehlung sind in Bezug auf das Thema dieser Stellungnahme sehr aussagekräftig:
— |
Es wird anerkannt, dass Selbstständige und abhängig Beschäftigte gemeinsam an einem Arbeitsplatz arbeiten können (Erwägungsgründe 4 und 5). |
— |
Es wird festgestellt, dass Erwerbstätige, die nicht durch ein Arbeitsverhältnis an einen Arbeitgeber gebunden sind, in der Regel nicht unter die Arbeitsschutzbestimmungen fallen (Erwägungsgrund 5). |
— |
Es wird darauf hingewiesen, dass Selbstständige ähnlichen Gefahren für ihre Sicherheit und Gesundheit ausgesetzt sein können wie Arbeitnehmer (Erwägungsgrund 6). |
— |
In den Schlussempfehlungen wird auf die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Sensibilisierung der Betroffenen durch ihre repräsentativen Organisationen hingewiesen. |
(7) „Transformation of labour and future of labour law in Europe“, Europäische Kommission, 1999.
(8) Grünbuch: Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (KOM(2006) 708 endg.).
(9) Stellungnahme des EWSA vom 30.5.2007 zum „Grünbuch: Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, Berichterstatter: Daniel RETUREAU (ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 65), Ziffer 3.1.4.
(10) Siehe Artikel 11 des spanischen Gesetzes vom 11. Juli 2007 betreffend das Selbstständigenstatut.
(11) A. PERULLI: „Travail économiquement dépendant / parasubordination: les aspects juridiques, sociaux et économiques“, Bericht für die Europäische Kommission, 2003.
(12) ILO, Empfehlung betreffend das Arbeitsverhältnis, Nr. 198, 2006.
(13) Siehe auch Erwägungsgrund 87 der Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt.
(14) „Key Challenges facing European labour markets: a joint analysis of European social partners“.
ANHANG
zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Der nachstehende Teil der Stellungnahme der Fachgruppe wurde infolge der vom Plenum angenommenen Änderungen gestrichen; dabei votierte mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen für die Beibehaltung des gestrichen Textes:
Ziffer 1.2
1.2 |
Es sollte die Erarbeitung von Studien gefördert werden, die eine genaue Bewertung der nationalen Erfahrungen mit dem Status wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger ermöglichen. Ausgehend von diesen Evaluierungen sollten die Prioritäten für den Schutz der als wirtschaftlich abhängig eingestuften Erwerbstätigen, die Risiken im Zusammenhang mit der Anerkennung dieser neuen rechtlichen Kategorie sowie die Modalitäten der Kollektivvertretung von wirtschaftlich abhängig Selbstständigen ermittelt werden. |
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
101 |
Nein-Stimmen |
: |
93 |
Stimmenthaltungen |
: |
5 |
Ziffer 1.6
1.6 |
Es sollte erwogen werden, auf europäischer Ebene für alle Erwerbstätigen, seien es abhängig Beschäftigte oder Selbstständige, ein gemeinsames Korpus von Rechten festzulegen. Auf dieser Grundlage wäre es möglich, die unterschiedlichen Definitionen des Grads der Abhängigkeit, in der sich ein Erwerbstätiger befinden kann - von der echten wirtschaftlichen Unabhängigkeit über den Status im rechtlichen Sinne unabhängiger, aber in wirtschaftlicher Hinsicht abhängiger Selbstständiger bis zur abhängigen Beschäftigung - zu klären und einen entsprechenden Schutz festzusetzen. Dieser Ansatz ist bereits in den Mitgliedstaaten zu erkennen, die beschlossen haben, eine Zwischenkategorie der Erwerbstätigen anzuerkennen. In einer Mitteilung der Kommission könnte diese Frage nutzbringend behandelt werden. |
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
108 |
Nein-Stimmen |
: |
88 |
Stimmenthaltungen |
: |
7 |
Ziffer 2 (Einleitung)
Es besteht zunächst ein buchstäblicher Unterschied zwischen einer Person, die selbstständig erwerbstätig ist, und einer Person, die ihre Tätigkeit in Abhängigkeit von jemand anderem ausübt. Dieser scheinbar einfache Unterschied darf jedoch nicht die Tatsache verschleiern, dass die selbstständige Erwerbstätigkeit ein breites Spektrum an sozialen und wirtschaftlichen Situationen abdeckt, die sich gewiss nicht alle über einen Kamm scheren lassen. Eine solche Formenvielfalt der selbstständigen Erwerbstätigkeit existiert in allen Ländern der Europäischen Union. Offensichtlich sind jedoch neben den Berufen, die traditionell als unabhängig bzw. selbstständig erachtet werden und seit langem in der EU etabliert und anerkannt sind, in jüngerer Zeit entsprechend der Entwicklung der Volkswirtschaften und der nationalen Arbeitsmärkte neue Formen der Selbstständigkeit entstanden. Eben diese Formen sind Gegenstand der vorliegenden Stellungnahme. Aus diesen neuen Formen oder Trends der Selbstständigkeit stechen diejenigen besonders heraus, die sich auf Erwerbstätige beziehen, die, ohne in einem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis zu stehen, ihre Tätigkeit in einer Situation der wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Kunden und/oder Auftraggeber ausüben. Diese Formen werden heute gemeinhin als „wirtschaftlich abhängige Selbstständige“ bezeichnet, die im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen. Dabei wird es im Folgenden darum gehen, die neuen Formen der Selbstständigkeit in der Praxis zu ermitteln und darzulegen, ab wann sie die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines selbstständig Erwerbstätigen in Frage stellen können. Es wird somit nicht versucht, die Frage der nichtgemeldeten Erwerbstätigkeit („Schwarzarbeit“) oder der sog. „Scheinselbstständigen“ zu behandeln, auch wenn beide Phänomene gelegentlich in einem augenscheinlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit den wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen stehen.
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
105 |
Nein-Stimmen |
: |
92 |
Stimmenthaltungen |
: |
10 |
Ziffer 5.1.3
5.1.3 |
Darüber hinaus ist zu befürchten, dass bei Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen die Geschäftsbeziehung zwischen einem Kunden und einem wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen so lange fortgeführt wird, bis der wirtschaftlich abhängige Selbstständige letztlich eine Dauerbeschäftigung für Rechnung seines Kunden ausübt. Auch wenn die handelsrechtliche Beziehung anfänglich ganz real ist, muss ihre Fortsetzung über einen mehr oder weniger langen Zeitraum zur Erörterung der Frage führen, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise ein wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger den Status eines bei seinem bisherigen Kunden abhängig Beschäftigten erlangen kann, so dass dieser nun zu seinem Arbeitgeber wird. Vorstellbar ist etwa, dass durch eine Abfolge von Geschäftsverträgen mit ein- und demselben Kunden über einen bestimmten Zeitraum hinweg die Beziehung zwischen den beiden Vertragsseiten nunmehr als abhängiges Beschäftigungsverhältnis bezeichnet werden muss. Das ist besonders notwendig, da der Wechsel in eine durch wirtschaftliche Abhängigkeit geprägte Selbstständigkeit vielfach keine im engeren Sinne freiwillige Wahl darstellt, sondern durch äußere Faktoren erzwungen wird, wie etwa die Auslagerung von Produktionsbereichen oder die Umstrukturierung eines Unternehmens und die daraus resultierende Aufhebung von Arbeitsverträgen. |
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
105 |
Nein-Stimmen |
: |
92 |
Stimmenthaltungen |
: |
5 |
Ziffer 5.2.2
5.2.2 |
Im Übrigen kann die Anerkennung der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen eine Gelegenheit zur Entwicklung der Modalitäten für die Organisation und Kollektivvertretung der neuen Selbstständigen sein. Diese sind häufig isoliert und werden in ihren spezifischen beruflichen Interessen nicht immer durch die in den Mitgliedstaaten existierenden Berufsverbände vertreten. |
Abstimmungsergebnis
Ja-Stimmen |
: |
106 |
Nein-Stimmen |
: |
91 |
Stimmenthaltungen |
: |
5 |
III Vorbereitende Rechtsakte
Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
462. Plenartagung am 28./29. April 2010
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/53 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch — Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik“
KOM(2009) 163 endg.
2011/C 18/09
Berichterstatterin: María Candelas SÁNCHEZ MIGUEL
Die Europäische Kommission beschloss am 22. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Grünbuch – Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik“
KOM(2009) 163 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 141 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Grünbuch der Europäischen Kommission zur Reform der gemeinsamen Fischereipolitik lautet, dass es nicht gelungen ist, die bei der letzten GFP-Reform 2002 festgestellten Probleme in diesem Bereich zu lösen. Die vorgenommenen Änderungen haben in den Problembereichen Überkapazität der Fangflotten, Überfischung der Bestände und Rückgang der Fangmengen keine sichtbaren Auswirkungen gehabt. Die Kommission weist nachdrücklich darauf hin, dass durch den neuen Vorschlag das „Stückwerk und die kleinen Schritte“ der früheren Reformen nachgebessert werden soll. |
1.2 |
Der EWSA empfiehlt, dass die jeweils getroffenen Maßnahmen der Sicherung der Beschäftigung und des territorialen Zusammenhalts dienen und dass die strategischen Ziele ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen, der sozialen und der ökologischen Säule wahren, wobei auf allen Stufen der Fischversorgungskette ein verantwortungsbewusstes und nachhaltiges Verhalten garantiert und gefördert werden muss. |
1.3 |
Zu den Aspekten, die bei der künftigen Reform der GFP stärkere Beachtung finden sollten und die in den Besonderen Bemerkungen dargelegt werden, gehören u.a.:
|
2. Rechtliche Rahmenbedingungen
2.1 |
Laut Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d AEUV hat „die Union ausschließliche Zuständigkeit […] [für die] Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik“. Bei der Festlegung der politischen Strategien, die sich aus der Konsultation mittels des Grünbuchs ergeben, sollten die Standpunkte der Mitgliedstaaten und der betroffenen Kreise berücksichtigt werden, denn so kann wirksam sichergestellt werden, dass alle Akteure an einem Strang ziehen und die festgelegten Vorschriften einhalten. |
2.2 |
Seit Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 hat die Kommission durch Aufstellung von Wiederauffüllungs- und Bewirtschaftungsplänen und Erlass von Verordnungen zur Kontrolle und Umsetzung schrittweise die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen in einigen Punkten verbessert. Sie hat des Weiteren Mitteilungen von großer Bedeutung vorgelegt, insbesondere die Mitteilung KOM(2007) 73 endg., die die Bewirtschaftungsinstrumente in der Fischerei, die auf Nutzungsrechten basieren, zum Gegenstand hat und in der versucht wird, die bestehenden nationalen Systeme zu analysieren und die Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Effizienz durch den Austausch bewährter Praktiken zu prüfen. |
3. Analyse und mögliche Antworten auf die im Grünbuch aufgeworfenen Fragen
3.1 Bewältigung der strukturellen Herausforderungen für die GFP
3.1.1
3.1.1.1 |
Der EWSA teilt bis zu einem gewissen Punkt die von der Kommission vorgenommene Beurteilung und erkennt an, dass es immer noch eine (insbesondere in Anbetracht des technischen Fortschritts) starke Tendenz zur Überkapazität der Fangflotten in Europa gibt, die bislang nicht umgekehrt werden konnte. Dennoch darf die zu negativ ausfallende Bilanz der Kommission nicht verallgemeinert und sollte dahingehend relativiert werden, dass einige Mitgliedstaaten ihre Fangflottenkapazität in unterschiedlichem Maße verringert haben. Auf jeden Fall sollten die vorliegenden Daten über die derzeitigen Fangflotten der Mitgliedstaaten erneut aktualisiert werden. |
3.1.1.2 |
Der EWSA befürwortet die Einschränkung der Flottenkapazität durch Rechtsvorschriften und hält es für dringend erforderlich, die Bewirtschaftungs- und Kontrollmaßnahmen verbindlich vorzuschreiben und zu diesem Zweck Anpassungspläne aufzustellen, die von den Mitgliedstaaten und der EU kofinanziert werden. Dabei sollte einem Kapazitätsabbau Vorrang eingeräumt werden, der für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Fangmöglichkeiten und ökologischen und sozialen Kriterien sorgt. Im Hinblick auf diese Ausgewogenheit sollten Anpassungen nach ökologischen und sozialen Kriterien Vorrang erhalten. Dabei ist vor allem an Schiffe zu denken, die nichtselektive oder umweltschädigende Fanggeräte verwenden, viel Energie verbrauchen oder trotz hoher Fangmengen nur wenige Arbeitsplätze bieten. Im Übrigen sollte der Gedanke eines einmaligen Verschrottungsfonds sorgfältig erwogen werden. Das Abwracken von Schiffen hat soziale Auswirkungen, die berücksichtigt werden müssen. Die Verschrottung von Schiffen endet häufig mit Arbeitsplatzverlusten, ohne dass den angestellten Fischern eine Alternative geboten würde. Der EWSA spricht sich nicht gegen den von der Kommission vorgeschlagenen befristeten Verschrottungsfonds aus, der durchaus sinnvoll wäre, soweit nicht nur die Schiffseigner, sondern auch die angestellten Fischer, deren Arbeitsplätze bedroht sind, davon profitieren würden. Der gemeinschaftliche Fonds sollte auch soziale Maßnahmen wie beispielsweise Beihilfen zur Ausbildung und Umschulung umfassen, um Beschäftigungseinbrüche zu vermeiden. Der EWSA unterstützt daher den Gedanken, dass der Sektor langfristig wirtschaftlich lebensfähig und von öffentlichen Subventionen unabhängig werden muss, die lediglich vorübergehend gewährt werden sollten, solange die strukturellen Schwierigkeiten des Sektors nicht behoben wurden. |
3.1.1.3 |
Der EWSA anerkennt, dass der Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente - wie beispielsweise übertragbarer Fangrechte - sinnvoll sein kann, um das Problem der Überkapazitäten der Fangflotten abzumildern. Der Ausschuss räumt zwar ein, dass durch diese Vorgehensweise die Kapazitäten in einigen Mitgliedstaaten und für bestimmte Fischereien reduziert werden konnten, fordert jedoch die Kommission auf zu belegen, dass eine derartige Maßnahme wirklich begründet ist, und angesichts der Gefahr einer Konzentration der Fangrechte bei einer kleinen Zahl von großen Unternehmen zum Nachteil kleinerer Fischereibetriebe ausführlicher darzulegen, welche Schutzmechanismen unerwünschte Auswirkungen auf die Beschäftigungslage und die Raumordnung verhindern sollen. |
3.1.2
3.1.2.1 |
Der EWSA warnt davor, die strategischen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Fischerei unterschiedlich stark zu gewichten. Stattdessen sollte ein ausgewogener Ansatz gewählt werden, der auf lange Sicht dazu führt, dass dem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Pfeiler der gleiche Stellenwert beigemessen wird. Der EWSA weist darauf hin, dass in dem Grünbuch, wie es bereits bei der Reform des Jahres 2002 der Fall war, der sozialen Dimension der künftigen GFP nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie findet sich nicht ausdrücklich unter den grundlegenden strategischen Zielen. |
3.1.2.2 |
Die stetige Erholung der Bestände und ihre Stabilisierung auf einem Niveau, das eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen zulässt, muss mit sozioökonomischen Folgenabschätzungen einhergehen, um eine finanzielle Unterstützung des Sektors zu ermöglichen, die auf Beschäftigung, Investitionen der Unternehmen in Innovation und Entwicklung sowie Berufsbildungsmaßnahmen gerichtet ist. Darüber hinaus muss den Fischern für die Zeit, in der sich die Fischbestände erholen sollen, ein angemessenes Einkommen zugesichert werden. |
3.1.3
3.1.3.1 |
Der EWSA befürwortet vorbehaltlos die angestrebte Reform des Beschlussfassungsprozesses, um die Politik transparenter, effizienter und kostengünstiger zu machen. Es sollte unterschieden werden zwischen den grundlegenden Prinzipien und Zielen, die der Rat gemeinsam mit dem Europäischen Parlament festlegt, und ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, die Kommission oder gegebenenfalls durch neue, dezentrale Beschlussfassungsorgane, die alle Beteiligte auf lokaler Ebene vertreten. Die Einbindung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften durch eine dezentralisierte Beschlussfassung über technische Fragestellungen (Mikromanagement) scheint ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Da sich die gemeinsam genutzten Fischbestände und Ökosysteme über weite geografische Gebiete erstrecken, begrüßt der EWSA den Vorschlag, dass die Mitgliedstaaten durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Meeresregionen gemeinsam für die Einhaltung der wesentlichen Grundsätze und Normen der GFP Sorge tragen. |
3.1.3.2 |
Im Zuge des Beschlussfassungsprozesses muss darüber hinaus aus den Stellungnahmen der sich in ihrer Arbeit ergänzenden beratenden Organe, das heißt des Beratenden Ausschusses für Fischerei und Aquakultur (BAFA) und der beratenden Ausschüsse auf regionaler Ebene, optimaler Nutzen gezogen werden. Die Initiativen und Stellungnahmen des Ausschusses für den sektoralen Dialog im Bereich Seefischerei sollten ebenfalls berücksichtigt werden. |
3.1.4
3.1.4.1 |
Der EWSA teilt die Ansicht, dass die Akteure in der Fischereiwirtschaft mehr Verantwortung übernehmen müssen, was in der Praxis darin zum Ausdruck kommen könnte, dass bei der Bewirtschaftung der Fischbestände übertragbare Fangrechte - je nach den örtlichen Gegebenheiten können dies individuelle oder kollektive Fangrechte sein - zugrunde gelegt werden, allerdings auch hier unter Berücksichtigung der Darlegungen in Ziffer 3.1.1.3. |
3.1.5
3.1.5.1 |
Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Datenerhebungssysteme zu Durchsetzungszwecken verbessert und finanziell unterstützt werden müssen. Der Fangsektor könnte in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Rolle übernehmen (siehe Ziffer 3.1.4 weiter oben). Des Weiteren sollte die Anwendung der Kontrollmechanismen im Sinne der Effizienz durch die Mitgliedstaaten, die Kommission und die Europäische Fischereiaufsichtsbehörde gemeinsam erfolgen, wobei möglichst viele Interessenträger einzubeziehen sind. Der Ausschuss spricht sich im Übrigen für eine Regelung aus, bei der der Zugang zu Gemeinschaftsmitteln an die tatsächliche Wahrnehmung von Kontrollaufgaben gekoppelt wird, wie bereits in einer früheren Stellungnahme dargelegt wurde (1). |
3.2 Weitere Verbesserung des Fischereimanagements in der EU
3.2.1 |
Der EWSA nimmt die im Grünbuch angestellten Überlegungen zur weiteren Verbesserung des Fischereimanagements in der EU zur Kenntnis und möchte dazu folgende allgemeine Bemerkungen machen:
|
4. Besondere Bemerkungen
4.1 Eine andere Fischereiregelung zum Schutz der handwerklichen Küstenfischerei?
4.1.1 |
Durch die handwerkliche Küstenfischerei entstehen sowohl direkt als auch indirekt zahlreiche Arbeitsplätze, und sie ist ein wichtiger Faktor für die planmäßige Gestaltung und Stärkung des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges der Küstenregionen. Unter günstigen Bedingungen kann die Küstenfischerei zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der strukturellen Krise auf die von der Fischerei abhängigen Gemeinden beitragen. Daher befürwortet der EWSA den Vorschlag, für diesen Sektor einen differenzierten Ansatz zu verfolgen, wobei der Wettbewerb nicht verzerrt werden darf und die besonderen Gegebenheiten des Sektors zu berücksichtigen sind. Für die handwerkliche Küstenfischerei müssen der Zugang zu den Fanggründen, die Zwölfmeilenzone und weitere Rechte in angemessener Weise festgelegt und verteidigt werden. So sollte ihr ein bestimmter Anteil an den nationalen Fangquoten zustehen. Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass die Kriterien für die Definition dieser sehr heterogenen Art des Fischfangs (beispielsweise Fangmenge, Zeiten auf See, Abstand zur Küste, lokale Verbundenheit usw.) vorher festgelegt werden müssen, was auf geeigneter, d.h. lokaler, regionaler oder nationaler Ebene erfolgen sollte. Eine Definition der handwerklichen Küstenfischerei auf nationaler oder lokaler Ebene wäre nach Ansicht des Ausschusses geeigneter als eine einheitliche Definition auf Gemeinschaftsebene. |
4.2 Keine Erneuerung der GFP ohne soziale Dimension
4.2.1 |
Der EWSA ist der Ansicht, dass die sozialen Aspekte der GFP im Grünbuch insgesamt gesehen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die Kommission begnügt sich damit, ihrer tiefen Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass der Verlust von Arbeitsplätzen insbesondere im Fangsektor unvermeidbar ist. Es sei daran erinnert, dass die Zahl der Arbeitsplätze im Fangsektor in den letzten zehn Jahren um 30 % gesunken ist. Da jeder Arbeitsplatzverlust in diesem Teilsektor unweigerlich negative Folgen für die Beschäftigungslage an Land hat (in der verarbeitenden Industrie und in allen Branchen, die ihr vor- oder nachgelagert sind), ist die soziale Bilanz zwangsläufig besorgniserregend. |
4.2.2 |
Eine Reform der GFP muss nach Ansicht des EWSA mit der Erarbeitung einer auf lange Sicht angelegten kohärenten Strategie einhergehen, durch die dem Sektor eine soziale Nachhaltigkeit garantiert wird. Der soziale Aspekt soll auf diese Weise fester Bestandteil aller Teilbereiche der GFP werden. Der EWSA stellt im Folgenden einige Lösungsansätze für die sozialen Probleme des Sektors vor:
|
4.3 Die erforderliche Verbesserung des Marktes und der Geschäftspraktiken
4.3.1 |
Wie im Grünbuch unterstrichen wird, geht nur ein kleiner Teil des im Handel gezahlten Verbraucherpreises für Fisch an den Fangsektor. Die Organisation des Markes ist zum gegebenen Zeitpunkt nicht zufriedenstellend, und die Rentabilität des Sektors dementsprechend gering. Nach Ansicht des EWSA sollte in dieser Lage, die durch eine Fragmentierung des Sektors gekennzeichnet ist, Abhilfe geschaffen werden, denn einer zu großen Zahl an Fischereiunternehmen auf der einen Seite stehen einige wenige Einkaufszentralen gegenüber, die den Erzeugern die Preise diktieren können. Zusätzlich zu den erwähnten Funktionsstörungen mangelt es an politischem Willen, um die Transparenz und Rückverfolgbarkeit im Handel mit Fischereierzeugnissen zu verbessern. Der EWSA betont, wie wichtig die Einhaltung der Rechtsvorschriften und die Kontrolle der korrekten Kennzeichnung sämtlicher Fischerei- und Aquakulturprodukte aus der EU wie aus Drittstaaten ist, denn dadurch kann Verwirrung bei den Verbrauchern vermieden und gewährleistet werden, dass diese die für verantwortungsvolles Einkaufen nötigen Informationen erhalten. Schließlich fordert der EWSA, dass mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden, um auf dem Land-, See- oder Luftweg eingeführte Tiefkühlprodukte sowie die Einhaltung der Kennzeichnungsvorschriften (gemäß der entsprechenden Verordnung) zu kontrollieren. |
4.4 Umwelt und Forschung
4.4.1 |
Die GFP ist von anderen Politikbereichen abhängig, die einen bedeutenden Einfluss auf den Fischereisektor ausüben und in denen die angestrebten Ergebnisse ebenfalls nicht erreicht wurden. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie 2008/56/EG, die in erster Linie darauf abzielt, einen gemeinschaftlichen Aktionsrahmen für die europäische Politik im Bereich der Meeresumwelt zu schaffen. Nicht nur die katastrophalen Ölverschmutzungen infolge von Tankerunglücken wie im Falle der Erika oder der Prestige machen ein gemeinsames Handeln erforderlich, sondern auch das Einleiten von Abwässern, die immer massivere Bebauung und weitere Eingriffe in den Küstenraum. |
4.4.2 |
Auch der Klimawandel hat einen Einfluss auf die Meeresumwelt und kann eine Erwärmung oder Verschmutzung des Wassers oder die Änderung von Meeresströmungen verursachen. Dies wirkt sich auf die Erholung der Fischbestände aus und kann dazu führen, dass die Schonzeiten nicht die beabsichtigte Wirkung haben. |
4.4.3 |
Die Umweltpolitik muss als gemeinschaftliche Querschnittspolitik in die GFP eingegliedert werden. Der EWSA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass alle europäischen Politikbereiche integriert werden müssen. In dieser Hinsicht kann die GFP natürlich einen Beitrag zur Umsetzung eines integrierten Ansatzes zum Schutz der Meeresumwelt leisten. |
4.4.4 |
Es ist sinnvoll, Indikatoren zur Bewertung der Wirksamkeit der Maßnahmen zum Schutz der Meeresumwelt festzulegen (2). Ihre Überwachung sollte auf internationaler Ebene erfolgen, und zwar durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Europäischen Umweltagentur oder im Internationalen Rat für Meeresforschung. |
4.4.5 |
Informationen sind für einen erfolgreichen Schutz der Meeresumwelt von ausschlaggebender Bedeutung. Daher ist es so wichtig, die auf nationaler Ebene erhobenen Daten zu analysieren. Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Forschung auf diesem Gebiet intensiviert werden muss, und unterstützt die Schaffung der notwendigen Instrumente, um die Beziehungen zwischen Wissenschaftlern, Fischern, zuständigen Behörden und der Union auszubauen. Von großer Bedeutung ist seines Erachtens auch die Mitteilung „Eine europäische Strategie für die Meeresforschung und die maritime Forschung“ (3), zu deren Umsetzung eine finanzielle Unterstützung erforderlich ist, da der Einsatz von Mitteln des Rahmenprogramms allein nicht ausreicht. |
4.4.6 |
Darüber hinaus ist es wichtig, jungen Forschern Anreize für eine Tätigkeit auf diesem Gebiet zu bieten und einen Mechanismus zu schaffen, durch den bewährten Verfahrensweisen gebündelt werden. Diese können dann den zuständigen Behörden und vor allem den regionalen Fischereiorganisationen als Richtschnur dienen und von den einzelnen Meeresregionen je nach Nutzen für sie übernommen werden. Gegenwärtig werden von einigen Mitgliedstaaten große Anstrengungen unternommen, um nachhaltige Fischereipraktiken und Prozesse der Wiederherstellung der Meeresumwelt zu fördern. |
4.5 Für eine verantwortungsvolle internationale Dimension der GFP
4.5.1 |
Die erneuerte GFP muss eine verantwortungsvolle und nachhaltige Fischerei fördern, auch über die Grenzen der Gemeinschaftsgewässer hinaus. Durch ihre aktive Beteiligung an den Beschlüssen der internationalen Organisationen (UNO, FAO) und der regionalen Fischereiorganisationen kommt der EU hier eine wichtige Rolle zu. Sie muss vor allem für eine wirksamere Kontrolle der Hochseefischerei und eine effizientere Bekämpfung der illegalen, unregulierten und ungemeldeten Fischerei (IUU-Fischerei) Sorge tragen. |
4.5.2 |
Im Hinblick auf die regionalen Fischereiorganisationen hält es der EWSA für erforderlich, dass durch die GFP eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischerei im Bereich all dieser regionalen Organisationen gefördert wird, wobei der Einhaltung der Rechtsvorschriften, der Bewirtschaftung der Kapazitäten mit den verfügbaren Ressourcen und der Stärkung der Verwaltung und Kontrolle durch Aufstellung langfristiger Bewirtschaftungspläne und Strategien zur Erhaltung der Ökosysteme besondere Beachtung zu schenken ist. |
4.5.3 |
Bezüglich der partnerschaftlichen Fischereiabkommen (PFA) spricht sich der EWSA dafür aus, die Partnerländer durch Finanzhilfen und technische Unterstützung in die Lage zu versetzen, eine nachhaltige Fischereipolitik zu gestalten und gleichzeitig die Überwachung und Kontrolle in den Gewässern der betroffenen Regionen auszubauen. Die Behörden der Partnerländer außerhalb der EU müssen in diesem Zusammenhang durch die wirksame Kontrolle der in den PFA festgelegten Zielsetzungen für die ordnungsgemäße Verwendung der vom europäischen Steuerzahler aufgebrachten Gelder verantwortlich gemacht werden. Der EWSA schlägt im Sinne einer korrekteren Verwendung der gewährten Gelder eine Zweckbindung der Hilfen vor, so dass sichergestellt wird, dass die Mittel auch tatsächlich zu dem Zweck, zu dem sie gewährt wurden, verwendet werden. Das würde dazu beitragen, die sozialen und Beschäftigungsbedingungen in den Partnerländern zu verbessern. |
4.5.4 |
Der EWSA fordert eine Unterscheidung zwischen dem für den Zugang der Hochseeflotte gezahlten Preis, der von den Schiffseignern getragen wird und einen angemessenen Anteil am Wert des Fanges ausmacht, und der im Rahmen der partnerschaftlichen Fischereiabkommen gezahlten finanziellen Gegenleistung, die für die Entwicklungshilfe bestimmt ist. Letztere sollte der Bedeutung des Fischereisektors für die Linderung der Armut Rechnung tragen. |
4.5.5 |
Der EWSA erhofft sich eine neue Struktur für die GFP, in der die soziale Dimension gebührend Berücksichtigung findet. Langfristig geht es darum, im Hinblick auf Arbeitsbedingungen, Entlohnung und den Zugang zur Aus- und Weiterbildung die Gleichstellung der Arbeitnehmer aus Drittstaaten mit jenen aus der EU zu erreichen. Des Weiteren spricht sich der EWSA dafür aus, dass bei der Anheuerung von Fischern aus Drittstaaten die gängigen Praktiken des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen zum Tragen kommen, um den Mannschaften auf diese Weise faire Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord europäischer Schiffe zu garantieren. Diese Forderung ist für den EWSA umso wichtiger, als es keine Mindestnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für die Entlohnung von Fischern gibt. |
4.5.6 |
Der EWSA weist darauf hin, dass die Sozialklausel, die von den europäischen Sozialpartnern ausgehandelt wurde und Eingang in die PFA gefunden hat, einen Fortschritt für die Anerkennung der Rechte der örtlichen Arbeitnehmer und des tatsächlichen Wertes ihrer Arbeit darstellt, es allerdings ungewiss ist, ob sie auch wirklich greift. Auch sollte ihre Umsetzung überprüft werden. Daher spricht sich der EWSA dafür aus, die Rechtsgültigkeit dieser Klausel genauer zu definieren und zu stärken. |
4.6 Die Entwicklung einer nachhaltigen Aquakultur
4.6.1 |
Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Aquakultur als vollwertiger Pfeiler in die erneuerte GFP integriert werden sollte, damit ihre Produktion auf europäischer Ebene nicht länger stagniert. Erforderlich sind Maßnahmen zugunsten ihrer Wettbewerbsfähigkeit, damit sie wieder zu einem Bereich wird, der wirtschaftlich rentabel ist, gute Arbeitsplätze bietet und in dem die Bestimmungen zum Schutz der Meeresumwelt eingehalten werden, sei es im Hinblick auf die Wasserqualität, das Entweichen exotischer Arten oder die Nachhaltigkeit der Fischerei zur Produktion von Fischmehl und -öl usw. Darüber hinaus muss der Qualität der Aquakulturprodukte besondere Aufmerksamkeit gelten, wobei diese der Marktaufsicht unterliegen sollte. In jedem Fall sollte die Stellungnahme des EWSA zu diesem Thema berücksichtigt werden, die derzeit erarbeitet wird (NAT/445). |
4.6.2 |
Nach Ansicht des EWSA muss das Ansehen der Aquakultur und der Fischerei sowie ihrer Verarbeitungserzeugnisse verbessert werden, weshalb der Ausschuss empfiehlt, Informations-, Bildungs- und Kommunikationskampagnen durchzuführen und diese in erster Linie auf die europäischen Verbraucher auszurichten. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 56.
(2) ABl. C 85 vom 8.4.2003, S. 87-97.
(3) KOM(2008) 534.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/59 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Zukunft für die Aquakultur — Neuer Schwung für die Strategie für die nachhaltige Entwicklung der europäischen Aquakultur“
KOM(2009) 162 endg.
2011/C 18/10
Berichterstatter: José María ESPUNY MOYANO
Die Europäische Kommission beschloss 8. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Zukunft für die Aquakultur - Neuer Schwung für die Strategie für die nachhaltige Entwicklung der europäischen Aquakultur“
KOM(2009) 162 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 150 gegen 1 Stimme bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der EWSA bringt erneut die bereits in seiner Stellungnahme zur Aquakultur-Strategie von 2003 (1) vorgetragene Sorge zum Ausdruck, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Aquakultur von einem unangemessenen Rechtsrahmen eingeschränkt wird. Sie ist von diversen Regelungen unnötig betroffen, was die Entwicklung der Branche zusätzlich erschwert.
1.2 Daher begrüßt der EWSA die Mitteilung der Kommission, deren Veröffentlichung zum richtigen Zeitpunkt kommt.
1.3 Die europäische Aquakultur muss zu einem nachhaltigen Wachstum zurückkehren, um der Nachfrage nach nahrhaften, gesunden und sicheren aquatischen Erzeugnissen entsprechen zu können. Eine gut entwickelte Aquakultur wird die sozioökonomische Entwicklung der Gebiete, in denen sie betrieben wird, fördern, die Zahl langfristiger und hochwertiger Arbeitsplätze erhöhen und zum Verbleib der Bevölkerung in dem Gebiet beitragen.
1.4 Der EWSA bekräftigt seine Überzeugung, dass der Binnenmarkt zu den wichtigsten Errungenschaften der EU zählt. Daher zeigt er sich besorgt hinsichtlich der uneinheitlichen und widersprüchlichen Gesetzgebung der Mitgliedstaaten, u.a. in Bezug auf die Kennzeichnung aquatischer Erzeugnisse und die Auslegung der europäischen Rechtsvorschriften im Bereich des Umweltschutzes, wie z.B. des Natura-2000-Netzes oder der Wasserrahmenrichtlinie.
1.5 Angesichts der zunehmenden Verdichtung der Küstengebiete sollte nach Synergieeffekten zwischen miteinander kompatiblen Aktivitäten einschließlich des Umweltschutzes gesucht werden. Die gegenwärtige Stagnation der Aquakultur in der EU ist u.a. der Tatsache geschuldet, dass nur eine geringe Fläche für Aquakulturnutzung ausgewiesen wird. Der EWSA empfiehlt, die Verfahren zur Erteilung von Genehmigungen und Konzessionen für Aquakulturfarmen zu verbessern und zu erleichtern. Ebenso sollten die Bearbeitungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden, um die Wartezeiten zu verkürzen.
1.6 Der EWSA bemängelt, dass die derzeitige Kennzeichnung aquatischer Erzeugnisse im Einzelhandel unzureichend ist, wodurch die Verbraucher nicht in der Lage sind, verantwortliche und bewusste Kaufentscheidungen zu treffen. So ist es für die Verbraucher z.B. schwierig, aus der EU stammende aquatische Erzeugnisse von Importware oder auch frische von aufgetauter Tiefkühlware zu unterscheiden.
1.7 Der EWSA sieht mit Sorge, dass die importierten aquatischen Erzeugnisse nicht den Gesundheitsstandards der EU entsprechen. Besonders besorgniserregend sind die unterschiedlichen Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit, die für die Lebensmittelsicherheit von wesentlicher Bedeutung ist. Der EWSA fragt sich außerdem, unter welchen sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen die Importware erzeugt wird, etwa durch Kinderarbeit oder unter sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen.
1.8 In der Aquakultur werden hochwertige Nahrungsmittel durch Aufzucht im Wasser erzeugt; unter schlechten Umweltbedingungen oder in verschmutztem Wasser gelingt dies nicht. Daher muss sichergestellt werden, dass die Gewässer in der EU in gutem Zustand sind.
1.8.1 Der Umweltschutz gehört zu den Prioritäten der EU. Er sollte jedoch nicht der Entfaltung von Wirtschaftsaktivitäten entgegenstehen, die sich sehr wohl mit ihm vereinbaren lassen. Die Europäische Kommission muss sich darum bemühen, die wesentlichen Umweltschutznormen - insbesondere das Natura-2000-Netz - so zu erklären, dass ihr wechselseitiger Zusammenhang und ihre Vereinbarkeit mit der Aquakultur deutlich werden.
1.8.2 Der EWSA empfiehlt, die Kennzeichnung der Erzeugnisse aus Aquakultur mit Umweltsiegeln voranzutreiben, um das hohe Maß an Umweltverträglichkeit der Erzeugnisse aus ordnungsgemäß verwalteten und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Zuchtbetrieben zu bescheinigen und zu fördern.
1.9 Da die europäische Aquakultur eine innovative Branche ist, hält der EWSA die Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung im Bereich der Aquakultur für notwendig. Die jüngst eingerichtete Technologie- und Innovationsplattform der europäischen Aquakultur wird hierfür ein hervorragendes Sprungbrett sein.
1.10 Im Bereich der Tiergesundheit nimmt der EWSA die begrenzte Zahl zugelassener Arzneimittel für die Aquakultur mit Sorge zur Kenntnis.
2. Wesentlicher Inhalt der Mitteilung der Kommission
2.1 In dieser Mitteilung werden die Ursachen der Stagnation untersucht, die in der europäischen Aquakultur festzustellen ist, und Wege aufgezeigt, um dieser neuen Schwung zu geben. Dazu hat die Kommission einen Vorschlag ausgearbeitet, der auf drei Achsen ruht: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, Schaffung der Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum und Verbesserung des Images und der Verwaltung dieses Wirtschaftszweiges.
2.2 Die Kommission will die Wettbewerbsfähigkeit der Aquakulturproduktion in der EU fördern, indem sie die Entwicklung einer konkurrenzfähigen, diversifizierten und innovationsstarken Aquakulturbranche unterstützt.
2.2.1 Die nachhaltige Entwicklung der Aquakultur soll sich auf stützen. Dazu will die Kommission FuEuI-Initiativen und die Entwicklung der Forschungsinfrastruktur fördern und entsprechende Mittel bereitstellen.
2.2.2 Die Kommission strebt einen gleichberechtigten Wettbewerb um für die Aquakultur gegenüber anderen Aktivitäten an und schlägt vor, Synergien zwischen den verschiedenen Wirtschaftsaktivitäten zu ermitteln.
2.2.3 Die europäische Aquakulturbranche soll imstande sein, auf die zu reagieren, sich den Markterfordernissen anzupassen und mit den anderen Akteuren der Vermarktungskette gleichgestellt zu interagieren. Dazu wird die Kommission die Erfordernisse der Branche im Hinblick auf Erzeugerorganisationen, brancheninterne Beziehungen, Verbraucherinformation und Vermarktungsinstrumente prüfen.
2.2.4 In Bezug auf die soll die Aquakultur den damit verknüpften Wirtschaftszweigen Möglichkeiten der Expansion und des Exports bieten. In dieser Hinsicht wird die Kommission die ökologisch nachhaltige Entwicklung der Aquakultur in Drittländern fördern.
2.3 Die Kommission will die Grundlagen für ein nachhaltiges Wachstum der Aquakultur unter Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus der natürlichen Umwelt schaffen. Die in der EU hergestellten oder in die EU importierten Nahrungsmittel aus Aquakultur werden hohen Schutzanforderungen in Bezug auf Verbrauchergesundheit und -sicherheit unterliegen. Die Union wird ein hohes Maß an Gesundheitsschutz und Wohlergehen der Tiere anstreben.
2.3.1 Die muss gewährleistet sein. In dieser Hinsicht wird die Kommission weiter den Akzent auf eine ökologisch nachhaltige Entwicklung der Aquakultur legen.
2.3.2 Umgekehrt muss der Aquakultur eine und eine hohe Wasserqualität geboten werden, damit die Gesundheit der Tiere und die Sicherheit der Erzeugnisse sichergestellt werden können, was insbesondere für Weichtiere gilt.
2.3.3 Für eine möglichst hohe Produktionsleistung und ein optimales Wachstum muss eine entstehen, die einwandfreie Tierhaltungsbedingungen bietet. Die Kommission wird die uneingeschränkte Umsetzung der Richtlinie 2006/88/EG (2) mit Gesundheitsvorschriften für Tiere in Aquakultur sicherstellen.
2.3.4 Der ist ein gemeinsames Anliegen der Verbraucher, der Gesetzgeber und der Erzeuger. Die Kommission wird Rat über die artgerechte Haltung von Fischen einholen und für ein artbezogenes Vorgehen plädieren.
2.3.5 Eines der Hauptprobleme der Aquakultur ist die . Die Kommission wird sich daher für die Umsetzung der Empfehlungen einsetzen, die die Arbeitsgruppe über die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln in ihrem Bericht 2007 formuliert hat.
2.3.6 Auch die Verfügbarkeit von ist nach wie vor von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Aquakultur. Die Kommission wird sich um eine bessere Verfügbarkeit der notwendigen Zusatzstoffe für Fischfutter bemühen und die Verordnung über tierische Nebenprodukte überarbeiten.
2.3.7 Die Kommission muss den sicherstellen und den anerkennen. Die Kommission wird weiterhin darauf achten, dass die Unbedenklichkeit dieser Art von Nahrungsmitteln, seien es EU- oder Importerzeugnisse, für den Verbraucher gewährleistet ist. Sie wird dabei ihr Vorgehen weiter auf wissenschaftliche Erkenntnisse und das Vorsorgeprinzip stützen. Darüber hinaus wird sie den gesundheitlichen Nutzen des Verzehrs von Fisch berücksichtigen.
2.4 Das Image der Branche und die Art ihrer Verwaltung müssen durch die Schaffung gemeinsamer Regeln auf EU-Ebene verbessert werden.
2.4.1 Es kommt darauf an, bei für die Entwicklung der Aquakultur bedeutsamen Entscheidungen Gleichheit unter den Wirtschaftsakteuren zu schaffen. Dies setzt eine bessere voraus. In diesem Sinne wird die Kommission Schritte unternehmen, um die Bekanntheit und Umsetzung ihrer umweltpolitischen Instrumente zu verbessern, insbesondere des Netzes Natura 2000, und dafür Sorge tragen, dass die EU-Vorschriften über Tiergesundheit und Verbraucherschutz ordnungsgemäß umgesetzt werden. Im Hinblick auf Drittländer wird sie darauf achten, dass dort gleichwertige Anforderungen gelten wie im EU-Recht.
2.4.2 Für die weitere Entwicklung der Aquakultur ist es wichtig, dass der insbesondere für kleine und mittelständische Betriebe reduziert wird. Die Kommission wird ihre Politik der Vereinfachung des Rechtsvorschriften und der Reduzierung des Verwaltungsaufwands in der EU fortführen.
2.4.3 Die Kommission wird die und die angemessene Unterrichtung der Öffentlichkeit durch umfassende Konsultationen und transparente Informationen fördern. Dadurch will sie zu einer besseren Regelung und Verwaltung der Aquakultur und zur Förderung ihres Images beitragen.
2.4.4 Die Kommission wird Maßnahmen ergreifen, um eine zu ermöglichen, da sich die amtlichen Statistiken der EU über die Aquakultur gegenwärtig nur auf einen relativ begrenzten Bereich erstrecken. Außerdem wird sie ihre Informationsbasis über Preise erweitern, um ein System zur Beobachtung der gesamten Vermarktungskette zu schaffen.
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 Gegenwärtig werden 47 % der weltweit verzehrten Fische und Meeresfrüchte in Aquakultur erzeugt. Da die Aquakultur außerdem ein beträchtliches Wachstumspotenzial besitzt, kann sie ein wichtiger Baustein einer strategischen Politik zur Sicherung der Lebensmittelversorgung im Hinblick auf die künftige Nahrungsnachfrage sein.
3.2 In den vergangenen zehn Jahren ist die Weltbevölkerung um 12 % gewachsen, gleichzeitig nahm der Verzehr von Fisch um 27 % zu, was u.a. auf die gesundheitsfördernde Wirkung von Omega-3-Fettsäuren zurückzuführen ist, für die Fisch eine hervorragende Quelle ist. Die EU ist weltweit der größte Markt für Fisch und Meeresfrüchte. Der Konsum liegt bei über 12 Mio. Tonnen jährlich bei eindeutig steigender Tendenz. Der Selbstversorgungsgrad liegt nur bei knapp 35 %, 65 % der Ware wird importiert, und dieser Anteil nimmt weiter zu.
3.3 Die europäische Aquakultur gehört in den Bereich der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP), deren Ziel die nachhaltige Nutzung der Bestände von Wassertieren unter ausgewogener Beachtung des ökologischen, des sozialen und des wirtschaftlichen Aspekts ist. In der GFP-Reform müssen die besonderen Eigenschaften der Aquakultur berücksichtigt und branchenspezifische Förderinstrumente sowie wirksame Marktinstrumente bereitgestellt werden. Die GFP sollte in Gemeinsame Fischerei- und Aquakulturpolitik (GFAP) umbenannt werden.
3.4 In bestimmten Küsten- und Binnengebieten der EU ist die Aquakultur heute ein wichtiger Wirtschaftszweig, der die Züchtung von Weichtieren sowie von Fischen in Süß- und Salzwasser umfasst.
3.5 Von einer handwerklich und in kleinem Umfang betriebenen Tätigkeit hat sich die Aquakultur in der EU seit den 1970er Jahren zu einer modernen, dynamischen, innovativen, technisch anspruchsvollen Industrie mit Unternehmen entwickelt, die in vielen Fällen vertikal integriert sind.
3.6 Die Aquakultur in der EU schafft Arbeitsplätze in abgelegenen Küsten- und Flussregionen, die zumeist strukturschwach sind und in denen es kaum andere Arbeitsplatzangebote gibt. Sowohl für Familienbetriebe als auch für KMU gilt, dass die Aquakultur spezialisierte und dauerhafte Arbeitsplätze bietet, die eine fachliche Befähigung erfordern.
3.7 2002 legte die Kommission in ihrer Mitteilung KOM(2002) 511 eine Strategie für die nachhaltige Entwicklung der europäischen Aquakultur mit folgenden Zielen vor:
a) |
Schaffung sicherer Arbeitsplätze, insbesondere in Gebieten, die stark von der Fischerei abhängig sind; |
b) |
Sicherung der Versorgung mit gesunden, sicheren Fischereierzeugnissen in den vom Markt geforderten Mengen; |
c) |
Gewährleistung der Umweltverträglichkeit dieses Wirtschaftszweiges. |
3.8 Die Kommission hat eingeräumt, dass sich die Aquakulturproduktion in der EU seit 2002 nicht im erwarteten Maße entwickelt hat und sogar sowohl bei Weichtieren als auch bei Fisch stagniert (Krebstiere und Algen werden in Europa praktisch nicht gezüchtet), ganz im Gegensatz zu den hohen Wachstumsraten in anderen Teilen der Welt. Sie hält es daher für geboten, ihre Strategie zu überprüfen und eine Bilanz der gegenwärtigen Lage der europäischen Aquakultur zu ziehen.
4. Besondere Bemerkungen
4.1 Die europäische Aquakultur hat ihr Potenzial für die Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung noch nicht ausgeschöpft. Die Gesamtproduktion stagniert seit 2002 und kann den Fangrückgang der Fischereiflotte nicht wettmachen, sodass sich die Außenhandelsbilanz verschlechtert. Dabei kann Europa geeignete Standort- und Umweltbedingungen, moderne Technologie und investitionsbereite Unternehmen vorweisen. Außerdem hat die Aquakulturwirtschaft bewiesen, dass sie über das Know-how und die Mittel verfügt, um ihre Tätigkeit aus Umweltsicht nachhaltig zu betreiben und gesunde, sichere und hochwertige Erzeugnisse anzubieten.
4.2 Das komplizierte EU-Recht, langwierige bürokratische Verfahren, der begrenzte Zugang zu Gebieten in öffentlichem Besitz und übermäßig hohe Verwaltungsauflagen machen Investitionen unattraktiv und hemmen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Aquakulturproduktion.
4.3 Viele Probleme, die die Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Aquakultur beschränken, hängen direkt mit der Politik und den Maßnahmen der nationalen oder regionalen Ebene zusammen. Die nationalen und regionalen Behörden müssen sich dessen bewusst werden und einen entsprechend geeigneten Rahmen schaffen. Es gibt Mitgliedstaaten, in denen in den letzten 15 Jahren keine neuen Zulassungen für Aquakulturen mehr erteilt wurden. Manchmal ist es die Auslegung des EU-Rechts durch die nationalen und regionalen Behörden, die für Verzerrungen sorgt, wie im Fall des Natura-2000-Netzes, aus dem einige Verwaltungen die Aquakultur zu Unrecht ausklammern. Andererseits müssen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Regionen mit Regelungsbefugnissen ihre Rechtsvorschriften aufeinander abstimmen, um den Freihandel innerhalb der EU nicht durch künstliche Barrieren zu hemmen.
4.4 Die Gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur, die eigentlich die Märkte stabilisieren und der Einkommenssicherung der Aquakulturbetreiber dienen sollte, bedarf dringend einer Überarbeitung im Sinne einer Unterstützung der Erzeugerorganisationen.
4.5 In der früheren Mitteilung KOM(2002) 511 standen die Umweltaspekte der Aquakultur zu sehr im Vordergrund, während die wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit erst an zweiter Stelle kam. In der aktuellen Mitteilung KOM(2009) 162 ist das Verhältnis zwischen den drei Pfeilern der Nachhaltigkeit - dem ökologischen, dem sozialen und dem ökonomischen - ausgewogener. So wird etwa anerkannt, dass die ökologische Nachhaltigkeit nur mit konkurrenzfähigen, rentabel arbeitenden Unternehmen möglich ist.
4.6 Die meisten Aquakulturbetriebe in der EU arbeiten effizient und könnten voll wettbewerbsfähig sein, wenn Chancengleichheit mit Importprodukten bestünde. Gegenwärtig sind die Voraussetzungen für diese Chancengleichheit aber weder in der Produktion noch in der Vermarktung gegeben. In der Produktion müssen sich die europäischen Erzeuger an strikte Normen für Futterinhaltsstoffe, Beschränkungen bei der Verabreichung von Tierarzneimitteln, Umweltauflagen und andere gesellschaftliche Anforderungen halten, die von Aquakulturbetreibern in Drittländern nicht verlangt werden, die aber dennoch ihre Produkte frei auf dem EU-Binnenmarkt in Verkehr bringen dürfen (auch Produkte, die durch Kinderarbeit oder unter anderen Verstößen gegen das Recht auf menschenwürdige Arbeit und angemessene Entlohnung erzeugt wurden). Und bezüglich der Vermarktung gibt es Länder, die ihre Aquakulturproduktion mit regelwidrigen Anreizen fördern, deren Erzeugnisse dann in der EU vermarktet werden.
4.7 Der Verbraucher wird zu wenig über die Eigenschaften der Fische und Meeresfrüchte, die er kauft, informiert und kann daher die Unterschiede bei Qualität und Preis nicht richtig einschätzen. Dies ist ein erheblicher Nachteil für die europäischen Erzeuger, deren Produkte im Allgemeinen höherwertiger als Importware sind. Zu dieser Desinformation gehört zum Beispiel eine nicht korrekte Angabe des Herkunftslandes oder der gebräuchlichen Bezeichnung eines Produktes. Besonders gravierend ist dies jedoch im Fall von Fischfilet, das aufgetaut zum Verkauf angeboten wird, eigentlich aber aus weit entfernten (zumeist asiatischen) Ländern stammt. Solches Fischfilet liegt in der gleichen Ladentheke zum Verkauf aus wie wirklich frisches Filet, der Verbraucher wird aber nicht eindeutig über die Erzeugungsbedingungen beider Sorten informiert, sodass der Preis zum alleinigen Kaufkriterium wird. Dies kann bei erneutem Einfrieren überdies zu Problemen für die Gesundheit der Bevölkerung führen.
4.8 Der EWSA empfiehlt daher sowohl eine Vereinfachung der Kennzeichnung insbesondere durch die genaue Angabe des Herkunftslandes bzw. der -region als auch eine Intensivierung der Inspektion und Kontrolle an den Grenzen.
4.9 Die korrekten Produktangaben müssen durch Schulungs- und Informationsaktionen in der gesamten Vertriebs- und Vermarktungskette bis hin zu den Verbrauchern ergänzt werden. So sollte insbesondere auf den Gehalt an Omega-3-Fettsäuren (und zwar EPA und DHA) hingewiesen werden.
4.10 Der EWSA empfiehlt Kampagnen zur Verbesserung des Images der Aquakultur, ihrer Erzeugnisse und ihrer Produktionsmethoden. Welche Aussagen dabei zu vermitteln sind, sollte von einer spezifischen Studiengruppe festgelegt werden mit dem Auftrag, unter Einbeziehung der Branche entsprechende Initiativen vorzuschlagen. Diese sollten länderübergreifend durchgeführt und daher notwendigerweise von der Europäischen Kommission koordiniert werden.
4.11 Die europäische Aquakultur ist eine Wirtschaftsaktivität mit hoher Technologie- und Innovationsausrichtung, die auf kontinuierliche wissenschaftliche Forschung angewiesen ist. Das aktuelle Siebte Rahmenprogramm, das die gesamte Forschungsförderung der EU bündelt, enthält weniger Möglichkeiten für die Aquakulturforschung als die Vorgängerprogramme. Dies erschwert die Verbesserung der Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Aquakultur. Verschiedene Unternehmen und Organisationen der europäischen Aquakultur haben unlängst die Technologie- und Innovationsplattform der europäischen Aquakultur (EATIP) gegründet, die die Prioritäten dieser Branche in Bezug auf FuEuI und eine Strategie zu ihrer Umsetzung formulieren soll.
4.11.1 Es muss weiterhin nach alternativen, sicheren und nachhaltigen Zutaten geforscht werden, die dem ernährungsphysiologisch-biologischen Bedarf der Fische gerecht werden und dabei einen gleichbleibenden Nährwert des Endprodukts sicherstellen.
4.11.2 Die derzeitigen Produktionssysteme müssen weiter optimiert werden, insbesondere diejenigen, die eindeutig über Expansionspotenzial verfügen, etwa die Offshore-Aquakultur und Aquakultur in Wasserkreislaufsystemen.
4.12 Die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln ist ein ernstes Hemmnis für die Entwicklung der Aquakultur. Zurzeit verfügt die europäische Aquakultur nicht in ausreichendem Maße über tierärztliche Mittel, wie z.B. Anästhetika, Impfstoffe oder Antibiotika. Hierdurch wird die Lebensfähigkeit der Branche bedroht und sowohl die Gesundheit der Tiere und ihr Wohlergehen als auch die Lebensmittelsicherheit und der Schutz der Umwelt beeinträchtigt.
4.13 Die Kommission schlägt in ihrer Mitteilung die Unterstützung des Exports von Aquakultur-Produktionstechnologien in Drittländer vor. Diese Initiative basiert auf dem Gedanken der Solidarität, die zweifellos unterstützenswert ist, doch ist dabei zu bedenken, dass die künftigen Aquakulturerzeugnisse, die das Ergebnis dieses Technologieexports sein werden, letztlich wohl in die EU exportiert werden, wo sie in Konkurrenz zu EU-Erzeugnissen treten.
4.14 Die Kommission beschreibt in ihrer Mitteilung zutreffend die Ursachen der gegenwärtigen Stagnation der Aquakultur in der EU. Damit darf die Arbeit jedoch nicht als erledigt angesehen werden, sondern dies muss der Ausgangspunkt für die Konzipierung und Entwicklung konkreter Maßnahmen sein, die der nachhaltigen Entwicklung der europäischen Aquakultur neuen Schwung geben.
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 208 vom 3.9.2003, S. 89–93.
(2) ABl. L 328 vom 24.11.2006, S. 14.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/64 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Das BIP und mehr — Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“
KOM(2009) 433 endg.
2011/C 18/11
Berichterstatter: Josef ZBOŘIL
Die Europäische Kommission beschloss am 20. August 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Das BIP und mehr – Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“
KOM(2009) 433 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. Februar 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 168 gegen 3 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Mitteilung der Europäischen Kommission „Das BIP und mehr - Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“ und die darin vorgeschlagenen Initiativen. Er betont, dass wir erst am Beginn dieses langen Weges stehen und die Wahl der richtigen Instrumente und Messgrößen sowie deren Berücksichtigung bei der Steuerung der wichtigsten Maßnahmen und Strategien kein leichtes Unterfangen sein wird.
1.2 Die Europäische Kommission steht vor der immensen Aufgabe, eine Pilotversion des umfassenden Umweltindex auszuarbeiten, der offenbar als aggregierter Index angelegt ist. Daher muss die Frage beleuchtet werden, wie die Auswirkungen der einzelnen ökologischen Faktoren gewichtet werden sollen. Die Interessenträger sollten im Rahmen einer Konsultation von Beginn an in die Ausarbeitung dieses Index eingebunden werden.
1.3 Die Ausarbeitung eines umfassenden Index für die Lebensqualität und den sozialen Zusammenhalt wird sich noch schwieriger gestalten. Es müssen unbedingt Pilotprojekte in diesem Bereich konzipiert werden. Die Europäische Kommission sollte diesen Bereich als Nadelöhr des gesamten Vorhabens erkennen und rasch Pilotprojekte auf den Weg bringen.
1.4 Für Strategieplanung und Politikgestaltung sind die langfristigen Entwicklungstrends der grundlegenden Parameter von Bedeutung. Daher sollten die in Echtzeit zu überwachenden Faktoren aus diesem Blickwinkel festgelegt werden. Es gilt, überlegt und rasch auf die ermittelten Veränderungen zu reagieren.
1.5 Auch für die Europäische Union insgesamt sollte die nationale Ebene innerhalb eines klaren, vereinheitlichenden Gemeinschaftsrahmens weiterhin als Grundlage für die Datenerhebung, -auswertung und -umwandlung in Indikatoren und Messgrößen dienen. Für ihre Bewertung muss ein ganzheitlicher, holistischer Ansatz gewählt werden, um Konflikte bei der Beurteilung bestimmter Instrumente und etwaige, von ungelösten Konflikten ausgehende Risiken zu verringern.
1.6 Zweck der Bewertung der nachhaltigen Entwicklung ist die Erfassung der Trends in zwei grundlegenden Bereichen: 1.) die Bewertung der Tragfähigkeit sowie 2.) die Bewertung der Entwicklung der gesellschaftlichen Governance. Die Kommission geht mit dem in ihrer Mitteilung festgehalten Vorschlag (Anzeiger für nachhaltige Entwicklung und Überwachung der Schwellenwerte für Schadstoffe) in diese Richtung; dies wird vom Ausschuss begrüßt.
1.7 Der Ausschuss begrüßt außerdem die Anstrengungen der Europäischen Kommission, die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auf ökologische und soziale Aspekte auszudehnen. Anfang 2010 soll ein Vorschlag für einen Rechtsrahmen für die umweltökologische Gesamtrechnung vorliegen. Die in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bereits verfügbaren sozialen Indikatoren werden noch nicht voll genutzt. Diese Indikatoren werden wahrscheinlich umso stärker herangezogen werden müssen, je umfassender und integrierter der Ansatz für die Bemessung und Bewertung des Fortschritts in einer sich wandelnden Welt wird.
1.8 Dieser bevorstehende Wandel wird weder schnell noch einfach sein. Aus diesem Grund muss insbesondere der analytischen Vorbereitung und Planung der Instrumente besonderes Augenmerk gewidmet werden. Ihre Wechselwirkungen müssen dazu eingehend untersucht werden und Gegenstand weitreichender Konsultationen der Interessenträger sein, um die Akzeptanz des Wandels in einem breiten internationalen Kontext zu erleichtern.
1.9 Um die Arbeiten voranbringen und die nächsten Schritte strukturieren zu können, müssen sämtliche verfügbaren Überlegungen und Vorhaben herangezogen werden. Das entscheidende Kriterium muss die Gewährleistung des höchsten Maßes an Objektivität und die Wahrung der Unabhängigkeit und Qualität der Statistiken sein. Der Ausschuss ist bereit, zur Bewertung der grundlegenden Veränderungen beizutragen und ihre Akzeptanz in der Zivilgesellschaft zu fördern.
1.10 Die Kommission sollte einen Zeitplan und Fristen für die einzelnen Elemente des zu schaffenden Systems festlegen. So sollte insbesondere die Aufnahme einiger neuer Maßnahmen in die neue EU-2020-Strategie und die Strategie für nachhaltige Entwicklung angestrebt werden. Bis 2011 sollte ein Rahmen festgelegt werden, in dem klare Vorschläge für international vergleichbare Maßnahmen für den Weltgipfel zur nachhaltigen Entwicklung ausgearbeitet werden können, den die Vereinten Nationen für 2012 einberufen werden.
2. Einleitung
2.1 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der bekannteste Maßstab für die makroökonomische Tätigkeit. (BIP = Verbrauch der privaten Haushalte + Investitionen + Staatsverbrauch + (Ausfuhren – Einfuhren). Der Rechtsrahmen und die Berechnungsregeln sind im europäischen System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen festgelegt, das weitgehend mit dem UN-System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen übereinstimmt.) Das BIP wurde zur Standard-Benchmark, das politische Entscheidungsträger weltweit anwenden und das in öffentlichen Diskussionen allgemein herangezogen wird. Das BIP ist der aggregierte Mehrwert aller auf Geld basierenden wirtschaftlichen Tätigkeiten. Es beruht auf einem eindeutigen Verfahren, wodurch Vergleiche im Zeitverlauf und zwischen verschiedenen Ländern und Gebieten möglich werden.
2.2 Das BIP hat inzwischen auch die Rolle eines stellvertretenden Indikators für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und den Fortschritt im Allgemeinen. Insbesondere misst das BIP weder die Nachhaltigkeit im Umweltbereich noch die soziale Integration. Diese Einschränkungen müssen berücksichtigt werden, wenn das BIP in politischen Analysen und Diskussionen herangezogen wird (Eine aktuelle Übersicht über die Schwachpunkte des BIP findet sich in Stiglitz/ Sen/Fitoussi (2008) Issues Paper: „Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“, siehe http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/documents/Issues_paper.pdf).
2.3 Seit rund zehn Jahren werden auf unterschiedlicher Ebene Diskussionen geführt. Der Ausschuss hat im Oktober 2008 eine Initiativstellungnahme (1) verabschiedet, in der er aktuelle Überlegungen beleuchtet und die Anstrengungen zur Suche nach geeigneten ergänzenden Messgrößen unterstützt, die der Entwicklung der Gesellschaft besser gerecht werden.
2.4 In der Mitteilung der Kommission werden einige Maßnahmen vorgestellt, die kurz- und mittelfristig getroffen werden können. Allgemeines Ziel ist, umfassendere Indikatoren zu entwickeln, die eine zuverlässigere Wissensgrundlage für eine bessere öffentliche Diskussion und eine sachgerechtere Entscheidungsfindung schaffen. Die Europäische Kommission möchte in Zusammenarbeit mit den Interessengruppen und Partnern Indikatoren erarbeiten, die international anerkannt und angewandt werden.
3. Zusammenfassung der Kommissionsmitteilung
3.1 Die Europäische Kommission schlägt die nachstehenden fünf Maßnahmenkategorien vor, die je nach dem Ergebnis der für 2012 geplanten Überprüfung überarbeitet oder ergänzt werden können.
3.2 Ergänzung des BIP durch ökologische und soziale Indikatoren: Indikatoren, die wichtige Fragen in einer einzigen Zahl zusammenfassen, sind entscheidende Kommunikationshilfsmittel. Das BIP, die Arbeitslosenquote und die Inflation sind bekannte Beispiele für solche zusammenfassenden Indikatoren. Diese Indikatoren sind aber nicht für die Standortbestimmung in Umweltfragen oder beim Abbau sozialer Ungleichheiten geeignet. Die Europäische Kommission will daher einen umfassenden Umweltindex erarbeiten und die Indikatoren für die Lebensqualität verbessern.
3.2.1 Ein umfassender Umweltindex: Es gibt zurzeit keinen umfassenden Umweltindex. Infrage kämen hierfür insbesondere der ökologische und der CO2-Fußabdruck, aber diese beiden Messwerte haben einen begrenzten Anwendungsbereich (Der CO2-Fußabdruck gibt nur die Treibhausgasemissionen wieder. Beim ökologischen Fußabdruck sind mehrere Auswirkungen, z.B. auf das Wasser, ausgeklammert. Die Europäische Kommission prüft ihn jedoch zusammen mit weiteren Indikatoren, um die Umsetzung der thematischen Strategie für die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen und den Aktionsplan zur Erhaltung der biologischen Vielfalt zu überwachen.) Die Kommissionsdienststellen wollen 2010 eine Pilotversion dieses umfassenden Umweltindex vorstellen. In diesen Index werden die wichtigsten Bereiche der Umweltpolitik einfließen:
— |
Klimawandel und Energieverbrauch; |
— |
Natur und Artenvielfalt; |
— |
Luftverschmutzung und Auswirkungen auf die Gesundheit; |
— |
Wasserverbrauch und -verschmutzung; |
— |
Abfallerzeugung und Ressourcenverbrauch. |
3.2.2 Lebensqualität und Wohlergehen: Einkommen, öffentliche Dienstleistungen, Gesundheit, Freizeit, Wohlstand, Mobilität und eine saubere Umwelt sind Mittel zur Erreichung und Unterstützung dieser Ziele. Die Kommission hat Studien zur Durchführbarkeit von Indikatoren für das Wohlergehen und zur Stärkung der Verbraucherrechte und - zusammen mit der OECD - zu der Frage in Auftrag gegeben, was die Menschen unter Wohlergehen.
3.3 Informationen in Beinahe-Echtzeit für die Entscheidungsfindung: Die Zahlen zum BIP und zur Arbeitslosigkeit werden oft schon innerhalb weniger Wochen nach dem erfassten Zeitraum veröffentlicht, was eine Entscheidungsfindung beinahe in Echtzeit ermöglicht. Umwelt- und Sozialdaten sind oft schon zu alt, um brauchbare Informationen etwa zur schnellen Veränderung der Luft- und Wasserqualität oder zu Arbeitsmerkmalen zu liefern.
3.3.1 Deshalb wird die Europäische Kommission darauf hinarbeiten, die Zeitnähe der Umwelt- und Sozialdaten zu verbessern, um die politischen Entscheidungsträger EU-weit besser zu informieren. Dank Satelliten, automatischer Messstationen und Internet wird es immer einfacher, die Umwelt in Echtzeit zu überwachen. Hier seien die INSPIRE-Richtlinie (Richtlinie 2007/2/EG) und das GMES-System (Global Monitoring for Environment and Security - globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung, KOM(2009) 223 endg.) genannt.
3.3.2 Wo möglich wird die Zeitnähe sozialer Daten verbessert, etwa mit dem neuen Europäischen System sozialstatistischer Erhebungsmodule.
3.4 Genauere Berichterstattung über Verteilung und Ungleichheiten: Der soziale und der wirtschaftliche Zusammenhalt sind übergreifende Ziele der Gemeinschaft. Vorhandene Daten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, etwa zu den Einkommen der Privathaushalte oder aus sozialen Erhebungen wie EU-SILC (Statistics on Income and Living Conditions – Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen), lassen bereits eine Aufschlüsselung nach den wichtigsten Verteilungsfragen zu.
3.5 Entwicklung eines europäischen Anzeigers für nachhaltige Entwicklung: Die Indikatoren der EU für nachhaltige Entwicklung (vgl. Eurostat-Statistikband „Measuring progress towards a more sustainable Europe - 2007“ (Messung der Fortschritte auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Europa)) wurden zusammen mit den Mitgliedstaaten entwickelt und werden in dem alle zwei Jahre erscheinenden Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission aufgegriffen. Dieses Überwachungsinstrument reicht aber nicht aus, um neue, noch nicht in amtlichen Statistiken berücksichtigte Entwicklungen in wichtigen Bereichen (wie etwa Nachhaltigkeit in Entwicklung und Verbrauch oder ordnungspolitische Fragen) in vollem Umfang zu erfassen.
3.5.1 Deshalb prüft die Europäische Kommission die Möglichkeiten, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen Anzeiger für nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten. Dieser Anzeiger, der sich auf die Daten des EU-Index für nachhaltige Entwicklung stützt, könnte auch andere öffentlich verfügbare quantitative und qualitative Informationen einbeziehen.
3.5.2 Ein Hauptziel der Datensätze des Anzeigers für nachhaltige Entwicklung ist die Beachtung der Grenzen der natürlichen Ressourcen. Dies beinhaltet die begrenzte Kapazität der Natur zur Bereitstellung natürlicher Ressourcen einerseits und zur Aufnahme von Schadstoffen andererseits. Es ist wichtig zu wissen, wo die „Gefahrenbereiche“ vor den eigentlichen Kipp-Punkten liegen, und entsprechende Warngrenzwerte festzusetzen. Daher wäre es sinnvoll, Schwellenwerte für die wichtigsten Schadstoffe und erneuerbaren Ressourcen festzulegen und diese regelmäßig zu aktualisieren, damit Informationen für die politische Diskussion bereitstehen und die Festsetzung von Zielen und die Bewertung von Maßnahmen unterstützt wird.
3.6 Einbeziehung ökologischer und sozialer Anliegen in die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen: Das Europäische System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ist das wichtigste Instrument für die Wirtschaftsstatistik der EU und für viele wirtschaftliche Indikatoren (einschließlich des BIP). Der Europäische Rat hat in seinen Schlussfolgerungen vom Juni 2006 die EU und die Mitgliedstaaten aufgefordert, die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auf Kernaspekte der nachhaltigen Entwicklung auszudehnen. Die Kommission wird dafür sorgen, dass die Arbeiten bei künftigen Überarbeitungen des internationalen und des europäischen Systems volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen weitergeführt werden. Auf längere Sicht wird davon ausgegangen, dass eine stärker integrierte ökologische, soziale und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die Basis für neue Indikatoren auf oberster Ebene bildet.
3.6.1 Integrierte umweltökonomische Gesamtrechnung: Die Kommission hat 1994 ihre erste Strategie zu einem „grünen“ Rechnungssystem vorgelegt (KOM(1994) 670 endg.). Seitdem haben Eurostat und die Mitgliedstaaten - in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und der OECD - die Rechnungslegungsverfahren so weit entwickelt und erprobt, dass mehrere Mitgliedstaaten inzwischen in regelmäßigen Abständen erste umweltökonomische Gesamtrechnungen vorlegen. In der Folge können physische umweltökonomische Gesamtrechnungen für Energieverbrauch, Abfallerzeugung und -behandlung sowie monetäre Rechnungen für umweltbezogene Subventionen erstellt werden. Um sicherzustellen, dass diese Gesamtrechnungen untereinander vergleichbar sind, plant die Europäische Kommission, Anfang 2010 einen Vorschlag für einen Rechtsrahmen für die umweltökonomische Gesamtrechnung vorzulegen.
3.6.2 Verstärkte Anwendung vorhandener sozialer Indikatoren aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Das gegenwärtige europäische System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen enthält bereits Indikatoren, die auf sozial maßgebliche Themen hinweisen, so z.B. das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte oder das verfügbare Einkommen (Ausgabenkonzept), bei dem die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern im Sozialschutz berücksichtigt sind.
4. Allgemeine Bemerkungen
4.1 Die Problematik einer kohärenteren Messung des Fortschritts der gesellschaftlichen Entwicklung ist zunehmend ins Interesse von Politik und Öffentlichkeit gerückt. Es bedarf neuer Konzepte, um aufzeigen zu können, wie die demografische und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft mit der Begrenztheit unseres Planeten und seiner Ressourcen in Einklang gebracht werden können.
4.2 Neue Konzepte und Methoden zur Messung des Fortschritts sind in unserem heutigen immer komplexeren gesellschaftlichen Umfeld unabdingbar, um eine strategische Vision für Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie die EU besser festlegen zu können. Sie sind wichtig, um den Ressourcenbedarf für die Verwirklichung der strategischen Ziele festzulegen, insbesondere der nachhaltigen Entwicklung, die u.a. auf einem effizienten Klimaschutz und einem sparsamen Ressourcenumgang beruht.
4.3 Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Festlegung wesentlicher Gemeinschaftsmaßnahmen zur Berücksichtigung aller messbaren Auswirkungen und Einflüsse sowie deren Wechselwirkungen und natürlich die Beurteilung der Durchführung dieser Maßnahmen.
4.4 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt daher die Mitteilung der Europäischen Kommission „Das BIP und mehr - Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“ und die darin vorgeschlagenen Initiativen. Obwohl bereits zahlreiche Tätigkeiten und Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden, betont der Ausschuss, dass wir erst am Beginn eines langen Weges stehen und die Wahl der richtigen Instrumente und Messgrößen sowie deren Berücksichtigung bei der Steuerung der wichtigsten Maßnahmen und Strategien kein leichtes Unterfangen sein wird.
4.5 Damit die Instrumente auch wirklich erfolgreich sein können, müssen sie so einfach wie möglich gestaltet und zu handhaben sein, und die betroffenen Akteure müssen sie auch annehmen. Instrumente, die sich die Nutzer nicht vollständig aneignen und die nicht allgemein anerkannt werden, können keinesfalls die gewünschten Ergebnisse bringen. Es braucht natürlich eine gewisse Zeit, bis ein neues Instrument als Messgröße für den Fortschritt angenommen wird. Keines der Instrumente darf jedoch nur ein Selbstzweck sein. Instrumente, die sich als ineffizient erweisen, sollten aufgegeben werden.
4.6 Der Weg führt deutlich vom Einfacheren zum immer Komplexeren. Die Komplexität darf jedoch den zu erwarteten Nutzen nicht einschränken. Auch für die Europäische Union insgesamt sollte die nationale Ebene innerhalb eines klaren, vereinheitlichenden Gemeinschaftsrahmens weiterhin als Grundlage für die Datenerhebung, -auswertung und -umwandlung in Indikatoren und Messgrößen dienen.
4.7 Die Aggregation von Parametern für die gesamte Europäische Union sollte außerdem die Möglichkeit eröffnen, koordinierte und kohärente Strategien und Maßnahmen auf nationaler und EU-Ebene unter strenger Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzulegen. Auf EU-Ebene wird es daher besonders wichtig sein, im Einklang mit den Entwicklungstrends zu handeln. Mit den gewählten Instrumenten sollten selbst schwache Warnsignale für potenziell gefährliche Veränderungen ausreichend früh und zuverlässig ermittelt werden können.
4.8 Trotz seiner bekannten Unzulänglichkeiten ist das BIP eine einzigartige aggregierte Messgröße, die rasch auf Entwicklungen reagiert. Das gesuchte Instrument sollte ebenfalls eine aggregierte Messgröße sein, das soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Dies wird offensichtlich eine sehr schwere Aufgabe. Nach Meinung des Ausschusses sollten daher bei der Bewertung mehrerer Parameter aus verschiedenen Bereichen Entscheidungskriterien für die Konzipierung von Maßnahmen ausgewählt werden, die eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung weltweit fördern.
4.9 Der Ausschuss ist überzeugt, dass ein individueller Ansatz nur für die Entwicklung individueller Instrumente möglich ist. Für deren Bewertung und wirksame Umsetzung muss ein ganzheitlicher, holistischer Ansatz gewählt werden, um Konflikte bei der Beurteilung von Instrumenten und Parametern so weit wie möglich zu verringern. Werden diese Konflikte nicht gelöst, können sie unausgewogene politische und strategische Entscheidungen zu Folge haben.
4.10 Der bevorstehende Wandel wird weder schnell noch einfach sein. Aus diesem Grund muss insbesondere der analytischen Vorbereitung und Planung der Instrumente besonderes Augenmerk gewidmet werden. Ihre Wechselwirkungen müssen dazu eingehend untersucht werden und Gegenstand einer weitreichenden Konsultation der Interessenträger sein.
4.11 Es gilt, Prioritäten und einen Zeitplan für die nächsten Schritte festzulegen. Diese werden in der Kommissionsmitteilung jedoch lediglich grob umrissen. Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission insbesondere auf, diese rechtzeitig in die Ziele und Bewertungsmechanismen der neuen EU-2020-Strategie und der langfristigen Strategie für nachhaltige Entwicklung aufzunehmen. Er bedauert außerdem die fehlende Beteiligung weiterer Interessenträger wie der mit Wirtschaftsfragen befassten Generaldirektionen der Europäischen Kommission in dieser ersten Etappe. Es reicht nicht, dass sich die GD Umwelt, die Europäische Umweltagentur und Eurostat mit diesem radikalen Wandel beschäftigen.
4.12 Um die Arbeiten voranbringen und die nächsten Schritte strukturieren zu können, müssen sämtliche verfügbare Überlegungen und Vorhaben herangezogen werden, namentlich der Bericht der Kommission zur Messung von Wirtschaftsleistung und sozialem Fortschritt (der so genannte „Stiglitz-Bericht“, http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/en/index.htm - nur auf EN und FR verfügbar), die Studie des TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity (Die wirtschaftlichen Aspekte von Ökosystemen und biologischer Vielfalt), http://www.teebweb.org/), die Arbeiten der Europäischen Umweltagentur, von Eurostat und weiterer Akteure, die an diesem komplexen EU- und weltweiten Projekt mitarbeiten. Das entscheidende Kriterium muss die Gewährleistung der Unabhängigkeit und der Qualität der Statistiken sowie die allgemein anerkannte Aussagekraft der Instrumente sein.
4.13 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat unlängst beschlossen, 2012 einen neuen Weltgipfel einzuberufen, um die in den letzten 20 Jahren seit dem Weltgipfel in Rio 1992 erzielten Fortschritte in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung zu bewerten. Es ist klar, dass der Übergang zu einer „grünen“, emissionsarmen Weltwirtschaft eines der Hauptthemen dieses Weltgipfels sein wird. Daher wäre es sinnvoll, wenn die EU bis 2011 einen klaren Rahmen für die Bewertung ihrer eigenen Fortschritte festlegt und der Weltgemeinschaft 2012 genau definierte Vorschläge unterbreiten kann.
5. Besondere Bemerkungen
5.1 Die besonderen Bemerkungen beziehen sich auf die fünf wichtigsten Maßnahmenbereiche und ihre Teilbereiche, wie sie in Ziffer 3 dargelegt sind.
5.2 Die Europäische Kommission steht vor der immensen Aufgabe, eine Pilotversion des umfassenden Umweltindex auszuarbeiten. Sie will diesen Index noch in diesem Jahr vorstellen. Dieser Index ist offenbar als aggregierter Index angelegt. Daher muss bei seiner Bewertung die Frage beleuchtet werden, wie die Auswirkungen der einzelnen ökologischen Faktoren gewichtet werden sollen. Die bisherigen Messgrößen ökologischer und CO2-Fußabdruck umfassen spezifische Aspekte in den Bereichen Umwelt und Ressourcenverbrauch. Es bestehen noch weitere Konzepte wie der „Wasser-“ oder der „Wald-Fußabdruck“, doch reichen auch diese nicht aus, um einen echten umfassenden Index zu schaffen. Die Interessenträger sollten im Rahmen einer Konsultation von Beginn an in die Ausarbeitung dieses Index eingebunden werden. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren im Rahmen dieses komplexen Index sollte sehr sorgfältig erfolgen.
5.3 Die Ausarbeitung von Indikatoren für Lebensqualität und Wohlergehen (2) wird - ungeachtet des Vorliegens von Machbarkeits- und sonstigen Studien - ähnlich anspruchvoll sein; diese Indikatoren beruhen großteils auf einer subjektiven Wahrnehmung und sind keine exakten Messgrößen. Allerdings sollte betont werden, dass auch das BIP keine 100 % exakte Messgröße ist.
5.4 Informationen in beinahe Echtzeit für die Entscheidungsfindung sind von wesentlicher Bedeutung für das „Betriebsmanagement“ der Lebensqualität und für korrektive Eingriffe im Sozialbereich. In Bezug auf strategische Fragen und die Politikgestaltung sind die längerfristigen Trends der grundlegenden Parameter noch wichtiger. Daher sollten die in Echtzeit zu überwachenden Messgrößen auf der Grundlage dieser Unterscheidung festgelegt werden, damit die Beschlussfassung nicht unnötig durch individuelle Informationen gebremst wird. In diesem Zusammenhang ist es wichtiger, überlegt und rasch auf die Veränderungen zu reagieren. Die Überwachung im Rahmen des GMES-Systems wird zwar in erster Linie zum „Betriebsmanagement“, aufgrund der Ermittlung der längerfristigen Trends aber auch zur Politikgestaltung beitragen.
5.5 Stichhaltige Informationen über die Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen sind für die Konzipierung der Gemeinschaftspolitik, für die gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind, von grundlegender Bedeutung. Ziel ist es, ausgeprägte Ungleichheiten durch angemessene Maßnahmen zu beseitigen. Hierfür sind genauere Daten unerlässlich. Der Erfolg dieser Maßnahmen hängt davon ab, ob sie allgemein anerkannt und angenommen werden. Hierfür muss jedoch eine gerechte Behandlung gewährleistet werden. Dieser Ansatz wird auch das Bild beeinflussen, das sich die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft von ihrer Union machen werden.
5.6 Die Bewertung der nachhaltigen Entwicklung ist äußerst schwierig. Da die nachhaltige Entwicklung eine langfristige und übergreifende Strategie ist, verfolgt sie keine konkreten Ziele mit konkreten Fristen - und kann dies auch nicht. Aufgrund der Natur der Dinge müssen die Ziele ausreichend allgemein formuliert werden. Zweck der Bewertung der nachhaltigen Entwicklung ist in erster Linie die Erfassung der Trends in zwei grundlegenden Bereichen: 1.) die Bewertung der Tragfähigkeit der Ökosysteme einschl. der erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen sowie 2.) die Bewertung der Entwicklung der gesellschaftlichen Governance im Allgemeinen. Je nach Entwicklung dieser beiden grundlegenden Faktoren wird die Weltgemeinschaft einschl. der EU sich in einer nachhaltigen Weise weiterentwickeln oder eben nicht. Die Kommission geht mit dem in ihrer Mitteilung festgehalten Vorschlag (Anzeiger für nachhaltige Entwicklung und Überwachung der Schwellenwerte für Schadstoffe) in diese Richtung; dies wird vom Ausschuss begrüßt.
5.7 Der Ausschuss begrüßt außerdem die Anstrengungen der Europäischen Kommission, die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auf ökologische und soziale Aspekte auszudehnen. Die Verfügbarkeit ausreichend zuverlässiger und gut strukturierter Informationen aus diesen Rechnungen kann erheblich zur angestrebten rationellen Internalisierung der externen Kosten in Bereichen beitragen, in denen diese Informationen auch wirklich zur Verfügung stehen und das Marktgleichgewicht nicht beeinträchtigt wird. Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen enthalten bereits jetzt wertvolle Daten, die allerdings für den Vergleich zwischen den Mitgliedsstaaten problematisch sein können. Daher müssen die betroffenen Akteure ein optimales System für die Erhebung und Speicherung der Daten entwickeln, die der erforderlichen Einrichtung physischer umweltökonomischer Gesamtrechnungen Rechnung tragen. Die Kommission hat Anfang 2010 die schwierige Aufgabe in Angriff genommen, einen Rechtsrahmen für die umweltökologische Gesamtrechnung zu schaffen. Die in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bereits verfügbaren sozialen Indikatoren werden noch nicht voll genutzt. Diese Indikatoren werden wahrscheinlich umso stärker herangezogen werden müssen, je umfassender und integrierter der Ansatz für die Bemessung und Bewertung des Fortschritts in einer sich wandelnden Welt wird.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.
(2) ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/69 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat — Partnerschaft Europäische Union – Afrika — Afrika und Europa verbinden: Schritte zum Ausbau der Zusammenarbeit im Verkehrsbereich“
KOM(2009) 301 endg.
2011/C 18/12
Berichterstatter: Jan SIMONS
Die Kommission beschloss am 24. Juni 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Partnerschaft Europäische Union – Afrika – Afrika und Europa verbinden: Schritte zum Ausbau der Zusammenarbeit im Verkehrsbereich“
KOM(2009) 301 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) einstimmig folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Die von der Kommission vorgelegte Mitteilung gliedert sich ein in den Rahmen der bisherigen Politik und der dazugehörigen Instrumente, will jedoch darüber hinausgehen. Eine Reflexion über bessere interkontinentale Verbindungen, die mit Hilfe der in der EU gesammelten Erfahrungen aufgebaut werden, aber auf die Gegebenheiten in Afrika zugeschnitten sind, soll angeregt werden. |
1.2 |
Der Ausschuss ist für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika - unter der Voraussetzung, dass sie sich auf eine Partnerschaft mit gleichen Rechten und Pflichten stützt und nicht, wie in der Vergangenheit, auf ein Geber-Empfänger-Verhältnis. |
1.3 |
Der Ausschuss betont, dass die Verfügbarkeit entsprechender Infrastruktur und Verkehrssysteme eine Voraussetzung für die Erreichung wirtschaftlicher und sozialer regionaler Integration ist, wodurch mehr Arbeitsplätze, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung geschaffen werden und somit ein wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet wird. |
1.4 |
Der Ausschuss stellt mit Bedauern fest, dass die einzelnen Politikfelder der Kommission, insbesondere diejenigen der GD Entwicklung und der GD Handel, nicht ausreichend in die Mitteilung integriert werden, woraus die Kohärenz der Politik der EU in Bezug auf Afrika erkennbar sein sollte. |
1.5 |
Der Ausschuss begrüßt, dass auf der Konferenz „TEN-V-Tage 2009“ am 21./22. Oktober 2009 in Neapel beschlossen wurde, dass die Europäische Union gemeinsam mit ihren afrikanischen Partnern einen Aktionsplan aufstellen wird. |
1.6 |
Dieser Aktionsplan soll vor dem anstehenden Verkehrsforum der Partnerschaft EU-Afrika aufgestellt und anschließend veröffentlicht werden, also im Herbst 2010. Der EWSA spricht sich für eine Vorgehensweise aus, in deren Rahmen die Fortschritte bei der Umsetzung angemessen überwacht werden, z.B. durch die Einrichtung eines mit Vertretern beider Seiten besetzten Ausschusses. |
1.7 |
Der Ausschuss empfiehlt, in den Aktionsplan ausdrücklich aufzunehmen, dass die Bekämpfung von Korruption und Piraterie in Afrika Vorrang haben muss. |
1.8 |
Insbesondere in Bezug auf die Planung und Finanzierung des Verkehrsinfrastrukturnetzes und des gesamten Aktionsplans müsste nach Auffassung des Ausschusses geprüft werden, inwieweit die an der Umsetzung des Cotonou-Abkommens beteiligten Sozial- und Wirtschaftspartner eine Rolle spielen könnten. |
1.9 |
Der Ausschuss würde es begrüßen, wenn der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrat der Afrikanischen Union die in den Aktionsplan aufgenommenen Vorschläge prüfen und hierzu Stellung nehmen würde. |
1.10 |
Der Ausschuss weist darauf hin, dass eine Voraussetzung für die Gewährung von EU-Mitteln sein muss, dass ortsansässige und offiziell registrierte Arbeitnehmer aus der Afrikanischen Union von der Durchführung des Aktionsplans etwas haben. |
1.11 |
Bei den Plänen und Programmen im Bereich des TEN-V hält es der Ausschuss für wichtig, die Interoperabilität als Ausgangspunkt zu nehmen, wobei die natürlichen Vorteile jedes einzelnen Verkehrsträgers im Sinne des von der EU verfolgten Ansatzes der Ko-Modalität genutzt werden sollten. |
1.12 |
Ferner sollte dem Ausschuss zufolge bei der praktischen Umsetzung der Zusammenarbeit der Ausbildung, den Arbeitsbedingungen, sozialen Gesichtspunkten, Sicherheits-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten Augenmerk gewidmet werden. |
1.13 |
Der Bau bzw. die Ausweitung von Straßeninfrastruktur sollte bewirken, dass die Tendenz zur Verstädterung unter Rückgriff auf ein gut funktionierendes öffentliches Verkehrssystem auf dynamische Weise eingedämmt wird. |
1.14 |
Eine grundlegende Voraussetzung ist, dass in Bezug auf den Einsatz der Mittel für eine gute Rückverfolgbarkeit und Kontrolle gesorgt wird, die auch in der Praxis energisch durchgeführt wird. |
1.15 |
Die EU muss sich nach Ansicht des Ausschusses darüber im Klaren sein, dass sich China über eine andere politische Schiene und mit einer anderen Zielsetzung schon seit Jahrzehnten in Afrika engagiert. Nach Auffassung des Ausschusses sollte eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen der EU, China und Afrika angestrebt werden, die auf der Voraussetzung basiert, dass jede Art von Arbeit oder Ausschreibung der Beschäftigung in Afrika zugute kommt. |
2. Einleitende Zusammenfassung der Kommissionsmitteilung
2.1 |
Die Europäische Kommission veröffentlichte am 24. Juni 2009 die Mitteilung KOM(2009) 301 endg., in der die Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Afrika im Verkehrsbereich behandelt wird. |
2.2 |
In dieser Mitteilung wird betont, dass der Verkehr und die Verkehrsinfrastruktur für die wirtschaftliche und soziale Integration unerlässlich und eine Voraussetzung für den Verkehr von Waren und Personen sind. |
2.3 |
Hierbei muss die immer weiter fortschreitende Verstädterung in Afrika berücksichtigt werden; derzeit leben 40 % der afrikanischen Bevölkerung in städtischen Gebieten. Wenn nichts unternommen wird, ist bis 2030 von einer Verdoppelung dieses Anteils auszugehen. |
2.4 |
Der Bezugsrahmen für die Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika im Verkehrsbereich ist die 2006 geschlossene Infrastrukturpartnerschaft. Ziel dieser Partnerschaft war vor allem die bessere Verknüpfung der afrikanischen Infrastrukturnetze, um so einen Beitrag zur regionalen Integration und somit zur Entwicklung der afrikanischen Bevölkerung zu leisten. |
2.5 |
Die Finanzierung der Verkehrsinfrastrukturprojekte in Afrika läuft vor allem über den Europäischen Entwicklungsfonds, der 30 % zu der Finanzierung beisteuert. |
2.6 |
Die Kommission trifft in ihrer Mitteilung die Aussage, dass sich die Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika nicht nur auf die physische Infrastruktur bezieht, sondern dass die EU und Afrika auch im Bereich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Zusammenhang mit den Infrastrukturen zusammenarbeiten. Auf diese Weise werden durch die verbesserte Infrastruktur nicht nur Handel und Wirtschaftswachstum gefördert, sondern auch die Beschäftigung; zudem ergeben sich mehr Möglichkeiten zur Bekämpfung der Armut. |
2.7 |
Unter anderem deswegen hat der Rat am 18. Mai 2009 einige Schlussfolgerungen angenommen, in denen insbesondere die Förderung der regionalen Infrastrukturen und der Bau fehlender Infrastrukturen in den Ländern südlich der Sahara angeregt werden. |
2.8 |
Die Zielsetzung der vorliegenden Mitteilung entspricht hier der angestrebten Umsetzung der strategischen Infrastrukturpartnerschaft, die die Europäische Union und die Afrikanische Union 2007 geschlossen haben. |
2.9 |
Das konkrete Ergebnis dieser Mitteilung muss die Einleitung von Beratungen zwischen Vertretern der Europäischen und der Afrikanischen Union sein, an deren Ende ein Plan mit vorrangigen Maßnahmen und entsprechenden Finanzierungsmöglichkeiten stehen muss, der dann in eine gemeinsame Erklärung der Europäischen und der Afrikanischen Union aufgenommen werden sollte. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 Allgemeines
3.1.1 Der Ausschuss befürwortet eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika, die auf gleichen Rechten und Pflichten aufbaut, wenn auch in der Realität Unterschiede vorhanden sind, die berücksichtigt werden müssen. Dieser Wunsch und die Vorgehensweise für seine Verwirklichung kommen in der Erklärung von Lissabon (8./9. Dezember 2007) zum Ausdruck.
3.1.2 Nach Auffassung des Ausschusses geht es um eine wirtschaftliche und soziale regionale Integration, einschließlich der Verkehrs- und Transporteinrichtungen. Die regionale Integration sollte nach Auffassung des Ausschusses im Mittelpunkt der Überprüfung des Cotonou-Abkommens im Jahr 2010 stehen.
3.1.3 Dies ist zweifelsohne ein schwieriges Unterfangen. Der Ausschuss empfiehlt, bei der Ausgestaltung weiterer Pläne für eine Zusammenarbeit immer zu bedenken, dass sich beide Partner gleichwertig einbringen und die Verantwortung teilen müssen.
3.1.4 Der Ausschuss möchte betonen, dass sich die Zusammenarbeit auf eine breite Themenpalette erstrecken muss, darunter Ausbildung, Arbeitsbedingungen, soziale Gesichtspunkte, Bürgerrechte, Sicherheits-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte, Interoperabilität und öffentlicher Stadtverkehr, Verwaltungs- und Zollprobleme und nicht zu vergessen die Korruptionsbekämpfung sowie die in Europa gesammelten Erfahrungen im Bereich der Interoperabilität und bewährte Verfahren.
3.1.5 Der Ausschuss bedauert, dass in der Mitteilung der Kommission nicht auf die Bedeutung sozialer und Bildungsaspekte im Verkehrs- und Transportbereich verwiesen wird. In der 2006 geschlossenen Infrastrukturpartnerschaft sind diese jedoch enthalten.
3.1.6 Nach Ansicht des Ausschusses muss bei der Ausgestaltung der Zusammenarbeit immer im Auge behalten werden, dass alle genannten Themenbereiche und Maßnahmen nur dann erfolgreich sein können, wenn eine solide Grundlage in Gestalt gut ausgebildeter lokaler Arbeitnehmer vorhanden ist.
3.1.7 Die Zusammenarbeit müsste sich auf alle Verkehrsträger erstrecken, auch in ihrer jeweiligen Wechselwirkung, und auf die spezifischen Gegebenheiten in Afrika abgestimmt sein.
3.1.8 Der Ausschuss hält es für wichtig, dass bestimmte grundlegende Voraussetzungen erfüllt sind: Transparenz und ein ausreichendes Maß an Sicherheit müssen gegeben sein, die Durchführung der Kooperationsprogramme darf nur mit entsprechenden Begleitmaßnahmen erfolgen.
3.1.9 In seiner Stellungnahme zum Thema „Die EU-Afrika-Strategie“ (1), die am 18. September 2008 verabschiedet wurde, trifft der Ausschuss u.a. folgende Aussage: „Zwar ist die regionale und subregionale Wirtschaftsintegration erheblich vorangeschritten, doch ist das Handelspotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Insbesondere müssen die Maßnahmen zur Harmonisierung der Zollverfahren aufeinander abgestimmt, Infrastrukturen entwickelt, der freie Personenverkehr gewährleistet werden usw.“
3.1.10 Auch auf der Konferenz „TEN-V-Tage 2009“ am 21./22. Oktober 2009 in Neapel wurde beim Verkehrsforum Europa-Afrika auf die Frage eingegangen, wie die Entwicklung in Afrika und die transafrikanischen Netze von den in der EU mit dem TEN-V gesammelten Erfahrungen profitieren könnten.
3.1.11 Ein Ergebnis lautete, dass die Europäische Kommission gemeinsam mit ihren afrikanischen Partnern einen Aktionsplan aufstellen wird, um die Verkehrsnetze zwischen den beiden Kontinenten kontinuierlich auszubauen. Dieser Aktionsplan soll im zweiten Halbjahr 2010 vorgelegt werden.
3.1.12 Der Ausschuss hält es daher für wichtig, dass neben den bereits bestehenden bilateralen Wirtschaftspartnerschaften auch regionale Wirtschaftspartnerschaften geschlossen werden, die zur Vertiefung der regionalen Integration beitragen werden.
3.1.13 Die Ausgestaltung der Maßnahmen, die in den Aktionsplan aufgenommen wurden und bei denen auf die Einbindung der Sozialpartner geachtet werden muss, sollte nach Ansicht des Ausschusses in enger Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union durchgeführt werden.
3.1.13.1 Da in Afrika die Strukturen zur Einbeziehung der Sozialpartner nicht in dem Maße vorhanden sind und die Praxis zeigt, dass Sozialpartner nicht einmal über die Pläne informiert sind, sollten diese Informationen und Teilnahmemöglichkeiten an den Beratungen in Absprache mit der Afrikanischen Union aufgebaut werden.
3.1.14 In diesem Fall müsste dem Ausschuss zufolge eine gemeinsame Strategie erarbeitet werden, in der insbesondere der Nachhaltigkeitsgedanke sowie die Entwicklung und das Wohlergehen der afrikanischen Bevölkerung eine bedeutende Stellung erhalten sollten.
3.1.15 Aber auch dann wird es, wie der Ausschuss befürchtet, zu Problemen bei der Umsetzung des Aktionsprogramms kommen. Vor allem muss den kulturellen Unterschieden zwischen Afrika und Europa Rechnung getragen werden.
3.1.16 Die Afrikanische Union könnte sich mit ihrem Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrat in Verbindung setzen, um Projekte des Aktionsplans zu begleiten.
3.1.17 Die EU hat inzwischen einen Betrag in Höhe von 4,6 Mrd. EUR aus dem Europäischen Entwicklungsfonds für den Zeitraum 2007-2013 für die Entwicklung und Verbesserung der afrikanischen Infrastruktur und des Verkehrs zur Verfügung gestellt.
3.1.18 Auf dem nächsten EU-Afrika-Gipfel Ende 2010 in Addis Abeba sollen alle Partnerschaften einer Bewertung unterzogen werden. Auch soll im Herbst 2010 auf dem informellen Verkehrsforum der Aktionsplan für die Durchführung der Projekte festgelegt werden; diesbezüglich empfiehlt der Ausschuss, im Sinne der auf dem Lissabonner Gipfel angenommenen Erklärung Sozialpartner und andere Nichtregierungsvertreter offiziell einzubeziehen.
3.1.19 Durch bessere Transportnetze erhalten die Menschen in Afrika bessere Fortbewegungsmöglichkeiten, die Transportkosten werden gesenkt und Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit der Verkehrsdienste werden verbessert. Dies muss vor allem den ärmeren Bevölkerungsschichten zugutekommen, und zwar in Form bezahlbarer Preise. Hier ist ein koordiniertes Vorgehen bei der Infrastrukturplanung und -anlage erforderlich.
3.1.20 Dies ist umso entscheidender, als die Transportkosten in Afrika zu den höchsten weltweit zählen (15 % der Ausfuhrerlöse im Vergleich zu 4 % in den Industrieländern). Die Notwendigkeit ist deswegen so dringend gegeben, weil hier eine Voraussetzung für das Erreichen der Integration regionaler und nationaler Märkte vorliegt.
3.1.21 Daneben sollte eine weitere Zusammenarbeit u.a. durch den Einsatz bewährter Verfahren zu mehr Handel, mehr Sicherheit, einer besseren Gefahrenabwehr und einem modernen Transportsystem führen.
3.1.22 Als „Leitfaden“ könnte nach Auffassung des Ausschusses das Motto „Gemeinsam an einer besseren Zukunft arbeiten“ dienen.
3.1.23 Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen des Lissabonner Gipfels vom 8./9. Dezember 2007, auf dem die Grundlage für eine strategische - gleichberechtigte - Partnerschaft zwischen Afrika und der Europäischen Union geschaffen wurde, die in der Erklärung von Lissabon vom 9. Dezember 2007 festgelegt wurde.
3.1.24 Diese Partnerschaft baut auf folgenden Punkten auf: Frieden und Sicherheit, Regierungs- und Verwaltungsführung sowie Menschenrechte, Migration, Energie und Klimawandel, Handel, Infrastruktur und Entwicklung.
3.1.25 Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass sich die Mitteilung auf die Partnerschaft EU-Afrika beschränkt. China hat sich hingegen schon seit Jahrzehnten, vor allem im Infrastrukturausbau, fest in Afrika etabliert, wobei Chinas Strategie darin besteht, an die einzelnen afrikanischen Ländern getrennt Kredite zu günstigen Bedingungen im Tausch gegen langfristige Verträge für Infrastruktur- und Verkehrsprojekte sowie für den Abbau natürlicher Ressourcen zu vergeben.
3.1.26 Dieses Problem könnte über eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen der EU, China und Afrika aus dem Weg geräumt werden, die auf der Voraussetzung basiert, dass jede Art von Arbeit oder Ausschreibung der Beschäftigung in Afrika zugute kommt. Zum Verhältnis zwischen der EU, China und Afrika hat der Ausschuss am 1. Oktober 2009 eine sehr lesenswerte Stellungnahme verabschiedet (2).
3.2 Nichtregierungsakteure
3.2.1 |
In Bezug auf die Planung und Finanzierung des Verkehrsinfrastrukturnetzes müsste nach Auffassung des Ausschusses untersucht werden, ob neben dem Staat auch Nichtregierungsakteure eine Rolle spielen könnten. Einerseits ist die Einbindung der Staaten und der Bürger, wozu auch NGO zählen, erforderlich, andererseits sind aber auch Beiträge von Unternehmen und großen EU-Fonds unerlässlich. |
3.2.2 |
In den vergangenen Jahren haben vor allem Bauernverbände, Gewerkschaften, Verbraucherorganisationen usw. eine wichtige Rolle gespielt, auch aufgrund der erfolgreichen Abkommen von Lomé und Cotonou. Der Ausschuss möchte betonen, dass in diese Richtung weitergearbeitet werden muss. |
3.3 Korruption und Piraterie
3.3.1 |
Das Problem von Korruption und Piraterie wird in der Mitteilung leider nur gestreift, obwohl sich diese Probleme in Afrika durch alle Ebenen ziehen und die Wirtschaftsentwicklung beeinträchtigen. Auch die weitere regionale Integration wird hierdurch in Mitleidenschaft gezogen. |
3.3.2 |
Nach Ansicht des Ausschusses muss in alle Vorschläge und Maßnahmen hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union die Bekämpfung von Korruption und Piraterie aufgenommen werden. |
3.3.3 |
Dies ist im Übrigen auch ein Ziel der Afrikanischen Union und ferner im Cotonou-Abkommen verankert. |
3.3.4 |
Für die EU sollte gelten, dass EU-Mittel nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn eine Rückverfolgbarkeit der Mittel gegeben ist und kontrolliert werden kann bzw. tatkräftig kontrolliert wird, wofür diese Mittel eingesetzt wurden. |
3.3.5 |
In Bezug auf den Transport- und Infrastrukturbereich tritt Korruption vor allem im Landverkehr auf, insbesondere im Straßenverkehr, während Piraterie an den Seeverkehr geknüpft ist. |
3.3.6 |
Der EWSA betont, dass Schiffe, die vor der somalischen Küste und im Golf von Aden fahren, die empfehlenswerten Praktiken zur Verhütung seeräuberischer Handlungen („Best Management Practices to deter piracy“) der Vereinten Nationen einhalten und ihre Route auf den Websites der EU NAVFOR/MSC (HOA) registrieren sollten. Diese Praktiken enthalten auch eine Liste der dem Eigenschutz dienenden präventiven Maßnahmen. |
4. Besondere Bemerkungen
4.1 |
Alle 53 afrikanischen Staaten haben Verkehrs- und Infrastrukturprobleme. 2006 wurde das Programm zur Entwicklung der Infrastrukturen in Afrika (PIDA) angenommen, mit dem für eine bessere Koordinierung bei Planung und Bau von Infrastruktur gesorgt werden soll. |
4.2 |
Das PIDA-Programm umfasst einige Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, wie etwa im Bereich der Flugsicherung, als Sicherheitsberater sowie im Umwelt- und Verkehrssicherheitsbereich. |
4.3 |
Ein nächster Schritt ist die gegenseitige Abstimmung der Planungsverfahren der EU und Afrikas - mit Blick auf den Aufbau eines euro-afrikanischen Verkehrsnetzes eine Notwendigkeit. Insbesondere die Drehkreuze, vor allem Häfen und Flughäfen, müssen festgelegt werden. |
4.4 |
Die Knappheit der zur Verfügung stehenden Finanzmittel führt dazu, dass diese nur für konkrete Projekte mit dem größten Nutzen eingesetzt werden sollten: Aus verkehrspolitischer Sicht bedeutet dies einen ko-modalen Ansatz, bei dem die Stärken jedes in Frage kommenden Verkehrsträgers genutzt und die Charakteristika und Besonderheiten jedes einzelnen Landes berücksichtigt werden sollten. |
4.5 |
Diesbezüglich empfiehlt der Ausschuss, die Korruptionsbekämpfung ausdrücklich in das Aktionsprogramm aufzunehmen. |
4.6 |
Für den Schienenverkehr sollte eine Liste vorrangiger Schienenverbindungen festgelegt werden. Denn das Schienennetz ist von grundlegender Bedeutung für die Anbindung von Binnenländern. Zurzeit verfügen 15 Staaten in Afrika über kein Schienennetz. |
4.7 |
Auf Afrika entfallen zurzeit nur 4 % des weltweiten Luftverkehrsaufkommens. Leider entsprechen Sicherheit und Qualität weder der Flugzeuge noch der Dienstleistung in keiner Weise dem Mobilitätsbedarf. Die Sicherheit und die Eindämmung des Schadstoffausstoßes haben hohe Priorität. |
4.8 |
92 % des internationalen Handels von Afrika wird über den Seeverkehr abgewickelt. Eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union müsste den Aufbau von Logistikzentren sowie ein besseres Funktionieren von Häfen in folgenden Bereichen herbeiführen:
|
4.9 |
Ein großer Teil des kontinentalen Handels wird über die Straße abgewickelt, auch wenn die Infrastruktur, deren Qualität von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfällt, hierfür völlig unzureichend ist. Die Straßendichte in Afrika liegt bei nicht einmal 7 Straßenkilometern pro 100 km2. Dazu kommen lange Wartezeiten bei der Abfertigung sowie die alles beherrschende Korruption. |
4.10 |
Die Europäische Kommission hat Anfang 2009 einen Betrag in Höhe von 3 Mrd. EUR aus dem Europäischen Entwicklungsfonds zur Verfügung gestellt, um transafrikanische Verkehrsachsen aufzubauen, die in Zukunft mit den transeuropäischen Verkehrsachsen verbunden werden sollen. |
4.11 |
Der Ausschuss möchte mit Nachdruck betonen, dass eine Voraussetzung für die Gewährung von EU-Mitteln für die Infrastruktur darin bestehen muss, dass ausschließlich ortsansässige und offiziell registrierte Beschäftigte aus der Afrikanischen Union eingesetzt werden, damit die Bevölkerung durch Ausbildung und Wohlergehen von diesen Vorhaben profitiert. |
4.12 |
Die Praxis zeigt, dass der grenzüberschreitende Straßentransport in Afrika nicht überall möglich ist - und falls doch wird er durch Lösegeld- bzw. Korruptionspraktiken entlang der Strecke und an Grenzübergängen behindert. Häufig gibt es jedoch keine Alternative zum Straßenverkehr. |
4.13 |
Nach Auffassung des Ausschusses bestünde eine realistische Ausgangsbasis darin, dass sich die Afrikanische Union für ihr TEN-V am Ansatz der EU orientiert, wobei die Interoperabilität bei den Plänen und Programmen als Zielsetzung dienen sollte. |
4.14 |
Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Seite. Bei der Durchführung großer transeuropäischer Infrastrukturvorhaben hat die Europäische Union Koordinatoren eingesetzt, die die Mitgliedstaaten sowohl bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Vorhaben als auch bei der Lösung von Problemen unterstützen, die bei der Durchführung von Großvorhaben entstehen. Der Ausschuss hält die Benennung von Projektkoordinatoren für die fehlenden Teilstücke der acht bereits festgelegten transafrikanischen Netze für sinnvoll. |
4.15 |
Der Ausschuss weist darauf hin, dass vor Investitionen in die afrikanische Infrastruktur für ausreichende Garantien im Zusammenhang mit den Problemen in den Bereichen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr gesorgt sein muss. Für die Bekämpfung der Seepiraterie gibt es die von der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation IMO erarbeiteten flankierenden Programme. |
4.16 |
Ferner muss Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Jedes Jahr sterben der Kommissionsmitteilung zufolge (Ziffer 3.2.4 Absatz 2 Satz 1) eine Million Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr, 65 % der Unfallopfer sind Fußgänger. |
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 148-156.
(2) ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 106-112.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/74 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheit in der EU“
KOM(2009) 567 endg.
2011/C 18/13
Berichterstatterin: Ágnes CSER
Mitberichterstatterin: Renate HEINISCH
Die Europäische Kommission beschloss am 20. Oktober 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheit in der EU“
KOM(2009) 567 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 51 Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:
1. Empfehlungen
1.1 Das Prinzip, Gesundheitsfragen in alle Politikbereiche einzubeziehen, sollte in der gesamten EU-Politik angewandt werden. Die Kommission sollte deshalb ihre Maßnahmen dahingehend evaluieren und überprüfen, ob alle Politikbereiche einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus und zur Verringerung von Ungleichheiten in der Gesundheit leisten. Sie sollte Mechanismen entwickeln, wie ihre politischen Maßnahmen, die negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Ungleichheiten in der Gesundheit haben, rückgängig gemacht werden können.
1.2 Auch der EWSA hält es für wichtig, dass sich die Mitgliedstaaten und die Kommission innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens auf vergleichbare Indikatoren und messbare Ziele einigen, da dadurch die nationalen Behörden in der Lage wären, den Fortschritt beim Abbau der gesundheitlichen Ungleichheit zu messen und Bereiche zu unterstützen, in denen europäische Initiativen die einzelstaatlichen Bemühungen ergänzen könnten.
1.3 Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, sich an den Plänen der Kommission zur Verbesserung der Daten- und Wissensbasis sowie der Mechanismen zur Messung, Überwachung und Berichterstattung über gesundheitliche Ungleichheit zu beteiligen.
1.4 Der EWSA fordert die Kommission zur Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf, um neue Indikatoren zur Überwachung gesundheitlicher Ungleichheit und ein Verfahren zur Prüfung der Gesundheitssituation in den Mitgliedstaaten zu entwickeln, mit dem die erforderlichen Schwerpunkte bezüglich verbesserungswürdiger Bereiche und bewährter Verfahren gesetzt werden.
1.5 Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission dazu auf, ein allgemeines Modell für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen, das sowohl zu mehr Wirtschaftswachstum und sozialer Gerechtigkeit, als auch zu mehr Solidarität, Zusammenhalt und Gesundheit führt. Dies sollte in der Strategie Europa 2020 als Priorität behandelt werden, ebenso wie die Schlüsselrolle der Strukturfonds der EU bei der Umsetzung dieser Priorität berücksichtigt werden sollte.
1.6 Der Ausschuss plädiert dafür, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um alle sozialen Ungleichheiten zu bekämpfen, in denen die gesundheitliche Ungleichheit begründet ist, insbesondere in den Bereichen Bildung, Städteplanung und Kaufkraft.
1.7 Die Bekämpfung von gesundheitlichen Ungleichheiten in ländlichen Gebieten, besonders vor dem Hintergrund der Herausforderungen der demografischen Veränderungen, muss verstärkt werden.
1.8 Die Kommission sollte den Einfluss bestehender europäischer Plattformen und Foren (zu Themen wie Ernährung, Alkohol u.a.) auf schutzbedürftige Gruppen bewerten.
1.9 Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die zahlreichen Empfehlungen in Betracht zu ziehen, die der EWSA bereits in vergangenen Stellungnahmen zu gesundheitsbezogen und sozialen Fragen unterbreitet hat und deren Umsetzung zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen würde (1).
2. Hintergrund - gesundheitliche Ungleichheit in der EU
2.1 Die EU-Bürger leben durchschnittlich länger und gesünder, aber die Unterschiede des Gesundheitszustands der Bürger innerhalb der EU sind sehr groß und nehmen weiter zu, was Anlass zu ernsthafter Besorgnis gibt und eine große Herausforderung darstellt. Zudem wird die Lage durch die aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise steigende Arbeitslosigkeit noch verschlimmert. Durch die Mitteilung der Kommission soll eine Debatte über die Festlegung möglicher flankierender Maßnahmen der EU eingeleitet werden, damit die Mitgliedstaaten und weiteren Akteure auf regionaler bzw. nationaler Ebene Lösungen für diese kritische Lage finden.
2.1.1 Ein Beispiel für die Unterschiede im Gesundheitszustand zwischen den Menschen in der EU ist die Sterblichkeit von Kindern unter einem Jahr, die zwischen den Mitgliedstaaten um den Faktor fünf variiert. Die Differenz bei der Lebenserwartung von Männern liegt bei 14 Jahren, bei der von Frauen bei acht Jahren. Auch von Region zu Region und zwischen städtischen und ländlichen Gebieten besteht eine erhebliche Ungleichheit.
2.1.2 Der Unterschied in der Lebenserwartung beträgt je nach Bildungsstand und sozioökonomischer Gruppe bei Männern zehn und bei Frauen sechs Jahre. Der Gesundheitszustand von Menschen, die eine manuelle oder routinemäßige Arbeit verrichten, ist schlechter als der anderer Bevölkerungsgruppen. Es gibt auch einen wichtigen geschlechterspezifischen Aspekt: Frauen leben länger, sind aber im Laufe ihres Lebens auch länger krank.
2.1.3 Die gesundheitliche Ungleichheit ist in der sozialen Ungleichheit begründet, die mit Lebensbedingungen, Verhaltensweisen, Bildung, Beschäftigung und Einkommen, Gesundheitsversorgung, Dienstleistungen zur Vorbeugung von Krankheiten und zur Förderung der Gesundheit sowie den öffentlichen Maßnahmen zusammenhängt, die Quantität, Qualität und Verteilung dieser Faktoren beeinflussen. Der Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Gesundheitsversorgung sowie die Unterschiede aufgrund von Geschlecht und Rasse stellen entscheidende Faktoren dar. Durch die Kombination von Armut mit anderen Vulnerabilitätsfaktoren (Kindheit, Alter, Behinderung oder Zugehörigkeit zu einer Minderheit) steigen die Gesundheitsrisiken weiter.
2.1.4 Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren beeinflussen Lebensbedingungen und Gesundheit: so verfügen z.B. nicht alle Menschen in der EU über eine angemessene Infrastruktur für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung.
2.1.5 Die Gesundheitsversorgung wird durch das Fehlen einer Versicherung (insbesondere einer gesetzlichen Krankenversicherung), hohe Kosten, mangelnde Informationen sowie sprachliche und kulturelle Hürden behindert; ärmere Menschen nehmen die Gesundheitsversorgung zudem weniger in Anspruch.
2.1.6 Die gesundheitliche Ungleichheit ist nicht unvermeidlich, da sie stark vom Einzelnen, den Behörden, den beteiligten Akteuren und Bevölkerungsgruppen beeinflusst wird und durch geeignete Politik und Maßnahmen überwunden werden kann. Dabei ist das Verhalten des Einzelnen nicht der Hauptgrund für die bestehende Ungleichheit; diese hängt eher mit den sozioökonomischen, gesundheitlichen und politischen Bedingungen in den einzelnen Ländern zusammen, deren Zusammenspiel das gesamte Leben der Menschen beeinflusst.
3. Inhalt des Kommissionsvorschlags
3.1 Mit der Mitteilung der Kommission soll die notwendige Diskussion darüber eingeleitet werden, wie mögliche flankierende Maßnahmen zu definieren sind, mit denen die EU die Maßnahmen der Mitgliedstaaten und weiterer Akteure zur Bewältigung des Problems der gesundheitlichen Ungleichheit unterstützen könnte.
3.2 Trotz bereits bestehender EU-Initiativen, die dazu beitragen, die gesundheitliche Ungleichheit in der EU abzufedern (2), ist die Kommission der Ansicht, dass sie die Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der für die gesundheitliche Ungleichheit verantwortlichen Faktoren noch weiter unterstützen könnte.
3.3 In der Kommissionsmitteilung wurden fünf anzugehende Hauptprobleme festgestellt:
— |
Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitsbereich als Teil allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung; |
— |
Verbesserung der Daten- und Wissensbasis sowie der Mechanismen zur Messung, Überwachung, Bewertung und Berichterstattung; |
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Engagement in allen Bereichen der Gesellschaft; |
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Eingehen auf die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Gruppen; |
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Weiterentwicklung des Beitrags der EU-Politik. |
Für jeden Problembereich werden Maßnahmen auf EU-Ebene genannt, die von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffen werden sollen.
4. Allgemeine Bemerkungen - Maßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit
4.1 Der EWSA begrüßt die Mitteilung, da er das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen den verschiedenen Gebieten der EU sowie zwischen sozial Bevorzugten und sozial Benachteiligten als Herausforderung begreift und zustimmt, dass durch eine solche Ungleichheit das Bekenntnis der EU zu Solidarität, sozialem und wirtschaftlichem Zusammenhalt, Menschenrechten und Chancengleichheit untergraben wird.
4.2 Die Mitteilung der Kommission ist das Ergebnis einer breit angelegten Konsultation, das noch nicht endgültig ist. Leider wurden einige wichtige Fragen nur kurz oder überhaupt nicht erwähnt. Einige davon fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, aber die Kommission könnte eine ergänzende Rolle spielen, wenn es darum geht, diese Probleme anzugehen und Lösungen zu finden.
4.3 In der Mitteilung werden die wichtigsten EU-Politikbereiche (Sozialschutz-, Umwelt-, Bildungspolitik usw.) festgelegt, die mit Fragen gesundheitlicher Ungleichheit zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Deshalb möchte der EWSA betonen, wie wichtig es ist, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen auf ALLEN Ebenen - der lokalen, regionalen und europäischen - auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung evaluieren. Der EWSA erinnert daran, dass der Abbau gesundheitlicher Ungleichheit auf politische Entscheidungen zurückzuführen und kein natürliches Phänomen ist.
4.4 Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Kommission die verfügbaren Instrumente (wie OKM, Folgenabschätzungen, Forschungsprogramme, Indikatoren, Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen) optimal ausnutzen und zusammen mit den Mitgliedstaaten neue Methoden erwägen sollte, um dafür zu sorgen, dass durch Politik und Maßnahmen der EU die Faktoren angegangen werden, die gesundheitliche Ungleichheit in der EU erzeugen oder dazu beitragen. Allerdings müssen ihre die Mitgliedstaaten unterstützenden Maßnahmen mit dem Subsidiaritätsprinzip und den Verträgen in Einklang stehen.
4.5 Der EWSA unterstützt die Rolle der Kommission bei der Harmonisierung der Politik und der Maßnahmen der EU, der Sicherstellung politischer Kohärenz, der Förderung des Informations- und Wissensaustauschs zwischen den Mitgliedstaaten, der Bestimmung und Verbreitung vorbildlicher Verfahrensweisen sowie der Konzipierung von Maßnahmen, die auf die spezifischen Probleme besonderer Gesellschaftsgruppen abgestimmt sind. Der Ausschuss erwartet eine bessere Zusammenarbeit mit den Interessenträgern auf gemeinschaftlicher und internationaler Ebene, darunter mit dem EWSA.
4.6 Dennoch unterstreicht der EWSA die Rolle der Mitgliedstaaten bei der Sicherung umfassender, hochwertiger, universell zugänglicher und persönlicher Gesundheitsfürsorge vor Ort, da dies ein entscheidender Faktor für den Abbau gesundheitlicher Ungleichheit ist. Dies gilt insbesondere für Kinder, chronisch Kranke, multimorbide oder ältere Patienten, die zu ihrer Rekonvaleszenz ihre gewohnte Umgebung sowie den Kontakt zu Familie, Freunden und vertrauten Personen benötigen. Die Bevölkerung und insbesondere vulnerable Gruppen sollten nicht gezwungen sein, als Ausweg aus einer Situation der gesundheitlichen Unterversorgung dorthin umzusiedeln, wo sie eine Ballung von Gesundheitseinrichtungen vorfinden.
4.7 Der EWSA betont die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten für die Bereitstellung der Gesundheitsversorgung zuständig sind. In der Debatte über Ungleichheit ist es äußerst wichtig, die Rolle der einzelstaatlichen Regierungen zu berücksichtigen, sowohl bei der Sicherung der Sozialschutzsysteme als auch bei der Gewährleistung ausreichend und gut ausgebildeten Personals für die Leistungserbringung auf lokaler Ebene, ohne dass in abgelegenen Gebieten lebende Bürger sowie schutzbedürftige Gruppen dabei benachteiligt werden.
4.8 Bei einem zumeist durch außerhalb des Gesundheitssystems liegende Faktoren bedingten schlechten Gesundheitszustand kann durch die Gesundheits- und Sozialsysteme Abhilfe geschaffen werden. In einigen Fällen können neue Entwicklungen in den Gesundheitssystemen die gesundheitliche Ungleichheit jedoch auch verschärfen (3). Neue Technologien dürfen nicht zu neuen gesundheitlichen Ungleichheiten führen.
4.9 Es geht vor allem darum, der jungen Generation klarzumachen, dass eine gesunde Lebensweise das Risiko verringert, krank zu werden. Ein solches Bewusstsein unter Jugendlichen, die zu gegebener Zeit Eltern werden, kann bedeutende Auswirkungen auf ihre Kinder und künftige Generationen haben.
5. Besondere Bemerkungen zu den Hauptproblemen
5.1 Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitsbereich als Teil allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung
5.1.1 Auch im Hinblick auf den Lissabon-Prozess hat gesundheitliche Ungleichheit Auswirkungen, da sie die Wirtschaft durch Produktionsausfälle sowie Behandlungs- und Sozialkosten schwächt und den sozialen Zusammenhalt beeinträchtigt.
5.1.2 Der EWSA unterstützt die Auffassung der Kommission, dass ein allgemeines Modell für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung geschaffen werden muss, das sowohl zu mehr Wirtschaftswachstum und sozialer Gerechtigkeit als auch zu mehr Solidarität, Zusammenhalt und Gesundheit führt. Das sollte in der Strategie Europa 2020 - die einen Indikator zu Messung der gesundheitlichen Ungleichheit umfassen sollte, um die mittels der Strategie erreichten sozialen Fortschritte zu überwachen - als Priorität behandelt werden. Zudem sollte die Schlüsselrolle der Strukturfonds der EU bei der Umsetzung dieser Priorität berücksichtigt werden.
5.1.3 Der EWSA weist die Mitgliedstaaten auf die Bedeutung eines sozialen Gesundheitsschutzes, des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen und Mitteln für den Gesundheitsbereich hin, um gleichwertige Leistungen der Gesundheitssysteme zu erzielen. Das scheint angesichts der demografischen Entwicklung in der EU besonders wichtig zu sein.
5.1.4 Es ist darauf hinzuweisen, dass Sozialschutz im Gesundheitswesen - Mechanismen zur Finanzierung des Gesundheitswesens wie Sozialversicherung und staatliche Krankenversicherung oder steuerbasierte Systeme - auf der Grundlage von Solidarität bei der Finanzierung und der Versicherung auf Gegenseitigkeit von Risiken umgesetzt und ausgeweitet werden muss. Hier liegt der Schlüssel für gleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Effektiver Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sollte über Erschwinglichkeit, Verfügbarkeit, Qualität, finanziellen Schutz und Informationen über grundlegende Dienstleistungen definiert werden (4).
5.1.5 Gesundheitliche Ungleichheit sollte mit einer pragmatischen Strategie bekämpft werden, die auf flächendeckende Versorgung und effektiven Zugang - wie oben definiert - abzielt. Dazu sollten alle Konzepte und Systeme zur Finanzierung des Gesundheitswesens (Sozial- und Privatversicherung, Sozialhilferegelungen, öffentliche Gesundheitssysteme usw.) koordiniert werden, um Lücken beim Zugang beispielsweise von Armen und Minderheiten wie Migranten (unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status), ethnischen oder religiösen Gruppen zu schließen oder alters- und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten abzubauen.
5.1.6 Entsprechende Reformen sollten zu einem rechtsbezogenen Ansatz führen, der auf sozialem Dialog beruht, um einen breiten Konsens zu garantieren und somit nachhaltige Lösungen für die Finanzierung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für die Versicherten und die Angehörigen von Gesundheitsberufen zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist der EWSA der Ansicht, dass weitere Privatisierungen nachteilige Wirkungen haben könnten, dadurch dass ein System eingeführt wird, das auf Wettbewerb statt auf Solidarität beruht.
5.2 Verbesserung der Daten- und Wissensbasis sowie der Mechanismen zur Messung, Überwachung und Berichterstattung
5.2.1 Der EWSA stimmt der Kommission zu, dass die Messung gesundheitlicher Ungleichheit grundlegend für ein wirksames Vorgehen, die Überwachung und Fortschrittserzielung ist.
5.2.2 Daher fordert er ALLE Mitgliedstaaten auf, sich an den Plänen der Kommission zur Verbesserung der Daten- und Wissensbasis sowie der Mechanismen zur Messung, Überwachung und Berichterstattung über gesundheitliche Ungleichheit (einschließlich der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen) zu beteiligen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass sich die Mitgliedstaaten verpflichten, rechtzeitig vergleichbare Daten bereitzustellen.
5.2.3 Da Daten von großer Bedeutung sind und diesbezüglich Lücken bestehen, fordert der EWSA die Kommission zur Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf, um neue Indikatoren zur Überwachung gesundheitlicher Ungleichheit und ein Verfahren zur Prüfung der Gesundheitssituation in den Mitgliedstaaten zu entwickeln, mit dem die erforderlichen Schwerpunkte bezüglich verbesserungswürdiger Bereiche und bewährter Verfahren gesetzt werden.
5.2.4 Der EWSA befürwortet, dass das Messen und Überwachen eines effektiven Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen sowie eines flächendeckenden sozialen Gesundheitsschutzes als Fortschrittsindikator einbezogen wird und hält es ebenfalls für wichtig, Daten nach Geschlecht und Alter, sozioökonomischem Status und geografischem Gebiet aufzuschlüsseln. Der EWSA ermutigt die Kommission und die Mitgliedstaaten, auf die diesbezüglichen Erfahrungen der WHO, der ILO, der Dubliner Stiftung und der EU-Agentur für Grundrechte zurückzugreifen.
5.2.5 Bezüglich der Forschung und Wissensbasis unterstützt der EWSA eine stärkere Schwerpunktlegung auf gesundheitsbezogene und sozioökonomische Themen im Forschungsrahmenprogramm der EU. Das Gesundheitsprogramm der EU sollte in der nächsten Haushaltsperiode auch eine Priorität „Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit“ umfassen.
5.2.6 Die Kommission sollte auch Instrumente und einen Rahmen für den Austausch von Forschungsergebnissen unter den Mitgliedstaaten sowie Möglichkeiten der Bündelung von Forschungsressourcen der Mitgliedstaaten schaffen.
5.2.7 Der EWSA erkennt an, dass der Abbau gesundheitlicher Ungleichheit ein langfristiger Prozess ist. Die in der Mitteilung genannten Maßnahmen sollen den Rahmen für ein nachhaltiges Vorgehen schaffen und der Ausschuss sieht dem ersten Bewertungsbericht entgegen, der 2012 ansteht.
5.3 Engagement in allen Bereichen der Gesundheit
5.3.1 Der EWSA begrüßt die Pläne der Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und unter Konsultation einschlägiger Interessengruppen auf europäischer und nationaler Ebene
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das Thema gesundheitliche Ungleichheit als Priorität in die Kooperationsregelungen zur Gesundheit aufzunehmen, |
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Maßnahmen und Instrumente im Rahmen des Gesundheitsprogramms, des ESF und anderer Mechanismen für berufliche Bildung zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit zu entwickeln, |
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Denkanstöße zur Zielentwicklung im Ausschuss für Sozialschutz in Form von Diskussionspapieren zu geben. |
5.3.2 Der EWSA betont, dass die Entwicklung eines starken Engagements in allen Bereichen der Gesellschaft nicht nur von den Regierungen, sondern auch von der Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner abhängt. Auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene sollten Interessengruppen in den Konsultationsprozess, die Erarbeitung von Strategien und deren Umsetzung einbezogen werden, wobei der Ausschuss die Ansicht vertritt, dass es noch Spielraum für eine Erhöhung der Wirksamkeit dieser Aspekte und der Entwicklung von Partnerschaften sowie eine bessere Verbreitung bewährter Verfahren gibt. Für die Fortschrittsmessung müssen in den Mitgliedstaaten klare Überwachungs- und Evaluierungsprogramme geschaffen werden.
5.3.3 Die Schaffung wirksamerer Partnerschaften mit den Beteiligten wird dazu beitragen, Maßnahmen zu verschiedenen sozialen Faktoren zu fördern und damit gesundheitliche Ungleichheiten anzugehen. Beispielsweise können sie ein wichtige Rolle bei der Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen und deren Angemessenheit, bei der Gesundheitsförderung und Prävention für Migranten, ethnische Minderheiten und andere besonders schutzbedürftige Gruppen, bei der Förderung des Informations- und Wissensaustausches, der Identifizierung und Verbreitung bewährter Verfahren und Hilfen bei der Konzeption maßgeschneiderter Politikansätze für die spezifischen Probleme in den Mitgliedstaaten oder für bestimmte soziale Gruppen spielen. Die Interessengruppen können auch bei der Messung gesundheitlicher Ungleichheit am Arbeitsplatz und in der Freizeit behilflich sein sowie Angehörige der Gesundheitsberufe und aus anderen Bereichen beim Wissenserwerb und in der Weiterbildung unterstützen.
5.3.4 Der EWSA würde eine wirksamere Konsultierung besonders schutzbedürftiger Gruppen gutheißen. Er würde die Möglichkeit begrüßen, zu diesem Punkt gemeinsam mit der Kommission Überlegungen anzustellen.
5.4 Eingehen auf die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Gruppen
5.4.1 Es ist zu bedenken, dass die besonders schutzbedürftigen Gruppen zu den ersten Opfern der derzeitigen Krisen sowohl hinsichtlich ihrer Gesundheit als auch des Zugangs zur Gesundheitsversorgung gehören werden.
5.4.2 Der EWSA begrüßt daher:
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gemeinsame Anstrengungen der Kommission und der Mitgliedstaaten für einen verbesserten Zugang zu Gesundheitsleistungen und Prävention für besonders schutzbedürftige Gruppen. |
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Maßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit in zukünftigen Initiativen zum gesunden Altern. |
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Maßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit im Rahmen des Europäischen Jahres der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010). |
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Die Nutzung der Kohäsionspolitik und der Strukturfonds, um angesichts der demografischen Entwicklung die Gesundheit von besonders schutzbedürftigen Gruppen zu fördern. |
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Eine Konzentration auf wenige Maßnahmen, die dafür aber intensiver bearbeitet werden. |
5.4.3 Der EWSA empfiehlt, dass gesundheitliche Ungleichheit und besonders schutzbedürftige Gruppen, darunter auch Menschen mit Behinderungen, aus der allgemeinen Perspektive der Chancengleichheit und Diskriminierung betrachtet werden sollten. Ein Beispiel sind geschlechterspezifische Aspekte des Alterns. So leben Frauen tendenziell länger als Männer, haben aber mehr gesundheitliche Probleme, und angesichts ihres im Allgemeinen kürzeren Berufslebens beziehen sie niedrigere Ruhestandsleistungen, was wiederum unmittelbaren Einfluss auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung und Medikamenten hat. Auch erfordert die Lage von Frauen mit Migrationshintergrund besondere Beachtung hinsichtlich der Gesundheitserziehung und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung.
5.4.4 Gesundheitsvorsorge und Früherkennungsprogramme sowie Gesundheitsförderung und Bildungsmaßnahmen (zu Themen wie gesunde Lebensführung, verfügbare Behandlungen, Patientenrechte u.a.) sind von großer Bedeutung, insbesondere in benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, Kampagnen und Dienstleistungen für die einzelnen schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen zu initiieren. Gesundheitskampagnen, die an die Bevölkerung insgesamt gerichtet sind, dringen in der Regel kaum bis zu den benachteiligten Gruppen durch. Durch zielgerichtete Kampagnen sollten benachteiligte Gruppen befähigt werden, ihre Bedürfnisse zu definieren und Informationen zu verbreiten.
5.4.5 In diesem Zusammenhang sollte die Kommission den Einfluss bestehender europäischer Plattformen und Foren (zu Themen wie Ernährung, Alkohol u.a.) auf schutzbedürftige Gruppen bewerten. Der EWSA schlägt vor, eine Plattform für Patientenverbände für Erfahrungsaustausch und Informationsverbreitung einzurichten.
5.4.6 Der EWSA betrachtet die Qualität und Zugänglichkeit frühkindlicher Bildung als ein Mittel zur Vermeidung gesundheitlicher Ungleichheit bei den künftigen Generationen. Die Verfügbarkeit vielfältiger Kinderbetreuungsformen ist ein wichtiges Element der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und spielt eine entscheidende Rolle in benachteiligten Gebieten, für benachteiligte Bevölkerungsgruppen und für vergleichsweise schlechter gestellte Haushalte. Kinderbetreuungseinrichtungen können bei der Bewältigung sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitsbezogener Probleme solch benachteiligter Haushalte helfen und zur sozialen Integration ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen beitragen (5). Da gesundheitliche Ungleichheit außerdem zum großen Teil auf Ungleichheiten im Bildungswesen zurückgeführt werden kann, betrachtet es der EWSA als entscheidend, einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Schulbildung und Bildung zu garantieren, damit jeder das für eine selbstbestimmte Lebensweise erforderliche Wissen erwerben kann.
5.5 Weiterentwicklung des Beitrags der EU-Politik
5.5.1 Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten auf, den Abbau gesundheitlicher Ungleichheit zur Priorität zu erklären und eine bessere Koordinierung, Überwachung und Evaluierung von Maßnahmen sicherzustellen, die sich auf soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Probleme auswirken, um bewährte Verfahren und Informationen in der gesamten EU zu verbreiten.
5.5.2 Die Auswirkungen der verschiedenen EU-Maßnahmen auf den Gesundheitszustand sollten untersucht werden.
5.5.3 Die EU könnte noch mehr zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit beitragen, zum Beispiel durch ein besseres Verständnis der Auswirkungen von Maßnahmen auf die Gesundheit und eine stärkere Verzahnung von Bereichen wie Bildung, Arbeitsbedingungen, territoriale Entwicklung, Umweltpolitik und Verkehrspolitik erreicht werden. Die Kommission muss aber zuerst sicherstellen, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen - vor allem wenn sie Auswirkungen auf schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen (6) haben - nicht zu neuen Ungleichheiten führen.
5.5.4 Das Ziel der Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus steht mit dem Binnenmarktziel auf einer Ebene im Vertrag von Lissabon, der auch eine zusätzliche Rolle der EU bei der Sicherstellung des Wohlergehens der EU-Bürger vorsieht. Der EWSA hofft, dass der Lissabon-Vertrag dem Schlagwort „Gesundheit in allen Politikbereichen“ neuen Schwung verleiht, das auf EU-Ebene bislang eher eine Worthülse ist, um das Ungleichgewicht zum allgegenwärtigen Primat des Binnenmarktes zu kaschieren.
5.5.5 In diesem Zusammenhang fordert der EWSA von der Kommission
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eine Evaluation ihrer Maßnahmen (und zwar vor, während und nach Abschluss) in allen ihren Politikbereichen durchzuführen, ob alle Politikbereiche einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus und zur Verringerung von Ungleichheiten in der Gesundheit leisten (7), |
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Mechanismen zu entwickeln, mit denen gesundheitliche Auswirkungen existierender politischer Maßnahmen der Kommission (ex ante und ex post) auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen bewertet und Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung der Politik gezogen werden können, |
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Mechanismen zu entwickeln, wie politische Maßnahmen der Kommission, die negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Ungleichheiten in der Gesundheit haben, rückgängig gemacht werden können, |
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Maßnahmen zur Sensibilisierung der Mitgliedstaaten, Verbände sowie Angehörigen der Gesundheitsberufe bezüglich der realen Auswirkungen gesundheitlicher Ungleichheit, der Faktoren, die sie bestimmen, und der Mittel zu ihrer Beseitigung zu ergreifen. |
5.5.6 Der EWSA fordert darüber hinaus die Mitgliedstaaten auf, die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit in ihr Arbeitsprogramm aufzunehmen und entsprechende sektorübergreifende Strategien zu entwickeln.
5.5.7 Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission, den Mitgliedstaaten zu helfen, die Koordinierung der Maßnahmen zu verbessern und den Zusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und den daraus resultierenden Ergebnissen im Gesundheitsbereich für verschiedene Bevölkerungsgruppen in allen Mitgliedstaaten zu analysieren. Die Bewältigung des Problems der gesundheitlichen Ungleichheit sollte auch durch eine bessere Nutzung der EU-Kohäsionspolitik, genauere Informationen über die Kohäsionsfonds und deren bessere Koordinierung, den Kapazitätsausbau in den Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Investitionen im Bereich Gesundheitsversorgung und Sozialschutz sowie Möglichkeiten im Rahmen der EU-Politik für ländliche Entwicklung und der GAP vorangetrieben werden.
5.5.8 Dabei dürfen die Rechte der Mitgliedstaaten zur Organisation und Finanzierung der Gesundheitssysteme, insbesondere das Recht zur Festlegung und Durchsetzung eines geeigneten Gesundheitsschutzniveaus (Artikel 168 AEUV) nicht angetastet werden.
5.5.9 Die Bekämpfung von gesundheitlichen Ungleichheiten in ländlichen Gebieten, besonders vor dem Hintergrund der Herausforderungen der demografischen Veränderungen, muss verstärkt werden. Dabei sollte die wichtige Rolle kleiner Gesundheitsdienstleister (vor allem freiberuflich tätiger Heilberufe) bei der Sicherstellung einer flächendeckenden, persönlichen Patientenversorgung vor Ort anerkannt und besonders gefördert werden.
5.5.10 Der EWSA begrüßt:
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den vorgeschlagenen Politikdialog mit den Mitgliedstaaten und den Interessengruppen über Gerechtigkeit und andere Grundwerte der Gesundheit, wie in der EU-Gesundheitsstrategie und der Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz vorgesehen, sowie den Vorschlag der Einrichtung eines Forums zu Gesundheit und Restrukturierung, um Möglichkeiten zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit zu untersuchen; |
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die Initiative der Kommission, auf internationaler Ebene andere Länder in Gesundheitsfragen und verwandten Bereichen durch den Austausch von Erfahrungen der EU bei der Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten zu unterstützen. |
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Siehe folgende Stellungnahmen:
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„Frühkindliche Betreuung und Bildung“ (Initiativstellungnahme), Berichterstatterin: Mária HERCZOG |
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(2) Da sind die Empfehlung des Rates zur Krebsfrüherkennung, Bemühungen im Zusammenhang mit geistiger Gesundheit, Rauchen und HIV/AIDS sowie das europäische Verzeichnis vorbildlicher Verfahrensweisen, das Sammeln von Daten und ein Netz zwischen den Mitgliedstaaten und den Interessenträgern. Weitere Unterstützung erfolgt über die Forschungsrahmen- bzw. die Aktionsprogramme, PROGRESS, Studien und politische Innovationen. Ferner tragen die Gemeinschaftsvorschriften zum Arbeitsrecht sowie zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die gemeinsame Agrarpolitik sowie die Umweltschutz- und die Marktpolitik zur Verbesserung der Gesundheit bei. Mithilfe des Kohäsionsfonds und des Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums wird die Ungleichheit zwischen den Regionen verringert.
(3) So hat z.B. in Frankreich der beschränkte Zugang zur antiretroviralen Behandlung die gesundheitliche Ungleichheit zwischen HIV-positiven Patienten verstärkt.
(4) Übereinkommen, national und international vereinbarte Ziele, Leistungen bei Mutterschaft einschließlich Kranken- und Mutterschaftsurlaub; zu den wichtigsten Konventionen und Vorschriften der ILO im Bereich des sozialen Gesundheitsschutzes gehören die ILO-Konvention 130 über ärztliche Betreuung und die ILO-Konvention 102 mit Schwerpunkt soziale Sicherheit und insbesondere sozialer Gesundheitsschutz. Sie wurde von zahlreichen Ländern und jüngst von Rumänien und Bulgarien unterzeichnet. Für eine Ratifizierung durch die EU fehlen nur zwei baltische Staaten und Finnland (aufgrund von geschlechterspezifischen Formulierungen).
(5) „Frühkindliche Betreuung und Bildung“ (Initiativstellungnahme), Berichterstatterin: Mária HERCZOG
(6) Zu den besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen gehören Personen, die aufgrund einer Krankheit nicht mobil sind, nicht aktiv nach der bestmöglichen ärztlichen Behandlung suchen, die Sprache des bevorzugten Landes ihrer Behandlung nicht beherrschen, keine finanziellen Mittel für eine spezielle Behandlung bzw. Behandlung im Ausland haben oder zögern, Behandlungsmöglichkeiten im Ausland oder einem entfernten Behandlungszentrum zu suchen. Insbesondere demografische Veränderungen werden neue Herausforderungen im Bereich der Gesundheit mit sich bringen.
(7) Eine Folgenabschätzung ist zwar schon jetzt bei vielen Rechtsakten gefordert, jedoch fehlt meist eine Evaluation, ob die vorgegebenen Ziele wirklich und effizient erreicht worden sind. Dies ist umso notwendiger aufgrund der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise, die zunehmend auch zu einer Krise auf dem Arbeitsmarkt und der Finanzierung unserer Gesundheitssysteme wird und Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung hat.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/80 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“
(Neufassung)
KOM(2009) 551 endg./2 — 2009/0164 (COD)
2011/C 18/14
Berichterstatter: Cristian PÎRVULESCU
Der Rat beschloss am 26. November 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung)“
KOM(2009) 551 endg. — 2009/0164 (COD).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 136 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen
1.1 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Ziele, die die Kommission hinsichtlich der Verbesserung des gemeinsamen europäischen Asylsystems festgelegt hat. Er unterstreicht jedoch die Kluft zwischen den Zielsetzungen auf europäischer Ebene und den Methoden auf nationaler Ebene, die durch die Wirtschaftskrise und die damit verbundenen sozialen und politischen Folgen noch vergrößert werden könnte. |
1.2 |
Der EWSA ist der Ansicht, dass die Überarbeitung der Richtlinie zur Schaffung einer besseren rechtlichen und institutionellen Grundlage beitragen kann, die ein höheres und kohärenteres Niveau der Unterstützung für Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, ermöglichen wird. |
1.3 |
Der EWSA gibt jedoch zu bedenken, dass auch in diesem europäischen Politikbereich das Risiko besteht, dass die angestrebten Werte durch zu viele Worte und Absichtserklärungen an Inhalt verlieren könnten. In der zweiten Phase der Umsetzung dieser Politik, in der das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kommt, sollten deshalb die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, die den effektiven Zugang von Asylbewerbern zum Beschäftigungsmarkt und zu den Bildungsprogrammen ermöglichen. |
1.4 |
Der EWSA weist darauf hin, dass die Rolle der Zivilgesellschaft im Allgemeinen und der auf dem Gebiet des Asyls und des Flüchtlingsschutzes tätigen Nichtregierungsorganisationen im Besonderen grundsätzlich anerkannt werden sollte und fordert, ihnen den uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Verfahren und Örtlichkeiten, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit stehen, zu gewähren. Er betont allerdings, dass die Organisationen nicht die Funktionen und Zuständigkeiten der Regierungen in diesem Bereich übernehmen können. |
1.5 |
Der EWSA beobachtet mit Besorgnis, dass die einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Methoden zur Abschiebung von Personen, die möglicherweise des internationalen Schutzes bedürfen, nicht derart transparent sind, dass sie aus Sicht der eigenen Bürger und der internationalen Gemeinschaft gerechtfertigt erscheinen. |
1.6 |
Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die durch die Wirtschaftskrise bedingten Haushaltsbeschränkungen den internationalen Schutz weder qualitativ noch quantitativ beeinträchtigen dürfen. |
1.7 |
Der EWSA unterstützt das Ziel der inhaltlichen Verbesserung des internationalen Schutzes durch die Anerkennung der Qualifikationen und die Erleichterung des Zugangs zu Berufsbildung und Beschäftigung sowie Integrationsangeboten und Wohnraum. |
2. Einleitung
2.1 |
Die Schaffung des gemeinsamen europäischen Asylsystems im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geht auf das Ziel einer effektiven Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) sowie auf die humanitären Grundwerte zurück, die von allen Mitgliedstaaten geteilt werden. Im Rahmen der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere und später des Haager Programms wurde das gemeinsame europäische Asylsystem als wichtigstes Instrument zur Schaffung eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Schutzstatus in allen EU-Mitgliedstaaten festgelegt. |
2.2 |
Zwischen 1999 und 2006 wurden erhebliche Fortschritte erzielt, unter anderem durch die Annahme von vier Instrumenten, die den derzeitigen Acquis bilden. In der Richtlinie 2004/83/EG des Rates („Anerkennungsrichtlinie“) wurden gemeinsame Kriterien zur Ermittlung der Personen, die um internationalen Schutz ersuchen können, festgelegt. Darüber hinaus sieht sie vor, diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen zu garantieren. Im Haager wie auch im Stockholmer Programm verpflichtete sich die Kommission dazu, die in der ersten Phase erzielten Fortschritte zu bewerten und dem Rat und dem Europäischen Parlament bis Ende 2010 eine Reihe von Maßnahmen vorzuschlagen. |
2.3 |
Seit 2002 wirkt der EWSA durch zahlreiche Stellungnahmen an der Gestaltung und Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems mit. So entstanden in den vergangenen Jahren unter anderem Stellungnahmen zu der Richtlinie, die Gegenstand der hier untersuchten Neufassung ist (1), zum Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem (2) und zur Asylstrategie (3). |
2.4 |
In der am 17. Juni 2008 gebilligten Asylstrategie (4) schlug die Kommission vor, die zweite Phase des gemeinsamen europäischen Asylsystems durch die Festlegung besserer Schutzstandards und die Gewährleistung ihrer harmonisierten Anwendung in den Mitgliedstaaten abzuschließen. Durch den vom Europäischen Rat am 17. Oktober 2008 verabschiedeten Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl wurden diese Politik und die damit verbundenen Ziele erneut bekräftigt. |
2.5 |
Gemäß der Asylstrategie soll die Anerkennungsrichtlinie im Rahmen eines umfassenderen Maßnahmenpakets überarbeitet werden, der auch die Überarbeitung der Dublin- und EURODAC-Verordnungen, der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen (5) sowie des am 19. Februar 2009 angenommenen Vorschlags zur Einrichtung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (6) umfasst. Zu den weiteren Maßnahmen gehört die Stärkung der Außendimension des Asyls, insbesondere durch ein europäisches Programm für die Neuansiedlung und die Entwicklung regionaler Schutzprogramme. |
2.6 |
Die Überarbeitung der Richtlinie kann dazu beitragen, eine rechtliche und institutionelle Grundlage zu schaffen, die ein höheres und kohärenteres Niveau der Unterstützung für Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, ermöglicht. In der zweiten Phase wird gemäß Artikel 294 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU das Mitentscheidungsverfahren angewandt. Das bedeutet, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit Stellung nimmt und das Europäische Parlament in seiner Eigenschaft als Mitgesetzgeber in das Verfahren eingebunden wird. |
2.7 |
Die Richtlinie muss angesichts der Doppeldeutigkeiten im ursprünglichen Wortlaut, die von den Mitgliedstaaten als ein Hauptgrund für die derzeitigen Systemmängel angesehen werden, überarbeitet werden. Besonders erwähnenswert sind hier der unterschiedliche Prozentsatz der positiv beschiedenen Asylanträge und die Vielzahl der angefochtenen Entscheidungen. |
2.8 |
Durch die Überarbeitung der Richtlinie kann ihr Inhalt mit den Urteilen des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Diese Urteile bilden eine geeignete Grundlage, um den Acquis und die Gesamtheit der Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes klarer zu fassen. |
2.9 |
Die Neuformulierung erscheint auch deshalb notwendig, weil die Richtlinie ein Kernelement des Mechanismus zur Gewährung des internationalen Schutzes berührt. Die darin beschriebenen Standards ergänzen andere Teile des Acquis, namentlich die Asylverfahrenrichtlinie. Diese Überarbeitung kann in Verbindung mit anderen institutionellen und finanziellen Unterstützungsmaßnahmen zu einem erheblichen Fortschritt beim Aufbau eines funktionsfähigen und wirkungsvollen gemeinsamen europäischen Asylsystems führen. |
2.10 |
Als Vertretungsinstanz der europäischen organisierten Zivilgesellschaft hat der EWSA bereits die Bemühungen um eine Anhörung der Zivilgesellschaft und der Sachverständigen im Rahmen der Gestaltung der Asylpolitik begrüßt. Erwähnenswert sind vor allem die Anhörungen im Zusammenhang mit der Erarbeitung des von der Europäischen Kommission im Juni 2007 vorgelegten Grünbuchs (7) und der Vorbereitung der Studien über die Umsetzung der Richtlinie (z.B. des Odysseus-Berichts) oder des externen Berichts über den Erfolg der Asylpolitik (8). |
2.11 |
Der EWSA erkennt die Bedeutung der Rolle der Gebietskörperschaften für den Erfolg der Asylpolitik an, insbesondere in Bezug auf die Integration der Personen, die internationalen Schutz erhalten. In diesem Zusammenhang ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss der Ansicht, dass der Ausschuss der Regionen ebenfalls an den Anhörungen im Bereich der Asylpolitik beteiligt werden sollte. |
2.12 |
Der EWSA zeigt sich äußerst besorgt über die Methoden der Regierungen der Mitgliedstaaten und der Agentur FRONTEX im Bereich der Abschiebung von Personen, die möglicherweise eines internationalen Schutzes bedürfen (9). Diese Operationen, deren Häufigkeit und Umfang zugenommen haben, müssen unter Bedingungen völliger Transparenz und Verantwortlichkeit durchgeführt werden (10). Der EWSA rät, dass FRONTEX und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen zusammenarbeiten sollten, um Menschenrechtsverstöße zu verhindern. Die Abschiebung von Menschen in Länder oder Regionen, in denen ihre Sicherheit gefährdet ist, stellt eine klare Verletzung des Grundsatzes des non-refoulement dar. Der EWSA fordert, umgehend einen Bericht über die Tätigkeiten der Agentur FRONTEX zu erstellen und unverzüglich die Modalitäten für die Handhabung der Abschiebungen durch die Agentur in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden festzulegen. Eine Stärkung von FRONTEX ohne Festlegung von Verfahren, die die Achtung der Menschenrechte gewährleisten, könnte das gemeinsame europäische Asylsystem als Ganzes gefährden und der Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten schaden. |
2.13 |
Der EWSA ist der Auffassung, dass das gemeinsame europäische Asylsystem nur dann reibungslos funktionieren kann, wenn das Prinzip der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in die Praxis umgesetzt wird. Einige Mitgliedstaaten sind hauptsächlich wegen ihrer geografischen Lage einem sehr viel größeren Druck ausgesetzt als die übrigen. Das System wird nur dann funktionieren, wenn diese Länder von den anderen Mitgliedstaaten und den Fachagenturen der EU unterstützt werden. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag für eine Überarbeitung der Richtlinie, der seine früheren Empfehlungen inhaltlich widerspiegelt, vor allem in Bezug auf die Behandlung von Antragstellern und die Klärung des Status von Personen, die für internationalen Schutz in Frage kommen. Allerdings bleibt noch viel zu tun, um ein funktionsfähiges gemeinsames europäisches Asylsystem auf die Beine zu stellen. Dies gelingt nur, wenn das System in einem Bündel von Werten und gemeinsamen Grundsätzen fest verankert ist, die die Würde und die Sicherheit der Menschen in den Mittelpunkt des Handelns der EU und ihrer Mitgliedstaaten stellen. Unterminiert wird die Einrichtung eines solchen Systems auch durch einen Mangel an Instrumenten und Ressourcen, die ein transparentes und effizientes Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes sicherstellen und flankiert werden durch Maßnahmen und Programme zur Integration von Personen mit internationalem Schutzstatus in die Gesellschaft und Wirtschaft der Mitgliedstaaten. |
3.2 |
Es besteht nach wie vor eine deutliche Kluft zwischen EU-Rechtsvorschriften einerseits und nationalen Gesetzen und Praktiken andererseits (11). Die Harmonisierung darf nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner im Bereich des Schutzes hinauslaufen. Die große Vielfalt der nationalen Methoden, so wie sie sich in den Unterschieden bei den Annahmequoten, der Zahl der angefochtenen Entscheidungen und den Sekundärbewegungen widerspiegeln, zeigt, dass der implizite Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten nicht zur Anwendung gelangt. |
3.3 |
Der EWSA hat bereits eine Reihe von Grundsätzen herausgestellt, die für das Handeln der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen immer maßgeblich sein sollten (12): den Grundsatz des non-refoulement, dem zufolge kein Flüchtling in ein Land abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit gefährdet wären, den Grundsatz der Vertraulichkeit der Informationen in Asylanträgen und die Garantie, dass Asylbewerber allein aufgrund der Beantragung von Asyl nicht in Gewahrsam genommen werden dürfen. |
3.4 |
In seiner Stellungnahme zum Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem (13) bringt der EWSA seine Unterstützung für diese Grundsätze zum Ausdruck und gibt präzise Empfehlungen zu der Frage ab, wie der Umgang mit Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, verbessert werden könnte. Die europäischen Institutionen und nationalen Behörden müssen zusammenarbeiten, um dafür Sorge zu tragen, dass die Personen, die eines internationalen Schutzes bedürfen, jederzeit in die Europäische Union einreisen können und ihre Anträge einer individuellen und eingehenden Prüfung unterzogen werden. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, die Liste der als sicher erachteten Drittstaaten nicht weiter zu verwenden und ein Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen einzurichten. |
3.5 |
Neben der Festlegung eines Fundus von Werten und Grundsätzen, der jeglichem Handeln im Bereich der Asylpolitik zugrunde liegt, empfiehlt der EWSA, sich für die Verwirklichung einiger spezifischer Ziele einzusetzen, um den Umgang mit Personen, die um internationalen Schutz ersuchen oder ihn bereits genießen, merklich zu verbessern. Der EWSA befürwortet die Festlegung einer Reihe von Schlüsselindikatoren zur Überwachung und Bewertung der Fortschritte bei der Verwirklichung dieser Zielsetzungen. |
3.6 |
Der EWSA spricht sich dafür aus, durch das Europäische Unterstützungsbüro ein europäisches System zur Analyse und Bewertung der Sicherheitsrisiken für einzelne Personen und Personengruppen in Drittländern einzurichten. Gegenwärtig gibt es viele Systeme zur Bewertung der Risiken und der politischen Gewalt, die von den nationalen Behörden oder auch von Nichtregierungsorganisationen (NRO), Universitäten und Forschungsinstituten entwickelt wurden (14). |
3.7 |
Wenn nötig sollten der Europäische Auswärtige Dienst, die diplomatischen Vertreter der Mitgliedstaaten, aber auch die internationalen Organisationen und die NRO, die Beziehungen zu Drittstaaten haben und dort tätig sind, an der Datenerhebung beteiligt werden. Dieses Analyse- und Bewertungssystem würde den nationalen Behörden die nötigen Eckdaten für eine wirksamere und schnellere Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz liefern. Das System würde die gemeinsame Grundlage für eine Bewertung bilden und eine Risikoermittlung in Echtzeit ermöglichen. |
4. Besondere Bemerkungen
4.1 |
Bei der Erläuterung der rechtlichen Aspekte ihres Richtlinienvorschlags spricht sich die Kommission für eine Reihe von Definitionen aus, um höhere Schutzstandards festlegen und die bereits existierenden Schutznormen weiter harmonisieren zu können. Zu diesem Zweck schlägt der EWSA vor, bestimmte Aspekte zu präzisieren und weiter auszuführen, um auf diese Weise einen Beitrag zur Festlegung von Verfahrensweisen zu leisten, die auf den gemeinsamen Werten und Grundsätzen der EU beruhen. |
4.2 |
Akteure, die Schutz bieten können. Der EWSA hält die Ausweitung der Definition der Akteure, die Schutz bieten können, für nicht zweckmäßig und bedauert, dass nichtstaatliche Instanzen wie NRO und internationale Organisationen nicht von vornherein in die Liste der Akteure, die Schutz bieten können, aufgenommen wurden. Obwohl diese Akteure (internationale Organisationen, NRO) bereit und auch dazu in der Lage sind, die Bürger eines Landes zu schützen, fällt dies letztlich nicht in ihre Verantwortung. Die internationalen Organisationen sind den Mitgliedstaaten rechenschaftspflichtig, und die NRO ihren Mitgliedern und Geldgebern. Nur der Staat kann auf mittlere und lange Sicht einen vollwertigen und wirksamen Schutz bieten, da er seinen eigenen Bürgern gegenüber Rechenschaft ablegen muss, die naturgemäß das größte Interesse an seiner Lebensfähigkeit und Stabilität haben. Zwar können die Schutz bietenden Akteure kurzfristig nützliche oder mitunter sogar unabdingbare Dienstleistungen zur Verfügung stellen (vor allem bei der Lösung humanitärer Probleme), doch kann ihnen weder ganz noch teilweise die Verantwortung für den Schutz von Personen auf einem bestimmten Territorium übertragen werden. Die Existenz derartiger Akteure kann kein Grund dafür sein, internationalen Schutz zu verweigern. |
4.3 |
Interner Schutz. Der interne Schutz, der in einem Land geboten wird, reicht nicht aus, um die Sicherheit von Personen, die potenziell um internationalen Schutz ersuchen, zu gewährleisten. In einigen Fällen ist nur ein kleiner Teil des Hoheitsgebiets des betreffenden Staats sicher, wobei es unwahrscheinlich ist, dass sich alle gefährdeten Personen dorthin begeben können. Es gibt auch Fälle, in denen die Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet umstritten und damit unklar ist, wer für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit zuständig ist. Daher bedarf es einer eingehenden Begriffsklärung. Der interne Schutz ist nur dann wirksam, wenn der größte Teil des Hoheitsgebiets unter der Kontrolle einer Zentralbehörde steht, die willens und in der Lage ist, die innere Ordnung sowie ein Mindestmaß an öffentlichen Dienstleistungen und einen angemessenen Schutz der Rechte und der Sicherheit des Einzelnen zu gewährleisten. |
4.4 |
Kausalzusammenhang. In Fällen, in denen die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, ist es sehr zweckmäßig, einen „Kausalzusammenhang“ zugrunde zulegen. Im Falle von Verfolgungen sind Anträge auf internationalen Schutz dann gerechtfertigt, wenn ein staatlicher Schutz fehlt. In allen Fällen, in denen eine Regierung sich implizit oder explizit weigert, seine Bürger zu beschützen, ist dieser Grundsatz großzügig auszulegen und strikt zu verfolgen. |
4.5 |
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Der EWSA begrüßt die Aufnahme des Geschlechtskriteriums in die Definition potenziell gefährdeter sozialer Gruppen. Darüber hinaus sollte bei der Auslegung der Genfer Konvention ein bereichsübergreifender Ansatz zur Anwendung kommen, um Situationen, in denen Frauen besonderen Risiken ausgesetzt sind, besser Rechnung zu tragen. Der EWSA weist ebenfalls darauf hin, dass die sexuelle Ausrichtung Ursache von Verfolgung sein kann. Es gibt Gesellschaftsformen, in denen die Sicherheit und das Wohl der Individuen von ihrem Geschlecht abhängen. Der EWSA ist der Ansicht, dass Organisationen und Einrichtungen, die über einschlägige Kenntnisse in diesem Bereich verfügen, an den Konsultationen zur Asylpolitik beteiligt werden sollten, um ein vollständigeres Bild über geschlechtsspezifische Risiken zu erhalten. Die Gleichstellung der Geschlechter sollte auch in der Arbeit des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen durch die Schaffung spezifischer Strukturen anerkannt werden. |
4.6 |
Beendigung des Flüchtlingsstatus. Der EWSA befürwortet die vorgeschlagene Änderung und hält sie für vereinbar mit den Werten und Grundsätzen, die der Asylpolitik zugrunde liegen. Der Status einer Person, die internationalen Schutz genießt, kann nur dann enden, wenn die Rückkehr an den Herkunftsort nicht mehr mit Risiken verbunden ist. |
4.7 |
Differenzierung beim Inhalt der beiden Schutzstatus. Der EWSA begrüßt die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der beiden Schutzstatus, für die er sich bereits wiederholt ausgesprochen hat. Dadurch soll künftig der Schutz gefährdeter Personen verbessert und ihre Integration in die EU-Mitgliedstaaten vorangetrieben werden. Die Vereinheitlichung dieser beiden Status sollte indes weder mittelbar noch unmittelbar zu einer Absenkung des Niveaus oder der Qualität des gewährten Schutzes führen. |
4.8 |
Inhalt des zu gewährenden Schutzes. Der Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist ein heikles Thema in der Asylpolitik. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sind hier auch viel größer als bei den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes per se. Bei der Gestaltung der künftigen Asylpolitik muss die Europäische Kommission unbedingt die erforderlichen Ressourcen mobilisieren, um die nationalen politischen Strategien und Programme auf diesem Gebiet eingehend zu untersuchen. Ohne proaktive Maßnahmen wird die Gewährung internationalen Schutzes an Substanz verlieren und zu einer impliziten Diskriminierung der Personen führen, die diesen Schutz genießen. Der EWSA empfiehlt, Gewerkschaften und Arbeitgeber an der Konzipierung und Umsetzung der Asylpolitik auf nationaler Ebene zu beteiligen. |
4.9 |
Der EWSA begrüßt die Aufnahme von Bestimmungen zur Anerkennung/Gleichstellung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen sowie die Maßnahmen, die den Schutzberechtigten den Zugang zu Berufsbildungsprogrammen erleichtern. Derartige Maßnahmen sind für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration dieser Personen und für die Verbesserung ihrer Lebensqualität von besonderer Bedeutung. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sollte durch aktive Maßnahmen erleichtert werden, um damit die Diskriminierung zu bekämpfen und Anreize für Wirtschaftsakteure zu schaffen. |
4.10 |
Familienangehörige. Der EWSA begrüßt die Klärung des Begriffs „Familienangehörige“ und vertritt die Ansicht, dass dadurch eine genauere und einheitlicher Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz in allen EU-Mitgliedstaaten ermöglicht wird. |
4.11 |
Der EWSA befürwortet das Wohl des Kindes als Kriterium bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 221 vom 17.9.2002, S. 43.
(2) ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77.
(3) ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 78.
(4) KOM(2008) 360 endg.
(5) KOM(2008) 815 endg., KOM(2008) 820 endg., KOM(2008) 825 endg.
(6) KOM(2009) 66 endg.
(7) KOM(2007) 301 endg.
(8) GHK, Folgenabschätzungsstudien zu folgenden Themen: „Künftige Entwicklung von Maßnahmen betreffend die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen, die internationalen Schutz benötigen, und den Inhalt des zu gewährenden Schutzes auf der Grundlage der Richtlinie 2004/83/EG des Rates“ und „Künftige Entwicklung von Maßnahmen betreffend die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage der Richtlinie 2005/85/EG“, Mehrfach-Rahmendienstleistungsvertrag JLS/2006/A1/004.
(9) Siehe den Bericht von Human Rights Watch (HRW) von 2009: „Pushed Back, Pushed Around, Italy's Forced Return of Boat Migrants and Asylum Seekers, Libya's Mistreatment of Migrants and Asylum Seekers“ („Abgeschoben, herumgestoßen: Italiens erzwungene Rückkehr von Migranten und Asylsuchenden, die auf dem Seeweg ins Land gelangen, und ihre Misshandlung durch Libyen“).
(10) Der EWSA begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, die einschlägigen Verfahren transparenter zu gestalten.
(11) KOM(2009) 551 endg. - SEK(2009) 1374), S. 14-16.
(12) ABl. C 193 vom 10.7.2001, S. 77-83.
(13) ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77-84.
(14) Hier kann eine Vielzahl von Bewertungssystemen dieser Art angeführt werden: „Fund for Peace“: http://www.fundforpeace.org/web/index.php?option=com_content&task=view&id=229&Itemid=366; Minorities at Risk: http://www.cidcm.umd.edu/mar/about.asp; Conflict and Peace: http://www.cidcm.umd.edu/pc/; Global Report des Center for Systemic Peace (CSP): http://www.systemicpeace.org/; Human Security Report: http://www.humansecurityreport.info/index.php?option=content&task=view&id=28&Itemid=63.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/85 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus“
(Neufassung)
KOM(2009) 554 endg. — 2009/0165 (COD)
2011/C 18/15
Berichterstatter: Antonello PEZZINI
Der Rat beschloss am 26. November 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (Neufassung)
KOM(2009) 554 endg. – 2009/0165 (COD).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 153 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Zusammenfassung und Empfehlungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt und unterstützt die Arbeit der Kommission zur Anpassung der Asylverfahrensrichtlinie an die im Grünbuch (1) und im Aktionsplan (2) vorgebrachten Empfehlungen.
1.2 Durch den Vertrag von Lissabon, der unter anderem die Charta der Grundrechte beinhaltet, wurden die Zuständigkeiten und Befugnisse der Union im Bereich Asyl und Einwanderung erheblich erweitert.
1.3 Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Kommission bei der Harmonisierung der früheren Richtlinien bezüglich der komplexen Asylproblematik eine anerkennenswerte Arbeit geleistet hat.
1.4 Der EWSA ist der Auffassung, dass gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und Drittstaaten durch kulturelle, rechtliche, administrative und kooperative Prozesse ein „Europa des Asyls“ innerhalb des „sozialen Europas“ geschaffen werden sollte.
1.5 In einer Welt, die auch infolge der Globalisierungsprozesse und der Wirtschafts- und Umweltkrisen immer komplexer erscheint und sich immer rascher wandelt, manifestiert und entwickelt sich die grundlegende Rolle der Nichtregierungsorganisationen; nach Auffassung des Ausschusses sollte diese Rolle durch die Gesellschaft und die öffentlichen Entscheidungsträger zunehmend gestärkt und geprägt werden.
1.6 Die Nichtregierungsorganisationen haben ihrer Bestimmung nach die Aufgabe, den am meisten benachteiligten Gruppen Hilfe und Unterstützung zu bieten. Ihre Rolle ist nach Ansicht des EWSA sogar unerlässlich, wenn es um Hilfe und kulturelle Mediation in allen Phasen der in den europäischen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren geht.
1.7 Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission bei ihren Anstrengungen zur Harmonisierung der Verfahren und Methoden stets große Um- und Vorsicht walten lassen, da es hier um Menschen geht, die sich mehr als andere und aus ganz offenkundigen Gründen in einer Situation der Unterlegenheit und der Not befinden.
1.8 In jedem Falle sollte die EU vermeiden, Flüchtlinge in die Herkunftsländer zurückzuführen, in denen ihre physische und psychische Unversehrtheit gefährdet ist und die Grundrechte nicht geachtet werden.
1.9 Im Falle der Beantragung von Asyl erscheint es wesentlich, dass sich Antragsteller in ihrer Muttersprache ausdrücken können und ihnen zu jedem Zeitpunkt kostenloser Rechtsbeistand gewährt wird.
1.10 Ein Bescheid über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz muss klar begründet sein und Informationen über Einspruchsmöglichkeiten (insbesondere Verfahren und Fristen) beinhalten.
1.11 Eine Ausweisungsanordnung ist so lange auszusetzen, bis über einen etwaigen Einspruch befunden wurde.
1.12 Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten alles dafür tun sollten (auch mittels Austausch einschlägiger Erfahrungen), um Asylbewerbern die Möglichkeit zu geben, in einem angemessenen sozialen Umfeld einer Beschäftigung nachzugehen, sich weiterzubilden oder an kulturellen Angeboten teilzuhaben.
1.13 Der EWSA unterstreicht, dass am Grundsatz der Nichtzurückweisung festgehalten werden muss und erwogen werden sollte, den Kreis der Personen, die internationalen Schutz benötigen, auf verfolgte Frauen, schutzbedürftige Personen und Umweltflüchtlinge auszuweiten.
1.14 In den Mitgliedstaaten sollte nach Ansicht des EWSA an das Gefühl der gemeinsamen Verantwortung appelliert werden, um das Phänomen der illegalen Wirtschaftsmigration zu verhindern und die Maßnahmen für die tatsächlich Hilfsbedürftigen - im Hinblick auf die Kosten- und Aufgabenverteilung - zu verbessern.
1.15 Der EWSA hält es für offenkundig, dass die Mitgliedstaaten der Kommission mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen sollten, damit die Politik zur Eingliederung von Asylbewerbern verbessert werden kann.
1.16 Der mit den unlängst vorgeschlagenen Neufassungen der Richtlinien von der Kommission bekundete Wille zur Harmonisierung muss sich in einem analogen Engagement der Mitgliedstaaten widerspiegeln, die angemessene Änderungen an ihren jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften vornehmen müssen.
1.17 Der EWSA ist der Überzeugung, dass die Schaffung eines Europas des Asyls innerhalb des sozialen Europas von dem politischen Willen und dem Bewusstsein der Mitgliedstaaten abhängt, deren Aufgabe durch ein von der Kommission vorgeschlagenes, einheitliches und gut strukturiertes Verfahren erleichtert werden sollte.
1.18 Der EWSA unterstreicht die besondere Situation von Frauen, die bei der Beantragung von Asyl oder der Erlangung des Flüchtlingsstatus mit sehr viel mehr Schwierigkeiten konfrontiert sind als Männer. Er fordert deshalb die Kommission auf, in dieser Frage alle Hebel in Bewegung zu setzen und die Mitgliedstaaten dabei einzubinden, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu erreichen, die seit langem ein besonders wichtiges Anliegen der EU ist.
1.19 Eine angemessen ausgerichtete Bildung kann nach Einschätzung des Ausschusses ein soziales und kollektives Bewusstsein schaffen, das auf die Akzeptanz derjenigen ausgerichtet ist, die Hilfe und Unterstützung am dringendsten benötigen und die die historisch-religiösen Traditionen der europäischen Länder als verlässliche Bezugspunkte erachten.
2. Einleitung
2.1 Geschichtlicher Hintergrund
2.1.1 Die Ursprünge des Asylrechts liegen im antiken Griechenland, wo es gegen sämtliche Repressalien eine Immunität gab, die sich zwei Städte gegenseitig für ihre jeweiligen Bürger gewährten oder die eine Stadt herausragenden Persönlichkeiten (Botschaftern usw.) zuerkannte (3).
2.1.2 Auch im antiken Rom wurde mit der Etablierung des Völkerrechts das Asylrecht an den Bürgerstatus gekoppelt (4).
2.1.3 Die Lage des Asylrechts ist in der Folge eng mit den unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen der Verfolgung verknüpft, die in repressiven Maßnahmen der Behörden aus religiösen und philosophischen Gründen oder wegen politisch-weltanschaulichen Überzeugungen bestehen, die als Gefährdungen der Staatsordnung betrachtet werden.
2.2 Diskriminierungsverbot und Wahrung der Menschenrechte
2.2.1 Die Entwicklung der Rechtskultur hat eine schrittweise Ausweitung des Asylrechts mit sich gebracht. Daher sehen insbesondere die Verfassungen moderner demokratischer Staaten im Allgemeinen vor, dass die Regierung die Auslieferung eines Ausländers verweigern muss, wenn diese wegen politischen Straftaten gefordert wird.
2.2.2 Deshalb ist in den derzeit in den europäischen Staaten gültigen Grundrechtekatalogen festgeschrieben, dass diese Staaten in ihrem Hoheitsgebiet das Asylrecht jedem Ausländer gewähren, dem in seinem Herkunftsland die tatsächliche Ausübung der demokratischen Freiheiten verwehrt wird.
2.2.3 Die vorgenannten Bestimmungen beziehen sich ausdrücklich auf die Anerkennung der unveräußerlichen Menschenrechte und den Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Das Diskriminierungsverbot ist im Übrigen in Artikel 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert (5).
2.2.4 Von diesem Verbot darf nach Maßgabe von Artikel 15 der Konvention nicht abgewichen werden, wenn die eventuelle Abweichung im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen steht.
2.2.5 Daraus ergibt sich die Beseitigung einzelstaatlicher Bestimmungen über den Ausschluss des Asyls (das sog. Opt-out), mit dem Ziel, die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (ergänzt durch das Protokoll von New York vom 31. Januar 1967) voll und ganz anzuwenden.
2.2.6 Durch den Vertrag von Lissabon werden die Zuständigkeiten der EU im Bereich Asyl und Einwanderung erweitert. Der Vertrag umfasst auch die Charta der Grundrechte, die
— |
das Recht auf Asyl garantiert; |
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die Entwicklung gemeinsamer Regelungen vorsieht; |
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ein integriertes System im Bereich der Verwaltung der Außengrenzen einführt; |
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die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Drittstaaten anerkennt; |
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die Befugnisse des Europäischen Gerichtshofs in Fragen des Asyls und der Einwanderung erweitert. |
3. Zusammenfassung des Vorschlags für eine Neufassung der Richtlinie
3.1 Mit dem hier untersuchten Vorschlag soll die zweite Phase des gemeinsamen europäischen Asylsystems abgeschlossen werden, das mit dem einheitlichen Asylverfahren bis 2012 eingeführt werden soll.
3.2 Bis dahin besteht das Ziel darin, die Lücken und Mängel der derzeitigen Mindestnormen zu beheben, die sich in vielerlei Hinsicht als unzugänglich, unwirksam, ungerecht und unangemessen erwiesen haben (6).
3.3 Die vorgeschlagenen Änderungen zielen vor allem auf eine bessere Harmonisierung der Verfahrensvorschriften ab. Darüber hinaus werden weitere Verfahrensgarantien zugunsten der Asylbewerber vorgeschlagen, insbesondere was die Phase der Prüfung von Schutzanträgen und den damit verbundenen Entscheidungsprozess angeht, wie in spezifischen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte empfohlen wird.
4. Allgemeine Bemerkungen
4.1 Schaffung eines Europas des Asyls innerhalb des sozialen Europas
4.1.1 Die Verwirklichung eines Europas des Asyls innerhalb des sozialen Europas beruht auf tragfähigen Bildungsprozessen, die auf Jugendliche bereits im frühen Schulalter abzielen, damit sie dann eine entscheidende Rolle im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft und der politischen Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten spielen.
4.1.2 Unter Achtung der Grundrechte und der Prinzipien, die in der EU-Grundrechtecharta verankert sind, hat die Europäische Union am 27. Januar 2003 die Richtlinie 2003/9/EG zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten verabschiedet.
4.1.3 In den letzten Jahren hat der rasche Globalisierungsprozess paradoxerweise jedoch zu Identitätskrisen geführt, die eine Umgestaltung des Rechtssystems nach den Grundsätzen des Universalismus - wie ihn das Römische Recht kennt - unmöglich machte.
4.1.4 Das Zusammentreffen verschiedener Völker und das gegenwärtige Klima der Besorgnis über den Kulturkontakt bilden deshalb den Nährboden für neue Ängste und Verunsicherungen, was fast alle europäischen Länder dazu bewegt, restriktive Positionen in Fragen der Staatsangehörigkeit und somit des Asyls einzunehmen.
4.1.5 Diese Entwicklung steht jedoch im Widerspruch zu der Hoffnung auf einen Prozess der Integration der Völker und dem Ziel der Schaffung eines – auch sozialen - Europas.
4.1.6 Deshalb sollte an dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement) festgehalten werden; es könnte sogar erwogen werden, den Kreis der Personen zu erweitern, die für die Gewährung internationalen Schutzes in Frage kommen. Im Übrigen wird in den EU-Richtlinien bereits das Kriterium einer „spezifischen“ Verfolgung anerkannt, wenn die Opfer Frauen und andere besonders schutzbedürftige Personen sind.
4.1.7 Zwar muss im derzeitigen Kontext offensichtlich denjenigen, die nur als Wirtschaftsmigranten gelten, der Flüchtlingsstatus verweigert werden, doch erscheint die Situation der Umweltflüchtlinge noch problematischer.
4.1.8 Hierbei handelt sich de facto um Personen, die gezwungen sind, den Gefahren und Unsicherheiten einer unfreiwilligen Auswanderung, die aus einer Verschlechterung der Umwelt resultiert, zu begegnen, was schwere Folgen für die Wahrnehmung der Menschenrechte - wie des Rechts auf Leben, Nahrung, Gesundheit und Entwicklung - hat (7).
4.1.9 Diese Fragen könnten im Rahmen der Neufassung der „Anerkennungsrichtlinie“ 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 angegangen werden. Diese neuen Problemfelder verdienen auch eine eingehendere Untersuchung, insbesondere im Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (KOM(2009) 66 endg.).
4.2 Besondere Verfahren
4.2.1 Im Verfahren zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus müssen notwendigerweise einerseits eine Reihe von Legislativmaßnahmen im Bereich der Sicherheit berücksichtigt werden, die die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und die Lösung migrationsbedingter Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zum Ziel haben.
4.2.1.1 Anderseits ist es notwendig - in Einklang mit den im Europäischen Pakt für Einwanderung und Asyl von 2008 enthaltenen Verpflichtungen und unter Berücksichtigung der von jedem Staat festgelegten Prioritäten, Erfordernisse und Aufnahmekapazitäten - Vorkehrungen für die legale Einwanderung zu treffen und die Integration zu fördern.
4.2.1.2 Im Hinblick auf die Schaffung eines Europas des Asyls wäre es ferner nützlich, eine Partnerschaft mit den Herkunfts- und Transitländern der Einwanderer aufzubauen - gemäß dem Grundsatz der Lastenverteilung, d.h. dem Prinzip der Solidarität bezüglich der Aufnahme und Verteilung von Asylbewerbern in der gesamten Europäischen Union.
4.2.1.3 Die im Vorschlag für eine Neufassung vorgesehenen Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz und Verfahren zum Widerruf bzw. zur Aberkennung des Status sowie die im Vorschlag für eine Neufassung der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen Verfahren zur Anfechtung von Entscheidungen stehen in Einklang mit den internationalen Anforderungen und den Anforderungen im EU-Recht.
4.2.1.4 Der EWSA hält es für äußerst wichtig, die Nichtregierungsorganisationen zu fördern und zu unterstützen, und zwar auch zu Beginn der Verfahren zur Vorbereitung und Prüfung von Aufnahmeanträgen, zum Widerruf bzw. zur Aberkennung der Status sowie zu Anfechtung von Entscheidungen. In dieser Hinsicht schlägt er vor, entweder in den Erwägungsgründen oder im verfügenden Teil eine diesbezügliche explizite Bestimmung vorzusehen.
4.2.1.5 In der Gemeinschaftsterminologie umfasst der internationale Schutz sowohl die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als auch den subsidiären Schutz für die Personen, die zwar nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtlinge erfüllen, aber nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können, da sie dort erheblichen Gefahren ausgesetzt wären.
4.2.1.6 In den Gesetzen der einzelnen Mitgliedstaaten zur Umsetzung der vorgenannten Verfahrensrichtlinie sind im Allgemeinen drei Zuständigkeitsebenen der Behörden festgelegt, die für die Annahme und Prüfung der Anträge sowie die diesbezügliche Entscheidungsfindung zuständig sind.
4.2.1.7 Der Zugang zum Verfahren geht mit dem Grundsatz einher, dass der Antragsteller das Recht hat, so lange im Hoheitsgebiet zu bleiben und eine menschenwürdige Behandlung zu erhalten, bis der Antrag geprüft wurde - mit gewissen Ausnahmen (Europäischer Haftbefehl usw.). Im Hinblick auf den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde darf die Unterbringung in Aufnahmezentren nicht die Regel, sondern die Ausnahme sein, und zwar nur bis ein besserer Bestimmungsort gefunden wurde.
4.2.1.8 Darüber hinaus ist eine Reihe von Garantien für den Schutz von Asylbewerbern vorgesehen: angemessene Unterrichtung des Asylbewerbers über das einzuhaltende Verfahren und das Ergebnis der Antragsstellung, Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem UNHCR, Unterstützung durch Dolmetscher, persönliche Anhörung des Antragstellers durch die zuständige Behörde, für deren Mitarbeiter Schulungen und Weiterbildungen durchgeführt werden.
4.2.1.9 Der EWSA ist der Auffassung, dass besondere Anstrengungen zur Ausbildung des Fachpersonals von FRONTEX unternommen werden sollten, um Verbesserungen in folgenden Bereichen zu erzielen:
— |
Koordinierung der operationellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten; |
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Erarbeitung gemeinsamer Mindeststandards für die Ausbildung; |
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notwendige Unterstützung der Staaten bei der Organisation der Aufnahme- und Rückführungsmaßnahmen unter Rückgriff auf kulturelle Mediatoren; |
— |
Schulung der Beamten bezüglich des von der EU erarbeiteten humanitären Rechts des Asyls, das insbesondere von der künftigen für Asyl zuständigen Agentur umgesetzt werden soll. |
4.2.1.10 „Aufnahmezentren“ sollten nach dem Dafürhalten des EWSA nur in Ausnahmen und für begrenzte Zeit unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechtecharta genutzt werden. Die Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, sollten ein in jeder Hinsicht angemessenes Leben führen dürfen: in Bezug auf menschliche Aspekte, Gesundheitsdienstleistungen, soziale Beziehungen und Chancen beim Zugang zum Arbeitsmarkt.
4.2.1.11 Die Richtlinie 2003/09/EG über Mindeststandards für Asylbewerber in den Mitgliedstaaten lässt einen großen Spielraum im Bereich des Zugangs zur Beschäftigung. Der EWSA ist der Ansicht, dass jede Beschäftigungsbeschränkung ein menschenwürdiges Leben erschweren und die Schwarzarbeit, die zu sozialer Ungerechtigkeit führt, begünstigen dürfte.
4.2.1.12 Schließlich ist die Möglichkeit der Anfechtung von Entscheidungen, einschließlich eines unentgeltlichen Rechtsbeistands, vorgesehen, und zwar auf Verwaltungs- und Gerichtsebene. Nach Auffassung des Ausschusses sollte die kostenlose administrative und gerichtliche Unterstützung gestärkt werden, indem sie - ebenso wie die sprachliche Unterstützung - für alle Phasen, die in den Verfahren vorgesehen sind, verpflichtend gemacht wird.
5. Besondere Bemerkungen
5.1 Die vorgeschlagenen Änderungen stehen in Einklang mit dem Ziel der Harmonisierung und Aktualisierung der Verfahren zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus.
5.2 Im Grunde sollte deshalb kritisch hinterfragt werden, warum der explizite Verweis auf die Einrichtung des Asylrechts aus dem Vorschlag gestrichen wurde.
5.3 Daher könnte die Forderung nach einem Verweis auf das Asylrecht im neuen Text weiterhin als Anerkennung des Rechts auf Zugang zum Hoheitsgebiet des Staats verstanden werden, insbesondere um das Verfahren zur Erlangung des Flüchtlingsstatus in dem Zeitraum der Überprüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Status anzuwenden, währenddessen vorübergehend das Ausweisungsverbot gilt.
5.4 Darüber hinaus würde der Hinweis auf das Asylrecht den Beschluss eines Mitgliedstaats legitimieren, die neue Richtlinie auch in den Fällen, die über ihren Geltungsbereich hinausgehen (siehe Artikel 3, 4, 11 und 12 des Vorschlags), bei schwerwiegenden humanitären Gründen anzuwenden, die die Rückkehr in das Herkunftsland unmöglich machen (zu unterscheiden von spezifischen Formen der Verfolgung) (8).
5.5 Der EWSA billigt die vorgeschlagenen Änderungen insofern, als sie den vorgenannten Zielen entsprechen.
5.5.1 Er möchte jedoch folgende Aspekte herausstellen:
5.5.1.1 |
Erwägungsgrund (38): Es sollte genauer festgelegt werden, in welchem Rhythmus die regelmäßigen Bewertungen der Umsetzung der Richtlinie vorgenommen werden sollen. |
5.5.1.2 |
Erwägungsgrund (41): Die inhaltlichen Änderungen der vorhergehenden Richtlinie, deren Umsetzung verpflichtend ist, sollten spezifiziert werden. |
5.5.1.3 |
Artikel 2 Buchstabe f): Die Asylbehörde sollte genauer definiert werden, angesichts der Tatsache, dass in mehreren nationalen Rechtsordnungen der Begriff einer „gerichtsähnlichen“ Behörde fehlt. |
5.5.1.4 |
Artikel 3 Ziffer 3: Beispielhaft sollten die Fälle aufgeführt werden, in denen die Richtlinie angewandt werden könnte, wenn ein Antrag auf Schutz nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt (siehe die Bemerkungen zum neuen Phänomen der „Umweltflüchtlinge“). |
5.5.1.5 |
Artikel 6: Die Bestimmung, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt zu verlangen, dass die Anträge an einem bestimmten Ort gestellt werden, scheint den Bestimmungen von Artikel 7 in Widerspruch zu stehen; darüber hinaus schränkt sie offenbar den möglichst breiten Zugang zum Verfahren ein, der im Dokument erwünscht und vorgesehen ist; |
5.5.1.6 |
Artikel 10 Absatz 2: In allen Fällen einer negativen Entscheidung sollte dem Betroffenen in seiner Muttersprache sowie seinen Rechtsvertretern nicht nur den Grund für die Ablehnung des Antrags, sondern auch (sinnvolle und akzeptable) Fristen, Modalitäten und Verfahren zur Beschwerde und Anfechtung mitgeteilt werden. |
5.5.1.7 |
Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe d): Die Möglichkeit der zuständigen Behörden, den Antragsteller und die von ihm mitgeführten Sachen zu durchsuchen, könnte im Widerspruch zu den verfassungsmäßigen Garantien stehen, die in unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen sind. |
5.5.1.8 |
Artikel 34 Absatz 1 Buchstabe c): Es sollten die schwerwiegenden Gründe präzisiert werden, die ein Antragssteller vorbringen kann, um zu zeigen, dass der als sicherer Herkunftsstaat bezeichnete Drittstaat in Wirklichkeit nicht sicher ist. Auch wenn der EWSA einräumt, dass es mitunter schwierig ist, eine einhellig akzeptierte Definition des „sicheren Drittstaats“ festzulegen. |
5.5.1.9 |
Diesbezügliche Denkanstöße liefert das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Mai 2008 (Rechtssache C-133/06), mit dem Artikel 29 Absatz 1 und 2 und Artikel 36 Absatz 3 der Verfahrensrichtlinie (2005/85/EG) aufgehoben wurden. |
Brüssel, den 28. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) KOM(2007) 301 endg.
(2) KOM(2008) 360 endg.
(3) Die Immunität schützte auch Flüchtlinge, die nicht in bestimmten als unantastbar geltenden Tempeln gefangen werden durften (darauf verweist im Übrigen die Etymologie des Worts „Asyl“).
(4) Im Übrigen fand das Bürgerrecht durch das Edikt von Caracalla (212 v. Chr.) allgemeine Verbreitung, mit dem jeder Unterschied bei der Behandlung zwischen den Bürgern Roms und anderen Bürgern des Römischen Reichs aufgehoben wurde.
(5) Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Konvention sowie ihre Zusatzprotokolle wurden von den Mitgliedstaaten der EU ratifiziert. Sie erlangten nicht nur dort Rechtskraft, sondern auch in zahlreichen Drittstaaten, was die Verbindlichkeit der einschlägigen Bestimmungen auf Ebene des internationalen Rechts und der nationalen Rechtsordnungen erhöht.
(6) Der Mangel an Gerechtigkeit in den Asylverfahren der einzelnen Mitgliedstaaten ist offenbar insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Verfahrensrichtlinie von 2005 den Mitgliedstaaten einen allzu großen Ermessensspielraum lässt.
(7) Mithin sollte das Kriterium der Sicherheit als vornehmlicher Wert des Menschseins erweitert werden. Umweltflüchtlinge sind Opfer von Umweltzerstörung und damit einhergehenden sozialen Verwerfungen; das gilt z.B. für die Menschen, die von der aus neuen Formen der aggressiven Spekulation resultierenden zunehmenden Desertifizierung ganzer Landstriche in der Subsahara betroffen sind.
(8) Im Falle von Personen, die ihre Heimat nicht wegen einer persönlichen Diskriminierung verlassen, sondern wegen gravierender Ereignisse (Bürgerkrieg, weitverbreitete Gewalttaten, Angriffe aus dem Ausland, Naturkatastrophen, Umweltflucht usw.) besteht im Allgemeinen nicht die Möglichkeit, ihnen den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Gleichwohl erlauben es die Einwanderungsgesetze, durch außerordentliche Geschehnisse hervorgerufenen humanitären Notlagen durch solche Maßnahmen für einen zeitlich befristeten Schutz zu begegnen, die notwendig sind, um Evakuierte rechtzeitig und angemessen aufnehmen zu können.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/90 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2004/39/EG und 2009/…/EG“
KOM(2009) 207 endg. — 2009/0064 (COD)
2011/C 18/16
Hauptberichterstatter: Angelo GRASSO
Der Rat beschloss am 3. Juni 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 47 Absatz 2 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2004/39/EG und 2009/…/EG“
KOM(2009) 207 endg. - 2009/0064 (COD).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Februar 2010 an. Das Präsidium des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses hat die Stellungnahme am 16. Februar 2010 zur erneuten Behandlung an die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch zurückverwiesen.
Der Ausschuss bestellte auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) Angelo GRASSO gemäß Artikel 20 und Artikel 57 Absatz 1 der Geschäftsordnung zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 136 gegen 2 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Richtlinienvorschlag. Einige Arten von alternativen Investmentfonds (AIF) haben sicherlich zur Verstärkung der Hebelfinanzierung und Risikoanfälligkeit des Finanzsystems beigetragen, die AIF waren aber nicht der Sektor, von dem die größten Risiken für die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems ausgingen, als die Turbulenzen auf dem Subprime-Kreditmarkt die Krise auslösten. Diese Einschätzung wurde erst unlängst von der britischen Finanzaufsichtsbehörde Financial Services Authority (FSA) bestätigt, die in ihrem Bericht vom Februar 2010 zur Beurteilung der von Hedge-Fonds ausgehenden potenziellen Systemrisiken (Assessing the possible sources of systemic risk from hedge funds) zu dem Schluss kommt, dass „größere Hedge-Fonds kein destabilisierendes Kredit- oder Ausfallrisiko darstellen“. Der EWSA nimmt die Diskussionen zum Richtlinienvorschlag und insbesondere die diesbezüglichen Vorschläge des Rates der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments (Berichterstatter: Jean-Paul GAUZÈS) zur Kenntnis. Der Ausschuss bringt seinerseits eine Reihe von Bemerkungen und Hinweisen im Hinblick auf eine Korrektur bestimmter Optionen und Ausrichtungen des Vorschlags vor, die keinen nennenswerten Nutzen für den Anlegerschutz und die Marktintegrität bringen und nicht nur zulasten der alternativen Investmentfonds, sondern des gesamten Wirtschaftssystems gehen würden. Der EWSA stützt sich bei diesen Bemerkungen auf seine 2009 verabschiedete Stellungnahme (1) zur Thematik der Beteiligungsfonds und Hedge-Fonds, in der er feststellte, dass im ökonomischen Kontext der europäischen Marktwirtschaft die Auswirkungen dieser Fonds auf die Beschäftigung und auf soziale Aspekte erheblicher sind als die wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen.
1.2 Die Griechenlandkrise hat die Frage der Staatsverschuldung in den unmittelbaren Blickpunkt gerückt. Der EWSA nimmt die verschiedenen Standpunkte hinsichtlich der potenziellen Verantwortung der Hedge-Fonds für die Verschärfung der Krise zur Kenntnis. Er vertritt die Ansicht, dass diese Frage dringend untersucht und vertieft werden sollte.
1.3 Mit der Richtlinie wird ein harmonisierter Rechtsrahmen für den Sektor der alternativen Investmentfonds eingeführt und damit auch der Forderung nach einer angemessenen Überwachung der Systemrisiken im europäischen Finanzsystem Rechnung getragen. Die Richtlinie enthält darüber hinaus Einzelbestimmungen, die nach Ansicht des EWSA kaum wirksam an die große Vielfalt von Produkten in diesem Sektor angepasst werden können. Der EWSA spricht sich daher für einen stärker praxisorientierten Ansatz aus, um so der großen Vielfalt von Produkten gerecht zu werden, die unter den Begriff alternative Investmentfonds fallen.
1.4 Nach Ansicht des Ausschusses sollten unbedingt und unverzüglich Diskussionsrunden mit den Behörden der wichtigsten nichteuropäischen Staaten eingeleitet werden, um - nach dem Vorbild des Baseler Ausschusses im Bankwesen - auf internationaler Ebene gemeinsame Standards für die Finanzaufsicht über alternative Investmentfonds festzulegen. Geschieht dies nicht, sind die Vorschriften leicht dadurch umgehbar, dass bestimmte Aktivitäten aus dem Geltungsbereich der europäischen Vorschriften hinaus verlagert werden. Das würde die Wettbewerbsfähigkeit von wichtigen Teilbranchen der europäischen Finanzwirtschaft beeinträchtigen und sich negativ auf die Beschäftigung sowie den Wohlstand und die Wertschöpfung auswirken. Die Einrichtung der künftigen Europäischen Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde (ESMA) wird vor allem die grenzüberschreitende Durchsetzung der Vorschriften erleichtern.
1.5 Mit der Richtlinie wird u.a. die Möglichkeit eingeführt, die Fremdfinanzierung von Fonds zu begrenzen. Der EWSA spricht sich nicht dagegen aus, fordert jedoch genaue Angaben darüber, nach welchen Kriterien diese Begrenzungen für die einzelnen Produktkategorien festgelegt werden können und welche Strukturen die prozyklische Wirkung dieser Begrenzungen eindämmen sollen.
1.6 Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Pflicht zur Registrierung und Übermittlung von bestimmten Basisinformationen im Sinne der Markttransparenz und des Anlegerschutzes auf alle Gesellschaften ausgedehnt werden. Die Informationspflichten sollten je nach Produkt und Schwellenwert abgestuft sein. Zu dieser Frage hält der EWSA jedoch eine empirische Untersuchung für erforderlich, die gründlicher ist als die bisherige Analyse der Kommission.
1.7 Bezüglich der Verwaltern von Beteiligungsfonds (Private Equity) auferlegten Berichtspflichten würdigt der EWSA das Streben nach mehr Transparenz und vor allem nach dem Schutz der Betroffenen, wie z.B. von Minderheitsgesellschaftern und Beschäftigten. Seiner Ansicht nach dürfen zudem die Beteiligungsfonds durch die Vorschriften nicht zu stark zugunsten anderer Anlageinstrumente privater oder institutioneller Anleger benachteiligt werden. Im Richtlinienvorschlag ist die Freistellung aller ausschließlich in KMU investierenden Fonds von diesen Anforderungen vorgesehen. Der Ausschuss betont jedoch, dass der Schutz der Anleger und die Integrität des Marktes unveräußerliche Grundsätze sind und für alle Verwalter alternativer Investmentfonds gelten müssen.
2. Einleitung
2.1 Der Begriff alternative Investmentfonds bezieht sich hier auf sämtliche Fonds, die nicht unter die Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) fallen, wie z.B. Hedge- und Private-Equity-Fonds, Risikokapitalfonds, Immobilienfonds, Infrastrukturfonds und Rohstofffonds, und deckt u.a. den Bereich ab, der im De-Larosière-Bericht als „Parallelbankensystem“ bezeichnet wird.
2.2 2009 legte der EWSA eine Stellungnahme zu Hedge-Fonds und Beteiligungsfonds vor. In dieser Stellungnahme wurde nicht die Richtlinie über Verwalter alternativer Investmentfonds (AIFM-Richtlinie) behandelt, sondern es ging darin fast ausschließlich um die Auswirkungen dieser Fonds auf die Beschäftigung und auf soziale Aspekte. Der Ausschuss stellt fest, dass die AIFM-Richtlinie eine breite Debatte hautsächlich über Beschäftigungs- und soziale Fragen angestoßen hat. Die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der genannten Stellungnahme könnten daher nach Ansicht des EWSA eine gute Grundlage für die Diskussionen über die Richtlinie bilden.
2.3 Die Finanzkrise wurde bekanntlich durch einen Liquiditätsüberschuss sowie durch erhebliche Ungleichgewichte auf den Finanz- und Rohstoffmärkten und andere makroökonomische Faktoren begünstigt, wie auch im De-Larosière-Bericht unterstrichen wird. Dieses Liquiditätsüberangebot verleitete dazu, das mit der Liquidität selbst verbundene Risiko zu vernachlässigen, auf das bei der Kontrolle und beim Risikomanagement durch die Marktakteure selbst und auch in den Aufsichtsvorschriften weniger Augenmerk gelegt wurde als auf die Kredit- und Marktrisiken.
2.4 Heute können wir es uns nicht leisten, so zu tun, als wäre nichts geschehen, und nicht aus diesen Fehlern zu lernen, die der Weltwirtschaft teuer zu stehen gekommen sind und sie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben. Liquidität erfordert möglichst transparente Finanzmärkte und -systeme.
2.5 Mit der Richtlinie muss ein echter Schritt hin zu mehr Transparenz bei den alternativen Investmentfonds vollzogen werden, denen es offenbar daran mangelt.
2.6 Der EWSA hält dies nicht aufgrund eines Verschuldens, von Mängeln oder Risiken dieses Sektors für notwendig, sondern ganz einfach deshalb für unabdingbar, weil die Fragen der Transparenz und Liquidität ganz oben auf der Agenda stehen müssen.
2.7 Die derzeit in der EU diskutierten Vorschläge über eine europäische Finanzaufsicht sowohl auf Makro- als auch auf Mikroebene sind unerlässlich, um das Überleben des Binnenmarkts zu sichern (2).
2.8 In den USA hat Präsident Obama eine radikale Umgestaltung und Erneuerung des Regulierungs- und Aufsichtssystems auf den Weg gebracht. Es ist jedoch noch zu früh, um abzusehen, welche Ergebnisse die Initiativen in den USA bringen werden.
2.9 In diesem Sinne muss die EU tätig werden, damit auf internationaler Ebene unverzüglich Bemühungen um mehr Markttransparenz und -integrität eingeleitet werden. Der Ausschuss betont jedoch, dass Regulierung allein nicht die Lösung sein kann für Probleme, die häufig auch auf die Unbesonnenheit der professionellen Anleger zurückgehen.
2.10 Der EWSA befürwortet die sechs übergreifenden Grundsätze für die Regulierung von Hedge-Fonds, die die Internationale Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden (IOSCO) im Juni 2009 vorgeschlagen hat. Die IOSCO hat mittlerweile (am 25. Februar 2010) Systemrisiko-relevante Datenanforderungen an Hedge-Fonds veröffentlicht. Diese erstrecken sich auf elf verschiedene Kategorien von Daten. Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich auf diese Grundsätze zu stützen und sie zur Regelung der AIFM in der vorgeschlagenen Richtlinie umzusetzen.
2.11 Die IOSCO hat zwar ihre Analyse der Risiken, die sich für das Finanzsystem aus Beteiligungsfonds ergeben, abgeschlossen, es wurden jedoch noch keine konkreten Regulierungsmaßnahmen vorgeschlagen. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die von der IOSCO aufgestellten Grundsätze für Hedge-Fonds zu übernehmen und an die Merkmale von Beteiligungsfonds anzupassen.
3. Der Richtlinienvorschlag
3.1 Mit der vorgeschlagenen Richtlinie sollen die Aktivitäten der Fondsverwalter und nicht die Produkte geregelt werden. Der Verzicht auf eine direkte Regelung der Produkte liegt darin begründet, dass alternative Investmentfonds sich nur nach dem Ausschlussprinzip definieren lassen, da sie nicht nach der OGAW-Richtlinie harmonisiert sind, und die Kommission davon ausgeht, dass jeder Versuch einer direkten Produktregelung schon bald hinfällig und überholt wäre.
3.2 Viele Aspekte der Regelung für die Fondsmanager haben aber natürlich auch deutliche Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit und die Merkmale der Fonds selbst.
3.3 Mit dem Richtlinienvorschlag werden zwei Hauptziele verfolgt:
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Gewährleistung einer wirksameren Mikro- und Makroaufsicht, wofür ein gründliches und nicht auf die nationalen Grenzen beschränktes Verständnis der Abläufe in diesem Sektor erforderlich ist; |
— |
Förderung der Marktintegration und der Entwicklung des Binnenmarktes, wobei die Fondsverwalter von einer Art europäischem Pass für ihre Produkte profitieren könnten, was sich in Form von größenbedingten Kosteneinsparungen und mehr Wahlmöglichkeiten für die Anleger positiv auswirken dürfte. |
3.4 Diese Ziele können durch ein strukturiertes Bündel von Einzelmaßnahmen verfolgt werden, wobei sich folgende Hauptlinien des Vorschlags abzeichnen:
3.4.1 Sämtliche Verwalter von alternativen Investmentfonds (AIFM), deren Fondsvermögen eine bestimmte Schwelle übersteigt, bedürfen einer Zulassung. Für Fondsverwalter, deren Fondsvermögen insgesamt unter 100 Mio. EUR liegt, ist eine Freistellung von der Richtlinie vorgesehen. Für Fonds, die nicht hebelfinanziert sind und deren Anleger in den ersten fünf Jahren nach Konstituierung keine Kündigungsrechte ausüben können, gilt eine höhere Schwelle von 500 Mio. EUR.
3.4.1.1 Die Zulassung wird von den zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats erteilt. Für die Erteilung müssen eine Reihe von sehr genau festgelegten Anforderungen an die Organisation und Transparenz erfüllt sein.
3.4.1.2 Die Fondsverwalter müssen ihren Sitz in der EU haben. Sie können die administrativen Aufgaben des Fonds an extraterritoriale Gesellschaften übertragen, wobei die Verwahrstellen jedoch Kreditinstitute mit Sitz in der EU sein müssen. Die Delegierung von Aufgaben wird ausdrücklich verboten, mit Ausnahme der Verwahrung, die - allerdings nur unter strengen Auflagen - übertragen werden kann.
3.4.1.3 In der Richtlinie wird die Kommission beauftragt, Begrenzungen der zulässigen Hebelfinanzierung festzulegen, um die Stabilität und Integrität des Finanzsystems zu gewährleisten.
3.4.2 Erfüllt ein Fondsverwalter die Anforderungen der Richtlinie, wäre er damit für den Vertrieb seiner Produkte an professionelle Anleger (im Sinne der MiFID-Richtlinie) in allen Mitgliedstaaten zugelassen. Die Verwalter können auch Fonds mit Sitz in Drittländern vertreiben, allerdings unter bestimmten Auflagen, um zusätzliche Marktrisiken und Verzerrungen steuerlicher Art zu vermeiden.
4. Bewertung des Vorschlags durch den EWSA
4.1 Der EWSA hat sich bereits in einer entsprechenden Stellungnahme (3) zu den Empfehlungen der De-Larosière-Gruppe geäußert und schließt sich uneingeschränkt dem Standpunkt an, dass die Einführung einer supranationalen Aufsicht notwendig ist, was allerdings die Schaffung eines ausreichend einheitlichen rechtlichen Rahmens erfordert. Da mit Einrichtung der neuen europäischen Aufsichtsbehörden die Zuständigkeiten der nationalen Aufsichtsbehörden nicht wegfallen, sollten die europäischen Aufsichtsbehörden einen gemeinsamen Leitfaden für die Auslegung der Aufsichtsvorschriften erstellen. Eine bessere Kenntnis und Transparenz des Sektors der alternativen Investmentfonds könnte ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Marktintegrität und des Anlegerschutzes und zur Einführung einer wirksamen Systemaufsicht auf Makroebene sein. Die Richtlinie ist geeignet, dieses wichtige Ziel zu verfolgen, vorausgesetzt, dass dabei unnötig nachteilige Restriktionen vermieden werden. Aus diesem Grund rät der Ausschuss zu besonderer Vorsicht und Sorgfalt bei rechtlichen Anforderungen, die über das für eine Mikroaufsicht notwendige Maß an Informationspflichten hinausgehen.
4.2 Der EWSA hält die Festlegung eines Rechtsrahmens, der qualitativ bessere Managementstandards für AIFM fördert, für dringend erforderlich. Diese Bedingung ist wichtiger als viele der anderen Einzelvorschriften, die letztendlich nur die Kosten für die Gesellschaften in die Höhe treiben, ohne unbedingt das Ziel stärkerer Marktgarantien zu erreichen, wie im Bericht der De-Larosière-Gruppe nachdrücklich betont wird.
4.3 Der EWSA verweist auf zwei weitere in diesem Bericht enthaltene Überlegungen, die unter Bezugnahme auf die Überprüfung der Basel-II-Vorschriften zwei wichtige Lehren der Finanzkrise herausstellen:
— |
die Krise hat gezeigt, dass die Finanzwirtschaft eine höhere Eigenkapitalausstattung benötigt; |
— |
die Krise hat die starke prozyklische Wirkung des geltenden Rechtsrahmens deutlich gemacht: dieser hat die Auf- und Abwärtstendenzen des Marktes nicht abgeschwächt, sondern letztendlich noch verstärkt. |
4.3.1 Der Vorschlag, den Einsatz von Fremdmitteln und die Hebelfinanzierung der Fonds zu begrenzen (sogenannter leverage cap), geht in die gewünschte Richtung einer höheren Eigenkapitalausstattung. Die Sorge, dass eine übermäßige Hebelfinanzierung Risiken für das Finanzsystem mit sich bringt, ist nämlich durchaus berechtigt. Bei der Frage der zu hohen Fremdfinanzierung müssen jedoch auch andere Merkmale der Fonds herangezogen werden, wie z.B. die Größe des Fonds. Der EWSA schlägt vor, die Möglichkeit einer festen Obergrenze für die Hebelfinanzierung zu evaluieren.
4.3.2 Um das Systemrisiko unter Kontrolle zu halten, sollte berücksichtigt werden, dass die Großbanken häufig auch Händler am Primärmarkt (Primary Broker) und damit Kreditgeber für Hedge-Fonds sind. Die Beaufsichtigung dieser Händler ist ebenso wichtig wie die Kontrolle der Mittelakquisitoren. Bei der Überprüfung der Richtlinien über die Eigenkapitalanforderungen von Banken sollten die zuständigen Behörden sicherstellen, dass solchen Krediten entsprechende Rückstellungen gegenüberstehen.
4.3.3 Überdies gilt es zu berücksichtigen, dass der leverage cap selbst prozyklisch wirken kann. Es ist sogar wahrscheinlich, dass der leverage cap überschritten wird, wenn der Wert der Anlagen sinkt, wodurch der Fondsmanager möglicherweise gezwungen sein könnte, eigene Anlagen zu veräußern, um den Grenzwert wieder zu erfüllen, womit der Marktwert weiter gedrückt wird. Zur Frage der prozyklischen Wirkung des Rechtsrahmens hat sich der EWSA bereits in seiner Stellungnahme zum De-Laroisière-Bericht geäußert. Darin räumt er zwar ein, dass es möglicherweise schwierig ist festzulegen, wann die Restriktionen gelockert und wann sie verschärft werden müssen, vertritt jedoch den Standpunkt, dass eine gewisse Flexibilität bei einigen Restriktionen die prozyklische Wirkung der Vorschriften begrenzen könnte.
4.4 Bedenken hegt der EWSA hinsichtlich der Schwellenwerte, unterhalb derer die Fondsgesellschaften nicht mehr unter die Vorschriften der Richtlinie fallen. Grundsätzlich vertritt der Ausschuss den Standpunkt, dass alle Gesellschaften der Pflicht zur Registrierung und Übermittlung von bestimmten Basisinformationen unterliegen sollten, um die für eine effektive Markttransparenz im Sinne des Anlegerschutzes notwendigen Mindestbedingungen zu gewährleisten.
4.4.1 Im Hinblick auf die Transparenz und den Anlegerschutz sollten detaillierte Informationen verlangt werden, wobei diese je nach Produkt und Schwellenwert abgestuft werden könnten. Zu dieser Frage hält der EWSA jedoch eine empirische Untersuchung für erforderlich, die noch mehr in die Tiefe geht als die bisherige Analyse der Kommission, um ein angemessenes Kriterium für die Festlegung der genannten Schwellenwerte zu finden.
4.4.2 Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die unlängst von der IOSCO veröffentlichten Systemrisiko-Datenanforderungen für Hegde-Fonds (die für andere alternative Investmentfonds angepasst werden können) den Weg weisen. Es handelt sich um elf verschiedene Kategorien von Daten; sie reichen von Informationen über die Verwaltung und die Berater (die von Fonds aller Art verlangt werden sollten) bis zu Informationen über Kredite, Risiken und das Gegenparteiausfallrisiko (die vor allem für große hebelfinanzierte Fonds sinnvoll wären). Diese Leitlinien werden international unterstützt, gehen auf Initiativen der G20-Gruppe und des Rates für Finanzmarktstabilität (FSB) zurück und werden im September 2010 in Kraft treten.
4.5 Im Zusammenhang mit dieser Argumentation steht die Feststellung, dass der Bereich der alternativen Investmentfonds zu differenziert ist, als dass für alle dazugehörenden Produkte ein absolut einheitlicher Rechtsrahmen vorgeschrieben werden kann. Die Verwaltungsgesellschaften sind nämlich auf bestimmte Teilbereiche spezialisiert (z.B. Immobilienfonds, Hedgefonds, Private-Equity-Fonds). Im Richtlinienvorschlag wird jedoch nur den hebelfinanzierten und den Private-Equity-Fonds größere Beachtung geschenkt. Wie der EWSA bereits in seiner Initiativstellungnahme zu den Auswirkungen von Investmentfonds auf den industriellen Wandel (Berichterstatter: Peter MORGAN) festgestellt hat, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen alternativen Investmentfonds so groß, dass ein differenzierterer Ansatz nötig ist.
4.6 Der EWSA hofft, dass die Initiative von EU-Kommissar Barnier zur Einführung eines einheitlichen europäischen „Passes“, der auch für Fondsmanager und Fonds mit Sitz in einem Drittland gilt, der Ansatz für gemeinsame internationale Lösungen sein kann.
4.6.1 Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Fonds mit Sitz in Drittländern denen mit Sitz in der EU gleichzustellen. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Kommission sicherstellen, dass die Qualitäts- und Transparenzstandards nichtgemeinschaftlicher Fondsmanager und Fonds tatsächlich den in der EU geltenden Standards entsprechen.
4.6.2 Da der Richtlinienvorschlag auch zur Anhebung des Niveaus der Sicherheiten von Fonds aus Drittländern dienen und nicht zur Benachteiligung und zum faktischen Ausschluss dieser Fonds aus dem Binnenmarkt führen sollte, fordert der EWSA dringend mehr Klarheit über die Anforderungen, die diese Fonds erfüllen müssen, um im Binnenmarkt frei vertrieben werden zu können.
4.7 Nach Auffassung des EWSA muss die Annahme der Richtlinie mit ähnlichen Maßnahmen in den wichtigsten nichteuropäischen Ländern einhergehen, sonst könnten die Bestimmungen leicht dadurch umgangen werden, dass bestimmte Aktivitäten aus dem Geltungsbereich der europäischen Vorschriften hinaus verlagert werden. Das würde die Wettbewerbsfähigkeit von wichtigen Teilbranchen der europäischen Finanzwirtschaft beeinträchtigen und sich negativ auf die Beschäftigung sowie den Wohlstand und die Wertschöpfung auswirken.
4.8 Der EWSA wirft die Frage auf, warum die Verwahrstelle laut Richtlinie ein Kreditinstitut sein muss. Unabhängige Verwahrstellen sind wichtige Garanten für die Verhinderung von betrügerischen und anlegerschädlichen Verhaltensweisen. Die Einführung strengerer diesbezüglicher Vorschriften ist sicherlich ein sinnvoller Vorschlag. Der EWSA fordert jedoch eine Klärung der Frage, warum die Aufgabe der Verwahrung allein Kreditinstituten vorbehalten bleiben soll, zumal gemäß der Richtlinie für Märkte über Finanzinstrumente (MiFID) auch anderen Finanzmittlern die Vermögensverwahrung für die Kunden gestattet.
4.9 Zu den alternativen Investmentfonds gehören auch die sogenannten Private-Equity-Fonds, deren Anlagen in Kapitalbeteiligungen an nicht börsennotierten Gesellschaften bestehen.
4.9.1 Diese Beteiligungsgesellschaften sind wichtige Risikokapitalgeber für Unternehmensgründer und innovative Unternehmen sowie für die Expansion oder Neuausrichtung von Unternehmen. Der EWSA hat sich bereits mit den potenziellen Auswirkungen von Privat-Equity-Fonds auf das Wirtschaftssystem und den industriellen Wandel beschäftigt (4).
4.9.2 Mehrere Artikel des Richtlinienvorschlags (Kapitel V Abschnitt 2) beschäftigen sich mit Fonds, die beherrschende Beteiligungen an nicht börsennotierten Unternehmen (konkret mindestens 30 % der Stimmrechte) erwerben.
4.9.3 Hier müssen recht detaillierte Informationen übermittelt werden, die in vielerlei Hinsicht mit den bei öffentlichen Übernahmeangeboten für börsennotierte Unternehmen geltenden Informationspflichten vergleichbar sind. Ebenso wie für börsennotierte Gesellschaften muss zudem ein Unternehmensführungskodex aufgestellt werden. All diese Angaben müssen dem Unternehmen, den jeweiligen Anteilseignern und den Arbeitnehmervertretern bzw. den Arbeitnehmern selbst vorgelegt werden.
4.9.4 Der EWSA begrüßt die vorgesehenen weitreichenden und umfassenden Management-, Informations- und Berichtspflichten, insbesondere soweit sie der Wahrung der Interessen von Betroffenen wie Minderheitsgesellschaftern und Beschäftigten dienen. Seiner Ansicht nach sollten die Vorschriften zudem die Beteiligungsfonds nicht zu stark zugunsten anderer Anlageinstrumente privater oder institutioneller Anleger benachteiligen.
4.9.5 Der EWSA plädiert für die Anwendung dieser Regeln von einer Beteiligung in Höhe von 25 % der Stimmrechte an und hofft, dass im Unternehmensführungskodex die geltenden Tarifverträge ausdrücklich gewahrt bleiben. Die potenziellen Konsequenzen für die Beschäftigten müssen offen gelegt und korrekt und ohne Verzug übermittelt werden. Die Verletzung dieser Informations- und Konsultationspflichten führt zur Rechtsunwirksamkeit jeder vom Fondsmanager oder der Zielgesellschaft getroffenen Entscheidung.
4.9.6 Der EWSA empfiehlt, in der Richtlinie auch Mindest-Solvabilitäts- und Liquiditätsanforderungen für die Zielgesellschaft festzulegen. Die Ausschüttung von Dividenden sollte auf eine Zahlung pro Jahr begrenzt werden und sollte die Einnahmen nicht übersteigen dürfen. Eine Dividendenausschüttung sollte ausgeschlossen sein, wenn die Zielgesellschaft die Mindestanforderungen nicht erfüllt.
4.10 Der Erwerb von Beteiligungen an KMU ist von den vorgenannten Informationspflichten ausgenommen. Der EWSA beanstandet diesen Punkt der Richtlinie, da der Schutz der Anleger und die Integrität des Marktes unveräußerliche Grundsätze sind, die für alle Verwalter alternativer Investmentfonds gelten müssen.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 56.
(2) Stellungnahme zum Thema „Makro- und Mikroaufsicht“.
(3) ABl. C 318/2009, S. 57.
(4) ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 56.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/95 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „25. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2007)“
KOM(2008) 777 endg.
2011/C 18/17
Berichterstatter: Christoph LECHNER
Die Europäische Kommission beschloss am 18. November 2008 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„25. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2007)“
KOM(2008) 777 endg.
Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 2. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 120 gegen 4 Stimmen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Einige Mitgliedstaaten haben immer noch Schwierigkeiten, Regeln zur Umsetzung der Bestimmungen von Richtlinien zu konzipieren. Diese bieten in der Umsetzung verschiedene Möglichkeiten von fakultativen Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten bei der Wahl der nationalen Umsetzungsmaßnahmen einen relativ großen Spielraum lassen, bis zu verfügenden bzw. unbedingten Bestimmungen. Dabei muss ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen einer unbesehenen Übernahme und einer allzu freien Umsetzung gefunden werden.
1.2 Der Ausschuss unterstützt die Prioritäten der Kommission,
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das Problem der stark verspäteten Umsetzung von Richtlinien anzugehen; |
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verstärkt Präventivmaßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Auswertung von Durchführungs- und Konformitätsproblemen im Zuge der Folgenabschätzungen; |
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das Informations- und informelle Problemlösungsangebot für Bürger und Unternehmen zu verbessern, und |
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vorrangig die wichtigsten Fälle zu bearbeiten und in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten darauf hinzuwirken, dass Verstöße schneller abgestellt werden. |
1.3 Der Ausschuss begrüßt die Versicherungen der Kommission, wonach Problemen mit weitreichenden Auswirkungen auf die Grundrechte und den freien Personenverkehr weiterhin Priorität eingeräumt wird und dass Verstößen, bei denen Bürger in großem Umfang oder wiederholt geschädigt oder in ihrer Lebensqualität erheblich beeinträchtigt werden, Priorität beigemessen wird.
1.4 Der Ausschuss regt einen initiativeren Ansatz an, u.a.:
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auf Gemeinschaftsebene Rechtsvorschriften auszuarbeiten, die leichter umsetzbar sind; |
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von Beginn an eine präzise und ständig aktualisierte Korrelationstabelle zu erstellen; |
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die durch gezielte Verweisung auf die verfügenden bzw. unbedingten Bestimmungen der Richtlinie erfolgende Umsetzung zulassen. |
1.5 Der Ausschuss verweist aber auch auf jene Bereiche, in denen die Planung, Konzipierung und Umsetzung von Rechtsvorschriften nach dem proaktiven Ansatz erfolgen sollte; vor diesem Hintergrund räumt der EWSA ein, dass Vorschriften und Regelungen nicht immer der einzige, geschweige denn stets der beste Weg zur Erreichung der gewünschten Ziele sind.
1.6 Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission die Abwicklung von Vertragsverletzungsverfahren verbessern sollte, insbesondere was die Anwendung des beschleunigten Verfahrens im Falle einer verspäteten Umsetzung betrifft.
1.7 Der Ausschuss sieht weitere Mechanismen zur Problemlösung wie SOLVIT, IMI, das empfohlene Informationsaustauschsystem bei der Entsendung von Arbeitnehmern und EU PILOT als gute Möglichkeiten an, die Arbeitsbelastung der Kommission bei der Behandlung von Verstoßverfahren zu verringern.
1.8 Der Ausschuss hält es für erforderlich, die Art und Weise, in der der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit über das „Europa-Portal“ Informationen über die unterschiedlichen Beschwerdeverfahren zur Verfügung gestellt werden, zu verbessern, wobei die Ausnahmeregelung zu berücksichtigen ist, die auf dem Schutz des öffentlichen Interesses beruht, so wie dies in Gerichtsurteilen definiert wurde.
1.8.1 Weiters schlägt der Ausschuss vor, das Informationsangebot auf der entsprechenden Website weiter auszubauen und die von der Kommission im Zusammenhang mit Verstößen getroffenen Entscheidungen von der Registrierung der Beschwerde bis zum Abschluss des Verletzungsverfahrens dort zu veröffentlichen.
1.9 Weiters sollten unionsweite kollektive Rechtsbehelfe geprüft werden, um die das Verbraucher- und Wettbewerbsrecht betreffenden derzeit in Vorbereitung befindlichen Initiativen zur Stärkung der Selbstregulierungsmechanismen in den Mitgliedstaaten zu ergänzen.
1.10 Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission in Zukunft regelmäßig den Ausschuss zu einer Stellungnahme zum Jahresbericht einlädt, um die Sicht der organisierten Zivilgesellschaft und dadurch die Rechtsanwendung in der EU zu unterstützen.
2. Bericht der Kommission (1)
2.1 Als Hüterin der Verträge wacht die Kommission über die Einhaltung der Rechtsvorschriften der Europäischen Union und vergewissert sich, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen des Vertrags und das Sekundärrecht beachten. Die Bestimmungen des Vertrags ergeben zusammen mit 10 000 Verordnungen und mehr als 1 700 Richtlinien ein umfangreiches Rechtskorpus, das in inzwischen 27 Mitgliedstaaten Geltungskraft hat. Mannigfache und vielfältige Probleme und Herausforderungen bei der Anwendung des Rechts sind somit unvermeidbar. In bestimmten Bereichen ist die Umsetzung mit besonderen Herausforderungen verbunden.
2.2 Im September 2007 nahm die Kommission die Mitteilung „Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (2) an, in dem sie ankündigte, „in ihrem Jahresbericht die schwerpunktmäßige Behandlung strategischer Probleme, die Bewertung der Rechtsanwendung in verschiedenen Sektoren, die Prioritäten und Programmierung künftiger Arbeiten einschließlich der Überprüfung von Rechtsbereichen, in denen es häufig zu Verstößen kommt, aus(zu)weiten“, um „den strategischen interinstitutionellen Dialog darüber, wie das Gemeinschaftsrecht seine Ziele erreicht, über die auftretenden Probleme und möglichen Lösungsansätze (zu) unterstützen“.
2.3 In diesem Bericht wird herausgestellt, welche die Herausforderungen bei der Rechtsanwendung sind und in welchen Bereichen, nämlich 1) Prävention, 2) Information und Problemlösung für Bürger und 3) Setzung von Prioritäten bei der Bearbeitung von Beschwerden und Verstößen vorrangig gehandelt werden muss. Zudem werden die Bedeutung einer festen Partnerschaft zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten hervorgehoben, die in Expertengremien zusammenarbeiten, um die Rechtsinstrumente zu steuern und vorausgreifende Lösungsansätze zu entwickeln.
2.4 Analyse nach Sektoren: Sehr umfangreich sind die Beschwerden und Vertragsverletzungsverfahren in den Bereichen Umwelt, Binnenmarkt, Steuern und Zollunion, Energie, Verkehr, Beschäftigung, Soziales und Gleichberechtigung, Gesundheit und Verbraucherfragen sowie Recht, Freiheit und Sicherheit. In einigen anderen Bereichen wie Landwirtschaft, Bildung und Kultur gibt es kaum Verzögerungen bei der Umsetzung der Richtlinien (3).
2.4.1 Wegen verspäteter Umsetzung von Richtlinien gab es 2007 in den folgenden Bereichen neue Vertragsverletzungsverfahren:
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206 im Bereich Binnenmarkt und Dienstleistungen, |
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227 im Bereich der Gemeinschaftsvorschriften über den freien Warenverkehr, |
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mehr als 330 auf dem Gebiet der Gesundheit und des Verbraucherschutzes, |
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125 im gemeinschaftlichen Umweltrecht. |
2.5 Folgende Beispiele illustrieren das unterschiedliche Ausmaß der Umsetzungsschwierigkeiten und die Folgen für die Bürger.
Öffentliches Beschaffungswesen:
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2007 wurden 344 Fälle von Vertragsverletzungen im öffentlichen Beschaffungswesen behandelt. Davon konnten 142 (41 %) abgeschlossen werden; nur 12 (ca. 3,5 %) wurden an den Gerichtshof verwiesen. Bei rund 200 dieser 344 Fälle handelte es sich tatsächlich um Vertragsverletzungen, 25 % davon waren vorrangige Fälle. |
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Hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinien über das öffentliche Beschaffungswesen (4) im Jahr 2007 konnten die offenen Verletzungsverfahren gegen sieben der zehn Mitgliedstaaten, die die nationalen Umsetzungsmaßnahmen nicht fristgerecht mitgeteilt hatten, abgeschlossen werden. Ende 2007 hatten nur drei Mitgliedstaaten - Belgien, Luxemburg und Portugal - ihre Umsetzungsmaßnahmen immer noch nicht mitgeteilt. Seitdem ist Luxemburg der einzige Mitgliedstaat, gegen den weiterhin ein Verletzungsverfahren läuft (5). |
Verbraucherfragen:
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Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern (6) endete am 12. Juni 2007. Zu diesem Zeitpunkt hatten 22 Mitgliedstaaten die Kommission nicht über Umsetzungsmaßnahmen unterrichtet. Deshalb übermittelte ihnen die Kommission ein offizielles Mahnschreiben; daraufhin informierten sechs Mitgliedstaaten vor Ende des Jahres 2007 über Umsetzungsmaßnahmen. |
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2007 überprüfte die Kommission auch die Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in den zehn Staaten, die der EU im Mai 2004 beigetreten sind. Sie stellte unterschiedlich große Umsetzungsprobleme in neun der zehn Mitgliedstaaten fest und versandte Schreiben vor Einleitung eines Verletzungsverfahrens. |
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In Bezug auf die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher (7) wurde eine Reihe potenzieller Umsetzungsprobleme ermittelt; allerdings kam es 2007 hinsichtlich dieser Richtlinie zu keinen Beschwerden, in denen Bürger, ihre Unzufriedenheit mit der Umsetzung geäußert hätten. |
2.6 Die dem Bericht als Anhänge beigefügten Arbeitspapiere der Kommissionsdienststellen enthalten weitere Einzelheiten zur Lage in den diversen Bereichen des Gemeinschaftsrechts sowie die Listen und Statistiken zu den Vertragsverletzungsfällen (8).
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 In dem Bericht sowie den im Anhang enthaltenen, teilweise schwer verständlichen Arbeitsdokumenten wird deutlich, dass einige Mitgliedstaaten immer noch Schwierigkeiten haben, Regeln zur Umsetzung der Bestimmungen von Richtlinien zu konzipieren. In der Theorie mag die Übertragung einfach erscheinen; in der Praxis kommt es jedoch vor, dass gemeinschaftsrechtliche Begriffe in der innerstaatlichen Rechtsterminologie keine Entsprechung haben (9) oder dass für die Ermittlung des Sinnes und der Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Begriffs nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen wird (10).
3.2 In Bezug auf die Umsetzung bieten Richtlinien verschiedene Möglichkeiten von fakultativen Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten bei der Wahl der nationalen Umsetzungsmaßnahmen einen relativ großen Spielraum lassen, bis zu verfügenden bzw. unbedingten Bestimmungen, beispielsweise Begriffsbestimmungen, Verzeichnisse oder Tabellen mit Stoffen, Gegenständen und Produkten, die den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegen, „einfache Umsetzungsmaßnahmen“ zu ergreifen, um den Bestimmungen der Richtlinie gerecht zu werden.
3.3 Neue Bestimmungen müssen Rechtssicherheit garantieren, d.h. es ist zu vermeiden, dass redundante bzw. widersprüchliche Aussagen in nationalen Rechtsvorschriften weiter bestehen. Es muss daher ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen einer unbesehenen Übernahme und einer allzu freien Umsetzung gefunden werden.
3.4 Bei der Umsetzung geht es jedoch nicht nur darum, gemeinschaftliche Rechtsbegriffe in nationales Recht zu integrieren; es handelt sich auch um einen konkreten Prozess. In diesem Zusammenhang sollten die Mitgliedstaaten den Prozess der Umsetzung schon ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union beschleunigen, indem die mit der Umsetzung beauftragten nationalen Behörden - die über eine zu diesem Zweck eingerichtete aktualisierte Datenbank verfügen könnten und sollten - gehalten sind, mit den Behörden anderer Mitgliedstaaten über ein Netzwerk zusammenzuarbeiten, über das sie Erfahrungen austauschen und ihre Schwierigkeiten bei der Umsetzung bestimmter Bestimmungen darlegen könnten.
3.5 Die Kommission weist auf die Notwendigkeit hin,
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das Problem der stark verspäteten Umsetzung von Richtlinien anzugehen; |
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verstärkt Präventivmaßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Auswertung von Durchführungs- und Konformitätsproblemen im Zuge der Folgenabschätzungen; |
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das Informations- und informelle Problemlösungsangebot für Bürger und Unternehmen zu verbessern, und |
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vorrangig die wichtigsten Fälle zu bearbeiten und in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten darauf hinzuwirken, dass Verstöße schneller abgestellt werden. |
3.5.1 Der Ausschuss würde die unter dem letzten Punkt angeführte vorrangige Bearbeitung von Verstoßverfahren begrüßen. Zudem nimmt er zur Kenntnis, dass hierbei politische und nicht nur rein technische Entscheidungen ohne externe Prüfung, Kontrolle oder Transparenz zum Tragen kommen. In diesem Zusammenhang sollte die Kommission die Zivilgesellschaft zu Entscheidungen zur vorrangigen Behandlung von Verstößen in entsprechender Form konsultieren. Dennoch ist der Ausschuss zufrieden darüber, dass einige seiner früheren Empfehlungen, insbesondere zur Konsultierung von Organisationen der Zivilgesellschaft, Sozialpartnern, Sachverständigen und Fachleuten bei der Vorbereitung des Umsetzungsprozesses (11), berücksichtigt wurden.
3.5.2 Zudem begrüßt der Ausschuss die Versicherungen der Kommission, wonach Problemen mit weitreichenden Auswirkungen auf die Grundrechte und den freien Personenverkehr weiterhin Priorität eingeräumt wird. Ferner begrüßt er, dass Verstößen, bei denen Bürger in großem Umfang oder wiederholt geschädigt oder in ihrer Lebensqualität erheblich beeinträchtigt werden, Priorität beigemessen wird.
3.6 Der Ausschuss möchte die Gelegenheit nutzen, einen initiativeren Ansatz anzuregen: Um die korrekte Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu erleichtern, schlägt er vor, verschiedene Regeln einzuhalten, u.a.:
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auf Gemeinschaftsebene Rechtsvorschriften auszuarbeiten, die leichter umsetzbar sind, da sie die für die Rechtssicherheit unerlässliche konzeptuelle Kohärenz und relative Stabilität aufweisen; 2007 ersuchten in 265 Fällen nationale Gerichtshöfe der Mitgliedstaaten nach Artikel 234 EG-Vertrag um eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (12); |
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von Beginn der Diskussionen über den Richtlinienvorschlag an eine präzise und ständig aktualisierte Korrelationstabelle zu erstellen (was in zahlreichen Mitgliedstaaten bereits der Fall ist und auf alle ausgedehnt werden sollte); |
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die durch gezielte Verweisung auf die verfügenden bzw. unbedingten Bestimmungen der Richtlinie erfolgende Umsetzung zulassen, wie im Anhang zur Richtlinie enthaltene Tabellen. |
3.7 Der Ausschuss verweist aber auch auf jene Bereiche, in denen die Planung, Konzipierung und Umsetzung von Rechtsvorschriften nach dem proaktiven Ansatz (13) erfolgen sollte; vor diesem Hintergrund räumt der EWSA ein, dass Vorschriften und Regelungen nicht immer der einzige, geschweige denn stets der beste Weg zur Erreichung der gewünschten Ziele sind; zuweilen kann die Regelungsinstanz wertvolle Zielsetzungen am besten unterstützen, indem sie eben nicht regulierend eingreift und gegebenenfalls zur Selbstregulierung und Koregulierung anregt. Wenn dies der Fall ist, erlangen die zentralen Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit, der Vorsorge und der Nachhaltigkeit eine neue Bedeutung und Tragweite.
4. Besondere Bemerkungen
4.1 2007 betrafen 1 196 neue Verstöße die fehlende oder verspätete Mitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien. 12 Monate beträgt der von der Kommission (14) genannte allgemeine maximale Bezugszeitraum für die Anrufung des Gerichtshofs, innerhalb dessen ein Urteil gefällt oder ein Fall abgeschlossen sein muss, auch wenn dazu eine eingehende Untersuchung erforderlich ist. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass in derartigen Fällen, die weder eine besondere Untersuchung noch eine spezielle Beurteilung erfordern, schneller gehandelt werden sollte. Die Kommission sollte die Abwicklung von Vertragsverletzungsverfahren verbessern, insbesondere was die Anwendung des beschleunigten Verfahrens im Falle einer verspäteten Umsetzung betrifft.
4.1.1 Es ist aber auch festzuhalten, dass bei 99,4 % aller angenommenen Richtlinien (September 2009) die Bekanntgabe der nationalen Umsetzungsmaßnahmen bereits erfolgt ist (15).
4.2 Der Ausschuss unterstützt den Gedanken, für Netzwerke und den Austausch von Informationen zwischen mit der Umsetzung beauftragten nationalen Behörden zu sorgen, solange dieses System keinen zusätzlichen Verwaltungsaufwand oder größere Undurchsichtigkeit als bisher nach sich zieht.
4.3 Der Ausschuss sieht weitere Mechanismen zur Problemlösung wie SOLVIT, Binnenmarktinformationssystem (IMI (16), weiters das von der Kommission empfohlene Informationsaustauschsystem bei der Entsendung von Arbeitnehmern (17) und EU PILOT als gute Möglichkeiten an, die Arbeitsbelastung der Kommission bei der Behandlung von Verstoßverfahren zu verringern, vorausgesetzt die Kommission führt weiterhin systematische Konformitätsprüfungen der Umsetzungsbestimmungen durch, die sich nach den möglichen Umsetzungsrisiken richten.
4.4 Der Ausschuss stimmt zu, dass es „einer aktiven und kontinuierlichen partnerschaftlichen Zusammenarbeit der Kommission und der Mitgliedstaaten bedarf“, wie im Kommissionsbericht hervorgehoben. Diese Zusammenarbeit wäre noch effizienter, wenn sie in einem früheren Stadium und in Form von Schulungen zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts für nationale Beamte stattfinden würde. Die Kommission könnte zur Feststellung des Schulungsbedarfs beitragen.
4.5 Der Ausschuss hält es für erforderlich, die Art und Weise, in der der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit über das „Europa-Portal“ Informationen über die unterschiedlichen Beschwerdeverfahren zur Verfügung gestellt werden, zu verbessern. Für einen „Normalbürger“ ist es derzeit eine Herausforderung, zu verstehen, unter welchen Umständen er bei der Kommission eine Beschwerde einreichen kann oder ob andere Rechtsmittel, wie die Nutzung nationaler Streitbeilegungsverfahren oder die Anrufung des nationalen Ombudsmannes, vorzuziehen sind (18).
4.6 Der Ausschuss begrüßt die neue Arbeitsmethode der Kommission (EU PILOT), nach der bei der Kommission eingegangene Informationsersuchen und Beschwerden direkt an den betreffenden Mitgliedstaat weitergeleitet werden, wenn eine Angelegenheit der schnellen Klärung der faktischen oder rechtlichen Position in dem Mitgliedstaat bedarf.
4.7 Es sollten unionsweite kollektive Rechtsbehelfe geprüft werden, um die das Verbraucher- und Wettbewerbsrecht (19) betreffenden derzeit in Vorbereitung befindlichen Initiativen zur Stärkung der Selbstregulierungsmechanismen in den Mitgliedstaaten zu ergänzen.
4.8 Die Kommission hat eine Website „Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (20) eingerichtet, auf der bereits jetzt wichtige Informationen über die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts geboten werden - unter Berücksichtigung der Ausnahmeregelung, die auf dem Schutz des öffentlichen Interesses beruht, so wie dies in Gerichtsurteilen definiert wurde.
4.8.1 Der Schutz des öffentlichen Interesses rechtfertigt die Verweigerung des Zugangs zu offiziellen Mahnschreiben und begründeten Stellungnahmen, die im Zusammenhang mit Vertragsverletzungsverfahren erarbeitet wurden und sich auf Inspektionen, Nachforschungen und Gerichtsverfahren beziehen (21). Es ist jedoch zu betonen, dass sich die Kommission nicht lediglich auf die etwaige Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens berufen kann, wenn sie im Hinblick auf den Schutz des öffentlichen Interesses die Verweigerung des Zugangs zu sämtlichen Dokumenten rechtfertigen will, auf die sich der Antrag eines Bürgers bezieht (22).
4.9 Da eine effiziente Politik auf einem effizienten Informations- und Kommunikationssystem beruht, schlägt der Ausschuss darüber hinaus vor, die verfügbaren Informationen auf entsprechenden Internetseiten zusammenzustellen und so die von der Kommission im Zusammenhang mit Verstößen getroffenen Entscheidungen – von der Registrierung der Beschwerde bis zum Abschluss des Verletzungsverfahrens – immer unter Beachtung des Schutzes des öffentlichen Interesses, so wie dieser in der Rechtsprechung definiert wird – zu veröffentlichen.
4.10 Auf Initiative des EWSA hat die Kommission den Ausschuss erstmalig zum „Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ konsultiert. Der Ausschuss schlägt vor, dass die Kommission den Ausschuss in Zukunft regelmäßig um eine diesbezügliche Stellungnahme ersucht, um die Sicht der organisierten Zivilgesellschaft einzubringen und dadurch die Rechtsanwendung in der EU zu unterstützen.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) KOM(2008) 777 endg.; SEK(2008) 2855; Ziffern 1 und 2.
(2) KOM(2007) 502 endg. vom 5.9.2007, dazu Stellungnahme des EWSA im ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 9.
(3) http://ec.europa.eu/community_law/docs/docs_directives/mne_sector_na_20091124_en.pdf.
(4) ABl. L 134 vom 30.4.2004, S. 1 und ABl. L 134 vom 30.4.2004, S. 114.
(5) KOM(2008) 777 endg., SEK(2008) 2854, 18.11.2009, S. 206.
(6) ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22.
(7) ABl. L 271 vom 9.10.2002, S. 16.
(8) KOM(2008) 777 endg., SEK(2008) 2854 und SEK(2008) 2855.
(9) Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Juni 2003, Kommission gegen Frankreich, C-233/00, Slg. S. I-66.
(10) Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. September 2000, Linster, C-287/98, Slg. S. I-69.
(11) ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 39 und ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52.
(12) KOM(2008) 777 endg., SEK(2008) 2855 Anhang VI, S. 1.
(13) ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.
(14) Zwischenzeitlich hat die Kommission die Evaluierung der Umsetzungserfordernisse durch Folgenabschätzungen u.a. in den 2009 angenommenen überarbeiteten Leitlinien der Kommission für Folgenabschätzungen verbessert
(http://ec.europa.eu/governance/better_regulation/impact_en.htm#_guidelines). Sie plant eine politische Stellungnahme zur Anwendung von Artikel 260 AEUV über die Verhängung finanzieller Sanktionen durch den EuGH.
(15) Siehe: http://ec.europa.eu/community_law/directives/directives_communication_de.htm.
(16) CESE 1694/2009, 5.11.2009„Die Vorteile des Binnenmarkts durch engere Verwaltungszusammenarbeit erschließen“.
(17) ABl. C 85 vom 4.4.2008, S. 1.
(18) Siehe: http://ec.europa.eu/community_law/your_rights/your_rights_de.htm.
(19) ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 97.
(20) Siehe: http://ec.europa.eu/community_law/index_de.htm.
(21) Urteil des Gerichts erster Instanz vom 5. März 1997: WWF UK (World Wide Fund for Nature) gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften; Rechtssache T-105/95, Ziffer 63 ff.
(22) Urteil des Gerichts erster Instanz vom 11. Dezember 2001 in der Rechtssache T-191/99, David PETRIE u.a. gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/100 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Stand der Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“
KOM(2009) 330 endg.
2011/C 18/18
Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ
Die Europäische Kommission beschloss am 2. Juli 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Stand der Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz“
KOM(2009) 330 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 2. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 119 gegen 10 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 |
Der Ausschuss begrüßt die Initiative der Kommission, zum ersten Mal ihre Besorgnis über die Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz zum Ausdruck zu bringen. |
1.2 |
Er stellt jedoch fest, dass sich die Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Verbraucherschutz aus rein rechtlicher Hinsicht nicht sonderlich von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Allgemeinen unterscheidet. In diesem Zusammenhang erinnert er an verschiedene Stellungnahmen zu diesem Thema. |
1.3 |
Der Ausschuss erkennt jedoch an, dass es aufgrund der benachteiligten Lage, in der sich die Verbraucher im Allgemeinen gegenüber den Anbietern befinden und die sie anerkanntermaßen zur „schwächeren Partei“ bei einer naturgemäß unausgewogenen vertragsrechtlichen Beziehung macht, aus sozialer Sicht gerechtfertigt ist, dass der Art und Weise, wie das Gemeinschaftsrecht in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen durchgesetzt wird, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. |
1.4 |
Darüber hinaus stellt der Ausschuss fest, dass es aus wirtschaftlicher Sicht aufgrund des deutlichen Unterschieds bei seiner Durchsetzung in den verschiedenen Mitgliedstaaten leicht zu Verzerrungen des Binnenmarktes und einer Beeinträchtigung des gesunden und fairen Wettbewerbs kommen kann. |
1.5 |
Trotz einiger in den Ziffern 2.1, 3.14, 4.2, 4.3, 4.4, 4.5 und 4.6 angeführter Fortschritte bedauert der Ausschuss, dass die Kommission diese Gelegenheit nicht wahrgenommen hat, um ein informatives und strukturiertes Dokument über den aktuellen Stand der Durchsetzung des Gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz vorzulegen, um präzise und genau die Art der Fragestellung und die grundlegenden Parameter hinsichtlich der Anwendung des Rechts zu umreißen und um mit klar definierten und durchsetzbaren Handlungsvorschlägen zur Verbesserung der Situation in der näheren Zukunft Fortschritte zu erzielen. |
1.6 |
Der Ausschuss ist enttäuscht darüber, dass die Kommission noch nicht einmal den Schluss gezogen hat, dass ein beträchtliches Defizit bei der Durchsetzung des Gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz vorhanden ist, und weder auf dessen Ausmaß und Beschaffenheit eingeht, noch dessen Ursachen anführt oder analysiert. |
1.7 |
Ebenso ist der Ausschuss enttäuscht darüber, dass sich die Kommission statt dessen auf von Gemeinplätzen durchzogene Ausführungen ohne ersichtlichen politischen Nutzen sowie auf eine Reihe von nicht fundierten Aussagen ohne praktischen Nutzen beschränkt und unerklärlicherweise keinerlei neue Initiativen ankündigt, wobei sie noch nicht einmal die Frage nach den dafür nötigen verfügbaren Finanzmitteln aufwirft. |
1.8 |
Selbst bei den positiven Entwicklungen in Bezug auf Leitlinien, die bereits in früheren Strategiedokumenten definiert wurden, fehlt ein roter Faden, der ihnen Kohärenz verleiht. Es wäre insbesondere wichtig gewesen, die positiven Ergebnisse der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (1) und des gut ausgearbeiteten Berichts über ihre Anwendung zu berücksichtigen, der unbedingt in engem Zusammenhang mit der Mitteilung zu sehen ist, um diese richtig verstehen zu können. |
1.9 |
Der Ausschuss bedauert, dass die Kommission die dringliche Forderung des EWSA nicht berücksichtigt hat, die Empfehlungen im Hinblick auf Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind, in allgemein gültige Richtlinien oder Verordnungen umzusetzen. |
1.10 |
Der Ausschuss empfiehlt der Kommission nachdrücklich, sich in naher Zukunft erneut mit dem Thema der Durchsetzung des Gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz zu befassen. Dies sollte allerdings in einem weiter gesteckten Rahmen mit Hilfe eines Instruments geschehen, das sich auf umfassende Untersuchungen und Konsultationen aller Interessenvertreter (Stakeholder) stützt, wie z.B. ein Weißbuch, auf dessen Grundlage eine wirkliche politische Strategie in diesem Bereich auf Gemeinschaftsebene festgelegt werden kann. |
2. Einleitung
2.1 |
Indem die Kommission auf die Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz aufmerksam macht, scheint sie zum ersten Mal die Frage nach der wirksamen Anwendung der verabschiedeten Rechtsvorschriften in den Mittelpunkt zu stellen, was sehr zu begrüßen ist. Auf diese Weise zeigt sie, dass sie sich nicht nur für Rechtsvorschriften in der Theorie - „law in the books“ -, sondern auch für Rechtsvorschriften in der Praxis - „law in action“ - interessiert, d.h. dafür, wie diese von den Betroffenen - der öffentlichen Verwaltung, insbesondere den Gerichten, den Unternehmen und den Bürgern im Allgemeinen - angenommen, ausgelegt und umgesetzt werden. |
2.2 |
Seit langem hat dieses Anliegen in verschiedenen Stellungnahmen des EWSA im Mittelpunkt gestanden, in denen auf die Bedeutung dieses Themas hingewiesen und Empfehlungen und Vorschläge für geeignete Maßnahmen (2) abgegeben wurden. Dies gilt vor allem für seine Initiativstellungnahmen „Die Verbraucherpolitik nach der EU-Erweiterung“ (3), „Möglichkeiten einer besseren Durchführung und Durchsetzung des EU-Rechts“ (4) und „Proaktives Recht: ein weiterer Schritt zu einer besseren Rechtsetzung auf EU-Ebene“ (5). |
2.3 |
In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, zu unterscheiden zwischen der freiwilligen Einhaltung der Rechtsvorschriften durch diejenigen, an die diese sich richten - deren Motivation und Anreize aus soziologischer Sicht sehr unterschiedlich sein können - und der Durchsetzung der Rechtsvorschriften, insbesondere durch die Gerichte als Recht sprechende Gewalt, aber auch durch andere Verwaltungsbehörden, die zur Einhaltung von Rechtsvorschriften verpflichten oder deren Nichteinhaltung bestrafen können. |
2.4 |
Aus sozialer wie auch wirtschaftlicher und rechtlicher Sicht verdienen die beschriebenen Situationen eine differenzierte ethische Bewertung und beinhalten unterschiedliche Verhaltenskomponenten, die bei einer allgemeinen Bewertung der Einhaltung und Anwendung der Vorschriften auf jedem Rechtsgebiet - in diesem Fall dem EU-Verbraucherrecht - nicht außer Acht gelassen werden dürfen. |
2.5 |
Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass es in der EU-Verbraucherpolitik - unter anderem - darum geht, „ein Umfeld zu schaffen, in dem Verbraucher Waren und Dienstleistungen ohne Rücksicht auf Landesgrenzen kaufen können“. Der Ausschuss sieht die Verbraucherpolitik jedoch nicht als ein Hilfsmittel für die Vollendung des Binnenmarktes und betrachtet die Verbraucher auch nicht als reine Instrumente, die dem „Funktionieren des Binnenmarktes“ dienen. Aus diesem Grund ist der Ausschuss im Gegensatz zur Kommission der Ansicht, dass die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, wenn sie ein gutes Beispiel darstellt, eher ein Beispiel für „schlechtere Rechtsetzung“ (6) ist, da sie zu einer chaotischen Umsetzung in den meisten Mitgliedstaaten geführt hat. Es sogar eher zu bedauern, dass in den jüngsten Richtlinien zu den Themen „Verbraucherkredit“ und „Teilzeitnutzungsrechte“ einem solchen „Beispiel“ gefolgt wurde und dies auch in der Richtlinie über „Verbraucherrechte“ noch immer der Fall ist. |
2.6 |
Aus dieser Sicht, die die Verbraucherrechte in den weitergefassten Rahmen der Bürgerrechte stellt, hält der Ausschuss genau wie die Kommission die wirksame Rechtsdurchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz für eine Priorität der Verbraucherpolitik, da nur durch die wirksame Umsetzung der Rechtsvorschriften diejenigen Werte verwirklicht werden können, auf die sie sich stützen. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 |
Im Gegensatz zu dem, was der Titel auf den ersten Blick vermuten lässt, liegt der Schwerpunkt der Mitteilung auf dem letzten Element der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, nämlich auf der Art und Weise, wie die Behörden die sich aus seiner Umsetzung oder Aufnahme in nationales Recht ergebenden Vorschriften anwenden und durchsetzen, sowie der Rolle, die die Kommission auf dieser Ebene spielen kann. |
3.2 |
Des Weiteren weist der Ausschuss darauf hin, dass die Mitteilung nur in engem Zusammenhang mit dem am gleichen Tag veröffentlichten gut ausgearbeiteten Bericht über die „Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (…) über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden“ (7) zu sehen ist, der - obwohl er dem Ausschuss nicht zur Stellungnahme übermittelt wurde -, als Ausgangsbasis zu betrachten ist. Dabei ist es wichtig, auf die positiven Auswirkungen der Anwendung dieser Verordnung und deren Folgen für die Mitgliedstaaten einzugehen. |
3.3 |
Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Kommission selbst unter Berücksichtigung des eng gesteckten Umfangs der hier erörterten Mitteilung, um ein korrektes Bild zu vermitteln, in jedem Fall konkrete Daten über die Umsetzung und Durchsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands in den Mitgliedstaaten hätte vorlegen müssen, wie sie in den jährlichen Berichten über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (8) oder auch in den gesonderten Mitteilungen zu verschiedenen Richtlinien (9) enthalten sind, denen sich Informationen zu deren Umsetzung und Anwendung entnehmen lassen. |
3.4 |
Andererseits hätte die Kommission anhand der Informationen, die ihr insbesondere dank des Verbraucherbarometers (10) sowie des Abschlussberichts der GD Gesundheit und Verbraucher „Ex-post evaluation of the impact of the Consumer Policy Strategy 2002-2006 on national consumer policy“ vom 22.12.2006 (11) zur Verfügung stehen, gemäß den in ihrer „Mitteilung zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (12) enthaltenen Leitlinien die Funktionsweise und Ergebnisse der vorhandenen Mechanismen kritisch und sorgfältig analysieren müssen, anstatt sie einfach nur aufzulisten. Im Übrigen wird in der Mitteilung nicht einmal klar, ob die Kommission der Ansicht ist, dass die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts unzureichend ist und nach neuen Maßnahmen verlangt und wenn ja, nach welchen. |
3.5 |
Der Ausschuss ist hingegen der Ansicht, dass die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten allgemein unzulänglich ist, worauf er bereits zur Genüge eingegangen ist. Dafür gibt es vor allem folgende Gründe:
|
3.6 |
Der Ausschuss hat in diesem Bereich wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass der Schwerpunkt auf der freiwilligen Einhaltung und der - aus eigenem Antrieb erfolgenden oder von außen veranlassten - Befolgung der Rechtsvorschriften liegen muss, wenn es um die (Nicht-)Anwendung des gemeinschaftlichen Besitzstandes geht. |
3.7 |
Dies bedeutet, dass die Kommission ihre Anstrengungen und Initiativen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs vor allem auf eine bessere Information und Schulung der Verbraucher und der betroffenen Berufsgruppen sowie auf deren Motivation und Anreize zur Einhaltung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften richten sollte. |
3.8 |
Die Kommission müsste auch im Hinblick auf die Information und Schulung der nationalen Behörden, insbesondere derer mit unmittelbaren Zuständigkeiten im Bereich der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, Maßnahmen ergreifen. In diesem Bereich muss der Information und Schulung der Richter und anderer höherer Beamter, die letztendlich für die Auslegung und Anwendung des Rechts in konkreten Streitfällen zuständig sind, Vorrang eingeräumt werden. |
3.9 |
Im Unterschied zur Kommission ist der Ausschuss nicht der Ansicht, dass die Information der Verbraucher allein für deren tatsächliches „Empowerment“ ausreichend ist. Im Gegenteil hat der Ausschuss auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Verbrauchern wirksame Mittel und Instrumente an die Hand zu geben, um eine effektive Anwendung des Rechts und die effiziente Wahrung ihrer Rechte zu gewährleisten. |
3.10 |
In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle der Selbstregulierung und insbesondere die der Koregulierung an Bedeutung, sofern die Parameter für die Glaubwürdigkeit der freiwillig angenommenen oder zwischen den interessierten Parteien ausgehandelten Systeme gewahrt und gewährleistet sind, um das Vertrauen aller Beteiligten sicherzustellen. |
3.11 |
Auch die Mediations-, Schlichtungs- und Schiedsverfahren, die das Justizsystem ergänzen, verdienen die besondere Aufmerksamkeit der Kommission und müssen in ihrer Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit verbessert werden. Daher ist es verwunderlich, dass die Kommission auch in diesem Fall die dringliche Forderung des EWSA nicht berücksichtigt hat, die Empfehlungen im Hinblick auf Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten (16) zuständig sind, in die Form allgemein gültiger Richtlinien oder Verordnungen zu gießen. Gerade hier besteht dringender Handlungsbedarf, da die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten aufgrund fehlender Harmonisierung zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen bei der Bereitstellung alternativer Streitbeilegungsmethoden führen. |
3.12 |
Es ist jedoch im Bereich des Zivilprozessrechts, wo sich trotz der Fortschritte, die die GD Justiz Freiheit und Sicherheit durch ihre Vorlagen (17) erzielt hat (insbesondere bei Verfahren, in denen die Besonderheiten der kollektiven Rechte und Interessen der Verbraucher berücksichtigt werden), die größte Lücke in der Initiative der Kommission feststellen lässt, die nach über zwanzig Jahren „Studien“ und „Konsultationen“ nicht durch das Grün- und Weißbuch über Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts (18) geschlossen werden konnte. Auch haben sich mit dem Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher (19) keine wirklichen Aussichten auf einen politischen Willen, Fortschritte zu erzielen, abgezeichnet, wie in der kürzlich verabschiedeten EWSA-Stellungnahme (20) deutlich gemacht wurde. |
3.13 |
Daher wäre es von grundlegender Bedeutung, dass die Kommission als Hüterin der gemeinschaftlichen Rechtsordnung besonders hervorhebt, auf welche Weise sie ihren - allerdings nicht willkürlichen - Ermessensspielraum (21), den ihr Artikel 211 EG-Vertrag einräumt, bei Verstößen nutzt und wie sie insbesondere „die zur vertragsgetreuen, wirksamen und unparteiischen Erfüllung dieser Aufgabe notwendigen intern-organisatorischen Maßnahmen“ (22) gestaltet, wie z.B. Prioritätskriterien, Mechanismen zur Bewertung und Prüfung von Beschwerden, spezielle Instrumente zur amtlichen Aufdeckung von Verstößen, Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise der nationalen Gerichte sowie weitere Instrumente (SOLVIT, FIN-NET, ECC-NET sowie alternative und außergerichtliche Mittel). |
3.14 |
In diesem Sinne sind die von den Verbrauchern erhobenen Klagen, auch wenn sie kein direkter Indikator für die Durchsetzung des Rechts sind, ein wichtiges Indiz für die Wahrnehmung derjenigen, die von den Rechtsvorschriften betroffen sind, wie aus der zweiten Ausgabe des Verbraucherbarometers hervorging (23). Daher begrüßt der Ausschuss die Initiative der Kommission, im Einklang mit seinen früheren Empfehlungen mit der Entwicklung einer harmonisierten Methode zur Abwicklung von Verbraucherreklamationen und -beschwerden zu beginnen (24). |
4. Besondere Bemerkungen
4.1 |
Der EWSA stellt fest, dass die Kommission in ihrer Mitteilung frühere Prioritäten wieder aufgreift. Es gibt keinerlei Neuerungen gegenüber den prioritären Aktionsprogrammen 2005-2010 (25) und die Kommission beschränkt sich darauf, die Inhalte der verbraucherpolitischen Strategie der EU (2007-2013) (26) zu bekräftigen, ohne innovative Maßnahmen vorzuschlagen. Der Ausschuss beschränkt sich daher ebenfalls darauf, die Aussagen früherer Stellungnahmen zu bekräftigen (27). |
4.2 |
Der Ausschuss stellt erfreut fest, dass sich die Kommission anscheinend endlich anschickt, Artikel 153 des Vertrags für neue Initiativen zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten heranzuziehen. Sie gibt jedoch nicht an, welche neuen Initiativen über diejenigen Maßnahmen hinaus vorgesehen sind, die bereits von ihr eingeleitet und vom EWSA zu gegebener Zeit kommentiert wurden; dies gilt insbesondere für die Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit und den Neuen Rechtsrahmen (28) sowie das Schnellinformationssystem RAPEX, insbesondere was Spielzeug angeht (29); besondere Erwähnung verdient die wöchentlich veröffentlichte Liste gefährlicher Verbraucherprodukte im Rahmen von RAPEX. |
4.3 |
Was das Netz der für die Durchsetzung des Verbraucherrechts zuständigen Behörden angeht, stimmt der EWSA mit dem obengenannten, gut ausgearbeiteten Bericht der Kommission überein, was die festgestellten Schwierigkeiten und die Schlussfolgerungen angeht, und ebenso mit den Ergebnissen der zweiten Ausgabe des Verbraucherbarometers insbesondere in Bezug auf das „Enforcement“ (30). |
4.4 |
Ein Aspekt, der gestärkt werden sollte, ist die Bekanntmachung der Maßnahmen, die von der Kommission und den nationalen Behörden zur Überwachung der Einhaltung des umgesetzten Rechts durch die öffentlichen und privaten Adressaten dieser Vorschriften ergriffen wurden, um den Verbraucherschutz stärker ins Blickfeld zu rücken, schädlichen Praktiken einen Riegel vorzuschieben und das Sicherheitsgefühl der Verbraucher zu stärken. |
4.5 |
Die Initiative, neue Formen der Verbreitung von Marktinformationen zu prüfen, die den Verbrauchern informierte Entscheidungen ermöglichen, ist lobenswert; es wäre jedoch interessant zu wissen, wie genau die Kommission diese Initiative durchzuführen gedenkt; mit großem Interesse wird auch die angekündigte Datenbank für unlautere Geschäftspraktiken erwartet, wobei allerdings zu hoffen steht, dass nicht das Gleiche geschieht wie im Fall der europäischen Datenbank missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen (CLAB). |
4.6 |
Bezüglich des Vorschlags, „Muster“ für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts festzulegen, die von den „nationalen Durchsetzungsbehörden“ verwendet werden sollen, begrüßt der Ausschuss die von den Vertretern der Kommission in den Studiengruppensitzungen abgegebene Erklärung, dass sich eine solche Initiative ausschließlich an die Verwaltungsbehörden, nicht jedoch an die Justizbehörden richtet und die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungsersuchen nicht in Frage stellt, wenn es um die Auslegung des Gemeinschaftsrechts geht. |
4.7 |
Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit mit Drittstaaten werden in der Mitteilung nicht nur keine konkreten Daten über die bisher ergriffenen Maßnahmen vorgelegt, sondern es wird auch keine Strategie für die Zukunft vorgeschlagen. Dies gilt insbesondere für ihre Ausweitung auf andere im Bereich der regionalen wirtschaftlichen Integration tätige internationale Gremien und Organisationen. Der Ausschuss hegt daher Bedenken hinsichtlich der wirksamen Überwachung der Einhaltung des gemeinsamen Besitzstands in Bezug auf Erzeugnisse aus Drittstaaten, der mangelnden Sichtbarkeit dieser Überwachung sowie der Transparenz ihrer Ergebnisse. |
4.8 |
Außerdem hegt der EWSA Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Finanzmittel, die der Kommission für die Durchführung dieser Maßnahmen zur Verfügung stehen, da der Finanzrahmen für die Verbraucherpolitik nur begrenzt ist. Diese Situation könnte sich aufgrund der neuen Organisationsstruktur der Kommission, nach der die Zuständigkeiten für diese Angelegenheiten auf zwei Generaldirektionen aufgeteilt wurden, eventuell noch weiter verschlechtert haben. |
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. L 364 vom 9.12.2004, S. 1.
(2) Besondere Aufmerksamkeit sollte der zurzeit erarbeiteten Stellungnahme „25. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (KOM(2008) 777 endg.) (INT/492) geschenkt werden.
(3) ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 153.
(4) ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52.
(5) ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 26.
(6) Wie dies der EWSA in seiner Stellungnahme (ABl. C 108 vom 30.4.2004, S. 81) vorhergesagt hat.
(7) KOM(2009) 336 endg. vom 2.7.2009.
(8) Vgl. 25. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (KOM(2008) 777 endg. und SEK(2008) 2854 und 2855) (Stellungnahme des EWSA – INT/492 – in Vorbereitung).
(9) Zum Beispiel in KOM(2006) 514 endg. über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Stellungnahme des EWSA: ABl. C 175 vom 27.7.2007, S. 28); KOM(2007) 210 endg. zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Stellungnahme des EWSA: ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 31); KOM(2007) 303 endg. über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsrechten, langfristigen Urlaubsprodukten sowie des Wiederverkaufs und Tausches derselben (Stellungnahme des EWSA: ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 27); KOM(2008) 9 endg. über die Sicherheit von Spielzeug (Stellungnahme des EWSA: ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 8).
(10) KOM(2009) 25 endg.
(11) Erarbeitet von Van Dijk Management Consultants.
(12) KOM(2002) 725 endg.
(13) In seiner Initiativstellungnahme (ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 52) argumentiert der EWSA, „dass eine bessere Rechtsetzung eng mit der Durchführung und Durchsetzung des Rechts zusammenhängt: Ein Gesetz ist gut, wenn es durchsetzbar ist und auch durchgesetzt wird.“
(14) Es ist in der Tat erstaunlich, dass die zwischen EP, Rat und Kommission geschlossene Interinstitutionelle Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ (ABl. C 321 vom 31.12.2003) in der Mitteilung der Kommission nicht einmal erwähnt wird.
(15) Ein bekanntes Beispiel ist die allgemeine Nichtanwendung der Richtlinie 85/374/EWG (ABl. L 210 vom 7.8.1985), geändert durch die Richtlinie 1999/34/EG (ABl. L 141 vom 4.6.1999) zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, von der zugunsten der nationalen Vorschriften abgewichen wurde, was auf der vom „Centre de Droit de la Consommation“ am 23./24.3.1995 in Louvain-la-Neuve veranstalteten Konferenz „La Directive 85/374/CEE relative à la responsabililité du fait des produits: dix ans après“ klar festgestellt wurde.
(16) Empfehlungen vom 30.3.1998 (ABl. L 115 vom 17.4.1998) und 4.4.2001 (ABl. L 109 vom 19.4.2001).
(17) In diesem Zusammenhang hervorgehoben werden müssen die Verordnung (EG) Nr. 861/2007 (ABl. L 199 vom 31.7.2007, S. 1) zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und die Vorschläge zur effizienteren Vollstreckung von Urteilen in der Europäischen Union: vorläufige Kontenpfändung (KOM(2006) 618 endg.) und Transparenz des Schuldnervermögens (KOM(2008) 128 endg.); diese sind jedoch hauptsächlich darauf ausgerichtet, die Eintreibung von Schulden für Unternehmen zu erleichtern, und kommen nicht den Verbrauchern zugute (siehe Stellungnahmen ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 2 und ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 73).
(18) KOM(2005) 672 endg. und KOM(2008) 165 endg.; siehe die Stellungnahmen ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 1 und ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 40.
(19) KOM(2008) 794 endg.
(20) Stellungnahme CESE 586/2009 (INT/473) vom 5.11.2009; zu diesem Thema siehe auch die Initiativstellungnahme (ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1) zur „Definition der Rolle von Sammelklagen und der entsprechenden Vorschriften im Rahmen des EU-Verbraucherrechts“.
(21) Siehe das Urteil vom 1.6.1994, Kommission/Deutschland (C-317/92) sowie das Urteil vom 10.5.1995, Kommission/Deutschland (C-422/92).
(22) KOM(2002) 725 endg.
(23) KOM(2009) 25 endg. und insbesondere SEK (2009) 76, Teil 1.
(24) KOM(2009) 346 endg. (CESE 97/2010).
(25) Insbesondere die Notwendigkeit, eine eingehendere Analyse jedes Marktes vorzunehmen und gemeinsame Methodiken für die Datenverarbeitung zu schaffen, um die Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten, sowie Durchsetzungsindikatoren zu entwickeln.
(26) KOM(2007) 99 endg.
(27) ABl. C 95 vom 23.4.2003 und ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 20.
(28) Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und Beschluss 2008/762/EG, EWSA-Stellungnahme siehe ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 1.
(29) KOM(2008) 9 endg., EWSA-Stellungnahme sie ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 8.
(30) SEK(2009) 76, Teil 3.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/105 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss: Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums im Binnenmarkt“
KOM(2009) 467 endg.
2011/C 18/19
Berichterstatter: Daniel RETUREAU
Die Europäische Kommission beschloss am 11. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss: Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums im Binnenmarkt“
KOM(2009) 467 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 2. März 2010 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) mit 132 gegen 5 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Empfehlungen und Schlussfolgerungen
1.1 Der Ausschuss bedauert, dass die jüngsten Entwicklungen, nämlich die Ratifizierung der „Internetverträge“ der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO), d.h. des Vertrags der WIPO über die Urheberrechte (WCT) und des Vertrags der WIPO über Darbietungen und Tonträger (WPPT), durch die Union und die Mitgliedstaaten in den Vorschlägen der Kommission nicht berücksichtigt werden konnten.
1.2 Darüber hinaus fordert er, über die derzeit laufenden Verhandlungen über das Handelsabkommen zur Bekämpfung der Marken- und Produktpiraterie (Anti-counterfeiting trade agreement (ACTA) und über die Unterschiede zwischen diesem Abkommen und den erst kürzlich ratifizierten WIPO-Verträgen - insbesondere in Bezug auf den das Internet betreffenden Teil - sowie der Richtlinie Nr. 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, der so genannten „Nachahmungsrichtlinie“, informiert zu werden (1).
1.3 Gleichwohl nimmt der Ausschuss zur Kenntnis, dass die Kommission in Kürze eine Sitzung der beteiligten Akteure veranstalten möchte, die möglichst bald und im Vorfeld einer endgültigen Entscheidung stattfinden sollte; auch das Europäische Parlament sollte möglichst frühzeitig einbezogen werden.
1.4 Der Ausschuss lehnt in Bezug auf die Wahrnehmung der Urheberrechte im Internet eine solche gesonderte, in das Privatleben eingreifende Regelung ab, wie sie in die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten aufgenommen wurde. Er empfiehlt vielmehr aktive Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Verbraucher, insbesondere Jugendliche.
1.5 Der Ausschuss befürwortet den zentralen Vorschlag der Kommission, nämlich eine Beobachtungsstelle für Marken- und Produktpiraterie einzurichten, die nützliche Informationen über die Praktiken der Produktfälscher sammeln und verbreiten soll und insbesondere den KMU und KMI, die häufig Opfer von Nachahmungen sind, Unterstützung zuteil lassen würde, damit sie sich besser über ihre Rechte informieren können.
1.6 Der Ausschuss erachtet das vom Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ geforderte und auf dem Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) aufbauende Netz für den schnellen Informationsaustausch als äußerst nützlich, vor allem, wenn es den Mitgliedstaaten gelingt, die Probleme der Verwaltungszusammenarbeit zu lösen; dies wird auch von der Effizienz der nationalen Kontaktstellen abhängen. Darüber hinaus sollte die Kommission regelmäßig einen Bericht über die von der Beobachtungsstelle erhobenen Daten und ihre Tätigkeit veröffentlichen.
1.7 Die notwendige Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf dem Gebiet der Nachahmung sollte sich in einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Zollbehörden und den Strafverfolgungsbehörden unter Einbeziehung von EUROPOL auf EU-Ebene niederschlagen. Dem Ausschuss erscheint eine Harmonisierung des europäischen Strafrechts unerlässlich, sofern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Straftat und Strafmaß, auch im Falle illegaler Kopien im Internet, eingehalten wird. Letztere sollten nicht zum Erlass übermäßiger oder unverhältnismäßiger Vorschriften im Rahmen der Gesetzgebung zur Bekämpfung illegaler Kopien oder der gewerbsmäßigen Nachahmung führen.
1.8 Der Ausschuss kann also den Vorschlägen der Kommission zustimmen, vorbehaltlich seiner Kritik an der mangelnden Transparenz beim ACTA-Abkommen und unter Berücksichtigung der Ungewissheiten, die durch die einseitigen Erklärungen zahlreicher Mitgliedstaaten anlässlich der Ratifizierung der WIPO-Verträge im Dezember 2009 entstanden sind. Er befürwortet eine Position der EU, die nicht über den aktuellen Besitzstand hinausgeht.
1.9 Der Ausschuss spricht sich insbesondere bei verwaisten Werken für ein harmonisiertes System zur Eintragung des Urheberrechts und verwandter Rechte aus, das regelmäßig aktualisiert werden sollte, damit die verschiedenen Anspruchsberechtigten leicht ausfindig gemacht werden können. Dieses System könnte über Art und Titel des Werks und die verschiedenen Inhaber der Rechte Auskunft geben. Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die Durchführbarkeit eines solchen Vorschlags zu prüfen.
1.10 Schließlich drängt der Ausschuss auf die Schaffung des EU-Patents und seine effektive Einführung in allen Mitgliedstaaten, das ein erheblich wirkungsvolleres und kostengünstigeres Mittel zum Schutz der immateriellen Rechte von KMU und KMI im Bereich der Innovation sein wird.
2. Vorschläge der Europäischen Kommission
2.1 Die Kommission betont, dass die Rechte des geistigen Eigentums in der Wissensgesellschaft gestärkt werden müssen; der Schutz von Rechten des geistigen Eigentums in der Union und auf internationaler Ebene (TRIPS-Übereinkommen (2), branchenspezifische Übereinkommen) muss verbessert werden, da die Unternehmen - Großunternehmen ebenso wie KMU und KMI - diesen Rechten immer größeren Wert beimessen. So können Start-up-Unternehmen ihre Immaterialgüter schützen und sich auf dieser Grundlage Finanzierungsquellen erschließen oder Darlehen zum Beginn ihrer Geschäftstätigkeit aufnehmen.
2.2 Die EU muss diese mit Hilfe einer Kultur des geistigen Eigentums unterstützen, in der die europäischen Talente geschützt und Chancen für die Unternehmen sowie die akademische Forschung und die Spin-offs im näheren Umfeld des Universitätscampus geschaffen werden (3).
2.3 Der Wert der Rechte des geistigen Eigentums an sich macht sie zur Zielscheibe von Fälschern und Produktpiraten, die sich verschiedene Mittel, darunter das Internet als weltweites Werkzeug eines Marktes illegaler Güter, zunutze machen, wodurch die Innovation gebremst und die Beschäftigung bedroht wird; das hat insbesondere in Zeiten eines Konjukturrückgangs schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für die Unternehmen.
2.4 Der Markt für illegale Güter hat sich über den Markt der „traditionell“ kopierten oder nachgeahmten Güter (Film, Mode, Musik, Software, Luxusartikel) hinaus auf neue Massenverbrauchsgüter ausgedehnt: Lebensmittel, Hygieneartikel, Autoersatzteile, Spielzeug, Elektro- und Elektronikgeräte usw.
2.5 Auch der Gesundheitsbereich ist betroffen, und zwar durch gefälschte Medikamente, die Menschen in Gefahr bringen können.
2.6 Die Folgen von Produktfälschung und Handel mit illegalen Kopien sind zunehmend besorgniserregend, zumal die organisierte Kriminalität im Bereich der Produktfälschung sehr aktiv ist.
2.7 Es wurde ein gemeinschaftlicher Rechtsrahmen geschaffen. So wurde die Richtlinie 2004/48/EG (4) zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums erlassen und das Zivilrecht vereinheitlicht, derzeit wird ein Vorschlag für strafrechtliche Maßnahmen im Rat erörtert, und die EU-Zollverordnung erlaubt die Beschlagnahme illegaler Güter und die Bestrafung des Handels mit illegalen Kopien, zu der die Kommission übrigens die Mitgliedstaaten zwecks Nachbesserung konsultiert.
2.8 Die Kommission beabsichtigt, ganz im Sinne der Entschließung des Rates „Wettbewerbsfähigkeit“ vom 25. September 2008 und im Rahmen eines europäischen Gesamtplans zur Bekämpfung von Nachahmungen ergänzende nichtlegislative Maßnahmen zu ergreifen.
2.9 Gemäß den Schlussfolgerungen der beratenden Expertengruppe, die darin insbesondere auf die Situation der KMU eingeht, will die Kommission die Unterstützung bei der Verfolgung der Zuwiderhandelnden ausbauen und plant verschiedene Projekte, um den KMU zu helfen, die Rechte des geistigen Eigentums in ihren Innovationsstrategien und ihrem Wissensmanagement zu berücksichtigen.
2.10 Auf internationaler Ebene erarbeitet die Kommission derzeit eine Strategie zum Schutz gegenüber Drittländern (z.B. das Abkommen zur Bekämpfung der Marken- und Produktpiraterie EU-China, Initiativen im Bereich der Zollkontrollen). Ein Helpdesk „geistiges Eigentum-KMU-China“ hat seine Arbeit aufgenommen.
2.11 Die Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor sollten mit Blick auf eine stärker partizipative EU-Strategie weiter ausgebaut werden. Im Anschluss an die hochrangige Konferenz im Mai 2008 veröffentlichte die Kommission eine europäische Strategie für gewerbliche Schutzrechte, und der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ verabschiedete die bereits erwähnte Entschließung zur Bekämpfung von Nachahmungen und Piraterie und forderte die Kommission auf, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Grenzkontrollen zu verschärfen.
2.12 Besonders schwer ist es jedoch, Informationen über Art und Umfang der Nachahmungen und des Handels mit illegalen Kopien zu sammeln und ihre tatsächliche Auswirkung auf die europäische Wirtschaft zu ermitteln. Neben den von der Kommission über die Beschlagnahmen an den Grenzen gesammelten Informationen, die übrigens nur ein sehr unvollständiges Bild von der Wirklichkeit zeichnen, lassen sich die Informationen, über die die verschiedenen nationalen Behörden verfügen, nur schwer zusammentragen und -fassen. Die Quellendatenbank sollte ausgebaut werden, um nicht nur die globalen, sondern auch die lokalen Folgen der mit der Produktnachahmung zusammenhängenden illegalen Aktivitäten gründlich untersuchen zu können und zu verstehen, warum manche Produkte oder Branchen und bestimmte Regionen besonders stark gefährdet sind. Auf diese Weise könnten gezieltere Aktionsprogramme ausgearbeitet werden.
2.13 Der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ hat empfohlen, eine europäische Beobachtungsstelle für Marken- und Produktpiraterie einzurichten, um sich genauere Kenntnisse über diese Phänomene zu verschaffen. Die Kommission richtet derzeit eine solche Beobachtungsstelle ein, um möglichst viele Informationen über die Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums zu sammeln; gleichwohl ist sie der Ansicht, dass diese umfassendere Aufgaben übernehmen und zu einer Plattform werden sollte, über die Vertreter der zuständigen nationalen Behörden und Akteure Informationen und bewährte Praktiken austauschen, gemeinsame Strategien zur Bekämpfung von Nachahmungen und Piraterie entwickeln und Empfehlungen für politische Entscheidungsträger formulieren könnten.
2.14 Damit die Beobachtungsstelle zu einer wesentlichen Quelle werden kann, sollte sie eine Nahtstelle für eine enge Zusammenarbeit zwischen Kommission, Mitgliedstaaten und privatem Sektor sein und eine Partnerschaft mit den Verbraucherverbänden pflegen, um praktische Empfehlungen zu erarbeiten und die Verbraucher zu sensibilisieren. Durch die alljährliche Veröffentlichung eines Berichts könnte die Öffentlichkeit die Probleme und entsprechenden Lösungswege nachvollziehen.
2.15 Anschließend erläutert die Kommission die Rolle der Beobachtungsstelle bei der Erreichung der weiter oben beschriebenen Ziele.
2.16 Die Beobachtungsstelle würde zu einer Plattform im Dienste sämtlicher Akteure mit einem Vertreter pro Mitgliedstaat und einem breiten Spektrum an europäischen und nationalen Gremien. Die Branchen, die am stärksten betroffen sind und über die meiste Erfahrung verfügen, Verbraucher und Vertreter der KMU sollen zur Mitwirkung aufgefordert werden.
2.17 Die konsequente Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums setzt eine echte Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen voraus, die im Bereich der Nachahmungen und Piraterie intensiviert und ausgebaut werden muss, sowie eine echte Partnerschaft bei der Verwirklichung des Binnenmarkts ohne Grenzen. Hierzu ist ein effizientes Netz von Kontaktstellen in der gesamten EU unerlässlich.
2.18 Auch auf interner Ebene ist eine bessere Koordinierung bei der Bekämpfung von Nachahmungen erforderlich. Hierzu sollten nationale Koordinatoren mit einem klaren Auftrag benannt werden.
2.19 Außerdem ist es sinnvoll, die nationalen Strukturen auf grenzübergreifender Ebene transparenter zu gestalten, um die geschädigten Unternehmen bei ihren Maßnahmen zu unterstützen. Auch die nationalen Ämter für gewerbliches Eigentum und Urheberrechte haben eine Informationsfunktion. Außerdem müssen sie neue Aufgaben übernehmen wie die Sensibilisierung und gezielte Unterstützung der KMU, wobei mit dem Europäischen Patentamt (EPA), den nationalen Ämtern und im Bereich der Marken mit dem Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM) zusammengearbeitet werden könnte.
2.20 Der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ hat die Kommission ferner aufgefordert, ein Netz für den schnellen grenzüberschreitenden Austausch von Schlüsselinformationen unter Nutzung nationaler Kontaktstellen und moderner Instrumente für den Informationsaustausch einzurichten. Alle Vollzugsbehörden und nationalen Ämter für gewerbliches Eigentum müssen Zugang zu einem wirksamen und schnellen elektronischen Netz zum Austausch von Informationen über Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums haben.
2.21 Die Kommission untersucht zurzeit, wie eine angemessene Schnittstelle aussehen müsste und wie das bestehende Binnenmarkt-Informationssystem (IMI) genutzt werden könnte, um einen reibungslosen Austausch wichtiger Informationen zu ermöglichen.
2.22 Die Kommission nennt alle schwerwiegenden Folgen von Verletzungen der Rechte des geistigen Eigentums und möchte auf diese Weise die Inhaber dieser Rechte und alle beteiligten Handelsakteure dazu ermutigen, ihre Kräfte zu bündeln, um die Marken- und Produktpiraterie in ihrer aller Interesse zu bekämpfen. So könnten z.B. freiwillige Vereinbarungen abgeschlossen werden, um vor Ort gegen die Marken- und Produktpiraterie vorzugehen und technische Lösungen zur Erkennung gefälschter Waren zu finden; diese Vereinbarungen könnten über die europäischen Grenzen hinausgehen. Die eingesetzten Mittel müssen selbstverständlich im Rahmen der Legalität bleiben.
2.23 Besondere Fragen wirf der Internet-Handel mit Nachahmungen auf, und die Kommission hat einen strukturierten Dialog mit den beteiligten Akteuren eingeleitet, da das Internet den Produktfälschern und -nachahmern besondere Flexibilität bietet, um weltweit tätig zu sein und so die vor Ort geltenden Gesetze zu umgehen. In den laufenden und künftigen Sitzungen sollen konkrete Verfahren erarbeitet werden, um im Rahmen freiwilliger Vereinbarungen zu erwirken, dass gefälschte Ware von Verkaufswebseiten genommen wird; sollten sich die Markeninhaber und die Internetunternehmen nicht einigen können, sollte die Kommission legislative Lösungen in Erwägung ziehen, insbesondere im Rahmen der Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums.
3. Bemerkungen des Ausschusses
3.1 Im Vorschlag der Kommission geht es in erster Linie um den Schutz der Rechte des geistigen Eigentums der europäischen KMU. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die KMU tatsächlich eine besondere Unterstützung benötigen, damit sie ihre Rechte nach den Regeln des geltenden Rechts und der Richtlinie 2004/48 schützen können. Allerdings fehlt immer noch der strafrechtliche Aspekt, und es wäre sinnvoll, wenn die Mitgliedstaaten eine ausgewogene und angemessene Lösung fänden. Der Ausschuss hofft, dass eine auf dem AEUV (5) fußende Lösung die Inhaber immaterieller Rechte unterstützen wird.
3.2 Die Beobachtungsstelle sollte einen Beitrag zur Bekämpfung jeglicher Verletzung der Rechte des geistigen Eigentums leisten, und zwar unabhängig von der jeweiligen Unternehmensgröße, auch wenn das Hauptaugenmerk auf den besonderen Bedürfnissen von KMU und KMI liegt.
3.3 Einige Vorschläge, wie die freiwilligen Vereinbarungen, werden bereits umgesetzt, andere befinden sich noch in der Planungsphase, und in der Mitteilung werden die Hindernisse nicht erwähnt, die in manchen Bereichen überwunden werden müssen, wie die Verwaltungszusammenarbeit, die oftmals nicht zufriedenstellend zu funktionieren scheint.
3.4 In Zusammenhang mit Raubkopien und Fälschungen per Internet ist unlängst ein neues Element aufgetreten; die Europäische Union und die Mitgliedstaaten haben im Dezember 2009 die „Internetverträge“ der WIPO unterzeichnet, wodurch im Prinzip das geltende europäische Recht vereinheitlicht wird; allerdings könnte ein einheitlicher europäischer Ansatz durch die Erklärungen, die einige Mitgliedstaaten anlässlich der Ratifizierung abgegeben haben, wieder in Frage gestellt werden. In den Verträgen wird, analog zur Richtlinie Nr. 2004/48 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, die Bekämpfung von Kopien und Nachahmungen zu gewerblichen Zwecken gefordert.
3.5 Gleichzeitig werden jedoch „heimliche Verhandlungen“ zwischen den USA, der EU und einigen „auserwählten“ Ländern geführt, um einen internationalen Vertrag zur Bekämpfung der Produktnachahmung, das ACTA-Abkommen, abzuschließen. Nach Ansicht der amerikanischen Seite sollte dieser stark dem Digital Millenium Copyright Act (DMCA) ähneln. Aussagen des amerikanischen Verhandlungsführers zufolge soll durch die Geheimhaltung ein Sperrfeuer der amerikanischen und europäischen Zivilgesellschaft vermieden werden. Die europäischen Verbraucher, deren Verbände von den Verhandlungen ausgeschlossen sind, und die europäischen Unternehmen verurteilen diese undurchsichtigen (6) und undemokratischen Verfahren, mit denen unter dem Deckmantel einer Bekämpfung von Produktfälschungen im Internet (ein Kapitel des Vertragsentwurfs) eine polizeiliche Kontrolle - auch durch private Ordnungskräfte - des Internethandels und der Internetkommunikation eingeführt werden könnte. Darüber hinaus würde bestimmten Quellen zufolge die Unterscheidung zwischen dem Handel mit Nachahmungen und der Anfertigung einer Privatkopie verloren gehen. Es muss dringend für Transparenz gesorgt und der Zivilgesellschaft die diesbezügliche Meinungsäußerung ermöglicht werden, zumal die Lobbyisten der nordamerikanischen Hersteller ständigen Zugang zu den Verhandlungen haben.
3.6 Auch der EWSA möchte über die Diskussionen und die derzeit auf dem Tisch liegenden Vorschläge unterrichtet werden und sich dazu äußern können. Es wäre bedauerlich, wenn die umstrittenen Bestimmungen des amerikanischen DMCA in einen internationalen Vertrag übernommen würden, der mit den WIPO-Verträgen konkurrieren und auf europäischer und internationaler Ebene im Bereich des Urheberrechts und verwandter Rechte für noch mehr Verwirrung sorgen würde. In jedem Fall sollte die Position der EU nicht über den aktuellen Besitzstand hinausgehen.
3.7 Nach Ansicht des Ausschusses sollte das System des Urheberrechts im Internet den Rechteinhabern weder die Möglichkeit geben, die Nutzung der Technologie zu kontrollieren, wie es derzeit die Tendenz in den oben genannten nationalen Vorschriften ist, noch es ihnen erlauben, sich in die private Kommunikation einzumischen. Die übermäßige Dauer des Schutzes (50 bis 75 Jahre nach dem Tod des Urhebers oder 75 Jahre im Falle einer juristischen Person) und die übertriebenen Rechte, die den multinationalen Unternehmen der Unterhaltungsindustrie für die Medienkontrolle zuerkannt werden, wären ein klarer Hemmschuh für Innovation und technische Entwicklung und nicht förderlich für ein wettbewerbsfreundliches Umfeld. Das Ziel des Schutzes besteht darin, den Urhebern und Interpreten eine angemessene Bezahlung sicherzustellen, und nicht den Händlern einen ständigen Vorteil mit Eingriffsrecht zu verschaffen.
3.8 Der Ausschuss plädiert für eine Vereinheitlichung des Urheberrechts auf seiner traditionellen Grundlage, also ohne übertriebene Vorschriften für das Internet.
3.9 Der Ausschuss regt an, beispielsweise im Rahmen eines europäischen Urheberrechts eine obligatorische Eintragung in ein harmonisiertes Register der Urheberrechte und verwandter Rechte für eine geringfügige Gebühr, die nur die Eintragungsgebühren abdeckt, einzuführen. Diese sollte z.B. alle 10 oder 20 Jahre erneuert werden, damit die Rechteinhaber und deren Anschrift bekannt sind. Mit einem solchen frei zugänglichen und stets aktualisierten Instrument würde interessierten Unternehmen, die ein Werk gewerblich nutzen möchten, die Beschaffung der erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen sowie die Wiederverwendung verwaister Werke, ihre Übertragung auf andere Datenträger und ihre Übersetzung in andere Sprachen erleichtert werden.
3.10 Das würde auch die Anfertigung von Sicherheitskopien der Werke (Filme, Tonbänder u.a.), insbesondere im Falle empfindlicher Speichermedien, erleichtern. Werke gehen häufig verloren, werden nie neu aufgelegt oder wiederverwendet und im Falle einiger Speichermedien, wie bei alten Filmen, laufen sie Gefahr, für immer zu verschwinden.
3.11 Das Urheberrecht hebt sich bereits dadurch ab, dass die Rechte im Gegensatz zu den Patenten und anderen Rechten des gewerblichen Eigentums weder eingetragen werden müssen noch eine Gebühr entrichtet werden muss. Auch unterscheidet es sich durch die Schutzdauer, die in vielerlei Hinsicht angesichts des Bedarfs an Innovation und Wissensaustausch in der Informationsgesellschaft und der wissensbasierten Wirtschaft übermäßig lang ist. Der Ausschuss empfiehlt eine Eintragung der Urheberrechte und verwandter Schutzrechte, wobei Art und Titel des Werks, das Urheberrecht und andere Rechte am Werk sowie der Name und die Anschrift der Rechteinhaber angegeben werden sollten; die Eintragung sollte wenn möglich alle 10 oder 20 Jahre gegen Entrichtung einer geringfügigen, auf die tatsächlichen Kosten der Eintragung begrenzten Gebühr, erneuert werden. So würde jedem, der ein Werk gewerblich nutzen möchte, die Beschaffung der erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen erleichtert. Das Urheberrecht wird häufig mit dem Eigentumsrecht verwechselt, muss aber verstanden werden als zeitlich begrenztes Nutzungsmonopol und ein exklusives Recht, Nutzungslizenzen für geschützte Werke während der Schutzdauer zu vergeben.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl. L 157 vom 30.4.2004, S. 45–86.
(2) Internationale Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, einschließlich des Handels mit nachgeahmten Waren („TRIPS“).
(3) Siehe INT/325, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 17; INT/448, ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 8; INT/461, ABl. C 306/2009, S.13, und INT/486 (noch nicht veröffentlicht).
(4) ABl. L 157 vom 30.4.2004, S. 45-86 (EWSA-Stellungnahme, ABl. C 32 vom 5.2.2004, S. 15).
(5) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
(6) Erklärung zum ACTA, europäische Verbraucher, transatlantischer Dialog (siehe Website der BEUC).
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/109 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beteiligung der Gemeinschaft an einem von mehreren Mitgliedstaaten gemeinsam durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsprogramm für die Ostsee (BONUS-169)“
KOM(2009) 610 endg. — 2009/0169 (COD)
2011/C 18/20
Hauptberichterstatter: Daniel RETUREAU
Der Rat beschloss am 12. November 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 169 und 172 Absatz 2 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beteiligung der Gemeinschaft an einem von mehreren Mitgliedstaaten gemeinsam durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsprogramm für die Ostsee (BONUS-169)“
KOM(2009) 610 endg. — 2009/0169 (COD).
Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 15. Dezember 2009 mit den Vorarbeiten zu dieser Stellungnahme.
In Anbetracht der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) gemäß Artikel 57 der Geschäftsordnung Daniel RETUREAU zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 140 gegen 4 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der Ostseeraum steht vor beträchtlichen Herausforderungen, denn er ist zum einen von den Folgen der Klimaerwärmung und der Verschmutzungen infolge der Tätigkeit des Menschen betroffen und ist zum anderen aufgrund der Art und Anzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten, die von ihm abhängen, ein für wirtschaftliche und soziale Betätigungen strategisch wichtiges Gebiet. Seine Erhaltung ist für die heutigen und künftigen Generationen von entscheidender Bedeutung, und seine Bewirtschaftung muss in Abstimmung mit allen Anrainerstaaten und deren Bevölkerungen erfolgen.
1.2 Es ist jedoch nicht ersichtlich, ob das BONUS-Konsortium die nationalen und europäischen Sozialpartner dieser Sektoren angemessen in die Verfahren zur Anhörung der betroffenen Kreise einbinden wird. Der Ausschuss besteht darauf, dass dies unmissverständlich klargestellt wird.
1.3 Die Akteure der Zivilgesellschaft und insbesondere die einschlägigen europäischen und nationalen Sozialpartner sollten durch das Governance-System dieser Konsultationsforen und des Forums für die Sektorforschung einbezogen werden; ferner sollten bei der Forschungstätigkeit im Rahmen der FTE-Projekte des BONUS-169-Programms, an denen auch Sozialwissenschaftler teilnehmen, die Erwägungen der Akteure, die in die Verwaltung der Beschäftigungsmöglichkeiten und Zuständigkeiten in den vom Programm erfassten Sektoren eingebunden sind, berücksichtigt werden.
1.4 Nachhaltigkeitsprüfungen könnten ein nützliches und wirksames Instrument der Entscheidungsfindung bei der Auswahl und Umsetzung der im Rahmen des Programms BONUS-169 durchgeführten FTE-Projekte sein, da mit ihnen die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt werden können, indem eine aussagekräftige Gruppe von Akteuren der Zivilgesellschaft, die mit den Problemen dieser drei Dimensionen bestens vertraut sind, einbezogen wird.
1.5 Allerdings weist die im Rahmen des Programms BONUS-169 vorgenommene Folgenabschätzung Mängel insbesondere bei der Berücksichtigung der sozialen Dimension und der Beschäftigungssituation auf, zumal die Akteure der Zivilgesellschaft (und an erster Stelle die Gewerkschaftsorganisationen und die europäischen Sozialpartner) nicht an der Ausarbeitung des Programms beteiligt waren.
1.6 Die Akteure der Zivilgesellschaft können auf mindestens zweierlei Weise einbezogen werden:
a) |
Verbesserung der Verbreitung und Sammlung von Informationen, der Auswertung der Beiträge der Akteure der Zivilgesellschaften der am Programm BONUS-169 beteiligten Länder sowie der Feedback-Mechanismen. Hierfür müssen die Transparenz bei der Anerkennung und Nutzung der Beiträge aller beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteure einschließlich der europäischen Sozialpartner gewährleistet und ein geeignetes Feedback vorgesehen werden; |
b) |
Einbeziehung des Inhalts der von allen beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteuren einschließlich der europäischen Sozialpartner aufgeworfenen Fragen in die Debatten und Analysen. Die Herausforderung besteht darin, einen Prozess anzuregen, der konkrete Auswirkungen auf die Erarbeitung und Durchführung des Programms BONUS-169 hat und die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung (ökologische, soziale und wirtschaftliche Dimension) berücksichtigt. |
1.7 Der Ausschuss bringt erneut seine Unterstützung für das Programm und seine Finanzierungsmodalitäten zum Ausdruck, die darauf abzielen, dass neue und ausdrücklich für BONUS-169 bestimmte Mittel zum Einsatz kommen und nicht nur bereits vorhandene Mittel verwendet werden, es sei denn, es würden Forschungsinstrumente, die für die Erreichung der angestrebten Ziele besonders geeignet sind, vollständig, für eine bestimmte Dauer und in einem festgelegten finanziellen Umfang hierfür eingesetzt.
1.8 Die Ostseeforschung ist insofern gerechtfertigt, als die Ostsee von zahlreichen Mitgliedstaaten umgeben ist, die im Laufe des Industriezeitalters starke Schadstoffmengen angesammelt haben und noch heute ansammeln, was die Ostsee zu einem der am stärksten verschmutzten Wassergebiete weltweit gemacht hat und so zahlreiche Tätigkeiten in Industrie und Handwerk in Frage stellen könnte, da sich die Besiedlung und die Tätigkeiten im Wesentlichen auf den Küstenstreifen konzentrieren. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass alle betroffenen Länder, einschließlich gegebenenfalls der Russischen Föderation, in die Forschung einbezogen werden sollten und - mit Blick auf die weniger besiedelten Länder und Drittstaaten - ihren Beitrag entsprechend ihren Möglichkeiten und unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Situation leisten sollten.
2. Vorschläge der Kommission
2.1 Im Siebten Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration vom 20. Dezember 2006 sind die regionalen Leitlinien für den Zeitraum 2007-2013 anhand der vier großen Aktivitätsbereiche „Zusammenarbeit“, „Ideen“, „Menschen“ und „Kapazitäten“ festgelegt.
2.2 In der Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Oktober 2009 über die Beteiligung der Gemeinschaft an einem von mehreren Mitgliedstaaten gemeinsam durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsprogramm für die Ostsee (BONUS-169) wird dieser Rahmen auf die Probleme im Ostseeraum angewendet und es werden die Ziele und Einzelheiten der Finanzierung bei der Umsetzung des Projekts festgelegt.
2.3 Zur Erreichung der Programmziele wird BONUS-169 in zwei Phasen eingeteilt:
a) |
In einer ersten, sich über zwei Jahre erstreckenden Strategiephase werden geeignete Konsultationsforen für die aktive Einbeziehung der interessierten Kreise eingerichtet, ein strategischer Forschungsplan erstellt und die Durchführungsmodalitäten im Einzelnen weiter ausgearbeitet; |
b) |
in der mindestens fünf Jahre dauernden Durchführungsphase werden mindestens drei gemeinsame Aufforderungen zur Einreichung von Vorschlägen veröffentlicht, um BONUS-169-Projekte zu fördern, die sich mit einzelnen strategischen Zielen der Initiative befassen. |
2.4 Die Themen sind dem strategischen Forschungsplan von BONUS-169 zu entnehmen, müssen sich möglichst an den festgelegten Fahrplan halten und sich auf Forschung, technologische Entwicklung, Ausbildung und/oder Verbreitungsaktivitäten erstrecken.
2.5 Eine der ersten Phasen des BONUS-169-Projekts bestand in einer umfassenden Konsultation der Öffentlichkeit. Es wurden eine Website eingerichtet, Folgenabschätzungen durchgeführt und NRO konsultiert. Diese Konsultationen waren notwendig und müssen während der Umsetzung der Projekte fortgesetzt werden. Die vorstehend genannten Akteure der Zivilgesellschaft müssen an der Kontrolle der Mittelverwaltung und an den Entwicklungen im Verlauf der Umsetzung der Projekte beteiligt werden, damit sie tatsächlich „zur Steigerung und Verbesserung der Investitionen in Wissen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung“ (1) beitragen, wie es in der überarbeiteten Lissabon-Strategie als Ziel formuliert ist. Gemäß Artikel 5 der Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Oktober 2009 muss das mit der Verwaltung von BONUS-169 beauftragte Netz der Ostsee-Organisationen zur Wissenschaftsförderung (BONUS-EWIV) der Kommission im Namen der Gemeinschaft Bericht erstatten. Gemäß Artikel 13 übermittelt die Kommission die Schlussfolgerungen der Bewertung der im Rahmen von BONUS-169 durchgeführten Maßnahmen dem Parlament und dem Rat. Der EWSA hat somit nur eine nachträgliche Kontrollmöglichkeit und kann nicht zum Ablauf der BONUS-169-Projekte Stellung nehmen.
2.6 In Anhang 1 Abschnitt 1 der Entscheidung sind die Ziele von BONUS-169 festgelegt. Auch wenn unter Buchstabe d) die „Einrichtung geeigneter Konsultationsforen für die interessierten Kreise sämtlicher einschlägiger Sektoren“ genannt ist, wird an keiner Stelle auf die sozioökonomischen Ziele des Projekts oder seine Bedeutung für die Entwicklung der Beschäftigung rund um die Ostsee eingegangen.
2.7 Anhang 2 ist insofern wichtig, als dort die Verwaltungsorgane des Projekts BONUS-169 festgelegt sind. Gemäß Abschnitt 4 wird ein Beirat eingerichtet, der sich aus international hochrangigen Wissenschaftlern sowie Vertretern der einschlägig interessierten Kreise und der Zivilgesellschaft zusammensetzt. In diesem Rahmen haben die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie NRO und Verbände Anspruch auf Einblick, Kontrolle und Unterbreitung von Vorschlägen für das BONUS-169-Projekt.
2.8 Das Programm ist langfristig angelegt und von der für die Umsetzung gemeinsamer Maßnahmen üblichen Dauer.
2.9 Im zwölften Erwägungsgrund der Entscheidung heißt es, dass die BONUS-169-Initiative „mehrere thematisch verwandte Gemeinschaftsforschungsprogramme zu einer Vielzahl von menschlichen Tätigkeiten [berührt], deren Folgen für das Ökosystem sich akkumulieren, wie Fischerei, Aquakultur, Landwirtschaft, Infrastruktur, Verkehr, Ausbildung und Mobilität von Forschern sowie sozioökonomische Aspekte“.
2.10 Mit der Aufteilung des Programms in zwei Phasen soll sichergestellt werden, „dass die Ergebnisse in Vereinbarungen der Politik und der Ressourcenbewirtschaftung in einer breiten Palette von Wirtschaftssektoren auch tatsächlich genutzt und übernommen werden“.
2.11 Des Weiteren sind bei der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Folgenabschätzung die eventuellen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einzubeziehen (unter Ziffer 5 der einleitenden Begründung wird allerdings besonders auf die sozialen und ökologischen Aspekte verwiesen). Mit einigen Optionen könnten andere Wirtschaftssektoren wie der Schiffsverkehr, der Bergbau, Windparks, der Verkehr, die Fischerei sowie Erdöl-, Gas- oder Telekommunikationsunternehmen dabei unterstützt werden, ein umweltfreundlicheres und an das Ökosystem angepassteres Verhalten an den Tag zu legen. Dieser Analysepunkt ist nach wie vor vollkommen unzureichend (unausgereift), weist jedoch klar auf die allgemeine Ausrichtung hin, die der strategischen Phase des Programms zugrunde liegt.
2.12 Bei den drei vom Netz BONUS-EWIV auszuwählenden und umzusetzenden Projekten müssen die menschlich-sozialen Herausforderungen infolge der Auswirkungen des Klimawandels auf die Ostseeküstengebiete unbedingt berücksichtigt werden. Dieser könnte nämlich zum Wegzug von Bevölkerungsteilen führen, was soziale Konsequenzen und Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation hätte; dem sollte vorweg begegnet werden, worauf in der Initiativstellungnahme des EWSA zur „Nachhaltigen Entwicklung der Küstenregionen“ vom 13. Oktober 2009 hingewiesen wird. Es wird unweigerlich zu Änderungen der arbeitsrechtlichen Vorschriften in einigen Tätigkeitsbereichen wie der Fischerei und dem Seeverkehr kommen. Die Europäische Kommission muss diese Faktoren berücksichtigen und mit Unterstützung der Akteure der Zivilgesellschaft und des EWSA den Teilaspekt „Bildung und Umschulung“ in die Bewertung und Ausrichtung der Projekte einfließen lassen.
2.13 Die EU wird in direktem Kontakt mit der spezifischen Durchführungsstruktur von BONUS-169, dem in Helsinki, Finnland, ansässigen Netz der Ostsee-Organisationen zur Wissenschaftsförderung, BONUS-EWIV stehen, das für die Zuweisung und Verwaltung des Gemeinschaftsbeitrags und der Bareinzahlungen der Mitgliedstaaten, für die Überwachung der Verwendung und für die Berichterstattung darüber zuständig ist.
2.14 BONUS-169 wird vom Sekretariat des Netzes BONUS-EWIV verwaltet. BONUS-EWIV wird die folgenden Strukturen für das BONUS-169-Programm einrichten: Lenkungsausschuss, Sekretariat, Beirat, Forum für die Sektorforschung, Forum für die Projektkoordinatoren.
2.14.1 Der Beirat unterstützt den Lenkungsausschuss und das Sekretariat. Er setzt sich zusammen aus international hochrangigen Wissenschaftlern, Vertretern einschlägiger interessierter Kreise, beispielsweise aus den Bereichen Tourismus, erneuerbare Energien, Fischerei und Aquakultur, Seeverkehr und Biotechnologie, sowie von Technologieanbietern, Industrieverbänden und Organisationen der Zivilgesellschaft und sonstigen integrierten Forschungsprogrammen des Ostseeraumes und anderer europäischen Küstenregionen.
2.14.2 Seine Aufgabe besteht darin, in wissenschaftlich und politisch relevanten Fragen zu BONUS-169 Beratung, Leitlinien und Empfehlungen anzubieten. Dies beinhaltet Beratung zu den Zielen, Schwerpunkten und zur Ausrichtung von BONUS-169, zu Möglichkeiten der Verbesserung der Leistungsfähigkeit von BONUS-169 und Qualität ihrer Forschungsergebnisse, zum Aufbau von Kapazitäten sowie zur Vernetzung und Relevanz der Arbeiten mit Blick auf die Ziele von BONUS-169. Der Beirat unterstützt auch die Nutzung und Verbreitung der Ergebnisse von BONUS-169.
2.14.3 Darüber hinaus spielte der BONUS-Beirat, dem ein breites Spektrum von Interessengruppen angehört, wie HELCOM, ICES, GD MARE, WWF und der finnische Verband der Landwirte, eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung des Wissenschaftsplans und der Durchführungsstrategie für BONUS-169.
2.15 Der der GD RTD im Juni 2009 vorgelegte und überarbeitete BONUS-169-Forschungsplan stützt sich weitgehend auf die Arbeiten und Konsultationen, die für die ursprüngliche BONUS-169-Initiative durchgeführt wurden.
2.16 Es ist vorgesehen, dass während der Strategiephase des Programms eine umfassende und strategisch ausgerichtete Konsultation der interessierten Kreise durchgeführt wird, die sich an Interessengruppen anderer einschlägiger Sektoren wie der Landwirtschaft, Fischerei, Aquakultur, Verkehr und Wasserwirtschaft richtet.
2.17 Konsultationsforen für interessierte Kreise
2.17.1 Nach einer umfassenden Analyse der für BONUS-169 in Frage kommenden interessierten Kreise auf lokaler, nationaler, regionaler und europäischer Ebene sind Konsultationsforen für die Interessengruppen einzurichten und Mechanismen zu schaffen, mit denen die Einbeziehung der Interessengruppen aller einschlägigen Sektoren gestärkt und institutionalisiert werden kann, damit kritische Lücken ermittelt, die Schwerpunkte der Forschungsthemen festgelegt und die Übernahme der Forschungsergebnisse verbessert werden können. Hierzu sind Wissenschaftler nicht nur der Meereswissenschaften, sondern auch aus anderen einschlägigen naturwissenschaftlichen Fachgebieten sowie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften einzubeziehen, um die notwendige Multidisziplinarität bei der Ausarbeitung des strategischen Forschungsplans, seiner strategischen Vision und der Forschungsschwerpunkte zu gewährleisten.
2.17.2 Für die Sektorforschung ist ein Forum als Dauergremium einzurichten, an dem sich Vertreter von Ministerien und andere Akteure beteiligen, die mit der Ostseeforschung und deren Verwaltung befasst sind. Dem Gremium obliegt die Erörterung der Programmplanung, der Ergebnisse und des neu auftretenden Forschungsbedarfs aus Sicht der Entscheidungsfindung. Dieses Forum soll die Integration der Ostseeforschung erleichtern und voranbringen. Hierunter fallen auch die gemeinsame Nutzung und Planung von Infrastrukturkapazitäten, Unterstützung bei der Feststellung des Forschungsbedarfs, Förderung der Nutzung der Forschungsergebnisse und Erleichterungen bei der Integration der Forschungsförderung.
2.18 Die Aufgaben der Nachhaltigkeitsprüfung
2.18.1 |
Die Nachhaltigkeitsprüfungen (Sustainability Impact Assessment, SIA) sind ein wichtiges politisches Instrument, um die Auswirkungen politischer Strategien und Maßnahmen auf die drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung - d. h. die wirtschaftliche, die soziale und die ökologische Säule - zu messen. |
2.18.2 |
Diese Nachhaltigkeitsprüfungen wurden von der Europäischen Kommission vor allem im Rahmen der Handelsabkommen (aber auch – wenngleich weniger formalisiert – im Rahmen der Verhandlungen vor der Annahme der europäischen REACH-Verordnung und der Richtlinien des europäischen Klima-Energie-Pakets) durchgeführt und instrumentalisiert und stellen eine große Herausforderung für die Konsultation der zivilgesellschaftlichen Akteure und die Berücksichtigung ihrer Positionen und Forderungen dar. |
2.18.3 |
Für die Nachhaltigkeitsprüfungen wurde eine Reihe von Indikatoren entwickelt:
|
2.18.4 |
Mit der Mitteilung der Europäischen Kommission (2) über Folgenabschätzung wurde ein umfassender Rahmen für die Folgenabschätzungen in allen Tätigkeitsbereichen der Europäischen Kommission und insbesondere für die Handelsverhandlungen und -abkommen eingeführt. Mit dem von der GD Außenhandel im März 2006 erstellten methodischen Leitfaden wurden die Nachhaltigkeitsprüfungen der Verhandlungen über Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten und deren Durchführung systematisiert. |
2.18.5 |
Diese Nachhaltigkeitsprüfungen können in einem Konsultationsprozess der wichtigsten und repräsentativsten Akteure der Zivilgesellschaft zur Anwendung kommen. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 Im Jahr 2009 vertrat der EWSA die Ansicht, dass der vorgesehene Governance-Mechanismus vereinfacht werden sollte. So schlug er in seiner Sondierungsstellungnahme zum Thema „Makroregionale Zusammenarbeit: Ausweitung der Ostseestrategie auf andere Makroregionen in Europa“ (3) die Einrichtung eines „Zivilgesellschaftlichen Forums für die Ostseeregion“ vor, um so öffentliche Debatten und Sensibilisierungskampagnen zur Umsetzung der Strategie zu befördern.
3.2 In einem Prozess umfassender makroregionaler Governance sind die Kommunikation über die Projekte und die Durchführung von Folgenabschätzungen der Projekte für die Bevölkerungen und die Beschäftigungssituation von entscheidender Bedeutung. Es müssen grenzübergreifende Netze zwischen Schwesterorganisationen in den verschiedenen Ländern, z. B. Gewerkschaften, Verbraucherverbänden, lokalen Organisationen und Freiwilligenverbänden, gebildet und einbezogen werden, damit sich eine Zivilgesellschaft herausbildet, die über die sozio-ökonomischen Probleme im Ostseebereich Bescheid weiß. Die Früchte der Forschungsprojekte müssen der Bevölkerung und den Arbeitnehmern zugute kommen. Der künftige Bedarf im Ausbildungsbereich muss insbesondere mit Blick auf die Entwicklungen der Region in naher Zukunft antizipiert werden, die eine Folge der derzeitigen Ressourcenlage und der Erderwärmung sein werden.
3.3 In Abschnitt 2.2.2 der Mitteilung, in dem es um die interessierten Kreise geht, werden diese - abgesehen davon, dass besonderes Gewicht auf die Beteiligung von Wissenschaftlern gelegt wird – nicht näher bezeichnet. An dieser Stelle müsste auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft bei der Einrichtung der Konsultationsforen für die Akteure, einschließlich der wertvollen Rolle der europäischen Sozialpartner des EWSA sowie der mit BONUS-169 befassten europäischen Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog, eingegangen werden.
3.4 Die wichtige Rolle der europäischen Sozialpartner sollte im Governance-System des Programms BONUS-169 anerkannt werden.
3.5 Um die Rolle der Sozialpartner und der Partner der Zivilgesellschaft zu optimieren, wäre es sinnvoll, ihre Vertreter in haushaltsfinanzierten Schulungen auf die Arbeiten der Konsultationsforen vorzubereiten.
4. Zusätzliche Bemerkungen
4.1 Mit dem Programm sollen die Forschungstätigkeiten zur Umweltsanierung im Ostseebereich angeregt und international koordiniert werden.
4.2 Daraus folgt, dass dieses Forschungsprogramm unmittelbare Auswirkungen haben wird auf:
— |
die Wirtschafts- und Industriestruktur des Ostseeraums, |
— |
die sektoralen Entwicklungen (innerhalb eines Sektors und zwischen den Sektoren), |
— |
die Art der Arbeitsplätze und die erforderlichen Qualifikationen, wobei es wahrscheinlich letztendlich dazu kommen wird, dass manche Arbeitnehmer den Beruf wechseln müssen oder tiefgreifende Änderungen ihres Berufs erleben werden. |
4.3 Der EWSA unterbreitet die folgenden Vorschläge, mit denen zwei Ziele verfolgt werden:
— |
Im Programm BONUS-169 werden die sozialen Auswirkungen, die Folgen für die Berufe, die Entstehung eines neuen Qualifikationsbedarfs und der Wegfall derzeit erforderlicher Qualifikationen berücksichtigt und diese Auswirkungen soweit möglich antizipiert (Vorausplanung und Maßnahmen zur Umschulung einiger Bevölkerungskreise für neue Berufe). |
— |
Die Maßnahmen zur Förderung der positiven Auswirkungen und zur Abschwächung der negativen Auswirkungen werden in Abstimmung mit den Vertretern der Zivilgesellschaft entwickelt. |
4.4 Zur Erreichung der beiden oben genannten Ziele wird mit dem Vorschlag ein doppelgleisiger Ansatz verfolgt:
a. |
umfassende Einbeziehung der Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft; |
b. |
Durchführung der Folgenabschätzung nicht anhand des internen Folgenabschätzungssystems der Kommission, sondern entsprechend dem Modell der Nachhaltigkeitsprüfung (ggf. mit einigen Verbesserungen). |
4.4.1
— |
Einbeziehung der europäischen und nationalen Sozialpartner der „teilnehmenden Staaten“, wie weiter oben ausgeführt, in das Forum für die Sektorforschung; |
— |
konkretere Ausgestaltung der „Konsultationsmechanismen“ der Konsultationsforen für die interessierten Kreise. Eine einfache Internetverbindung und die regelmäßige Unterrichtung werden nicht ausreichen, denn:
|
4.4.2
— |
Vorschlag, dass mit der Folgenabschätzung die Folgen in Bezug auf die Nachhaltigkeit auch wirklich abgeschätzt und soziale, ökonomische und ökologische Aspekte einbezogen werden; |
— |
unbedingte Einbeziehung von Aspekten in Bezug auf die wirtschaftlichen und industriellen Anpassungen sowie auf Veränderungen im Beschäftigungsbereich; so könnte die Folgenabschätzung z. B. folgende Aspekte umfassen:
|
— |
Diese Aspekte sind wesentlich für die territoriale Planung in Bezug auf Arbeitsplätze und Qualifikationen (4) und dürfen nicht losgelöst von der Realität von Wissenschaftlern aufgestellt werden. |
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) KOM(2009) 610 endg., Ziffer 1.4.
(2) KOM(2002) 276 endg.
(3) ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 6.
(4) Die Planung in Bezug auf Arbeitsplätze und Qualifikationen ermöglicht eine bessere Prognose und Anpassung der Qualifikationen an die Arbeitsplätze, eine bessere Bewältigung der Auswirkungen des technologischen und wirtschaftlichen Wandels, eine bessere Verzahnung von Wettbewerbsfaktoren, Qualifizierungsstrukturen und Erweiterung von Qualifikationen der Arbeitnehmer, eine bessere Laufbahnplanung, eine Senkung der Risiken und Kosten in Verbindung mit den Ungleichgewichten sowie die bessere Auswahl und Planung der notwendigen Anpassungsmaßnahmen.
19.1.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 18/114 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland (2007-2010)“
KOM(2010) 12 endg. — 2010/0004 (COD)
2011/C 18/21
Hauptberichterstatter: Michael SMYTH
Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. bzw. 18. Februar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:
„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland (2007-2010)“
KOM(2010) 12 endg. - 2010/0004 (COD).
Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt am 16. Februar 2010 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.
Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 29. April) Michael SMYTH zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 103 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt zur Kenntnis, dass im Einklang mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3. September 2009 in der Rechtssache C-166/07 nun die Artikel 175 und 352 Absatz 1 des AEUV als Rechtsgrundlage für den „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland (2007-2010)“ gewählt wurden.
1.2 Der EWSA befürwortet den oben genannten Vorschlag.
2. Gründe und Empfehlungen
2.1 Der Internationale Fonds für Irland (im Folgenden IFI) wurde 1986 von der britischen und der irischen Regierung mit dem Ziel eingerichtet, „den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern sowie […] die Versöhnung zwischen Nationalisten und Unionisten in ganz Irland zu unterstützen“. Neben den USA, Kanada, Australien und Neuseeland ist die Europäische Union einer der wichtigsten Geber. In den letzten zwanzig Jahren wurden insgesamt Mittel in Höhe von 849 Mio. EUR bereitgestellt, mit denen über 5 700 Projekte in Nordirland und den Grenzbezirken der Republik Irland unterstützt werden konnten.
2.2 In seiner Initiativstellungnahme zum Thema „Die Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess“ (1) hat der EWSA die Bedeutung des IFI bereits hervorgehoben und befürwortet nun eine rasche Berichtigung der Rechtsgrundlage für die Finanzbeiträge der EU zum IFI für den Zeitraum 2007-2010 im Lichte des EuGH-Urteils in der Rechtssache C-166/07.
Brüssel, den 29. April 2010
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 100, Ziffer 6.4.8.