ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2009.317.ger

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 317

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

52. Jahrgang
23. Dezember 2009


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009

2009/C 317/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Integration von Verkehrspolitik und Raumplanung für einen nachhaltigeren Stadtverkehr

1

2009/C 317/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Glas- und Keramikindustrie unter besonderer Berücksichtigung des Energie- und Klimapakets der EU (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

7

2009/C 317/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Beziehungen EU/Bosnien und Herzegowina: die Rolle der Zivilgesellschaft (Sondierungsstellungnahme)

15

2009/C 317/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Straßenverkehrsbedingte Lärm- und Schadstoffbelastung — konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Stagnation in diesem Bereich (Initiativstellungnahme)

22

2009/C 317/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Zulieferer und nachgelagerte Märkte der Automobilindustrie (Initiativstellungnahme)

29

2009/C 317/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Städtische Ballungsräume und Jugendgewalt

37

2009/C 317/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Schutz gefährdeter Kinder vor auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten

43

2009/C 317/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Welche Zukunft hat der außerstädtische Raum in der Wissensgesellschaft? (Initiativstellungnahme)

49

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009

2009/C 317/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der VerbraucherKOM(2008) 614 endg. — 2008/0196 (COD)

54

2009/C 317/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zwecks Verhinderung des Eindringens von Arzneimitteln, die in Bezug auf ihre Eigenschaften, Herstellung oder Herkunft gefälscht sind, in die legale LieferketteKOM(2008) 668 endg. — 2008/0261 (COD)

62

2009/C 317/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen im Hinblick auf KleinstunternehmenKOM(2009) 83 endg./2 — 2009/0035 (COD)

67

2009/C 317/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Anpassung einiger Rechtsakte, für die das Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates in Bezug auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle. Anpassung an das Regelungsverfahren mit Kontrolle Fünfter TeilKOM(2009) 142 endg. — 2009/0048 (COD)

72

2009/C 317/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Halbzeitbewertung der Umsetzung des gemeinschaftlichen Aktionsplans zur Erhaltung der biologischen VielfaltKOM(2008) 864 endg.

75

2009/C 317/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie zur Internalisierung externer KostenKOM(2008) 435 endg./2

80

2009/C 317/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über den Nutzen der Telemedizin für Patienten, Gesundheitssysteme und die GesellschaftKOM(2008) 689 endg.

84

2009/C 317/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Passagierrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen BehördenKOM(2008) 816 endg. — 2008/0246 (COD)

89

2009/C 317/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen GüterverkehrKOM(2008) 852 endg. — 2008/0247 (COD)

94

2009/C 317/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen BehördenKOM(2008) 817 endg. — 2008/0237 (COD)

99

2009/C 317/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1321/2004 über die Verwaltungsorgane der europäischen SatellitennavigationsprogrammeKOM(2009) 139 endg. — 2009/0047 (COD)

103

2009/C 317/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in EuropaKOM(2008) 725 endg.

105

2009/C 317/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)KOM(2008) 815 endg. — 2008/0244 (COD)

110

2009/C 317/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD)

115

2009/C 317/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige MaßnahmenKOM(2009) 28 endg. — 2009/0007 (CNS) und zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der BesteuerungKOM(2009) 29 endg. — 2009/0004 (CNS)

120

2009/C 317/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Regionale Integration zur Förderung der Entwicklung in den AKP-StaatenKOM(2008) 604 endg.

126

2009/C 317/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über reinrassige Zuchtrinder (kodifizierte Fassung) KOM(2009) 235 endg. — 2006/0250 (CNS)

132

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009

23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/1


455. PLENARTAGUNG AM 15./16. JULI 2009

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Integration von Verkehrspolitik und Raumplanung für einen nachhaltigeren Stadtverkehr“

(Sondierungsstellungnahme)

(2009/C 317/01)

Berichterstatter: Frederic Adrian OSBORN

Mit Schreiben vom 3. November 2008 ersuchte die Europäische Kommission den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema:

Integration von Verkehrspolitik und Raumplanung für einen nachhaltigeren Stadtverkehr.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Frederic Adrian OSBORN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 114 Stimmen bei 1 Gegenstimme folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1.   Die Menschen sind auf Transport und Verkehr angewiesen, um zum Arbeitsplatz, zum Einkaufen, zur Schule und zu allen anderen Zielorten des modernen Alltags zu gelangen. Entwicklung und Instandhaltung aller Arten von Verkehrssystemen ist eine wichtige Aufgabe staatlichen Handelns. Transport und Verkehr wirken sich aber auch nachteilig aus, in Form von Umweltverschmutzung, Staus und Unfällen. Vorhandene oder nicht vorhandene Verkehrsverbindungen können ausschlaggebend für die Auflösung und Isolierung oder aber die Festigung von Gemeinschaften sein. Der Verkehr trägt außerdem in hohem Maße zum CO2-Ausstoß und der zunehmenden Bedrohung durch den Klimawandel bei.

1.2.   Es wird daher immer notwendiger, dass die Behörden auf allen Ebenen nachhaltigere Verkehrskonzepte entwerfen, die dem Mobilitätsbedarf gerecht werden und gleichzeitig die negativen Auswirkungen auf ein Minimum beschränken. Die Probleme sind in städtischen Gebieten am akutesten, und deshalb werden insbesondere dort nachhaltigere Verkehrsstrategien benötigt.

1.3.   Zwischen Verkehrsbewegungsmustern in Städten und der Flächenutzung besteht ein enger Zusammenhang. Voraussetzung für einen nachhaltigeren Verkehr sind demnach eine integrierte Flächennutzungsplanung und Verkehrsstrategie.

1.4.   Die Hauptverantwortung für die Entwicklung und Durchführung von integrierten Strategien liegt bei der lokalen und nationalen Ebene. In zahlreichen Städten und Staaten Europas konnten bereits Fortschritte im Hinblick auf Nachhaltigkeit in diesem Bereich erzielt werden. Das Erreichte ähnelt allerdings eher einem Flickwerk. Eine europäische Initiative ist angebracht und notwendig, um die Annahme und Durchführung von Strategien für eine nachhaltigere und integrierte Raum- bzw. Flächennutzungs- und Verkehrsplanung in allen europäischen Städten zu fördern und voranzutreiben.

1.5.   Diese Initiative sollte folgende wesentliche Elemente beinhalten:

Lancierung einer neuen Forschungsinitiative, um die wesentlichen Aspekte von bewährten Verfahrensweisen in diesem Bereich zu identifizieren

Entwicklung zuverlässiger Indikatoren zur Messung von Fortschritten bei der Verwirklichung eines nachhaltigen Verkehrs

Überprüfung nationaler und lokaler Praktiken, Rechtsvorschriften und Finanzierungsförderungen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf den Verkehr und den CO2-Ausstoß

Ausarbeitung einer neuen europäischen Rahmenregelung für nachhaltigen Stadtverkehr und nachhaltige Raumplanung bzw. Flächennutzung

Überprüfung der Bilanz anderer europäischer politischer Maßnahmen und Programme, um sicherzustellen, dass die europäische Politik insgesamt einem nachhaltigen Verkehr zuträglich ist

Entwicklung intelligenter Verkehrssystem (IVS).

2.   Allgemeine Überlegungen

2.1.   Moderne Gesellschaften sind stark auf Transport und Verkehr angewiesen. Die Menschen nutzen die Beförderung mit Verkehrsmitteln, um zum Arbeitsplatz, zum Einkaufen, zu Freizeitaktivitäten und im Prinzip überall hin zu gelangen. Unternehmen sind auf Transportmittel angewiesen, um ihre Güter und Dienstleistungen in der ganzen Welt zu produzieren und zu liefern.

2.2.   Durch den technischen Fortschritt im Verkehrsbereich haben sich in den letzten 200 Jahren die Wegstrecken, die bequem zu erschwinglichen Preisen zurückgelegt werden können, enorm verlängert, und die Auswahl der den Menschen zur Verfügung stehenden Güter, Dienstleistungen und Lebensweisen ist vielfältiger geworden. Auch die Art und Weise der Siedlungsentwicklung ist dadurch beeinflusst worden. Die Niederlassungen müssen nicht mehr dicht gedrängt um einen kleinen Siedlungskern herum gebaut werden, um alles zu Fuß erreichen zu können. Vielmehr ist aufgrund der Straßennetz- und Verkehrsanbindung eine geringere Besiedlungsdichte über große Flächen hinweg möglich.

2.3.   Diese Veränderungen haben viele Vorteile bewirkt. Gleichzeitig haben sie jedoch auch erhebliche Probleme verursacht. Die ständig wachsende Verkehrsnachfrage führt zu Verkehrsüberlastung und Verzögerungen. Mit der Ersetzung lokaler Einrichtungen durch weiter entfernte Einrichtungen löst sich der Zusammenhalt und das nachbarschaftliche Gefüge lokaler Gemeinschaften auf. Die meisten motorisierten Transportmittel verursachen Lärm und Verschmutzung sowie CO2-Emissionen - das anhaltende Wachstum der Verkehrsnachfrage ist eine Hauptursache für den Klimawandel.

2.4.   Viele Jahre lang erachteten die Regierungen die Ausweitung der Reisemöglichkeiten als öffentliches Gut. Das staatliche Handeln und öffentliche Investitionen im Verkehrsbereich waren darauf ausgerichtet, die Verkehrsnetze zu erweitern und allen zugänglich zu machen.

2.5.   Zahlreiche andere öffentliche Maßnahmen und Programme haben ebenfalls zur Steigerung der Nachfrage nach mehr und längeren Reisen und Fahrten beigetragen. Bei vielen neuen Wohnbauprojekten wird eine geringere Siedlungsdichte zu Grunde gelegt, die für eine Anbindung an den öffentlichen Verkehr ungeeignet ist und auf Individualverkehr setzt. Durch die Neuorganisation von Schulen, Krankenhäusern und anderen Leistungen der Daseinsvorsorge sind größere und gleichzeitig weiter entfernte Einrichtungen entstanden. Entsprechend sind Einkaufszentren auf die grüne Wiese verlagert worden.

2.6.   Allmählich setzt ein Umdenken ein. Die Menschen werden sich neben den Vorteilen auch der Nachteile des Verkehrswesens bewusst. Auch das staatliche Handeln folgt veränderten Leitlinien. Verkehrspolitik und –programme müssen nach wie vor sicherstellen, dass grundlegende Verkehrsbedürfnisse angemessen erfüllt werden. Indes wird immer mehr erkannt, das im Rahmen der Verkehrs-, Raumordnungs- und sonstigen Politiken Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die allgemeine Verkehrsnachfrage zu verringern bzw. einzudämmen und die Nutzung nachhaltigerer Verkehrsträger wie öffentliche Verkehrsmittel, zu Fuß gehen und Radfahren gegenüber dem motorisierten Individualverkehr zu fördern.

2.7.   Die wachsende Bedrohung durch den Klimawandel und Ölversorgungseinbrüche verschärft die Lage und macht konsequente Maßnahmen umso dringlicher, um die Verkehrsnachfrage einzudämmen bzw. auf nachhaltigere Verkehrsträger umzulenken. Dies könnte einschneidende Änderungen der städtischen Flächennutzungs- und Mobilitätskonzepte erfordern.

2.8.   Im Hinblick auf ein nachhaltiges Verkehrswesen und eine nachhaltige Flächennutzungsplanung kristallisieren sich vier neue politische Zielsetzungen heraus:

Die Menschen ermutigen, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, ihrer Bildungseinrichtungen oder ihrer Freizeitziele zu wohnen, bzw. dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze und Bildungseinrichtungen näher an Wohngebieten geschaffen werden, um die Verkehrsüberlastung, die Umweltverschmutzung und den Klimagasausstoß zu verringern und die Lebensfähigkeit der lokalen Gemeinschaften wieder herzustellen;

Die Verkehrsteilnehmer, die dazu in der Lage sind, ermutigen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, zu Fuß zu gehen und Rad zu fahren, anstatt mit dem Auto zu fahren.

Unternehmen zuraten, verstärkt auf lokale Ressourcen und Arbeitskräfte zurückzugreifen, um die Zahl der von ihnen verursachten Verkehrsbewegungen zu verringern;

Das Interesse an näher gelegenen Ferienreisezielen wecken, um die stetige Nachfrage nach Luftverkehr und die damit verbundene Umweltbeeinträchtigung zu verringern bzw. einzudämmen.

2.9.   Der stetig wachsenden Verkehrsnachfrage liegt eine ungeheure soziale und wirtschaftliche Dynamik zugrunde, und es ist kein Leichtes, diese aufzuhalten oder in andere Bahnen zu lenken. Die Erfahrung zeigt, dass dies nur im Zuge einer sinnvoll integrierten Politik möglich ist, bei der Synergien zwischen der Verkehrspolitik, Raum- bzw. Flächennutzungsplanung und anderen politischen Maßnahmen geschaffen und sie im Hinblick auf eine umfassende öffentliche und politische Unterstützung auf allen Ebenen auf offene, transparente und demokratische Weise weiterentwickelt werden. Bei der Entwicklung neuer Strategien und Konzepte müssen die Bedürfnisse der älteren Menschen, der Menschen mit Behinderungen und der einkommensschwachen Haushalte besonders berücksichtigt werden.

3.   Bausteine für eine koordinierte Verkehrs- und Raumplanung und eine nachhaltige Verkehrspolitik

3.1.   Flächennutzungsplanungs- und damit verbundene Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigeren städtischen Verkehrs beinhalten z.B.:

Förderung einer höheren Entwicklungsdichte;

Förderung der baulichen Verdichtung im Sinne der „Stadt der kurzen Wege“;

Förderung der Entwicklung bzw. der Ausdehnung kleinerer und mittelgroßer Städte anstelle der Weiterentwicklung bereits übergroßer Ballungsräume;

Begrenzung einer weiteren Zersiedelung der die Städte umgebenden Grünflächen und Schaffung von innerstädtischen Grünflächen und von Grüngürteln;

Bevorzugung kleinerer, lokal orientierter Einrichtungen (Läden, Schulen, Kirchen, Krankenhäuser, öffentliche Einrichtungen usw.) mit kleinen Einzugsbereichen gegenüber größeren dezentral gelegenen Einrichtungen mit über größere Entfernungen verteilten Einzugsbereichen;

Förderung von Nutzungsmischung anstatt einer funktionalen Trennung der Nutzungen, die nur mit Privatfahrzeugen oder öffentlichen Verkehrsmitteln überbrückt werden kann;

Ermutigung der Menschen, näher an ihrem Arbeitsplatz bzw. regelmäßigen Nutzungszielen zu wohnen;

Förderung von Tele-Arbeit usw. durch umfassende Nutzung des Internet;

Lenkung der Niederlassung großer (privater wie auch öffentlicher) Einrichtungen an Standorten mit guter öffentlicher Verkehrsanbindung und Begrenzung oder Verteuerung der Bereitstellung von Parkplätzen an den Standorten dieser Einrichtungen;

Anreize schaffen für Unternehmen, für ihre Tätigkeiten Standorte auszuwählen, die günstig für die Beschäftigten, Zulieferer und Verbraucher vor Ort gelegen sind und über eine gute öffentliche Verkehrsanbindung verfügen;

Anreize schaffen für Unternehmen, auf lokale Zulieferer und Arbeitskräfte zuzugreifen und lokale Märkte zu bedienen, den Fernabsatz zu meiden und die Folgen der Globalisierung zu mildern;

Einführung einer technisch begründeten Internalisierung externer Kosten.

3.2.   Verkehrspolitische Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigeren städtischen Verkehrs sind u.a.:

Förderung eines guten, umweltfreundlichen, zugänglichen und energieeffizienten öffentlichen Verkehrs;

Verlagerung von Investitionen in das Straßennetz in die Förderung des öffentlichen Verkehrs;

Förderung von ausschließlich öffentlichen Verkehrsmitteln vorbehaltenen Strecken oder Fahrstreifen;

Beschränkung von Parkraum und Parkdauer für Privatfahrzeuge in innerstädtischen Bereichen;

Förderung des Baus von Fußgängerzonen, Bürgersteigen, Fuß- und Fahrradwegen;

Förderung von Mobilitätsmanagement;

Sensibilisierung durch Verkehrsinformationen;

Förderung der Erhebung von Straßenbenutzungsgebühren;

Internalisierung aller der Gesellschaft durch die betreffenden Verkehrsträger - u.a. durch CO2-Ausstoß und sonstige Umweltverschmutzung - verursachten externen Kosten in die Kfz- und Kraftstoffsteuern;

Ermutigung der Behörden, sich in kompakt angelegten Gebäudevierteln niederzulassen, die Beamten zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf dem Arbeitsweg anzuhalten und Gleitzeitregelungen anzuwenden.

3.3.   Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Art Maßnahmen nicht scheibchenweise durchgeführt werden dürfen. Nur als Teil einer übergeordneten Strategie, die Raumplanungs- und Verkehrsziele miteinander verbindet und verschiedene Bereiche des öffentlichen Sektors und zahlreiche Akteure des privaten Sektors einbindet, haben sie Aussicht auf Erfolg und politische Akzeptanz.

3.4.   Beispielsweise sind Einschränkungen des Gebrauchs von Privatfahrzeugen in Städten wie Parkraumbeschränkung, Straßenbenutzungsgebühren oder Parkgebühren nur vertretbar und wirksam, wenn sich der öffentliche Verkehr als zufriedenstellende — also umweltfreundliche, sichere, regelmäßige, zuverlässige und erschwingliche — Alternative anbietet. Außerdem müssen die Bedürfnisse der älteren Menschen, der Menschen mit Behinderungen und der einkommensschwachen Haushalte besonders berücksichtigt werden.

3.5.   Auch die Förderung des Fahrradverkehrs erfordert verschiedene Maßnahmen wie die Ausweisung von Radwegen, die Bereitstellung von genügend öffentlichen und privaten Abstellplätzen, Anreize für die Verkehrsteilnehmer, die dazu in der Lage sind, Rad anstatt Auto zu fahren, Unterstützung der Arbeitgeber für Pendlerkosten und Entwicklung einer Radfahrkultur.

3.6.   Die Förderung lokaler Einkaufsmöglichkeiten und anderer Einrichtungen setzt ebenfalls eine angemessene Nutzungsplanung voraus, um Anreize für kleine lokale Einrichtungen zu schaffen und große, abgelegene, nur per Auto erreichbare Einrichtungen unattraktiv zu machen, sowie günstige steuerliche Bedingungen vor Ort und Programme für städtische Wiederbelebung, die die Attraktivität kleiner lokaler Einrichtungen sichtbar machen und die Entstehung städtischer Gemeinschaften unterstützen, die ihrerseits wiederum diesbezüglich als Katalysator wirken.

3.7.   Es wird kein Leichtes sein, die die Entwicklung der Städte und des Verkehrs über die vergangenen hundert Jahre beherrschenden Tendenzen aufzuhalten oder umzukehren. Maßnahmen wurden bisher zumeist auf lokaler Ebene ergriffen, als zögerliches Stückwerk. Konflikte zwischen verschiedenen Gremien und Verwaltungsebenen standen Fortschritten im Weg. Viele öffentliche und private Eigeninteressen müssen ausgeräumt werden.

3.8.   Die wachsende Bedrohung durch den Klimawandel und die fortgesetzte Zunahme des verkehrsbedingten Anteils der gesamteuropäischen Klimagasemissionen macht diese Probleme umso dringlicher. Wir können es uns nicht leisten, weiter in Untätigkeit zu verharren. Ein wesentlich rascherer Wandel hin zu einem nachhaltigeren Stadtverkehr und einer dauerhaft umweltverträglichen Flächennutzung tut Not.

4.   Aktionen auf lokaler und nationaler Ebene

4.1.   Die Schlüsselfunktion auf lokaler Ebene liegt bei den lokalen Planungsbehörden, die mit den lokalen Verkehrs- und Straßenbaubehörden und anderen öffentlichen Einrichtungen zusammenarbeiten müssen. Die Planungsbehörden müssen Flächenutzungspläne aufstellen, die die Siedlungsentwicklung und die Schaffung der notwendigen Verkehrsverbindungen so steuern, dass im Lauf der Zeit (durch die Entwicklung von IVS) immer nachhaltigere Verkehrsmuster entstehen. Die Verkehrsbehörden müssen in Ergänzung dieser planerischen Maßnahmen ihrerseits dafür sorgen, dass die öffentlichen Verkehrssysteme so regelmäßig, zuverlässig und erschwinglich sind, dass sie eine akzeptable Alternative zum motorisierten Individualverkehr bieten. Gemeinsam müssen integrierte Strategien für nachhaltige Verkehrsentwicklung und Flächennutzung entwickelt werden. Andere Behörden und Investoren müssen einbezogen werden und zur Auflage erhalten, Verkehrsbelange umfassend in ihren jeweiligen Planungen zu berücksichtigen.

4.2.   Die Entwicklung hin zu einem nachhaltigeren Stadtverkehr und einer nachhaltigeren Flächennutzung braucht selbstredend ihre Zeit. Ziel der integrierten Strategien muss es sein, dass jeder einzelne Schritt bei jeder Veränderung der Verkehrsnetze und bei jeder Expansion oder Sukzession von Nutzungen in die richtige Richtung führt. Verschiedene europäische Städte haben bereits entsprechende Fortschritte erzielt und umfangreiche innovative Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigeren Verkehrs ergriffen. Die meisten Städte jedoch üben sich aufgrund unzureichender Befugnisse und Finanzkraft, fehlenden politischen Willens und mangelnder Einsicht und Unterstützung seitens der Bürger in Zurückhaltung. Auch fühlen sie sich verpflichtet, um neue, nicht nachhaltige Entwicklungen zu konkurrieren. Ein neues Konzept der Zusammenarbeit tut Not, um die Entwicklung einer stärker polyzentrischen Form von kompakten und nachhaltigen Städten der Zukunft zu ermöglichen. Die im Vereinigten Königreich entstandene Energiewendeinitiative „Transition Town Movement“ ist unterstützenswert.

4.3.   Nationalen und regionalen Regierungen kommt eine wichtige Rolle dabei zu, einschlägige Maßnahmen auf lokaler Ebene zu fördern und zu ermöglichen. Womöglich müssen die nationalen Regierungen manche Lokalbehörden und Einrichtungen umstrukturieren oder deren Grenzen neu festlegen, um echt integrierte Strategien zu ermöglichen. Oder sie müssen die verschiedenen betroffenen lokalen Gremien und Regierungsbehörden zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit bei der Konzipierung integrierter Strategien veranlassen bzw. ermutigen. Ggf. müssen sie auch Anreize bieten, Fach- und Sachwissen bündeln und die Koordinierung der Politik auf allen Ebenen übernehmen.

4.4.   Die nationale Regierung ist im Allgemeinen dafür zuständig, den grundlegenden gesetzlichen Rahmen für die Raumplanung und für die Regelung neuer Entwicklungen festzulegen und den lokalen Behörden die Mittel an die Hand zu geben, mit denen sie sicherstellen können, dass diese Entwicklungen im Sinn einer integrierten Strategie verlaufen.

4.5.   Die nationale Regierung ist im Allgemeinen dafür zuständig, den grundlegenden finanziellen Rahmen für den Betrieb öffentlicher Verkehrsunternehmen vorzugeben und erforderlichenfalls Finanzierungsquellen für manch eine notwendige größere Investition zu finden. Sie regelt ferner den finanzpolitischen Rahmen sowie die Steuer-, Abgaben- und Subventionskonzepte, die einen maßgeblichen Einfluss auf individuelle und kollektive Entscheidungen über Flächennutzung, Entwicklung und Verkehr haben.

4.6.   Als wichtigste Aufgabe müssen die nationalen Regierungen die auf uns zukommenden Gefahren durch Klimawandel und Ressourcenerschöpfung und die Notwendigkeit dringender und tatkräftiger Maßnahmen zur Veränderung der Verkehrs- und Mobilitätsmuster ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Der EWSA ruft alle Regierungen in Europa auf, umfassende Strategien oder Rahmenregelungen für eine Integration der städtischen Flächennutzungs- und Verkehrsplanung zu entwickeln.

5.   Maßnahmen auf europäischer Ebene

5.1.   Im Mittelpunkt der europäischen Politik und Maßnahmen im Verkehrsbereich standen bislang der Auf- und Ausbau großer Verkehrsnetze, die die verschiedenen Regionen Europas miteinander verbinden. Die Entwicklung dieser Netze und insbesondere der Ausbau der großen Straßennetze ist im Wesentlichen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den Kohäsionsfonds finanziert worden. Der europäische Einfluss hat dadurch eher dazu beigetragen, die flächige Ausbreitung, Entflechtung und Ausdünnung zu unterstützen und die Entwicklung hin zu einem nachhaltigeren Stadtverkehr und einer nachhaltigeren Flächennutzung zu erschweren.

5.2.   In jüngerer Zeit hat die Kommission begonnen, für nachhaltigere Stadtverkehrskonzepte zu werben. In ihrem Grünbuch über den Stadtverkehr und dem in Verbindung damit erstellten technischen Bericht über eine nachhaltige städtische Nahverkehrsplanung nennt sie diesbezüglich zahlreiche wesentliche Aspekte. Die EU hat über die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds sowie die Europäische Investitionsbank Mittel bereitgestellt. Die EU hat den Austausch bewährter Verfahren gefördert und Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsvorhaben, beispielsweise im Rahmen des CIVITAS-Programms, in geringem Umfang finanziell unterstützt. Diese Maßnahmen sind sinnvoll, und es würde sich lohnen, sie fortzusetzen und auszuweiten. Sie sind aber in keiner Weise umwälzend.

5.3.   Die neuen Herausforderungen des Klimawandels und die überall dringend erforderlichen Maßnahmen zur Begrenzung der Klimagasemissionen lassen indes die zunehmende Notwendigkeit einer neuen gemeinsamen europäischen Anstrengung zu Tage treten. Nur eine umfangreiche europäische Initiative kann der Entwicklung hin zu besser koordinierten Verkehrs- und Raumplanungskonzepten der Zukunft die erforderliche Dynamik verleihen.

5.4.   Die Zuständigkeit der EU in diesem Bereich ist natürlich begrenzt, und gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sind auch weiterhin die lokale und nationale Ebene für die lokale Verkehrs- und Flächennutzungs- bzw. Raumplanung hauptverantwortlich. Dennoch ist der Ausschuss überzeugt, dass das europäische Handeln erheblich verstärkt werden und die Tätigkeiten auf lokaler und nationaler Ebene katalysieren und fördern kann, insbesondere in Anbetracht der europäischen Führungsrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Senkung der Kohlenstoffemissionen.

5.5.   Der Ausschuss unterstützt die jüngst vom Europäischen Parlament und vom Ausschuss der Regionen ausgesprochenen Empfehlungen zum Ausbau der europäischen Rolle in diesem Bereich. Der Ausschuss empfiehlt, dass die Kommission einen neuen Aktionsplan anhand von fünf Aktionslinien aufstellt:

5.6.   A. Lancierung einer umfangreichen neuen Forschungsanstrengung zur Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Flächennutzung und Verkehr im städtischen Bereich

Renommierte Forschungsvorhaben über die Wechselwirkungen zwischen städtischem Verkehr und Flächennutzungsplanung wurden über lange Zeit im vierten und fünften Forschungsrahmenprogramm der EU durchgeführt (wie beispielsweise in der Publikation Marshall and Banister, Hrsg.: Land Use and Transport: European Research: Towards Integrated Policies. London/ Amsterdam: Elseviers, 2007 dokumentiert). Diese Forschungstradition ist jedoch im sechsten und siebten FTE-Rahmenprogramm nicht fortgesetzt worden. Der Klimawandel und die mögliche künftige Energieverknappung sind neue Herausforderungen für die Stadtplanung und erfordern eine maßnahmenorientierte Forschung, um den Entscheidungsträgern verlässliche Informationen über die voraussichtlichen Auswirkungen möglicher integrierter Strategien zur Bewältigung der steigenden Energiekosten und zur Verwirklichung der Klimagasemissionsziele der EU zu geben. Daher müssen die Ergebnisse der früheren Studien im Lichte dieser womöglich grundlegend anderen Voraussetzungen überprüft und aktualisiert werden. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen muss insbesondere auf folgende Fragen dringend eingegangen werden:

Anpassung an den Klimawandel: Wie müssen und können Verkehrs- und Raumplanung ineinandergreifen, um die sich abzeichnenden Gefahren des Klimawandels wie Hochwasser, Erdrutsche, Sturmfluten, Hitzewellen usw. einzudämmen?

Eindämmung des Klimawandels: Wie können Verkehrs- und Raumplanung am besten zusammenwirken, um den Beitrag des Verkehrssektors zur Erreichung der Klimagasemissionsziele der EU und der Mitgliedstaaten bis 2020 und 2050 mit geringstmöglichen negativen Folgen für die Wirtschaft, die soziale Gerechtigkeit und die Lebensqualität sicherzustellen?

Zugang zu Grundversorgungsleistungen und gesellschaftliche Teilhabe: Wie können Verkehrs- und Raumplanung am besten zusammenwirken, um mit Blick auf Bevölkerungsalterung und -rückgang und hohe Energiepreise Mindeststandards für die Erreichbarkeit von Grundversorgungsleistungen (Gesundheit, Einzelhandel, Bildung) und die gesellschaftliche Teilhabe (unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und einkommensschwachen Haushalten) über öffentliche Verkehrsmittel zu gewährleisten?

5.7.   B. Entwicklung einvernehmlich vereinbarter Indikatoren, aus denen hervorgeht, welche Fortschritte ein städtisches Gebiet in Hinblick auf nachhaltigen Verkehr gemacht hat.

Zu diesen Indikatoren könnte beispielsweise der Vergleich zwischen allen Ortsveränderungen mit nachhaltigen Fortbewegungsmitteln (Zufußgehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel) und denjenigen mit motorisiertem Individualverkehr gehören. Sie könnten auch Angaben über die Größe der Einzugsbereiche aller Einrichtungen (Schulen, Krankenhäuser, Behörden, Einkaufszentren) beinhalten und Möglichkeiten aufzeigen, wie durch die Förderung kleinerer lokaler Einrichtungen und die Aufrechterhaltung dezentraler öffentlicher Dienstleistungen die Einzugsbereiche und zurückzulegenden Wegstrecken verkleinert werden könnten.

5.8.   C. Einleitung einer europaweiten Überprüfung der gängigen Verfahrensweisen in den Bereichen städtischer Verkehr und Flächennutzung

Wesentliches Ziel sollte es sein, diejenigen institutionellen, legislativen und finanziellen Systeme auszuloten, die für den Wandel hin zum nachhaltigen Verkehr und zur nachhaltigen Flächennutzung bzw. Raumplanung am besten geeignet sind. Die Überprüfung könnte sich insbesondere auch auf einige der neueren und eher umstrittenen Konzepte erstrecken, wie beispielsweise

Mautsysteme und die Bepreisung oder Beschränkung von Parkraum in Stadtzentren;

Systeme für die Finanzierung der Entwicklung und des Betriebs zufriedenstellender öffentlicher Verkehrssysteme;

Planungsauflagen bei der Konstruktion von Einrichtungen mit großem Publikumsverkehr hinsichtlich der Sicherstellung einer angemessenen öffentlichen Verkehrsanbindung und der Parkraumbeschränkung für Privatfahrzeuge;

Auflagen für öffentliche und private Planungen im Hinblick auf die Berücksichtigung ihrer verkehrsmäßigen Auswirkungen und eventuell Anlastung des zusätzlichen Mobilitätsaufwands und der Emissionssteigerungen, mit denen die jeweilige Lokalgemeinschaft belastet wird, in Form von Steuern oder Abgaben, die die Entwickler und Betreiber großer Einrichtungen entrichten müssen;

5.9.   D. Ausarbeitung einer Rahmenrichtlinie über nachhaltigen Stadtverkehr und nachhaltige Flächennutzung

Eine solche Rahmenrichtlinie könnte folgende Punkte umfassen:

Leitlinien für die nationalen Strategien der Mitgliedstaaten für die Förderung eines nachhaltigen Stadtverkehrs und einer nachhaltigen Raumplanung. In jeder nationalen Strategie würden wiederum die lokalen Planungs-, Verkehrs- und Straßenbaubehörden (sowie andere einschlägige Behörden) veranlasst, gemeinsam Flächennutzungspläne und nachhaltige Verkehrspläne für jede Stadt und jede größere städtische Siedlung zu erstellen;

Leitlinien für bewährte Verfahren und Benchmarking bei der Entwicklung lokaler Strategien, einschl. Vorkehrungen für systematische und ausführliche Anhörungen der Öffentlichkeit und aller betroffenen Interessenträger, um die Öffentlichkeit für den notwendigen Wandel ausreichend zu sensibilisieren und einen möglichst breiten Konsens über die einzuschlagende Strategie zu erzielen;

Indikatoren für die Bemessung der Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit und zur Bewertung des Beitrags verschiedener Städte und Regionen zur Senkung der Kohlendioxid-Emissionen durch nachhaltigere Pläne;

Bestimmungen über eine europäische oder nationale finanzielle Unterstützung der Investitionen, die für die langfristige Umsetzung der Strategien erforderlich sind. Das CIVITAS-Programm, in dessen Rahmen einige ausgezeichnete Initiativen unterstützt worden sind, sollte ausgebaut werden.

5.10.   E. Überprüfung anderer europäischer Rechtsvorschriften und Ausgabenprogramme mit Auswirkungen auf Verkehr und Flächennutzung

Die meisten europäischen Ausgaben im Verkehrsbereich sind in den Ausbau der Straßen-, Schienen- und Luftverkehrsinfrastrukturen geflossen, wobei das Augenmerk vor allem dem wirtschaftlichen Wachstum und weniger ihren Auswirkungen in Bezug auf Kohlendioxid-Emissionen und Nachhaltigkeit galt. Es ist nun an der Zeit, den Schwerpunkt dieser Programme zu verlagern, systematisch die Kohlenstoffintensität der Investitionen zu bewerten und die Programme verstärkt auf die Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel, der Schienennetze und des nachhaltigen Stadtverkehrs und weniger auf die Weiterentwicklung des kohlenstoffemissionsträchtigen Fernverkehrs auszurichten.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Glas- und Keramikindustrie unter besonderer Berücksichtigung des Energie- und Klimapakets der EU“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes)

(2009/C 317/02)

Berichterstatter: Josef ZBOŘIL

Ko-Berichterstatter: Tomasz CHRUSZCZOW

In einem Schreiben vom 10. Dezember 2008 ersuchte der stellvertretende Ministerpräsident mit Zuständigkeit für europäische Angelegenheiten Marek Mora den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags im Namen des künftigen tschechischen Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Glas- und Keramikindustrie unter besonderer Berücksichtigung des Energie- und Klimapakets der EU.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 4. Juni 2009 an. Berichterstatter war Josef ZBOŘIL, Ko-Berichterstatter Tomasz CHRUSZCZOW.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die europäische Glas- und Keramikindustrie ist ein integraler Bestandteil des Wirtschaftsgefüges der Gemeinschaft und vielleicht eine der ältesten hiesigen Industrien, die auf eine fast 4 000-jährige Geschichte zurückblicken kann. Derzeit steht sie vor einigen Herausforderungen hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit, von denen viele in Zusammenhang mit der Globalisierung, zunehmenden Umweltschutzvorschriften und steigenden Energiekosten stehen.

1.2.   Beide Industriezweige sind energieintensiv. Beide verwenden einheimische Rohstoffe und ihre Erzeugnisse werden vor allem innerhalb der EU vermarktet, wobei die Teilsektoren Behälterglas und Geschirr jedoch über einen großen Exportmarkt verfügen: Geschirr wird in die ganze Welt exportiert, Glasverpackungen werden für einen Großteil der europäischen Exportgüter des oberen Marktsegments verwendet. Direkt haben beide Sektoren zusammen fast eine halbe Million Arbeitsplätze geschaffen, indirekt noch weitaus mehr, und zwar sowohl im Bereich der Rohstoffversorgung als auch in denjenigen Sektoren (vor allem im Baugewerbe), die ihre Erzeugnisse verwenden.

1.3.   Die Erzeugnisse sind in diesem Stadium der Entwicklung der Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung, außerdem stehen nicht viele wettbewerbsfähige Ersatzstoffe ohne Weiteres zur Verfügung. Beide Sektoren stehen im Wettbewerb mit Entwicklungsländern, die von den schwierigeren Rahmenbedingungen für Unternehmen in der EU profitiert haben.

1.4.   An der Erzeugung erneuerbarer Energie und den erzielten Energieeinsparungen gemessen können die für die Herstellung von Glaserzeugnissen erforderliche Energie und der dabei verursachte CO2-Ausstoß bei weitem wettgemacht werden. Die Nutzung von Glaserzeugnissen ist daher von grundlegender Bedeutung, um die EU-Umweltziele für Wohnbau, Verkehr und erneuerbare Energieträger während der gesamten Lebensdauer zu erreichen, die bis zu 20 Jahre oder mehr betragen kann. Bei der Entsorgung nach mehrmaliger Wiederverwertung wird kein CO2 mehr ausgestoßen.

1.5.   Der EWSA hält es für wichtig, die wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen, die Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Glas- und Keramikindustrie haben, und in der EU unternehmensfreundlichere Rahmenbedingungen zu schaffen, was auch in den Analysen für beide Sektoren empfohlen wurde (1). Den Besonderheiten beider Sektoren sollte Rechnung getragen werden; hierbei handelt es sich um die unterschiedlichen Anwendungen und Nutzungen sowie um die vielfältige Produktpalette, den Nutzen für die Umwelt, die jeweilige Energieintensität, den Konzentrationsgrad in den Sektoren und ihre regionale Dimension und den Anteil an KMU in beiden Sektoren.

1.6.   Erfahrene und engagierte Arbeitskräfte sind das Ergebnis der langen Tradition der Branchen und des Handwerks, der hochwertigen Aus- und Weiterbildung sowie des kulturellen und gesellschaftlichen Erbes in den jeweiligen Gebieten und Gemeinschaften; sie sind der wertvollste und durch nichts zu ersetzende Trumpf der Glas- und Keramikindustrie. Diese einfache Tatsache darf bei keiner Maßnahme vergessen werden. Leider wird der mögliche Einfluss bestimmter politischer Maßnahmen auf dieses kostbare kulturelle und historische Gut häufig unterschätzt, wenn nicht gar übersehen.

1.7.   Unabhängig vom derzeitigen Konjunkturabschwung muss die grundlegende Frage der Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit beider Sektoren angegangen werden, da sie nicht krisen-, sondern systemabhängig ist.

1.8.   Zunächst sollten diese Sektoren in ihrem Innovationsstreben unterstützt werden, da dies der Glas- und Keramikindustrie der EU dabei helfen wird, ihre Marktposition zu stärken, ihre Umweltverträglichkeit zu verbessern und natürlich auch dabei, eine größere Rolle im Rahmen der Bemühungen um die Eindämmung der Folgen des Klimawandels in der gesamten Gesellschaft zu spielen.

1.9.   Daher sollte vor dem Hintergrund der Umweltleistung der Sektoren und ihres zu erwartenden Beitrags zur Eindämmung des Klimawandels ihre Einbeziehung in das EU-ETS letztlich auf eine gerechte Art erfolgen - und zwar unter Berücksichtigung der Lebenszyklusanalysen der gesamten Sektoren und ihres Nutzens, der die mit ihren Tätigkeiten verbundene Umweltbelastung bei weitem überwiegt. Es sollten also alle Verarbeitungsindustrien für den gesamten Emissionshandelszeitraum bis 2020 von der Versteigerung der Zertifikate ausgenommen werden, wodurch erhebliche Investitionsunsicherheiten und -hindernisse aus dem Weg geräumt würden. Dies könnte die Wettbewerbsposition der betreffenden Sektoren stark verbessern.

1.10.   Die Auswirkungen des Energie- und Klimaschutzpakets der EU auf die Energiepreise in der Glas- und Keramikindustrie - wovon auch die vorgelagerten Lieferketten betroffen sind – sollten so weit wie möglich durch gut funktionierende Energiemärkte abgefedert werden. In dieser Hinsicht müssen der Wettbewerb auf den Energiemärkten und die Entwicklung eines EU-weiten Stromnetzes, das für langfristige Energieversorgungssicherheit sorgen wird, unbedingt gefördert werden.

1.11.   Bemühungen um mehr Recycling und die anschließende Wiederverwertung von recyceltem Glas - was wiederum zu einer besseren Umweltleistung aufgrund einer besseren Energieeffizienz und geringeren CO2-Emissionen führt - sollten umfassend unterstützt werden.

1.12.   Bestehende und ggf. auch neue Rechtsvorschriften mit dem Ziel der Beseitigung unlauterer Handelspraktiken, wie etwa die Fälschung bekannter Designs oder Marken, müssen durchgesetzt werden. Die Herkunftsbezeichnung könnte ebenfalls Teil der Lösung sein. Der EWSA begrüßt die Arbeit von Verbraucherorganisationen und betrachtet sie als natürliche Verbündete im Streben nach einer Produktion mit einer hohen Wertschöpfung. Die Unterstützung durch die Verbraucherorganisationen in der EU sowie in Drittstaaten ist nicht nur für die Verbraucher, sondern auch für Unternehmen, die hochwertige Erzeugnisse produzieren, von größtem Nutzen.

1.13.   Weitere politische Unterstützung und gemeinsame Maßnahmen der EU könnten in folgender Hinsicht hilfreich sein:

Beseitigung der Einfuhrhemmnisse auf Drittmärkten;

Verbesserung des Zugangs zu geeigneten Marktinformationen für KMU;

Ermöglichung des Zugangs zu öffentlichen Aufträgen auf aufstrebenden Märkten;

Beseitigung von Handelshemmnissen für Rohstoffe aus China;

Förderung eines geschlossenen Recyclingkreislaufs von Glasverpackung in der EU.

1.14.   Die hervorragende Umweltleistung vieler Glas- und Keramikprodukte (Isoliermaterial, Doppelglasfester usw.) sollte als Energiesparbenchmark für das Baugewerbe in der EU gefördert werden. Außerdem sollte diese Technologie in eventuelle Technologietransfers in Drittstaaten mit einem hohen Energiesparpotenzial aufgenommen werden. Beispielsweise besteht ein großes Potenzial in den postsowjetischen Staaten mit Blick auf mögliche künftige Änderungen in der Energiepolitik. Gemeinsame Projekte (wie etwa der CDM) können auch den EU-Herstellern dabei helfen, ihre CO2-Emissionen auszugleichen.

1.15.   Anreize der Regierungen der Mitgliedstaaten im Baugewerbe im Hinblick auf eine optimale Energieeffizienz von Gebäuden sind die beste Möglichkeit, um die Glasindustrie zu fördern und einen Beitrag zur Klimaschutzpolitik zu leisten.

1.16.   Der EWSA empfiehlt, dass die EU-Behörden das bislang ohne spürbare, jedoch dringend erforderliche Fortschritte vor sich hindümpelnde Konzept der besseren Rechtsetzung neu beleben sollten. Daneben sollte jeder neue Rechtsakt viel sorgfältiger geprüft, mit den beteiligten Akteuren erörtert und einer sehr viel rigoroseren Folgenabschätzung, die statt auf unbegründeten Annahmen auf realistischen Angaben basiert, unterzogen werden. Die Rahmenbedingungen für Unternehmen sollten erweitert und gelockert werden; jegliche weitere Einschränkung läuft dem Grundsatz der Nachhaltigkeit zuwider.

2.   Einleitung: Überlegungen zur Wettbewerbsfähigkeit

2.1.   In der vorliegenden Stellungnahme, die auf ein Ersuchen des tschechischen Ratsvorsitzes zurückgeht, wird die Wettbewerbsfähigkeit der Glas- und Keramikindustrie als Schlüsselbeispiele für energieintensive Industrien untersucht. Zudem wird bei dieser Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen des Energie- und Klimaschutzpakets der EU auch weiteren Faktoren Rechnung getragen, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Industrien im Allgemeinen und die Glas- und Keramikindustrie im Besonderen auswirken.

2.2.   Auf dieser Grundlage richtet der EWSA einige Empfehlungen an politische Entscheidungsträger, wie die Governance der Glas- und Keramikindustrie gestaltet sein müsste, damit ihre Wettbewerbsposition aufrechterhalten und ihr möglicher Nutzen im Rahmen der Klimaschutzpolitik der EU (siehe obigen Abschnitt) ausgeschöpft werden kann.

2.3.   Keramik und Glas sind ebenso wie z.B. Stahl, Aluminium und andere Nichteisenmetalle, Chemikalien, Zement, Kalk, Zellstoff und Papier Grundstoffe, deren Erzeugung und Umwandlung energieintensiv ist und die eine unabdingbare Basis für industrielle Wertschöpfungsketten darstellen (2).

2.4.   Faktoren, auf denen die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Industrien beruht:

2.4.1.   Erfahrene und engagierte Arbeitskräfte, die das Ergebnis der langen Tradition der Branchen und des Handwerks, der hochwertigen Aus- und Weiterbildung sowie des kulturellen und gesellschaftlichen Erbes in den jeweiligen Gebieten und Gemeinschaften sind. Solche Werte können gelegentlich nur sehr schwer an einen anderen Ort übertragen werden.

2.4.2.   Nachhaltige technologische Innovation und Produktinnovation. Dies ist notwendig, um einen effizienten Material- und Energieverbrauch, Qualität, Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit usw. zu erreichen.

2.4.3.   Verfügbarkeit von Ausgangsrohstoffen, vorzugsweise innerhalb der EU. Nichtsdestotrotz sind aus politisch sicheren Regionen zu vertretbaren Transportkosten eingeführte Rohstoffe auch sehr wünschenswert.

2.4.4.   Verfügbarkeit von Energie, einschließlich Primärenergie. Eine solche Verfügbarkeit kann nicht nur auf der Grundlage eines funktionierenden Energienetzes und der Energiepreise bewertet werden - auch die Sicherheit der Energieversorgung spielt eine entscheidende Rolle. Bei der Bewertung des energetischen Fußabdrucks muss die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet werden.

2.4.5.   Ein wettbewerbsfähiges Betriebsmanagement und eine sorgsame Investitionsfinanzierung. Einerseits stellen Rohstoffe und eine sichere Energieversorgung die größten Kostenfaktoren bei energieintensiven Industrien und einen ziemlich hohen prozentualen Anteil an den Gesamtkosten dar. Andererseits arbeiten diese Industrien meist mit sehr geringen Gewinnspannen und sind kapitalintensiv. All dies erfordert ein äußerst wettbewerbsfähiges Betriebsmanagement und eine sorgsame Investitionsfinanzierung.

Ökologische Nachhaltigkeit und ein an energie- und klimapolitische Ziele angepasster Regelungsrahmen. In der EU sind die diesbezüglichen Auflagen sehr strikt für solch energieintensive Grundindustrien, auch wenn sich die Umweltverträglichkeit energieintensiver Industrien in den vergangenen beiden Jahrzehnten erheblich verbessert hat und weitere allmähliche Verbesserungen als Ergebnis der Umsetzung der IPPC-Richtlinie zu erwarten sind.

2.4.6.1.   Besondere Aufmerksamkeit ist dem vor kurzem angenommenen Energie- und Klimaschutzpaket der EU  (3) zu widmen, das die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrien schwer beeinträchtigen würde, wie vom EWSA, der Europäischen Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament in ihren einschlägigen Dokumenten allgemein anerkannt wurde.

2.4.6.2.   Vor und nach Annahme des Pakets wurden in jüngster Zeit sowohl von den offiziellen Stellen als auch von den betroffenen Industrien zahlreiche Folgenabschätzungen vorgelegt. Sie zeigen eindeutig, dass energieintensive Industrien anfällig für das „carbon leakage“ - die Verlagerung von CO2-Emissionsquellen - sind und dass die Umsetzung des Pakets sorgsam geplant werden muss, um dem Konjunkturabschwung und dem Ergebnis der COP15-Verhandlungen im Dezember 2009 in Kopenhagen Rechnung zu tragen.

2.4.6.3.   In der Grundstoffindustrie, einschließlich des Glas- und Keramiksektors, werden hauptsächlich fossile Brennstoffe eingesetzt, weswegen sie von den Kosten für die verschiedenen Energiequellen auf vielfältige Weise beeinflusst wird. Neben fossilen Brennstoffen ist auch ein recht hoher Stromverbrauch zu verzeichnen.

2.4.6.4.   Bislang sind die finanziellen Folgen der Klimaschutzmaßnahmen einseitig verteilt: Sie beschränken sich auf die Mitgliedstaaten und Betriebe der EU, während Drittstaaten keine dem EU-ETS vergleichbaren Instrumente verpflichtend handhaben. Auch innerhalb der Gemeinschaft sind nur Elektrizitätskraftwerke und energieintensive Industrien von der Belastung betroffen.

2.4.6.5.   Die energieintensiven Industrien in Europa haben ihre positive Einstellung gegenüber der Klimaschutzpolitik bewiesen und können trotz einer Erhöhung des Produktionsvolumens eine absolute Verringerung der Treibhausgasemissionen um 6 % im Vergleich zum Stand von 1990 vorweisen. Dies zeigt eine echte Entkopplung von Emissionen und Wirtschaftswachstum. Andererseits war dieser Erfolg nicht umsonst zu haben, und die physikalischen Grenzen einzelner Technologien innerhalb dieser Sektoren sollten bei der Aufstellung weiterer Ziele und Mechanismen zur Emissionsverringerung ernsthaft berücksichtigt werden.

2.4.6.6.   Während der Stromerzeugungssektor die Kosten für Klimaschutzmaßnahmen direkt in die Energiepreispolitik einfließen lassen kann, steht diese Möglichkeit den energieintensiven Industrien nicht offen: Aufgrund der harten internationalen, außereuropäischen Konkurrenz können diese Sektoren weder von einer Kostenweitergabe noch von unerwarteten Gewinnen profitieren.

2.4.6.7.   Energieintensive Industrien treffen die Folgen des EU-ETS daher gleich zweimal: Erstens müssen sie indirekt die steigenden Strompreise bewältigen, zweitens müssen sie die direkten Kosten des EU-ETS tragen. Möglicherweise könnten die jüngsten Beschlüsse des Rates und des Europäischen Parlaments die erwartete Kostenbelastung im Zusammenhang mit der Versteigerung von Zertifikaten teilweise verringern, doch würde diese Kostenbelastung letztlich nur in den Zeitraum nach 2020 verschoben.

2.4.6.8.   Die energieintensiven Industrien haben einen tiefgreifenden technologischen Wandel vollzogen, um in den vergangenen 20 Jahren wettbewerbsfähig bleiben zu können; das Ergebnis ist die oben erwähnte absolute Verringerung um 6 %, die in einer Zeit erreicht wurde, in der die Emissionen des Stromsektors sogar anstiegen. Aus diesem Grund ist die Ansetzung desselben Vergleichsjahrs (2005) und derselben Reduzierungsziele für die Stromerzeugung und energieintensive Industrien eine weitere Verschärfung der ungünstigen Ausgangsbedingungen für die energieintensiven Industrien. Dies bedeutet, dass sie real bis 2005 auf der Kyoto-Grundlage von 1990 eine absolute Verringerung von 50 % erreicht haben und sie durch das neue Emissionshandelssystem zu einer weiteren Verringerung um 21 % im Vergleich zu den für 2005 gemeldeten Emissionen gezwungen würden. Derart in die Zange genommen, würden sie für ihre gute Leistung bestraft und gezwungen, entweder ihr Wirtschaftswachstum zu begrenzen oder ihre Tätigkeit sogar einzuschränken, was in letzter Konsequenz eine Verlagerung ihrer Betriebe aus dem EU-Wirtschaftsraum zur Folge hätte.

2.4.6.9.   Zweifellos kann eine solch einseitige Belastung zu Betriebsverlagerungen und somit auch zu der gefürchteten Verlagerung von CO2-Emissionen führen. Weder die aktuelle Konjunkturflaute und das damit einhergehende Aufsparen nicht genutzter Zertifikate aus dem aktuellen Handelszeitraum noch die Verschiebung der Versteigerung von Zertifikaten in die Zukunft können etwas an der Anfälligkeit der Branche ändern, wenn 2009 keine angemessene Post-Kyoto-Vereinbarung getroffen wird.

3.   Die Glas- und Keramikindustrie in der EU: wesentliche Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit

3.1.   Die Glasbranche  (4) besteht im Wesentlichen aus der Herstellung von Flachglas, Behälterglas, Glasgeschirr (Haushaltswaren aus Glas), Glasfaser und Spezialglas. 2007 produzierte die Glasbranche in der EU ca. 37 Mio. Tonnen (mt) verschiedener Glasarten mit einem Wert von ca. 39 Mrd. EUR, was 32 % der weltweiten Produktion entspricht. Die Wachstumsraten bei der Produktion in der EU sind seit 2000 recht gering. Volumenmäßig machte 2007 Behälterglas 58 % der Produktion aus, Flachglas 27 %. Glasgeschirr machte 4 % der Produktion aus, während Isolier- und Verstärkungsfasern 6 % bzw. 2 % ausmachten und Spezialglas für 3 % der Produktionsmenge der Branche in Tonnen stand.

3.2.   In Bezug auf die Standorte sind noch viele davon in der EU-15 angesiedelt, insbesondere in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und im Vereinigten Königreich, 2007 waren dies insgesamt 68 %. 15 % der Standorte lagen in den neuen EU-Mitgliedstaaten, während im Rest der EU-15 17 % angesiedelt waren. Deutschland ist insgesamt der größte Hersteller, während sich die Produktion in der EU-12 auf Polen und die Tschechische Republik konzentriert. Der Glassektor in Deutschland, der Tschechischen Republik und Polen ist durch seine lange dortige Tradition ein Teil des nationalen Erbes dieser Länder. Dekoratives Glas und hochwertiges Kristallglas werden auch als traditionelle kunsthandwerkliche Erzeugnisse angesehen.

3.3.   Die Beschäftigung in der Glasbranche in der EU verzeichnet seit 2000 generell einen Rückgang, der vor allem auf eine Kombination aus Produktivitätserfordernissen, zunehmender Automatisierung, einer Konsolidierung innerhalb des Sektors und Konkurrenz aus Niedriglohnländern zurückzuführen ist. 2007 waren in der Glasbranche in der EU 234 000 Menschen beschäftigt. Die EU-12 stand 2007 für ca. 40 % der Beschäftigung, was die Unterschiede zwischen der EU-12 und der EU-15 in Bezug auf die Kapital- und Arbeitsintensität illustriert. Die meisten Arbeitsplätze in der EU-12 sind in Polen und in der Tschechischen Republik angesiedelt, die zusammen ca. 71 % der Beschäftigung in der EU-12 ausmachen. 2007 lag die Arbeitsplatzproduktivität bei 160,5 Tonnen.

3.4.   Die Produktion im Glassektor ist im Fall der großen Teilsektoren (Flach-, Behälterglas) relativ konzentriert, während die Konzentration in anderen Teilsektoren (Haushaltswaren, Kristallglas) nicht sehr hoch ist. Diese sind daher größeren Risiken ausgesetzt (Markt, Finanzierung usw.), da kleineren Herstellern vor allem angesichts der aktuellen schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die finanziellen Mittel fehlen.

3.5.   Insgesamt wird der größte Teil der Produktion innerhalb der Gemeinschaft verkauft; 2007 waren dies 90,7 % der produzierten Menge. 3,496 mt wurden exportiert, was ca. 9,3 % der Gesamtproduktion entspricht. Haushalts- und Kristallwaren (25,4 %) und Spezialglas (38,6 %) machen einen Großteil der exportierten Gütermenge aus. Der Export wuchs 2007 um 5,3 %. Im Gegensatz hierzu verzeichnete der Import in diesem Zeitraum ein Jahreswachstum von 35,8 % und überstieg somit die exportierte Menge (3,601 mt im Jahr 2007). Der Durchschnittspreis für exportiertes Glas lag bei 1 780,1 €/Tonne, der somit erheblich höher liegt als der Durchschnittspreis von 1 159,5 €/Tonne für importiertes Glas. Die größten Importeure im Hinblick auf die Menge sind China und Taiwan. Zunehmende Mengen werden auch von Indien, der Türkei und Japan importiert. Chinesische Flachglasimporte sind seit 2004 um das Zehnfache angestiegen.

3.6.   Für die Glasbranche in der EU gestaltet sich der Zeitraum von 2007 bis 2009 aufgrund der Abschwächung der Konjunktur im Zuge der Kreditklemme und der sinkenden Nachfrage kritisch. Für das Baugewerbe sieht es besonders trübe aus, da das Vertrauen der Verbraucher und auch ihre Ausgaben zurückgehen und die Investitionsnachfrage gedämpft ist. Eine solche Entwicklung hat selbstverständlich auch erhebliche Folgen für die Glasindustrie: ca. 90 % der Glaserzeugnisse sind für die Industriezweige bestimmt, die Konsumgüter herstellen (Kfz-Industrie, Elektroindustrie, Chemieindustrie, Nahrungsmittelindustrie usw.), sowie für den Bausektor. Der Glassektor ist zu einem großen Teil von der Stabilität und der Entwicklung in den oben genannten Sektoren abhängig.

3.7.   Verschärft werden diese schwierigen Rahmenbedingungen durch die Ausweitung der Kapazitäten in Nachbarländern der EU. Zwischen 2004 und 2009 werden geschätzte zusätzliche Produktionskapazitäten in Höhe von 7,3 mt in verschiedenen Ländern, darunter Russland, Ukraine, Belarus, Katar, VAE und Ägypten, hinzukommen. Flach- und Behälterglas wird den größten Teil dieser Zunahme ausmachen. Angesichts einer solchen Ausweitung wird der Handel vermutlich weiter wachsen, was die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für die Glashersteller der EU durch die politischen Entscheidungsträger umso unerlässlicher macht.

3.8.   Die Glasbranche in der EU steht vor einigen Problemen hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit, von denen viele durch die Globalisierung, zunehmende Umweltschutzvorschriften und steigende Energiekosten hervorgerufen wurden. Die allmähliche Zunahme der Menge vergleichbarer Billigprodukte, die aus neu auf den Markt drängenden Ländern importiert werden, ist ein Zeichen dafür, dass der Wettbewerbsvorteil der EU-Glasbranche schrumpft, vor allem auf den Märkten für geringwertige Produkte.

Die Glasbranche muss Umweltschutzvorschriften bezüglich ihres Energieverbrauchs, ihrer CO2-Emissionen, der Vermeidung von Umweltverschmutzung und von Abfällen sowie weitere Umweltschutzvorschriften einhalten. Hersteller aus Drittstaaten, insbesondere aus Entwicklungsländern, müssen erheblich lascheren Umweltschutzvorschriften genügen, sind daher weniger Produktionsbeschränkungen ausgesetzt und haben geringere Produktionskosten. Daneben hat die EU-Glasbranche mit folgenden, mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit verbundenen Problemen zu kämpfen:

3.9.1.   Das Erfordernis der Kostensenkung auf den nachgelagerten Märkten. Der Kostendruck aufgrund der intensiveren weltweiten Konkurrenz für die europäischen Industrien, wie etwa Kfz-Herstellung, Unterhaltungselektronik, Luftfahrt und Einzelhandel, kann sich negativ auf die Glasbranche auswirken. Diese Industrien sind alle auf unterschiedliche Art direkt oder indirekt Kunden von EU-Glasherstellern; die Globalisierung wirkt sich daher auch auf das Nachfrageprofil der EU-Glasbranche aus.

3.9.2.   Weltweiter Überhang bei den Produktionskapazitäten in der Branche. Die europäische Glasbranche weist in mehreren ihrer Teilsektoren, darunter auch beim Flachglas, einen Kapazitätsüberhang auf. Dies kann negative Folgen für die europäische Glasbranche haben, da die Gewinnmargen schrumpfen; andererseits wäre es leichter, die Produktion nach Ende der Krise zum Erfüllen der Verbraucheranforderungen wieder hochzufahren.

3.9.3.   Druck auf die Energiepreise (und somit auch auf die Preise der Produktionsfaktoren). Weltweit beeinflusst die steigende Energienachfrage die langfristige Versorgung und die Kosten in der Glasbranche der EU. Für die Glasbranche ist dies eine ernsthafte Bedrohung, da sie eine der energieintensivsten Industrien ist und die Energiekosten einen hohen Anteil an den gesamten Produktionskosten haben. Es ist wichtig, auf den Dominoeffekt des Energie- und Klimaschutzpakets der EU aufmerksam zu machen: Von der Glas- und Keramikindustrie wird erwartet, dass sie den erwarteten Anstieg der Energiepreise in ihrem Betrieb auffängt. Dieser Anstieg beruht auf einer Kombination aus Faktoren, einschließlich des Emissionshandels, der Investitionen in Erzeugungskapazitäten und das Übertragungsnetz sowie des Erfordernisses, einen höheren Anteil an erneuerbaren Energien im Energiemix in der Stromerzeugung sicherzustellen. Zusätzlich könnten auch die Preise für Rohstoffe, wie etwa Sodaasche oder Quarzsand, parallel zum Trend bei den Energiepreisen ansteigen.

3.9.4.   Arbeitsschutzvorschriften. Einige Vorschriften bezüglich der Arbeitsbedingungen beeinflussen die Eingangsstoffe sowie die Art ihrer Lagerung, Handhabung und ihres Einsatzes in der Produktion. In vielen Ländern außerhalb der EU werden weniger strenge Vorschriften angelegt, wodurch auch die Produktionskosten geringer sind. Dennoch steht die EU-Industrie zu ihrer Verantwortung für Sorgsamkeit in diesem Bereich.

3.9.5.   Handelsbeschränkungen und Fälschungen könnten den Export in Drittmärkte behindern. Viele Exportmärkte verhängen Zölle auf Waren aus der EU. Hohe Zölle liegen beispielsweise auf EU-Produkten, die in den Vereinigten Staaten verkauft werden. Die Wettbewerbsfähigkeit vieler EU-Glashersteller hat durch die Fälschung von Designs aus der EU durch Firmen aus Drittländern gelitten. Von diesem ernsthaften Problem sind derzeit viele Hersteller betroffen, und wenn nicht adäquat und rigide hiergegen vorgegangen wird, wird es wohl auch weiter bestehen. Gleichzeitig profitieren designabhängige Branchen von Unterstützung in Form von Initiativen wie dem China IPR SME Helpdesk der Kommission, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenem Schulungsmaterial und Workshops sowie von im Bedarfsfall sofort verfügbarer individueller Beratung bei Problemen mit dem geistigen Eigentumsrecht.

3.10.   2006 produzierte und verkaufte die Keramikbranche in der EU  (5) verschiedene Keramikerzeugnisse im Wert von ca. 39 Mrd. EUR. Das Wachstum bei der Produktion ist in den vergangenen Jahren sehr bescheiden ausgefallen. Die beiden größten Teilsektoren sind Wand- und Bodenfliesen sowie Mauer- und Dachziegel. Zusammen mit den Steinzeugrohren bilden sie die Gruppe der keramischen Baustoffe, die insgesamt 60 % des Warenwerts der Keramikindustrie ausmachen. Feuerfeste keramische Werkstoffe und Waren, Geschirr und Ziergegenstände, Sanitärerzeugnisse und technische Keramik machen 13 %, 9 %, 10 % bzw. 5 % des Warenwerts aus. Die großen Herstellerregionen sind Deutschland, das Vereinigte Königreich, Spanien und Italien. Deutschland ist wie das Vereinigte Königreich als großer Hersteller in den meisten Teilsektoren tätig; Italien und Spanien sind wichtige Produktionszentren für keramische Fliesen, Mauer- und Dachziegel wie auch in geringerem Ausmaß für Sanitärerzeugnisse. Die Produktion in den neuen EU-Mitgliedstaaten ist am bedeutendsten in der Tschechischen Republik, Polen und Ungarn, wo der Keramikbereich überall stark vertreten ist und traditionell in andere EU-Staaten exportiert wird. Der Anteil der neuen Mitgliedstaaten an der Keramikbranche der EU ist jedoch relativ gering.

3.11.   Zwar sind die meisten Faktoren, die die Glasbranche auszeichnen und beeinflussen, auch für die Keramikbranche zutreffend, doch bleibt ein entscheidender Unterschied. Während die Konzentration im Glassektor recht hoch ist, gibt es im Keramiksektor nur wenige große konzentrierte und integrierte Produktionsanlagen.

3.12.   Die Beschäftigung im Keramiksektor der EU weist seit 2000 generell einen Abwärtstrend auf. Das Beschäftigungsniveau ist zurückgegangen, was vor allem auf eine Kombination aus Produktivitätserfordernissen angesichts der Konkurrenz aus Niedriglohnländern zurückzuführen ist. 2006 waren in der Keramikbranche der EU 330 000 Menschen beschäftigt, 2005 waren es noch 360 000. Die wichtigsten Arbeitgeber sind die Bereiche Wand- und Bodenfliesen sowie Mauer- und Dachziegel. 2006 standen sie gemeinsam für ca. 52 % der Beschäftigung im Keramiksektor, gefolgt von Geschirr und Ziergegenständen mit 22 %.

3.13.   Ca. 20-25 % der Keramikproduktion der EU (mehr als 30 % bei Wand- und Bodenfliesen) werden über die Grenzen der EU hinaus exportiert. Die Importdurchdringung variiert von 3 bis 8 % bei beispielsweise Boden- und Wandfliesen und feuerfesten keramischen Werkstoffen und Waren bis zu über 60 % bei Geschirr und Ziergegenständen. Die größten Exportmärkte für den Keramiksektor sind die USA, gefolgt von der Schweiz und Russland. In jüngster Zeit hat sich die Handelsbilanz verschlechtert, und zwar aufgrund der zunehmend auf die EU-Märkte drängenden Niedriglohnkonkurrenz aus China und der Türkei, aufgrund weiterhin bestehender Marktzugangsbeschränkungen auf Drittmärkten und aufgrund der allmählichen Aufwertung des Euro im Vergleich zu den meisten Währungen seit 2000. Daher sind der Handel und insbesondere die Terms of Trade für EU-Exporteure zu grundlegenden Themen für die Keramikbranche geworden.

3.14.   Die Keramikbranche in der EU steht vor einigen Problemen hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit, von denen viele durch die Globalisierung und zunehmende Umweltschutzvorschriften hervorgerufen wurden.

3.15.   Bei einigen Produktkategorien, vor allem beim Geschirr, schrumpft der auf Innovation und Design beruhende Wettbewerbsvorteil des EU-Keramiksektors immer weiter, als Ergebnis von Billigexporten aus aufstrebenden Volkswirtschaften in die EU und andere wichtige Märkte. Dennoch ist die EU immer noch ein wesentlicher Global Player, insbesondere bei der Herstellung von Wand- und Bodenfliesen.

3.16.   Der zweite wesentliche Faktor, der die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Keramiksektors beeinflusst, sind die zunehmenden Umweltschutzvorschriften und der Umweltschutz im Allgemeinen, insbesondere jedoch die Belastung, die durch das EU-ETS entsteht. Zwar machen die Energiekosten durchschnittlich 30 % der Produktionskosten in der Keramikindustrie aus, doch ist der CO2-Ausstoß pro Tonne gering. Zwar gehören mehr als 10 % aller Industrieanlagen, die unter das EU-ETS fallen, zur Keramikindustrie, doch liegt ihr Anteil bei weniger als 1 % der CO2-Industrieemissionen. Als Ergebnis der angenommenen Überarbeitung der EU-ETS-Richtlinie dürften 2013 ca. 1 800 Keramikindustrieanlagen unter das EU-ETS fallen. Diese Anlagen werden weniger als 1,5 % der unter das EU-ETS fallenden CO2-Industrieemissionen ausmachen. Es sollte betont werden, dass es sich bei Keramikindustrieanlagen meist um kleine Anlagen handelt, wobei 40 % der Anlagen weniger als 25 000 t CO2/Jahr und 70 % weniger als 50 000 t CO2/Jahr ausstoßen.

3.17.   Die Kostenstruktur energieintensiver Keramikhersteller wird durch steigende Preise für die Produktionsfaktoren beeinträchtigt - ein Kennzeichen einiger Teilsektoren des EU-Keramiksektors ist ihre hohe Abhängigkeit von neuen Rohstoffen, von denen ein zunehmender Anteil aus Drittländern importiert wird. Die Übersicht zeigt, wie die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit bei den Produktionsfaktoren, die in den Keramikherstellungsprozess einfließen, insbesondere auf den Energiemärkten, die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Keramikhersteller beeinträchtigt.

3.18.   Das wesentliche Problem für die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Keramiksektors liegt im starken Anstieg der Menge von Keramikimporten aus Drittländern, in denen weniger strenge Umweltschutzvorschriften gelten und wo die Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz lascher sind. Eine relativ hohe Dichte an EU-Rechtsvorschriften bedeutet, dass die Keramikhersteller in der EU weltweit gesehen nicht mehr über die gleichen Ausgangsbedingungen verfügen, was nicht nur Probleme bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit aufgeworfen hat, sondern auch diesbezüglich vielfältige Perspektiven eröffnet.

3.19.   In diesem Zusammenhang werden die Kostenstruktur in der Keramikindustrie (hohe Energie- und Arbeitskosten), die relativ geringe Rentabilität des Sektors und die zunehmende Konkurrenz sowohl in der EU als auch auf den Exportmärkten es für Keramikhersteller äußerst schwer machen, die mit den CO2-Zertifikaten verbundenen zusätzlichen Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Zudem werden in der Keramikherstellung für einen möglichst geringen Energieverbrauch in den Brennöfen bereits fortschrittliche Techniken und Verfahren eingesetzt, so dass größere Effizienzsteigerungen in der nahen Zukunft nicht zu erwarten sind.

3.20.   Der Keramiksektor braucht sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte, die über die für die Anwendung der Technik erforderlichen Instrumente und Fertigkeiten verfügen und unabhängig von ihrem eigenen Einsatzort bereichsübergreifend zusammenarbeiten müssen. Dies stellt sowohl KMU, die weltweit tätig werden möchten, als auch große Unternehmen, die in verschiedenen Ländern tätig sind, vor eine Herausforderung, wie der Teilsektor der Ziegelproduktion illustriert. Die Qualifikationsbasis kann durch eine Konzentration auf das lebenslange Lernen, durch die Steigerung der Attraktivität des Sektors und gezielte Schulungsprogramme verbessert werden.

4.   Wie kann die Glas- und Keramikindustrie zu Nachhaltigkeit in der EU und auch zur Agenda der Kopenhagener Konferenz beitragen?

4.1.   Die Vor- und Nachteile der Glas- und der Keramikindustrie sollten unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in ihrer Gesamtheit untersucht werden. Beide Industrien stützen sich auf einheimische Bodenschätze, deren Vorkommen an Menge ausreichen müsste, um im Wirtschaftsraum der EU und auch global noch lange bestehen zu können. Beide Sektoren haben ihre Umweltbilanz erheblich verbessert und weitestgehend in den Griff bekommen und stellen keine besondere Gefahr für die Gesundheit dar, weder am Arbeitsplatz noch für die Öffentlichkeit.

4.2.   Bahnbrechende Innovationen sollten derzeit weder bei den Glas- noch bei den Keramikherstellungsverfahren erwartet werden. Glas wird bei sehr hohen Temperaturen geschmolzen, Keramik bei sehr hohen Temperaturen gebrannt - dies setzt den möglichen Verringerungen, die in Bezug auf CO2-Emissionen erzielt werden können, physikalische Grenzen, an die diese beiden Sektoren rasch stoßen werden. Leider wurden diese Grenzen bei der Gestaltung des überarbeiteten EU-ETS nicht berücksichtigt, da sie nicht in die Reihe anderer energieintensiver Industrien mit inhärenten Emissionen aus ihren Fertigungstechniken aufgenommen wurden.

4.3.   Die in diesen Sektoren eingesetzten Techniken und Verfahren sind auch fortschrittlich in Bezug auf Energieverbrauch und Kohlenstoffintensität. Sie sind kein Problem für das Klima, sondern eher ein Bestandteil der Lösung des Klimaproblems. Der Glassektor beispielsweise:

trägt durch Energieeinsparungen aufgrund der Nutzung von Glas als Isolierstoff zur Verringerung der CO2-Emissionen bei,

trägt im Bereich erneuerbarer Energieträger zur Erzeugung von kohlenstofffreier Energie bei,

weist einen mit seinen Tätigkeiten verbundenen CO2-Ausstoß auf, der sehr viel geringer als seine positive Kohlenstoffbilanz ist, und

erzeugt auf verschiedene Arten gesellschaftlichen Nutzen, wie etwa die Konservierung von Arznei- und Lebensmitteln, was zur Nachhaltigkeit beiträgt.

4.4.   Glas zählt zu einer Werkstoffgruppe mit einer sehr hohen Recyclingquote. Das Fertigungsverfahren ist durch Recyclingkreisläufe gekennzeichnet. In gewisser Hinsicht ist die Glasherstellung eine abfallfreie Technologie. Zu einem erheblichen Teil wird vor allem bei der Herstellung von Behälterglas Recyclingglas als Grundstoff eingesetzt. Hinsichtlich des Lebenszyklus dieses Werkstoffs bestehen keine physikalischen Grenzen für seine Wiederverwertbarkeit. In ganz Europa wurden Recyclingsysteme eingerichtet, wodurch bei Behälterglas im Jahr 2007 eine Recyclingquote von 62 % erzielt werden konnte. Bemühungen um eine Erhöhung der Recyclingquote und die Nutzung von recyceltem Glas können die Umweltverträglichkeit auf drei Arten positiv beeinflussen: (1) Die Energieeffizienz kann gesteigert werden: eine Zunahme der Quote für die Nutzung von recyceltem Glas um 1 % verringert den Energieverbrauch um 0,25 %; (2) der CO2-Ausstoß kann verringert werden: eine Erhöhung der Quote für die Nutzung von recyceltem Glas um 1 % verringert den CO2-Ausstoß um 0,47 %; und (3) es können Rohstoffe gespart werden: durch die Verwendung von 1 Tonne recyceltem Glas für die Herstellung von neuem Glas werden 1,2 Tonnen neue Rohstoffe eingespart.

4.5.   Aus praktischer Sicht können Glaserzeugnisse zur Verringerung des Energieverbrauchs und somit auch zur Senkung des CO2-Ausstoßes beitragen, so etwa in Gebäuden, wenn Glasfasern zur Isolierung oder Verglasung mit geringer Wärmeabstrahlung eingesetzt werden. Durch die Wärmedämmung von Dächern und Wänden wären pro Jahr Einsparungen in Höhe von 460 mt möglich (das ist mehr als die gesamte Verpflichtung der EU im Rahmen des Kyoto-Protokolls). Wenn z.B. alle einfach/doppelt verglasten Fenster in der EU durch Doppel- oder Dreifachverglasung mit geringem U-Wert ersetzt würden, könnten so insgesamt pro Jahr Emissionen in Höhe von 97 Millionen Tonnen CO2 vermieden werden. Dies entspricht 21 mt Erdöl - was wiederum dem Jahresenergieverbrauch von Gebäuden für 19 Millionen Bewohner entspricht. Glasfaserverstärkte Kunststoffe in Windturbinen und in der Automobilindustrie verwendete Glasmaterialien, (die z.B. zur Verringerung des Energieverbrauchs aufgrund eines niedrigeren Klimatisierungsbedarfs eingesetzt werden), sind weitere Anwendungen, die zu einer Verringerung des CO2-Ausstoßes führen.

4.6.   Prognosen zufolgen werden sich Solartechnologien in den kommenden zehn Jahren enorm verbreiten. Glas spielt derzeit in transparenten Materialien für Fotovoltaiksysteme und Systeme zur Bündelung der Direktstrahlung (CSP) einschl. Düsen-Kamin-Windkraftwerke, Erzeugung von Biokraftstoffen mittels Solartechnologie, solare Fotokatalyse sowie solare Wasserreinigung und -entsalzung, eine wichtige Rolle. Diese Anwendungen ermöglichen die rasche Amortisierung der Treibhausgasemissionen und sind mit den Grundsätzen der nachhaltigen Energie vereinbar. Die einzelnen Untersektoren sind für die Förderung und Entwicklung dieser Anwendungen von grundlegender Bedeutung. In wissenschaftlicher wie auch erzeugungstechnischer Hinsicht ist es daher unabdingbar, dass sie auch weiterhin in der EU angesiedelt sind.

4.7.   Die Treibhausgasemissionen belaufen sich auf 20 mt im gesamten Glassektor und auf 27 mt pro Jahr im Keramiksektor. In beiden Sektoren ist das Potenzial für Verringerungen sehr begrenzt. Das bedeutet, dass die Aufnahme der Glas- und Keramikindustrie in das EU-ETS weder physikalisch noch wirtschaftlich besonders sinnvoll ist. Zudem werden hierdurch auch potenzielle Einsparungen beim Treibhausgasausstoß gefährdet. Ähnliche Annahmen gelten für fast jede grundlegende, energieintensive Industrie; eine übermäßige finanzielle Belastung sollte im Hinblick auf Beschlüsse über die Verlagerung von CO2-Emissionen und die Zuteilung von Zertifikaten für die dritte Handelsperiode auf der Grundlage von Benchmarks vermieden werden. Es gilt, differenzierte Benchmarks festzulegen, in denen den Unterschieden zwischen den einzelnen Sektoren und Untersektoren Rechnung getragen wird. Dabei sollten die unterschiedlichen Herstellungsverfahren, der Energieverbrauch und das physische Potenzial von Anlagen zur Emissionsverringerung berücksichtigt werden.

4.8.   Aufgrund des geringen Konzentrationsgrads, der großen Produktvielfalt und der geringen Qualität der öffentlich verfügbaren Statistiken wird es sehr schwer werden, das EU-ETS in der Keramikindustrie gerecht umzusetzen. Bezüglich der Einschätzung, ob die Keramikindustrie für eine mögliche Verlagerung von CO2-Emissionen anfällig ist, kann das Problem der Verfügbarkeit von Daten und deren Kohärenz nur gelöst werden, indem die relevanten Daten auf dreistelliger Ebene aggregiert werden (NACE rev. 2-2008). Auf einer solchen Aggregationsebene kann das Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen für drei Teilsektoren des Keramiksektors aufgezeigt werden, nämlich für feuerfeste keramische Werkstoffe und Waren (NACE 23.2), keramische Baumaterialien (NACE 23.3) und sonstige Porzellan- und keramische Erzeugnisse (NACE 23.4).

4.9.   Das Potenzial der Keramikbranche hinsichtlich der Einsparung von Treibhausgasemissionen ist zwar nicht so hoch wie bei der Glasbranche, doch sollten die Wärmedämmungseigenschaften moderner Bauziegel und Fliesen sowie von Mineralfasern erwähnt werden. Dennoch ist die Keramikbranche ein gutes Beispiel für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch, und zwar dank ihrer Produkteigenschaften, wie etwa Langlebigkeit und Hygiene, sowie aufgrund ästhetischer Werte. Die meisten Keramikerzeugnisse haben eine potenziell lange Lebensdauer, und viele von ihnen benötigen keine weitere Instandhaltung oder Pflege.

4.10.   Ein Teilsektor des Keramiksektors ist besonders wichtig: die Herstellung von feuerfesten keramischen Werkstoffen und Waren. Diese Werkstoffe sind für viele Wirtschaftszweige, in denen mit hohen Temperaturen gearbeitet wird, von grundlegender Bedeutung, so etwa Eisen und Stahl, Kalk und Zement. Ohne hochleistungsfähige feuerfeste keramische Werkstoffe, die den Einsatz der effizientesten Technologien in diesen Bereichen unterstützen und ermöglichen, gäbe es diese Stoffe nicht.

4.11.   Zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ganz allgemein sowie der Energieeffizienz und der Umweltleistung im Besonderen ist umfangreiche und wirksame Forschungs- und Entwicklungsarbeit absolut unerlässlich. Dies gilt für alle Sektoren der Glas- und Keramikindustrie, insbesondere jedoch für den Untersektor „Spezialglas“, in dem in der Regel der höchste Anteil der Einnahmen für Innovation bereitgestellt wird, da die Erzeugnisse sich rasch weiterentwickeln. Auch wenn dieser Sektor in Sachen Produktionsvolumen und Beschäftigung nicht zu den wichtigsten Untersektoren zählt, so ist es doch von grundlegender Bedeutung, dass er weiterhin in der EU angesiedelt ist.

4.12.   Auf kurze Sicht üben die strengen Auflagen im Umweltschutz- und Energiebereich wie auch das Fehlen international einheitlicher Ausgangsbedingungen enormen Druck auf die KMU in der EU aus und hemmen die private Finanzierung innovativer Investitionen und von FuE. Jedoch bieten Umweltschutzauflagen auch einen Anreiz für Investitionen in FuE, um so die Energieeffizienz zu steigern und die Abhängigkeit von herkömmlichen Energiequellen zu begrenzen. Auf diese Weise kann der Anteil der Energiekosten an den gesamten Produktionskosten zurückgehen. Hierbei handelt es sich jedoch um langfristige Effekte, die umfangreiches unternehmerisches Handeln und auch die Bereitschaft zur Übernahme eines großen unternehmerischen Risikos erfordern.

4.13.   Bislang haben Auflagen und strengere Normen der jüngeren Zeit zu mehr Innovationen bei der Energieeffizienz sowie zur Optimierung von Produkten in Bezug auf ihre Umweltverträglichkeit und mit Blick auf Sicherheit und Gesundheit geführt. Auch werden neue Recyclingverfahren entwickelt. Dennoch sind weiteren Fortschritten beim Recycling von keramischen Erzeugnissen durch die Beschaffenheit dieser Erzeugnisse gewisse Grenzen gesetzt.

4.14.   Durch weitere Forschungsbemühungen können keramische Erzeugnisse noch attraktiver als umweltfreundliche Alternative werden. Ein Beispiel für neuere Produkte sind Lehmziegel mit einer besseren Wärmeisolierung, deren Produktion energieintensiv ist und die - als Baumaterial verwendet - zu Energieeinsparungen beitragen können. Ein weiteres Beispiel wäre die Verwendung von keramischen Erzeugnissen in Fahrzeugen. Hier könnten sie als Grundlagentechnologie für viele wesentliche Bestandteile der Motoren der Zukunft eingesetzt werden, und dies aufgrund ihrer einzigartigen Hitzebeständigkeit, Verschleißfestigkeit und Korrosionsbeständigkeit, aufgrund ihres geringen Gewichts und ihrer elektrischen und wärmedämmenden Eigenschaften. Bei Autos der Zukunft könnten keramische Erzeugnisse integraler Bestandteil ihrer Motoren und von verschleißfesten Anwendungen in Kraftstoffzufuhrsystemen sowie zusätzlichen Bauteilen in Ventiltrieben sein, wie etwa Ventile und Ventilsitze. In den Autos der Zukunft könnten keramische Brennstoffzellen für einen nahezu emissionsfreien Betrieb eingesetzt werden.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Fußnoten 4 und 5.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Auswirkungen der aktuellen Entwicklung auf den Energiemärkten auf die industriellen Wertschöpfungsketten in Europa“, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 88-95.

(3)  Siehe Pressemitteilung der Kommission IP/08/1998 auf: http://europa.eu/rapid/.

(4)  FWC Sector Competitiveness Studies - Competitiveness of the Glass Sector, Oktober 2008.

(5)  FWC Sector Competitiveness Studies - Competitiveness of the Ceramics Sector, Oktober 2008. Eurostat, 2006.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beziehungen EU/Bosnien und Herzegowina: die Rolle der Zivilgesellschaft“

(Sondierungsstellungnahme)

(2009/C 317/03)

Berichterstatter: Patrik ZOLTVÁNY

Mit Schreiben vom 2. September 2008 ersuchten die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Margot WALLSTRÖM und das für Erweiterung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission Olli REHN den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 9 des Protokolls über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und dem EWSA um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema

Beziehungen EU/Bosnien und Herzegowina: die Rolle der Zivilgesellschaft.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 23. Juni 2009 an. Berichterstatter war Patrik ZOLTVÁNY.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 147 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Wichtigste in der Stellungnahme ausgesprochene Empfehlungen

1.1.   Empfehlungen an die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union

Unterstützung der Regierung von Bosnien und Herzegowina bei der Erarbeitung einer Strategie zur Entwicklung der Zivilgesellschaft (1);

verstärkte Unterstützung, auch in finanzieller Hinsicht, der Organisationen der Zivilgesellschaft in Bosnien und Herzegowina, um ihre Unabhängigkeit von der Regierung und die Nachhaltigkeit ihrer Projekte sicherzustellen;

angemessenere und effizientere finanzielle Förderung mit kürzeren Verfahren zur Bearbeitung und Entscheidung über die Förderanträge. Dies gilt auch für die neue von der Europäischen Kommission eingerichtete Finanzfazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft und des zivilgesellschaftlichen Dialogs. Die Förderung sollte einem breiten Spektrum von interessierten Organisationen zur Verfügung stehen und flexibel an ihre Bedürfnisse angepasst werden;

Beschleunigung der Verhandlungen über die Visumfreiheit und aktive Unterstützung bei der Einhaltung technischer und weiterer Auflagen;

Unterscheidung zwischen NGO und Sozialpartnern im Hinblick auf die Erarbeitung und Verabschiedung von Förderstrategien;

Unterstützung von Programmen zum Aufbau von Kapazitäten bei den Sozialpartnern, um deren Fähigkeit zu einem wirksamen sozialen Dialog zu verbessern;

Unterstützung des sozialen und zivilen Dialogs in Bosnien und Herzegowina;

Übernahme einer Mittlerrolle bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung;

Konsequente Umsetzung der ratifizierten internationalen Instrumente und der Verfassung Bosniens und Herzegowinas sowie Schaffung einer eigenen Rechtsgrundlage zur Registrierung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, damit diese effizient arbeiten können;

systematische Unterstützung für Projekte der Organisationen der Zivilgesellschaft, mit denen die Idee der europäischen Integration in der gesamten Gesellschaft gefördert wird. Eine systematische Debatte zu den Themen rund um die europäische Integration sollte alle gesellschaftlichen Kräfte umfassen, darunter auch die Zivilgesellschaft;

Unterstützung von Vorhaben zum Transfer von Wissen und Erfahrungen von den EU-Mitgliedstaaten nach Bosnien und Herzegowina. Der Beitrag der „neuen“ Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas könnte hier besonders nützlich sein. Die Bedeutung von Partnerschaftsprojekten sollte von den EU-Institutionen stärker anerkannt und unterstützt werden. Durch die neu eingerichtete Fazilität zur Förderung der Entwicklung der Zivilgesellschaft und des zivilgesellschaftlichen Dialogs könnten derartige Aktivitäten unterstützt werden;

Möglichkeit für die Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Bosnien und Herzegowina, die EU-Institutionen zu besuchen und kostenfrei an Konferenzen und Veranstaltungen der EU teilzunehmen;

Stärkung der Unterstützung regionaler Netze der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Westbalkan und Konzipierung regionaler Programme;

Aufrechterhaltung eines systematischen Dialogs mit anderen Gebern, um die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bosnien und Herzegowina und den Ländern des westlichen Balkans insgesamt gezielt, effizient, wirksam und rechtzeitig zu unterstützen;

regelmäßige Sitzungen mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen, um auf ihre Erwartungen und Bedürfnisse flexibler zu reagieren.

1.2.   Anregungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Einrichtung eines Gemischten Beratenden Ausschusses (GBA) aus Mitgliedern des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und der Organisationen der Zivilgesellschaft von Bosnien und Herzegowina, um den zivilen Dialog in Bosnien und Herzegowina zu fördern;

aktive Teilnahme an dem neuen Programm der Europäischen Kommission (GD Erweiterung) für den zivilgesellschaftlichen Dialog („people-to-people dialogue“). Der Ausschuss könnte Studienbesuche in der EU (insbesondere in Brüssel) für Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Bosnien und Herzegowina vorbereiten und durchführen;

Schaffung von Möglichkeiten für die Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Bosnien und Herzegowina, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zu besuchen und sich mit seiner Tätigkeit vertraut zu machen.

1.3.   Empfehlungen an die politischen Instanzen von Bosnien und Herzegowina

Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen, die die Entwicklung der Zivilgesellschaft und somit auch der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften fördern;

Entwicklung einer Strategie für den Aufbau der Zivilgesellschaft als Grundlage für eine lebensfähige zivilgesellschaftliche Struktur, die Voraussetzung für die demokratische Reife einer Gesellschaft ist. Die Strategie sollte in enger Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft erarbeitet werden;

Pflege eines systematischen Dialogs über zivilgesellschaftliche Themen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Haltung der Regierung gegenüber der Zivilgesellschaft sollte integrativer gestaltet werden;

Schaffung von Anreizen, auch finanzieller Art, für die Zivilgesellschaft, um ihre Entwicklung und die Nachhaltigkeit ihrer Tätigkeiten zu fördern. Ein transparenter Plan zur finanziellen Förderung, durch den Organisationen der Zivilgesellschaft Zuschüsse aus dem Staatshaushalt beantragen können, sollte entwickelt werden;

Intensivierung des Dialogs und der Zusammenarbeit, um die Anerkennung der Organisationen der Zivilgesellschaft zu gewährleisten;

Lösung der Probleme in Bezug auf die Registrierung des Gewerkschaftsbundes von Bosnien und Herzegowina (KSBiH);

Förderung der Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates auf gesamtstaatlicher Ebene parallel zu den Fortschritten bei der Errichtung gesamtstaatlicher Regierungsbehörden mit Zuständigkeit für die Wirtschafts- und Sozialpolitik;

Beschleunigte Durchführung von Maßnahmen zur Einhaltung der Auflagen für die Gewährung der Visumfreiheit;

Einbeziehung der Staatsbürgerkunde in das Tätigkeitsfeld der Zivilgesellschaft.

1.4.   Empfehlungen an die Organisationen der Zivilgesellschaft in Bosnien und Herzegowina

Förderung eines „Bottom-up“-Ansatzes und der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft, um die Anerkennung ihrer Organisationen in der Gesellschaft zu stärken;

Sensibilisierung für die Rolle der Zivilgesellschaft in der politischen Entscheidungsfindung;

Erleichterung von Vernetzung und Zusammenarbeit, z.B. durch Informations-, Wissen- und Erfahrungsaustausch;

Ausbau von Wissen und Verständnis in Bezug auf die EU-Integration, die EU-Politik und die EU-Institutionen;

Verbesserung von Aus- und Weiterbildung in den zivilgesellschaftlichen Organisationen;

Förderung des interethnischen und interreligiösen Dialogs und Intensivierung von Zusammenarbeit, Vernetzung und Partnerschaften zwischen diesen Organisationen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.   Die Ziele der Europäischen Union im Westbalkan

Der Westbalkan zählt zu den wichtigsten außenpolitischen Schwerpunktgebieten der Europäischen Union. Das Hauptanliegen der EU in dieser Region ist die Verbesserung von Stabilität und Wohlstand. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Vorbereitung der Westbalkanländer auf die EU-Mitgliedschaft, für die spezifische Heranführungsinstrumente eingesetzt werden.

Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP) wurde ins Leben gerufen, um die Länder der Region auf ihrem Weg in die EU unterstützend zu begleiten; er umfasst den politischen Dialog, erhebliche Handelsvergünstigungen und Finanzhilfen sowie den Aufbau einer umfassenden Vertragspartnerschaft, um den Ländern der Region bei der Vorbereitung ihres künftigen EU-Beitritts zu helfen. Zu den Zielen des SAP zählen der Auf- und Ausbau der Zivilgesellschaft und die Demokratisierung, die zur politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Stabilisierung der Region beitragen sollen. Die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) gilt als ein Meilenstein auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft.

2.2.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Westbalkan

Der Ausschuss trägt erheblich zur Förderung des Entstehens einer Zivilgesellschaft im Westbalkan bei. Im Jahr 2004 hat er eine Kontaktgruppe „Westbalkan“ eingesetzt, die sich als einziges ständiges und gesondertes Gremium speziell mit dieser Region befasst. Diese Kontaktgruppe gehört zu den zahlreichen weiteren EU-Gremien, die sich mit dieser Region beschäftigen, und richtet ihre Anstrengungen auf den zusätzlichen Nutzen aus, den sie zu den allgemeinen Arbeiten der EU zu diesem Thema beisteuern kann.

Hauptziele des Ausschusses im Westbalkan sind die Beobachtung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in den Ländern dieser Region sowie in den Beziehungen der EU zu diesen, insbesondere die Umsetzung des in Thessaloniki vereinbarten Fahrplans und die Entwicklung des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses, die Förderung der Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft und den Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen vor Ort sowie die Förderung und Optimierung des Austausches bewährter Verfahren zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU und im Westbalkanraum.

3.   Politische Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina

3.1.   Die gegenwärtige politische Lage

Der politische Prozess in Bosnien und Herzegowina wird nach wie vor durch die Folgen des Krieges und die Auswirkungen des Dayton-Friedensabkommens beeinflusst, mit dem die unabhängige Republik Bosnien und Herzegowina in ihrer derzeitigen Form errichtet wurde. Konkurrierende politische Kräfte sind darauf bedacht, die durch dieses Abkommen verankerte verfassungsrechtliche Struktur zu ihrem Vorteil zu nutzen, gleichzeitig aber auch die daraus entstehenden Zwänge zu überwinden. Sowohl in der internationalen Gemeinschaft als auch in Bosnien und Herzegowina selbst setzt sich immer stärker die Ansicht durch, dass die Regierung und Verwaltung im Land gestrafft und modernisiert werden muss, auch wenn die politischen Führungskräfte in den Entitäten diesen Prozess, dessen Fortschritte großteils auf internationalen Bemühungen beruhen, nur in ungleichem Maße befürworten.

Die wichtigste politische Herausforderung für Bosnien und Herzegowina in den kommenden Jahren ist eine Verfassungsreform, die jedoch ohne Fortschritte hin zu einem demokratischeren und effizienteren Staat, die Verwirklichung der umfassenden Reform-Agenda und die Annäherung an die EU nur schwer zu verwirklichen sein wird. Die Reform der mit dem Dayton-Abkommen eingerichteten verfassungsrechtlichen Struktur kann nicht von außen aufgezwungen werden (obwohl die internationale Gemeinschaft und insbesondere die EU ihre Bereitschaft zur Unterstützung dieser Reform betont hat), sondern muss das Ergebnis eines Konsenses zwischen den politisch Verantwortlichen des Landes selbst sein und von einer Mehrheit der Bürger mitgetragen werden. Dieser Prozess, der Auswirkungen auf alle Bereiche haben wird, ist äußerst heikel und wird viel Zeit benötigen.

An dieser Stelle sei festgehalten, dass die Politiker unterschiedliche Standpunkte zur Zukunft von Bosnien und Herzegowina vertreten und noch stets ein gewisses gegenseitiges Misstrauen zwischen den Angehörigen der einzelnen Volksgruppen herrscht. Allgemein herrschen nationalistische Töne vor, und den politischen Führungskräften von Bosnien und Herzegowina ist es nicht gelungen, im Zuge einer Verfassungsreform die Einrichtung funktionstüchtigerer und weniger kostenintensiver Staatsstrukturen, die auch der Integration in die EU dienlich wären, voranzutreiben.

Angesichts der Bedenken hinsichtlich der politischen Stabilität des Landes und der gesamten Region wurde die Schließung des Amtes des hohen Repräsentanten (OHR) mehrmals verschoben. Im Februar 2008 beschloss der Rat für die Umsetzung des Friedens (PIC), diese Schließung von den Fortschritten von Bosnien und Herzegowina bei der Umsetzung fünf spezifischer Ziele (2) und zweier Sonderbedingungen (Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens und stabile politische Lage) abhängig zu machen. Abgesehen von der Frage des endgültigen Status des Distrikts Brčko wurden in Bezug auf die fünf Ziele nur sehr geringe Fortschritte erzielt.

3.2.   Die politischen Beziehungen zur Europäischen Union und den Nachbarstaaten

3.2.1.   Die Beziehungen zur Europäischen Union

Die Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien und Herzegowina wurden im November 2005 aufgenommen. Nach Fortschritten in den vier von der Europäischen Kommission und dem Rat im Jahr 2005 festgelegten Schlüsselbereichen (3) wurde das Abkommen schließlich am 4. Dezember 2007 paraphiert und am 16. Juni 2008 unterzeichnet. In Erwartung der Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens durch alle EU-Mitgliedstaaten wurden die vorgesehenen Handelsmaßnahmen durch ein Interimsabkommen in Kraft gesetzt, das seit 1. Juli 2008 gilt. Mit diesem Abkommen wurden u.a. die Handelsvergünstigungen, die die EU seit 2000 (auf autonomer Grundlage) für Erzeugnisse aus Bosnien und Herzegowina gewährt, vertraglich verankert. Bosnien und Herzegowina hat seinerseits Handelsbeschränkungen für EU-Erzeugnisse auslaufen lassen und seine Zölle für EU-Erzeugnisse schrittweise gesenkt. Die Durchführung dieses Interimabkommens ist bislang zufriedenstellend verlaufen.

Neben den Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen wurde auch ein Abkommen über Visaerleichterungen ausgearbeitet; es wurde am 17. September 2007 unterzeichnet und ist im Januar 2008 in Kraft getreten. Mit diesem Abkommen wurden die Visagebühren gesenkt und für bestimmte Bevölkerungsgruppen sogar abgeschafft sowie die Bedingungen für die Visaerteilung für viele Bevölkerungsgruppen - Studierende, Geschäftsleute, Journalisten usw. - vereinfacht. Am 26. Mai 2008 eröffnete die EU einen Dialog über die visumfreie Einreise von Bürgern des Landes Bosnien und Herzegowina. Um die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen, sollte Bosnien und Herzegowina Fortschritte bei der Erfüllung all dieser Kriterien erzielen.

Im September 2008 wurde im Rahmen der Heranführungshilfen das indikative Mehrjahresplanungsdokument (MIPD) für Bosnien und Herzegowina angenommen. Im Programm des Instruments für die Heranführungshilfe (IPA) stellt die Europäische Kommission 2008 insgesamt 74,8 Mio. EUR für Bosnien und Herzegowina zur Verfügung. Zu den Hauptaktionsbereichen zählen die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der öffentlichen Verwaltungsstrukturen, die Wirtschafts- und Sozialentwicklung sowie die Stabilisierung der Demokratie. Im Rahmen der Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft werden in den nationalen IPA-Programmen 2007/2008 6,5 Mio. EUR für den Auf- und Ausbau der Zivilgesellschaft bereitgestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen aus Bosnien und Herzegowina profitieren darüber hinaus von den regionalen Aktivitäten und Besucherprogrammen, die im Rahmen des Mehrempfängerprogramms finanziert werden. Ferner werden aus Gemeinschaftsmitteln 5,7 Mio. EUR für den Etat des Amtes des hohen Repräsentanten bis Juni 2009 zur Verfügung gestellt.

Das Instrument für die Heranführungshilfe und das fortgeführte CARDS-Finanzhilfeprogramm werden von der Delegation der Europäischen Kommission in Sarajewo verwaltet. Die dezentralisierte Verwaltung der Hilfen bleibt ein mittelfristiges Ziel für Bosnien und Herzegowina; bei den dahingehenden Vorbereitungen wurden kleine Fortschritte erzielt. Der Nationale Fonds und das für zentrale Haushaltsführung und Auftragsvergabe zuständige Referat des Finanzministeriums von Bosnien und Herzegowina wurden bereits teilweise mit Personal ausgestattet, und das Einstellungsverfahren läuft weiter. Aufgrund des komplexen institutionellen und politischen Umfelds in Bosnien und Herzegowina entstanden auch erhebliche Verzögerungen bei der Ratifizierung des IPA-Rahmenabkommens, dessen korrekte Umsetzung immer noch nicht gewährleistet ist. Dies hat wiederum Verzögerungen beim IPA-Programm 2007 zur Folge.

3.2.2.   Die Beziehungen zu Kroatien

Die Beziehungen zu Kroatien haben sich seit 2000 grundlegend geändert. Die beiden Länder haben weitere Abkommen über die Rückkehr von Flüchtlingen über die gemeinsame Staatsgrenze verhandelt und ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, das mehr oder weniger unmittelbar umgesetzt wurde. Im Februar 2008 billigte das Parlament von Bosnien und Herzegowina ein Abkommen über die Doppelstaatsbürgerschaft mit Kroatien. Es wird davon ausgegangen, dass 400 000 Bürger von Bosnien und Herzegowina auch die kroatische Staatsbürgerschaft besitzen. Es müssen allerdings noch offene Grenzstreitigkeiten beigelegt werden. Außerdem werden die Verweisung von Fällen und die Auslieferung von Verdächtigen, denen Straftaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt werden, zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien nach wie vor behindert.

3.2.3.   Die Beziehungen zu Serbien

Die Beziehungen zu Serbien haben sich seit dem Fall des Milosevic-Regimes deutlich verbessert; so wurden am 15. Dezember 2000 wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Als Bosnien und Herzegowina 2003/2004 den Vorsitz des Prozesses der Zusammenarbeit in Südosteuropa (SEECP) innehatte, trafen sich die Außenminister der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken mit ihren Amtskollegen aus Südosteuropa, um ihr Engagement für gut nachbarschaftliche Beziehungen, Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa zu bekräftigen.

Im Zuge des Wahlkampfes im Oktober 2006 wurden ganz öffentlich engere Bindungen zwischen der Republika Srpska und Serbien gefordert; dies führte zur Unterzeichnung eines neuen Abkommens über ihre Sonderbeziehungen am 26. September 2007 in Banja Luka. Beide Seiten betonten jedoch, dass mit diesem Abkommen weder die Souveränität noch die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina unterlaufen werde.

Es gibt jedoch nach wie vor potenzielle Spannungen in den Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern. Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo machte sich in der Republika Srpska eine immer stärkere Anti-Dayton-Stimmung breit, und es wurde zunehmend mit Abspaltung gedroht. Am 21. Februar 2008 verabschiedete die Nationalversammlung der Republika Srpska eine Entschließung, in der die Situation der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina mit derjenigen des Kosovo in Serbien vergleichen wird und die Bedingungen dargelegt werden, unter denen sich die Republika Srpska für unabhängig erklären könnte.

3.2.4.   Regionale Zusammenarbeit

Die Beziehungen zu Montenegro sind gut und konnten weiter gefestigt werden. Es wurden Abkommen in den Bereichen Verteidigung, polizeiliche Zusammenarbeit, Katastrophenschutz und grenzüberschreitende Zusammenarbeit unterzeichnet.

Die Beziehungen zur Ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sind ebenfalls gut, sowohl im bilateralen als auch im regionalen Zusammenhang. Es wurden Abkommen über Rückübernahme, polizeiliche Zusammenarbeit und Katastrophenschutz geschlossen.

Die Beziehungen zu Albanien wurden ausgebaut, und Bosnien und Herzegowina hat die Eröffnung einer Botschaft in Tirana beschlossen.

Bosnien und Herzegowina nimmt an regionalen Kooperationsprogrammen und -initiativen wie z.B. dem Mitteleuropäischen Freihandelsabkommen (CEFTA) teil.

4.   Wirtschaftliche Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina

4.1.   Die gegenwärtige Lage der Wirtschaft in Bosnien und Herzegowina

Trotz der schwierigen politischen Lage hat Bosnien und Herzegowina nun zum vierten Mal in Folge eine stabile Wirtschaftsleistung erzielt; das BIP-Wachstum wird für 2008 auf 5,5 % geschätzt. Im ersten Quartal 2007 lag die Inflation bei lediglich 1,5 %, doch ist sie im zweiten Halbjahr desselben Jahres aufgrund des Anstiegs der Nahrungsmittel- und Transportpreise in die Höhe geschnellt. So lag sie im Dezember 2007 schon bei 4,9 % und im August 2008 bei 9,5 %. Das Leistungsbilanzdefizit ging von 21,3 % des BIP im Jahr 2005 auf 11,4 % im Jahr 2006 zurück, verzeichnete allerdings 2007 einen erneuten Anstieg auf 12,7 %. Das Handelsbilanzdefizit konnte ebenfalls gesenkt werden, und zwar von 49,6 % des BIP im Jahr 2005 auf ca. 37 % in den Jahren 2006 und 2007. Allerdings sind weitere Rückgänge zum derzeitigen Zeitpunkt aufgrund des langsameren Ausfuhrwachstums im Jahr 2007, der erneuten Einfuhrzunahme und des wahrscheinlichen Rückgangs der ausländischen Direktinvestitionen im Zuge der internationalen Finanzkrise eher unwahrscheinlich. Im Jahr 2006 belief sich der Steuerüberschuss insgesamt auf 3 % des BIP; dies war in erster Linie auf einen Anstieg der Einnahmen infolge der Einführung der Mehrwertsteuer zurückzuführen. Im Jahr 2007 ging dieser Überschuss auf 1,3 % zurück und wird sich 2008, u.a. aufgrund einer Zunahme der Mehrwertsteuer-Rückerstattungen wohl in ein Defizit verwandeln.

Wie andere Transformationsländer hat Bosnien und Herzegowina eine wachsende Wirtschaft, doch steht das Land auch vor Problemen durch weit verbreitete Armut und soziales Elend. Die Arbeitslosenquote liegt Schätzungen zufolge je nach Berechnungsmethodik zwischen 16 und 44 %. Bosnien und Herzegowina sieht sich mit den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert, die eine Bedrohung für die wirtschaftliche, soziale und ethnische Lage sowie für die Beziehungen in der EU und der Region darstellt.

Die Regierungs- und Verwaltungsstruktur des Landes ist schwerfällig und verschlingt über 50 % des BIP. Zersplitterte Strukturen, begrenzte Ressourcen, Mangel an Erfahrung und ein konzeptionsloses Vorgehen bei der Stärkung der landeseigenen Kapazitäten beeinträchtigen die Fähigkeit der Regierung, politische Maßnahmen zu konzipieren und durchzuführen.

Die EU ist der wichtigste Handelspartner von Bosnien und Herzegowina (der Anteil des Handels mit der EU beträgt über 50 % des Gesamthandelsvolumens). Durch die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens und das Inkrafttreten des Interimabkommens werden diese Beziehungen und die Handelsintegration mit der EU wohl weiter gestärkt werden. Die Ausfuhren gehen in erster Linie nach Italien, Deutschland und Slowenien; die Einfuhren erfolgen ebenfalls aus diesen Ländern sowie in geringerem Maße aus Österreich. Ausgeführt werden vor allem Metalle, Holz und Holzerzeugnisse sowie mineralische und chemische Stoffe, eingeführt werden in erster Linie Maschinen, mineralische Stoffe, Nahrungsmittel und chemische Stoffe.

5.   Die gegenwärtige Lage und die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft

5.1.   Sozialer Dialog

5.1.1.   Rechtliche Rahmenbedingungen

Es gibt keinen offiziellen sozialen Dialog auf gesamtstaatlicher Ebene, da in der geltenden Verfassung keinerlei Bestimmungen über die Schaffung gesamtstaatlicher Regierungsbehörden für die Bereiche Sozial- und Bildungspolitik enthalten sind.

Bosnien und Herzegowina hat alle acht grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert. Die Vereinigungsfreiheit wird in der Verfassung sowohl von Bosnien und Herzegowina als auch der Föderation von Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska gewährleistet. Jede Entität verfügt - ebenso wie auch der Distrikt Brčko - über ihr eigenes Arbeitsrecht.

Das im Dezember 2001 verabschiedete Gesetz über Verbände und Stiftungen enthält keinerlei Bestimmungen über die Zulassung eines Gewerkschaftsbundes auf gesamtstaatlicher Ebene.

Gemäß dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2008 wurden in diesem Bereich jedoch keine Fortschritte erzielt. Die Tatsache, dass die gesamtstaatliche Ebene über keinerlei Zuständigkeiten für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik verfügt, ist nach wie vor ein Hindernis für die Konzipierung einer landesweiten Beschäftigungsstrategie. Gestützt auf verfassungsrechtliche Argumente weigert sich die Republika Srpska systematisch, der gesamtstaatlichen Ebene ein Mitspracherecht bei internen Arbeitsmarktfragen einzuräumen. Individuelle Beschäftigungsstrategien und Vorhaben für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wurden von beiden Entitäten und dem Distrikt Brčko entwickelt, es gibt jedoch nur wenig Koordinierung zwischen diesen.

Auf dem Gebiet des sozialen Dialogs ist die Situation ähnlich. Versuche der Dachorganisation der Gewerkschaften, auf gesamtstaatlicher Ebene zugelassen zu werden, schlugen fehl. Nach derzeitiger Rechtslage ist die Registrierung von Gewerkschaften gleichbedeutend mit ihrer Anerkennung. Darüber hinaus kommen für die Sozialpartner die gleichen Rechtsgrundlagen und Verfahrensweisen zur Anwendung wie für andere zivilgesellschaftliche Organisationen (beispielsweise Verbraucherverbände oder Sportvereine), was nicht angemessen ist. Die komplexe politische und soziale Organisation des Landes beeinträchtigt weiterhin den Dialog zwischen den Sozialpartnern, und kurzfristige Lösungen scheinen nicht in Sicht. Diese fehlende Transparenz hinsichtlich der Voraussetzungen für die rechtliche Registrierung von Gewerkschaften hat weitere Fortschritte in Richtung Tarifverhandlungen und beim Abschluss freiwilliger tariflicher Vereinbarungen verhindert. Das erwähnte Gesetz über Verbände und Stiftungen sollte durch ein neues Gesetz abgelöst werden, damit die Entscheidung über die Registrierung neuer Organisationen nicht länger im Ermessen der Regierung liegt.

5.1.2.   Die Sozialpartner

5.1.2.1.   Arbeitgeber

In Bosnien und Herzegowina kann nur schwer von aktiven Arbeitgeberverbänden auf gesamtstaatlicher Ebene gesprochen werden. Da es kein gesamtstaatliches Arbeitsministerium gibt und viele Wirtschaftsagenden in die Zuständigkeit der Entitäten fallen, mangelt es an offizieller Koordinierung bzw. Zusammenarbeit zwischen den Arbeitgeberverbänden auf gesamtstaatlicher Ebene.

Die beiden wichtigsten Arbeitgeberverbände sind der Verband der Arbeitgeber der Föderation von Bosnien und Herzegowina und der Verband der Arbeitgeber der Republika Srpska. Beide sind in die Wirtschafts- und Sozialräte auf Ebene der Entitäten eingebunden. Die wichtigsten Probleme, denen sich die Arbeitgeberverbände intern und im äußeren Umfeld stellen müssen, sind die Frage ihrer Repräsentativität und die wirksame Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Behörden.

5.1.2.2.   Gewerkschaften

In der Föderation von Bosnien und Herzegowina wie auch in der Republika Srpska gehört ein relativ hoher Prozentsatz der Arbeitnehmer des formellen Sektors einer Gewerkschaft an. Der Bund unabhängiger Gewerkschaften von Bosnien und Herzegowina (Savez Samostalnih Sindikata Bosne i Hercegovine, SSSBiH) vertritt die Arbeitnehmer in der Föderation von Bosnien und Herzegowina und der Bund der Gewerkschaften der Republika Srpska (Savez Sindikata Republike Srpske, SSRS) vertritt die Arbeitnehmer in der Republika Srpska. Die Gewerkschaftsbünde der beiden Entitäten haben auf einer Gründungsversammlung am 24. Juni 2005 in Sarajewo eine gemeinsame Dachorganisation, den „Gewerkschaftsbund von Bosnien und Herzegowina (KSBiH)“, gegründet. Diese Dachorganisation hat einen Antrag auf Registrierung auf gesamtstaatlicher Ebene gestellt, über seine Forderung ist allerdings bislang nicht entschieden worden.

5.1.3.   Bewertung der bestehenden Mechanismen

Die Einrichtung eines gesamtstaatlichen Wirtschafts- und Sozialrates ist bislang am Widerstand, insbesondere der Republika Srpska (4), gegen die Verankerung des sozialen Dialogs auf gesamtstaatlicher Ebene gescheitert. Jede Entität verfügt über ihr eigenes Arbeitsrecht; es gibt kein Arbeitsministerium auf gesamtstaatlicher Ebene. Die wichtigsten Aspekte für die Sozialpartner wie Wirtschaftspolitik, Arbeitsrecht und Bildung fallen in die Zuständigkeit der Entitäten bzw. der Lokalverwaltungen. Bislang wurde in Bosnien und Herzegowina noch kein echter Binnenmarkt (nicht einmal im Bereich Beschäftigung) geschaffen. Die Wirtschafts- und Sozialräte bestehen nur auf Ebene der Entitäten und werden von der jeweiligen Regierung finanziert. Formal ist das Haupthindernis für die Einrichtung eines gesamtstaatlichen Wirtschafts- und Sozialrates nach wie vor die fehlende Anerkennung des Dachverbandes der Gewerkschaften. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, dass die Kapazitäten der Sozialpartner noch immer gering sind und ihre interne Arbeitsweise unbedingt professioneller gestaltet werden muss.

5.2.   Ziviler Dialog

5.2.1.   Rechtliche Rahmenbedingungen

Die Zivilgesellschaft in Bosnien und Herzegowina ist noch sehr jung. Vor dem Krieg gab es zahlreiche öffentliche Einrichtungen, die in erster Linie im Kultur- und Sportbereich tätig waren. Während und nach Ende des Krieges richteten die meisten NGO ihre Arbeit auf die Bereitstellung humanitärer Hilfe aus, und sie wandten sich erst langsam wieder traditionelleren Aufgaben zu.

NGO können sich nunmehr auf gesamtstaatlicher, Entitäts-, Bezirks- (in der Föderation von Bosnien und Herzegowina) oder kommunaler Ebene registrieren lassen. Seit 2002 haben sie gemäß dem Gesetz über Verbände und Stiftungen die Möglichkeit, sich beim Justizministerium von Bosnien und Herzegowina eintragen zu lassen und überall im Land tätig zu werden. Weil die Verfahren aber auf gesamtstaatlicher Ebene so schwerfällig sind und die Registrierung auf gesamtstaatlicher Ebene von den Entitäten (Republika Srpska) nicht anerkannt wird, lassen sich viele NGO lieber auf Ebene der Entitäten registrieren. Im Jahr 2004 wurde zwischen der gesamtstaatlichen Ebene, den Regierungen der Entitäten und dem Bezirk Brčko eine Vereinbarung zur Einrichtung eines gemeinsamen Registers für Verbände und Stiftungen in Bosnien und Herzegowina unterzeichnet, um die Freizügigkeit der Verbände und Stiftungen zu fördern und ein System für einen schnellen Zugang zu Informationen über alle Verbände und Stiftungen einzurichten.

Das Gesetz über Verbände und Stiftungen wurde 2008 geändert und in Kraft gesetzt. Die Leitlinien für die Registrierung aus dem Jahr 2002 gelten noch immer, was den Prozess der Registrierung verkompliziert. Die Behörden Bosniens und Herzegowinas bemühen sich um ihre Änderung, um die Zahl der für die Eintragung erforderlichen Formulare zu verringern. Außerdem ist die Einführung einer Online-Registrierung geplant.

Laut einer Studie des Länderteams der Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina (UNCT in Bosnia and Herzegovina) (5) erachten die Organisationen der Zivilgesellschaft das vor Kurzem eingeführte Mehrwertsteuersystem als grundlegendes Problem. Mit dem am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Mehrwertsteuergesetz wurde ein einheitlicher Steuersatz von 17 % eingeführt, was einer Mehrwertsteuererhöhung gleichkommt. Außerdem müssen die Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Einstellung von Personal weitere Abgaben (Beiträge zur Sozial- und Krankenversicherung) abführen. Spenden werden zusätzlich besteuert. Ganz allgemein wären daher Ausnahmeregelungen für die Organisationen der Zivilgesellschaft, die deren Arbeit erleichtern würden, sehr willkommen.

Die öffentliche Mitfinanzierung von Organisationen der Zivilgesellschaft ist ebenfalls problematisch. In den meisten Fällen erachten die Organisationen der Zivilgesellschaft die Vergabe öffentlicher Mittel als nicht hinreichend transparent. Die Durchführung des Gesetzes über die Freiwilligentätigkeit lässt weiter auf sich warten. Generell bleibt die mangelhafte Umsetzung und Harmonisierung von Gesetzen ein kritischer Punkt. Einige Organisationen der Zivilgesellschaft sind der Meinung, dass die Rechtsetzung in Bosnien und Herzegowina weder transparent noch offen abläuft.

Die Organisationen der Zivilgesellschaft werden auch seitens der Behörden kaum unterstützt, da einige die Zivilgesellschaft als „Konkurrenten“ erachten. Außerdem sehen die lokalen Gebietskörperschaften die Chancen und Vorteile einer Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft ganz allgemein nicht.

5.2.2.   Die Situation innerhalb der Interessengruppen

Insgesamt sind in Bosnien und Herzegowina derzeit annähernd 8 000 NGO registriert (6), die Zahl der wirklich aktiven Organisationen ist jedoch erheblich geringer. Die Einnahmen des dritten Sektors werden auf 4,5 % des BIP, seine Betriebsausgaben auf 2,4 % geschätzt. Die Arbeitnehmer dieses Sektors machen 1,45 % der erwerbstätigen Bevölkerung (7) aus.

Der wichtigste Handlungsbereich der NGO ist der Schutz der Menschenrechte. Weitere Tätigkeitsbereiche sind Bildung, Chancengleichheit, Wirtschaftsentwicklung, humanitäre Hilfe, Entwicklung der Zivilgesellschaft, Gesundheit, Kinder und Jugend sowie Auf- und Ausbau des Gemeinwesens.

5.2.3.   Bewertung der bestehenden Mechanismen

Die Institutionalisierung der Beziehungen zwischen den Behörden und den NGO konnte auf gesamtstaatlicher Ebene vorangebracht werden. Der Ministerrat von Bosnien und Herzegowina hat gemeinsam mit Vertretern der Zivilgesellschaft am 7. Mai 2007 das Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen dem Ministerrat von Bosnien und Herzegowina und den Nichtregierungsorganisationen in Bosnien und Herzegowina unterzeichnet.

Im Oktober 2007 wurde nach Maßgabe dieses Abkommens ein Rat der Zivilgesellschaft eingerichtet. Auch wenn dieser Rat nicht das gesamte Spektrum der Zivilgesellschaft vertritt, ist er doch mit seinen 31 Untergruppen das stärkste NGO-Forum in Bosnien und Herzegowina. Es sind jedoch weitere Anstrengungen seitens der Behörden erforderlich, um einen regelmäßigen und systematischen Dialog mit der Zivilgesellschaft einzurichten und deren Einbindung in die Politikgestaltung zu fördern.

6.   Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Beitrittsprozess

6.1.   Die Organisationen der Zivilgesellschaft und der Prozess der Integration in die EU

Die Idee der europäischen Integration nimmt in der Arbeit der Organisationen der Zivilgesellschaft derzeit nur einen sehr geringen Stellenwert ein. Die Bürger erachten diesen Beitritt als ein Vorhaben, das noch in weiter Ferne liegt. Die Organisationen der Zivilgesellschaft verfügen größtenteils nur über sehr begrenzte Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit ihren Pendants in den EU-Mitgliedstaaten. Die EU-Debatte in Bosnien und Herzegowina ist gerade erst angelaufen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft richten ihre Vorhaben auf die von den Gebern, d.h. internationalen Organisationen, Regierungen und lokalen Gebern, festgelegten Prioritäten aus. Ein wirklich sichtbares Engagement für einen EU-Beitritt von Bosnien und Herzegowina ist in keinem Sektor, mit Ausnahme der internationalen NGO, zu finden. Dennoch unterstützen 80 % der Bevölkerung einen EU-Beitritt von Bosnien und Herzegowina; dies ist der Punkt, an dem die Organisationen der Zivilgesellschaft ansetzen können, um sich für die Erfüllung der Beitrittskriterien stark zu machen.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Nach der Definition des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses umfasst der Begriff „Zivilgesellschaft“ Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sowie weitere Nichtregierungsorganisationen und Interessengruppen.

(2)  1) Annehmbare und dauerhafte Lösung für die Vermögensaufteilung zwischen dem Staat und anderen Verwaltungsebenen; 2) annehmbare und dauerhafte Lösung der Frage der Verteidigungsgüter; 3) endgültige Entscheidung über den Status von Brčko; 4) Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen (gefördert durch ein Abkommen zur ständigen Anwendung von Berichtigungskoeffizienten seitens der Behörde für indirekte Steuern sowie Einrichtung eines Nationalen Finanzrates) 5) Festigung der Rechtsstaatlichkeit (nachgewiesen durch die Annahme einer nationalen Strategie zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, eines Ausländer- und Asylgesetzes sowie einer nationalen Strategie für die Reform des Justizsektors).

(3)  1) Umsetzung der Polizeireform im Einklang mit der Vereinbarung über die Neuordnung der Polizei vom Oktober 2005. 2) uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem IStGHJ. 3) Verabschiedung und Umsetzung aller erforderlichen Rechtsvorschriften über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk; und 4) Entwicklung eines Rechtsrahmens und der Verwaltungskapazität für die ordnungsgemäße Umsetzung des SAA.

(4)  Der Ministerpräsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, erklärte am 22. August 2007, dass die Regierung der Republika Srpska die Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates auf gesamtstaatlicher Ebene keinesfalls unterstützen werde, da die grundlegenden Wirtschafts- und sozialen Angelegenheiten auf Ebene der Entitäten geregelt würden und die Einrichtung eines derartigen Rates eine politische Frage sei.

(5)  „Main findings on the Level of Cooperation between the UN Agencies and Civil Society Organisations in BiH“, Januar 2007, Arbeitsdokument des UNCT Bosnien und Herzegowina.

(6)  Stand: Februar 2005, Daten aus dem Bericht für das EU-finanzierte Vorhaben „Mapping Study of Non-State Actors in Bosnia-Herzegovina“, September 2005.

(7)  „Employment, social service provision and the non-governmental organisation (NGO) sector. Status and prospects for Bosnia and Herzegovina. Analysis and policy implications“, Qualitative Study #3, 2. April 2005; DFID Labour and Social Policy Project.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Straßenverkehrsbedingte Lärm- und Schadstoffbelastung — konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Stagnation in diesem Bereich“

(Initiativstellungnahme)

(2009/C 317/04)

Berichterstatter: Edgardo Maria IOZIA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Straßenverkehrsbedingte Lärm- und Schadstoffbelastung - konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Stagnation in diesem Bereich

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Edgardo Maria IOZIA.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 109 gegen 7 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   An der Bekämpfung der Luftverschmutzung und Lärmbelästigung sind zahlreiche Einrichtungen und Organe beteiligt. Eine wesentliche Rolle kommt den EU-Organen zu, die für die Förderung und Aktualisierung der Vorschriften zuständig sind, den Mitgliedstaaten, die sie durch den Erlass von Durchführungsbestimmungen umzusetzen haben, und den lokalen Gebietskörperschaften, denen die Schadstoff- und Lärmkontrolle obliegt. Gemeinsam tragen sie die Verantwortung dafür, dass die Fortschritte stagnieren. Deshalb müssen alle Zuständigkeitsebenen ihre Bemühungen verstärken, um die Gefahren für Gesundheit und Wohlergehen der Bürger zu beseitigen oder zu minimieren.

1.2.   Die durch die private und öffentliche Personenbeförderung und den Straßengüterverkehr erzeugten Emissionen sind Ursache schwerer Krankheiten und führen zu einer Verschlechterung der Lebensqualität, insbesondere der Einwohner in städtischen Gebieten, d.h. bei 75 % der europäischen Bürger. Trotz der Initiativen der Kommission, die erst vor Kurzem mit ihrem Maßnahmenpaket zur „Ökologisierung des Verkehrs“ das EU-Recht angepasst hat, stagniert in den Mitgliedstaaten noch immer die Bekämpfung der verkehrsbedingten Lärm- und Schadstoffbelastung.

1.3.   Obgleich die Rechtsvorschriften, zumindest in Bezug auf die Luftqualität, im Laufe der Jahre auf den neuesten Stand gebracht und verbessert wurden, muss andererseits hervorgehoben werden, dass hinsichtlich der Anzahl und Qualität der Kontrollen sowohl der Kfz- und Motorradabgase als auch der in der Luft enthaltenen Gas- und Feinstaubmengen keine Fortschritte zu vermelden sind. Die EU-Kommission hat mit ihrem TREMOVE-Modell, mit den Analysen zu den Auswirkungen der verschiedenen Politiken im Verkehrsbereich und mit der Entwicklung des Systems COPERT 4 (COmputer Program for estimating Emissions from Road Transport) im Rahmen der Tätigkeiten des Europäischen Themenzentrums für Luft und Klimawandel, die von der Gemeinsamen Forschungsstelle weiter entwickelt wurden, bemerkenswerte technische und wissenschaftliche Impulse gegeben. Diese Vorgehensweise ist Teil der Methodologie aus dem von der Task Force der UN/ECE (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa) entwickelten EMEP/CORINAIR-Handbuch für die Erstellung des Inventars der Luftemissionen in Europa, in dem die Bewertung und Prognose von Daten behandelt wird.

1.4.   Im Rahmen des Pakets „Grüner Verkehr“ wurde ein Vorschlag zur Verringerung der Lärmbelästigung durch den Schienenverkehr vorgelegt, während am 22. Juni 2009 die Verordnung KOM(2008) 316 über die allgemeine Sicherheit von Kraftfahrzeugen angenommen wurde, die eine wesentliche Senkung des Reifenrollgeräuschs vorsieht.

1.5.   Der EWSA empfiehlt sowohl der Kommission als auch dem Rat „Umwelt“, dem Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ und dem Europäischen Parlament, unverzüglich Schritte zu unternehmen, um die Kontrollmaßnahmen zu verstärken und somit die Gesundheit der Verbraucher zu schützen. „Off cycle“-Kontrollen auf der Straße, insbesondere während des Fahrzeugbetriebs, würden beweisen, dass die heutigen Kraftfahrzeuge lauter als die von vor 30 Jahren sind und ihre Emissionen deutlich über den bei den Zyklustests gemessenen liegen.

1.6.   Der EWSA hebt hervor, dass es an einem soliden Konzept fehlt; die UN/ECE-Regeln wie auch die EU-Regelungen lassen wirksame Kontrollsysteme vermissen, und das Modell der Selbstzertifizierung, bei dem die Überprüfungen den Marktkontrollmechanismen anheim gestellt werden, hat sich als unzulänglich herausgestellt.

1.7.   Der EWSA empfiehlt den verschiedenen Behörden der Europäischen Union, der Mitgliedstaaten und denjenigen auf lokaler Ebene die folgenden Schritte und Maßnahmen, um die Auswirkungen der Luftverschmutzung einzudämmen:

Einbeziehung der Bevölkerung durch Förderung verantwortungsbewusster Verhaltensweisen zur Erlangung kollektiven Wohlergehens und durch Verbesserung der Transparenz und der Information mittels Schautafeln, Websites usw.;

Unterstützung der allgemeinen und beruflichen Bildung im Bereich Umwelt und Ökologie;

Verbreitung bewährter Verfahren wie der Mobilitätskarte, die zur kostenlosen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel berechtigt;

Einsatz von heutzutage auch schon batteriebetriebenen Straßenbahnen und O-Bussen im öffentlichen Nahverkehr, was deren Nutzung in nicht mit Oberleitungen ausgestatteten Gebieten ermöglicht;

Einschränkung des Privatverkehrs und Verbesserung und Ausweitung des öffentlichen Verkehrsangebots;

differenzierte Besteuerung von Kraftfahrzeugen und Kraftstoffen, in Abhängigkeit von der durch sie hervorgerufenen Umweltbelastung, zahlungspflichtige Verkehrsgenehmigungen für Stadtzentren unter Berücksichtigung der unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Bürger sowie des Emissionsausstoßes;

Internalisierung der externen Kosten, insbesondere jener, die für die Gesundheit der Bürger entstehen;

Entwicklung integrierter Verkehrskonzepte unter Berücksichtigung der Umweltverträglichkeit der einzelnen Projekte;

Beitrag zu veränderten, d.h. maßvolleren und umweltbewussteren Lebensweisen;

Unterstützung der nachhaltigen Mobilität in Gestalt des Fußgänger- und Radverkehrs auf kurzen Strecken durch Verbesserung der Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer;

Vermeidung unnötigen Verkehrs;

Überprüfung der Logistikverwaltung und der Just-in-time-Produktion;

Förderung der Telearbeit, wo dies möglich ist;

Verringerung der Verkehrsüberlastung durch optimierte Nutzung aller Verkehrsträger, wobei den öffentlichen Verkehrsmitteln Vorrang einzuräumen ist;

Unterstützung der Erforschung und innovativen Entwicklung von Material und technologischen Lösungen zur Reduzierung der straßenverkehrs- und straßentransportbedingten Schadstoffe, wie Brennstoffzellen für emissionsarme Fahrzeuge mit Wasserstoff-, Elektro- und Kohlenwasserstoffantrieb sowie Synthesegas, Methan und Flüssiggas;

strengere regelmäßige Kontrollen insbesondere in Ländern mit veraltetem oder umweltschädlichem Fahrzeugbestand (in Polen z.B. sind 60 % der Kraftfahrzeuge älter als 10 Jahre …).

1.8.   Zur Verringerung der Auswirkungen der Lärmbelästigung könnten folgende Maßnahmen ins Auge gefasst werden:

Nachtfahrbeschränkungen für den privaten Verkehr in Wohngebieten;

auf den Straßenbelag aufgebrachte Vorrichtungen zur Tempoverringerung (Straßenschwellen);

Verbesserung der Asphaltqualität;

schallschluckende Wände in Gebieten mit hoher Verkehrsdichte;

wirklich abschreckende Sanktionen für Fahrzeuge - unter besonderer Berücksichtigung von Motorrädern -, bei denen die Lärmemissionsgrenzwerte überschritten werden, bis hin zur Beschlagnahmung des Fahrzeugs;

Lärmkontrollen, die mehr den „normalen“ Fahrtbedingungen der Fahrzeuge angepasst sind;

häufigere medizinische Untersuchungen von Personen, die einem erhöhten Lärmrisiko ausgesetzt sind;

wirksame Maßnahmen zur Verkehrsentlastung mit besonderem Schwerpunkt auf der Verbreitung von Sonderfahrspuren und Straßen für den öffentlichen Verkehr;

spezifische Vorschriften und geeignete Vorrichtungen für Menschen, die im Freien auf Verkehrswegen arbeiten und verschmutzte Luft einatmen und/oder ständiger Lärmbelastung ausgesetzt sind.

1.9.   Die Lebenszyklusanalyse sollte auch auf indirekte Verkehrsemissionen angewandt werden:

Kraftstofferzeugung und -transport (Ölförderung, Transport zur Raffinerie und zu den Tankstellen, bei batteriebetriebenen Fahrzeugen die durch die Stromerzeugung verursachten Emissionen);

Fahrzeugherstellung (Industrieemissionen, einschließlich der bei der Abfallentsorgung entstehenden Emissionen);

Straßen und Parkplätze (werden für deren Errichtung Parks und Grünflächen genutzt, verschlechtert sich durch den Wegfall des Fotosyntheseeffekts die Luftqualität).

1.10.   Die vorliegende Stellungnahme betrifft nur die Schadstoffemissionen und den Lärm, die durch den Straßenverkehr erzeugt werden. Die Debatte hat deutlich gemacht, dass auch zu den anderen Verkehrsträgern und den Freizeitfahrzeugen sowie zur Umweltverschmutzung durch die Landwirtschaft Überlegungen eingeleitet werden müssen. Züge, Flugzeuge, Hochsee- und Binnenschiffe, mobile Maschinen und Geräte wie Zugmaschinen oder Erdbewegungsmaschinen, Bau- und Bergbaumaschinen sollten ebenfalls kontrolliert werden (1).

2.   Einleitung

2.1.   Der Europäische Rat hat, wenngleich mit einigen Schwierigkeiten, das gesamte Energie- und Klimapaket gebilligt, sodass er gut gerüstet in die Dezember-Konferenz in Kopenhagen gehen und seine Führungsrolle im entschlossenen Kampf gegen die Treibhausgas-Emissionen behaupten kann.

2.2.   Für die Ergebnisse der Maßnahmen zur Bekämpfung der durch Verkehrsmittel erzeugten Schadstoff- und Lärmemissionen lässt sich dies nicht behaupten.

2.3.   Es sind zwei Hauptfaktoren, durch die sich der Verkehr negativ auf die öffentliche Gesundheit auswirkt: die Schadstofffreisetzung in der Luft und der Lärm. Die wichtigsten verkehrsbedingten Schadstoffe mit unmittelbaren negativen Auswirkungen auf die Gesundheit sind: Stickstoffoxid und Stickstoffdioxid (NO und NO2), Kohlenmonoxid (CO), Schwefeldioxid (SO2), Ammoniak (NH3), flüchtige organische Verbindungen (VOC) und Feinstäube oder Aerosole. Diese Stoffe werden als Primärschadstoffe bezeichnet, weil sie direkt von den Kraftfahrzeugen emittiert werden, während andere, die so genannten Sekundärschadstoffe, durch Reaktionen in der Atmosphäre entstehen, wie zum Beispiel Ozon, Ammoniumnitrat (NH4NO3), Ammoniumsulfat ([NH4]2SO4) und die sekundären organischen Aerosole.

2.4.   Der Straßenverkehr ist in den 27 Mitgliedstaaten der EU Hauptverursacher der Emissionen von NOx (39,4 %), CO (36,4 %) und NMVOC oder nicht methanhaltigen flüchtigen organischen Verbindungen (17,9 %) und die zweitwichtigste Quelle von PM10- (17,8 %) und PM2,5-Emissionen (15,9 %) (Europäische Umweltagentur (EUA), Technical Report 2008/7, 28. Juli 2008).

2.5.   Natürliche Primärstäube entstehen durch Vulkanausbrüche, Waldbrände, Erosion und Verwitterung von Felsgestein, Pflanzen (Pollen und Pflanzenreste), Sporen, das Zersprühen von Meerwasser und Reste von Insekten. Natürliche Sekundärstäube bestehen aus feinen Teilchen, die durch Oxidation verschiedener Substanzen entstehen wie bei Bränden und von Vulkanen emittiertes Schwefeldioxid und Schwefelsäure, über den Boden freigesetzte Stickoxide und von der Vegetation abgegebene Terpene (Kohlenwasserstoffe).

2.6.   Primärstäube anthropogenen Ursprungs entstammen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe (Haushaltsfeuerungen, Wärmekraftwerke usw.); Kraftfahrzeugemissionen; dem Verschleiß von Reifen, Bremsen und Straßendecken; verschiedenen industriellen Prozessen (Gießereien, Bergwerke, Zementfabriken usw.). Hervorhebenswert sind außerdem die großen Staubmengen, die im Zuge verschiedener landwirtschaftlicher Tätigkeiten entstehen können. Hingegen entsteht Sekundärstaub anthropogenen Ursprungs im Wesentlichen durch Oxidation der durch verschiedene menschliche Aktivitäten freigesetzten Kohlenwasserstoffe, Schwefel- und Stickoxide.

2.7.   Stäube werden nach ihrer Größe klassifiziert und reichen von Nanopartikeln über Feinstaub bis hin zu sichtbarem Staub. Als PM10 werden Stäube mit einem Durchmesser unter 10 µm bezeichnet, als PM1 Partikel mit einem Durchmesser unter 1 µm. Die feinsten Staubpartikel sind die gefährlichsten, weil sie tief in die Lunge eindringen.

2.8.   Andere von Kraftfahrzeugen ausgestoßene Stoffe sind nicht direkt gesundheitsschädlich, schädigen jedoch laut EUA erheblich die Umwelt, wie etwa Treibhausgase, Kohledioxid (CO2), Methan (CH4) und Distickstoffoxid (N2O). Auch sie rufen ernsthafte gesellschaftliche Besorgnis hervor; ihre Konzentration wird durch Kfz-Emissionsvorschriften begrenzt.

2.9.   Ebenso wie die verkehrsbedingten Emissionswerte hängt auch die Schadstoffkonzentration in niedrigeren Höhen von den meteorologischen Bedingungen ab. Niedrige Bodentemperaturen, speziell in Verbindung mit einer Inversionswetterlage, hemmen die Konvektionsbewegungen, durch die die Luft neu gemischt wird, und begünstigen somit die Anhäufung von Schadstoffen in den unteren Schichten. Dies geschieht insbesondere in den Tälern der Berggebiete, die besonders ernst von der Luftverschmutzung betroffen sind.

2.10.   Zu den durch epidemiologische Studien bestätigten Auswirkungen der Schadstoffe auf die Gesundheit sei festgestellt, dass chronische Bronchitis und Emphyseme als kurzfristige Folgen in Verbindung mit hohen Partikelkonzentrationen auftreten, während es schwache Anhaltspunkte für Zusammenhänge mit allergischen Reaktionen wie Asthma, Schnupfen und Dermatitis gibt.

2.11.   Lärm hat sowohl aurale als auch extraaurale Auswirkungen auf die Gesundheit; sie haben die Europäische Gemeinschaft dazu bewogen, Grenzwerte für die Lärmexposition von Arbeitnehmern und Wohnbevölkerung einzuführen. Die relevanten Vorschriften für die Ermittlung der Lärmexposition sind in den Normen ISO 1996-1:2003, ISO 1996-2:2006, ISO 9613-1:1993, ISO 9613-2:1996 und in der EU-Richtlinie 2002/49/EG enthalten.

2.12.   Um zu berücksichtigen, dass das Gehör auf die unterschiedlichen Frequenzen des Hörspektrums (von 20 bis 20 000 Hz) unterschiedlich empfindlich reagiert, werden bei der Beurteilung der Lärmexposition Gewichtungskurven verwendet, um die in Abhängigkeit von der Empfindlichkeit des Hörapparats gemessene Spektraldichte zu wichten. Die meistverwendete Kurve ist die Gewichtungskurve A, die einen in dB(A) ausgedrückten gewichteten Expositionswert liefert.

3.   Die EU-Vorschriften

3.1.   Luftqualität

3.1.1.   Die Luftqualität ist einer der Bereiche, in denen die EU in den letzten Jahren besonders aktiv war, um durch die Festsetzung langfristiger Luftqualitätsziele eine Gesamtstrategie zu entwickeln. Es wurden Richtlinien erlassen, um die Werte einiger Schadstoffe zu kontrollieren und ihre Konzentrationen in der Luft zu überwachen.

3.1.2.   1996 nahm der Rat der Umweltminister die Rahmenrichtlinie 96/62/EG über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität an. Mit dieser Richtlinie wurden die bestehenden Rechtsvorschriften überarbeitet und neue Luftqualitätsstandards für bis dahin nicht geregelte Luftschadstoffe eingeführt. Ferner wurde ein Zeitplan für die Ausarbeitung von Einzelrichtlinien für einige Schadstoffe festgelegt. Die in der Richtlinie in Betracht gezogene Liste der Luftschadstoffe umfasst Schwefeldioxid (SO2), Stickstoffdioxid (NOx), Feinpartikel (PM), Blei (Pb) und Ozon (Schadstoffe, für die bereits zuvor Luftqualitätsziele bestanden), sowie Benzol, Kohlenmonoxid, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Kadmium, Arsen, Nickel und Quecksilber.

3.2.   Einzelrichtlinien

3.2.1.   Auf die Rahmenrichtlinie folgten andere, so genannte „Einzelrichtlinien“, in denen für jeden ermittelten Schadstoff die zahlenmäßige Festlegung der Grenzwerte oder, für das Ozon, der Zielwerte erfolgte. Neben der Festlegung von Luftqualitätszielen und Alarmschwellen werden mit den Einzelrichtlinien die nachstehenden Ziele verfolgt: Harmonisierung der Überwachungsstrategien, der Mess- und der Kalibriermethoden sowie Beurteilung der Luftqualität, um zu EU-weit vergleichbaren Messungen zu gelangen und der Öffentlichkeit sachdienliche Informationen bereitzustellen.

3.2.2.   Die erste Einzelrichtlinie (1999/30/EG) über Grenzwerte für NOx, SO2, Pb und Feinstäube in der Luft trat im Juli 1999 in Kraft. Im Interesse eines harmonisierten und strukturierten Berichtsystems legte die Kommission genaue Modalitäten fest, nach denen jeder Mitgliedstaat die Informationen über seine Pläne und Programme übermitteln kann. Diese Modalitäten sind in der Entscheidung 2004/224/EG niedergelegt.

3.2.3.   Die zweite Einzelrichtlinie (2000/69/EG) über Grenzwerte für Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft trat am 13. Dezember 2000 in Kraft. Bei der Übermittlung der in dieser Richtlinie vorgeschriebenen jährlichen Berichte ist die Entscheidung 2004/461/EG der Kommission zu befolgen.

3.2.4.   Die dritte Einzelrichtlinie 2002/3/EG über den Ozongehalt der Luft wurde am 12. Februar 2002 angenommen und steckt langfristige Ziele ab, die den neuen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation und den von dieser vorgegebenen, bis 2010 zu erreichenden Referenzwerten für die Ozonkonzentrationen in der Luft entsprechen. Diese Zielwerte folgen der Richtlinie 2001/81/EG über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe.

3.2.5.   Die vierte Einzelrichtlinie 2004/107/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 bezieht sich auf die Verringerung der Immissionskonzentrationen von Arsen, Kadmium, Quecksilber, Nickel und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen.

3.2.6.   Vor kurzem wurde die Richtlinie 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa erlassen, in der die Rahmenrichtlinie und die ersten drei Einzelrichtlinien zusammengefasst wurden, während die vierte Einzelrichtlinie erst übernommen werden soll, sobald ausreichende Erfahrungen mit ihrer Anwendung vorliegen. Diese Richtlinie regelt die Messungen von PM2,5-Partikeln und legt nationale Reduktionsziele, den Indikator für die durchschnittliche Exposition und den Grenzwert fest, der 25 µg/m3 und ab 2020 20 µg/m3 betragen wird. Diese Richtlinie wurde nach Erhalt des Berichts der Weltgesundheitsorganisation WHO, „Air Quality Guidelines Global Update 2005“, angenommen, in dem die Gefährlichkeit der Feinstaubfraktion PM2,5 aufgezeigt und darüber hinaus die Gefährlichkeitsschwellen für NOx, SOx und O3 bestimmt wurden.

3.2.7.   Das stichhaltigste Argument für die Heranziehung der PM2,5 ergibt sich aus der Tatsache, dass sie besser für die Messung der anthropogenen Tätigkeiten, insbesondere der Verbrennungsquellen, geeignet sind (Bericht des Wissenschaftlichen Ausschusses Gesundheits- und Umweltrisiken (SCHER) in der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz der Europäischen Kommission 2005).

3.3.   Lärmbeeinträchtigung

3.3.1.   Die Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den zulässigen Geräuschpegel von Kraftfahrzeugen stammt aus dem Jahr 1970: Es handelt es sich um die Richtlinie 70/157/EWG.

3.3.2.   Es dauerte bis zum Jahr 1986, ehe die Richtlinie 86/188/EWG über den Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch Lärm am Arbeitsplatz verabschiedet wurde.

3.3.3.   Die Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 betrifft die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, der definiert wird als unerwünschte oder gesundheitsschädliche Geräusche im Freien, die durch Aktivitäten von Menschen verursacht werden, einschließlich des Lärms, der von Verkehrsmitteln ausgeht.

3.3.4.   Später wurden die Richtlinie 2007/34/EG der Kommission vom 14. Juni 2007 zur Anpassung der Richtlinie 70/157/EWG an den technischen Fortschritt, die Richtlinie 70/157/EWG des Rates über den zulässigen Geräuschpegel und die Auspuffvorrichtung von Kraftfahrzeugen sowie die Regelung Nr. 117 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE) - Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung der Reifen hinsichtlich der Rollgeräuschemissionen und der Haftung auf nassen Oberflächen (ABl. L 231 vom 29.8.2008) - angenommen. Außerdem ist die vor kurzem erfolgte Annahme der Verordnung KOM(2008) 316 über die allgemeine Sicherheit von Kraftfahrzeugen zu nennen, die eine wesentliche Senkung des Reifenrollgeräuschs vorsieht.

4.   Derzeitige Situation

4.1.   Laut einer Untersuchung der EUA (Exceedance of air quality limit values in urban areas - Core set indicators assessment - Dez. 2008) zum Zehnjahreszeitraum 1997-2006 lag der Anteil der städtischen Bevölkerung, die Schadstoffkonzentrationen in der Luft über den von der EU zum Schutz der menschlichen Gesundheit vorgesehenen Grenzwerten potenziell ausgesetzt war:

für Feinstäube (PM10) bei 18-50 % (50 µg/m3 täglich an höchstens 35 Tagen im Kalenderjahr),

für Stickstoffdioxid (NO2) bei 18-42 % (40 µg/m3 pro Kalenderjahr), was einen leichten Rückgang bedeutet,

für Ozon (O3) bei 14-61 % (120 µg/m3 täglich im 8-Stunden-Durchschnitt nicht öfter als 25 Mal im Kalenderjahr); der Spitzenwert von 61 % wurde 2003 erreicht, wobei sich kein zuverlässiger Trend bestimmen lässt,

für Schwefeldioxid (SO2) lag der Anteil der exponierten Bevölkerung unter 1 % (125 µg/m3 maximal an drei Tagen pro Kalenderjahr).

5.   Durch Lärmbelästigung und Luftverschmutzung verursachte Schäden

5.1.   Lärm ist heutzutage eine der Hauptursachen für die Verschlechterung der Lebensqualität in den Städten. Während nämlich in den letzten 15 Jahren EU-weit eine Tendenz zur Senkung der Lärmpegel-Spitzenwerte in den am stärksten gefährdeten Gebieten zu verzeichnen war, haben sich gleichzeitig die Gebiete mit Warn-Lärmpegeln ausgedehnt, wodurch es zu einem Anstieg der exponierten Bevölkerung kam und die positiven Auswirkungen der erwähnten Tendenz zunichte gemacht wurden.

5.2.   Lärm wird allgemein als „unerwünschtes Geräusch“ oder „unangenehm und lästig empfundenes Geräusch“ definiert.

5.3.   Lärmbekämpfung kann nach drei möglichen Ansätzen erfolgen:

durch Einwirkung auf die Lärmquellen (indem die Emissionen an der Quelle reduziert oder die Mobilitätsbedingungen innerhalb eines bestimmten Gebietsteils verbessert werden),

durch Verhinderung der Lärmausbreitung (indem die Wohngebiete möglichst weit von Gebieten mit hohen Lärmemissionen entfernt angesiedelt werden),

durch Anwendung passiver Lärmschutzsysteme (Lärmschutzwände) für Gebäude, die den stärksten Lärmimmissionen ausgesetzt sind.

5.4.   Die häufigsten durch Lärm verursachten Krankheiten sind aurale und extraaurale Erkrankungen. Schwerhörigkeit, Tinnitus (das mitunter im Innenohr vernommene Brummen, das von einer Dauerschädigung der Haarzellen des Corti’schen Organs herrühren kann), Probleme im Zusammenhang sowohl mit dem System Schnecke-Hörnervenbahnen als auch der eustachischen Röhre (Ohrtrompete). Lärmbelastung führt zu akuten und chronischen Schädigungen des Hörsystems. Die Belastung durch Verkehrslärm ist nicht so hoch, als dass sie akute Wirkungen hervorrufen könnte. Das Hörsystem kann die negativen Effekte der chronischen Lärmexposition ausgleichen, wenn ihm eine ausreichende Ruhezeit gegönnt wird. Daher beziehen sich die Grenzwerte für die chronische Exposition auf die A-bewertete und für einen Achtstundentag gemittelte Gesamtexposition der Arbeitnehmer. In der EU gilt ein Tageslärm-Expositionsgrenzwert von Lex, 8h = 87 dB(A).

5.5.   Als extraaurale Erkrankungen können auftreten: Herz-Kreislauf-Krankheiten, stressbedingte Erkrankungen des Verdauungsapparats, akute Kopfschmerzen und endokrinologische Probleme infolge der Veränderung wesentlicher Parameter. Bekannte extraaurale Lärmwirkungen umfassen Belästigung, Schlafstörungen und Komplikationen bei bereits bestehenden psychiatrischen Erkrankungen. Der Zusammenhang zwischen angegebener hochgradiger Belästigung (ein subjektiver Störparameter) und Verkehrslärmpegeln, auch der durch Schienenverkehr verursachten, wurde durch mehrere Studien, insbesondere den Nachtlärm betreffend, nachgewiesen. Schlafschwierigkeiten, die unmittelbar durch nächtlichen Verkehrslärm verursacht werden, führen oft zum Entstehen von Herz-Kreislauf- oder endokrinen Erkrankungen, die eigentümlicherweise im Gegensatz zu Schlafschwierigkeiten bei sich hinziehender Exposition nicht nachlassen.

5.6.   Ganz anders verhält es sich mit der Luftverschmutzung. Weltweit sterben jährlich 500 000 Menschen an den Folgen der Umgebungsluftverschmutzung, und die Lebenserwartung sinkt (etwa 3 Millionen Menschen sterben infolge der Innenluftverschmutzung). Laut einer Studie der Fachabteilung Umweltepidemiologie und Tumorregister am Nationalen Institut für Tumorforschung und -behandlung in Mailand ließe sich durch eine Senkung der PM10-Konzentration von 60 auf 30 µg/m3 die Zahl der Todesopfer um 1 575 auf 13 122 verringern. Das dürfte insbesondere die Bürger dieser Großstadt interessieren!

5.7.   Diese langfristige Hochrechnung stammt aus einer Studie (veröffentlicht im Journal of the American Medical Association (JAMA), 2002 - Vol. 287, Nr. 9), die C. Arden Pope III im Beobachtungszeitraum 1982 bis 1998 an einer Stichprobe von 1,2 Millionen Personen der Cancer Society durchgeführt hat und die den Titel trägt Lung Cancer, Cardiopulmonary Mortality and Long-term Exposure to fine Particulate Air Pollution. Die WHO hat die aus dieser Untersuchung hervorgegangenen Parameter akzeptiert, der zufolge sich das Sterberisiko für die Über-30-Jährigen um 6 % erhöht.

5.8.   Die Luftverschmutzung ist Ursache vieler Krankheiten wie akute und chronische Bronchitis, Lungen- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemprobleme (z.B. Atemnot). Sie führt zum vermehrten Auftreten von Tumorerkrankungen, asthmatischen Krisen und akuten Augenentzündungen.

6.   Arbeitnehmer, die Lärmbelästigungen und Umweltverschmutzung ausgesetzt sind

6.1.   Es gibt viele Arbeitnehmerkategorien, die in verschmutzter städtischer Umwelt einer überhöhten Belastung ausgesetzt sind. Dazu gehören all diejenigen, die unter freiem Himmel arbeiten: Wartungsarbeiter, Polizisten und Verkehrspolizisten, Tankwarte, Bus- und Lkw-Fahrer. Im EU-Recht und in den nationalen Rechtsvorschriften werden die potenziellen Risiken der einzelnen Berufe gründlich durchleuchtet und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen vorgeschrieben.

6.2.   Für Arbeitsstätten in Industrieunternehmen, die gefährliche Materialien einsetzen, gelten besonders strikte Luftreinhaltungsvorschriften, während in Bezug auf Lärm jede Geräuschemissionen verursachende Anlage oder Maschine bei Erteilung der Betriebserlaubnis bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten darf. Eine Ausnahme bilden einige Sonderfälle, in denen die Obergrenzen überschritten werden und die Verwendung von Gehörschutzvorrichtungen zwingend vorgeschrieben ist (Presslufthämmer, Straßenfräsen).

6.3.   Keine besonderen Vorschriften gelten für im Freien tätige Arbeitnehmer, die verschmutzte Luft einatmen oder ständigem Lärm ausgesetzt sind. Im Falle der Busfahrer ist es beispielsweise erforderlich, Lärm- und Vibrationsquellen in den Fahrzeugen abzubauen und die Schallisolierung der Fahrerkabinen zu verbessern. Eine zu hohe Lärmbelastung wirkt sich nachteilig auf die Leistung des Fahrers aus, denn sie verursacht Stress, erhöht die Muskelspannung und beeinträchtigt die Genauigkeit der Bewegungen. Lärm beeinflusst das vegetative Nervensystem und schränkt einige Funktionen ein, die für das Fahren besonders wichtig sind, wie z.B. das Beurteilungsvermögen in Bezug auf Geschwindigkeit und Entfernung.

6.4.   Alle Politik- und Verwaltungsebenen müssen zu ihrer Verantwortung für die Verbesserung der Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen für Arbeitnehmer stehen, indem sie die Kontrollen verschärfen und strikte Strafen gegen diejenigen verhängen, die gegen die Sicherheitsnormen verstoßen. Oft werden Arbeitnehmer Opfer von Unfällen, die hätten vermieden werden können, wenn die Schutzvorschriften auf der Grundlage der aktuellsten Untersuchungen und des technologischen Fortschritts entsprechend aktualisiert worden wären. Hierzu gehören die jüngsten epidemiologischen Untersuchungen im Zusammenhang mit Schadstoffen, die als Nebeneffekt zum Aufmerksamkeitsverlust führen und irreparable Folgen haben können.

7.   Welche Maßnahmen sollen gegen die Stagnation ergriffen werden?

7.1.   Die Berichte der EU-Agenturen belegen, dass die Maßnahmen zur Schadstoffbekämpfung erst am Anfang stehen. Es gilt, die rechtlichen Schutzinstrumente für die Bürger durch ein angemessenes System von Kontrollen zu verstärken, die unabhängig von den Ämtern auf staatlicher und lokaler Ebene durchgeführt werden müssen.

7.2.   Einer neuesten Studie der EUA zufolge bildet die steigende Verkehrsnachfrage die Hauptursache für den Anstieg schädlicher Emissionen, auch wenn es aufgrund der Energieeffizienz bei Kraftstoffen zu Einsparungen kam: Oft entsteht die Nachfrage jedoch durch verkehrsfremde Faktoren (Fahrten zum Einkaufen, zur Arbeit und in den Urlaub). Außerhalb des Verkehrssektors getroffene Entscheidungen beeinflussen den „carbon footprint“, d.h. den CO2-Fußabdruck oder die Treibhausgasbilanz des Verkehrssektors und lassen die Folgen unberücksichtigt. Es bedarf einer detaillierten Analyse der Wirtschaftstätigkeiten außerhalb des Verkehrssektors (EUA, Beyond transport policy - exploring and managing the external drivers of transport demand. Technical report No 12/2008).

7.3.   In einigen Städten wurden die Messstationen aus den am stärksten belasteten Stadtvierteln in ruhige Vororte verlegt oder es wurden einfach gar keine Daten mehr in diesen Gebieten erhoben, um den Handel nicht durch Verkehrsbeschränkungen zu stören.

7.4.   Das System der Selbstzertifizierung der Reifenhersteller ist mit Kontrollen verbunden, die sich auf spezifische Asphalteigenschaften (Rauheit, spezifische Schall absorbierende Wirkung) beziehen und stark darauf ausgerichtet sind, das Fahrzeuginnengeräusch (in-vehicle noise) anstatt den von den Bürgern wahrgenommenen Außenlärm (pass-by) zu dämpfen.

7.5.   Lärmbelastung entsteht durch Zuführung von Geräuschen in die Wohnumwelt oder in die äußere Umwelt, die so weit gehen, dass sie Belästigungen oder Störungen der Ruhe und Aktivitäten des Menschen, Gefahren für die Gesundheit, Beeinträchtigungen von Ökosystemen, Sachgütern, Denkmälern, der Wohnumwelt oder äußeren Umwelt hervorrufen oder die legitime Nutzung der Umweltbereiche selbst behindern. Lärmbelastung muss durch eine wohldurchdachte Einbeziehung der Bevölkerung bekämpft werden, indem diese zu verantwortungsbewussten Verhaltensweisen zwecks Erlangung eines kollektiven Wohlergehens bewogen wird.

7.6.   Neben der Verbreitung verantwortungsbewusster Verhaltensweisen, insbesondere der jungen Generationen, durch Zusammenwirken mit der Schule, angefangen bei der Grundschule, müssen gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um das Ziel einer Gesellschaft mit niedrigen CO2- und Schadstoffemissionen zu erreichen.

7.7.   Es müssen Anreize geschaffen werden, um den nachhaltigen, öffentlichen Stadtverkehr zu fördern. Eine interessante Maßnahme wurde von der Stadt Basel angewandt, die in Abstimmung mit den Hoteliers kostenlose (das heißt in den Hotelpreis inbegriffene) Mobilitätskarten ausgibt, die für eine Anzahl von Tagen, die denen des Aufenthalts in einem Hotel entspricht, zur unentgeltlichen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel berechtigen.

Beschränkungen des städtischen Verkehrs bei Bevorzugung des öffentlichen Personennahverkehrs (2), differenzierte Besteuerung von Kraftfahrzeugen und Kraftstoffen entsprechend den jeweiligen Emissionen (3) und damit Internalisierung der externen Kosten (4) sowie zahlungspflichtige Verkehrsgenehmigungen für Stadtzentren, tendieren nach anfänglichen positiven Wirkungen in Gestalt der Verringerung des Stadtverkehrs jedoch dazu, mit der Zeit an Wirksamkeit zu verlieren, wie im Falle Londons, Stockholms oder Mailands. Ein Geländewagen sollte im Gelände und nicht in den Kleinstädten Europas genutzt werden, die errichtet wurden, um Kutschen und Pferden Raum zu bieten (die ebenfalls Methan-Emissionen verursachen!).

7.8.1.   Ein entscheidender Beitrag zu dem Versuch, die durch die diesbezügliche europäische Richtlinie aufgestellten Ziele zu verwirklichen, ist die Herstellung und Verwendung von Fahrzeugen, die die Emissionsgrenzwerte besser einhalten.

7.9.   Zur Entwicklung der ITS (Intelligente Verkehrssysteme) (5): Die Intelligenten Verkehrssysteme unterscheiden sich nach den angewandten Technologien und reichen von den Basismanagementsystemen wie satellitengestützten Navigationsgeräten, Ampelkontrollsystemen oder Geschwindigkeitsdetektoren für Managementanwendungen in Videoüberwachungsanlagen bis hin zu fortgeschrittenen Anwendungen, die von verschiedenen externen Quellen stammende Echtzeitdaten vervollständigen, wie Wetterinformationen, Brückenenteisungssysteme u.ä.

7.10.   Zur Anwendung gelangen können: Computertechnologien, ergänzt durch operative Echtzeitsysteme unter Verwendung von Mikroprozessoren, die bereits in neuen Automobilen vorhanden sind; das FCD-System (Floating Car Data oder Floating Cellular Data), das die Signale der Handys von Fahrzeugführern nutzt, die über ein Mobiltelefon verfügen; Technologien mit internen oder externen Sensoren; Erfassung durch Induktionsschleifen mit in den Asphalt eingelassenen Sensoren, Videoüberwachung.

7.11.   Mit der Elektronik lässt sich auch das Problem der Entrichtung außer- und innerstädtischer Mautgebühren beheben. Elektronische Mautsysteme werden neben der Mauterhebung auch für das Staumanagement eingesetzt und messen die Durchfahrten je Zeitlängenabschnitt.

7.12.   Es empfiehlt sich, Überlegungen über Freizeitfahrzeuge (Buggys, Quads, Geländemotorräder, Jet-Ski, Motorschlitten, Ultraleichtflugzeuge) anzustoßen. Oft sind die Lärmkomponente und Emissionen in Verbindung mit der starken Freisetzung übler Gerüche typisch für diese Fahrzeuge. Diese sind fast nie mit einem Kennzeichen versehen, können aber legal bewegt und geparkt werden. Ihre Motoren müssen normalerweise den allgemeinen Vorschriften entsprechen, doch fragt man sich, ob diese Regelungen ausreichend berücksichtigen, dass diese Fahrzeuge in Gebieten mit hohem Eigenwert der Natur genutzt werden. Die rasant zunehmende Verbreitung dieser Fahrzeuge wirft nicht nur Umweltprobleme auf, sondern stellt auch eine technologische Herausforderung dar.

7.13.   Internalisierung der externen Kosten, insbesondere jener, die für die Gesundheit der Bürger entstehen, und integrierte Verkehrskonzepte unter Berücksichtigung der Umweltverträglichkeit der einzelnen Projekte und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, der Verbesserung der Umwelt, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Auswirkungen auf die Staubildung.

7.14.   Änderung der Lebensweisen; Unterstützung der nachhaltigen Mobilität in Gestalt des Fußgänger- und Radverkehrs auf kurzen Strecken durch Verbesserung der Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer.

7.15.   Überprüfung der Logistikverwaltung und der Just-in-time-Produktion, die einen enormen Aufwand hinsichtlich der Warenbewegungen mit sich bringt. Standardisierung der Designs und somit zahlenmäßige Verringerung der Ersatzteile.

7.16.   Förderung der Telearbeit, wo dies möglich ist.

7.17.   Unterstützung der Forschung und innovativen Entwicklung von Material und technologischen Lösungen zur Reduzierung der verkehrs- und straßentransportbedingten Schadstoffe.

7.18.   Zur Verringerung der Auswirkungen der Lärmbelästigung könnten folgende Maßnahmen ins Auge gefasst werden: auf den Straßenbelag aufgebrachte Vorrichtungen zur Geschwindigkeitsbeschränkung (Straßenschwellen), Verbesserung der Asphaltqualität, schallschluckende Wände in Gebieten mit hoher Verkehrsdichte, wirklich abschreckende Sanktionen für Fahrzeuge, bei denen die Lärmemissionsgrenzwerte überschritten werden, bis hin zur Beschlagnahmung des Fahrzeugs, Lärmkontrollen, die mehr den „normalen“ Fahrtbedingungen der Fahrzeuge angepasst sind.

7.19.   Motorfahrzeuge sind häufig die wichtigste Ursache für Lärmbelästigungen und -schäden. Ihre Lärmemissionen sind stärker zu kontrollieren und es müssen Fahrverbote ausgesprochen werden, bis eine Bescheinigung über ihre Konformität mit den geltenden Rechtsvorschriften vorgelegt wird.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 220 vom 16.9.2003, S. 16

(2)  ABl. C 168 vom 20.7.2007, S. 77-86.

(3)  ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 26-28.

(4)  Siehe Seite 80 dieses Amtsblatts.

(5)  Stellungnahme CESE 872/2009, TEN/382, Einführung intelligenter Verkehrssysteme, Berichterstatter: Josef Zbořil (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/29


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zulieferer und nachgelagerte Märkte der Automobilindustrie“

(Initiativstellungnahme)

(2009/C 317/05)

Berichterstatter: Gustav ZÖHRER

Ko-Berichterstatter: José Custódio LEIRIÃO

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Zulieferer und nachgelagerte Märkte der Automobilindustrie.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 4. Juni 2009 an. Berichterstatter war Gustav ZÖHRER, Ko-Berichterstatter José Custódio LEIRIÃO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 104 gegen 4 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Die Automobilproduktion ist eine der Schlüsselindustrien in der EU. Sie ist treibende Kraft hinsichtlich Wachstum, Beschäftigung, Export und Innovation. Von ebensolcher Bedeutung sind die ihrem nachgelagerten Markt zuzurechnenden Zulieferungen und Dienstleistungen. Die Akteure im nachgelagerten Markt sind die Fahrzeughersteller, ihre Zulieferer und die unabhängigen oder zugelassenen Anbieter im Bereich Serviceleistungen, Ersatzteile und Zubehör sowie in den Bereichen Fertigung, Vertrieb und Einzelhandel. Es ist ein Netz von 834 700 Unternehmen (überwiegend KMU) mit einem Gesamtumsatz von 1 107 Mrd. EUR und rund 4,6 Mio. Beschäftigten.

1.2.   Sowohl die Automobilhersteller als auch die Händler sind einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt, der zu immer geringeren Gewinnmargen führt. Damit gewinnen die dem Verkauf nachgelagerten Märkte zunehmend an Bedeutung, wobei die Automobilhersteller eine dominierende Rolle gegenüber den unabhängigen Anbietern einnehmen.

1.3.   Die Krise der Finanzmärkte hat in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 als einen der ersten Sektoren der Realwirtschaft die Automobil- und Automobilzulieferindustrie in besonderem Ausmaß getroffen und zu einem schmerzhaften Einbruch im Absatz geführt. Der damit verbundene Rückgang der Produktion hat sowohl für die Unternehmen als auch für deren Beschäftigte schwerwiegende Konsequenzen. Die Unternehmen in den nachgelagerten Märkten sind ebenso betroffen. Für sie stellt vor allem der nun erschwerte Zugang zu Finanzmitteln ein ernstes, die Existenz bedrohendes Problem dar. Der Ausschuss fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten daher auf, die Akteure auf den nachgelagerten Märkten bei allen Maßnahmen gleichermaßen zu berücksichtigen.

Unabhängig von der aktuellen Situation gibt es mittel- und längerfristige Trends im Automobilsektor, die auch im nachgelagerten Markt zu erheblichen Umstrukturierungen führen werden. In einigen Jahren werden die Strukturen dieses Sektors völlig erneuert sein. Einerseits zeichnet sich eine Verschiebung von Marktanteilen zu Gunsten der unabhängigen Anbieter ab, andererseits werden viele — vor allem — Klein- und Kleinstunternehmer nur dann überleben, wenn sie neue Konzepte entwickeln und Investitionen tätigen.

1.4.1.   Nach Auffassung des EWSA wird sich die Umstrukturierung auf den nachgelagerten Märkten dahingehend fortsetzen, dass vielfältige neue Partnerschaften (auch mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft) und neue Formen von Kundenbeziehungen entstehen werden. Aufgrund der engen Verflechtung der Automobilbranche mit anderen Branchen und der Auffächerung der Zulieferindustrie und des Automobilhandels zeitigt jede Form von Umstrukturierung, die erhebliche negative Konsequenzen auf die KMU hat, auch Auswirkungen auf hunderttausende Arbeitnehmer in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Daher vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Kommission die Umstrukturierungsprozesse auf den nachgelagerten Märkten genau beobachten und nötigenfalls tätig werden sollte, um den Wettbewerb sicherzustellen.

1.4.2.   Der Ausschuss regt daher an, entsprechend der Lissabon-Strategie eine Hochrangige Gruppe einzusetzen, die angelehnt an die Ergebnisse von CARS 21 Perspektiven für die Zeit nach der Krise erarbeitet und Handlungsfelder auslotet. Unter Beachtung der Entwicklungen in der gesamten Automobilindustrie sollten dabei folgende Schwerpunkte gesetzt werden:

Weiterentwicklung des Rechtsrahmens/Zugang zu freiem und fairem Wettbewerb;

Umsetzung der Lissabon-Strategie;

Erhebung des Qualifikationsbedarfs;

Innovation;

Verbraucherfragen;

Handelspolitik;

soziale Aspekte.

1.5.   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass eine Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften in Anbetracht der derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen stets zur Wahrung des freien und fairen Wettbewerbs beitragen sollte, indem:

tiefgreifende Umwälzungen für die Dauer dieser schweren Krise vermieden werden;

Bestimmungen, die eine zu hohe Konzentration im Handel begünstigen, ausgewogen gestaltet werden;

der entsprechende Rahmen für Sicherheit, Umweltschutz und Vereinfachung der Bestimmungen geschaffen wird;

die Ziele wettbewerbsfeindlichen Verhaltens aufgrund einer Marktneuordnung antizipiert werden;

Förderung des im Small Business Act festgeschriebenen Prinzips „Vorfahrt für KMU in Europa“, um die Entwicklung der KMU, Innovationen und den Schutz von Arbeitsplätzen zu fördern.

1.6.   Um Quantität und Qualität der Beschäftigung zu sichern, die Mobilität der Beschäftigten zu erhöhen und insgesamt die Attraktivität des Sektors zu verbessern, ist es notwendig, dass sich der Sektor und die Unternehmen auch den sozialen Herausforderungen stellen. Vor allem müssen die Fragen des demografischen Wandels, die Entwicklung von lebensbegleitenden Aus- und Weiterbildungsmodellen sowie neue Anforderungen im Bereich der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz behandelt werden. Der Ausschuss fordert daher die Akteure und die Kommission auf, den sozialen Dialog auf allen Ebenen (im Sektor, auf nationaler Ebene und in den Unternehmen) zu voranzutreiben.

2.   Hintergrund

2.1.   Die Automobilindustrie ist eine der wichtigsten Branchen der EU. Die CCMI legte im November 2007 den Informationsbericht „Die Kraftfahrzeugindustrie in Europa: gegenwärtige Situation und Aussichten“ vor. Dieser Bericht beschränkte sich allerdings auf den Kernbereich der Branche, d.h. die „Herstellung von Kraftwagen und Teilen“ (entsprechend NACE 29, der Nomenklatur der Wirtschaftszweige). Wie in dem Dokument dargestellt wurde, sind jedoch etliche Zulieferungen für die Automobilindustrie und eine ganze Palette von verknüpften Wirtschaftsaktivitäten in der Abgrenzung der NACE 29 nicht enthalten.

2.2.   Bei den Zulieferungen für die Automobilindustrie und den nachgelagerten Märkten geht es um ein weites Feld, das teilweise in den Bereich der industriellen Fertigung fällt: die Herstellung von elektrischen Ausrüstungen für Motoren und Fahrzeuge, die Herstellung von Lacken für die Automobilindustrie, die Reifenproduktion, Kunststoff- und Textilprodukte, die Herstellung von Klimaanlagen, Batterien und Messinstrumenten für Automobile. Ein anderer Teil zählt zu den Dienstleistungen, wie die Instandhaltung und Reparatur von Kfz.

Die Akteure im nachgelagerten Markt sind in Europa die Fahrzeughersteller, ihre Zulieferer und die unabhängigen Anbieter im Bereich Serviceleistungen, Ersatzteile und Zubehör sowie in den Bereichen Fertigung, Vertrieb und Einzelhandel. Diese Wirtschaftsaktivitäten spielen eine Schlüsselrolle für die europäische Wirtschaft, da sie eine große Zahl von Branchen betreffen (Großunternehmen ebenso wie KMU) und ihnen eine große beschäftigungspolitische Bedeutung zukommt.

2.3.1.   Im Wesentlichen gliedern sich die nachgelagerten Märkte in drei Hauptbereiche:

I.   Vertrieb, Service, Reparatur und Wartung

Zu dieser Kategorie zählen die eigenen Strukturen der Hersteller (Vertrieb und Service) und unmittelbar vom Hersteller abhängige Vertragspartner (Generalimporteure, Vertragswerkstätten usw.) genau so wie freie Werkstätten. Es gibt allgemeine Werkstätten und solche, die sich auf bestimmte Bereiche spezialisiert haben. Auf einzelne Komponenten spezialisierte Werkstätten sind teilweise auch der Zulieferindustrie zuzuordnen.

II.   Ersatzteile

Erzeugung und Lieferung von Ersatzteilen erfolgen zunächst durch die Automobilhersteller selbst oder durch deren Zulieferunternehmen sowie durch die Händler. Ein immer größerer Teil wird aber nicht mehr als Originalersatzteil, sondern als Nachbauteil gehandelt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von allgemein verwendbaren Ersatzteilen, die nicht einzelnen Automobilherstellern zuordenbar sind (Reifen, Felgen, Batterien, Zündkerzen, Filter, Lampen usw.).

III.   Zubehör und Tuning

Darunter könnte man mehr oder weniger alle jene Teile bzw. Komponenten verstehen, die man zur individuellen Gestaltung des Designs, des Komforts oder der Sicherheit eines Automobils verwenden kann. Das ist ein sehr weit gestreuter Bereich, der von sehr komplexen elektronischen oder hydraulischen Komponenten (wie z.B. GPS-Navigationssystemen oder Fahrwerken) bis hin zu einfachen Plastikgegenständen (z.B. Getränkehaltern) reicht.

2.3.2.   Verschrottung und Recycling sind in diesem Markt von wachsender Bedeutung. Einerseits werden Teile aus verschrotteten Automobilen aufbereitet und verkauft. Andererseits sind sie auch eine Quelle von Rohstoffen, wie z.B. Stahl, Aluminium und Kunststoff.

2.3.3.   Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer Marktteilnehmer im Dienstleistungssektor, wie zum Beispiel Tankstellen, Pannenhelfer oder technische Prüfer/Überprüfungsanstalten und Karosseriereparaturbetriebe.

Es gibt keine ausreichenden statistischen Daten. Für diese Bereiche der industriellen Fertigung oder Bereitstellung von Dienstleistungen liegen nur in Ausnahmefällen spezifische Daten vor; im Allgemeinen handelt es sich um Produktions- und Dienstleistungsbereiche, die verschiedenen Branchen und Dienstleistungssektoren zuzurechnen sind.

2.4.1.   Der nachgelagerte Markt der Automobilindustrie besteht aus rund 834 700 Unternehmen, überwiegend kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Wobei es unterschiedliche Strukturen in den einzelnen Mitgliedsländern gibt. In einigen Ländern — vor allem in Südeuropa — dominieren Klein- und Kleinstunternehmen (größtenteils Familienbetriebe), während der Sektor in anderen Ländern eher durch größere Strukturen gekennzeichnet ist, wie beispielsweise in Deutschland und Frankreich. Der Umsatz dieser Branche beziffert sich auf 1 107 Mrd. EUR, und sie beschäftigt rund 4,6 Mio. Menschen in der Europäischen Union (1).

3.   Wirtschaftliches Umfeld und internationale Trends

Die Krise der Finanzmärkte hat in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 als einen der ersten Sektoren der Realwirtschaft die Automobil- und Automobilzulieferindustrie in besonderem Ausmaß getroffen. Bedingt durch die Schwierigkeiten auf den Finanzmärkten ergaben sich zwei Effekte, die die Branche besonders betreffen. Zum einen ist das Automobil neben dem Hausbau die wohl größte Investition in privaten Haushalten. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten werden solche Investitionen hinausgezögert, was im Pkw-Markt zu einem nicht vorhersehbaren Einbruch im Absatz geführt hat. Zum anderen ist der Zugang zu Krediten erschwert und vor allem Klein- und Mittelbetriebe haben daher Probleme bei der Finanzierung ihrer Aktivitäten. Dies wirkt sich auch auf betriebliche Investitionen aus und führt in der Folge auch zu rückläufigen Verkaufszahlen im Nutzfahrzeugbereich (2)  (3).

3.1.1.   Die Zahl der neu angemeldeten Personenkraftwagen in Europa verzeichnete im Jahr 2008 einen Rückgang um 7,8 % im Vergleich zum Vorjahr. Allein im letzten Quartal betrug die Differenz 19,3 %. Bei den leichten Nutzfahrzeugen ging der Absatz um mehr als 10 % zurück und bei Lastkraftwagen immer noch um 4 %. Diese Tendenz setzt sich auch am Beginn des Jahres 2009 fort, auch wenn durch verschiedene Maßnahmen der Mitgliedstaaten (z.B. Umwelt- und Verschrottungsprämien) bei den Pkw eine leichte Abschwächung bemerkbar ist. Im Bereich der Nutzfahrzeuge wird sich die Entwicklung dagegen dramatisch verschlechtern. Der Markt für schwere Nutzfahrzeuge ist 2009 katastrophal eingebrochen, sanken die Neuzulassungen im ersten Quartal des Jahres doch um 38,9 %.

3.1.2.   Der Rückgang in der Produktion hat nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Beschäftigten schwerwiegende Konsequenzen. Vor allem führt er zu Personalabbau (von dem in erster Linie Zeitarbeitskräfte betroffen sind) und Kurzarbeit oder ähnlichen Maßnahmen, die alle mit Einkommensverlusten verbunden sind.

Unabhängig von der derzeitigen Entwicklung untersuchte die CCMI in ihrem Informationsbericht vom November 2007 (4) eingehend die wichtigsten Trends in der Automobilindustrie. Viele dieser Entwicklungen werden durch die gegenwärtige Krise beschleunigt werden und zu einem umfangreichen Strukturwandel in der Industrie führen. Diese Trends wirken sich unmittelbar auf die Entwicklungen und Veränderungen im nachgelagerten Markt aus. In den nachstehenden Absätzen möchte die CCMI schwerpunktmäßig die für die Zulieferer und nachgelagerten Märkte der Automobilindustrie wichtigsten Tendenzen aufzählen.

3.2.1.   Die wichtigsten Ergebnisse sind:

Alle aktuellen Trendstudien und Prognosen deuten darauf hin, dass es sich bei der Automobilindustrie mittelfristig weltweit um eine Wachstumsbranche handelt, die allerdings weiterhin durch massive Umstrukturierungen gekennzeichnet sein wird.

Zuwächse bei Wertschöpfung und Beschäftigung konzentrieren sich vornehmlich im Zulieferbereich und werden durch kontinuierliches Outsourcing erzielt.

Weiteres Outsourcing ist vor allem bei den großen (US-amerikanischen) Volumenherstellern zu erwarten; europäische (und insbesondere deutsche) Hersteller im Oberklassesegment sind von diesem Phänomen weniger stark betroffen.

Zuwächse der Automobilproduktion (Pkw-Sektor) konzentrieren sich international vor allem auf die BRIC-Staaten (dabei insbesondere China/Indien) und auf Europa.

Trotz des allgemeinen Wachstumstrends sind nicht nur regionale Verschiebungen von Wachstumsschwerpunkten zu erwarten:

einzelne Endprodukthersteller drohen in eine existenzbedrohende Krise zu geraten;

es ist nicht auszuschließen, dass sich in den USA eine ähnliche interne Entwicklung vollzieht wie in Großbritannien in den neunziger Jahren (umfassende Umstrukturierung mit regionaler Schwerpunktverlagerung);

die Hersteller-Zulieferer-Relationen werden sich auch weiterhin in Folge von Outsourcing-Prozessen verändern;

in der Zulieferindustrie ist eine weitere massive Konzentration zu erwarten;

im Gefolge technischer Entwicklungen (u.a. Antriebs- und Motortechnik) sind erhebliche Umschichtungen im Zulieferbereich zu erwarten.

Die Frage, in welchem Umfang einzelne Zulieferunternehmen von diesen Umstrukturierungsprozessen betroffen sein werden, entscheidet sich anhand einer Reihe unterschiedlicher Faktoren. Dabei handelt es sich um folgende Faktoren:

das Produkt-Portfolio der Unternehmen und Alleinstellungsmerkmale;

die FuE-Aktivitäten und die Aufteilung ihrer Kosten;

das jeweilige Hersteller-Zulieferer-Verhältnis;

die Effizienz der Produktionsorganisation;

die Einbettung in Wertschöpfungsnetzwerke und Cluster-Beziehungen;

die Unternehmensstruktur und die Eigentumsverhältnisse;

die Kapitalausstattung und der Umfang des freien Cashflows;

die regionale Präsenz.

Die regionale Struktur der europäischen Automobilindustrie wird auch weiterhin von einer West-Ost-Verschiebung gekennzeichnet sein.

Es ist auch weiterhin von forcierten Produktivitätssteigerungen in der Automobilindustrie auszugehen, die über die angenommenen Produktionssteigerungen hinausgehen. Dies wird zu einem anhaltenden Druck auf die Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen (vor allem im Bereich der Zulieferindustrie) führen.

In der Weltautomobilindustrie — aber auch in der europäischen Automobilindustrie — bestehen im Bereich der Pkw-Produktion erhebliche Überkapazitäten. Der Druck von Kapazitätsüberhängen wird durch den sich abzeichnenden weiteren Kapazitätsausbau zusätzlich verstärkt.

Der Markt wird von immer differenzierteren und vielschichtigeren Verbraucherwünschen geprägt. Dabei spielt die demografische Entwicklung, aber auch die Entwicklung der Einkommen und der Verkaufspreise eine wesentliche Rolle.

Klimabelastungen, Rohstoffknappheiten und Sicherheit sind massive Herausforderungen. Dies erhöht den Druck auf eine forcierte Entwicklung in den Bereichen Antriebstechnik (und Abgasvermeidung, alternative Kraftstoffe) und Werkstofftechnologie sowie im Hinblick auf integrierte intermodale Verkehrssysteme. Dieser Punkt wird die Branche in nächster Zukunft am nachhaltigsten beeinflussen und erfordert auch die Definition der künftigen Rolle des Straßenverkehrs und des Automobils im Rahmen eines solchen Systems.

3.3.   Sowohl die Automobilhersteller als auch die Händler sind einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt, der zu immer geringeren Gewinnmargen führt. Der Handel ist davon besonders betroffen, denn dort liegen die Margen bei ca. 0,3 %. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich die Akteure immer mehr auf die dem Verkauf nachgelagerten Märkte (Service, Wartung, Ersatzteile) konzentrieren. Hier haben die Automobilhersteller eine dominierende Stellung gegenüber den unabhängigen Anbietern.

4.   EU-Rechtsrahmen

4.1.   Im Gegensatz zum Primärmarkt sind auf den nachgelagerten Märkten Wettbewerbsprobleme festzustellen. Dort halten die Vertragshändler hohe Marktanteile (um die 50 %), und die Automobilhersteller haben hohe Marktanteile am Ersatzteilmarkt. Hinzu kommen die Originalersatzteile, die nur über die Automobilhersteller bezogen werden können. Der Zugang freier Werkstätten zu technischen Informationen musste durch die Europäische Kommission erzwungen werden. Die im Vergleich zum Primärmarkt andersartige Wettbewerbssituation äußert sich auch in dem Umstand, dass die Automobilhersteller tendenziell weit größere Gewinnmargen bei Ersatzteilen verbuchen können und die Vertragshändler einen Großteil ihrer Gewinne durch Reparatur und Wartung und nicht durch den Verkauf von Neuwagen erzielen.

4.2.   Zum Schutz des Wettbewerbs, der Wahlmöglichkeiten der Verbraucher und der gleichen Ausgangsbedingungen im Ersatzteil- und Reparatursegment verabschiedete die Europäische Kommission 2003 die derzeit geltende Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 zur Gruppenfreistellung im Kraftfahrzeugsektor, die Regeln für die am Markt beteiligten Akteure festlegt und bis 2010 in Kraft bleiben soll.

In der Gruppenfreistellungsverordnung werden vertikale Absprachen definiert, die von dem Verbot des unfairen Wettbewerbs in Artikel 81 des EU-Vertrags ausgenommen sind. Sie sind daher ein sicherer Bezugspunkt für die Marktteilnehmer. Erfüllen die Absprachen die Bedingungen in der Gruppenfreistellungsverordnung, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie mit den EU-Wettbewerbsbestimmungen konform sind.

4.3.   Die branchenspezifische Gruppenfreistellungsverordnung für den Kraftfahrzeugsektor geht weit stärker ins Detail als die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung und stellt die Marktteilnehmer, insbesondere KMU, aufgrund ihrer großen Komplexität vor Auslegungsprobleme. Die Kommission hat dies nach zahlreichen, nicht auf Wettbewerbsfragen bezogenen Klagen und Anfragen von Marktteilnehmern zur Kenntnis genommen. Auf den nachgelagerten Märkten gewährleistet die Gruppenfreistellungsverordnung für den Kraftfahrzeugsektor a priori einen großzügigeren Ansatz, da unter bestimmten Bedingungen Absprachen bis zu einem Marktanteil von 100 % gedeckt sind (in der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung nur bis zu einem Marktanteil von bis zu 30 %), wobei diese großzügige Regelung durch spezifische Bestimmungen teilweise wieder zurückgenommen wird.

Demzufolge bleibt die Gruppenfreistellungsverordnung für den Kraftfahrzeugsektor auch weiterhin ziemlich umstritten, da die Vertragshändler mehrheitlich an der Wahrung des Status quo interessiert sind, während die Automobilhersteller einfachere und weniger restriktive Bestimmungen fordern und der unabhängige Sektor (freie Werkstätten und Ersatzteilhersteller) wiederum auf eine bessere Harmonisierung der geltenden Rechtsvorschriften dringt.

4.4.   Eine bessere Harmonisierung des derzeitigen Rechtsrahmens würde Folgendes umfassen:

die Gruppenfreistellungsverordnung;

Bereitstellung und Verfügbarkeit von Informationen über die Technik in neuen Modellen und neuer Werkzeuge für alle Akteure;

die Überarbeitung der Richtlinie 96/96/EG über die technische Überwachung der Kraftfahrzeuge;

geistige Eigentumsrechte der Unternehmen (Design und Patentschutz);

Garantiebestimmungen;

Schulung.

4.5.   Alle Marktteilnehmer wünschen Rechtssicherheit und möchten wissen, was nach 2010 geschieht. Die derzeitige Unsicherheit darüber, was die Gruppenfreistellungsverordnung künftig bringen wird, bereitet gerade den KMU großes Kopfzerbrechen, was angesichts der Vertragslaufzeiten und Investitionen, derer es bedarf, um alle Akteure auf den neuesten Stand in der Fahrzeugtechnologie zu bringen und den Zugang zu Ersatzteilen, Informationstechnologien, neuen Werkzeugen, Ausrüstungen und Schulungen zu gewährleisten, nur allzu verständlich ist.

4.6.   Die Kommission hat den Rechtsrahmen durch die im Januar 2009 in Kraft tretende Verordnung (EG) Nr. 715/2007 (Euro 5) verstärkt, mit der der Zugang zu allen technischen Informationen bei neuen Typgenehmigungen von Kraftfahrzeugen geregelt wird.

4.7.   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass eine Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften in Anbetracht der derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen stets zur Wahrung des freien und fairen Wettbewerbs beitragen sollte, indem:

tiefgreifende Umwälzungen für die Dauer dieser schweren Krise vermieden werden;

Bestimmungen, die eine zu hohe Konzentration im Handel begünstigen, ausgewogen gestaltet werden;

der entsprechende Rahmen für Sicherheit, Umweltschutz und Vereinfachung der Bestimmungen geschaffen wird;

die Ziele wettbewerbsfeindlichen Verhaltens aufgrund einer Marktneuordnung antizipiert werden;

Förderung des im Small Business Act festgeschriebenen Prinzips „Vorfahrt für KMU in Europa“, um die Entwicklung der KMU, Innovationen und den Schutz von Arbeitsplätzen zu fördern.

5.   Die derzeitige Situation im nachgelagerten Markt der europäischen Automobilindustrie

Der nachgelagerte Markt der EU wird durch einen umfassenden strukturellen Wandel aufgrund neuer und aktiverer Regulierungsmaßnahmen geprägt. Auch der technische Wandel und veränderte Prozesse tragen zur Umgestaltung des erfolgreichen Geschäftsmodells im nachgelagerten Markt bei, die alle Marktteilnehmer in der Produktions-, Vermarktungs- und Vertriebskette erfasst.

5.1.   Wartung und Reparatur

Technische Innovationen sorgen für eine bessere Kontrolle der Emissionen und für mehr Sicherheit und Komfort, was jedoch die Wartung und Reparatur zunehmend erschwert. Dieser Markt ist sehr stark wettbewerbsgeprägt; zahlenmäßig wird er durch die KMU dominiert, die wettbewerbsgerechte Teile und qualitativ hochwertige Dienstleistungen liefern und somit einen entscheidenden Beitrag für Beschäftigung und Wachstum in der europäischen Wirtschaft leisten.

5.1.1.   Speziell die Hersteller von für mehrere Marken geeigneten Geräten und Werkzeugen (Multibrand-Tools) sind auf besondere Informationen angewiesen (z.B. spezifische Diagnose-Informationen für markenübergreifende Diagnosegeräte, um einen breiten Funktionsumfang zu gewährleisten). Ohne Geräte und Werkzeuge, die für mehrere Marken geeignet oder markenübergreifend einsetzbar sind, müssen kleine Unternehmen für jede potenziell zu reparierende Fahrzeugmarke eigene Werkzeugsätze kaufen. Zu diesem Zweck müssen Anschaffungen getätigt werden, die die finanziellen Möglichkeiten der KMU klar übersteigen würden. Um mit der wachsenden Zahl der immer öfter in Fahrzeugen eingebauten elektronischen Systeme Schritt zu halten, sind die Werkzeughersteller auf verlässliche Informationen und Angaben von Seiten der Automobilhersteller angewiesen. Ohne diese Angaben können die Hersteller von Diagnosewerkzeugen nicht die von den freien Werkstätten benötigte Software liefern.

5.2.   Ersatzteile

Die Produktion und der Vertrieb von markenspezifischen Originalersatzteilen erfolgt zu einem großen Teil zunächst durch die OEM oder ihre unter Vertrag stehenden Zulieferunternehmen. Einen sehr wesentlichen Anteil haben aber von Marken unhabhängig verwendbare Teile, wie Reifen, Räder, Batterien, Zündkerzen, diverse Filter usw.

Gerade die Reifen-, Batterie- und Rädererzeuger stehen in einem wachsenden globalen Wettbewerb und sind in der Vergangenheit einem umfassenden Strukturwandel unterworfen gewesen. Hier wären ergänzende Untersuchungen der jeweiligen Untersektoren zu empfehlen.

5.2.1.   Nachbau und Kopie von Ersatzteilen

Alternative, unabhängige Anbieter haben auf dem Ersatzteilmarkt zunehmende Bedeutung. Oft bieten sie Ersatzteile mit einem den Kundenbedürfnissen besser entsprechenden Preis-Leistungs-Verhältnis an (z.B. wenn bei älteren Fahrzeugen hohe Lebensdauer weniger wichtig ist als der günstigere Preis). Dabei geht es zunächst nicht darum, das Original zu kopieren, sondern um Funktionalität.

Immer wieder werden allerdings auch illegale Kopien bzw. Fälschungen mit minderwertiger Qualität angeboten. Hierbei handelt es sich letzten Endes um Betrug am Kunden, der durch die Instrumente des Patentschutzes, des Schutzes geistigen Eigentums und der Handelspolitik immer besser unterbunden werden kann.

5.2.2.   Die Fahrzeugtuningbranche

Das Fahrzeugtuning ist eine schnell wachsende Unterbranche der Autoindustrie.

Beim Fahrzeugtuning geht es darum, Fahrzeuge so umzugestalten, dass ihre Leistung, ihre optische Anziehungskraft und ihre Sicherheit gesteigert werden. Tuning kann sich auf alle Autoteile beziehen: Räder, Reifen, Stoßdämpfer, Motor, Innenraum, Karosserie, Auspuffanlage usw.

Es gibt Unternehmen, die sich ganz auf das Tuning verlegt haben und ihre Produkte weltweit absetzen. Im Allgemeinen nutzen sie innovative Konzepte und Materialien und entwickeln neue technische Trends, die manchmal selbst von den Automobilherstellern aufgegriffen und für den Massenmarkt verwendet werden.

Die Europäische Kommission sollte eine einschlägige Rechtsetzung zur Regulierung der Fahrzeugtuningbranche ausarbeiten und verabschieden.

5.3.   Sicherheit und nachhaltiger Nutzen für die Umwelt

Um sicherzustellen, dass die Fahrzeuge den von der Europäischen Union gesetzten Emissions- und Sicherheitsnormen nicht nur im fabrikneuen Zustand, sondern während ihrer gesamten Lebensdauer entsprechen, bedürfen sie einer regelmäßigen Inspektion, Wartung und Reparatur. Bei fabrikneuen und älteren Modellen spielen freie Werkstätten und zugelassene Werkstätten eine wichtige Rolle, denn sie stellen sicher, dass die Fahrtüchtigkeit dieser Fahrzeuge erhalten bleibt und sie den geltenden Umweltauflagen genügen. Dieses Dienstleistungsniveau kann aber nur dann angeboten werden, wenn die Automobilhersteller Zugang zu Informationen, markenübergreifenden Werkzeugen und Ausrüstungen, Ersatzteilen und Schulungen gewähren.

6.   Große Umstrukturierungen im nachgelagerten Markt

6.1.   Die ganze Automobilindustrie mitsamt dem Handels- und Dienstleistungsbereich wurde von der Wirtschafts- und Finanzkrise schwer getroffen. Die Hauptprobleme für die Unternehmen (und insbesondere die KMU) sind die erschwerte Kreditaufnahme sowie das Einbrechen der Nachfrage nach Neuwagen. Auf der anderen Seite wurden die nachgelagerten Märkte der Automobilindustrie durch viele andere Faktoren beeinflusst, darunter

Zunahme des Fahrzeugdurchschnittsalters bei geringerer Jahreskilometerleistung;

Rückgang des Reparaturvolumens aufgrund der längeren Lebensdauer der Autoteile und der längeren Wartungsintervalle;

relativer Anstieg der Reparaturkosten, da zunehmend Spitzentechnologie in die Fahrzeuge eingebaut wird;

Druck auf die Reparaturkosten aufgrund der geringeren Haushaltseinkommen und dem höherem Preisbewusstsein der Verbraucher;

zunehmender Einsatz von Elektronik in modernen Fahrzeugen; immer kompliziertere Geräte;

steigende Anzahl von Ersatzteilen, dramatische Zunahme der Modell- und Ausstattungsvarianten;

wachsende Komplexität bei Reparatur und Wartung, Kennzeichnung von Teilen und Ausführung der Werkzeuge;

enorme Investitionen in IT-Systeme, Werkzeuge, Ersatzteile und Schulungen;

Praxis der Automobilhersteller, Kunden mit Wartungsverträgen zu binden.

6.2.   In der Folge vollzieht sich ein grundlegender Wandel, der zu Umstrukturierungen auf verschiedenen Ebenen führt:

Der Trend in Richtung Marktkonzentration aufgrund von Unternehmenszusammenschlüssen und -aufkäufen wird sich fortsetzen und sich infolge der Krise noch verstärken.

Die Zahl der unabhängigen Reparaturwerkstätten und Ersatzteilgroßhändler nimmt ab.

Kleine und mittelgroße Reparaturwerkstätten und Ersatzteilgroßhändler tendieren zunehmend dazu, sich unabhängigen Konzernen bzw. Ketten mit umfassendem Dienstleistungsangebot anzuschließen, um den steigenden Anforderungen in ihrem Geschäftsfeld gerecht werden zu können.

Ersatzteilhersteller und –händler sind zunehmendem Preisdruck ausgesetzt.

Aufgrund der geringen Rentabilität im Neuwagenhandel werden die Automobilhersteller ihre Geschäftstätigkeit in den nachgelagerten Märkten ausweiten.

6.3.   Darüber hinaus gibt es auf dem nachgelagerten Markt zwar Möglichkeiten für einen größeren Ersatzteilabsatz, jedoch wird von den Anbietern immer stärker erwartet, dass sie diesen Markt mit innovativen Produkten beliefern, die die Leistungsfähigkeit und die Sicherheit der Originalteile des Fahrzeugs verbessern und die Nachfrage auf diesem Markt ankurbeln sollen. Dies führt dazu, dass die Händler, die in einem Vertragsverhältnis mit einem Automobilhersteller stehen, um ihren Marktanteil ringen müssen, zumal der Ersatzteilbedarf in dem wichtigsten Marktsegment — Neuwagen und bis zu 4 Jahre alte Gebrauchtfahrzeuge — sinkt.

6.4.   Nach Auffassung des EWSA wird sich die Umstrukturierung auf den nachgelagerten Märkten dahingehend fortsetzen, dass vielfältige neue Partnerschaften und neue Formen von Kundenbeziehungen entstehen werden. Aufgrund der engen Verflechtung der Automobilbranche mit anderen Branchen und der Auffächerung der Zulieferindustrie und des Automobilhandels zeitigt jede Form von Umstrukturierung mit erheblichen negativen Konsequenzen auf die KMU auch Auswirkungen auf hunderttausende Arbeitnehmer in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Daher vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Kommission die Umstrukturierungsprozesse auf den nachgelagerten Märkten genau beobachten und nötigenfalls tätig werden sollte, um den Wettbewerb sicherzustellen.

7.   Soziale Aspekte

7.1.   Aus- und Weiterbildung

Generell sind die Systeme der Aus- und Weiterbildung in diesem Sektor gut entwickelt. Dies liegt einerseits an den Auflagen der Automobilhersteller und andererseits macht der rasche technische Wandel eine stetige Weiterbildung notwendig. Es gibt kaum einen Sektor, in dem der Anteil der Arbeitnehmer, die jedes Jahr weitergebildet werden, so hoch ist. Wobei es auch hier Unterschiede gibt, die im Wesentlichen abhängig von der Art und der Größe des Betriebes sind. Vor allem Kleinstbetriebe (zumeist Familienbetriebe) haben große Probleme, hier mithalten zu können. Schon von ihrer Struktur her ist die Ausbildung oft zu sehr auf den spezifischen Arbeitsplatz oder auf eine bestimmte Marke konzentriert. Dies verringert die Mobilität der Arbeitnehmer und macht einen Umstieg schwieriger. Der Ausschuss unterstützt daher Bestrebungen, ein einheitliches europäisches Zertifizierungssystem zu entwickeln.

7.2.   Gesundheit und Sicherheit

Hinsichtlich der Gesundheitsgefahren in der Automobilbranche muss unterschieden werden zwischen einerseits den Fertigungsstätten, die zumeist automatisiert sind und über umfangreiche technische Hilfsmittel verfügen, und andererseits den Reparaturwerkstätten, in denen immer noch die Handarbeit dominiert. Dort können sich wiederholende Arbeitsabläufe bei den Arbeitnehmern regelmäßig zu invalidisierenden Schmerzen und Problemen des Bewegungs- und Haltungsapparates führen. Angesichts der künftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel wird sich eine Neugestaltung der Arbeitsorganisation als unvermeidlich erweisen, sollen ausreichend qualifizierte Arbeitnehmer bei guter Gesundheit gehalten werden und bis zum Pensionsalter durcharbeiten können. Anderenfalls kann es in dieser Branche zu einem Mangel an erfahrenen Facharbeitern kommen.

Die Pläne zur Prävention von Berufsrisiken und die Maßnahmen zur Anpassung der Arbeitsplätze dürfen somit nicht nur auf die verschiedenen Schad- oder Giftstoffe bezogen sein. Sie müssen die Arbeitnehmer auch vor schädlichen Belastungen in ihrer Arbeit bewahren.

Mit dem Aufkommen neuer Technologien tun sich neue Gefahrenquellen auf; so wird man etwa die von Starkstromsystemen ausgehende Gefahr von Elektrounfällen und das Risiko von Wasserstoffexplosionen bald angehen müssen. Dafür sind Vorbereitungsmaßnahmen notwendig. Gegenwärtig ist noch gar nicht absehbar, wie stark sich ein normaler Arbeitsplatz verändern wird. Die einzelnen Interessenträger benötigen jedoch klare Vorgaben, um mit der Ausarbeitung geeigneter Strategien beginnen zu können. Die Gefahren bei Berufen der Automobilbranche stehen somit im Mittelpunkt eines Dialogs, der zwischen den Sozialpartnern zu führen und so zu gestalten ist, dass er Präventivmaßnahmen und eine Begleitung der Arbeitnehmer fördert.

Der EWSA befürwortet eine Verstärkung der Initiativen und Mittel der EU und der Mitgliedstaaten für mehr Hygiene, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder eine berufliche Neuverwendung von Angehörigen dieses Berufszweigs.

7.3.   Demografischer Wandel

Die Bevölkerungsalterung geht auch an den nachgelagerten Märkten der Automobilindustrie nicht spurlos vorüber. Das Durchschnittsalter der Arbeitnehmer wird steigen, und damit werden sich Gesundheitsfragen immer stärker auf die Arbeitsorganisation, den Schulungsbedarf und die Arbeitsbedingungen auswirken.

7.4.   Arbeitsentgelt

Löhne und Gehälter fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der EU. Allerdings rechtfertigt die besondere Situation auf den nachgelagerten Märkten der Automobilindustrie einen genaueren Blick auf diese Problematik. In fast allen EU-Ländern sind die Gehälter in dieser Branche überdurchschnittlich unter Druck geraten. Dieser Druck wird hauptsächlich von den Automobilherstellern aufgebaut. Es besteht ein überaus starkes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Autohändlern/Reparaturwerkstätten und den konzessionsvergebenden Automobilherstellern. Es sind die Hersteller, die über Investitionen und Schulungsstandards entscheiden sowie zum Beispiel durch Zeitvorgaben auch indirekt Endabnehmerpreise beeinflussen, während die finanzielle Last und alle wirtschaftlichen Risiken von den Autohändlern und Werkstätten getragen werden müssen. Die Sozialpartner haben in den Tarifverhandlungen infolgedessen nur einen kleinen Verhandlungsspielraum, und daraus resultieren die relativ niedrigen Gehälter in dieser Branche. In Verbindung mit den schwierigen Arbeitsbedingungen mindert dieser Umstand in den Augen junger Arbeitnehmer die Attraktivität der Branche. In der Zukunft sind Probleme bei der Einstellung von Fachkräften abzusehen.

8.   Chancen und Herausforderungen

8.1.   Die nachgelagerten Branchen stehen vor großen Umwälzungen, die in den kommenden Jahren sowohl Positives als auch Negatives mit sich bringen dürften. Die Leistungsbilanz dieser Branchen hängt in weiten Teilen von den Ergebnissen der Automobilindustrie ab. Ferner gibt es wichtige Bereiche, in denen der Wettbewerb durch andere Faktoren beeinflusst wird, wie etwa: Regelungen für Vertrieb und Verkauf, Umweltauswirkungen, Sicherheitsrisiken (zusätzliche Produkte), Recyclingmaßnahmen, Recht an geistigem Eigentum (Produktfälschung) usw. In diesen Bereichen kommt der Innovation eine Schlüsselrolle für sämtliche nachgelagerten Aktivitäten zu.

8.2.   Zur Verdeutlichung sei auf einige wichtige treibende Faktoren in den Bereichen der Autozulieferer, des Autohandels und der Werkstätten verwiesen, die für mehr Wettbewerb sorgen: neue Regeln für Vertrieb und Verkauf von Neuwagen (Gruppenfreistellungsverordnung), eine neue EU-Verordnung für den Vertrieb von Kfz-Ersatzteilen, Verkauf und Werkstattleistungen, z.B. die neue „Reparaturklausel“, die in die Designschutzrichtlinie (Richtlinie 98/71/EG) eingeführt werden soll.

8.3.   Als Reaktion auf die politischen, rechtlichen und technologischen Herausforderungen haben sich zahlreiche Mehrmarken-Anbieter und Automobilorganisationen zusammengeschlossen, um das Recht, Reparaturen durchzuführen, und das Recht der Verbraucher auf Wartung, Instandhaltung und Reparatur ihrer Fahrzeuge in einer Werkstatt ihrer Wahl gemeinsam zu verteidigen. Die derzeit geltenden Bestimmungen laufen 2010 aus und die Frage, ob sie verlängert werden oder nicht, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen (5).

8.4.   Die KMU sind das Rückgrat für Wirtschaft und Beschäftigung in der Europäischen Union, und machen den größten Teil der Unternehmen der nachgelagerten Märkte der Automobilindustrie aus. Eine klare und spezifische Rechtsetzung ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein freier und fairer Wettbewerb im nachgelagerten Markt des Automobilsektors gewährleistet ist (6).

8.5.   In der aktuellen Krise gilt es kurzfristig wirksame Unterstützungsmaßnahmen zu treffen, die es dem gesamten Automobilsektor und den dort Beschäftigten ermöglichen, die Rezession zu überstehen. Mittel- und längerfristig werden vor allem Klein- und Kleinstunternehmen dem Wettbewerb nur standhalten können, wenn sie neue Konzepte entwickeln und Investitionen tätigen. Da viele Kleinunternehmen das nicht alleine bewerkstelligen können, wird es vermehrt zu Zusammenschlüssen, Kooperationen und zu neuen Partnerschaften mit den unterschiedlichsten Akteuren der Zivilgesellschaft kommen; außerdem dürften sich unabhängige spezialisierte Netzwerke bzw. Zusammenschlüsse von Spezialisten für neue Technologien (Elektro- und Hybridfahrzeuge) bilden.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Quelle: FIGIEFA/WOLK & PARTNER CAR CONSULT GmbH.

(2)  Siehe dazu Stellungnahme des EWSA vom (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) 13.5.2009 / CCMI/067.

(3)  Der Verband europäischer Automobilhersteller (ACEA) unterscheidet bei den gewerblichen Nutzfahrzeugen drei Kategorien: leichte Nutzfahrzeuge bis 3,5 t; Nutzfahrzeuge über 3,5 t sowie Lastkraftwagen über 16 t (Reise- und Stadtbusse ausgeschlossen).

(4)  Informationsbericht der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) vom 23. November 2007: „Die Kraftfahrzeugindustrie in Europa: gegenwärtige Situation und Aussichten“ (Berichterstatter: Gustav Zöhrer; Ko-Berichterstatter: Manfred Glahe).

(5)  Die Kampagne „Right to Repair“ wird unterstützt durch:

 

AIRC – Internationaler Verband der Karosserie-Reparaturbetriebe

 

CECRA – Verband des Europäischen Kraftfahrzeuggewerbes

 

EGEA – Europäischer Verband der Diagnosegeräte- und Werkstattausrüstungs-Hersteller

 

FIA – Internationaler Verband der Automobilclubs

 

FIGIEFA – Internationaler Verband der Kfz-Teilegroßhändler.

(6)  Stellungnahme des EWSA zur „Mitteilung der Kommission: Vorfahrt für KMU in Europa — Der ‚Small Business Act‘ für Europa“ — KOM(2008) 394 endg., ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/37


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Städtische Ballungsräume und Jugendgewalt“

(2009/C 317/06)

Berichterstatter: José María ZUFIAUR NARVAIZA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Städtische Ballungsräume und Jugendgewalt.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen und Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatter war José Maria Zufiaur Narvaiza.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 174 gegen 3 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1.   Die heutige europäische Gesellschaft ist angesichts der Gewalt und Kriminalität von Minderjährigen und jungen Erwachsenen besorgt und beunruhigt. Sie bekundet dabei gleichzeitig ihr Interesse daran, die umfassende Entwicklung ihrer Jugendlichen und deren Eingliederung in Gesellschaft und Beruf zu fördern. Wenngleich von den nationalen Medien immer wieder über Jugendgewalt berichtet wird, muss darauf hingewiesen werden, dass die Statistiken über die Delinquenz von Minderjährigen im Großen und Ganzen für Europa keine signifikante Zunahme anzeigen, ja sogar deutlich konstant bleiben (1). Mit dieser Initiativstellungnahme sollen darüber mehr Aufschlüsse geliefert und Empfehlungen zum Thema ausgesprochen werden, ohne die Jugendlichen zu inkriminieren, aber auch, ohne die Jugendgewalt lediglich als Ausdruck abweichenden Verhaltens zu betrachten.

1.2.   In der Geschichte haben sich in Europa verschiedene Modelle der Jugendgerichtsbarkeit in den jeweiligen Rechtsordnungen des europäischen Raumes herausgebildet, woraus sich unterschiedliche maßgebende Grundsätze und Antworten auf die von Minderjährigen und Jugendlichen ausgeübte Gewalt ergeben haben. Das führte dazu, dass die Jugendgerichtsbarkeitssysteme in den EU-Mitgliedstaaten beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf die Sozialschutzpolitik, Präventionspolitik, das Alter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die anwendbaren Verfahren, Maßnahmen oder Sanktionen, die verfügbaren Ressourcen usw. aufweisen. Diese Vielfalt findet sich jedoch in Gesellschaften, die gewillt sind, am Aufbau Europas zu arbeiten, aber hart von der Krise getroffen wurden, so dass weniger Mittel für Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Jugendlichen zur Verfügung stehen.

1.3.   Die Empfehlungen aus dieser Stellungnahme gründen sich auf zwei Leitlinien. Zum einen muss das Problem präventiv angepackt werden. Tatsächlich sind die Ursachen für gewalttätiges oder asoziales Verhalten nicht selten in der Gestaltung und Struktur der Städte und in der Verarmung und Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung zu finden. Außerdem sind Jugendliche unter diesen Umständen zwar die Protagonisten von Gewalttätigkeiten, gleichzeitig aber sind sie Opfer ihres Umfeldes. Deshalb kann die Antwort auf die Überlegungen zur kollektiven Gewalt von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in den Städten und zu ihrer Prävention nicht nur darin bestehen, begangene Taten zu maßregeln und zu bestrafen. Die zweite Leitlinie in dieser Stellungnahme besagt, dass dieses Phänomen angesichts eines so eng mit-einander verknüpften Raumes wie Europa, was sowohl die Wirtschaft als auch die Werte, das Sozialverhalten und die Kommunikation betrifft, nicht ausschließlich aus der jeweiligen nationalen Perspektive betrachtet werden sollte.

1.4.   Tatsächlich gibt es Gewalt und Kriminalität von Minderjährigen in den europäischen Staaten seit vielen Jahren und in immer wiederkehrenden Formen. Sie wurden allgemein als soziale Pathologie wahrgenommen, während sie nun häufiger als Elemente der Unsicherheit definiert werden, wie dies im Peyrefitte-Bericht (2) präzisiert wurde, der zwischen Verbrechen und der Angst vor Verbrechen unterschied.

1.5.   In einem europäischen Kontext, in dem ein besonderes Interesse am Problem der Jugendgewalt besteht, verabschiedete der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss am 15. März 2006 die Stellungnahme „Verhütung von Jugendkriminalität, Wege zu ihrer Bekämpfung und Bedeutung der Jugendgerichtsbarkeit in der Europäischen Union“  (3). Die Stellungnahme hob die Bedeutung des präventiven Ansatzes hervor und wurde von den Europäischen Institutionen aufgegriffen (4). Sie diente auch verschiedenen europäischen und internationalen Fachkreisen bezüglich der gesetzlichen, strafrechtlichen und sozialen Aspekte der Jugendkriminalität als Bezugsgröße.

1.6.   In jener Stellungnahme wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine weiterführende Analyse des Phänomens der Jugendkriminalität sinnvoll sei. Die von Minderjährigen und Jugendlichen (d.h. Heranwachsende von 13-18 Jahren und junge Erwachsene von 18-21 bzw. 25 Jahren, die je nach Land zuweilen noch dem Jugendstrafrecht unterliegen) ausgeübte Gewalt ist ein Problem, das in den europäischen Gesellschaften wachsende Aufmerksamkeit erfährt. Jugendgewalt zeigt sich jedoch in sehr unterschiedlichen Formen - sie reicht von der Gewalt in städtischen Ballungsräumen über die Gewalt in der Schule (dort vor allem in Form von Drangsalierungen aller Art) bis zur Gewalt in der Familie, in Banden oder Gangs, bei Sportveranstaltungen oder mit Hilfe der neuen Kommunikationstechnologien wie das Internet. Alle diese Formen sind eine Untersuchung wert, aber die vorliegende Initiativstellungnahme soll sich auf kollektive Jugendgewalt in städtischen Ballungsräumen beschränken.

1.7.   Seit etwa 20 Jahren nimmt die Frage der kollektiven Gewalt einen vorderen Platz ein und die Elendsviertel werden von Forschern (Soziologen, Ethnologen, Geographen, Juristen, Politologen usw.) beobachtet und untersucht. Die Faktoren für die städtischen Randalen sind zwar wohlbekannt, nämlich Arbeitslosigkeit, Armut, Auflösung der Familienstrukturen, vorzeitiger Schulabbruch, Schulprobleme, Diskriminierungen, aber die Situation selbst und die Reaktionen darauf haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Die Krisen haben zu einer Zuspitzung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme geführt und eine gesellschaftliche Herabstufung der jungen Generationen im Vergleich zur Elterngeneration bewirkt, da der „soziale Aufzug“ nicht mehr funktioniert und eine Verstärkung des Individualismus erfolgt. Dies hat zu Ungerechtigkeitsempfinden und Abschottung geführt, deren kollektiver Ausdruck die sichtbarste Form des Widerstandes gegen die Staatsgewalt ist.

1.8.   In Ermangelung einer offiziellen und rechtsförmigen Begriffsbestimmung wird der Begriff der kollektiven Gewalt häufig verwendet, um vielgestaltige Gewalttätigkeiten zu beschreiben, die sich in öffentlichen Räumen abspielen, und zwar entweder in Form von Zusammenstößen zwischen Bevölkerungsgruppen aufgrund ethnischer oder rassistischer Diskriminierungen, wozu auch Konflikte zwischen rivalisierenden Banden gehören, oder aber in Form der Beziehungen der Bevölkerung zu den Institutionen, wobei das Verhältnis zwischen Jugendlichen und der Polizei besonders kennzeichnend ist.

1.9.   Wenngleich sich diese Phänomene in den vergangenen Jahren über den gesamten europäischen Kontinent verbreitet haben und sowohl in Frankreich, Großbritannien, Spanien und den Niederlanden als auch in Dänemark, Belgien, Griechenland usw. vorkommen, wurden sie von den einzelstaatlichen Regierungen doch niemals als globale Probleme, sondern immer nur als örtliche und isolierte Ereignisse wahrgenommen oder behandelt.

1.10.   Deshalb wird in dieser Stellungnahme eine Koordinierung der vor Ort, auf nationaler und auf europäischer Ebene getroffenen Maßnahmen empfohlen, was folglich gemeinsame Antworten im Rahmen der speziellen Programme zur Familien- und Jugendpolitik, zur Bildungs- und Ausbildungspolitik, zur Beschäftigungspolitik, Verbrechensverhütung und justiziellen Koordinierung verlangt. Die konkreten Antworten müssen sich möglichst in die Strategien der Stadterneuerung, der Anpassung der öffentlichen Dienstleistungen, der Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung wie auch der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern - vor allem mithilfe der Ordnungskräfte, durch die Erziehung zu Bürgersinn sowie ethischen und sozialen Werten, durch die Nutzung der Medien und die Bereitstellung von Erziehungsgeld für Eltern - einfügen.

2.   Merkmale und Ursachen der kollektiven Gewalt von Jugendlichen in städtischen Ballungsräumen

2.1.   Definitionsvorschlag: Es gibt keine gemeinsame oder miteinander abgestimmte Begriffsbestimmung für kollektive Gewalttätigkeiten von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in städtischen Ballungsgebieten. Während im belgischen Recht der Ausdruck „Aufruhr“ (émeute) in Städten entwickelt wurde, sehen andere Rechtskulturen darin eine Reihe von Delikten, die von bekannten und identifizierten Delinquenten begangen werden. Um die ersten Schritte zu einer allgemeinen Minimaldefinition zu tun, verstehen wir im restlichen Teil dieses Dokuments unter Gewalt in Städten konzentrierte Gewalttätigkeiten, die als Ausdrucksmittel für bestimmte Bevölkerungsgruppen dienen. Die Motive der Teilnehmer sind ganz unterschiedlicher Art: gesellschaftliche Diskriminierungen, Konflikte mit der Polizei, Rassenhass, religiöse Konflikte usw.; dies lässt in gewisser Weise die Mängel und Unzulänglichkeiten der Sozialdienste zutage treten, die mit ihren sozialen Maßnahmen den Zweck haben, solchen Formen der Gewalt zuvorzukommen. Mit der hier verwendeten Definition sollen kollektive Gewalttätigkeiten beschrieben werden, die sich in öffentlichen Räumen abspielen und in Angriffen gegen Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder gegen Polizeikräfte oder aber in Zerstörungen in Verbindung mit Plünderungen zum Ausdruck kommen, etwa das In-Brand-Stecken von öffentlichen Gebäuden oder Fahrzeugen usw.

2.2.   Es muss deutlich gemacht werden, dass die Ausbreitung von Gewalttaten (Zerstörung und Verwüstung, Schläge und Aggressionen, Raub unter Gewaltanwendung, Vergewaltigung usw.) in einer zunehmend von Gewalt gekennzeichneten Zeit nicht ausschließlich von Jugendlichen ausgeht. Aber das Alter der Gewalttäter in Städten ist für das Verständnis des Phänomens und für etwaige Lösungen ein wichtiger Faktor; der Anteil der Minderjährigen und der jungen Erwachsenen ist tatsächlich relevant. So befanden sich bei den Ereignissen im Jahre 2005 in Frankreich unter den fast 640 verhafteten Personen 100 Minderjährige. Bei den Bemühungen um vorbeugende Strategien muss stabilen Lösungen für die jungen Generationen, die ja Triebkräfte für Veränderungen und Entwicklungen sind, ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

2.3.   Laufende Untersuchungen und Charakterisierungen: Jeder Staat hat seine eigene Methode zur Erfassung und Charakterisierung der kollektiven Gewalt in Städten entwickelt. Es gibt komplexe Systeme wie die Stufenskala von Bui-Trong (5), wonach die Intensität kollektiver Gewalt in Städten je nach der Zahl der Beteiligten, der Organisation und dem Zweck der Gewaltanwendung usw. abgestuft und begrifflich erfasst wird. Seit mehreren Jahren und besonders nach den Ereignissen von 2005 wurden in Frankreich Indikatoren für städtische Gewalt (INVU) entwickelt, die auf einer Bewertung der Gewaltintensität in den Problemvierteln auf der Grundlage von quantitativen und qualitativen Erhebungen und Opferstudien beruhen. Allerdings sind diese Indikatoren wie auch diejenigen in den anderen europäischen Staaten noch zu neu, um präzise Hinweise auf die Intensität der städtischen Gewalt zu geben; zudem stoßen sie noch immer auf Probleme im Zusammenhang mit den Quellen und der Erhebung der Daten.

2.4.   Wie bereits bei der Begriffsbestimmung des Phänomens gesagt wurde, sei daran erinnert, dass die Ausdrucksformen der kollektiven Gewalt zwar in einem jeweils besonderen nationalen Kontext stehen, aber gleichwohl in ganz Europa gemeinsame Merkmale aufweisen. So lässt sich angesichts der Ereignisse, die sich in den vergangenen Jahren in verschiedenen europäischen Staaten abgespielt haben, eine Typologie ihres Verlaufs aufstellen:

Soziale und politische Zusammenstöße: Solche kollektiven Gewalttaten brechen infolge von Diskriminierungen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder räumlichen Ausgrenzungen auf und richten sich gegen Sicherheitskräfte oder andere Vertreter des Staates, die für diese sozialen Probleme verantwortlich gemacht werden. Die Dimension der Proteste gegen „das System“ und gegen Verhältnisse, die als ungerecht empfunden werden, führt zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, denjenigen öffentlichen Institutionen, die den Staat und eine als „repressiv“ bezeichnete Gesellschaft repräsentieren. Frankreich ist besonders stark von solchen sozialen Auseinandersetzungen betroffen, durch die sogenannte „Krise der Banlieues“, in denen die fehlende soziale Durchmischung und mehrere Jahrzehnte Stadtplanungspolitik ohne Ergebnisse zur Stigmatisierung dieser städtischen Zonen geführt hat. Diese Revolten mit politischem Charakter (6) entwickeln sich in einem Zyklus von drei Phasen: Ausbruch aufgrund eines häufig tragischen oder ungerechten Ereignisses, sodann die Euphorie aufgrund des Gruppeneffekts und schließlich die Erschöpfung (7).

Kontrollverlust: Politische, sportliche oder kulturelle Massenveranstaltungen können außer Kontrolle nicht nur der Veranstalter, sondern auch der Ordnungskräfte geraten. Beispiele dafür sind die Gewalt während Fußballspielen oder „Rave-Parties“ („Wilde“ Parties, etwa Loveparade) oder auch der Kontrollverlust bei politischen Demonstrationen. Neben dem Verlust der allgemeinen Kontrolle spielt noch das Auftreten von Randalierern eine Rolle, die Gruppen um sich scharen, um so viel wie möglich zu zerstören. Die Union darf nicht vergessen, dass anarchistische Gewalttaten zuweilen wiederum organisiertere Formen der Gewalt auf den Plan rufen, die eine noch stärkere Gefährdung der Demokratie darstellen.

Konflikte zwischen Banden: Bei dieser Art von urbaner Gewalt ist der kriminelle Charakter mit der Präsenz von Banden in den Städten verbunden. Gewalttätige Banden sind Zusammenschlüsse von Heranwachsenden oder jungen Erwachsenen, die Gewalt und Einschüchterung anwenden und mit gewisser Regelmäßigkeit gewalttätige Zusammenstöße veranstalten oder kriminelle Handlungen begehen. Sie bekämpfen sich inmitten der Stadt, um die Kontrolle über ein Territorium oder illegale Geschäfte zu erlangen, oder aber den Staat in Gestalt seiner Repräsentanten - die Polizisten oder Ordnungskräfte und Wächter, wie in Nord-Paris oder Süd-London, wo rivalisierende Gruppen regelmäßig aneinander geraten. In Spanien treten lateinamerikanische Banden (genannt „Maras“ oder „Pandillas“ wie etwa die „latin kings“ und „Ñetas“) auf. Die Bandenbildung ist für Jugendliche ein Instrument zur gegenseitigen Absicherung in einer feindlichen Umwelt durch Abgrenzung von den „anderen“ auf der Straße oder in einem benachbarten Viertel. Die Mitglieder dieser Banden gehören heutzutage zu den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen in bestimmten Randgebieten, und ihre Gewaltbereitschaft hängt mit ihren Misserfolgen und ihrer unsicheren Lage zusammen. Eine geeignete Antwort auf die gewalttätigen Banden ist auch deshalb von größter Bedeutung, um deren Vereinnahmung durch die organisierte Kriminalität zu verhindern.

Ethnische und religiöse Auseinandersetzungen: Diese Art von Gewalt ist hauptsächlich ethnisch geprägt, das heißt, die Täter oder das Angriffsziel haben ihren Ursprung in einer ethnischen, religiösen oder assimilierten Bevölkerungsgruppe. Zahlreiche europäische Staaten wie das Vereinigte Königreich, Spanien (Straßenschlachten im Oktober 2007 in Alcorcón zwischen jungen Spaniern und Lateinamerikanern), Italien, die Niederlande (Oktober 2007 in Amsterdam), Dänemark (Februar 2008) und Belgien (Mai 2008 in Anderlecht) usw. sahen diesen Typus von Aufruhr, bei denen neben einer Vielfalt von Faktoren die Aspekte Einwanderung und Religion eine große Rolle spielen.

2.5.   Häufig resultiert die Explosion der Gewalttätigkeiten in städtischen Ballungsgebieten aus vielfältigen Ursachen, die je nach dem Typus des Ereignisses mehr oder weniger gemeinsam auftreten:

Armut, prekäre Verhältnisse, Arbeitslosigkeit. Kollektive Gewalttätigkeiten in Europa spielen sich vor allem in den am meisten benachteiligen Vierteln ab, da sie ja Folgen der Marginalisierung und der sozialen Ausgrenzung sind. Auflösung der Familienstrukturen, Jugendarbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, fehlende Ausbildung und folglich keine Integration in eine Berufswelt machen die Bewohner dieser Stadtviertel für wirtschaftliche Entwicklungen besonders anfällig, besonders in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen.

Zugang zu Waffen und illegalen Stoffen. Der Handel mit harten Drogen, der sich in der Regel in Händen von Erwachsenen und nicht von Minderjährigen befindet, leistet in den meisten nationalen und regionalen europäischen Zentren der Gewalt und der Verbreitung von Feuerwaffen Vorschub. Als Opfer einer Welt, die sie übergeht, können Kinder und Heranwachsende Zielgruppe von Dealern sein, die sie instrumentalisieren wollen.

Stadtplanung. Die sogenannten „empfindlichen“ Stadtteile der europäischen Städte weisen gemeinsame Merkmale auf und werden häufig als suburbane Ghettos betrachtet, die nicht mehr den Kriterien der sozialen Durchmischung und der heutigen Stadtplanung entsprechen. Diese Stadtviertel befinden sich entweder in den Zentren (Vereinigtes Königreich, Belgien) oder an der Peripherie (Frankreich, Deutschland usw.) und ihr Wohnbestand wird kaum instand gehalten und verfällt so lange, bis er gesundheitsschädlich und gefährlich wird.

Verhältnis zu den Ordnungskräften. Zahlreiche kollektive Gewalttätigkeiten werden durch Gefühle der Verbitterung darüber angeheizt, was als Stigmatisierung einer Minderheit durch die Polizei oder ihre exzessive Gewaltanwendung interpretiert werden kann (8). Das Zentrum für Strategieanalysen formuliert es so: „Die Feindseligkeit der Bewohner gegen die Anwesenheit der Ordnungskräfte in ihrem Viertel ist ebenso spürbar wie das mangelnde Vertrauen in den Staat und seine Institutionen“ (9).

Die Medien. Die Medien haben häufig die Tendenz zu einer negativen Fokussierung, mit der vor allem die Bewohner der sogenannten „sensiblen“ Stadtquartiere noch stärker stigmatisiert werden; ferner werden durch eine intensive Berichterstattung Gewaltausbrüche noch weiter geschürt. In Frankreich haben im Jahre 2005 die Medien täglich über die Ereignisse berichtet, während sich in Belgien und in Deutschland die Regierungen bemüht haben, die öffentliche Berichterstattung einzuschränken, um neue Vorfälle zu vermeiden, die von den vorangegangenen angeregt werden.

3.   Reaktionen auf ein internationales Problem

3.1.   Die in den städtischen Ballungsräumen Europas sporadisch oder kontinuierlich ausgeübte Gewalt ist sowohl ein schwerwiegendes politisches Problem, weil die Fähigkeit des Staates in Frage gestellt wird, die Einhaltung des Solidarpaktes zu gewährleisten und seine Bürger zu schützen, als auch ein soziales Problem, das soziale Brüche und Integrationsprobleme erkennbar werden lässt. Deshalb muss der Staat klare Antworten auf das Problem der kollektiven Gewalt in den Städten geben. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Antworten je nach Land ganz unterschiedlich ausfallen - mal ist die Antwort Repression, mal Prävention. Daher müssten in Europa Bemühungen unternommen werden, ständig die zur Lösung dieses Problems verfolgte öffentliche Politik auszuwerten und die dazugehörigen Statistiken effizienter und vergleichbarer zu machen (die Kriminalitätsrate darf nicht allein an der Anzahl der Anzeigen gemessen werden, sondern auch anhand der Quote aufgeklärter Fälle). Es müssen also gemeinsame Indikatoren entwickelt werden, um auf einzelstaatlicher Ebene die Einsicht in Polizei- und Justizakten zu erleichtern, anstatt mehr oder weniger subjektive Opferstudien durchzuführen.

3.2.   Im Allgemeinen greift der Staat zu folgenden Lösungen:

Initiativen „positiver Diskriminierung“ sensibler Stadtteile sind z.B. in Frankreich die Einrichtung bildungspolitischer Schwerpunktgebiete zur Vorbereitung des Berufseinstiegs; in Berlin sind es regelmäßige gemeinsame Streifengänge von jungen Freiwilligen und Polizisten, um Situationen zu verhindern bzw. ihnen vorzubeugen, die in Gewalt ausarten könnten. Seit es diese gemeinsamen Patrouillen mit der Polizei gibt (nachdem die früheren Bandenchefs überzeugt wurden, mitzumachen), ist die Kriminalität in den gemeinsam kontrollierten Gebieten um 20 % zurückgegangen (10).

Verstärkung der Polizeipräsenz und der Videoüberwachung in sensiblen Bereichen wie Schulen oder Freizeiteinrichtunge - Maßnahmen, die allein genommen die vorhandenen Probleme nicht lösen. Sie konnten vielmehr zu einer Stigmatisierung dieser Räume führen und den Jugendlichen das Gefühl ständiger Kontrolle und Unfreiheit geben.

Politik der Stadterneuerung - sie hat je nach Land geringere oder größere Bedeutung: In Frankreich geht sie von der Agentur für Stadtsanierung aus (11); in Deutschland erfolgten Stadtsanierungen im Rahmen der Wiedervereinigung.

3.3.   Andererseits kann eine wirksame territoriale Kohäsionspolitik dazu beitragen, eine Häufung von Faktoren, die Gewalttätigkeiten Jugendlicher provozieren könnten, in den Städten zu verhindern. Deshalb muss die Wohnfunktion des städtischen Raumes erneuert und ausgebaut werden. Für den Stadtumbau ist langfristig zu überlegen, welche Sanierungsmaßnahmen im Rahmen eines strategischen Plans für die gesamte Raumplanung in Abstimmung mit allen Betroffenen, einschließlich der Jugendlichen, notwendig sind. Ziel ist es, die Stadtviertel wieder in die Stadt zu integrieren und sie zu sanieren, um die Entwicklung der dort lebenden Bevölkerung und die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Funktion dieser öffentlichen Räume wieder zu verbessern. Mit Hilfe des Konzepts der Wohngebietserneuerung als einer spezifischen Methode der Qualitätssteigerung städtischer Räume sollen besondere Probleme in Wohnvierteln gelöst werden, indem aus der Stadt ein Instrument der Integration und Prävention gemacht wird. Durch die Wohngebietserneuerung und Raumplanung werden Zwischenzonen vermieden, in denen moderne städtische Probleme, Drogenhandel, Hausbesetzungen, Gewalt und Umweltzerstörung drohen. Hauptsächlich soll verhindert werden, dass Gruppen von der restlichen Bevölkerung ausgegrenzt werden, indem Anschlüsse an das Verkehrsnetz gefördert werden, so dass sich diese Viertel zur Stadt hin öffnen können und die städtische Bevölkerung insgesamt besser wahrgenommen und integriert wird. Solche Stadterneuerungen müssen allerdings auch von konsequenten Aus- und Fortbildungen und Berufsintegrationsmaßnahmen flankiert werden, ohne die keine dauerhafte Verbesserung zu erwarten wäre.

3.4.   Die Wurzeln jugendlicher Gewalt liegen gewissermaßen im fehlenden sozialen Zusammenhalt, der mit einer Krise des Bürgersinns in den Städten zusammenhängt. Der öffentliche Raum, dessen Hauptmerkmal die Ermöglichung des Zusammenlebens von sehr unterschiedlichen Bürgern ist, verlangt bestimmte allgemeine Regeln, damit die individuellen Freiheiten gewahrt bleiben. Nun herrscht aber in den Großstädten ein leicht zerbrechliches Zusammenleben von Bevölkerungsschichten mit vielfältigen Verhaltenscodes und Kulturen, die sich fremd gegenüber stehen, was zu einer Schwächung der sozialen Bindungen und des Solidargefühls führen kann (12). Es ist also ein Zusammenwirken vieler Institutionen und Faktoren geboten, um wirksame präventive Maßnahmen zu ergreifen, die allen direkten und indirekten Akteuren bei der Polizei, der Justiz, den sozialen Diensten, im Wohnungsbausektor und im Beschäftigungs- und Bildungswesen nützen können. Dabei kommt den örtlichen Behörden eine besondere Bedeutung zu; ihre Zuständigkeiten liegen vor allem in der Festlegung der städtischen Räume und der für die Bürger zu erbringenden Dienstleistungen.

3.5.   Die Gewalt von Minderjährigen in den Städten Europas vollzieht sich unter verschiedenen Begleitumständen und mit unterschiedlicher Intensität, doch ihre Analyse und die Untersuchung der Reaktionen darauf geschieht in einem viel breiteren rechtlichen und gesetzlichen Kontext, dem der Europäischen Union. Gegenwärtig erfordern die Untersuchungen und Bewertungen der Verhütung von Jugendkriminalität eine multidisziplinäre und inter-institutionelle Zusammenarbeit zwischen Regierungsbehörden und den - auf einer eher praktischen Ebene - vor Ort arbeitenden Fachkräften (Sozialarbeiter, Polizei, Gerichte, am Arbeitsplatz usw.). Die europäischen Länder, Regionen und Städte, in denen Fälle von kollektiver Gewalt aufgetreten sind, haben große Schwierigkeiten, wieder zu einer Normalisierung der Lage und Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der gesamten Bevölkerung und zur Achtung vor den Institutionen zurückzukehren. Außerdem verursacht die städtische Gewalt sehr hohe materielle, aber vor allem auch soziale und politische Kosten (13).

3.6.   Vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Fälle der Jugendkriminalität deutlich stabil bleibt, aber die Gewaltanwendung bei den begangenen Taten stärker geworden ist, zeigt sich, wie wichtig einige in Ländern der Europäischen Union auf den Weg gebrachte lokale Programme zur Prävention und umfassende soziale Strategien für die Jugendlichen in den Städten sind (14). So waren im Programm für die Wiedererlangung der Sicherheit in den Stadtvierteln Birminghams (im Jahr 2004 Europäischer Preis für Kriminalprävention) die wichtigsten Ziele die Eindämmung der verschiedenen Formen der Kriminalität, die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger und die Ermunterung an die Bevölkerungsgruppen, selbst einen aktiven Beitrag zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Integration zu leisten (15).

3.7.   Die Stärkung einer organisierten und solidarischen europäischen Gesellschaft durch die EU-weite Unterstützung von innovativen sozialen Integrationsprojekten trägt zur verbesserten Sicherheit und zur nachhaltigen Stadtentwicklung bei. So sind z.B. die URBAN-Programme eine Gemeinschaftsinitiative des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung von problematischen Städten und Stadtvierteln, die tatsächlich die Jugendgewaltprävention und generell die Kriminalprävention verbessern helfen.

3.8.   Durch die stärkere Bürgerbeteiligung an der Entscheidungsfindung vor Ort und den Austausch von Erfahrungen und bewährten Methoden wird das Konzept des „Stadtmanagements“ gefördert. Es besteht aus einer Reihe von Untersuchungen zur Neuordnung und Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen und von Konzepten für neue städteplanerische Strukturen und deren Umsetzung, in der Einführung zeitlich stabiler Indikatoren zur Bewertung des lokalen Managements, in Informationskampagnen und dem verbesserten Zugang der Bürger zu Informationen usw., ohne in Stigmatisierungen und Schwarzmalerei zu verfallen.

3.9.   Des Weiteren gibt es solche Initiativen wie den Europäischen Pakt für die Jugend, dessen Ziel in der Verbesserung der Bildung, Mobilität und beruflichen und sozialen Eingliederung der europäischen Jugendlichen besteht und der gleichzeitig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen soll.

3.10.   In der Regel wird die staatsbürgerliche und aktive Teilnahme von Jugendlichen mit gutem Erfolg durch die enorme Arbeit von Vereinen gefördert, die Tag für Tag in diesen Gebieten tätig sind und somit Anteil an den europäischen, nationalen und lokalen Entwicklungsstrategien und Maßnahmen gegen gesellschaftliche Ausgrenzungen haben.

4.   Vorschläge für eine europäische Politik gegen die Jugendgewalt in Städten

4.1.   Aus den Darlegungen der vorliegenden Initiativstellungnahme können folgende Leitlinien bzw. Orientierungen abgeleitet werden:

Die Antwort auf kollektive Gewalt — ob Kriminalität oder unsoziales und gewissenloses Verhalten Minderjähriger — muss vielschichtig sein und zum Zwecke ihrer ständigen Verbesserung stets überprüft werden. Dabei ist immer die Erziehung und Bildung und die Mitwirkung der Minderjährigen an der eigenen Entwicklung und Zukunft zu stärken.

Die verschiedenen alternativen Präventivstrategien müssen auf der Grundlage der von der Europäischen Union festgelegten Prioritäten durch eine klare und nachhaltige europäische Politik gefördert werden und zur Lösung der Probleme mit der Jugendgewalt in städtischen Ballungsräumen beitragen. Eine Einschaltung der Justiz sollte möglichst vermieden werden.

Sowohl auf europäischer wie auch auf einzelstaatlicher Ebene müssen die sozialen Einrichtungen für Jugendliche besondere Anerkennung erfahren. Zahlreiche private wie staatliche Institutionen spielen eine wichtige Rolle im Leben der Jugendlichen, indem sie ihnen insbesondere Aktivitäten anbieten, die sie beschäftigen und deren mögliches Abgleiten in die Delinquenz verhindern. Folglich muss die Rolle der Schulen und Vereine besonders berücksichtigt und mit öffentlichen Mitteln finanziell unterstützt werden.

Die europäischen und internationalen Grundsätze in Bezug auf Jugendgewalt und Jugendkriminalität müssen durch Mindeststandards in den nationalen Gesetzgebungen harmonisiert werden und als Indikator für die Gewährleistung der Rechte der Minderjährigen dienen. Angesichts des multidisziplinären Charakters der Regierungsstellen und Organe, die für das Stadtmanagement in Europa verantwortlich sind, müssen Initiativen entwickelt und Standards für eine gute Praxis eingeführt werden, die zum Beispiel durch eine Europäische Beobachtungsstelle für Jugendkriminalität bewertet und analysiert werden könnten und statistische Daten über Jugendgewalt in städtischen Ballungsräumen allgemeingültig und vergleichbar machen würden.

Die von nationalen Gerichten verkündeten Strafen und Auflagen müssen unbedingt im Interesse des Heranwachsenden liegen und seinem Alter, seiner psychischen Reife, seiner Physis, seinem Entwicklungsstand und seinen Fähigkeiten entsprechen (16) und immer die persönlichen Umstände berücksichtigen (Prinzip der Individualisierung der Maßnahmen).

Stadterneuerungsstrategien, die von dauerhaften sozialpolitischen Maßnahmen begleitet werden, sind von den Europäischen Institutionen bevorzugt zu behandeln, um Ausgrenzungen zu verhindern und die Integration der am meisten gefährdeten Personengruppen in die Stadt zu erleichtern.

Die Behörden müssen die für den Schutz und die Wiedereingliederung Minderjähriger zuständigen Einrichtungen ausreichend mit geeigneten Mitteln sowie mit Personal ausstatten, um zu gewährleisten, dass die ergriffenen Maßnahmen einen erkennbaren Einfluss auf das Leben der Minderjährigen haben.

Die geeignete Auswahl und die spezifische Ausbildung der Akteure in Sozialämtern, Justiz und Polizei — möglichst nach europaweiten Normen und Standards — sind durch die multidisziplinäre Zusammenarbeit und das Zusammenwirken mehrerer Stellen im Rahmen des grenzüberschreitenden Austauschs zu gewährleisten und regelmäßig zu aktualisieren, — vor allem, um die Gesprächsbereitschaft zwischen den Ordnungskräften und Jugendlichen herzustellen.

Die Europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten sollten das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 als Chance sehen, ihrer Entschlossenheit Ausdruck zu verleihen, dass sie bei der Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen dem Schutz der Rechte der mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Jugendlichen und der Gewaltprävention in städtischen Ballungsräumen Vorrang einräumen.

Die Europäischen Institutionen sollten zum Schutz Minderjähriger vor sozialer Ausgrenzung in den besonders marginalisierten Stadtgebieten eine Finanzierungslinie bereitstellen, mit deren Hilfe innovative Projekte für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts der Zivilgesellschaft umgesetzt und die Initiative und der Unternehmergeist der Jugendlichen geweckt werden.

Die Einführung gemeinsamer Kriterien und bewährter Methoden soll der Prävention von Straftaten und der Betreuung und Wiedereingliederung straffällig gewordener Minderjähriger dienen.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Dies geht z.B. aus dem Bericht der spanischen Generalstaatsanwaltschaft hervor, wonach die Kriminalität im Jahr 2007 gegenüber 2006 um 2 % abgenommen hat.

(2)  Rapport du Comite d’Etudes sur la Violence, la Criminalité et la Délinquance: Réponses a la Violence (Bericht des französischen Untersuchungsausschusses zu Gewalt, Kriminalität und Delinquenz: Antworten auf die Gewalt). Paris, Presse Pocket 1977, S. 41.

(3)  Stellungnahme des EWSA vom 15. März 2006 zur „Verhütung von Jugendkriminalität, Wege zu ihrer Bekämpfung und Bedeutung der Jugendgerichtsbarkeit in der Europäischen Union“; Berichterstatter: José Maria Zufiaur Narvaiza (ABl. C 110 vom 9.5.2006).

(4)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Juni 2007 zur Jugenddelinquenz: die Rolle der Frau, der Familie und der Gesellschaft.

(http://www.europarl.europa.eu/oeil/DownloadSP.do?id=13705&num_rep=6729&language=es).

(5)  Lucienne Bui-Trong, Résurgence de la violence en France (Wiederaufflammen der Gewalt in Frankreich), in: Futuribles, Februar 1996, S. 17-18.

(6)  V. Le Goaziou, L. Mucchielli, 2006, Quand les banlieues brulent. Retour sur les émeutes de 2005 (Wenn die Banlieues brennen. Rückblick auf die Krawalle von 2005), Paris, La Découverte.

(7)  C. Bachmann, N. Le Guennec, 1997, Autopsie d'une émeute. Histoire exemplaire du soulèvement d'un quartier (Autopsie eines Aufruhrs. Beispielhafte Geschichte des Aufstands eines Stadtviertels), Paris, Albin Michel.

(8)  Peter Joyce, The Politics of Protest. Extra-Parliamentary Politics in Britain since 1970 (Politik des Protests. Außerparlamentarische Politik in Großbritannen seit 1970). Palgrave MACMILLAN, 2002.

(9)  Centre d’analyse stratégique, Les violences urbaines: une exception française? Enseignements d’une comparaison internationale (Gewalt in Städten - eine französische Ausnahme? Befunde eines internationalen Vergleichs), note de veille no 31, 23 octobre 2006. (http://www.strategie.gouv.fr/IMG/pdf/NoteExterneDeVeille31.pdf).

(10)  Jeunes et policiers font cause commune à Berlin (Jugendliche und Polizisten handeln in Berlin gemeinsam), unter: http://www.oijj.org/news_ficha.php?cod=54117&home=SI&idioma=es.

(11)  http://www.ANRU.fr.

(12)  La dynamique de la disqualification sociale (Die Dynamik der gesellschaftlichen Ausgrenzung) in: Sciences Humaines, no 28, Mai 1993.

(13)  Allein in Clichy Sous-Bois in Frankreich beliefen sich die materiellen Kosten im Jahr 2005 auf 150 Millionen Euro.

(14)  Compendium on Urban Crime Prevention and Youth at Risk. Promising Strategies and Programmes from around the World (Kompendium zum Thema Kriminalprävention in Stadtvierteln und gefährdete Jugendliche. Ermutigende Strategien und Programme aus aller Welt). International Centre for the Prevention of Crime (ICPC), 2005.

(15)  Im Ergebnis hatte sich die Zahl der von Jugendlichen begangenen Straftaten im Durchschnitt um 29 % verringert, gegenüber nur 12 % in anderen vergleichbaren Vierteln.

(16)  Siehe International Juvenile Justice Observatory - OIJJ (Internationale Beobachtungsstelle für Jugendrecht), Gemeinsame Erklärung von Valencia. 2008, unter: http://www.oijj.org/plantilla.php?pag=091308


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Schutz gefährdeter Kinder vor auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten“

(2009/C 317/07)

Berichterstatterin: Madi SHARMA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Schutz gefährdeter Kinder vor auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatterin war Madi SHARMA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 157 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen – „Don’t Let Child Abuse Travel“ (1)

1.1.   Eine europäische Strategie zum Schutz gefährdeter Kinder vor reisenden Sexualstraftätern muss angenommen, durchgesetzt und als Priorität anerkannt werden.

Die Verfolgung von Sexualstraftaten DARF NICHT länger allein in der Verantwortung ausländischer Gerichtsbarkeiten liegen. Im Ausland ergangene Urteile führen nicht immer zu Haftstrafen. Wiederholungstäter bleiben häufig in dem Land, in dem die Straftaten begangen wurden, oder reisen in andere Länder, um nicht überführt zu werden. Somit sind die EU-Behörden und die nationalen Regierungen nicht informiert, wenn ein Kinderschänder nach Europa einreist. Dies führt zu einer stärkeren Gefährdung europäischer Kinder.

Es muss verstärkt ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, bei dem die Kinder im Mittelpunkt stehen und folgende Maßnahmen vorgesehen sind:

Prävention des Missbrauchs; die Vergangenheit ins Ausland reisender Sexualstraftäter muss erforscht werden (2)

Schutz „gefährdeter“ Persongruppen und der Opfer, so u.a. Ermittlung gefährdeter Kinder (3) und Einrichtung von Auskunftsdiensten und Hotlines;

strafrechtliche Verfolgung der Täter im Wege der Durchsetzung des geltenden Rechts;

Partnerschaft mit Nichtregierungsorganisationen – auch mit solchen, die noch nicht in diesem Bereich aktiv sind;

Einbindung junger Menschen und der Zivilgesellschaft, um auf das Problem aufmerksam zu machen.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) befürwortet die Empfehlungen, die in der „Mitteilung der Kommission im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie“, in der Empfehlung des Europäischen Parlaments (4) und in dem Übereinkommen des Europarats (5) formuliert werden und dazu dienen sollen, Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Der EWSA fordert die übrigen Mitgliedstaaten (6) jedoch zur dringenden Unterzeichnung und Ratifizierung des Protokolls zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK) (7) und des Übereinkommens des Europarats auf, damit Europa den Umgang mit EU-Bürgern, die während eines beruflichen oder privaten Aufenthalts im Ausland Straftaten an Kindern verüben, wirksam überdenken kann.

1.2.   Im Hinblick auf ein wirkungsvolles und proaktives Vorgehen sind u.a. folgende Maßnahmen erforderlich:

effiziente Partnerschaften auf internationaler Ebene mit besserem Informationsaustausch, einschließlich Zusammenarbeit mit der Polizei und Ausbau ihrer Computersysteme zur Verfolgung von Sexualstraftätern im Ausland;

konsequentere bilaterale Kooperationsabkommen mit einschlägigen Ländern;

gemeinsame Ermittlungsteams in Zusammenarbeit mit anderen Strafverfolgungsbehörden;

Abkommen mit ausländischen Regierungen, die eine begleitete Rückführung überführter Straftäter vorsehen; Prüfung der Nutzung von Foreign Travel Orders (FTO), mit denen im Vereinigten Königreich Ausreisebeschränkungen gegen Personen verhängt werden können, von denen ein erhebliches Risiko der Verübung von Sexualstraftaten ausgeht;

Nutzung von Verfahren zur Kontrolle der beruflichen Tätigkeiten von Missbrauchstätern im Ausland und gegebenenfalls Verhängung entsprechender Verbote (8);

Durchführung einer europaweiten und wenn möglich weltweiten Sensibilisierungskampagne zur Meldung von Sexualstraftaten. Dies sollte u.a. durch eine kostenlose internationale Telefon-Hotline ermöglicht werden, die einen Online-Mechanismus umfasst, mit dem Fälle von Kindesmissbrauch in „Echtzeit“ gemeldet werden können (9);

Einbindung der Akteure der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in die Sensibilisierungsbemühungen;

Schaffung von Verfahren zur Aufklärung, Beratung und therapeutischen/medizinischen Unterstützung der Opfer und zur Schulung des in diesem Bereich tätigen Fachpersonals

1.3.   Die wesentliche Herausforderung besteht darin, die Öffentlichkeit auf die Tragweite des Problems aufmerksam zu machen. Dies könnte durch die Lancierung einer unionsweiten Initiative „Europa gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern“  (10) geschehen. Die EU-Institutionen könnten mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie ihr ethisches Engagement gegen den Kindesmissbrauch auf Auslandsreisen in sämtlichen Formularen zur Erstattung von Reisekosten zum Ausdruck bringen.

1.4.   Auf Kinderhandel und Kindesentführung wird in dieser Stellungnahme nicht eingegangen, da diese Bereiche gesonderte Rechtsvorschriften und Maßnahmen erfordern und eigenständig behandelt werden sollten.

2.   Hintergrund

2.1.   Thema dieser Stellungnahme ist der auf Auslandsreisen innerhalb und außerhalb Europas verübte sexuelle Kindesmissbrauch.

2.2.   Die Täter sexuellen Missbrauchs oder sexueller Ausbeutung von Kindern kommen meist aus dem örtlichen Umfeld. Das ist überall auf der Welt so. Trotzdem ist der auf Auslandsreisen verübte sexuelle Missbrauch von Kindern heute weltweit Teil einer gut etablierten und lukrativen Sexindustrie.

2.3.   Infolge des billigeren Reisens, der Aufhebung der Visumspflicht und der Verbreitung neuer Technologien rücken die am stärksten benachteiligten Kinder der Welt - auch Europas - in die Reichweite pädophiler Straftäter, und zwar vor allem dort, wo besonders große Armut, Benachteiligung und emotionale Defizite herrschen und die sozialen Bedingungen am schlechtesten sind. Der Missbrauch wird oft digital festgehalten und das Bildmaterial weltweit zugänglich gemacht. Viele Nichtregierungsorganisationen, von denen ECPAT (11) die bekannteste ist, arbeiten zum Schutz betroffener Kinder mit den Polizeibehörden und der Reise- und Tourismusindustrie zusammen.

2.4.   Der erste Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern fand 1996 in Stockholm statt. In diesem Rahmen verpflichteten sich 122 Länder zu einer „globalen Partnerschaft gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern“. Heute wird auf lokalen (12) und internationalen (13) Konferenzen gleichermaßen festgestellt und bekräftigt, welche Hindernisse einer wirkungsvollen Prävention angeführt und bekräftigt.

2.5.   Innerhalb der EU sind viele weitere Texte verabschiedet und Verpflichtungen eingegangen worden (14). Wie jedoch in der jüngst veröffentlichten Empfehlung des Europäischen Parlaments (15) festgestellt wird, haben viele Mitgliedstaaten die Übereinkommen immer noch nicht unterzeichnet bzw. ratifiziert.

2.6.   Auch wenn einige hervorragende Arbeit geleistet wird (16) und auf EU-Ebene viele praktische Maßnahmen eingeleitet wurden (17), bedeutet dies, dass es der EU bedauerlicherweise nicht gelungen ist, die am stärksten gefährdeten Kinder zu schützen, deren Missbrauch durch EU-Bürger zu verhindern und ihre in Stockholm eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Nur durch eine effektive Umsetzung aller Maßnahmen und Verpflichtungen können Kinder in der EU und im Ausland geschützt werden.

2.7.   Es ist nicht abschätzbar, wie viele Kinder Opfer von reisenden Sexualstraftätern waren bzw. sind. Dass pädophile Handlungen im Verborgenen stattfinden und strafbar sind und Kinder, insbesondere wenn sie in Armut leben, verletzlich sind, erschwert die Datenerhebung. Der sexuelle Kindesmissbrauch ist Teil des weltweiten Phänomens der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern. Dazu gehören:

Kauf und Verkauf von Kindern zu Prostitutionszwecken;

sexueller Kindesmissbrauch mit pädophilem Hintergrund;

die Produktion von Bildmaterial, das den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigt, sowie sonstiger Formen von Kinderpornographie.

2.8.   Im Allgemeinen suchen die Täter sexueller Ausbeutung Orte auf, an denen sie sich vor Entdeckung sicher wähnen; häufig handelt es sich hierbei um Orte, wo ein niedriges Bildungsniveau, Armut, Ignoranz, Korruption und Gleichgültigkeit herrschen und wo Strafverfolgungsinstanzen und Regierungspolitik wenig präsent sind. Kindesmissbrauch wird von Personen verübt, die – allein in der Absicht, neue Opfer für ihr eigenes missbräuchliches Verhalten und das ihrer Partner zu finden – Waisenhäuser (18), Projekte für Kinder und Schulen in benachteiligten Kommunen aufbauen. Wiederholungstäter reisen von Land zu Land und umgehen auf diese Weise Systeme zur Erfassung und Verfolgung sexueller Straftäter. Die psychischen Hintergründe des sexuellen Kindesmissbrauchs müssen weiter erforscht werden. Finkelhors führt vier Vorbedingungen an, von denen abhängt, welche sexuellen Straftaten möglicherweise gegen Kinder verübt werden (19):

Motivation zum Missbrauch;

innere Hemmungen aufgrund persönlicher Moralvorstellungen;

äußere Hemmfaktoren;

Widerstand des Opfers.

2.9.   Im Kinderschutz tätiges Personal und die Öffentlichkeit wissen wenig über im Ausland verübte Straftaten. In den Medien wird lediglich über besonders aufsehenerregende Fälle berichtet. Über die Gefahren, denen Kinder in der EU ausgesetzt sind, wenn die Täter schließlich zurückkehren, wird wenig gesprochen.

2.10.   Das CEOP (20) bezeichnet Personen, die ins Ausland reisen und dort Kinder missbrauchen, treffenderweise als „reisende Sexualtäter“. Die Öffentlichkeit geht davon aus, dass Personen, die im Ausland eine Straftat begehen, automatisch in ein Register der Sexualstraftäter aufgenommen werden. Dies ist jedoch nur selten der Fall, da solche Register aufgrund einer Reihe komplexer Fragen möglicherweise nicht bestehen, Informationen nicht weitergeleitet werden oder eine Überwachung aufgrund von Datenschutzvorschriften nicht möglich ist.

2.11.   Sextourismus geht über den Tourismus im Sinne von „Urlaub“ hinaus. Heute verlagern viele Unternehmen ihre Standorte oder unterhalten Büros und Geschäftsverbindungen in aller Welt. Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerverbände und –organisationen müssen unmissverständlich klarstellen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern unter keinen Umständen geduldet wird.

3.   Eine globale Verantwortung

3.1.   Den Regierungen obliegt weltweit eine Verantwortung gegenüber ihren Bürgern zum Schutz gefährdeter Kinder – unabhängig davon, wo sie sich befinden. Die Zunahme des Tourismus in den letzten fünfzig Jahren geht jüngst mit einer Zunahme der auf Auslandsreisen verübten Sexualstraftaten an Kindern einher. Die Täter sind in erster Linie Personen, die ihren Auslandsaufenthalt dazu nutzen, gesellschaftliche Tabus zu überschreiten, die sonst ihr Verhalten bestimmen.

3.2.   Der „Globale Ethik-Kodex für den Tourismus“ (21) schafft einen Bezugsrahmen für eine verantwortungsvolle und nachhaltige Entwicklung des Welttourismus. Die Tatsache, dass auch EU-Bürger innerhalb der Union und im Ausland zu den Tätern sexueller Ausbeutung von Kindern gehören, sollte die Gemeinschaft beschämen. Die EU trägt die Verantwortung für ihre Bürger, und die Tatsache, dass die Täter in ihrem Heimatland strafrechtlich verfolgt werden können und im Anschluss frei und ohne Beobachtung in andere Länder reisen dürfen, ist absolut untolerierbar. Europa muss sich mit der im EU-Recht bestehenden Dichotomie beschäftigen, die den Unionsbürgern einerseits Freizügigkeit ermöglicht, andererseits aber auch den Missbrauchstätern uneingeschränktes Reisen erlaubt.

3.3.   Auf internationaler Ebene gibt es einen Rechtsgrundsatz, dem zufolge eine Person nicht zwei Mal für dieselbe Straftat verurteilt werden kann. Kehrt ein Straftäter in das betreffende Reiseland zurück, muss dort das Urteil weiter umgesetzt werden; ein neues Urteil kann nur dann ergehen, wenn neue Tatbestände aufgedeckt werden. Internationale Zusammenarbeit ist also von zentraler Bedeutung. Der Ausschuss begrüßt den neuen von der Kommission vorgelegten Rahmenbeschluss zu diesem Thema (22).

3.4.   Es besteht also Bedarf, die Maßnahmen zu koordinieren, die Statistiken zu beobachten und auszuwerten und zügig praktische Empfehlungen vorzulegen. Da es sich aber um Entscheidungen handelt, die bis zum Freiheitsentzug gehen und folglich die persönlichen Grundrechte berühren können, dürfen auf dem Unionsgebiet nur die Mitgliedstaaten unter Einhaltung der Gesetze zur Regelung ihrer polizeilichen und strafrechtlichen Verfahren entscheiden. Europäische und internationale Nichtregierungsorganisationen leisten hervorragende Arbeit im Bereich des Kinderschutzes, doch können sie die Polizei bzw. Justiz nicht ersetzen.

Im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit und –hilfe in den Bereichen Armutsbewältigung (23), Bildung, Gesundheit und soziale Entwicklung muss der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch stärker gefördert werden. Aufmerksamkeit und Unterstützung muss auch den Nichtregierungsorganisationen und Sozialpartnern durch Schulungsmaßnahmen und emotionale/psychologische Betreuung gewidmet werden. Eine verstärkte Aufklärung und Schulung der in diesem Bereich oder im weiter gefassten Dienstleistungssektor (z.B. Medien, Gastgewerbe, Lehrkräfte, Betreuer und Polizei) tätigen Personen ist von wesentlicher Bedeutung, damit Hindernisse für die Meldung bzw. Anzeige der Täter erkannt und beseitigt werden können. Wie in dem Bericht des dänischen Zweigs der Kinderrechtsorganisation Save the Children  (24) betont wird, müssen insbesondere die am stärksten gefährdeten Kinder Aufklärung und Anleitung erhalten, um sie für entsprechende Situationen zu sensibilisieren und ihnen zu zeigen, wie sie damit umgehen können. In den Industrienationen und in den Entwicklungsländern müssen die Kinder zu einem vernünftigen Umgang mit dem Internet erzogen werden, damit sie vor Kinderschändern gewarnt sind, die sich auf der Suche nach potentiellen Opfern gerne dieses Instruments bedienen.

3.5.   Für die Täter sexuellen Missbrauchs müssen Therapieeinrichtungen und Beratungsstellen vorgesehen werden, um ihre Wiedereingliederung zu unterstützen (25).

4.   Die Verantwortung der Zivilgesellschaft

4.1.   Die europäische Zivilgesellschaft hat die Verantwortung, Vergehen anzuprangern und zu handeln, wenn Mitmenschen - sei es auf dem Unionsgebiet oder im Ausland - potenziell bedroht sind, und dies gilt insbesondere im Fall des Kindesmissbrauchs. Schätzungen zufolge werden heute zwischen 10 und 20 % der europäischen Kinder im Laufe ihrer Kindheit Opfer sexueller Gewalt, wobei die Tendenz steigend ist und sich das Phänomen geografisch immer weiter ausbreitet. Bestimmte EU-Bürger verüben auf Reisen sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas Sexualstraftaten.

4.2.   Daher bedarf es gemeinsamer Strategien und weiterer Maßnahmen, die vor allem auf Prävention und strafrechtliche Ahndung abzielen, um dieses Fehlverhalten zu bekämpfen. Europäische Arbeitgeber und Unternehmer sollten sich heutzutage zu ihrer sozialen Verantwortung, gegen Kinderprostitution und Kinderpornografie vorzugehen, bekennen.

4.3.   Von 842 Millionen Reisenden (Zahlen aus dem Jahr 2006) sind 4,5% Sexualstraftäter, darunter 10% Pädophile (26). Seit 2003 können sich Reiseunternehmen einem Verhaltenskodex zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung im Tourismus („Code of Conduct for the Protection of Children from Sexual Exploitation in Travel and Tourism“  (27)) anschließen. Inzwischen zählen mehr als 600 Unternehmen in über 30 Ländern zu den Unterzeichnern dieses Kodexes. Die auf Auslandsreisen verübte sexuelle Ausbeutung von Kindern liegt jedoch nicht allein in der Verantwortung der Reiseindustrie. Alle Wirtschaftszweige müssen sich darum bemühen, solche Aktivitäten zu verhindern.

4.4.   Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) ermutigt seine Mitglieder, im Hinblick auf die Umsetzung entsprechender Strategien Strukturen aufzubauen, indem zuständige Personen benannt sowie Ausschüsse und Arbeitsgruppen eingerichtet werden. Um die Basis zu erreichen, verfolgt der IGB einen bereichsspezifischen Ansatz und hat nutzbringende Partnerschaften zur Umsetzung internationaler Rahmenvereinbarungen ins Leben gerufen. Da die sexuelle Ausbeutung von Kindern einen schweren Verstoß gegen grundlegende Arbeitnehmer- und Menschenrechte darstellt, sind diese Bemühungen ein fester Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeit zur Bekämpfung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit (28). Daher nehmen die Gewerkschaften ihre Rolle, auf eine Ratifizierung einschlägiger internationaler Standards hinzuwirken und eine wirksame Umsetzung der Maßnahmen und Vorschriften durch die Regierungen und Arbeitgeber zu überwachen (29), auch weiterhin wahr, indem sie ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam machen (30) und das Thema im Rahmen von Tarifverhandlungen ansprechen (31).

4.5.   In dem am 12. Juli 2007 vom Ministerkomitee des Europarats angenommenen Übereinkommen heißt es: „Jede Partei ermutigt den Privatsektor […] sowie die Zivilgesellschaft, an der Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen zur Verhütung der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern mitzuwirken und im Wege der Selbst- und Koregulierung interne Normen umzusetzen“. Auf dieser Grundlage ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen möglich.

5.   Spezifische Maßnahmen

5.1.   Das alleinige Ziel jeglicher Maßnahmen muss darin bestehen, den Missbrauch von Kindern zu UNTERBINDEN und gefährdete Personen zu schützen. Wenn dem Kindesmissbrauch Einhalt geboten werden kann, gibt es keine Opfer mehr. Dies muss ein vorrangiges Anliegen und ein Hauptziel sein, wobei das Wohl der Kinder bei allen einschlägigen Maßnahmen im Mittelpunkt stehen muss.

5.2.   Die EU-Institutionen können mit gutem Vorbild vorangehen, indem sie den sexuellen Missbrauch von Kindern im Rahmen ihrer an ethischen Grundsätzen orientierten Reisepolitik verurteilen und dies in sämtlichen Formularen zur Erstattung von Reisekosten zum Ausdruck bringen.

Die unten aufgeführten Maßnahmen und Beispiele können hier nur zusammenfassend dargestellt werden und sind in Abstimmung mit ECPAT (32), einer führenden, weltweit tätigen Kinderrechtsorganisation, die sich für den Schutz von Kindern vor kommerzieller sexueller Ausbeutung einsetzt, ausgearbeitet worden. ECPAT ist in über 70 Ländern auf höchster Regierungsebene aktiv, richtet sich mit ihrer Arbeit aber auch an Fachleute und Personen, die in den Bereichen Forschung, Ausbildung und Kapazitätsaufbau direkt mit Kindern arbeiten.

5.3.1.   Kontroll- und Verbotsmechanismen: Gegenwärtig haben ausländische Schulen keinerlei Handhabe zur Überprüfung des Hintergrunds von Bewerbern oder deren Eignung zur Arbeit mit Kindern. Dies ist eine gravierende Lücke beim Schutz gefährdeter Kinder. Es müssen Verfahren eingeführt werden, die eingetragenen internationalen Organisationen oder Polizeibehörden Zugang zu solchen Informationen verschaffen.

5.3.2.   Bilaterale Kooperationsabkommen: Weltweit tauschen Nichtregierungsorganisationen zunehmend wichtige Informationen zu einschlägigen Fakten über ehemalige Straftäter aus. Dies ermöglicht ein schnelles und zeitnahes Handeln. Ironischerweise hindern Verwaltungsauflagen und Datenschutzvorschriften die Regierungen daran, rasch aktiv zu werden, so dass sie sich dort, wo die internationale Überwachung versagt, auf die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen verlassen. Der Schutz der Kinder sollte unter allen Umständen Vorrang vor dem Datenschutz haben. Durch den Aufbau von Vertrauen und Sachkenntnissen innerhalb eines Kooperationsrahmens zwischen verschiedenen Ländern wird eine proaktive Herangehensweise an die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs entwickelt. Um ein effizientes Handeln zu ermöglichen, muss dies über Schulungsprogramme und den Aus- und Aufbau von Kapazitäten hinausgehen.

5.3.3.   Es müssen weltweit Hotlines und Auskunftsdienste zur Meldung bzw. Anzeige der Täter eingerichtet werden, um zu verhindern, dass eine Kultur des Schweigens entsteht und die Augen vor diesem Problem verschlossen werden. Auf diesem Wege muss ein Handeln in „Echtzeit“ unterstützt werden. Es muss ein integriertes System zum Schutz der Kinder aufgebaut werden, an dem professionelle Einrichtungen und Dienstleister beteiligt sind, die beim Schutz und bei der Ermittlung von Opfern und gefährdeten Kindern mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten könnten.

5.3.4.   Gemeinsame Ermittlungsteams und einzelstaatliche Strafverfolgungsbehörden: Die EU benötigt spezielle Einrichtungen, die vorrangig dem Kinderschutz dienen, ihre Tätigkeit über nationale Grenzen hinweg ausdehnen und mit angemessenen Ressourcen ausgestattet sind, um ins Ausland reisende notorische Sexualstraftäter aufzuspüren bzw. Beweise gegen im Ausland aktive Täter zu erheben.

5.3.5.   Abkommen zur begleiteten Rückführung überführter Straftäter: Bisher besteht keine Verpflichtung zur Meldung eingeleiteter Strafverfahren oder ergangener Urteile zwischen verschiedenen Ländern. Somit können Sexualstraftäter im Ausland verurteilt werden, ohne dass dies in ihrem Heimatland bekannt wird. Es liegt in der Verantwortung der Botschaften und Auslandsvertretungen, das jeweilige Heimatland über ihnen bekannte strafrechtliche Verurteilungen zu informieren. Nach Verurteilung und Verbüßung der Strafe bleiben viele Täter im selben Land oder reisen in ein anderes Land, ohne jedoch in ihr Heimatland zurückzukehren, und entgehen so der Aufnahme in ein Register sexueller Straftäter. Da verurteilte Täter bei einer Rückführung in ihr Heimatland Langstreckenflüge mit Zwischenlandung(en) zurücklegen müssen, besteht die Gefahr eines Entkommens. Daher sind bilaterale Kooperationsabkommen und eine Begleitung der Rückführung durch Justizvollzugspersonal erforderlich.

5.3.6.   Modell der Multi-Agency Public Protection Arrangements (MAPPA): Dabei handelt es sich um ein Modell, das im Vereinigten Königreich zur Einschätzung sexueller Straftäter und zum gesellschaftlichen Umgang mit ihnen angewandt wird. An diesem System sind verschiedene Instanzen beteiligt (Strafverfolgungsbehörden, Sozial-, Wohnungs- und Gesundheitswesen), um eine ernsthafte Beeinträchtigung der Öffentlichkeit so weit wie möglich zu vermeiden und die Aufspürung von Wiederholungstätern zu unterstützen. Das Modell verfolgt im Wesentlichen vier Ziele, wobei ins Ausland reisende Bürger des Vereinigten Königreichs jedoch derzeit nicht erfasst werden:

Ermittlung der Täter;

Austausch relevanter Informationen im Hinblick auf die Gefahreneinschätzung;

Einschätzung des Risikopotenzials und der Gefährlichkeit der Täter;

Maßnahmen zum Umgang mit den bestehenden Gefahren

5.3.7.   Nutzung und Effizienz von Foreign Travel Orders (FTO) : Diese im Vereinigten Königreich bestehenden Ausreisebeschränkungen können von den Gerichten genutzt werden, um gegen bestimmte Personen ein weltweites oder an ein bestimmtes Land gebundenes Ausreiseverbot zu verhängen. Dies kann zum Schutz eines bestimmten Kindes oder zum Schutz der Kinder allgemein geschehen. Die verhängten Ausreiseverbote sind zeitlich begrenzt. Die australische Regierung hat das australische Passgesetz („Australian Passport Act“) im Jahr 2005 dahingehend geändert, dass die Polizeibehörden die Pässe von Personen, von denen ein erhebliches Risiko der Verübung von Sexualstraftaten ausgeht, einziehen können.

5.4.   Eine ganz konkrete Maßnahme: die unionsweite Initiative „Europa gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern - WIR SAGEN NEIN!“

Es kann eine unionsweite Initiative angestoßen werden, die alle bereits unternommenen Bemühungen und verfassten Chartas bündelt und für das Thema sensibilisiert: Alle Organisationen und Unternehmen könnten angehalten werden, sich für die Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern zu engagieren, indem sie lediglich auf die Hauptfaktoren aufmerksam machen. Die in Anhang I vorgeschlagene Absichtserklärung könnte von einem „Kodex“ oder einer „Charta“ begleitet werden, der bzw. die bereits weltweit angenommen wurde. Auch bereits erlassene oder neue Rechtsvorschriften können der Sache dienen, sofern sie effizient umgesetzt werden.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Motto einer Kampagne der Welttourismusorganisation – etwa: „Stoppt den Kindesmissbrauch auf Auslandsreisen!“

(2)  Bericht Sex Offenders without Borders (etwa: „Sexualstraftäter kennen keine Grenzen“) des dänischen Zweigs der weltweit tätigen Kinderrechtsorganisation Save the Children.

(3)  Erklärung von Rio de Janeiro und Aktionsplan zur Prävention und Beendigung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Heranwachsenden, November 2008.

(4)  Empfehlung des Europäischen Parlaments an den Rat zu Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (2008/2144(INI)), angenommen am 3. Februar 2009.

(5)  Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, 25.10.2007, siehe: http://conventions.coe.int/Treaty/EN/treaties/Html/201.htm.

(6)  Folgende Mitgliedstaaten haben das Fakultativprotokoll zur UN-KRK noch nicht unterzeichnet: Deutschland, Ungarn, Irland, Luxemburg, Malta und das Vereinigte Königreich (siehe http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=201&CM=8&DF=6/8/2009&CL=GER). Folgende Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen des Europarats noch nicht unterzeichnet: Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Luxemburg, Malta, Slowakei. Bisher ist das Übereinkommen nur von Griechenland ratifiziert worden.

(7)  Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie, Verabschiedung: Mai 2000, Inkrafttreten: Januar 2002. Siehe: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/Fakultativprotokoll__Kinderhandel.pdf.

(8)  The End of the Line for Child Exploitation (von Christine Beddoe verfasster Bericht, der nur auf Englisch vorliegt; Titel etwa: „Kindesmissbrauch - bis hierher und nicht weiter“). Siehe den Bericht des weltweit tätigen Kinderschutznetzwerks ECPAT aus dem Jahr 2006.

(9)  Siehe die Organisation ChildWise, ECPAT Australien.

(10)  Siehe Anhang I.

(11)  ECPAT steht für „End Child Prostitution, Child Pornography and the Trafficking of Children for Sexual Purposes“ und verfügt über einen besonderen Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC).

(12)  „When Travelling, Put a Stop to Indifference“ (etwa: „Zeigen Sie als Tourist Zivilcourage – Setzen Sie der Gleichgültigkeit ein Ende!“) – Motto einer Sensibilisierungskampagne der Initiative Stopchildprostitution.be (www.stopchildprostitution.be) im Zusammenhang mit der Konferenz „Travelling abusers in Europe“ (etwa: „Reisende Missbrauchstäter in Europa“), Mai 2007.

(13)  Dritter Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, November 2008.

(14)  Siehe Fußnoten 4 und 5. Siehe auch:

http://www.nspcc.org.uk/Inform/policyandpublicaffairs/Europe/Briefings/councilofeurope_wdf51232.pdf und http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/Fakultativprotokoll__Kinderhandel.pdf.

(15)  Vgl. Fußnote 4.

(16)  PE 410.671, Januar 2009.

(17)  KOM(1996) 547 endg.; KOM(1999) 262 endg.; Rahmenbeschluss 2000/375/JI des Rates (ABl. L 138 vom 9.6.2000); Rahmenbeschluss 2004/68/JI des Rates (ABl. L 13 vom 20.1.2004) sowie KOM(2009) 135 endg.

(18)  Die Straftäter verwenden offiziell die Bezeichnung „Waisenhäuser“, um ihre Aktivitäten zu tarnen. Tatsächlich handelt es sich um Kinderheime, die zum Zweck des Kindesmissbrauchs eingerichtet wurden.

(19)  Bericht Sex Offenders without Borders (etwa: „Sexualstraftäter kennen keine Grenzen“) des dänischen Zweigs der weltweit tätigen Kinderrechtsorganisation Save the Children, Mai 2009.

(20)  Child Exploitation and Online Centre – „Online-Zentrum gegen Kindesmissbrauch“, Vereinigtes Königreich.

(21)  Angenommen durch Resolution A/RES/406(XIII) im Rahmen der 13. Generalversammlung der Weltorganisation für Tourismus der Vereinten Nationen (UNWTO) (27. September – 1. Oktober 1999).

(22)  KOM(2009) 135 endg.

(23)  Thematic study on policy measures on child poverty (Untersuchung der Europäischen Kommission, die nicht auf Deutsch vorliegt. Etwa: „Thematische Untersuchung über politische Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut bei Kindern“).

(24)  Ebd.

(25)  Sarah Macgregor: Sex offenders treatment programs: effectiveness of prison and community based programs in Australia and New Zealand (etwa: „Programme zur Behandlung von Sexualstraftätern: Wirksamkeit von in Haftanstalten durchgeführten und gesellschaftsbasierten Programmen in Australien und Neuseeland“), in: http://www.indigenousjustice.gov.au/briefs/brief003.pdf; Dario Dosio, Friedemann Pfaefflin, Reinhard Eher (Hrsg.): Preventing Sexual Violence Through Effective Sexual Offender Treatment and Public Policy (etwa: „Prävention sexueller Gewalt durch eine wirksame Behandlung von Sexualstraftätern und staatliche Politik“), 10. Konferenz der Internationalen Vereinigung für die Behandlung von Sexualstraftätern (International Association for the Treatment of Sexual Offenders - IATSO), siehe: www.iatso.org.

(26)  Quelle: ACPE - Association Contre la Prostitution des Enfants (französische „Vereinigung gegen Kinderprostitution“).

(27)  Dieser Kodex wurde 1998 von ECPAT Schweden angestoßen und wird von UNICEF und der Weltorganisation für Tourismus (WTO) anerkannt. Mehr dazu unter www.thecode.org.

(28)  Übereinkommen Nr. 182 der ILO.

(29)  http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Final_EU_CLS_2009_report__040309_-_DE.pdf.

(30)  http://www.itfglobal.org/campaigns/traffickingstate.cfm.

(31)  http://www.iiicongressomundial.net/congresso/arquivos/thematic_paper_csr_eng.pdf.

(32)  ECPAT steht für „End Child Prostitution, Child Pornography and the Trafficking of Children for Sexual Purposes“ („Schluss mit Kinderprostitution, Kinderpornografie und dem Handel von Kindern zu sexuellen Zwecken“).


Anhang I

Europa gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern

Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger ist überall auf der Welt ein VERBRECHEN

Die EU-Institutionen und die Sozialpartner werden nicht tatenlos zusehen!

Überall auf der Welt haben Kinder das Recht, in Frieden aufzuwachsen und vor jeder Form sexueller Ausbeutung — physischer Art oder im Internet — geschützt zu werden.

Absichtserklärung der/des „Name der Organisation bzw. des Unternehmens“:

Wir tragen zur Entwicklung eines ethisch verantwortbaren Wirtschaftswachstums bei.

Wir achten und schützen die Rechte von Kindern.

Wir verurteilen die sexuelle Ausbeutung von Kindern in jeder Form, ob physisch oder im Internet.

Wir behalten uns das Recht vor, Personen, die im Verdacht stehen, Aktivitäten auszuüben, die zum Verlust der Würde oder zum sexuellen Missbrauch einer/s Minderjährigen führen, bei den zuständigen Stellen zu melden bzw. anzuzeigen.

Die Beschäftigten der/des „Name der Organisation bzw. des Unternehmens“ verpflichten sich dazu,

die oben aufgeführten Unternehmensgrundsätze zu beherzigen und die grundlegenden Rechte im Bereich des Kinderschutzes zu achten;

zu einem ethisch verantwortbaren Unternehmenswachstum beizutragen;

die Rechte von Kindern zu achten und zu schützen;

keine Informationen und kein Material bereitzustellen, das potenziell zur sexuellen Ausbeutung von Kindern führen könnte;

die zuständigen Behörden, einschließlich der Polizei, über verdächtige Aktivitäten zu informieren, die zur Gefährdung oder sexuellen Ausbeutung eines Kindes führen könnten.

Erwartungen der Kunden und Lieferanten der/des „Name der Organisation bzw. des Unternehmens“:

Wir begrüßen und achten die weltweit bestehenden Gesetze zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung. Wir verpflichten uns, von solchen Praktiken sowohl physisch als auch im Internet, in unserem Heimatland sowie bei Geschäfts- und Urlaubsreisen ins Ausland, Abstand zu nehmen.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Welche Zukunft hat der außerstädtische Raum in der Wissensgesellschaft?“

(Initiativstellungnahme)

(2009/C 317/08)

Berichterstatter: Sergio Ernesto SANTILLÁN CABEZA

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 10. Juli 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Welche Zukunft hat der außerstädtische Raum in der Wissensgesellschaft?.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 24. Juni 2009 an. Berichterstatter war Sergio Ernesto SANTILLÁN CABEZA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Die große Vielfalt Europas

1.1.   Die EU verfügt über eine außerordentlich reiche territoriale Vielfalt, und ihre Siedlungsstruktur ist einmalig. Dies trägt zur Lebensqualität sowohl der Stadtbevölkerung in der Nähe ländlicher Gebiete als auch der Landbevölkerung bei, die über einen guten Zugang zu Dienstleistungen verfügt. Darüber hinaus erweist sich diese Siedlungsstruktur als ressourceneffizient, da sie zur Vermeidung der in großen städtischen Ballungsräumen auftretenden Größennachteile sowie des mit der Ausdehnung der Städte einhergehenden hohen Energie- und Flächenverbrauchs beiträgt - zwei Aspekte, die mit dem fortschreitenden Klimawandel und den entsprechenden Anpassungs- und Bekämpfungsmaßnahmen an Bedeutung gewinnen werden (1).

Zur Differenzierung zwischen ländlichen und nicht ländlichen Gebieten unterscheidet die OECD zwischen lokalen Verwaltungseinheiten (Ebene LAU 1 oder 2) und Regionen (Ebene NUTS 3). Eine lokale Verwaltungseinheit ist eine ländliche Gemeinde, wenn ihre Bevölkerungsdichte bei unter 150 Einwohnern pro Quadratkilometer liegt. Die Regionen (NUTS 3) unterscheiden sich je nach Ausprägung ihres ländlichen Charakters, das heißt nach dem Anteil ihrer Bevölkerung, der in ländlichen lokalen Verwaltungseinheiten lebt.

1.2.1.   Laut OECD wird darüber hinaus zwischen drei Arten von Regionen unterschieden:

überwiegend ländliche Regionen: über 50 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gemeinden;

teilweise ländliche Regionen: zwischen 15 und 50 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gemeinden;

überwiegend städtische Regionen: unter 15 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gemeinden.

Über 50 % des Territoriums der EU-25 gelten als ländliche Gebiete.

1.2.2.   Eurostat unterscheidet beim Grad der Verstädterung zwischen drei Arten von Gebieten:

dicht besiedeltes Gebiet: ein Komplex aneinandergrenzender Gemeinden, jede mit einer Dichte von mehr als 500 Einwohnern pro km2, mit einer Gesamtbevölkerung von mindestens 50 000 Einwohnern;

mäßig besiedeltes Gebiet: ein Komplex (nicht zu einem dicht besiedelten Gebiet gehörender) aneinandergrenzender Gemeinden, jede mit einer Dichte von mehr als 100 Einwohnern pro km2, mit einer Gesamtbevölkerung von mindestens 50 000 Einwohnern oder ein Komplex, der an ein dicht besiedeltes Gebiet angrenzt;

dünn besiedeltes Gebiet: ein Komplex aneinandergrenzender Gemeinden, die weder einem dicht besiedelten noch einem mäßig besiedelten Gebiet zugehören (2).

In den meisten Mitgliedstaaten entspricht eine „lokale Einheit“ einer Gemeinde. Die dünn besiedelten Gebiete machen fast 84 % des gesamten Gebiets der EU-25 aus (3).

2.   Städtische und ländliche Gebiete: eine ungleiche Entwicklung

2.1.   Seit Jahren ist man sich einig, dass die EU die Herausforderungen der Globalisierung durch verstärkte FuE-Anstrengungen bewältigen könnte. Außerdem gehört es zu den Zielen der Lissabon-Strategie, die Investitionen in diesem Bereich bis auf 3 % des BIP aufzustocken.

2.2.   Gleichwohl muss das Potenzial der Regionen eingehender analysiert werden, das je nach demografischen (anderer Alterungsrhythmus der Bevölkerung) und soziologischen (Humanressourcen) Merkmalen, wirtschaftlichen Faktoren (Mobilität des Kapitals und der qualifizierten Arbeitnehmer und folglich Mobilität eines Teils der Besteuerungsgrundlage) und der Produktionsstruktur (Erbe der Vergangenheit, Investitionsattraktivität) unterschiedlich ist.

2.3.   Auch wenn der ländliche Raum nicht automatisch mit rückläufiger Entwicklung und die teilweise ländlichen Gebiete nicht unbedingt mit Expansion (4) assoziiert werden können, befinden sich die überwiegend ländlichen (17,9 % der EU-Bevölkerung) und teilweise ländlichen Regionen (37,8 %, d.h. insgesamt 55,7 %) in einer ungünstigeren Lage. Darüber hinaus sind die Unterschiede zwischen städtischen und außerstädtischen Gebieten in den einkommensschwächeren Mitgliedstaaten noch größer (5).

2.4.   In den letzten Jahren wurden viele Instrumente zur Innovationsförderung geschaffen oder entwickelt (7. RPFE, PIC, JEREMIE, gemeinsame Technologieinitiativen, die „Lead Markets“ usw.). Dieses lobenswerte Engagement steht im Kontrast zum relativen Desinteresse an den Regionen, die nicht über das nötige Potenzial verfügen, um diese Möglichkeiten in der Hoffnung auf positive Ergebnisse in Anspruch zu nehmen.

2.5.   Da sich die wirtschaftlichen Aktivitäten hauptsächlich auf die Städte konzentrieren, muss bei der Entwicklung der Wissensgesellschaft ein stärkeres Gleichgewicht angestrebt werden.

3.   Vorschläge zur Wiederherstellung eines Gleichgewichts zugunsten der außerstädtischen Gebiete

3.1.   Qualitativ hochwertige Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zur Gewährleistung des sozialen und territorialen Zusammenhalts

3.1.1.   In ihrer Mitteilung zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (6) verpflichtet sich die Europäische Kommission dazu, „eine umfassende Analyse der bisherigen Auswirkungen der Liberalisierung vorzunehmen und dem Parlament vorzulegen ‚und‘ sobald der neue Vertrag in Kraft getreten ist, […] [zu] prüfen, welche Fortschritte bei der Anwendung des Protokolls zu verzeichnen sind. Schließlich soll alle zwei Jahre ein Bericht zu sozialen Dienstleistungen herausgegeben werden, der dem Austausch mit den Beteiligten dienen soll.“ Der EWSA hält es für besonders wichtig, dass die Kommission die möglichen Auswirkungen der Liberalisierungen auf den territorialen Zusammenhalt analysiert. Diese Analyse sollte Daten liefern, die nach dem städtischen oder ländlichen Charakter der Gebietskörperschaften und den Ansichten ihrer jeweiligen Bevölkerung aufgeschlüsselt sind.

3.1.2.   Der in der Charta der Grundrechte anerkannte Zugang zu ärztlicher Versorgung (Artikel 35) kann in außerstädtischen Gebieten aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal, geeigneten Infrastrukturen und den entsprechenden Haushaltsmitteln besonders problematisch sein. Die Kommission sollte eine Debatte mit den Gebietskörperschaften und den interessierten europäischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden aufnehmen, um herauszufinden, wie Instrumente (Absprachen unter den Sozialpartnern, staatliche Beihilfen, Gemeinschaftsinitiativen) gefunden werden können, um diesem Sektor eine neue Dynamik zu verleihen.

3.2.   Informations- und Wissensgesellschaft

3.2.1.   Auch wenn beide Begriffe gelegentlich miteinander verwechselt werden, muss doch zwischen der Wissensgesellschaft (Ideal oder Entwicklungsstufe der Menschheit) und der Informationsgesellschaft (massive Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien) unterschieden werden. Information ist lediglich ein Instrument zur Aneignung von Wissen.

3.2.2.   Bildung ist ein Schlüsselelement zur Erreichung der Wissensgesellschaft. In außerstädtischen Gebieten macht sich der demografische Wandel besonders bemerkbar (Abwanderung, hohe Nichterwerbstätigenquote, Bevölkerungsalterung usw.). Jedes Jahr werden kleine Schulen in weniger dynamischen Gebieten geschlossen, da sie nicht mehr über genug Schüler verfügen. Dies kann die Tendenz zur Landflucht noch verstärken, da es die Eltern vorziehen, sich in Regionen niederzulassen, die im Hinblick auf wirtschaftliche Aktivitäten, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verfügbarkeit von Schulen und Infrastrukturen dynamischer sind (7).

3.2.3.   In Bezug auf den Anteil der Erwachsenen mit mittleren oder hohen Bildungsabschlüssen lässt sich feststellen, dass sich die Unterschiede zwischen überwiegend und teilweise ländlichen Regionen und den überwiegend städtischen Gebieten kontinuierlich verringern. In den nordeuropäischen Ländern und einigen neuen Mitgliedstaaten (FR, NL, FI, IE, BE, PL, CZ, HU) sieht die Situation in dieser Hinsicht vorteilhafter aus (<10 Punkte Unterschied). In anderen Ländern wiederum (UK, DE, AT) ist das Bildungsniveau in den ländlichen Gebieten höher als das in den Städten. Die größten Unterschiede (>20 Punkte) sind in den Mittelmeerländern zu verzeichnen (GR, ES, IT, PT).

3.2.4.   Der Anteil der Erwachsenen in Aus- und Fortbildungsmaßnahmen (lebenslanges Lernen) ist relativ gering (etwa 12 % in der EU-25), und es gibt hier keinen nennenswerten Unterschied zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Einige Länder unterstützen die Erwachsenenbildung (DK, ES, NL, AT, SL, SK, SE, UK), andere wiederum tun dies nur in geringerem Maße. Tendenziell ist in den ländlichen Gebieten ein etwas größerer Anstieg bei der Inanspruchnahme von Programmen der Erwachsenenbildung zu verzeichnen als in den Städten (8).

3.2.5.   Auch wenn die Nähe zu Bildungseinrichtungen den Zugang von Studenten aus nahe gelegenen ländlichen Gebieten begünstigt, scheint die Distanz zu Hochschulen kein Hindernis für die Inanspruchnahme höherer Bildungsprogramme, sondern eher eine Schwierigkeit bei der Auswahl des Studiengangs darzustellen.

3.2.6.   Die Europäische Kommission hat darauf hingewiesen, dass sich einige Mitgliedstaaten nicht ausreichend dafür einsetzen, die Schulabbruchrate zu reduzieren und ein lebenslanges Lernen zu fördern, um die in der Lissabon-Agenda festgelegten Ziele zu erreichen.

3.3.   Elektronisches Lernen und die Bedeutung der Breitbandverbindungen (9)

3.3.1.   Die Konzentration hoher FuE-Ausgaben auf eine ziemlich begrenzte Anzahl von EU-Regionen gibt Anlass zur Sorge: 70 % der FuE sind in Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich angesiedelt. Schätzungen der FuE-Ausgaben nach Region zufolge übersteigt die FuE-Intensität in 35 Regionen die Lissabon-Zielvorgabe (10).

3.3.2.   Der Ausschuss betont, „dass die zentrale Voraussetzung für die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung des lebenslangen Lernens, insbesondere in den ländlichen Gebieten und Kleinstädten der Gemeinschaft, in der Förderung von Breitbandinternetverbindungen (11) für den elektronischen Zugang zu Lernsystemen durch die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten besteht“.

3.3.3.   Im Dezember 2007 verfügten durchschnittlich 98 % der Bevölkerung in städtischen Gebieten über Breitband-(DSL)-Zugang, im Gegensatz zu nur 70 % in ländlichen Gebieten der EU-27 (12).

3.3.4.   Die Frage des Zugangs zu Breitbandverbindungen [ist] […] Bestandteil einer umfassenderen Strategie, die dem Zugang zu elektronischen Dienstleistungen den Status einer Leistung der Daseinsvorsorge verleiht (13). Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Preis dieses Dienstes geschenkt werden, der in einigen Mitgliedstaaten sehr hoch ist.

3.4.   Beschäftigung und geografische Lage

3.4.1.   Derzeit sind etwa 10 % des europäischen Straßennetzes von Verkehrsüberlastung betroffen. Dies gilt insbesondere für Hauptverkehrswege, die die Randgebiete mit überwiegender Wohnfunktion mit den Stadtzentren verbinden, in denen die Bevölkerung dieser Gebiete arbeitet. Die entsprechenden Kosten liegen jedes Jahr bei etwa 0,5 % des BIP. Um diesem Problem abzuhelfen, könnte die Kommission in Anstimmung mit den Sozialpartnern versuchen, in größerem Rahmen die Telearbeit zu fördern. Auf diese Weise kann der Aspekt der „Flexicurity“ in den Dienst des territorialen Zusammenhalts gestellt werden, da er zur Förderung des örtlichen Einzelhandels und der Senkung der Umweltkosten beitragen würde (14).

3.4.2.   Der Erfolg bei der Arbeitssuche kann mit zunehmender Distanz zu den verfügbaren Arbeitsplätzen (gemessen in Fahrtzeit und verbundenen Kosten) abnehmen, da der Zugang zu Informationen über Beschäftigungsmöglichkeiten fernab vom Wohnort schlechter ist (15).

Wohnraum, Wasser, Elektrizität, Gas und andere Brennstoffe in % des Gesamtverbrauchs (2005)

 

Arbeiter

Angestellte

Selbstständige

Arbeitslose

Rentner

Andere nicht erwerbstätige Personen

Differenz zwischen Minimal- und Maximalwerten

Differenz zwischen dem Durchschnitt der erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Personen

be Belgien

26,3

22,5

 

36,3

29,9

23,7

13,8

5,6

dk Dänemark

27,8

25,6

28,7

 

 

33,1

7,5

5,7

de Deutschland

29,9

27

27,6

35,8

32,5

35,5

8,8

6,4

ie Irland

20,3

21,1

22,3

25

30,4

28,3

10,1

6,7

gr Griechenland

22,1

22,1

20,6

24,7

29

31,5

10,9

6,8

es Spanien

26,3

28,9

26,9

29,5

35

34,9

8,7

5,8

fr Frankreich

25,8

23,2

22

30,9

31,1

33,4

11,4

8,1

it Italien

25,8

27,2

26,6

28,1

34,2

35,3

9,5

6,0

lu Luxemburg

29,6

27,4

30,9

32,9

34,9

34,2

7,5

4,7

nl Niederlande

23,6

22,3

24,3

32

32,8

28,8

10,5

7,8

at Österreich

22,2

20,7

21,5

27,1

24,3

23,4

6,4

3,5

pt Portugal

 

 

26,3

27,1

30,6

31,7

5,4

3,5

fi Finnland

25

23

26,6

34,4

35,6

27,1

12,6

7,5

se Schweden

28,4

27,5

 

32,9

35,5

30,8

8

5,1

uk Vereinigtes Königreich

27,9

25,4

25,4

39,5

39,7

34,8

14,3

11,8

Quelle: Eurostat;eigene Berechnungen

3.4.3.   Die Gebiete in Randlage können jedoch aufgrund ihrer relativen Abgeschiedenheit im Hinblick auf den Wohnraum und die Lebensqualität bestimmte Vorteile aufweisen. Es ist nach wie vor ein großes Potenzial vorhanden, das ausgeschöpft werden kann, insbesondere in den Kohäsionsländern. Denn wenn das Einkommen um 1 % steigt, dehnen die Haushalte ihren Wohnraum preisbereinigt zwischen 0,7 und 0,8 % aus.

3.4.4.   An dieser Stelle sollte auf das Phänomen der Zersiedelung (urban sprawl) eingegangen werden, das in Ländern und Regionen mit großer Bevölkerungsdichte und starker wirtschaftlicher Aktivität und bei den Nutznießern der Strukturfonds besonders ausgeprägt ist. Insgesamt sind die städtischen Gebiete zwischen 1990 und 2000 um 8 000 km2 gewachsen, eine Fläche, die der dreifachen Größe Luxemburgs entspricht (16). Diese Zersiedelung bleibt insbesondere für die biologische Vielfalt nicht ohne Konsequenzen.

3.5.   Kulturtourismus als Entwicklungsfaktor

3.5.1.   Der Tourismus erwirtschaftet zwischen 3 % und 8 % des BIP der Mitgliedstaaten. Dieser Sektor stellt neun Millionen Arbeitsplätze in der EU zur Verfügung. Darüber hinaus ist der „Fremdenverkehr […] ein starkes Zugpferd für andere Wirtschaftsbereiche: angefangen mit der Industrie, insbesondere den mit der Mode verbundenen Branchen, über die Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie bis hin zum Handel und anderen Dienstleistungsbereichen“ (17).

3.5.2.   Die Förderung des Kunsterbes, Veranstaltungen, Ausstellungen und Aufführungen, die Önogastronomie, der Landtourismus, der „Filmtourismus“ und kulturelle Themenparks können wichtige Quellen für Investitionen und Arbeitsplätze darstellen. Der EWSA verweist zur Förderung dieses Sektors auf die in jüngerer Vergangenheit formulierten Vorschläge.

3.5.3.   In diesem Zusammenhang muss auf die Initiativen im Rahmen von Natura 2000 hingewiesen werden (18).

4.   Städtenetze erleichtern die Verbreitung von IKT

4.1.   Im Vertrag von Lissabon ist der territoriale Zusammenhalt als neue Dimension des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts verankert. Ein Gesamtkonzept für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung kann nur dann Erfolg haben, wenn es die Raumplanung als Hauptinstrument des territorialen Zusammenhalts einbezieht und dabei den Auswirkungen der Informations- und Kommunikationstechnologien Rechnung trägt.

4.2.   Öffentliche Maßnahmen müssen alle geografischen Gebiete berücksichtigen. Wenn das neue Ziel des territorialen Zusammenhalts erreicht werden soll, braucht der ländliche Raum eine verstärkte Vernetzung der kleineren und mittelgroßen Städte. Diese Netze kleinerer und mittlerer Städte können und müssen zum territorialen Zusammenhalt beitragen, indem sie bei der Verbreitung von Verfahren zur Einführung von IKT auf dem Lande als Relaisstationen wirken.

5.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5.1.   Nein zum Determinismus: die außerstädtischen Gebiete haben eine Zukunft. In der EU gibt es zahlreiche ländliche Gebiete mit hoher Lebensqualität. In den benachteiligten Regionen kann jedoch z.B. durch die Einrichtung einer geeigneten Infrastruktur sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Bildung und die effiziente Nutzung der IKT in großem Maße zur Förderung des Unternehmergeistes (19) beigetragen, der Fortschritt vorangetrieben und die Lebensqualität in den überwiegend und teilweise ländlichen Regionen verbessert werden.

5.2.   Die Verbindungen zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten müssen ausgebaut werden. Jahrzehntelang wurden die Entwicklung des städtischen und die Entwicklung des ländlichen Raums als zwei getrennte Themen betrachtet. Traditionell wurde der Schwerpunkt in der Politik zur Förderung des ländlichen Raums ausschließlich auf Fragen gelegt, die unmittelbar mit der landwirtschaftlichen Produktion zusammenhingen. Die Zeiten ändern sich jedoch, und aufgrund der zunehmenden Interaktion und Kommunikation zwischen dem Land und der Stadt wird die „klassische“ Unterscheidung immer weniger offensichtlich, und die Grenze zwischen der Stadt und dem Land verschwimmt. Daher muss ein integrierter Ansatz für die Entwicklungspolitik gewählt werden (20).

5.3.   Das Potenzial der IKT in ländlichen Gebieten. Derzeit sind spezielle Strategien zur Förderung der IKT in ländlichen Gebieten über die Strukturfonds und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) vorhanden. Allerdings sind zur Überwindung der derzeitigen Kluft intensivere Aktionen erforderlich, die auf landwirtschaftliche Betriebe, kleine und mittlere sowie Mikrounternehmen, Jugendliche, Frauen (insbesondere zur Förderung ländlicher Unternehmerinnen), ältere Menschen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen ausgerichtet sind (21). Die Netze von Mittel- und Kleinstädten tragen zum territorialen Zusammenhalt und zur technologischen Innovation in ländlichen Gebieten bei.

5.4.   Die Strukturfonds sind allgemeine Instrumente. Eingehendere Überlegungen über die Zukunft dieser Regionen im Rahmen einer vorausschauenden Initiative könnten eine bessere Feinabstimmung der Strukturfonds ermöglichen, um ihre Wirksamkeit zu optimieren und ggf. neue Wege aufzuzeigen.

5.5.   Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Die große Vielfalt der EU-27 beeinträchtigt die Effizienz der Entwicklungsziele ländlicher Gegenden, wenn diese auf zentralisierte Weise festgelegt werden. Daher ist es von grundlegender Bedeutung, die Zivilgesellschaft ländlicher Gebiete in die Gestaltung der politischen Maßnahmen, die für ihre Zukunft von Bedeutung sind, mit einzubeziehen (22).

5.6.   Geeignete Indikatoren. Wie der EWSA bereits zuvor gefordert hat, sollte ein „repräsentativerer Indikator für den Zusammenhalt“ erarbeitet werden, der „neben dem BIP […] u.a. auch Parameter wie die Beschäftigungs- und Arbeitslosenquote, den Umfang des sozialen Schutzes und den Grad der Inanspruchnahme von Leistungen der Daseinsvorsorge beinhalten“ soll (23). Diese Indikatoren sollten auch durch Indikatoren zur Einkommensungleichverteilung (Gini-Koeffizient oder Quintilen-Verhältnis) und zu CO2-Emissionen (pro Einwohner oder Entwicklung seit 1990) ergänzt werden. Insgesamt müssen die europäischen Statistikinstrumente — insbesondere auf der Ebene der NUTS — konsolidiert und die Verbindungen zwischen Eurostat und den einzelstaatlichen Ämtern für Statistik verstärkt werden, damit möglichst schnell komplette und präzise Informationen zur Verfügung stehen (24)  (25).

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Es gibt etwa 5 000 Klein- und fast 1 000 Großstädte in Europa, die Anziehungspunkte für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aktivitäten sind. Dieses relativ dichte städtische Netz enthält nur ganz wenige Megastädte. In der EU leben nur 7 % der Bevölkerung in Städten mit über 5 Mio. Einwohnern, im Gegensatz zu den USA, wo dieser Anteil bei 25 % liegt. Nur fünf europäische Städte gehören zu den 100 größten Städten der Welt (Grünbuch zum territorialen Zusammenhalt. KOM(2008) 616 endg.).

(2)  Ein Komplex von Gemeinden von insgesamt unter 100 km2, der die erforderliche Bevölkerungsdichte nicht erreicht, jedoch vollständig von einem dicht besiedelten oder einem mäßig besiedelten Gebiet umgeben ist, gehört zu den dünn besiedelten Gebieten. Wenn dieser Komplex jedoch teils von einem dicht besiedelten und teils von einem mäßig besiedelten Gebiet umgeben ist, zählt er zu den mäßig besiedelten Gebieten.

(3)  Regionen: Jahrbuch 2006 (Daten 2000-2004 - Seite 162).

(4)  Im Zeitraum 1995-2004 wurde in 43 % der überwiegend ländlichen Gebiete, aber nur in 36 % der städtischen und 39 % der teilweise ländlichen Gebiete das durchschnittliche BIP-Wachstum übertroffen.

(5)  Vierter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (KOM(2007) 273 endg.).

(6)  „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“, KOM(2007) 725 endg.

(7)  Der EWSA hat die Einrichtung eines Demografiefonds zur Bewältigung all dieser Probleme vorgeschlagen.

(8)  „Delivering quality education to rural regions“ von Elena Saraceno. „Innovative Service Delivery: Meeting the Challenges of Rural Regions“, Köln, 3./4. April 2008.

(9)  Siehe Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission - Wettbewerbsfähige europäische Regionen durch Forschung und Innovation. Ein Beitrag zu mehr Wachstum sowie zur qualitativen und quantitativen Verbesserung der Beschäftigungslage“, ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 1.

(10)  Auf diese 35 Regionen entfallen 46 % der gesamten FuE-Ausgaben in der EU-27, was dem Doppelten ihres Anteils am BIP entspricht. Am oberen Ende der Tabelle finden sich FuE-Ausgaben von 7 % in Braunschweig (DE) und von über 4 % in 12 weiteren Regionen. Vierter Zwischenbericht über den Zusammenhalt, KOM(2006) 281 endg.

(11)  Breitbandinternetzugang: Kommunikationskanal mit hoher Kapazität, der einen schnellen und effizienten Zugriff auf die Informations- und e-Learning-Systeme erlaubt (Quelle: http://www.elearningeuropa.info).

(12)  Mitteilung der Kommission „Besserer Zugang zur modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in ländlichen Gebieten“ KOM(2009) 103 endg. Die Abdeckung des ländlichen Raums ist in der Slowakei (39 %), Polen (43 %), Griechenland (50 %) und Lettland (65 %) sowie in Bulgarien und Rumänien nach wie vor schlecht.

(13)  Siehe Initiativstellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag des IT-gestützten lebenslangen Lernens zur Wettbewerbsfähigkeit, zum industriellen Wandel und zur Entwicklung des Sozialkapitals in Europa“, ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 20.

(14)  Über 50 % des Kraftstoffverbrauchs ist auf die Verkehrsüberlastung des Straßennetzes und eine unangemessene Fahrweise zurückzuführen. Schätzungsweise liegen die Gesamtumweltkosten (Luftverschmutzung, Lärm und Klimaerwärmung) des Verkehrssektors bei 1,1 % des BIP (siehe Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch der Europäischen Kommission von 2001, KOM(2006) 314 endg., 22. Juni 2006).

(15)  Y. Zenou, „Les inégalités dans la ville“ aus Villes et économie, La documentation française, 2004.

(16)  Europäische Umweltagentur, „Urban Sprawl in Europe: the Ignored Challenge“, 2006.

(17)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA „Tourismus und Kultur: zwei Kräfte im Dienste des Wachstums“, ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 1.

(18)  Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen.

(19)  Zum Beispiel kann die Erzeugung erneuerbarer Energien, wie z.B. Windenergie, eine wichtige Quelle für Investitionen in ländliche Gebiete darstellen.

(20)  Im Januar 2009 hat die GD REGIO ein Seminar zu diesem Thema unterstützt, in dessen Rahmen Fälle erfolgreicher Beziehungen zwischen dem Land und der Stadt angeführt wurden. Beispiel: das operationelle Programm „Skåne-Blekinge“ in Schweden. Siehe „Urban-Rural linkages fostering sustainable development in Europe“, Inforegio.

(21)  Mitteilung der Kommission „Besserer Zugang zur modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in ländlichen Gebieten“ KOM(2009) 103 endg.

(22)  Siehe Initiativstellungnahme des EWSA: „Gemeinsam auf EU-Ebene handeln, um die Zivilgesellschaft in ländlichen Gebieten zu stärken - unter besonderer Berücksichtigung der neuen Mitgliedstaaten“, ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 37.

(23)  Siehe die Initiativstellungnahme des EWSA: „Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“, ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.

(24)  Anlässlich der Neubelebung der Lissabon-Strategie im März 2005 hat der Europäische Rat darauf hingewiesen, dass diese Strategie im größeren Rahmen der nachhaltigen Entwicklung zu sehen ist, die erfordert, den gegenwärtigen Bedürfnissen dergestalt Rechnung zu tragen, dass die Fähigkeit künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, nicht gefährdet wird. Der Europäische Rat bekräftigt sein Engagement für die nachhaltige Entwicklung, die ein zentraler Grundsatz aller politischen Strategien und Maßnahmen der Union ist. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates im Juni 2005.

(25)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses zum „Vierten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“, ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 73.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009

23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/54


EUROPÄISCHER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS 455. PLENARTAGUNG AM 15./16. JULI 2009

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher“

KOM(2008) 614 endg. — 2008/0196 (COD)

(2009/C 317/09)

Berichterstatter: Bernardo Hernández BATALLER

Mitberichterstatter: Jarosław MULEWICZ

Der Rat beschloss am 6. November 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher

KOM(2008) 614 endg. – 2008/0196 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2009 an. Berichterstatter war Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER, Mitberichterstatter war Jarosław MULEWICZ.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 68 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt, dass der Vorschlag der Kommission über die Rechte der Verbraucher gemäß den Bemerkungen in dieser Stellungnahme umformuliert werden sollte. Folglich sollte keine vollständige Harmonisierung, sondern lediglich eine Querschnittsharmonisierung für die Verkäufe außerhalb von Geschäftsräumen und den Fernabsatz angestrebt werden, denn diese sind am stärksten vom grenzüberschreitenden Handel betroffen.

Die Abschnitte des Richtlinienvorschlags zu den missbräuchlichen Klauseln und dem Verkauf von Gütern und den Garantien für Güter sollten gestrichen und zurückgezogen werden, da sie Aspekte betreffen, deren Behandlung im Rahmen einer vollständigen Harmonisierung angesichts des derzeitigen Stands der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts nicht angezeigt erscheint.

1.2.1.   Mit dem Vorschlag werden keine Neuerungen für mehrere wichtige Aspekte, wie Kundendienst und Ersatzteile oder die direkte Haftung des Herstellers und der Vertriebsnetze eingeführt.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Aufnahme einiger „gemeinsamer“ Definitionen den Gewerbetreibenden und Verbrauchern größere Gewissheit und Rechtssicherheit bringen kann. Deshalb muss die Kommission die in dem Vorschlag in dieser Frage bestehenden Widersprüche beseitigen.

1.3.1.   Der EWSA ersucht die Kommission, aus Gründen der Rechtssicherheit im Wortlaut des Vorschlags zu klären, ob die angeführten Begriffsbestimmungen vollständig harmonisiert sind, oder ob die Mitgliedstaaten gegebenenfalls über einen Ermessensspielraum zur Ergänzung dieser Begriffe verfügen.

1.3.2.   Der europäische Verbraucher darf nicht ausschließlich aus der Sicht des Binnenmarkts bzw. als vernunftbestimmter, erfahrener und informierter Akteur im Markt gesehen werden, der seine Entscheidungen aus der reinen Logik des Wettbewerbs trifft, wobei sein Schutz lediglich in einer umfassenderen und besseren Information besteht.

1.4.   Der EWSA möchte hiermit feststellen, dass gravierende Mängel bei der Konfliktlösung und beim Schadensersatz bestehen, die ein maßgeblicher, „wenn nicht der maßgeblichste“ Faktor dafür sind, dass die gewünschte Ausweitung des grenzüberschreitenden Handels ausbleibt. Die Kommission geht in ihrem Vorschlag auf diese Befürchtung, die in den Veröffentlichungen des „Eurobarometers“ zu Tage tritt, nicht ein.

2.   Einleitung

2.1.   Der Vorschlag beruht auf einer breit angelegten Debatte auf Gemeinschaftsebene über die Möglichkeiten der Vereinheitlichung von Vorschriften bei Verträgen, ausgehend von einem „gemeinsamen Referenzrahmen“ in Vertragsfragen, auf dessen Grundlage die Kommission eine Mitteilung zum europäischen Vertragsrecht (1) verabschiedet hat. In der Verbraucherschutzpolitik fand ebenfalls eine Debatte über die Revision des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz statt, die sowohl Querschnittsfragen (2) als auch vertikale (3) Aspekte im Zusammenhang mit den Richtlinien zum Verbraucherschutz bei der Vertragsgestaltung umfasst.

2.2.   In der Stellungnahme zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz (4) sieht der EWSA die „Verbraucherschutzpolitik nicht nur als Bestandteil der Binnenmarktstrategie der EU, sondern auch als ein wichtiges und bekräftigendes Element der Bürgerschaft“ an. Im Hinblick auf die gemeinschaftsweite Harmonisierung muss das Leitprinzip nach Auffassung des EWSA darin bestehen, das beste und höchste Verbraucherschutzniveau zu übernehmen, das in den einzelnen Mitgliedstaaten existiert.

3.   Wesentlicher Inhalt des Vorschlags

3.1.   Dem Kommissionsvorschlag liegt unmittelbar das Grünbuch der Kommission zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz zugrunde (KOM(2006) 744 endg. vom 8. Februar 2007), dessen Begründung und Ziel in der Vereinfachung und Ergänzung des bestehenden Rechtsrahmens bestand und das acht Richtlinien zum Verbraucherschutz (5) umfasste. Die Reaktionen auf das Grünbuch wurden in dem detaillierten Bericht analysiert, den die Kommission in Auftrag gegeben hatte, wobei anzumerken ist, dass die Hälfte aller eingegangenen Beiträge aus der Wirtschaft (150) kam und die andere Hälfte sich auf Verbraucherschutzeinrichtungen (53), Rechtssachverständige und sonstige Experten (33), Behörden (39) und Akademiker (32) aufteilte (6).

3.2.   Der Vorschlag enthält 50 Artikel, unterteilt in sieben Kapitel: 1) Gegenstand, Begriffsbestimmungen und Geltungsbereich (Artikel 1 bis 4); II) Information der Verbraucher (Artikel 5 bis 7); III) Information der Verbraucher und Widerrufsrecht bei Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Artikel 8 bis 20); IV) Sonstige Verbraucherrechte in Bezug auf Kaufverträge (Artikel 21 bis 29); V) Verbraucherrechte in Bezug auf Vertragsklauseln (Artikel 30 bis 39); VI) Allgemeine Vorschriften (Artikel 40 bis 46) sowie Schlussbestimmungen (Artikel 47 bis 50). Dazu gehören fünf Anhänge, von denen sich zwei auf Vertragsklauseln beziehen.

3.3.   Die Kommission möchte folgende EU-Richtlinien komplett aufheben (s. Artikel 47): (i) Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen; (ii) Richtlinie 1993/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen; (iii) Richtlinie 1997/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz und (iv) Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Vollständige Harmonisierung: Der Vorschlag der Kommission ist von den verschiedenen Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft sehr unterschiedlich aufgenommen worden.

4.1.1.   Die Unternehmerverbände unterstützen den Vorschlag, da er ihrer Meinung nach zu einem besseren Funktionieren des Binnenmarkts beiträgt und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern kann, indem die bestehenden Vorbehalte gegenüber grenzüberschreitenden Transaktionen abgebaut werden und sich die Verwaltungskosten und die mit der Einhaltung von Rechtsvorschriften verbundenen Kosten der Gewerbetreibenden gleichzeitig verringern. Dies kann vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmen zum Tragen kommen.

4.1.2.   Nach Ansicht der Verbraucherverbände beeinträchtigt der Vorschlag die erworbenen Rechte, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstands sind, sodass eine unzulässige Schmälerung von Verbraucherrechten eintritt. Insgesamt sind sie der Ansicht, der Vorschlag führe zu einer Einschränkung der Verbraucherrechte, da die Auswirkungen der vollständigen Harmonisierung für die Zwecke dieses Vorschlags zu groß und unverhältnismäßig sind, und er verhindere künftige Entwicklungen.

4.1.3.   Zur Überwindung der verschiedenen Gegensätze schlägt der EWSA Folgendes vor:

a)

Begrenzung des Anwendungsbereichs des Vorschlags einzig und ausschließlich auf Verkäufe außerhalb der Geschäftsräume und den Fernabsatz, da es sich um jene Anwendungsbereiche der grenzüberschreitenden Transaktionen handelt, in denen Hindernisse durch den Vorschlag beseitigt werden sollen und in denen die vollständige Harmonisierung kohärenter erscheint. Für diesen Fall würde eine vollständige Harmonisierung bei missbräuchlichen Klauseln und Garantien für Verkäufe ausgeschlossen.

b)

Die gemeinsamen Definitionen müssten im Vorschlag angeführt werden, wobei die im Vorschlag bestehenden Widersprüche beseitigt werden müssten.

c)

Weitere Änderungen, die in dieser Stellungnahme angeregt werden.

4.2.   Mangelnde innere Kohärenz des Vorschlags

4.2.1.   Angesichts der Erwartungen, die in den vergangenen mehr als 20 Jahren durch zahlreiche Debatten, Arbeiten und Studien über das europäische Vertragsrecht vor Vorlage des Grünbuchs bzw. zeitgleich und auch durch das parallel entwickelte Projekt des Gemeinsamen Referenzrahmens (7) geweckt wurden, vertritt der EWSA die Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission hinter den Erwartungen und Wünschen zurückgeblieben ist.

4.2.2.   Einerseits werden für die angestrebte Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands acht Richtlinien aufgeführt, während sich die Kommission in ihrem Vorschlag einer Überprüfung und Zusammenfassung auf vier der Richtlinien beschränkt. Andererseits war mit den Arbeiten am Gemeinsamen Referenzrahmen die Beseitigung der Inkonsistenzen und die Konsolidierung der Regeln des so genannten europäischen Vertragsrechts in einem fakultativen Instrument als nützlichem Werkzeug für Berufsgruppen, Verbraucher, Rechtspfleger und Akteure der Gesetzgebung beabsichtigt.

4.2.3.   In diesem Kontext ist der jetzt vorgeschlagene konkrete Inhalt, der zwar mehrere positive Aspekte enthält, sich aber darauf beschränkt, Regelungen aus vier Richtlinien in einem einzigen Text unter einer Gruppe gemeinsamer Definitionen zu vereinen, letztendlich wenig innovativ und strukturiert. Und den Anliegen der Konsolidierung, Klärung und Ergänzung wird nicht die Beachtung zuteil, die für das hohe, von der EU zu gewährleistende Verbraucherschutzniveau erforderlich ist. Hinzu kommt, dass der Vorschlag nicht einmal mit dem eigenen Ziel einer vollständigen Harmonisierung in Einklang steht und dieses nicht nur nicht angemessen verwirklicht, da wesentliche Aspekte der rechtlichen Regelung der geänderten Richtlinien der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten überlassen bleiben, sondern auch durch die Wahl der Form einer „Richtlinie“ statt einer „Verordnung“ neue Unsicherheiten schafft und unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht.

4.2.4.   Der EWSA spielt eine aktive Rolle im Verbraucherschutz und gibt häufig Initiativstellungnahmen ab, in denen er seine Standpunkte darlegt und in denen sein eigener gemeinschaftlicher Sockel an Aussagen zum Verbraucherschutz enthalten ist, auf deren Grundlage jetzt der Vorschlag der Kommission geprüft wird.

4.2.5.   Die Vollendung des Binnenmarkts für die Unternehmen und die Verbraucher ist ein vom EWSA geteiltes Ziel; der EWSA räumt ein, dass in jedem Mitgliedstaat Transaktionskosten aus der Anwendung der jeweiligen Verbraucherschutzbestimmungen entstehen, was ein Hemmnis für ein vielfältigeres Angebot an Waren und Produkten auf dem Binnenmarkt zugunsten der Verbraucher sein kann. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass weitere, noch erheblichere Hemmnisse bestehen, wie aus den Veröffentlichungen des „Eurobarometers“ (8), hervorgeht, u.a. das mangelnde Vertrauen in den elektronischen Geschäftsverkehr.

4.3.   Grenzüberschreitende Hindernisse

Für die Kommission liegt das Haupthindernis für die Verwirklichung des Binnenmarkts und insbesondere den grenzüberschreitenden Handel auf der Angebotsseite anscheinend in den Kosten und den Vorbehalten der Gewerbetreibenden und auf der Nachfrageseite im mangelnden Vertrauen der Verbraucher. Als Gründe für die ermittelten Probleme nennt sie die aus einer Mindestharmonisierung resultierende Rechtszersplitterung und -differenzierung.

4.3.1.1.   Obgleich die Richtlinien zur Mindestharmonisierung das im gemeinschaftlichen Verbraucherrecht am häufigsten benutzte Instrument waren, zeigt das Beispiel der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken 2005/29/EG, dass eine vollständige Harmonisierung eine für die erworbenen Verbraucherrechte verheerende Regelungsoption und eine eindeutige Verletzung von Artikel 153 EGV ist (9).

4.4.   Befugnisse auf Gemeinschaftsebene

4.4.1.   Der EWSA weist darauf hin, dass die Ausgangspunkte der Gemeinschaftspolitik zum Verbraucherschutz und zum Wettbewerbsschutz gänzlich unterschiedlich sind.

4.4.2.   Während in den Römischen Verträgen die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Wettbewerbspolitik verankert wurde, wurde der Verbraucherschutz als eigenständiges politisches Ziel übergangen. Obwohl mehrere Maßnahmen (10) ergriffen worden waren, bestand der Rahmen für diese Gemeinschaftspolitik in einer Entschließung des Rates als erstem Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, das erst am 14. April 1975 angenommen wurde.

4.4.3.   Die Schaffung einer gemeinschaftlichen Verbraucherschutzpolitik ist somit das Ergebnis mehrfacher, systematischer Interventionen von Verbraucherverbänden, die ihren Mitgliedstaaten die Annahme einer solchen Schutzpolitik aufzwangen, die die EU schließlich ebenfalls akzeptierte.

4.4.4.   Aus diesem Grund steht die Gemeinschaft im Verbraucherschutz zwischen einer Pflicht zur Gewährleistung eines hohen Schutzes der Verbraucher und einer geteilten und subsidiären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten  (11).

4.4.5.   Die Verbraucherschutzpolitik wurde von den Mitgliedstaaten realisiert, indem diese einen höheren Schutz gewähren und getroffene Maßnahmen aufrechterhalten, auch unter dem Gesichtspunkt der Intervention und der Gewährleistung des sozialen Friedens.

4.4.6.   Der europäische Verbraucher darf daher nicht ausschließlich aus der Sicht des Binnenmarkts bzw. als vernunftbestimmter, erfahrener und informierter Akteur in einem Markt gesehen werden, der seine Entscheidungen aus der reinen Logik des Wettbewerbs trifft, wobei sein Schutz lediglich in einer umfassenderen und besseren Information besteht.

4.4.7.   Wie der EWSA bereits früher dargelegt hat, muss jeder Vorschlag, mit dem eine maximale Harmonisierung im Verbraucherschutz angestrebt wird, auf ganz konkrete Aspekte ausgerichtet werden und von besonderen Vorsichtsmaßnahmen begleitet sein, um dem durch den Vertrag garantierten hohen Verbraucherschutzniveau und gleichzeitig dem Subsidiaritätsprinzip gerecht zu werden, weil andernfalls eine Verzögerung und eine Stagnation der Entwicklung der Verbraucherrechte in jedem Mitgliedstaat die Folge wären.

4.5.   Rechtsgrundlage

4.5.1.   Der EWSA stellt auch die für die Richtlinie herangezogene Rechtsgrundlage in Frage: Artikel 95 und nicht Artikel 153.

4.5.2.   Der EWSA hat sich wiederholt für die Heranziehung von Artikel 153 des Vertrags als Rechtsgrundlage für die Regelungsentwürfe im Bereich des Verbraucherschutzes ausgesprochen, anstatt Artikel 95 EGV heranzuziehen, der als Rechtsnorm den Binnenmarkt betrifft. Dennoch zieht die Kommission in allen ihren jüngsten Vorschlägen Artikel 95 des EGV heran, da sie ihn aufgrund des Binnenmarktcharakters des Richtlinienvorschlags für geeignet hält.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Der Text des Vorschlags präsentiert sich insgesamt komplex, mit einer übermäßigen Verwendung von Verweisungen (vgl. zum Beispiel Artikel 3, Absätze 2 und 4; Artikel 6, Absatz 9 a); Artikel 10; Artikel 21, Absätze 1 und 3; Artikel 28; Artikel 32, Absatz 2 und Artikel 35), die die Lektüre und das Verständnis erschweren, wobei häufig vage bzw. unbestimmte Ausdrücke verwendet werden, die bei der Umsetzung Probleme bereiten werden. Hinzu kommt, dass die Systematik nicht immer verständlich ist (z.B. Artikel 45 über unbestellte Produkte im Kapitel VI – Allgemeine Vorschriften). Wenn die erwähnten Unklarheiten in der Richtlinie verbleiben, ist es erforderlich, dass in die Richtlinie und in die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Bestimmung aufgenommen wird, gemäß derer bei Streitigkeiten aufgrund von Mehrdeutigkeiten eine Auslegung zugunsten des Verbrauchers als der schwächeren Partei erfolgt.

5.2.   Zudem werden Verfahrens- und Sanktionsregelungen praktisch vollständig ausgespart, und als logische Konsequenz einer maximalen Harmonisierung werden sie weiterhin an die Mitgliedstaaten übertragen (vgl. Erwägungsgrund (58) und Artikel 42). Dadurch können erhebliche Inkohärenzen bei der Harmonisierung auftreten. Als Beispiel seien folgende Fälle angeführt: (i) Informationspflichten (Artikel 5), wo den Mitgliedstaaten die Festlegung der Folgen einer Vertragswidrigkeit übertragen wird, aber durch eine seltsame Formel: „auf dem Gebiet des Vertragsrechts“, wobei offen bleibt, ob die Festlegung der Sanktionen administrativer oder strafrechtlicher Art als Verstoß gegen eine Richtlinie betrachtet werden; (ii) die Folgen der Einstufung einer Vertragsklausel als missbräuchlich, weil kaum dargelegt wird, dass diese den Verbraucher nicht bindet, da es den Mitgliedstaaten freisteht, auf ein beliebiges Konzept des nationalen Vertragsrechts zurückzugreifen, mit dem die Ziele erreicht werden (vgl. Erwägungsgründe 54 und Artikel 37).

5.3.   Die einander widersprechenden Vorschriften über das Widerrufsrecht in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen. Dieses Recht, das das Prinzip der Vertragstreue pacta sunt servanda vom Schuldrecht auszuschließen scheint, ist in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt und reicht vom einseitigen Widerruf über die gütliche Einigung bis hin zur Auflösung des Vertrages, die jeweils unterschiedliche Rechtswirkungen entfalten. Die Kommission sollte sich dieser Frage annehmen und in ihren Vorschlag eine kohärente Regelung dieses Aspekts des Vertragsrechts aufnehmen.

5.4.   Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich

Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission in ihrem Vorschlag klären, ob die von ihr vorgelegten Begriffsbestimmungen den Mitgliedstaaten ergänzende Entwicklungen erlauben.

5.4.1.   Verbraucher (Artikel 2 Absatz 1) – Bei der vorgeschlagenen Definition, die mit den meisten Gemeinschaftstexten übereinstimmt, wird keine Aussage im Hinblick auf die in zahlreichen Mitgliedstaaten anerkannte mögliche Ausweitung des Konzepts getroffen, wenn die natürliche Person (12) mit gemischten Zwecken handelt (13), und auch nicht auf die Ausweitung auf bestimmte juristischen Personen. Diese strenge Definition des Verbrauchers, ausgelegt nach der Rechtsprechung des EuGH und der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken zusammen mit der Regelung in Artikel 4, durch die strengere Bestimmungen untersagt werden, die ein anderes Verbraucherschutzniveau gewährleisten sollen, verhindert den Schutz der schutzbedürftigen Verbraucher, einer Kategorie, die von den im Vorschlag behandelten Verträgen betroffen sein kann. Es ist anzumerken, dass in der Richtlinie 2005/29/EG selbst die Existenz schutzbedürftiger Verbraucher anerkannt wird (Artikel 5, Absatz 3) und auch hier unbedingt einbezogen werden müsste.

5.4.2.   Gewerbetreibender (Artikel 2 Absatz 2). Im Vorschlag wird weder die Situation der gemeinnützigen Organisationen noch die der öffentlichen Einrichtungen geklärt, wenn diese außerhalb der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta jure imperii) handeln.

5.4.3.   Waren und Produkte (Artikel 2 Absätze 4 und 12). Die Festlegung zweier verschiedener Definitionen für Waren und Produkte (letztere in Übereinstimmung mit der in Richtlinie 2005/29/EG) ist verwirrend und wenig verständlich. Hervorzuheben ist der Fall der Elektrizität, die zu einer Ware oder einer Dienstleistung wird, je nach außervertraglicher oder vertraglicher Haftungsgrundlage, was natürlich nicht zur Kohärenz des Gemeinschaftsrechts beiträgt. Der Ausschluss der Elektrizitätsrichtlinie ist ein Widerspruch, da sie sehr wohl angewandt wird, wenn es sich um die Elektrizitätsspeicherelemente wie Batterien und Akkumulatoren handelt, wie dies in zahlreichen Mitgliedstaaten der Fall ist.

5.4.4.   Fernabsatzvertrag (Artikel 2 Absatz 6). Diese Definition ist umfassender als die Definition in der bestehenden Fernabsatzrichtlinie. Das führt zu Problemen. Die neue Definition macht die ausschließliche Nutzung der Fernkommunikation „für den Vertragsabschluss“ erforderlich. Damit werden viele Verträge zu Fernabsatzverträgen, die es vorher nicht waren. Zwei Beispiele: Im ersten Fall betritt der Verbraucher X ein Geschäft und spricht über einen möglichen Kauf. Er kehrt nach Hause zurück und ruft dann das Geschäft an, um den Kauf zu bestätigen. Es ist nicht klar, warum die Definition erweitert werden muss, um dieses Beispiel einzubeziehen. Im zweiten Fall wird der Verbraucher Y in seinem Haus von einem Verkäufer aufgesucht, und während des Besuchs unterbreitet der Verbraucher dem Verkäufer ein Angebot zum Erwerb seiner Produkte. Das geschieht mündlich oder durch Ausfüllen einer Bestellung. Später übermittelt ihm der Verkäufer die Bestätigung des Angebots des Verbrauchers Y seitens des Verkäufers, und zwar telefonisch oder postalisch. Im zweiten Fall scheint der Vertrag sowohl ein Fernabsatzvertrag als auch ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag zu sein. Welcher von beiden ist es? Beträgt das Widerrufsrecht 14 Tage ab Vertragsdatum (außerhalb von Geschäftsräumen) oder 14 Tage ab Ausführungsdatum (Fernabsatzvertrag)? Die Definitionen von „Fernabsatzvertrag“ und „außerhalb der Geschäftsräume geschlossener Vertrag“ dürfen sich nicht überlappen.

5.4.5.   Geschäftsraum (Artikel 2 Absatz 9). Es handelt sich auch hier um eine Definition, deren tatsächliche Tragweite wenig fassbar erscheint. Wird diese Begriffsbestimmung zusammen mit Erwägungsgrund 15 ausgelegt, so wird folgende Frage aufgeworfen: Gelten Verkäufe an Bord eines Flugzeugs oder eines Schiffes als außerhalb von oder als in Geschäftsräumen geschlossene Verträge?

5.4.6.   Gewerbliche Garantie. In dem Vorschlag wird aus dem Grünbuch im Hinblick auf Garantien und Kundendienstleistungen die Terminologie „gewerbliche Garantie“ (siehe Artikel 2, Absatz 18) übernommen, doch nunmehr, ohne zu unterscheiden von der gesetzlichen Garantie, der einzigen durch die Richtlinie 99/44/EG gewährten Garantie (vgl. Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe e). Die vorgenommene Ersetzung ist dazu angetan, die Verbraucher hinsichtlich des realen Umfangs der einen oder anderen Garantieart zu verwirren. Es sollte in jedem Falle geklärt werden, dass die gewerbliche Garantie auf der Freiwilligkeit des Gewerbetreibenden beruht, wohingegen die gesetzliche Garantie rechtlich bindend ist.

5.4.7.   Vermittler. Sowohl die Definition des Vermittlers (Artikel 2 Absatz 19) als auch die für ihn eingeführten speziellen Informationspflichten (Artikel 7) sind wenig verständlich. Tatsächlich handelt es sich entweder um eine berufliche Tätigkeit, die somit auch der Richtlinie unterworfen ist, oder dies ist nicht der Fall, die Richtlinie ist nicht anzuwenden, und es besteht auch keine Notwendigkeit der Reglementierung. Daher empfiehlt der EWSA eine Klarstellung.

5.4.8.   Information der Verbraucher (Artikel 5). Aus dem Wortlaut der Bestimmung zu den allgemeinen Informationspflichten vor dem Vertragsabschluss lässt sich ableiten, dass offensichtlich freigestellt wird, bestimmte Informationen nicht zu liefern: „1. Vor dem Abschluss eines Kauf- oder Dienstleistungsvertrags muss der Gewerbetreibende den Verbraucher über Folgendes informieren, sofern sich diese Informationen nicht unmittelbar aus den Umständen ergeben“. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Formulierung viele Zweifel hervorruft und zu einer großen Unsicherheit führt, deshalb stimmt er ihr nicht zu.

5.4.9.   Im Internationalen Privatrecht ist ebenfalls nicht klar, ob diese Informationen der „Rom I-Verordnung“ unterliegen sollten (wie dies in Artikel 5 Absatz 3 angeregt wird), oder ob bei einem Verstoß gegen die Offenlegungspflicht Artikel 12 der „Rom II-Verordnung“ (s. Erwägungsgrund 30 der Rom II-Verordnung) anzuwenden ist.

5.4.10.   Die Bestimmung in Artikel 6 Absatz 2, derzufolge sich die Folgen von Verstößen gegen die Offenlegungspflicht nach dem geltenden innerstaatlichen Recht bestimmen, erscheint nicht sinnvoll und wird zu unterschiedlichen Lösungen führen. Es ist daher angezeigt, diesen Punkt zu harmonisieren.

5.4.11.   Öffentliche Versteigerungen: Es sollte klargestellt werden, dass Versteigerungen durch staatliche Stellen und Zwangsversteigerungen in jedem Falle vom Anwendungsbereich des Vorschlags ausgenommen sind, der zwar die Begriffe „Versteigerung“ und „öffentliche Versteigerung“ enthält, mit denen jedoch Versteigerungen bezeichnet werden, die ein Gewerbetreibender aus freiem Entschluss durchführt.

5.5.   Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge

Für die Richtlinie 85/577/EWG, eine der ersten europäischen Gesetzesinitiativen im Verbraucherschutz, ist ein geringerer Grad der Verzerrung durch die Umsetzung in nationales Recht zu verzeichnen, eine Umsetzung, die auf die Anwendung der Ausschlussoptionen bestimmter Arten von Verträgen (unter einem bestimmten Wert oder nach Warenart) oder auf die Ausdehnung des Verbraucherschutzes durch die Mindestharmonisierungsklausel (vgl. Artikel 8) ausgerichtet ist; deshalb ist die allgemein vorgesehene Maximalharmonisierung nicht problematisch und erweist sich als ausgewogen und positiv. Die Richtlinie 85/577/EWG kommt nur zur Anwendung, wenn der Besuch des Gewerbetreibenden im Haus oder am Arbeitsplatz des Verbrauchers nicht erbeten war. Der Vorschlag zur Ausweitung des Kontrollbereichs, um auch erbetene Besuche zu berücksichtigen, ist akzeptabel, wenn die in Artikel 19 Absatz 2 erfassten Ausnahmen erweitert werden. In die Verträge, auf die das Widerrufsrecht nicht zur Anwendung kommt (wie im Fall der Fernabsatzverträge), muss Folgendes einbezogen werden:

a)

die Dienstleistungen, deren Ausführung bereits vor Ablauf der Widerrufsfrist begonnen hat und zu deren Ausführung der Verbraucher zuvor seine ausdrückliche Zustimmung gegeben hat, und

b)

die Lieferung von Waren, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind, die schnell verderben können bzw. deren Verfallsdatum überschritten wird.

5.5.1.1.   Sollte die erste dieser Ausnahmen nicht in Artikel 19 Absatz 2 aufgenommen werden, könnten die Dienstleistungserbringer von den Verbrauchern, die wünschen, dass eine Arbeit zügig verrichtet wird (z. B. Reparaturen in der Küche oder ein Haarschnitt zu Hause) fordern, mindestens 14 Tage zu warten. Wird die zweite Ausnahme nicht berücksichtigt, könnte sich ein Gewerbetreibender, der Waren nach Kundenspezifikation anfertigt (beispielsweise Küchenteile oder einen Anzug), weigern, mit der vertraglich vereinbarten Arbeit vor Ablauf von mindestens 14 Tagen zu beginnen, da der Verbraucher vom Vertrag zurücktreten und der Gewerbetreibende auf den unverkäuflichen Waren sitzen bleiben könnte.

5.5.2.   Für die Fernabsatzverträge wurden in einer vergleichenden Untersuchung (14) zwar keine großen Abweichungen in der Umsetzung der Richtlinie 1997/7/EG festgestellt, doch wird auch hier erklärt, dass die Mitgliedstaaten von den Optionen und der Mindestklausel Gebrauch machten, um günstigere Regelungen für den Verbraucher zu schaffen. Es wäre sinnvoll, Verbraucherschutzmöglichkeiten im Fernabsatz mit Drittländern vorzusehen.

5.5.3.   Dennoch lassen sich die potenziellen Hemmnisse im Binnenmarkt ausmachen, die durch die verschiedenen Ausnahmelisten bzw. die unterschiedlichen Informationspflichten für die Gewerbetreibenden errichtet werden.

5.5.4.   Der EWSA stimmt der Tatsache zu, dass Spielraum für die Vervollständigung der Palette von Ausnahmen von der Anwendung besteht, wie die Einbeziehung von Waren (oder Dienstleistungen) mit einem geringfügigen Wert (15) oder solchen, deren Einbeziehung aufgrund der Aspekte Gesundheit, Hygiene oder Sicherheit in Frage kommt. Das betrifft besonders den Fall der Lebensmittelsicherheit (vgl. Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe d), für den ausdrücklich auf Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (16) verwiesen wird. Für die Ausnahme für Waren (und Dienstleistungen) mit geringfügigem Wert bleibt Spielraum, um den Betrag von 60 EUR (in der Richtlinie 85/577/EWG) deutlich zu erhöhen.

5.5.5.   Zum Widerrufsrecht für diese Verträge, für das in dem Vorschlag einheitlich eine Frist von 14 Tagen festlegt wird, begrüßt der EWSA die Klärung der Art und Weise der Berechnung der Fristen. Allerdings sollten, wie bereits dargelegt, dieser Begriff und die Wirkungen dieses Rechts harmonisiert werden.

5.5.6.   Weiterhin stellt der EWSA die Zweckmäßigkeit der Aufstellung der Regel der in Artikel 17 Absatz 2 vorgesehenen Haftung des Verbrauchers in Frage (der Verbraucher haftet nur für den Wertverlust der Waren, wenn dieser auf einen zur Prüfung der Eigenschaften und des Funktionierens der Waren nicht notwendigen Umgang mit ihnen zurückzuführen ist), denn er vertritt die Auffassung, dass sie bei den Verbrauchern zu Unklarheiten und potenziellen Problemen bei der Prüfung führt.

5.5.7.   Unbeschadet der erforderlichen Verbesserung der jetzt vorgeschlagenen Regelungen würde es der EWSA (17) für sinnvoll halten, wenn die vorgeschlagene maximale Harmonisierung nur auf diese zwei Richtlinien beschränkt bliebe, wobei die Verkaufsmethoden mit größeren Möglichkeiten für grenzüberschreitende Geschäfte geregelt würden.

6.   Missbräuchliche Klauseln in Verträgen mit den Verbrauchern

Diese derzeit von der Richtlinie 1993/13/EWG geregelte Materie wird vor allem im Kapitel V und den Anhängen II und III dargestellt, obwohl der EWSA – entsprechend den Ergebnissen der Studien der Kommission – der Meinung ist, dass dieses Thema im vorliegenden Vorschlag nicht behandelt werden und gestrichen werden sollte, da die vollständige Harmonisierung in diesem Bereich im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des Gemeinschaftsrechts zweifellos Störungen in den nationalen Rechtsordnungen hervorrufen würde.

Sollte die Kommission jedoch die Regelung der missbräuchlichen Klauseln in den Verträgen mit den Verbrauchern als Ganzes nicht zurückziehen, macht der EWSA folgende Bemerkungen:

6.1.1.1.   Es handelt sich bekanntlich um den Kerninhalt des Vertragsrechts, das vor der Verabschiedung der Richtlinie teilweise von den Mitgliedstaaten geregelt wurde.

6.1.1.2.   Die vergleichende Untersuchung ihrer Umsetzung zeigt, dass die Mitgliedstaaten in ihrer großen Mehrheit Gebrauch von der Mindestharmonisierungsklausel (Artikel 8) machten und heute über günstigere Regelungen für die Verbraucher als die in der Richtlinie festgelegten Regelungen verfügen. Und genau das ist ein Thema, bei dem der gegenwärtige Entwicklungsstand eine vollständige Harmonisierung nicht ratsam erscheinen lässt (14).

6.1.1.3.   Daher steht zu hoffen, dass mit dem vorgelegten Vorschlag, bei dem von einer Aufhebung der geltenden Richtlinie ausgegangen wird, nicht nur die höchsten Umsetzungsniveaus erreicht, sondern auch die verschiedenen mehrdeutigen Punkte geklärt würden, in denen Rechtslehre und Rechtsprechung divergieren.

6.1.1.4.   Das gilt natürlich für die Beziehung zwischen dem Gebot von Treu und Glauben und dem Kriterium des Missverhältnisses der Leistungen, die in Artikel 3 Absatz 1 der jetzigen Richtlinie deutlich wird und so fast unverändert in Artikel 32 Absatz 1 des Vorschlags beibehalten wird, in Bezug auf die Folgen von Verstößen gegen die Transparenzanforderungen, die derzeit in Artikel 31 geregelt sind.

6.1.1.5.   Im Hinblick auf den Anwendungsbereich ist die Aufnahme einer Einschränkung zum Nachteil der Verbraucher festzustellen. Wenngleich der vorliegende Vorschlag ausschließlich die in den schriftlichen Verträgen enthaltenen Klauseln betrifft („im Voraus abgefasst“, wie es im Artikel 30 Absatz 1 heißt) und die Mitgliedstaaten verpflichtet, keine Formvorschriften zu erlassen, die regeln, in welcher Weise die Vertragsklauseln auszudrücken oder dem Verbraucher zur Verfügung zu stellen sind, wird die derzeitige Richtlinie auch auf die mündlichen Verträge angewendet (vgl. Artikel 5 der Richtlinie 93/13/EWG), wie es zum Teil von den Mitgliedstaaten gehandhabt wird.

6.1.1.6.   In der Tat ist der EWSA der Auffassung, dass die Beibehaltung der bestehenden Regelung mit der Einsetzung eines Ausschusses und eines Systems zur Registrierung von als missbräuchlich festgestellten Klauseln durch die nationalen Behörden einen ausreichenden Schritt für die Information über missbräuchliche Klauseln darstellt, die für die Gewerbetreibenden von großem Nutzen sind, wenn die mit der Erfüllung von Vorschriften verbundenen Kosten sinken, und auch den Rechtsanwendern und Verbrauchern viele Vorteile bringen.

6.1.1.7.   Das Thema der missbräuchlichen Klauseln in Verträgen ist auf alle mit Verbrauchern geschlossenen Verträge und auch in vielen Fällen auf die Verträge zwischen Gewerbetreibenden bereichsübergreifend anwendbar. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass der Kommissionsvorschlag in diesem Punkt ganz wesentliche, negative Auswirkungen auf das Vertragsrecht im Allgemeinen und den Verbraucherschutz im Besonderen in allen Mitgliedstaaten haben wird.

7.   Einige Fragen des Verkaufs von Verbrauchsgütern und der Garantien für Verbrauchsgüter

7.1.   Der EWSA betrachtet die Einbeziehung dieses Aspekts in die Richtlinie als unzweckmäßig und fordert, ihn aus dem Vorschlag zu streichen, da diese Intervention der Gemeinschaft keinerlei zusätzlichen Nutzen bringt und nicht zu einem hohen Verbraucherschutzniveau beiträgt.

7.2.   Die Richtlinie 1999/44/EG gestattete den Mitgliedstaaten, Maßnahmen für einen größeren Schutz der Verbraucher zu ergreifen, die zu verschiedenen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften führten.

7.3.   In diesem Fall ist das Fehlen wesentlicher Umsetzungstendenzen in jeglicher Hinsicht festzustellen (18), weil ausnahmslos alle Mitgliedstaaten bereits vorher Bestimmungen hatten, die auf alle durch die Richtlinie geregelten Aspekte der Kaufverträge für Verbrauchsgüter anwendbar waren.

7.4.   Beim Risikoübergang (Artikel 23) wird mit dem Vorschlag versucht, die in Bezug auf das Konzept der Lieferung entstandenen Divergenzen zu beseitigen, und folglich haftet der Gewerbetreibende gegenüber dem Verbraucher ab dem Zeitpunkt, an dem der Risikoübergang stattfindet (Artikel 25), was als positive, der Klärung dienende Verbesserung angesehen werden kann.

7.5.   Die Festlegung einer allgemeinen Frist für die Lieferung von Waren wird als nicht kohärent erachtet, ausgenommen für bestimmte Arten von Verträgen (Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträge), denn es ist unverhältnismäßig, in Artikel 22 des Vorschlags festzulegen, dass der Gewerbetreibende die Waren binnen höchstens dreißig Tagen nach Abschluss des Vertrags liefert.

7.6.   Doch da die Option der Mitgliedstaaten zur Festlegung eines Vermutungszeitraums gemäß den Bestimmungen der bestehenden Richtlinie gestrichen und jetzt eine einheitliche Frist von sechs Monaten festgelegt wurde, werden durch den Vorschlag die Rechte der Verbraucher insofern eingeschränkt, als er den Verbrauchern die Beweislast für das Vorliegen der später auftretenden Mängel überträgt.

7.7.   In Bezug auf die Frist und die Beweislast bei Vertragswidrigkeit wird - wie aus dem Inhalt der Absätze 4 und 5 des Artikels 28 ersichtlich ist - mit Annahme des Richtlinienvorschlags die Anzeigepflicht als Norm außerdem in allen Mitgliedstaaten, die nicht für dieses Verfahren optiert haben, bewirken, dass die Garantiefrist in der Praxis auf diese Anzeigefrist verringert wird.

8.   Verfahrensmängel

8.1.   Der Vorschlag enthält in seinen Artikeln eine Reihe von Vorschriften verfahrensrechtlicher Art, wie die Beweislast oder die Klagebefugnis, die weiter konkretisiert werden sollten, um eine kohärente Verfahrensregelung zu haben. Gebraucht wird eine Regelung im Hinblick auf die Möglichkeit, Schutzmaßnahmen, Maßnahmen zur Verbindung der Unterlassungsklage mit der Schadenersatzklage oder der Veröffentlichung der Urteile zu ergreifen.

8.2.   Betreffend die Sammelklagen verweist der EWSA auf seine jüngsten Äußerungen zu diesem Thema (19).

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 241 vom 7.10.2002.

(2)  ABl. C 256 vom 27.10.2007.

(3)  ABl. C 175 vom 27.7.2007 und ABl. C 44 vom 16.2.2008.

(4)  Idem, Fußnote 2.

(5)  Das Überprüfungsverfahren wurde in der Mitteilung „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg., ABl. C 14 vom 20.1.2005, beschrieben.

(6)  „Preparatory Work for the Impact Assessment on the Review of the Consumer Acquis/Analytical Report GP“ (Vorarbeiten für die Folgenabschätzung der Überprüfung des Acquis bei den Verbraucherrechten/Analytischer Bericht GP), vom 6.11.2007, erarbeitet von GHK/CIVIC Consulting/Bureau Van Dijk, verfügbar auf den Internetseiten der Europäischen Kommission.

(7)  Vgl. KOM(2007) 447 endg., vom 25.7.2007, Zweiter Fortschrittsbericht zum Gemeinsamen Referenzrahmen; auch Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. September 2008 zum Gemeinsamen Referenzrahmen im europäischen Vertragsrecht.

(8)  Siehe die Sonderausgabe EB Nr. 298 (Consumer Protection in internal Market [Verbraucherschutz im Binnenmarkt] – 2008); Flash EB Nr. 224 (Business attitudes towards cross–border sales and consumer protection [Einstellungen von Wirtschaft und Handel zu grenzüberschreitendem Handel und Verbraucherschutz] – 2008); Flash EB Nr. 250 – Confidence in Information Society [Vertrauen der Verbraucher in die Informationsgesellschaft] vom Mai 2009 sowie der Bericht über grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr in der EU – SEK(2009) 283 endg. vom 5.3.2009.

(9)  Wie aus dem Urteil des EuGH vom 23. April 2009 (verbundene Rechtssachen C-261/07 und C-299/07) ersichtlich ist.

(10)  Beispiel: Schaffung eines Verbraucherschutzdienstes, der erst 1989 von anderen Bereichen bzw. einem Beratenden Verbraucherausschusses unabhängig wurde.

(11)  Geteilte Zuständigkeit in der Europäischen Verfassung, wie in Artikel 169 des Vertrags von Lissabon, vgl. ABl. C 115 vom 9.5.2008, S. 51.

(12)  „Als Verbraucher ist eine natürliche Person zu betrachten, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.“ In: Draft Common Group of Reference (DCFR) Outline Edition, Dezember 2008.

(13)  Zum Beispiel Belgien, Dänemark, Griechenland, Finnland, Österreich, Portugal, Spanien, und Schweden erweiterten den Begriff des Verbrauchers bei der Umsetzung der Richtlinie 85/577/EG.

(14)  Vgl. EC Consumer Law Compendium – Comparative Analysis, von Prof. Hans Schulte-Nolke in Zusammenarbeit mit Dr. Christian Twingg-Flesner und Dr. Martin Ebers, Februar 2008, erarbeitet für die Europäische Kommission unter Dienstleistungsvertrag Nr. 17.020100/04/389299: „Annotated Compendium including a comparative analysis of the Community consumer acquis“.

(15)  Vgl. Artikel 3, Absatz 1 der Richtlinie 85/577/EG, diese Option wurde von 18 Mitgliedstaaten genutzt.

(16)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31 vom 1.2.2002, S. 1).

(17)  ABl. C 175 vom 27.7.2007 und ABl. C 162 vom 25.6.2008.

(18)  Vgl. EC Consumer Law Compendium – Comparative Analysis, von Prof. Hans Schulte-Nolke in Zusammenarbeit mit Dr. Christian Twingg-Flesner und Dr. Martin Ebers, Februar 2008, erarbeitet für die Europäische Kommission unter Dienstleistungsvertrag Nr. 17.020100/04/389299: „Annotated Compendium including a comparative analysis of the Community consumer acquis“.

(19)  ABl. C 162 vom 25.6.2008.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/62


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zwecks Verhinderung des Eindringens von Arzneimitteln, die in Bezug auf ihre Eigenschaften, Herstellung oder Herkunft gefälscht sind, in die legale Lieferkette“

KOM(2008) 668 endg. — 2008/0261 (COD)

(2009/C 317/10)

Berichterstatter: Peter MORGAN

Der Rat beschloss am 12. Februar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zwecks Verhinderung des Eindringens von Arzneimitteln, die in Bezug auf ihre Eigenschaften, Herstellung oder Herkunft gefälscht sind, in die legale Lieferkette

KOM(2008) 668 endg. — 2008/0261 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2009 an. Berichterstatter war Peter MORGAN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 150 gegen 2 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt diese Initiative. Die öffentliche Gesundheit ist ein zentrales Anliegen aller Mitglieder des Ausschusses. Dennoch ist er sich voll und ganz der Tatsache bewusst, dass diese Richtlinie für sich alleine genommen nicht wirksam sein wird: Sie ist einer der Bestandteile mehrgleisiger Bemühungen, zu denen Strafrecht, Strafverfolgung, der Schutz der geistigen Eigentumsrechte, Zollüberwachung und internationale Zusammenarbeit gehören. Der EWSA dringt daher die Mitgliedstaaten zur Stärkung der Durchsetzungsmaßnahmen.

1.2.   Der EWSA schlägt vor, größere Anstrengungen zu unternehmen, um sowohl die für Arzneimittel in der EU verwendeten Bezeichnungen und Marken als auch die Verpackung und die Identifizierungscodes von Arzneimitteln EU-weit zu harmonisieren. Es gibt mindestens zehn verschiedene Kodierungssysteme in der EU, von denen keines einen konkreten Schwerpunkt auf Sicherheitsaspekte wie Losnummer, Herstellungs- und Verfalldatum legt. Daher sollte ein harmonisierter europäischer Standard zur Arzneimittelidentifizierung eingeführt werden, um die Verfolgbarkeit über die gesamte Vertriebskette bis hin zum Patienten zu gewährleisten. Eine Harmonisierung wird den Binnenmarkt für Arzneimittel dadurch voranbringen, dass sie dem freien und sicheren Arzneimittelverkehr in der EU die Tür öffnet. Sie wird außerdem die Authentifizierung von Arzneimitteln direkt bei den Herstellern überall und jederzeit - zunächst zumindest auf Ebene des EU-Binnenmarkts - ermöglichen. Letztendlich könnte dies zu einer weltweiten Initiative führen.

1.3.   Durch Technologie lassen sich beträchtliche Fortschritte bei den Codes, der Identifizierung und der Authentifizierung von Arzneimitteln erreichen. Zentrale Anliegen sind die Authentifizierung und die Rückverfolgbarkeit. Diese Strategien sollten nur innerhalb der Grenzen der Ziele verwendet werden, für die sie bestimmt sind, wobei bevorzugt direkte Echtheitsprüfungen - d.h. ohne zwischengeschaltete Stelle - bei den offiziellen Referenzregistern der Hersteller vorgenommen werden sollten, da nur die Hersteller die Authentizität ihrer Produkte bescheinigen können. Es gibt verschiedene Identifizierungssysteme, wie bspw. die Radiofrequenzidentifikation (RFID) oder die zweidimensionale Strichcodekennzeichnung. In Belgien wird ein individuelles Registrierungssystem für Verpackungen auf Grundlage eines sequenziellen Codes und eines eindimensionalen Strichcodes angewandt, das durch das Krankenversicherungssystem eingeführt wurde, um zu verhindern, dass der Krankenversicherung im Rahmen des Sachleistungssystems ein und dieselbe Verpackung mehrfach in Rechnung gestellt wird. Dieses belgische System umfasst jedoch weder eine Losnummer noch ein Verfallsdatum. Die Weiterentwicklung dieses einheitlichen belgischen Strichcodes (CBU) zu einer Datenmatrix-Kennzeichnung würde es ermöglichen, die bestehenden Mängel in puncto Verfolgung und Authentifizierung zu beheben, wie dies im Gemeinschaftskodex für Arzneimittel jetzt schon gefordert wird. Obgleich derartige technische Möglichkeiten rasch und problemlos und zu vernachlässigbaren Kosten angewandt werden könnten, ist die Kommission paradoxerweise der Ansicht, dass es zu früh für eine Entscheidung über die Identifizierungscodes ist und mehr Tests erforderlich sind. Je mehr sich die Einführung von Identifizierungscodes verzögert, desto konfuser und fragmentierter wird die Situation jedoch. Der EWSA schlägt daher vor, eine Task Force „Identifizierungscodes“ einzurichten, um die Umsetzung der bestehenden standardisierten Verfahren zunächst zumindest auf Ebene des EU-Binnenmarkts zu bewerten. Dies könnte letztendlich in einer Gelegenheit für eine weltweit führende Rolle resultieren.

1.4.   Die inhaltliche Fokussierung auf die legale Lieferkette ist nicht ausreichend. Solange das Internetproblem nicht angegangen wird, nimmt die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit weiter zu. Dieses Problem birgt eine beachtliche soziale Dimension, da durch illegale Billigarzneimittel aus dem Internet ein zweigeteiltes Gesundheitssystem entsteht. Der EWSA fordert die Kommission eindringlich zum Handeln auf.

1.5.   Der EWSA unterstützt ein rigoroses Vorgehen gegen sämtliche Akteure, die ein Eindringen von Arzneimittelfälschungen in die legale Arzneimittelkette zulassen. Es sollten drakonische Strafen verhängt werden - von Geldbußen bis hin zur Beschlagnahmung der betreffenden Unternehmung. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, Leitlinien für strafrechtliche Sanktionen für die Mitgliedstaaten zu veröffentlichen.

1.6.   Über den Umfang der Arzneimittelfälschung und die Quellen der gefälschten Arzneimittel liegen nicht genügend Erkenntnisse vor. Der Richtlinienentwurf sollte daher Pläne enthalten, um diese Schwachstellen in den Aufsichts- und Überwachungssystemen zu beheben.

1.7.   In Anlehnung an die WHO hielte es der EWSA für besser, wenn in der englischen Fassung der Richtlinie auf „counterfeitproducts anstatt „falsifiedproducts (auf Deutsch: „Arzneimittelfälschungen“) Bezug genommen würde.

1.8.   Die Komplexität des Textes mit seinen zahlreichen früheren und heutigen Änderungen macht ihn schwer verständlich. Der EWSA empfiehlt, einen Teil des Basistextes zusammen mit den Änderungen zu veröffentlichen, damit der Text in Bezug auf Arzneimittelfälschungen gelesen und verstanden werden kann.

2.   Einleitung

2.1.   Die EU führte im November 2001 ihre Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel ein. Es handelt sich dabei um ein enzyklopädisches Kompendium, das sich auf alle Aspekte dieses Themas erstreckt. Die Richtlinie wurde in der Folge durch eine Verordnung und fünf weitere Richtlinien geändert. Sie ist nunmehr 70 Seiten stark und umfasst 130 Artikel sowie 44 Seiten Anhänge.

2.2.   Gegenstand dieser Stellungnahme ist eine weitere Änderungsrichtlinie. Sie betrifft das Eindringen von Arzneimitteln, die in Bezug auf ihre Eigenschaften, Herstellung oder Herkunft gefälscht sind, in die legale Lieferkette. Diese Änderungsrichtlinie ist eine von drei solcher Richtlinien, die gleichzeitig eingeführt werden, um verschiedene Aspekte des Gemeinschaftskodexes zu behandeln. Nach Ansicht des EWSA wäre es - zumindest für diese Richtlinie - sinnvoller gewesen, einen relevanten Teil der Basisrichtlinie zusammen mit den in der vorliegenden Richtlinie vorgeschlagenen Änderungen zu produzieren, um den Interessenträgern auf diese Weise einen kurzen, integrierten, zusammenhängenden und relevanten Text zur Verfügung zu stellen. Der vorliegende Text ist verschwommen und schwer verständlich.

2.3.   Arzneimittelfälschungen sind in Bezug auf ihre Eigenschaften oder Herkunft vorsätzlich und in betrügerischer Absicht falsch etikettiert; ihre Qualität ist unvorhersehbar, da sie die falsche Menge an Wirkstoffen, die falschen Inhaltsstoffe oder überhaupt keine Wirkstoffe enthalten können. In allen Fällen werden Arzneimittelfälschungen in illegalen Labors ohne jede Kontrollmöglichkeit hergestellt.

2.4.   Arzneimittelfälschungen sind eine gravierende Bedrohung für die öffentliche Gesundheit. Sie untergraben das EU-Arzneimittelrecht und die Pharmaindustrie in der EU. Immer häufiger tauchen innovative und lebensrettende Arzneimittel auf, die gefälscht sind. Damit größere Mengen davon abgesetzt werden, werden diese Produkte in die legale Lieferkette eingeschleust und gelangen so zu den Patienten.

2.5.   Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Umfang des Problems wie folgt:

weniger als 1 % in den meisten Industriestaaten und EU-Mitgliedstaaten,

mehr als 20 % in großen Teilen der ehemaligen Sowjetunion,

mehr als 30 % in Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas,

mehr als 50 % über illegale Websites.

In Bezug auf das Internet hat die Kommission darauf hingewiesen, dass es einer separaten Problemdefinition mit separaten Ursachen, separaten Zielen und separaten politischen Optionen bedarf, um das Problem der illegalen Lieferketten anzugehen. Diese werden in der vorliegenden Richtlinie nicht behandelt.

2.6.   Dass Arzneimittelfälschungen in der legalen Lieferkette unentdeckt bleiben, hat der Kommission zufolge viele Gründe, die sich aber auf nur vier Aspekte zurückführen lassen:

Arzneimittelfälschungen sind aufgrund von Problemen bei der Verfolgung und Identifizierung nicht in jedem Fall leicht von den Originalarzneimitteln zu unterscheiden.

Die Vertriebskette ist inzwischen äußerst komplex und immer nur „so stark wie ihr schwächstes Glied“.

Es bestehen rechtliche Unklarheiten darüber, welche Regelungen für Arzneimittel gelten, die in die EU eingeführt werden, obwohl sie dort angeblich nicht in Verkehr gebracht werden sollen, und

schon bei den Arzneimittelwirkstoffen, die in das Herstellungsverfahren gelangen, kann es sich um Fälschungen des Originalwirkstoffs handeln.

3.   Wesentlicher Inhalt des Richtlinienentwurfs

3.1.   Ziel der Basisrichtlinie 2001/83/EC sowie dieser vorgeschlagenen Änderung ist es, einen funktionierenden Binnenmarkt für Arzneimittel in der EU einzurichten und gleichzeitig für ein hohes Maß an Schutz der öffentlichen Gesundheit zu sorgen. Die wichtigsten Bestimmungen der Änderung werden im Folgenden eingehender erläutert. Die Artikelverweise beziehen sich auf Artikel 1 der Änderungsrichtlinie.

Verfolgung und Identifizierung

3.2.   Betriebsprüfungen bei Wirkstoffherstellern. (4)

3.3.   Eine Rechtsgrundlage dafür, dass die Kommission spezielle Sicherheitsmerkmale wie einen Identifizierungscode oder ein festes Siegel auf der Verpackung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zwingend vorschreiben kann, um die Identifizierung, Authentifizierung und Rückverfolgbarkeit von Arzneimitteln zu ermöglichen. (6), (8), (9)

3.4.   Ein grundsätzliches Verbot des Manipulierens (d.h. Entfernen, Verändern oder Überetikettieren) der Sicherheitsmerkmale auf der Verpackung durch Teilnehmer, die zwischen dem Originalhersteller und dem letzten Glied der Vertriebskette (gewöhnlich der Apotheker) oder dem Endverbraucher (Arzt/Patient) angesiedelt sind. Jeder Akteur der Vertriebskette, der Arzneimittel verpackt, muss Inhaber einer Herstellungserlaubnis sein und für jeden Schaden haften, der durch gefälschte Arzneimittel zugefügt wird. (9), (10)

Vertriebskette

3.5.   Gewisse Verpflichtungen für die Teilnehmer der Vertriebskette (mit Ausnahme der Großhändler). In der Regel können Teilnehmer wie Vermittler oder Versteigerer beteiligt sein, ohne mit dem Arzneimittel tatsächlich zu tun zu haben. (1), (14)

3.6.   Regeln zur Ergänzung bestehender bewährter Praktiken für Händler. (13)

3.7.   Großhändler werden auch weiterhin eine Genehmigung benötigen. (12), (13), (14)

3.8.   Vorgeschriebene Betriebsprüfungen bei Arzneimittelgroßhändlern, damit die Zuverlässigkeit der Geschäftspartner gewährleistet ist. (15)

Rechtliche Unklarheiten

3.9.   Beseitigung rechtlicher Unklarheiten bezüglich der Einfuhr von für die Wiederausfuhr bestimmten Arzneimitteln. (2), (7)

Fälschung des Originalwirkstoffs

3.10.   Zertifizierung seitens der Hersteller, dass ihre Wirkstoffhersteller den Anforderungen genügen. (3), (5), (7)

3.11.   Strengere Kontrolle der Einfuhr von Arzneimittelwirkstoffen aus Drittländern, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass durch den Rechtsrahmen in dem betreffenden Drittland bei den in die EU ausgeführten Produkten ein ausreichend hoher Schutz der menschlichen Gesundheit sichergestellt wird. (4), (16)

Allgemeine Bestimmungen

3.12.   Strengere Vorschriften für Inspektionen, einschließlich einer größeren Transparenz der Inspektionsergebnisse durch Veröffentlichung in der EudraGMP-Datenbank. (12), (15)

3.13.   Die Überwachung wird von den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten durchgeführt, die ggf. auch die notwendigen Sanktionen verhängen. Neue Leitlinien werden von der Kommission herausgegeben. (16), (17)

4.   Sichtweise des EWSA

4.1.   Der EWSA begrüßt diese Initiative. Die öffentliche Gesundheit ist ein grundlegendes Anliegen des Ausschusses.

4.2.   Der Ausschuss stellt fest, dass die WHO „gefälschte Produkte“ als „Produktfälschungen“ bezeichnet. Wir empfehlen der Kommission daher, dem Beispiel der WHO zu folgen. Durch den Begriff „Fälschung“ tritt der kriminelle Aspekt dieser Tätigkeit deutlicher hervor. Die WHO erklärt diesbezüglich: „Die Fälschung von Arzneimitteln, einschließlich der gesamten Palette der Tätigkeiten von ihrer Herstellung bis zu ihrer Bereitstellung für die Patienten, ist eine niederträchtige und schwerwiegende Straftat, die Menschenleben in Gefahr bringt und die Glaubwürdigkeit der Gesundheitssysteme unterminiert“ (1).

4.3.   In der legalen Lieferkette beruht die Blockierung des Eindringens von Arzneimittelfälschungen auf der Zusammenarbeit zwischen zuverlässigen und vertrauenswürdigen Geschäftspartnern. Um die Zusammenarbeit zu verbessern, sollte es eine zwingende Zertifizierung aller Teilnehmer der Lieferkette geben, und die Einzelheiten sollten in einer öffentlich zugänglichen Datenbank verfügbar gemacht werden.

Verfolgung und Identifizierung

4.4.   Nach dem Dafürhalten des EWSA unterschätzt die Kommission das Problem der Verfolgung und Identifizierung. „Arzneimittelfälschungen sind aufgrund des Fehlens von standardisierten Identifizierungscodes und der damit verbundenen Rückverfolgungsprobleme nie leicht von den Originalarzneimitteln zu unterscheiden.“

4.5.   Der EWSA schlägt vor, größere Anstrengungen zu unternehmen, um sowohl die für Arzneimittel in der EU verwendeten Bezeichnungen und Marken als auch die Verpackung und die Identifizierungscodes von Arzneimitteln EU-weit zu harmonisieren. Es gibt mindestens zehn verschiedene Kodierungssysteme in der EU, von denen keines einen konkreten Schwerpunkt auf Sicherheitsaspekte wie Losnummer, Herstellungs- und Verfalldatum legt. Daher sollte ein harmonisierter europäischer Standard zur Arzneimittelidentifizierung eingeführt werden, um die Verfolgbarkeit über die gesamte Vertriebskette bis hin zum Patienten zu gewährleisten. Eine Harmonisierung wird den Binnenmarkt für Arzneimittel dadurch voranbringen, dass sie dem freien und sicheren Arzneimittelverkehr in der EU die Tür öffnet. Sie wird außerdem die Authentifizierung von Arzneimitteln direkt bei den Herstellern überall und jederzeit - zunächst zumindest auf Ebene des EU-Binnenmarkts - ermöglichen. Letztendlich könnte dies zu einer weltweiten Initiative führen.

4.6.   Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die Zahl der Betrugsfälle verringern ließe, wenn die authentische Verpackung problemlos zu identifizieren wäre. Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Initiative zu ergreifen, um die Einrichtung einer visuellen Datenbank für Arzneimittelverpackungen zu veranlassen.

4.7.   Der Text von Ziffer 3.4 scheint Parallelhändler auszunehmen. Er könnte expliziter sein und die Manipulierung von Sicherheitsmerkmalen auf der Verpackung von jedem Teilnehmer verbieten, der keine Herstellungserlaubnis besitzt. Parallelhändler müssen umpacken. Sie dürfen nicht die Möglichkeit haben, Sicherheitsmerkmale in einer Weise zu ersetzen, die die Rückverfolgbarkeitskette durchbrechen könnten.

4.8.   Durch Technologie lassen sich beträchtliche Fortschritte bei den Codes, der Identifizierung und der Authentifizierung von Arzneimitteln erreichen. Zentrale Anliegen sind die Authentifizierung und die Rückverfolgbarkeit. Diese Strategien sollten nur innerhalb der Grenzen der Ziele verwendet werden, für die sie bestimmt sind, wobei bevorzugt direkte Echtheitsprüfungen - d.h. ohne zwischengeschaltete Stelle - bei den offiziellen Referenzregistern der Hersteller vorgenommen werden sollten, da nur die Hersteller die Authentizität ihrer Produkte bescheinigen können. Es gibt zwei verschiedene Identifizierungssysteme, wie bspw. die Radiofrequenzidentifikation (RFID) oder die zweidimensionale Strichcodekennzeichnung. In Belgien wird ein individuelles Registrierungssystem für Verpackungen auf Grundlage eines sequenziellen Codes und eines eindimensionalen Strichcodes angewandt, das durch das Krankenversicherungssystem eingeführt wurde, um zu verhindern, dass der Krankenversicherung im Rahmen des Sachleistungssystems ein und dieselbe Verpackung mehrfach in Rechnung gestellt wird. Dieses belgische System umfasst jedoch weder eine Losnummer noch ein Verfalldatum. Die Weiterentwicklung dieses einheitlichen belgischen Strichcodes (CBU) zu einer Datenmatrix-Kennzeichnung würde es ermöglichen, die bestehenden Mängel in puncto Verfolgung und Authentifizierung zu beheben, wie dies im Gemeinschaftskodex für Arzneimittel jetzt schon gefordert wird. Obgleich derartige technische Möglichkeiten rasch und problemlos und zu vernachlässigbaren Kosten angewandt werden könnten, ist die Kommission paradoxerweise der Ansicht, dass es zu früh für eine Entscheidung über die Identifizierungscodes ist und mehr Tests erforderlich sind. Je mehr sich die Einführung von Identifizierungscodes verzögert, desto konfuser und fragmentierter wird die Situation jedoch. Der EWSA schlägt daher vor, eine Task Force „Identifizierungscodes“ einzurichten, um die Umsetzung der bestehenden standardisierten Verfahren zunächst zumindest auf Ebene des EU-Binnenmarkts zu bewerten. Dies könnte letztlich in einer Gelegenheit für eine weltweit führende Rolle resultieren.

Vertriebskette

4.9.   Ist das Arzneimittel erst einmal verpackt, muss es als Straftat eingestuft werden, es ohne entsprechende Sicherheitsvorkehrungen umzupacken: Arzneimittelfälschungen gelangen nämlich über Verpackungsfälschungen in die legale Vertriebskette. Die Verpackungen von Arzneimitteln, die von legitimen Internetapotheken angeboten werden, sollten einer Inspektion unterliegen.

4.10.   Der EWSA stellt fest, dass in der Richtlinie drastische Sanktionen für die Nichtverhinderung des Eindringens von Arzneimittelfälschungen in die Vertriebskette vorgeschlagen werden. Der EWSA empfiehlt, sehr strenge Strafen zu verhängen. Unternehmen, die ihren Pflichten nicht nachkommen, sollten geschlossen werden.

Rechtliche Unklarheiten

4.11.   Der EWSA stellt mit Genugtuung fest, dass rechtliche Unklarheiten bezüglich der Einfuhr von für die Ausfuhr bestimmten Arzneimitteln im Richtlinienentwurf angegangen wurden.

Fälschung des Originalwirkstoffs

4.12.   Wie in Bezug auf die Vertriebskette bereits erwähnt, sollten an Fälschungen beteiligte Unternehmen geschlossen werden.

Illegale Lieferkette

4.13.   Das Eindringen von Arzneimittelfälschungen durch die illegale Lieferkette wird in dieser Richtlinie nicht angegangen. Dennoch ist die Bedrohung für die öffentliche Gesundheit sehr schwerwiegend, insbesondere im Hinblick auf das Internet. Die WHO-Statistiken sind in Ziffer 2.5 wiedergegeben. Vor kurzem wurde gemeldet, dass im Vereinigten Königreich einer von vier Ärzten schon Patienten aufgrund der Nebenwirkungen von online gekauften Arzneimitteln behandelt hat, und weitere acht Prozent haben dies möglicherweise schon getan, sind sich aber nicht sicher. Die jüngste Mitteilung der Kommission (2) enthält einen Verweis auf einen „Bericht über die gemeinschaftlichen Zollaktivitäten zur Bekämpfung von Produktfälschungen und Produktpiraterie 2007“. Die Zahl der von Zollbehörden beschlagnahmten Arzneimittel ist zwischen 2005 und 2007 um 628 % gestiegen. Dies betrifft nicht nur „Lifestyle“-Produkte, sondern auch Arzneimittel zur Behandlung lebensbedrohlicher Krankheiten.

4.14.   Der Schwerpunkt sollte auf dem Internet liegen. Internetapotheken sind nur dann legal, wenn sie in jedem Mitgliedstaat registriert und zugelassen sind und die Registrierung leicht zugänglich in einer öffentlichen Datenbank gespeichert ist, wie dies bereits bei herkömmlichen Apotheken der Fall ist. Obgleich in diesem Bereich offenkundiger Bedarf an europäischer und internationaler Zusammenarbeit besteht, erlässt jedes Land seine eigenen Regeln in Bezug auf das Internet. Überdies wird der Einzelhandel derzeit nicht auf Gemeinschaftsebene geregelt, weshalb der Spielraum für EU-Maßnahmen begrenzt ist und ausgeweitet werden sollte, wie dies bereits in Bezug auf Großhändler und Großverteiler der Fall ist.

4.15.   Die Gründe, weshalb sich Patienten an das Internet und nicht an ihren Arzt wenden, sind leicht nachzuvollziehen: Ein spezifisches Arzneimittel ist in einer bestimmten Gerichtsbarkeit eventuell nicht verfügbar, der Preis eines Arzneimittels, insbesondere einer Arzneimittelfälschung, ist möglicherweise im Internet günstiger, und schließlich mag es unter Umständen weniger peinlich sein, bestimmte Arzneimittel direkt über das Internet zu kaufen, als sich einem potenziell heiklen Gespräch mit dem Arzt zu stellen. Des Weiteren kann ein Patient nicht für den Kauf von Arzneimitteln über das Internet belangt werden.

4.16.   In jedem Mitgliedstaat ist eine Kommunikationskampagne notwendig, um die Öffentlichkeit hin zu registrierten Internetapotheken - und weg von kriminellen Einrichtungen - zu leiten. Die Kampagne sollte auf die potenzielle Lebensgefahr hinweisen, die von Arzneimitteln ausgeht, die über das Internet von nicht registrierten Quellen gekauft wurden. In jeder Apotheke, in jeder Arztpraxis, in jedem Krankenhaus und auf jeder autorisierten Website sollte dafür geworben werden.

4.17.   Gegen alle in das Geschäft der Arzneimittelfälschungen verwickelte Personen sollten strenge finanzielle und strafrechtliche Sanktionen verhängt werden. In etwa der gleichen Weise, wie Sexseiten im Internet überwacht werden, könnte eine Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Behörden (wie in Ziffer 4.3 beschrieben) und verschiedenen Interessenträgern wie Internetdiensteanbietern (ISP), Suchmaschinen, Frachtdienste und Kreditkartenunternehmen angeboten werden, um die illegalen Teilnehmer am Handel mit Arzneimittelfälschungen besser identifizieren zu können. Wie die Kommission betont hat, bilden ihre Richtlinien nur einen Bestandteil der mehrgleisigen Durchsetzungsbemühungen.

Allgemeine Bestimmungen

4.18.   Über den Umfang der Arzneimittelfälschung und die Quellen der gefälschten Arzneimittel liegen nicht genügend Erkenntnisse vor. Der Richtlinienentwurf sollte daher Pläne enthalten, um diese Schwachstellen in den Aufsichts- und Überwachungssystemen zu beheben.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe den IMPACT-Bericht (International Medical Products Anti-Counterfeiting Taskforce) der WHO, aktualisiert im Mai 2008.

(2)  KOM(2008) 666 endg.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen im Hinblick auf Kleinstunternehmen“

KOM(2009) 83 endg./2 — 2009/0035 (COD)

(2009/C 317/11)

Berichterstatter: Antonello PEZZINI

Der Rat beschloss am 20. März 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 44 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen im Hinblick auf Kleinstunternehmen

KOM(2009) 83 endg./2 — 2009/0035 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 22. Juni 2009 an. Berichterstatter war Antonello PEZZINI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 144 gegen 10 Stimmen bei 17 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Ausschuss betont die Notwendigkeit, bei vollständiger Umsetzung der Charta für Kleinunternehmen (1) im Rahmen eines in die Lissabon-Strategie integrierten Prozesses den Bedürfnissen der kleinen und mittleren Unternehmen und der Handwerksbetriebe gerecht zu werden, damit sie den strukturellen Herausforderungen in einer komplexen Gesellschaft begegnen können.

1.2.   Der EWSA nimmt die Initiative der Kommission, die Kleinstunternehmen von den Verwaltungs- und Rechnungslegungspflichten auszunehmen, die vor dem Hintergrund der Struktur dieser Unternehmen oftmals aufwendig und überzogen sind, zur Kenntnis, und verweist auf den in seinen früheren Stellungnahmen CESE 1187/2008 (2) und CESE 1506/2008 (3) vertretenen Standpunkt.

1.3.   Der Ausschuss hält es für wichtig, bei dieser Initiative folgende Grundsätze zu wahren:

Verbindlichkeit - jeder Staat muss Ausnahmekriterien für die Kleinstunternehmen festlegen;

Flexibilität - die Mitgliedstaaten müssen die Möglichkeit haben, innerhalb einheitlicher Grenzen die Ausnahmekriterien an die Erfordernisse ihrer spezifischen Gegebenheiten anzupassen;

einfache Anwendung - die geänderten Regelungen müssen einfach anzuwenden sein;

Transparenz - es muss in jedem Fall eine angemessene Transparenz im Binnenmarkt sichergestellt werden.

1.4.   Obgleich er sich bewusst ist, dass dieser Bereich nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, hält es der Ausschuss im Hinblick auf die Integrität des Binnenmarktes und die Nichtdiskriminierung jeglicher Wirtschaftsakteure des Binnenmarktes für zweckmäßig, dass die Erleichterungen im Rahmen der künftigen Maßnahmen zur Überarbeitung der Vierten und Siebten Gesellschaftsrechtsrichtlinie automatisch nach klar definierten Kriterien, die jeder Mitgliedstaat festlegen muss, auf alle Kleinstunternehmen in der Europäischen Union Anwendung finden.

1.5.   In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA für die Anwendung des Leitprinzips „Vorfahrt für die KMU“ (Think Small First) im Rahmen einer interinstitutionellen Vereinbarung auf derselben Rechtsgrundlage wie die Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung (4) sowie für eine Reihe eindeutiger und transparenter Verpflichtungen auf gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Ebene in Bezug auf die Beseitigung bzw. Reduzierung des Verwaltungsaufwands aus, um die systematische Anwendung dieses Prinzips sowohl in den Rechtsetzungs- als auch den Umsetzungsverfahren, insbesondere in Bezug auf die Kleinst- und Kleinunternehmen, zu gewährleisten.

1.6.   Darüber hinaus hielte es der Ausschuss für zweckmäßig, wenn die Kommission dem Parlament, dem Rat und dem EWSA drei Jahre nach dem Inkrafttreten der vorgeschlagenen Richtlinie einen Bericht mit einer Bewertung der Auswirkungen und der Funktionsweise der Ausnahme der Kleinstunternehmen in allen EU-Mitgliedstaaten sowie der effektiven Einsparungen durch die europäischen Kleinstunternehmen vorlegen würde.

2.   Einleitung

2.1.   Seit dem „Europäischen Jahr für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Handwerk“ (5), woraufhin die GD XXIII (6) geschaffen wurde und mehrere europäische Konferenzen (7) stattfanden, war die Europäische Kommission sehr darum bemüht, den Bedürfnissen der kleinen und mittleren Unternehmen und Handwerksbetriebe gerecht zu werden und sie bei der Bewältigung der zahlreichen wirtschaftlichen und strukturellen Herausforderungen zu unterstützen. Dies wurde in zahlreichen Stellungnahmen des Ausschusses bereits herausgestellt (8).

2.2.   Die kleinen und mittleren Unternehmen unterliegen oftmals Vorschriften, die auf große Unternehmen Anwendung finden. Die spezifischen Bedürfnisse von KMU im Bereich der Rechnungsführung sind nur selten beleuchtet worden, und die Vorschriften im Bereich der Rechnungslegungspflichten gehen mit einer beträchtlichen finanziellen Belastung einher und behindern darüber hinaus den wirksamen Kapitaleinsatz für Produktions- und Beschäftigungszwecke.

2.3.   In Bezug auf die Rechnungslegung und Abschlussprüfung ist einerseits das Ziel einer besseren Qualität der Rechnungsführung von Kapitalgesellschaften und einer höheren Transparenz von wesentlicher Bedeutung; andererseits sind die den Unternehmen auferlegten verschärften Auflagen für die Klein- und Kleinstunternehmen oftmals besonders aufwendig.

2.4.   Gerade angesichts dieser Tatsache hat die Kommission unlängst einen Vorschlag für eine Befreiung der mittleren Unternehmen von den Angabepflichten sowie von der Pflicht zur Erstellung eines konsolidierten Abschlusses (9) vorgelegt, den der Ausschuss bereits begrüßt hat (10).

2.5.   Die hohen Verwaltungskosten, die sich aus den gemeinschaftlichen Vorschriften ergeben, schränken die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ein. Darüber hinaus erfolgte die Aktualisierung der Vorschriften in den Bereichen Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung und Abschlussprüfung nicht parallel zur Entwicklung des Umfelds, in dem die Unternehmen tätig sind. In der Tat gehen die Richtlinien, die die Qualität der Rechnungslegung und Abschlussprüfung in der EU gewährleisten, mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand für die — insbesondere kleinen — Unternehmen einher.

2.6.   Den Schätzungen der Kommission zufolge, die anscheinend nicht wissenschaftlich und methodisch strukturiert sind, kämen rund 5,4 Mio. Kleinstunternehmen potenziell in den Genuss der Ausnahmebestimmung, und der gesamte Verwaltungsaufwand, der erforderlich ist, um den in der Richtlinie vorgesehenen Verwaltungs- und Rechnungslegungspflichten nachzukommen, beliefe sich auf rund 6,3 Mrd. EUR pro Jahr.

2.7.   Der Ausschuss verweist nachdrücklich auf die Verpflichtung der Kommission, die Verwaltungslasten für Unternehmen um 25 % zu verringern (11), die er vorbehaltlos befürwortet hat (12).

2.8.   Nach Auffassung des Ausschusses „[…] muss sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten sämtliche Richtlinien rechtzeitig und gut umsetzen. Zudem gilt es, die nationalen und regionalen Regierungen und Gesetzgebungsorgane dazu zu bewegen, eigene Projekte zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften in jenen Bereichen in Gang zu setzen, in denen bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht zuviel des Guten getan wurde (‚gold-plating‘)“ (13).

3.   Hintergrund

3.1.   Im Rahmen der vierten Phase der Initiative zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften im Binnenmarkt (Simplification of the Legislation on the Internal Market - SLIM) wurde die Erste und die Zweite Gesellschaftsrechtsrichtlinie modernisiert.

3.2.   Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 8./9. März 2007 betont, dass die Verringerung des Verwaltungsaufwands — insbesondere aufgrund ihrer Auswirkungen für kleine Unternehmen — eine wichtige Maßnahme ist, um die Wirtschaft Europas anzukurbeln. Er wies nachdrücklich darauf hin, dass eine große gemeinsame Anstrengung der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten erforderlich ist, um den Verwaltungsaufwand in der EU zu verringern.

3.3.   Auf seiner Tagung am 13./14. März 2008 forderte der Europäische Rat die Kommission auf, neue Rechtsetzungsvorschläge für rasch zu verabschiedende Maßnahmen zu unterbreiten, um den Verwaltungsaufwand für die Unternehmen zu verringern (14), wobei die Bereiche Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung und Abschlussprüfung als prioritär eingestuft wurden.

3.4.   In dem von der Kommission im Juni 2008 vorgelegten „European Small Business Act“  (15), zu dem der Ausschuss bereits Stellung genommen hat (16), wurde ebenfalls die Notwendigkeit einer Vereinfachung für die kleinen Unternehmen herausgestellt.

3.5.   Auch im Ende November 2008 veröffentlichten Europäischen Konjunkturprogramm wird darauf verwiesen, wie wichtig es ist, den Verwaltungsaufwand für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Kleinstunternehmen zu verringern, indem u.a. „die Pflicht zur Erstellung von Jahresabschlüssen für Kleinstunternehmen aufgehoben wird“ (17).

3.6.   In seiner Entschließung vom 8. Dezember 2008 (18) sprach sich das Europäische Parlament für die Beseitigung der Rechnungslegungsanforderungen für Kleinstunternehmen aus, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und ihr Wachstumspotenzial besser zu nutzen, und forderte die Kommission dazu auf, einen Legislativvorschlag zu unterbreiten, der die Mitgliedstaaten dazu ermächtigt, diese Unternehmen von dem Anwendungsbereich der Vierten Richtlinie 78/660/EWG auszunehmen.

3.7.   In den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren wurde die Richtlinie 78/660/EWG mehrmals geändert (19).

4.   Wesentlicher Inhalt des Kommissionsvorschlags

4.1.   Die Kommission schlägt vor, den in einigen Mitgliedstaaten bereits vorgesehenen Begriff Kleinstunternehmen einzuführen, und diese Unternehmen von dem Anwendungsbereich der Vierten Richtlinie 78/660/EWG über den Jahresabschluss auszunehmen. Um von dieser Ausnahme profitieren zu können, sollten die Kleinstunternehmen zwei der drei folgenden Kriterien erfüllen:

10 oder weniger Beschäftigte,

Bilanzsumme von weniger als 500 000 EUR und

Nettoumsatzerlöse von weniger als 1 000 000 EUR.

4.2.   Die Jahresabschlüsse sind für solche Kleinstunternehmen besonders kostenintensiv. Auf der anderen Seite ist die Finanzlage dieser Unternehmen nicht von sonderlich großem Interesse, da sie hauptsächlich auf der lokalen und regionalen Ebene tätig sind.

4.3.   Mit der Einführung einer Ausnahme in den Rechnungslegungsrichtlinien hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, welche Regeln für Kleinstunternehmen zu gelten haben.

4.4.   Aus diesem Grund beschloss die Kommission, die geltenden gemeinschaftlichen Vorschriften zu ändern. In Bezug auf die Kleinstunternehmen wurden verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen:

Befreiung solcher Unternehmen von der Pflicht, ihre Abschlüsse offenzulegen;

Möglichkeit für die Kleinstunternehmen, auch freiwillig Jahresabschlüsse zu erstellen, sie prüfen zu lassen und zur nationalen Registrierung weiterzuleiten;

Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten, so dass sie Kleinstunternehmen von der Vierten Gesellschaftsrechtsrichtlinie ausnehmen können.

5.   Allgemeine Bemerkungen

5.1.   Der EWSA befürwortet das Ziel der Kommissionsinitiative, die Kleinstunternehmen von den Verwaltungs- und Rechnungslegungspflichten auszunehmen, die aufwendig und im Vergleich zu den Bedürfnissen der Kleinstunternehmen und der Hauptnutzer der Informationen völlig unverhältnismäßig sind.

5.2.   Gerade in der derzeitigen Wirtschaftskrise, die die kleinen Unternehmen in ganz Europa besonders hart trifft, erachtet es der Ausschuss für vorrangig, dass die Maßnahmen für die Befreiung der Kleinstunternehmen rasch („fast track“-Verfahren) (20) und mit universeller Gültigkeit im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum umgesetzt werden; sie müssen flexibel und an die jeweiligen nationalen Gegebenheiten angepasst sein und transparent auf die natürlichen und juristischen Personen in Europa angewandt werden.

5.3.   Die von der Kommission vorgeschlagene Initiative wäre außerdem ein starker Impuls für die Bekämpfung der Schattenwirtschaft, wie dies vom Ausschuss mehrfach gefordert wurde. Er hat darauf hingewiesen, dass „die nicht angemeldete Erwerbstätigkeit durch die Verluste, die sie sowohl bei den Steuereinnahmen als auch bei den Sozialabgaben verursacht, wirklich katastrophale Folgen für die öffentlichen Haushalte hat“ (21) und „der Preis für Ehrlichkeit […] allerdings nicht zu hoch sein darf, denn sonst läuft man Gefahr, dass Schwarzarbeit immer mehr um sich greift“ (22).

5.4.   Der EWSA begrüßt den Vereinfachungsvorschlag der Kommission, mit dem gewährleistet werden soll, dass der Regelungsrahmen zur Förderung des Unternehmergeistes und der Innovation der Klein- und Kleinstunternehmen beiträgt, damit sie wettbewerbsfähiger werden und das Potenzial des Binnenmarktes bestmöglich nutzen können.

5.5.   Obgleich er sich bewusst ist, dass dieser Bereich nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt und Artikel 5 des Vertrags betreffend das Subsidiaritätsprinzip angewandt werden muss, hält es der Ausschuss im Hinblick auf die Integrität des Binnenmarktes und die Nichtdiskriminierung jeglicher Wirtschaftsakteure des Binnenmarktes für zweckmäßig, dass die Erleichterungen im Rahmen der künftigen Maßnahmen zur umfassenden Überarbeitung der Vierten und Siebten Gesellschaftsrechtsrichtlinie nicht fakultativ von den einzelnen Mitgliedstaaten beschlossen werden, sondern automatisch auf alle Kleinstunternehmen in der Europäischen Union Anwendung finden.

5.6.   Der Ausschuss ruft die Kommission, das Europäische Parlament und den Rat dazu auf, sich bei der angekündigten umfassenden Überarbeitung der Vierten und Siebten Gesellschaftsrechtsrichtlinie auf das Leitprinzip „Vorfahrt für die KMU“ (Think Small First) im Rahmen einer interinstitutionellen Vereinbarung auf derselben Rechtsgrundlage wie die Vereinbarung Bessere Rechtsetzung  (23) zu stützen und eine Reihe eindeutiger Verpflichtungen in Bezug auf die Beseitigung bzw. Reduzierung des Verwaltungsaufwands einzugehen.

5.7.   Darüber hinaus spricht sich der Ausschuss dafür aus, dass die Kommission dem Parlament, dem Rat und dem EWSA drei Jahre nach dem Inkrafttreten der vorgeschlagenen Richtlinie einen Bericht mit einer Bewertung der Auswirkungen und der Funktionsweise der Ausnahme der Kleinstunternehmen in allen EU-Mitgliedstaaten sowie der Einsparungen durch die europäischen Kleinstunternehmen vorlegt.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Vgl. Europäischer Rat von Lissabon, 2000.

(2)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 7.

(3)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 37.

(4)  Vgl. EWSA-Stellungnahme in ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30, Vorschlag Nr. 1, Berichterstatter: Henri MALOSSE, Mitberichterstatter: Claudio CAPPELLINI.

(5)  Jahr 1983.

(6)  Unter der Leitung von Frau Cresson wurde zunächst eine TaskForce eingesetzt, die anschließend zu einer neuen GD wurde (GD XXIII).

(7)  Avignon 1990, Berlin 1994, Mailand 1997.

(8)  Vgl. u.a. ABl. C 161 vom 14.6.1993, S. 6; ABl. C 388 vom 31.12.1994, S. 14 und ABl. C 295 vom 7.10.1996, S. 6; ABl. C 56 vom 24.2.1997, S. 7; ABl. C 89 vom 19.3.1997, S. 27; ABl. C 235 vom 27.7.1998, S. 13; ABl. C 221 vom 7.8.2001, S. 1; ABl. C 374 vom 3.12.1998, S. 4; ABl. C 116 vom 20.4.2001, S. 20.

(9)  KOM(2008) 195 endg. vom 18.9.2008.

(10)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 37, Berichterstatter: Claudio Cappellini.

(11)  KOM(2006) 689 endg., 690 endg. und 691 endg. vom 14.11.2006.

(12)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 8.

(13)  Vgl. ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 8, Ziffer 4.3.6, sowie ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 9, Ziffer 6.2.

(14)  Siehe Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Tagung des Europäischen Rates vom 13./14. März 2008 in Brüssel, Punkt 9.

(15)  KOM(2008) 394 endg. vom 25.6.2008.

(16)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30, Berichterstatter: Henri MALOSSE, Mitberichterstatter: Claudio CAPPELLINI.

(17)  Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat „Europäisches Konjunkturprogramm“, KOM(2008) 800 endg. vom 26.11.2008, Ziffer 4.

(18)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. Dezember 2008 zu den Rechnungslegungsvorschriften für kleine und mittlere Unternehmen und insbesondere Kleinstbetriebe.

(19)  Über zehn Änderungen: Richtlinie 83/349/EWG, Richtlinie 84/569/EWG, Richtlinie 89/666/EWG, Richtlinie 90/604/EWG, Richtlinie 90/605/EWG, Richtlinie 94/8/EG, Richtlinie 1999/60/EG, Richtlinie 2001/65/EG, Richtlinie 2003/38/EG, Richtlinie 2003/51/EG, Richtlinie 2006/43/EG, Richtlinie 2006/46/EG.

(20)  Fast track: Um schnell erste Ergebnisse zu erzielen, wurden von der Kommission drei Sofortmaßnahmen vorgeschlagen. Die erste Sofortmaßnahme, die der Angleichung bestimmter Vorschriften betreffend die Berichte unabhängiger Sachverständiger bei inländischen Verschmelzungen und Spaltungen an die Richtlinie über grenzüberschreitende Verschmelzungen (Richtlinie 2005/56/EG) diente, wurde vom Rat und vom Europäischen Parlament im November 2007 angenommen (Richtlinie 2007/63/EG). Außerdem hat die Kommission im April 2008 zwei Vorschläge zur Änderung der Ersten und Elften Gesellschaftsrechtsrichtlinie und der Rechnungslegungsrichtlinien vorgelegt.

(21)  Vgl. ABl. C 101 vom 12.4.1999, S. 30, Berichterstatter: Daniel GIRON.

(22)  Vgl. ABl. C 255 vom 14.10.2005, S. 61.

(23)  Vgl. ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30, Vorschlag Nr. 1, Berichterstatter: Henri Malosse, Mitberichterstatter: Claudio Cappellini, und zwar insbesondere Ziffer 3.2: „Was das Prinzip ‚Vorfahrt für KMU‘ angeht, bekräftigt der EWSA seine schon früher vertretene Position (ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 27) und fordert eine verbindliche Regelung, deren Form (Verhaltenskodex, interinstitutionelle Vereinbarung, Beschluss des Rates) noch festzulegen ist, jedoch das Europäische Parlament, die Kommission und den Rat in die Pflicht nimmt. Die Option einer interinstitutionellen Vereinbarung auf derselben Rechtsgrundlage wie die Vereinbarung ‚Bessere Rechtsetzung‘ von 2003 ist …“.


ANHANG

zu der stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende Textstelle, auf die mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen entfiel, wurde zugunsten eines vom Plenum angenommenen Änderungsantrags abgelehnt:

„2.6.

Den der Kommission vorliegenden Schätzungen zufolge kämen rund 5,4 Mio. Kleinstunternehmen potenziell in den Genuss der Ausnahmebestimmung, und der gesamte Verwaltungsaufwand, der erforderlich ist, um den in der Richtlinie vorgesehenen Verwaltungs- und Rechnungslegungspflichten nachzukommen, beliefe sich auf rund 6,3 Mrd. EUR pro Jahr.“

Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag: 89 Ja-Stimmen, 40 Nein-Stimmen und 30 Stimmenthaltungen.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Anpassung einiger Rechtsakte, für die das Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates in Bezug auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle. Anpassung an das Regelungsverfahren mit Kontrolle Fünfter Teil“

KOM(2009) 142 endg. — 2009/0048 (COD)

(2009/C 317/12)

Hauptberichterstatter: Daniel RETUREAU

Der Rat beschloss am 14. Mai 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 152 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Anpassung einiger Rechtsakte, für die das Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates in Bezug auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle — Anpassung an das Regelungsverfahren mit Kontrolle — Fünfter Teil

KOM(2009) 142 endg. — 2009/0048 (COD).

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 12. Mai 2009 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Gemäß Artikel 20 der Geschäftsordnung beschloss der Ausschuss auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli), Daniel RETUREAU zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 122 gegen 2 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der EWSA billigt die Vorschläge der Kommission zum Regelungsverfahren mit Kontrolle, fragt sich jedoch, ob nicht ein spezifisches Verfahren erwogen werden sollte, wenn die Änderungen ein wenig über das Kriterium „nicht wesentlich“ hinausgehen — auch wenn sie weder den Gegenstand noch die Ziele des Instruments betreffen — und nicht unerhebliche soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen haben.

1.2.   Er ist jedoch der Auffassung, dass Gewährleistung der Kontrolle aufgrund der Organisation der parlamentarischen Arbeit problematisch sein wird.

1.3.   Der Mehrwert des neuen Verfahrens leuchtet den Bürgerinnen und Bürgern noch nicht ein, da die von den im Ausschussverfahren eingeführten „ergänzenden“ Regelungen betroffenen zivilgesellschaftlichen Organisationen möglicherweise Schwierigkeiten haben, die aufeinander folgenden Änderungen des ursprünglichen Instruments zu verfolgen.

2.   Abriss der Verfahren zur Anpassung an das Regelungsverfahren mit Kontrolle 2007 und 2008

2.1.   Das Regelungsverfahren mit Kontrolle durch das Parlament hat sich in den letzten beiden Jahren durch eine „Omnibus“-Anpassung der Rechtsinstrumente beschleunigt, die bisher im „normalen“ Ausschussverfahren angenommen wurde. Letzteres Verfahren bleibt gültig, so die Bedingungen für das Verfahren mit Kontrolle nicht erfüllt sind.

2.2.   Mit Beschluss des Rates 2006/512/EG vom 17. Juli 2006 wurde der Beschluss des Rates 1999/468/EG vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse geändert, insbesondere durch Hinzufügung von Artikel 5a, durch den ein neues „Regelungsverfahren mit Kontrolle“ eingeführt wurde. Mit diesem Verfahren kann das Parlament ein Kontrollrecht in Bezug auf die Änderungen ausüben, die im Ausschussverfahren an den betreffenden Rechtsinstrumenten vorgenommen wurden, insofern es sich hierbei um nicht wesentliche Änderungen handelt bzw. keine wesentlichen Bestimmungen oder Elemente hinzugefügt oder gestrichen werden.

2.3.   Die Ausschussverfahren zur Überwachung eines jeden Rechtsaktes werden so durch ein zusätzliches Instrumentarium erweitert. Dabei wird für bestimmte Rechtsakte, auf die dieses neue Instrument anzuwenden ist, und für die das Mitentscheidungsverfahren und Artikel 251 EGV oder das Lamfalussy-Verfahren in Finanzfragen gilt, die Kontrolle des Parlaments über die Ausübung der Durchführungsbefugnisse gestärkt, die der Kommission durch den Rechtsakt übertragen wurden (1).

In einer gemeinsamen Erklärung haben die Kommission, der Rat und das Parlament ein Verzeichnis der Rechtsakte aufgestellt, die ihrer Ansicht nach dringend an den geänderten Beschluss angepasst werden müssen, indem nunmehr anstelle des ursprünglichen Verfahrens das vorgesehene Regelungsverfahren mit Kontrolle aufgenommen wird. Diese gemeinsame Erklärung sieht unter anderem vor, der Kommission nach den Grundsätzen einer guten Rechtsetzung die Durchführungsbefugnisse ohne zeitliche Befristung zu übertragen.

2.4.1.   Die Kommission hat beschlossen, die Anpassung der alten Rechtsakte, die vom neuen Verfahren betroffen sind, im Wege von Vorschlägen für „Omnibus“-Verordnungen vorzunehmen, d.h. jede Verordnung bezieht sich auf eine Reihe von Rechtsakten, so dass nicht für jeden betroffenen Rechtsakt eine gesonderte Verordnung angenommen werden muss.

2.4.2.   Die drei ersten Vorschläge wurden Ende 2007, der vierte am 11. Februar 2008 angenommen (2). So schlug die Kommission die rückwirkende Modifizierung aller Rechtsakte vor, die ihres Erachtens den Bestimmungen des neuen Ausschussverfahrens mit Kontrolle unterliegen, um das neue Verfahren einzuführen und etwaige Bestimmungen zur zeitlichen Befristung der Durchführungsbefugnisse aufzuheben.

2.5.   Das Parlament hat in einer Entschließung vom 23. September 2008 der Kommission die Überprüfung einer Liste von 14 Rechtsakten empfohlen, bei denen das Regelungsverfahren mit Kontrolle anstelle des ursprünglich vorgesehenen Ausschussverfahrens ohne Kontrolle eingeführt werden sollte. Diese Stellungnahme bezieht sich auf die von der Kommission als Reaktion auf die Entschließung vorgeschlagenen Maßnahmen.

2.6.   Im Übrigen ist das Parlament der Ansicht, dass die Durchführungsbestimmungen zum Beschluss des Rates 1999/468/EG äußert unbefriedigend waren und bis auf die Bestimmungen zum neuen Regelungsverfahren mit Kontrolle immer noch sind, was u.a. der Art und Weise geschuldet ist, wie die „Komitologie-Datenbank“ funktioniert. So werden die Dokumente oft stückweise und ohne klare Angabe ihres Status übermittelt, teilweise mit verwirrenden Überschriften, z.B. werden Entwürfe für Durchführungsmaßnahmen, über die noch nicht in einem Ausschuss abgestimmt wurde, unter der Überschrift „Droit de regard“ (Kontrollrecht) übermittelt, obwohl sie mit dem Vermerk „Droit à l'information“ (Recht auf Information) versehen werden müssten. Hierdurch bleibt unklar, welche Fristen gelten (3).

3.   Vorschläge der Europäischen Kommission

3.1.   In dem Verordnungsvorschlag, der Thema dieser Stellungnahme ist, schlägt die Kommission eine Anpassung an das Regelungsverfahren mit Kontrolle von zwei vom Parlament genannten Rechtsakten vor und legt für jeden der anderen 12 Rechtsakte die rechtlichen Gründe dar, die sie zu dem Schluss kommen lassen, dass eine solche Anpassung nicht notwendig ist.

Es handelt sich um folgende Rechtsakte:

Rechtsakte, deren Anpassung bereits erfolgt ist oder vorgeschlagen wurde

Richtlinie 2000/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2000 zur Änderung der Richtlinie 74/150/EWG des Rates (4);

Richtlinie 2001/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 zur Änderung der Richtlinie 92/23/EWG des Rates (5);

Richtlinie 2004/3/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 zur Änderung der Richtlinien 70/156/EWG und 80/1268/EWG des Rates. Laut Kommission wurden diese beiden Richtlinien automatisch an das Regelungsverfahren mit Kontrolle angepasst (6);

Richtlinie 2005/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG des Rates (7);

Richtlinie 2006/40/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG des Rates (8);

Richtlinie 2005/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2005 zur Änderung der Richtlinie 1999/32/EG (9).

Nicht unter das Mitentscheidungsverfahren fallender Rechtsakt

Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (10).

Nach Inkrafttreten der Reform von 2006 erlassener Rechtsakt

Verordnung (EG) Nr. 1905/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006. Da dieser Rechtsakt am 23. Juli 2006 und folglich nach Inkrafttreten der Reform zur Einführung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle erlassen wurde, ist eine Anpassung nicht erforderlich (11).

Rechtsakte, die keine unter das Regelungsverfahren mit Kontrolle fallende Bestimmung enthalten

Richtlinie 2001/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2001 zur Änderung der Richtlinie 95/53/EWG des Rates sowie der Richtlinien 70/524/EWG, 96/25/EG und 1999/29/EG des Rates (12);

Richtlinie 2002/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2002 zur Änderung der Richtlinien 90/425/EWG und 92/118/EWG des Rates (13);

Richtlinie 2004/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Aufhebung bestimmter Richtlinien über Lebensmittelhygiene und Hygienevorschriften für die Herstellung und das Inverkehrbringen von bestimmten, zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs sowie zur Änderung der Richtlinien 89/662/EWG und 92/118/EWG des Rates und der Entscheidung 95/408/EG des Rates (14);

Entscheidung Nr. 676/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 (15).

3.3.   Schließlich teilt die Kommission die Auffassung, dass die nachstehenden Basisrechtsakte Bestimmungen enthalten, die an das Regelungsverfahren mit Kontrolle anzupassen sind:

Richtlinie 2000/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. April 2000 zur Änderung der Richtlinie 64/432/EWG des Rates zur Regelung viehseuchenrechtlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit Rindern und Schweinen (16) und

Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juli 2000 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 820/97 des Rates (17).

3.4.   Mit dem Vorschlag sollen diese beiden Basisrechtsakte an das Regelungsverfahren mit Kontrolle angepasst werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen des EWSA

4.1.   Der EWSA hat die Schaffung eines neuen Ausschussverfahrens, des Regelungsverfahrens mit Kontrolle, mit Interesse verfolgt.

4.2.   Der EWSA billigt die Vorschläge der Kommission, fragt sich jedoch, ob nicht ein spezifisches Verfahren eingeführt werden sollte, wenn die Änderungen ein wenig über das Kriterium „nicht wesentlich“ hinausgehen — auch wenn sie weder den Gegenstand noch die Ziele des Instruments betreffen — und nicht unerhebliche soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen haben, wie etwa im Falle der Vorschriften zu Elektro- und Elektronik-Altgeräten.

4.3.   Er ist der Ansicht, dass das Ausschussverfahren mit Kontrolle ein Fortschritt für die Demokratie bezüglich der Überwachung der Verwaltung bestimmter dynamischer Instrumente ist, durch das langwierigere Verfahren — etwa Überprüfungen — vermieden werden können, die die Institutionen unnötigerweise überlasten würden. Allerdings bleibt es dabei, dass das Parlament aufgrund der Organisation der parlamentarischen Arbeit Schwierigkeiten haben dürfte, die Kontrolle zu organisieren.

4.4.   Der Mehrwert des neuen Verfahrens leuchtet den Bürgerinnen und Bürgern noch nicht ein, da die von den im Ausschussverfahren eingeführten „ergänzenden“ Regelungen betroffenen zivilgesellschaftlichen Organisationen möglicherweise Schwierigkeiten haben, die aufeinander folgenden Änderungen des ursprünglichen Instruments zu verfolgen.

4.5.   Die Situation wird noch komplizierter, wenn die Änderungen in der Praxis eine Reichweite haben, die weit über das Kriterium einer „nicht wesentlichen“ Änderung hinausgeht, wobei dieses Konzept bezüglich bestimmter Anwendungen ungenau bleibt. Dies betrifft zum Beispiel die neue Regelung bezüglich gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronik-Altgeräten. Gemäß dem Vorschlag soll das Hinzufügen bzw. Streichen gesundheitsschädlicher Stoffe von der Liste dem Verfahren mit Kontrolle unterliegen. Der Ausschuss hat in seiner Stellungnahme (18) jedoch verlangt, dass im Falle einer Änderung der Liste die betroffenen Branchen und Arbeitnehmer sowie die Verbraucherschutzorganisationen zu konsultieren sind und eine Folgenabschätzung zu erstellen ist, da solche Änderungen im Falle dieser Regelung von wesentlicher Bedeutung zu sein scheinen.

4.6.   Vorbehaltlich dieser Bemerkung, die möglicherweise auf einige bestimmte Fälle zutrifft und die in der Praxis berücksichtigt werden kann, ohne dass es hierzu einer Änderung der derzeitigen Regelungen bedarf, kann der Ausschuss den Vorschlägen der Kommission zustimmen.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Mit Artikel 5a des geänderten Beschlusses 1999/468/EG wird das Regelungsverfahren mit Kontrolle für Maßnahmen von allgemeiner Tragweite zur Änderung von nicht wesentlichen Bestimmungen eines nach dem Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag erlassenen Basisrechtsakts, einschließlich durch Streichung einiger dieser Bestimmungen oder Hinzufügung neuer nicht wesentlicher Bestimmungen, eingeführt.

(2)  KOM(2008) 71 endg., KOM(2007) 740 endg., KOM(2007) 741 endg., KOM(2007) 822 endg. und KOM(2007) 824 endg.; ABl. C 224 vom 30.8.2008.

(3)  EP, Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Berichterstatterin: Monica Frassoni, A6-0107/2008. Vorschlag für einen Beschluss, Erwägung B.

(4)  ABl. L 173 vom 12.7.2000.

(5)  ABl. L 211 vom 4.8.2001.

(6)  ABl. L 49 vom 19.2.2004.

(7)  ABl. L 310 vom 25.11.2005.

(8)  ABl. L 161 vom 14.6.2006.

(9)  ABl. L 191 vom 22.7.2005.

(10)  ABl. L 210 vom 31.7.2006.

(11)  ABl. L 378 vom 27.12.2006.

(12)  ABl. L 234 vom 1.9.2001.

(13)  ABl. L 315 vom 19.11.2002.

(14)  ABl. L 157 vom 30.4.2004.

(15)  ABl. L 108 vom 24.4.2002.

(16)  ABl. L 105 vom 3.5.2000.

(17)  ABl. L 204 vom 11.8.2000.

(18)  KOM(2008) 809 endg. und CESE 1032/2009 vom 10.6.2009.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Halbzeitbewertung der Umsetzung des gemeinschaftlichen Aktionsplans zur Erhaltung der biologischen Vielfalt“

KOM(2008) 864 endg.

(2009/C 317/13)

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Die Kommission beschloss am 16. Dezember 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 Absatz 1 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Halbzeitbewertung der Umsetzung des gemeinschaftlichen Aktionsplans zur Erhaltung der biologischen Vielfalt

KOM(2008) 864 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 18. Juni 2009 an. Berichterstatter war Lutz RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 162 gegen 3 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der EWSA bedauert zutiefst, dass das Ziel „Stopp Biodiversitätsverlust bis 2010“ nicht erreicht werden wird.

1.2.   Es ist aber erfreulich, dass es durch die FFH- und Vogelschutzrichtlinie gelungen ist, bei einigen Habitaten und Arten positive Entwicklungen zu erreichen. Dies zeigt, dass das europäische Naturschutzrecht, wenn es richtig angewendet wird, funktioniert.

1.3.   Es kann allerdings den weiterhin schweren Artenverlust, der außerhalb der Schutzgebiete im Rahmen völlig legaler Wirtschaftspraktiken vonstattengeht, nicht aufhalten. Der EWSA sieht es wie die Kommission: die Integration von Biodiversitätsbelangen in andere Politikbereiche ist noch völlig unzureichend.

1.4.   Der EWSA ist dennoch der Auffassung, dass es keiner grundsätzlich neuen Ziele bedarf. Vielmehr müssen Kommission und Mitgliedstaaten das bisherige, richtige Ziel „Stopp Biodiversitätsverlust und Wiederherstellung von natürlichen Habitaten“, das bereits 2001 formuliert wurde, selbst ernst nehmen und künftig mit größerem Nachdruck vertreten.

1.5.   Naturschutz wird häufig aus wirtschaftspolitischer Sicht als Behinderung bzw. Bedrohung angesehen. Das Argument des wirtschaftlichen Werts der Biodiversität hat bislang noch keinen Eingang in die praktische Politik gefunden. Die Kommission wird gebeten darzustellen, wie sie — z.B. im Rahmen der Debatten um die verstärkte Internalisierung externer Kosten — dieses Problem lösen will.

1.6.   Positive Entwicklungsbeispiele, die zeigen, wie eng die regionale Wirtschaftsentwicklung mit Biodiversität verknüpft ist (z.B. Tourismus), sollten stärker kommuniziert werden.

1.7.   Die Ratsentscheidung, Natura 2000 aus Mitteln der Strukturfonds und der 2. Säule der GAP zu finanzieren, hat sich als nicht effektiv erwiesen; die Mitgliedstaaten räumen dem Natur- und Biodiversitätsschutz in den entsprechenden Programmen schlichtweg zu wenig Priorität ein. Der EWSA spricht sich für eine eigene Budgetlinie in der Finanzperiode 2014-2020 aus. In den Agrarumweltprogrammen muss die Anreizkomponente wieder eingeführt werden.

1.8.   In vielen Regionen und an vielen Standorten, z.B. in Moorgebieten, in den Berg- und den Küstenregionen, auf Grünlandstandorten, in den Flussauen etc. ist der Schutz und die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume gleichzeitig auch ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz; Klima- und Biodiversitätspolitik sind noch enger zu verzahnen, auch wenn natürlich für den Schutz der Biodiversität weit mehr Gründe als „nur“ Klimaschutzgründe sprechen.

1.9.   Um den Arten eine Anpassung an veränderte Klimabedingungen zu ermöglichen, müssen ihre Lebensräume besser vernetzt werden. Es sollte der Aufbau eines „Transeuropäischen Netzes ‚Natur‘“ erwogen werden.

1.10.   Immer mehr Flächen werden versiegelt, also entweder bebaut oder asphaltiert, was ein großes Naturschutzproblem ist. Dieser Flächenverbrauch in Europa muss verringert werden.

1.11.   Naturschutz genießt in der Zivilgesellschaft zwar eine hohe Zustimmung, das Wissen darüber ist jedoch völlig unterentwickelt. Der EWSA begrüßt, dass das notwendige Verständnis über die Gründe des Artenrückgangs und notwendige Gegenmaßnahmen nun endlich verstärkt gefördert werden sollen. Hierzu gehören auch verbesserte Verbraucherinformationen zu den Folgen bestimmter Produktionsverfahren und die Entwicklung nachhaltiger Produktionspraktiken.

2.   Die Mitteilung der Europäischen Kommission

2.1.   Die Kommission kommt in ihrer Mitteilung zu dem ernüchternden Ergebnis, dass es trotz des 2006 vorgelegten Aktionsplans zur Erhaltung der Biodiversität, der immerhin 160 Maßnahmen enthielt, „höchst unwahrscheinlich (ist), dass das ultimative Ziel der Eindämmung des Verlusts der biologischen Vielfalt bis 2010 verwirklicht wird. Um dieses Ziel auch nur annähernd zu erreichen, müssten die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten in den kommenden zwei Jahren weitreichende zusätzliche Anstrengungen unternehmen“. EU-Umweltkommissar Dimas hat mittlerweile zugegeben, dass das Ziel, den Rückgang der Biodiversität zu stoppen, bis 2010 nicht erreicht werden wird!

2.2.   Der weltweite Rückgang der biologischen Vielfalt wird als „desaströs“ beschrieben. Es werden nicht nur die natürlichen Prozesse gestört, sondern schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Folgen sind zu beklagen. Die Kommission stellt fest, dass Europa eine Mitverantwortung auch an den negativen globalen Prozessen trägt. So haben sich „neue Umstände wie die Ausdehnung der Landwirtschaft zur Deckung der steigenden Lebensmittelnachfrage und die Entwicklung alternativer Absatzmärkte, z.B. für Biokraftstoffe, … als größere Herausforderung herausgestellt“.

2.3.   Auch wenn die Gründe für das bisherige weitgehende Scheitern der Biodiversitätspolitik vielfältig sein mögen, hebt die Kommission in der Schlussfolgerung der Halbzeitbilanz zusammenfassend hervor: „Die Einbeziehung von Biodiversitätsbelangen in andere Sektorpolitiken bleibt eine der wichtigsten Herausforderungen“. Entscheidend für die ernüchternde Bilanz der Halbzeitbewertung ist, dass bei der Einbeziehung von Biodiversitätsbelangen in andere Sektorpolitiken in den letzten Jahren keine wirklichen Fortschritte erzielt wurden.

2.4.   Die Ergebnisse des ersten großen „Gesundheitschecks“ des Biodiversitätsaktionsplans zeigen, dass 50 % der Arten und möglicherweise bis zu 80 % der Lebensraumtypen, die nach der FFH (1)-Richtlinie geschützt sind und an deren Erhaltung ein europäisches Interesse besteht, einen „ungünstigen Erhaltungszustand aufweisen“.

2.5.   Allerdings seien für einige Arten, die nach der FFH- bzw. der Vogelschutzrichtlinie geschützt sind, auch erste positive Trends erkennbar. Bei einzelnen geschützten Arten konnte der Rückgang gestoppt werden: „die Richtlinie hat sich für diese Arten eindeutig bewährt, vor allem aufgrund der Ausweisung besonderer Schutzgebiete“.

2.6.   Die Kommission stellt fest, dass das NATURA-2000-Netz heute rund 25 000 Schutzgebiete bzw. rund 17 % der gesamten Landfläche der EU umfasst. Besonders außerhalb der geschützten Bereiche ist der Trend weiterhin negativ.

2.7.   Die Kommission geht auf die ersten Ergebnisse der Studie über die Abschätzung des ökonomischen Werts von Ökosystemen und biologischer Vielfalt („The Economics of Ecosystems and Biodiversity, TEEB“ (2) - „Sukhdev-Bericht“) ein. Dieser Bericht kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie einst der STERN-Report im Bereich des Klimaschutzes: es ist nicht nur aus ethisch-moralischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen angesagt, die Biodiversität zu erhalten. „Der Verlust an biologischer Vielfalt und Ökosystemen gefährdet die Lebensfähigkeit unseres Planeten, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Der dem Verlust an Ökosystemleistungen zuzuschreibende jährliche Wohlfahrtsverlust dürfte im Jahr 2050 bei einem business-as-usual-Szenario 6 % des globalen BIP betragen“.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Die EU gibt nun erstmals öffentlich zu, dass eines der zentralen umweltpolitischen Versprechen, das sowohl die Staats- und Regierungschefs als auch die Kommission den Bürgern im Bereich der Umweltpolitik gegeben haben, nämlich bis 2010 den Biodiversitätsrückgang zu stoppen, nicht eingehalten werden wird.

3.2.   Für den EWSA kommt diese Erkenntnis nicht überraschend, denn er hatte in seiner Stellungnahme zum Aktionsprogramm die kritischen Analysen der Kommission geteilt und auch alle 160 Maßnahmen im Kern für richtig und notwendig anerkannt, gleichzeitig aber große Zweifel geäußert, ob jene Verwaltungsbereiche und Politiken bzw. Politiker, die nicht unmittelbar mit der Biodiversitätspolitik betraut sind, die notwendigen Anstrengungen mitmachen und ernst nehmen würden. Diese Zweifel haben sich nun leider bewahrheitet.

3.3.   Die Positionen des EWSA zum Biodiversitätsaktionsplan sind — leider — heute noch genauso aktuell wie vor gut 2 Jahren, als sie vom Plenum verabschiedet wurden. Der Ausschuss führte damals wörtlich aus (3):

In der Situationsbeschreibung stimmen EWSA und Kommission überein: Die Erhaltung der Biodiversität ist eine notwendige und zentrale Aufgabe, für die es nicht nur eine ethisch-moralische Verpflichtung gibt. Es existieren auch genügend ökonomische Begründungen, die ein schnelleres und erfolgreicheres Handeln erforderlich machen. Die wirtschaftlichen Verluste, die sich aus dem Rückgang von Ökosystemleistungen ergeben, werden schon heute auf mehrere 100 Mrd. EUR beziffert. Dies ist eine Verschwendung, die sich unsere Volkswirtschaften einfach nicht leisten können.

Der Artenschwund in Europa ist das Ergebnis von Millionen einzelner Werteentscheidungen der letzten Jahrzehnte, die zum absolut überwiegenden Teil im Rahmen bestehender Gesetze vonstattengingen. Der Anteil illegaler Maßnahmen am Biodiversitätsrückgang in Europa ist marginal.

Die Biodiversitätsentwicklung ist — trotz der politischen Versprechen — leider weiterhin negativ, was nicht daran liegt, dass man nicht wüsste, wie man dem Artenschwund begegnen könnte. Es fehlte bislang der politische Wille, die seit langem als notwendig anerkannten Maßnahmen auch wirklich durchzusetzen. Die Erfahrungen mit dem Netzwerk Natura 2000 sprechen für sich.

Die Gründe hierfür werden von der Kommission in ihrer Mitteilung richtig benannt, sie liegen u.a. an dem „Versagen der öffentlichen Institutionen und (dem) Versäumnis der traditionellen Wirtschaftswissenschaften, den wirtschaftlichen Wert des Naturerbes und der Ökosystemleistungen anzuerkennen“.

Die Zukunft wird folglich zeigen, ob die Politik mit der Vorlage dieses Aktionsprogramms nun tatsächlich endlich die Kraft findet, die als notwendig anerkannten „tief greifenden Veränderungen herbeizuführen“, oder ob sich die Befürchtungen vieler Naturschützer bewahrheiten, dass die Politik zwar ein gesellschaftspolitisch brisantes Feld erneut verbal besetzt, aber es bei Lippenbekenntnissen bleibt.

Besonders notwendig scheint es dem EWSA deshalb, den Politikbereich 4, nämlich die „Verbesserung der Wissensbasis“, mit Priorität anzugehen, damit Mitbürger wie Politiker sich der wirklichen Konsequenzen ihres Handelns bewusst werden.

3.4.   Die Kommission bestätigt in ihrer jetzigen Mitteilung viele der damals bereits gemachten Aussagen, die in ihrer Folge zum weiteren Biodiversitätsrückgang beitragen. Daher bedarf es hier keiner grundlegend neuen Stellungnahme des EWSA. Vielmehr wird auf jene Dinge eingegangen, die sich heute neu bzw. etwas anders darstellen als noch vor 2 Jahren.

4.   Besondere Bemerkungen

Rechtsrahmen und Verwaltung

4.1.   Es ist in den letzten Jahren sehr deutlich geworden, dass die europäischen Naturschutzrichtlinien gut geeignet sind, positive Entwicklungen zu stimulieren, wenn sie richtig angewendet werden und wenn mit der Betroffenheit der Eigentümer richtig umgegangen wird (4). Der EWSA stellt aber auch fest, dass es innerhalb der N2000-Gebiete noch viele Probleme gibt, die einer Lösung zugeführt werden müssen. Und: „nur“ 17 % der Fläche stehen unter Schutz der genannten EU-Richtlinien.

4.2.   Nach der mit extremer Zeitverzögerung nun fast abgeschlossenen Etablierung des NATURA-2000-Netzes kommt der europäische Naturschutz in eine neue Phase. Für die ausgewiesenen Gebiete müssen entsprechende Managementpläne erstellt werden. Der EWSA äußert Zweifel, ob für deren Erstellung und Umsetzung in den Mitgliedstaaten ausreichende personelle und finanzielle Kapazitäten bereitstehen. Es ist wichtig, dass diese Pläne in enger Abstimmung mit allen beteiligten Gesellschaftsgruppen erstellt werden; nur so kann Akzeptanz erreicht werden.

4.3.   Wie es angesichts des enormen Flächendrucks, den die Kommission sehr zu Recht beschreibt, möglich sein wird, zerstörte Biotope im größeren Umfang wiederherzustellen, bleibt eine offene Frage. Der EWSA erinnert daran, dass auf dem Gipfel von Göteborg von den Staats- und Regierungschefs nicht nur das Versprechen abgegeben wurde, für den Stopp des Biodiversitätsrückgang bis 2010, sondern auch für die Wiederherstellung von Habitaten und natürlichen Systemen zu sorgen. Der Halbzeitbericht macht dazu keine Aussagen.

4.4.   Kaum ist das NATURA-2000-Netz etabliert, schon beginnen Debatten um die Herauslösung einzelner Gebiete oder Teile davon, zumeist für Infrastrukturmaßnahmen, die nicht selten von der EU kofinanziert werden. Über das sicherlich bekannteste Beispiel wird in der Kommissionsmitteilung selbst berichtet: das Rospuda-Tal im Nordosten Polens. Auch wenn die neue polnische Regierung nun nach Alternativen bei der Trassenführung der Via Baltica sucht, so zeigt sich sehr deutlich, dass der Konflikt zwischen Naturschutz auf der einen und wirtschaftlicher Entwicklung auf der anderen Seite nicht einmal im Ansatz gelöst ist.

4.5.   Es dürfte deshalb unstrittig sein, dass die Dienststellen der EU in den kommenden Jahren mit einer Welle von Verfahren konfrontiert werden, bei denen es um solche „Ausnahmeregelungen“ gehen wird. Der EWSA sieht zurzeit nicht, dass die personellen Voraussetzungen innerhalb der Kommission vorhanden sind, um mit dieser Herausforderung inhaltlich und verwaltungstechnisch klarzukommen.

4.6.   Der EWSA hat bereits in seiner Stellungnahme zum Biodiversitätsaktionsplan selbst beschrieben, dass der weiterhin stattfindende Artenrückgang in unseren Kulturlandschaften im Rahmen der „guten fachlichen Praxis“ und im Rahmen dessen, was die EU in ihren Bestimmungen als „guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand“ definiert, geschieht; also im Rahmen der Gesetze und nicht durch Gesetzesübertretungen. Dies ist inakzeptabel.

4.7.   Genau deshalb gibt es auch erhebliche Debatten um die sog. „Cross-Compliance-Kriterien“. Diese sollen, zusammen mit dem gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand sowie der guten fachlichen Praxis dafür sorgen, dass Biodiversitätsaspekte berücksichtigt werden. Wenn aber ein Großteil des Biodiversitätsrückgangs im Rahmen der bestehenden Gesetze stattfindet, ist es logisch, dass diese Kriterien kontrovers diskutiert werden. Auch der Europäische Rechnungshof hat in seinem Sonderbericht zur Cross Compliance entsprechende Anmerkungen gemacht. Die Mitgliedstaaten, aber auch die Kommission, müssen hierauf endlich reagieren.

4.8.   Oft sind auch Gesetzgebungsvorhaben tangiert, bei denen man zunächst keinen direkten Bezug zur Biodiversität vermutet. Zur BSE/TSE-Bekämpfung wurde mit der Verordnung 1774/2002 verboten, Kadaver in der freien Landschaft zu belassen. Dies hat zu gravierendem Futtermangel bei Aasfressern wie Wölfen, Bären oder Geiern geführt. Wenn nun weit entfernt von den wenigen Geiergebieten plötzlich diese seltenen Vögel gesichtet werden, so ist dies keineswegs ein positives Signal, sondern schlichtweg der Tatsache geschuldet, dass die Tiere aus Hunger nun extreme Entfernungen zurücklegen. Umweltgruppen und eine spanische Europaabgeordnete mussten auf diesen Missstand in der europäischen Gesetzgebung hinweisen, die Kommission hat erst nach sehr langer Zeit reagiert. Eine frühzeitige „Biodiversitätsverträglichkeitsprüfung“ gibt es anscheinend nicht.

Politische Konsequenzen/Finanzierung

4.9.   Besonders außerhalb der Schutzgebiete ist der Konflikt zwischen ökonomischer Landnutzung und Natur-/Artenschutz weiterhin ungelöst. Die Kommission weist darauf hin, dass sie im Rahmen des Health-Checks der Agrarpolitik verschiedene Vorschläge in diese Richtung gemacht hatte, z.B. „im Rahmen der Entwicklung des ländlichen Raums zusätzliche Mittel u.a. für die Erhaltung der biologischen Vielfalt bereitzustellen und hierzu mehr Gelder von der ersten auf die zweite Säule der GAP (d.h. Modulation) zu übertragen“. Leider ist festzustellen, dass die Ratsentscheidung den Vorschlägen nicht voll gefolgt ist. Es zeigt sich: die Mitgliedstaaten gehen einige der von der EU als notwendig anerkannten Wege nicht im notwendigen Umfang mit.

4.10.   Somit ist eines der zu lösenden Probleme die Finanzierung des N2000-Netzes, inkl. des Ausgleichs von besonderen Auflagen. Der EWSA beobachtet mit großer Sorge, dass nach den entsprechenden Programmgestaltungen durch die Mitgliedstaaten viel zu wenig Geld zur Finanzierung von Natura 2000 zur Verfügung steht, was extreme Konflikte mit sich bringt. Er spricht sich deshalb für eine eigene Budgetlinie im Finanzzeitraum 2014-2020 aus.

4.11.   Er plädiert insgesamt nachdrücklich für eine bessere und zielgerichtetere Finanzierung des Naturschutzes. Er hat bereits in seiner Stellungnahme zum Biodiversitätsaktionsplan darauf hingewiesen, dass

die Direktzahlungen an die Landwirte, die den überwiegenden Teil des Agrarhaushalts ausmachen, von ihrem Ansatz her nicht darauf ausgerichtet sind, die Biodiversität zu fördern, sondern die Landwirte auf die Herausforderungen der Weltmärkte vorzubereiten;

„solange die Weltmarktbedingungen eine flächendeckende naturschutzverträgliche Landwirtschaft eher behindern, … von der Politik besondere Anstrengungen unternommen werden (müssen)“, z.B. dahingehend, dass „die Beihilfesätze für die Agrarumweltmaßnahmen soweit erhöht werden, um alle EU-Landwirte für umweltfreundliche Produktionsverfahren zu gewinnen“  (5). Auch hier hinken die Taten den Ankündigungen hinterher.

4.12.   Die Kommission wird aufgefordert, im Hinblick auf die anstehende Reform der GAP und beim Budget hier endlich Klarheit zu schaffen. Agrarumweltprogramme können nur dann erfolgreich sein, wenn sie für die Landwirte auch wirtschaftliche Anreize bieten. Es war falsch, die Anreizkomponente zu streichen, dies muss revidiert werden. Die politische Botschaft an die Landwirte (und die Gesellschaft) muss sein: Es ist uns, der Gesellschaft, etwas wert, wenn die Landwirtschaft mehr für die Erhaltung der Biodiversität tut als gesetzlich vorgeschrieben!

4.13.   In den Mitgliedstaaten laufen derzeit erste Debatten um die Fortentwicklung der Agrarpolitik. Diese sind auch vor dem Hintergrund, mehr regenerative Energien und somit auch Bioenergien zu nutzen, relevant für die Biodiversität, und zwar national, europäisch und global. Die EU-Kommission stellt klar, dass „eine der Hauptherausforderungen … darin bestehen (wird) sicherzustellen, dass den Empfehlungen der Nachhaltigkeitsprüfungen (SIA) nachgekommen wird, und ein besseres Verständnis der Auswirkungen des EU-Verbrauchs an Lebensmitteln und Non-Food-Erzeugnissen (wie Fleisch, Sojabohnen, Palmöl, Metallerze) zu erlangen, die mit Wahrscheinlichkeit zum Verlust der Biodiversität beitragen. Dies könnte dazu führen, dass politische Optionen zur Verringerung dieser Auswirkungen geprüft werden“. Der EWSA fordert die Kommission auf, mit Nachdruck an entsprechenden Studien zu arbeiten.

4.14.   Die Reform der GAP nach 2013 wird somit zeigen, ob es gelingt, mehr Biodiversitätsschutz und Nachhaltigkeit in die Agrarpolitik zu bekommen.

Übergeordnete und wirtschaftliche Aspekte

4.15.   Der EWSA stellt fest, dass mit einem konsequenten Naturschutz gleichzeitig auch klimapolitische Zielsetzungen erreicht werden können. So stellen Schutz und Reaktivierung von Mooren und Feuchtbiotopen einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz dar. Gleiches gilt für die Grünlandnutzung in Europa, in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen (wie z.B. den Dehesas auf der iberischen Halbinsel). Allerdings sind viele der für die Aufrechterhaltung dieser Habitate notwendigen landwirtschaftlichen Nutzungen in den letzten Jahren für die Landwirte ökonomisch immer uninteressanter geworden. Biodiversität hat keinen Marktwert! Die Preise spiegeln nicht wider, wie naturverträglich ein Produkt hergestellt wurde. Die Politik der EU und der Mitgliedstaten hat hierauf bislang nicht adäquat reagiert.

4.16.   In Deutschland forderten z.B. 15 der 16 Bundesländer noch im Mai 2006, also just in dem Monat, in dem der Biodiversitätsaktionsplan der Kommission veröffentlicht wurde, eine Änderung, sprich eine Schwächung der Naturschutzrichtlinien der EU. Insbesondere das Bundesland Hessen interveniert weiter in diesem Sinne, u.a. mit dem (ökonomischen) Argument, kein Industriestaat könne sich so strenge Naturschutzauflagen leisten. Bei vielen Politikern ist folglich die ökonomische Bedeutung der Biodiversität noch nicht gegenwärtig.

4.17.   Es ist schon bemerkenswert, dass Gesellschaft und Politik fast gar nicht auf die Zahlen des TEEB-Berichts reagieren, wonach Wohlfahrtsverluste bis zu 6 % des globalen BIP durch den Biodiversitätsverlust eintreten können, während im Rahmen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise BIP-Rückgänge im weit geringeren Umfang Anlass für Krisengipfel und milliardenschwere Konjunkturprogramme geben. Eine der wichtigsten Aufgaben der Kommission wird darin bestehen, neben den ethisch-moralischen Werten auch die ökonomischen Werte der Biodiversität zu vermitteln und in praktische Politik umzumünzen.

4.18.   In den Mitgliedstaaten existiert nach wie vor ein enormer Druck auf die Biodiversität: immer mehr Flächen werden versiegelt, also entweder bebaut oder asphaltiert, was ein großes Naturschutzproblem ist. Dieser Flächenverbrauch ist nach wie vor viel zu hoch, der Nutzungsdruck auf die Landschaft nimmt stetig zu. Naturschutzbelange drohen an den Rand gedrängt zu werden.

Bewusstsein/Kommunikation

4.19.   Die Kommission führt unter dem Punkt E. 4 („Aufklärung, Sensibilisierung und Beteiligung der Öffentlichkeit“) aus, dass „sich nur eine Minderheit von EU-Bürgern in Fragen des Verlustes der biologischen Vielfalt für gut informiert“ hält. Gleiches dürfte für Politiker und Mitarbeiter von Verwaltungen gelten. Das ist die denkbar ungünstige Ausgangsvoraussetzung, um politisch erfolgreich sein zu können. Wenn die Kommission und die Mitgliedstaaten jetzt erwägen, „prioritär eine öffentliche Kommunikationskampagne durchzuführen, um nationale und sonstige Kampagnen zu unterstützen“, so kann sie hierbei auf die volle Unterstützung des EWSA bauen.

4.20.   Es gibt schon heute viele positive Initiativen zur Bewusstseinsbildung, auch in den Städten, wo die Menschen häufig weniger direkten Zugang zur Natur haben. Diese verdienen mehr öffentliche Unterstützung. Einmal jährlich wird beispielsweise in Berlin ein „Langer Tag der Stadtnatur“ durchgeführt, der mehrere 100 000 Menschen anspricht.

4.21.   Der Ausschuss hält es für wichtig, die Bürger möglichst konkret und direkt mit den Anliegen des Naturschutzes zu konfrontieren. So wäre es z.B. angebracht, vor Ort zu kommunizieren, wo — und warum — NATURA-2000-Gebiete ausgewiesen wurden, welche Arten dort vorkommen, wie sie geschützt werden können; und von wem. Die Menschen müssen Naturschutz im wahrsten Sinne des Wortes erfahren und begreifen. Allein den Begriff „Biodiversität“ versteht kaum jemand, und deshalb können viele Menschen damit nichts anfangen.

4.22.   EWSA regt an, den Erzeugern zur Verbraucherinformation die Möglichkeit zur Produktkennzeichnung zu eröffnen, wenn sie durch besondere Produktionsverfahren zu Gunsten des Naturschutzes hergestellt werden.

Unerlässlich ist die aktive Einbeziehung der Bürger in den Schutz der Umwelt und die Bewahrung der Biodiversität. Es ist nicht damit getan, dass die Kommission Kampagnen zur Förderung einer nachhaltigeren Lebensweise propagiert. Darüber hinaus sind Strategien zu konzipieren, durch die den Verbrauchern praktische Werkzeuge an die Hand gegeben werden, mit deren Hilfe sie die Auswirkungen ihres alltäglichen Handelns messen können, und dadurch den nötigen Wandel der Konsummuster herbeizuführen.

Beispiele für solche Maßnahmen wären:

Aufnahme von Unterrichtseinheiten mit praktischen Inhalten über Umweltschutz und Biodiversität in die Schullehrpläne;

Konzipierung von Instrumenten zur Messung der Auswirkungen des Konsums bestimmter Lebensmittel auf die Biodiversität (anhand eines Warenkorbs ausgewählter Alltagsprodukte und möglicher Alternativprodukte) auf der methodischen Grundlage der Lebenszyklusanalyse.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Flora-, Fauna-, Habitatrichtlinie).

(2)  http://ec.europa.eu/environment/nature/biodiversity/economics/pdf/teeb_report.pdf.

(3)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 6.

(4)  ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 6.

(5)  „Die Situation der Natur und des Naturschutzes in Europa“, ABl. C 221 vom 7.8.2001, S. 130-137.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie zur Internalisierung externer Kosten“

KOM(2008) 435 endg./2

(2009/C 317/14)

Berichterstatter: Jan SIMONS

Die Kommission beschloss am 8. Juli 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategie zur Internalisierung externer Kosten

KOM(2008) 435 endg./2

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 20. Mai 2009 an. Berichterstatter war Jan SIMONS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 133 gegen 6 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass die Kommission intensive Bemühungen unternommen hat, um bei allen Verkehrsträgern zu einer Internalisierung der externen Kosten zu gelangen. Der Ausschuss bringt angesichts des Schwierigkeitsgrads dieses Unterfangens seine Wertschätzung dieser Bemühungen zum Ausdruck, doch sind bei der praktischen Durchführung noch einige Hürden zu nehmen, wobei vor allem wichtig ist, dass die bestehende gesellschaftliche Akzeptanz nicht verloren geht.

1.2.   Die Internalisierung der externen Kosten soll zu einer Senkung der von jedem einzelnen der heutigen Verkehrsträger ausgehenden Verschmutzung und Belästigung führen.

1.3.   Der Ausschuss fordert die Kommission auf, von Anfang an dafür zu sorgen, dass Verkehrsunternehmer aus Drittstaaten bei der Internalisierung externer Kosten mit einbezogen werden müssen, um eine Besserstellung zu verhindern.

1.4.   Der jetzige Zustand, dass die externen Kosten den einzelnen Verkehrsträgern und –nutzern nicht angelastet werden, führt zu einem Wettbewerbsvorteil jener Verkehrsträger, die hohe gesellschaftliche Kosten verursachen. Die Internalisierung externer Kosten könnte im Rahmen ihrer Einflussmöglichkeiten einen gesunden Wettbewerb garantieren. Im Umkehrschluss heißt das: mit der Internalisierung werden diese Wettbewerbsverzerrungen aufgehoben, was eine Verlagerung hin zu umweltfreundlicheren Verkehrsträgern bedeuten würde. Der Ausschuss hält es für wichtig, diesen Grundsatz viel stärker zu kommunizieren, denn damit könnten auch Veränderungen in der Bediener- und Nutzerstruktur des Verkehrsbereichs verbunden sein.

Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass auf Gemeinschaftsebene ein Rahmen geschaffen werden muss. Nach Auffassung des Ausschusses darf sich kein Mitgliedstaat diesem Rahmen entziehen.

1.5.1.   Nach Ansicht des Ausschusses müssen in diesen Rahmen einige Voraussetzungen, wie etwa die mit dem Lebensstandard zu vereinbarende Gebührenhöhe mit einer umfassenden geografischen und nicht an Staatsgrenzen gebundenen Differenzierung nach Ort und Zeit, aufgenommen werden, die die in Rechnung zu stellenden Kosten für die Neutralisierung der externen Kosten innerhalb einer gewissen Spannbreite erfüllen müssen.

1.5.2.   Die zur Gebührenerhebung befugten Autoritäten, z.B. ein Mitgliedstaat oder eine lokale oder regionale Gebietskörperschaft, müssen dann, innerhalb der oben erwähnten Spannbreite, mit ihrer genauen Kenntnis der Gegebenheiten für die weitere Feinabstimmung des Gebührensatzes Sorge tragen.

1.6.   Der Ausschuss hält es daher für dringend erforderlich, dass die Kommission selbst in der aktuellen Krise so rasch wie möglich konkrete Vorschläge für einen europäischen Rahmen für eine Internalisierung der externen Kosten für alle Verkehrsträger vorlegt, dessen weitere Ausarbeitung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission gemeinsam vorgesehen ist. Diese Vorschläge müssen sich selbstverständlich auf die Akzeptanz durch die Zivilgesellschaft stützen können, ökologischen Überlegungen Rechnung tragen. Die zu leistenden Zahlungen oder Abgaben müssen im Verhältnis zur Nutzung stehen und nicht mit dem Besitz von Verkehrsmitteln verknüpft sein.

1.7.   Falls die Anlastung externer Kosten praktisch durchgeführt wird, sollten die Einnahmen hieraus nach Auffassung des Ausschusses unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Haushaltsvorschriften in Maßnahmen fließen, die zur Folge haben, dass die externen Effekte der Verkehrsträger, wie etwa direkt hiermit verbundene Umwelt- oder Gesundheitsschäden, verringert werden, und dies vorzugsweise an der Quelle.

2.   Einleitung

2.1.   Die Thematik der Internalisierung externer Kosten ist nicht neu. Die britischen Ökonomen Arthur Cecil Pigou und Ronald Coase stellten 1924 bzw. 1960 Theorien auf, wie die Kosten positiver und negativer externer Effekte über eine Bepreisung in den Marktmechanismus aufgenommen werden könnten. Pigou über Subventionen und Gebühren, Coase über handelbare Eigentumsrechte, jedoch unter strengen Bedingungen (keine bzw. fast keine Transaktionskosten, messbare Schäden und eine begrenzte Zahl betroffener Parteien).

2.2.   Auch im Verkehr - der über die Verkehrsinfrastruktur gelenkten Bewegung von Beförderungsmitteln - kommen externe Effekte vor. Dort, wo viele Akteure tätig sind, z.B. im Binnenverkehr, sollte der Pigou'sche Ansatz vorgezogen werden, vor allem, wenn eine auf die Grenzkosten abgestimmte effiziente Kostenverteilung stattfindet.

2.3.   Im EWG-Zusammenhang kam das Thema bereits Ende der 1960er Jahre zur Sprache, doch konnte der damalige Kenntnisstand noch keine Anhaltspunkte dafür geben, wie wirksam die Effekte in der Praxis gemessen und bepreist werden können müssten. Das Ziel bestand damals darin, die vermeintlich ungleichen Wettbewerbsbedingungen für die Verkehrsträger zurechtzurücken.

2.4.   Hierbei blieb es jedoch nicht. Zu verweisen ist hier auf das Grünbuch „Faire und effiziente Preise im Verkehr“ aus dem Jahr 1995, auf das Weißbuch „Ein abgestuftes Konzept für einen Gemeinschaftsrahmen für Verkehrsinfrastrukturgebühren in der EU“ aus dem Jahr 1998, auf das Weißbuch zur europäischen Verkehrspolitik bis 2010 aus dem Jahr 2001 und die Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch aus dem Jahr 2006.

2.5.   2006 wurde die Kommission aufgefordert (1), nach Prüfung aller Optionen einschließlich der Umwelt-, Lärm-, Stau- und Gesundheitskosten bis spätestens 10. Juni 2008 ein allgemein anwendbares, transparentes und nachvollziehbares Modell zur Bewertung der externen Kosten für alle Verkehrsträger vorzulegen. Dieses Modell sollte künftigen Berechnungen von Infrastrukturgebühren zugrunde gelegt werden. Dieses Modell wird durch eine Analyse der Auswirkungen der Internalisierung externer Kosten für alle Verkehrsträger und einer Strategie zur schrittweisen Umsetzung dieses Modells für alle Verkehrsträger begleitet.

2.6.   Das Ziel besteht darin, die externen Kosten für alle Verkehrsträger zu internalisieren, um so ein zutreffendes Preisniveau festzulegen, damit die Nutzer die realen Kosten, die sie verursachen, tragen. Mit dieser Erkenntnis wären sich die Nutzer viel stärker der Folgen ihres Handelns bewusst, was zur Folge hätte, dass sie ihr Verhalten anpassen können, um so die externen Kosten zu senken.

2.7.   Der Ausschuss hat die Frage der Internalisierung externer Kosten in der Vergangenheit schon in einigen seiner Stellungnahmen berücksichtigt. In der Stellungnahme aus dem Jahr 1996 weist er auf Folgendes hin: „Die unvollständige Anrechnung unterschiedlicher Wegekosten und externer Kosten für die einzelnen Verkehrsträger kann die Wettbewerbsverhältnisse verfälschen.“ In seiner Stellungnahme zu dem Weißbuch aus dem Jahr 2001 merkt er an, dass er sich der Auffassung anschließt, dass „die Maßnahmen der Gemeinschaft darauf abzielen müssen, die derzeit dem Verkehrssystem auferlegten Steuern schrittweise durch Instrumente zu ersetzen, die die Infrastrukturkosten und die externen Kosten am wirksamsten internalisieren“.

2.8.   In seiner Stellungnahme zur Halbzeitbilanz des Verkehrsweißbuchs aus 2001 schließt sich der Ausschuss dem geänderten Ansatz der Kommission an, von einer Politik der forcierten Verkehrsverlagerung zur so genannten „Ko-Modalität“ überzugehen (2). Bei diesem Ansatz soll jeder Verkehrsträger für sich optimiert werden, indem er wettbewerbsfähiger, nachhaltiger, sozialer, rentabler, umweltfreundlicher und sicherer wird, wodurch auch mehr und bessere Kombinationen zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern entstehen.

2.9.   Vor diesem Hintergrund hält es der Ausschuss für sinnvoll, dass jeder Verkehrsträger (3) seine gesamten Kosten trägt.

2.10.   Auch zum Thema nachhaltige Mobilität in der Stadt hat der Ausschuss verschiedene Stellungnahmen vorgelegt, u.a. zu dem „Grünbuch: Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“ (4) und eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Energiemix im Verkehrsbereich“ (5). Eine zusätzliche Dimension wird nach Auffassung des Ausschusses hinzugefügt. Aus dem Nutzerprinzip wird das Nutzer- bzw. Verursacherprinzip.

2.11.   Die Essenz der hier vorgeschlagenen Strategie ist, dass das Prinzip der sozialen Grenzkosten als allgemeiner Grundsatz für die Internalisierung externer Kosten herangezogen wird.

2.12.   Nach diesem Ansatz müssten die Preise im Verkehrssektor so angesetzt werden, dass sie die durch einen zusätzlichen Nutzer der Infrastrukturen verursachten zusätzlichen Kosten decken. Im Prinzip müssten diese zusätzlichen Kosten die Kosten der Nutzer und der externen Kosten decken und zu einer effizienteren Nutzung der Infrastruktur führen und eine direkte Relation zwischen dem Einsatz öffentlicher Mittel und Verkehrsleistungen schaffen. Damit müsste die Anlastung der sozialen Grenzkosten zu einer effizienten Nutzung der bestehenden Infrastruktur führen (6).

2.13.   Nach Auffassung des Ausschusses könnte die Internalisierung der externen Kosten soziale Auswirkungen haben. Daher müssen die Sozialpartner so früh wie möglich in die Beratungen einbezogen werden, um zu vereinbaren, wie die Umsetzung in den Sektoren erfolgen soll.

3.   Zusammenfassung der Kommissionsmitteilung und der Schlussfolgerungen des Rates

3.1.   Mit dem Paket für einen umweltfreundlicheren Verkehr mit einer allgemeinen Mitteilung, einem Vorschlag zur Änderung der „Eurovignette“-Richtlinie, einer Mitteilung zu Lärmschutzmaßnahmen am aktuellen Schienenfahrzeugbestand und einer strategischen Mitteilung bezweckt die Kommission, die externen Kosten (CO2, Luftverschmutzung, Lärm und Stau) in den Preis für den Transport zu integrieren, damit die Nutzer die realen, durch sie verursachten Kosten tragen.

3.2.   Ergänzende Maßnahmen bleiben auch weiterhin erforderlich, so etwa an der Quelle ansetzende Maßnahmen, binnenmarktspezifische Maßnahmen und die Förderung technischer Innovationen. Die Einnahmen müssen in die Verringerung der externen Kosten investiert werden, z.B. durch Investitionen in Forschung und Innovation, umweltfreundliche Infrastruktur und in den Ausbau des ÖPNV. 2013 sollte eine Evaluierung vorgenommen werden.

3.3.   Der Rat gab in den Schlussfolgerungen seines Treffens vom 8./9. Dezember 2008 bereits an, dass im Hinblick auf alle Verkehrsträger ein schrittweiser, gerechter, effizienter und ausgewogener sowie technologieneutraler Ansatz verfolgt werden müsse. Die Kommission hat das Jahr 2013 als Termin für die Evaluierung der Durchführung der Strategie vorgeschlagen. Der Rat stellt ferner fest, dass es für die Erlangung der Unterstützung der Öffentlichkeit für die Internalisierung der externen Kosten unerlässlich ist, dass an diesen Grundsätzen festgehalten wird.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.   Der Ausschuss erkennt an, dass die Kommission seit 2006 tätig gewesen ist. Im Anschluss an eine öffentliche Konsultation und Workshops mit Stakeholdern wurde ein Vorschlag für einen gemeinschaftlichen Rahmen für die Internalisierung externer Kosten vorgelegt, eine Folgenabschätzung vorgenommen und eine Strategie ausgearbeitet, um die externen Kosten für jeden Verkehrsträger schrittweise zu internalisieren.

4.2.   Kurz gesagt: Die Kommission hat in relativ kurzer Zeit für ein sicher nicht einfach zu nennendes Dossier wie die Internalisierung externer Kosten viel geleistet. Der Ausschuss hält das Arbeitsdokument der Kommission, SEK(2008) 2209, SEK(2008) 2208 und SEK(2008) 2207, mit Ausnahme der gezogenen Schlussfolgerungen, für sehr fundiert. Leider wurde hieraus nicht mehr in die offizielle Mitteilung der Kommission übernommen, was vor allem für die sich aus der Analyse ergebenden optimalen Lösungen gilt. Nach Auffassung des Ausschusses wäre es wert zu prüfen, ob die Grunddaten aus dem Handbuch zur Abschätzung der externen Kosten im Transportsektor (Handbook on estimation of external cost in the transport sector) auf eine noch solidere Grundlage gestellt werden könnten.

4.3.   Kommission und Rat erachten die Wahrung der bereits vorhandenen Akzeptanz in der Gesellschaft im Allgemeinen, insbesondere aber bei den Verkehrsträgern, für ein objektives, allgemein anwendbares, transparentes und durchschaubares System für wesentlich wichtig.

4.4.   Diesbezüglich müssen nach Auffassung des Ausschusses einige wichtige Voraussetzungen berücksichtigt werden, wie etwa die technologische Entwicklung, soziale Folgen durch die Einführung des Systems, die Folgen für Inselgebiete, nicht ans Meer angrenzende und periphere Regionen der Gemeinschaft, die Investitionshöhe in dem Sektor und der Beitrag zu den Zielen einer nachhaltigen Verkehrspolitik.

4.5.   Der Ausschuss stimmt mit der Kommission überein, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, dass die Einnahmen aus der Internalisierung der externen Kosten wieder Maßnahmen zugute kommen, die zur Förderung eines dauerhaften Funktionierens und im Sinne der Kombination und Optimierung von Verkehrsträgern vorzugsweise bei den Verkehrsträgern dort, wo die Auswirkungen auf die Bekämpfung von Verschmutzung, Lärm und Stau am größten sind, ergriffen werden sollten.

4.6.   Die Einnahmen sollten dafür eingesetzt werden, die unerwünschten externen Effekte zu vermeiden bzw. zu beheben, wie etwa Maßnahmen, die an der Quelle ansetzen, oder z.B. die eindeutig direkt verbundenen Gesundheitskosten oder CO2-Senken.

4.7.   Der Ausschuss hält es ferner für erforderlich, dass die einzelnen Bestandteile der externen Kosten für jeden Verkehrsträger bekannt und anerkannt sind.

4.8.   Im Straßenverkehr sollten z.B. die durch Staubildung verursachten Kosten proportional und gerecht sowohl dem Güter- als auch dem Personenverkehr angelastet werden.

4.9.   Der Ausschuss würde sich vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Entwicklung der Verkehrsträger mehr Aufmerksamkeit für die Beachtung sozialer Aspekte in den Debatten über die Internalisierung externer Kosten wünschen.

4.10.   Ferner möchte der Ausschuss betonen, dass sich die Internalisierung der externen Kosten nicht auf die Einkünfte der Arbeitnehmer auswirken darf, sondern dass die Kosten von den Nutzern des jeweiligen Verkehrsträgers zu tragen sind.

4.11.   Dem Ansatz der Kommission, alle externen Kosten zu internalisieren, kann sich der Ausschuss also grundlegend anschließen (7). Der gewünschte Effekt wird jedoch erst dann erzielt, wenn diese Philosophie überall dort, wo externe Kosten vorkommen, in gleichem Maße angewandt wird.

4.12.   Der jetzige Zustand, dass die externen Kosten den einzelnen Verkehrsträgern und –nutzern nicht angelastet werden, führt zu einem Wettbewerbsvorteil jener Verkehrsträger, die hohe gesellschaftliche Kosten verursachen. Die Internalisierung externer Kosten könnte im Rahmen ihrer Einflussmöglichkeiten einen gesunden Wettbewerb garantieren. Im Umkehrschluss heißt das: mit der Internalisierung werden diese Wettbewerbsverzerrungen aufgehoben, was eine Verlagerung hin zu umweltfreundlicheren Verkehrsträgern bedeuten würde. Der Ausschuss hält es für wichtig, diesen Grundsatz viel stärker zu kommunizieren, denn damit könnten auch Veränderungen in der Bediener- und Nutzerstruktur des Verkehrsbereichs verbunden sein.

Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass auf Gemeinschaftsebene ein Rahmen geschaffen werden muss.

4.13.1.   Nach Auffassung des Ausschusses müssten in diesen Rahmen jedoch einige Voraussetzungen aufgenommen werden, die die in Rechnung zu stellenden Kosten für die Neutralisierung der externen Kosten innerhalb einer gewissen Spannbreite erfüllen müssen. Hierbei ist an diverse Arten externer Kosten zu denken, die mit dem Lebensstandard zu vereinbarende Gebührenhöhe mit einer umfassenden geografischen und nicht an Staatsgrenzen gebundenen Differenzierung nach Ort und Zeit.

4.13.2.   Die zur Gebührenerhebung befugten Autoritäten, z.B. ein Mitgliedstaat oder eine lokale oder regionale Gebietskörperschaft, müssen dann, innerhalb der oben erwähnten Spannbreite, mit ihrer genauen Kenntnis der Gegebenheiten für die weitere Feinabstimmung des Gebührensatzes Sorge tragen, wobei die Unterschiede beim Lebensstandard zwischen verschiedenen Gebieten zu berücksichtigen sind.

Beim See- und Luftverkehr ist bei der Internalisierung externer Kosten der Tatsache des weltweiten Wettbewerbs, dem diese Verkehrsträger ausgesetzt sind, Rechnung zu tragen.

4.13.3.1.   Bei den innerhalb Europas tätigen „klassischen“ Binnenverkehrsträgern - Straße, Schiene und Binnenschifffahrt - müsste unter Wettbewerbsgesichtspunkten gleichmäßig mit derselben Strategie und Vorgehensweise vorgegangen werden, was jedoch selbstverständlich je nach den Merkmalen des Verkehrsträgers unterschiedliche Ergebnisse zur Folge haben könnte.

4.13.3.2.   Eine solche Internalisierung steht mit dem verkehrspolitischen Ansatz der Ko-Modalität sowie mit der Wettbewerbspolitik im Einklang und bringt „1992“ (!) bzw. die Vollendung eines Binnenmarkts ohne Ländergrenzen einen Schritt näher.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Zu Recht verweist die Kommission bei der Binnenschifffahrt auf die Mannheimer Akte als Rechtsrahmen, der zu berücksichtigen ist. Die Mannheimer Akte gilt für den Rhein, einschließlich des Schweizer Teils und seiner Nebenflüsse. Sie ist älter als die Verträge der Union und hat, da es hier auch um einen Drittstaat geht, damit Vorrang (8). Sie untersagt Gebühren, die die Fahrt (hier den Verkehr) betreffen.

5.2.   Vor dem Hintergrund der schweren weltweiten Krise und andererseits aus Sympathie mit der Idee der Internalisierung der externen Kosten, bei der es vor allem um Umweltaspekte geht, hofft der Ausschuss, dass man sich nicht entmutigen lässt.

5.3.   Ganz im Gegenteil: Er hofft, dass noch während der Krise positive Maßnahmen ergriffen werden und der Rahmen für die Internalisierung der externen Kosten entwickelt und ausgefüllt wird, wie in Ziffer 4.13.1 beschrieben. Dem Ausschuss zufolge erfordert dies eine enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Wirtschaft.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Artikel 11 der Richtlinie 2006/38/EG.

(2)  Siehe Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch.

(3)  Jeder Verkehrsträger, der den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften unterliegt, so etwa keine Militärfahrzeuge o.Ä.

(4)  ABl. C 224 vom 30.8.2009, S. 39.

(5)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 52.

(6)  Grundlage: Mitteilung der Kommission KOM(2008) 435 endg. „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategie zur Internalisierung externer Kosten“.

(7)  Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass „rollendes, fahrendes oder fliegendes Kulturerbe“ – also historische Fahrzeuge – ausgenommen werden sollte.

(8)  Artikel 307 des EG-Vertrags.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über den Nutzen der Telemedizin für Patienten, Gesundheitssysteme und die Gesellschaft“

KOM(2008) 689 endg.

(2009/C 317/15)

Berichterstatter: Lucien BOUIS

Die Europäische Kommission beschloss am 4. November 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über den Nutzen der Telemedizin für Patienten, Gesundheitssysteme und die Gesellschaft

KOM(2008) 689 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Lucien BOUIS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 160 Ja-Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Bemerkungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt mit Interesse die Kommissionsmitteilung zur Kenntnis, mit der die Mitgliedstaaten zur Aufnahme der Telemedizin in ihre Gesundheitspolitik angehalten und dabei unterstützt werden sollen.

1.2.   Die Europäische Kommission beabsichtigt, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip Vertrauen in die Telemedizin zu schaffen und deren Akzeptanz sicherzustellen, für mehr Rechtsklarheit in diesem Bereich zu sorgen, die technischen Probleme zu lösen sowie die Marktentwicklung zu erleichtern. Die Mitgliedstaaten sind nach wie vor für ihre Gesundheitspolitik und die Entwicklung der Telemedizin entsprechend ihrer Investitionskapazitäten verantwortlich.

1.3.   Es gilt, die Gesundheitsbehörden, die Angehörigen der Gesundheitsberufe und die Patienten besser zu informieren und sie konsequent und schlüssig über das Kosten-Nutzen-Verhältnis aufzuklären.

1.4.   Der Ausschuss wird aufmerksam verfolgen, ob die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auch wirklich eine sichere Anwendung, ergonomische Verbesserungen sowie eine Senkung der Anschaffungs- und Nutzungskosten garantieren. Er nimmt das Vorhaben der Europäischen Kommission zur Kenntnis, ein großmaßstäbliches Pilotprojekt zum Telemonitoring zu unterstützen.

1.5.   Die Telemedizin kann sich nur schwer durchsetzen, obwohl sie unter bestimmten, klar festgelegten Bedingungen ein Faktor zur Verbesserung der Gesundheitssysteme zum Nutzen der Patienten, der Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Sozialversicherungen ist. Daher ist der Ausschuss der Auffassung, dass eine Definition der Anwendungsbereiche und die Schaffung einer soliden Rechtsgrundlage für die Telemedizin erforderlich sind.

1.6.   Der Ausschuss erachtet es als zweckdienlich, eine vereinfachte Definition der medizinischen Handlungen zu wählen, die in den Bereich der Telemedizin fallen, um die Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten und die Patientensicherheit auf höchstmöglichem Niveau sicherzustellen.

1.7.   Der Ausschuss begrüßt die Absicht, 2009 eine europäische Plattform für die Mitgliedstaaten einzurichten, über die sie Informationen über geltende nationale Rechtsvorschriften für die Telemedizin austauschen können.

1.8.   Bei einer medizinischen Handlung, in der die Telemedizin als ergänzendes Verfahren zum Einsatz kommt, müssen einerseits die für jedwede medizinische Handlung geltenden Rechte und Verpflichtungen und andererseits auch die mit den besonderen Wesensmerkmalen der Telemedizin verbundenen Verpflichtungen eingehalten werden, beispielsweise die Bereitstellung von Informationen über die technischen Datenübertragungsmittel und die Sicherung der Daten.

1.9.   Der Ausschuss unterstreicht, dass der Zugang zum Breitbandnetz (1) in gleichem Umfang in allen Mitgliedstaaten und die volle Anschlussfähigkeit Grundvoraussetzungen für die Entwicklung der Telemedizin sind. Die digitale Erschließung insbesondere der ländlichen Gebiete und der Regionen in äußerster Randlage muss vorangebracht werden, um allen Bürgern gleichen Zugang zu den Gesundheitsdiensten zu gewähren.

1.10.   Der Ausschuss unterstützt die Europäische Kommission in ihrem Vorhaben, ausgehend von bestehenden oder neuen Normen ein politisches Strategiepapier auszuarbeiten, um die Interoperabilität, Qualität und Sicherheit der Systeme zu gewährleisten.

1.11.   Nach Meinung des Ausschusses muss neben dem Austausch über die technischen und organisatorischen Aspekte der Telemedizin auch ein Austausch über klinisch erprobte telemedizinische Verfahren entwickelt werden.

1.12.   Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag, in den kommenden Jahren auf drei Ebenen Maßnahmen durchzuführen.

1.13.   Auf Ebene der Mitgliedstaaten muss der Klassifizierung der medizinischen Handlungen, ihrer Kosten und der Kostenerstattung für diese Handlungen besonderes Augenmerk gewidmet werden.

1.14.   Außerdem sollten auf Ebene der Mitgliedstaaten, denen Finanzhilfen der EU gewährt werden, Steuerungs- und Bewertungsmechanismen für die technischen Aspekte und die Effizienz der Telemedizin konzipiert werden.

1.15.   In Bezug auf die von der Europäischen Kommission durchzuführenden Maßnahmen ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Europäische Kommission Informations- und Schulungsprogramme im Hinblick auf die Nutzung dieser neuen Technologien sowohl für die Angehörigen der Gesundheitsberufe wie auch die Bürger ganz allgemein fördern sollte, um die Bedenken der Anwender auszuräumen und ihr Vertrauen zu stärken.

1.16.   Der Ausschuss bedauert, dass der Frage der ärztlichen Ausbildung kein besonderer Stellenwert eingeräumt wurde. Ein strukturiertes Projekt für die ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung ist unerlässlich. Ziel darf jedoch nicht die Ausbildung von reinen „Telemedizinern“ sein, sondern die Schulung der gesamten Ärzteschaft in Telemedizin.

1.17.   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die in der Kommissionsmitteilung empfohlenen Maßnahmen konsequent umzusetzen sowie den Zeitplan für ihre Durchführung strikt einzuhalten.

1.18.   Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Vertretungsorganisationen der Patienten, Verbraucher und Angehörigen der Gesundheitsberufe in die Festlegung der Modalitäten für die Entwicklung dieser neuen Technologien eingebunden werden müssen. Seiner Meinung nach wäre es wichtig, dass er selbst an der Bewertung der bei der Verwirklichung der Maßnahmen erzielten Fortschritte teilhat.

1.19.   Die Entwicklung der Telemedizin zum Vorteil der Patienten, der Sozialversicherungssysteme und der Bürger ganz allgemein muss im Rahmen der allgemeinen Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme und -politiken erfolgen.

2.   Zusammenfassung der Mitteilung

2.1.   Hintergrund

2.1.1.   Die Telemedizin (2), d.h. die Erbringung von medizinischen Diensten über größere Entfernungen hinweg, kann dazu beitragen, die Lebensqualität der Patienten wie auch der Angehörigen von Gesundheitsberufen zu verbessern und die sich in den Gesundheitssystemen stellenden Probleme zu lösen (Überalterung der Bevölkerung, Entwicklung chronischer Krankheiten, häusliche Pflege, isolierte oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Patienten, medizinische Demografie, keine flächendeckende medizinische Versorgung usw.).

2.1.2.   Über eine bessere Patientenversorgung und eine höhere Effizienz im Gesundheitswesen hinaus kann die Telemedizin angesichts der Dynamik dieses Wirtschaftssektors (in dem vor allem KMU tätig sind) auch einen Beitrag zur Wirtschaft der EU leisten. Die Telemedizin wird jedoch nur wenig in Anspruch genommen und der Markt ist nach wie vor fragmentiert.

2.2.   Das Konzept der Europäischen Kommission

2.2.1.   Die Kommission möchte die Mitgliedstaaten zur Aufnahme der Telemedizin in ihre Gesundheitspolitik anhalten; sie listet zu diesem Zweck die Hindernisse für den breiten Einsatz der Telemedizin auf, bietet Unterstützung für deren Abbau an und zeigt auf, wie das Interesse an diesen Diensten geweckt und ihre Akzeptanz bei Ärzten wie Patienten erhöht werden kann.

2.2.2.   Da es - ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips - nach wie vor bei den Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten liegt, die die Hauptverantwortung für die Organisation, Finanzierung und Erbringung von Gesundheitsdiensten tragen, die Telemedizin für die europäischen Patienten Wirklichkeit werden zu lassen, legt die Europäische Kommission Maßnahmen fest, die sie selbst, die Mitgliedstaaten und die Interessenträger durchführen müssen.

Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der Ausschuss nimmt das von der Kommissionsmitteilung abgedeckte Spektrum zur Kenntnis, möchte jedoch darauf hinweisen, dass auch die Digitalisierung der Patientenakte und der enge Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Telemedizin wichtig sind.

Der Ausschuss spricht sich für den Ausbau der Telemedizin aus, bei dem es vor allem darum geht, allen Bürgern gleichen Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten zu gewähren. Er betont die absehbaren Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und die Arbeitsweise der Angehörigen der Gesundheitsberufe und hält es für erforderlich, in Bezug auf die mit der Vermarktlichung verbundenen Risiken besondere Vorsicht walten zu lassen.

3.2.1.   Der Ausbau der Telemedizin ist zwar ein Impulsgeber für die Verallgemeinerung der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und die Vernetzung der Gesundheitsversorgungsdienste und trägt zur Verbesserung der Qualität und der Verfügbarkeit der Gesundheitsdienste bei, doch müssen im Vorfeld und im Zuge dieser Änderungen auch die Organisation, die Rangfolge und die Verteilung der Aufgaben sowie die Protokollierung der telemedizinischen Praktiken geklärt werden.

Der Ausschuss begrüßt die drei vorgeschlagenen Handlungsebenen und bringt diesbezüglich einige Anmerkungen vor.

3.3.1.   Schaffung von Vertrauen in die Dienste der Telemedizin und Aufbau von Akzeptanz

3.3.1.1.   Es gilt, die Gesundheitsbehörden, die Angehörigen der Gesundheitsberufe und die Patienten sowie deren Vertretungsorganisationen durch die Einrichtung von Diskussionsforen besser zu informieren und in diesem Zusammenhang erfolgreiche Anwendungen der Telemedizin hervorzuheben. Dazu bedarf es aussagekräftiger Informationen über das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Der Ausbau und die Tragfähigkeit der Telemedizin hängen von der Höhe der Kostenerstattung und der Patientenzuzahlung für telemedizinische Leistungen ab.

3.3.1.2.   Der Ausschuss betont, dass die in diesem Sektor tätigen KMU nicht über ausreichende Finanzkapazitäten für Forschung und Entwicklung verfügen. Der Beitrag des öffentlichen Sektors sowie öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) sind daher eine Möglichkeit zur flächendeckenden Verbreitung von Telemonitoring. In Bezug auf die Ausrüstung wird der Ausschuss aufmerksam verfolgen, ob ihre Weiterentwicklung auch wirklich eine sichere Anwendung, ergonomische Verbesserungen sowie eine Senkung der Anschaffungs- und Nutzungskosten garantiert. Die Entwicklung kann nicht nur Sache der Unternehmen sein.

3.3.1.3.   Der Ausschuss unterstreicht, dass der breite Einsatz der Telemedizin und insbesondere des Telemonitorings vor allem aufgrund der veränderten Beziehung zwischen Arzt und Patient neue ethische Fragen aufwirft, und erachtet es daher als unerlässlich, patientenfreundliche Leitlinien für diese Beziehung aufzustellen, um dem Wunsch nach menschlichem Kontakt sowie verständlichen, genauen und ermutigenden Erklärungen gerecht zu werden und so die Akzeptanz dieser Techniken sicherzustellen, die keinesfalls an die Stelle des menschlichen Kontakts treten können.

3.3.1.4.   Der Ausschuss betont, dass die Nutzung dieser Technik demokratisiert werden muss, damit die Patienten auch weiterhin die Kontrolle über ihr Leben und ihre Entscheidungen behalten.

3.3.1.5.   Außerdem muss das medizinische Personal, das per Telefon oder Bildschirm mit den Patienten kommuniziert, psychologisch geschult werden, um die Entfernung und das Fehlen physischer Anwesenheit, auf der das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patienten bisher beruhte, menschlich zu überbrücken.

3.3.1.6.   Der Ausschuss nimmt mit Interesse das Vorhaben der Europäischen Kommission zur Kenntnis, über ihr Programm „Wettbewerbsfähigkeit und Innovation“ ein großmaßstäbliches Pilotprojekt zum Telemonitoring zu unterstützen, und hebt hervor, dass die Mitgliedstaaten ihre Erfordernisse und Prioritäten im Bereich der Telemedizin bis Ende 2009 bewerten müssen.

3.3.1.7.   Der Ausschuss heißt die Finanzierung von Programmen wie „Umgebungsunterstütztes Leben (AAL)“ (3) gut, die gemäß Artikel 169 EG-Vertrag durchgeführt werden, und ermutigt die Mitgliedstaaten, an derartigen Initiativen teilzunehmen.

3.3.2.   Erhöhung der Rechtsklarheit

3.3.2.1.   Die Telemedizin kann sich nur schwer durchsetzen, obwohl sie unter einigen klar festgelegten Bedingungen ein Faktor zur Verbesserung der Gesundheitssysteme zum Nutzen der Patienten, der Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Sozialversicherungen ist, da sie aufgrund der Schnelligkeit der Kommunikation ein wirksames Mittel zur Optimierung der Behandlungsqualität ist und zu einem effizienteren Zeitmanagement für die Angehörigen der Gesundheitsberufe beiträgt. Daher ist der Ausschuss der Auffassung, dass eine Definition der Anwendungsbereiche und die Schaffung einer ausreichenden Rechtsgrundlage für die Telemedizin erforderlich sind.

3.3.2.2.   Der Ausschuss erachtet es als zweckdienlich, eine vereinfachte Definition der medizinischen Handlungen zu wählen, die in den Bereich der Telemedizin fallen:

Televisite: medizinische Handlung im Kontakt mit dem Patienten, der über eine Entfernung mit dem Arzt kommuniziert. Aus der Diagnose kann sich die Verordnung einer Behandlung oder von Medikamenten ergeben.

Telekonsil: Diagnose und/oder Therapiewahl ohne physische Anwesenheit des Patienten. Es handelt sich um einen Austausch zwischen mehreren Ärzten, die ihre Diagnose auf der Grundlage der in der Patientenakte enthaltenen Daten stellen.

Teleassistenz: Handlung zur fernmedizinischen Unterstützung eines Arztes seitens eines Facharztes bei der Durchführung einer medizinischen oder chirurgischen Handlung. Unter diese telemedizinische fachliche Beratung fällt ebenfalls die Unterstützung von Rettungskräften bei Einsätzen.

Es gilt, die Rechtsklarheit in Bezug auf die Durchführung dieser Handlungen zu erhöhen, die Datensicherheitssysteme zu verbessern und die Patientensicherheit bei der Datenerfassung, -speicherung und -verarbeitung auf höchstmöglichem Niveau sicherzustellen.

3.3.2.3.   Die Festlegung der medizinischen Handlungen und ihrer Auswirkungen in rechtlicher und juristischer Hinsicht sowie in Bezug auf die Kostenerstattung sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Empfänger von medizinischen Leistungen die Möglichkeit haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat behandeln zu lassen, unabhängig davon, wie die Dienstleistung erbracht wird, was also auch die Telemedizin (4) mit einschließt.

3.3.2.4.   Der Ausschuss bekräftigt seine Forderung nach der Festlegung von Beschwerdemechanismen und Rechtsmitteln bei einer Schädigung sowie klarer Modalitäten für die Streitbeilegung, auch auf grenzüberschreitender Ebene; in diesem Zusammenhang muss allgemein ein System der Pflichtversicherung für alle Angehörigen der Gesundheitsberufe eingerichtet werden.

3.3.2.5.   Der Ausschuss begrüßt die Absicht der Europäischen Kommission, 2009 eine europäische Plattform für die Mitgliedstaaten einzurichten, über die sie Informationen über geltende nationale Rechtsvorschriften für die Telemedizin und Vorschläge für deren Überarbeitung austauschen können.

3.3.2.6.   Nach Meinung des Ausschusses kann und darf die Telemedizin die medizinische Handlung nicht ersetzen, sie ist ein ergänzendes Verfahren, das angesichts der fehlenden klinischen Untersuchungsmöglichkeiten Grenzen hat. Die für jedwede medizinische Handlung geltenden Rechte und Verpflichtungen finden auch auf die Telemedizin Anwendung. Außerdem muss folgenden Aspekten besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden:

Es müssen klare Informationen über die Kompetenz des behandelnden Arztes erteilt werden;

ungeachtet seines Alters, seiner finanziellen Situation oder seines Krankheitsbildes muss der Patient von den aktuellsten medizinischen Erkenntnissen profitieren können;

der Patient muss über die Zweckmäßigkeit und die Tragweite der medizinischen Handlung sowie die eingesetzten Mittel unterrichtet werden;

der Patient muss seine Einwilligung aus freien Stücken geben;

die ärztliche Schweigepflicht muss gewährleistet sein;

die per Telemedizin erfolgte ärztliche Verschreibung muss anerkannt werden;

die Fragen und Antworten des Arztes müssen für den Patienten verständlich sein;

die erstellten Dokumente müssen gespeichert und in der Patientenakte abgelegt werden;

die Kontinuität der Gesundheitsversorgung muss sichergestellt sein;

die telemedizinische Behandlung muss der entsprechenden herkömmlichen Behandlung qualitativ mindestens ebenbürtig sein;

das Fehlen klinischer Untersuchungen darf nicht durch eine Vervielfachung radiologischer oder biologischer Untersuchungen kompensiert werden;

die Vertraulichkeit der Daten in Bezug auf die technischen Bedingungen der Datenübertragung und bei ihrer Bearbeitung durch die Angehörigen der Gesundheitsberufe muss voll gewährleistet sein.

Im Besonderen müssen bei der Durchführung einer telemedizinischen Handlung auch Informationen über die technischen Datenübertragungsmittel bereitgestellt werden.

3.3.3.   Klärung technischer Fragen und Erleichterung der Marktentwicklung

Der Ausschuss unterstreicht, dass der Zugang zum Breitbandnetz (1), der zur Gewährleistung der höchsten Sicherheit erforderlich ist, und die volle Anschlussfähigkeit eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Telemedizin sind. Das Vertrauen der Ärzte wie auch der Patienten in die Telemedizin setzt die Sicherheit der eingesetzten Technologie und ihre Benutzerfreundlichkeit voraus.

3.3.3.1.1.   Die digitale Erschließung insbesondere der ländlichen Gebiete und der Regionen in äußerster Randlage muss vorangebracht werden, da für die Telemedizin eine wirksame Vernetzung erforderlich ist, zumal die Bevölkerung in solchen Gebieten besonders betroffen ist.

3.3.3.1.2.   Aufgrund mangelnder Breitbandverbindungen haben die Angehörigen der Gesundheitsberufe mit unannehmbaren Reaktionszeiten zu kämpfen, große Datenmengen können nicht übertragen werden, und die Beschädigung von Informationen kann enorme medizinische Risiken bergen.

3.3.3.2.   Der Ausschuss unterstützt die Europäische Kommission in ihrem Vorhaben, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten ein politisches Strategiepapier auszuarbeiten, wie Interoperabilität, Qualität und Sicherheit der sich auf bestehende oder neue Normen stützenden Telemonitoringsysteme auf europäischer Ebene gewährleistet werden können. Nach Meinung des Ausschusses kann das Vertrauen in diese Technologien, die einer ständigen Weiterentwicklung unterworfen sind, nur durch eine regelmäßige Bewertung der Zuverlässigkeit der Ausrüstung gestärkt werden.

3.4.   Der Ausschuss hebt hervor, dass die Entwicklung dieser Technologien sicherlich eine Chance für die Wirtschaft ganz allgemein ist. Es gilt jedoch, ihre Auswirkungen auf die gefährdete Finanzierung der Gesundheitssysteme zu bewerten. Außerdem wäre die Bereitstellung von Finanzhilfen der EU für Forschung und Entwicklung zweckdienlich. Die speziellen Aspekte der Telemedizin sollten in Zukunft auch im Programm „IKT für ein wohltuendes Altern“ (5) berücksichtigt werden.

4.   Besondere Bemerkungen

Da die Telemedizin keinesfalls einzig und allein unter dem Aspekt des elektronischen Geschäftsverkehrs gesehen werden kann (bleibt sie doch eine eigenständige medizinische Handlung), begrüßt der Ausschuss den Vorschlag, in den kommenden Jahren Maßnahmen auf drei Ebenen durchzuführen.

Auf Ebene der Mitgliedstaaten muss der Klassifizierung der medizinischen Handlungen und der entsprechenden Kostenerstattung das notwendige Augenmerk gewidmet werden, haben doch noch nicht alle Versicherungssysteme die Telemedizin als eigenständige medizinische Handlung anerkannt; einige stehen ärztlichen Verordnungen per Telemedizin skeptisch gegenüber.

4.1.1.1.   Angesichts der Kosten der erforderlichen Investitionen ist es unabdingbar, dass die für die Gesundheitspolitik zuständigen öffentlichen Einrichtungen und/oder Behörden im Rahmen des Austausches mit den zahlreichen Interessenträgern Möglichkeiten zur Finanzierung ermitteln und die Finanzierungsquellen festlegen. Der Ausschuss bringt jedoch seine Sorge zum Ausdruck, dass der Beitrag der Patienten zur Finanzierung der von ihnen in Anspruch genommenen Gesundheitsdienste unter dem Vorwand dieser neuen Vorschriften erheblich steigen könnte.

Auf Ebene der Mitgliedstaaten, denen Finanzhilfen der EU gewährt werden, sollte angesichts der Unterschiede betreffend die gesetzlichen Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten und die Durchsatzrate der Telemedizin 2009 eine Auswertung der für die telemedizinischen Dienste in Betracht kommenden EU-Rechtsvorschriften vorgenommen werden.

4.1.2.1.   Nach Meinung des Ausschusses wäre es sinnvoll, neben dieser Auswertung auch Steuerungs- und Bewertungsmechanismen mit Unterstützung der EU zu konzipieren sowie kohärente strategische Ziele festzulegen, nach denen die Entscheidungsträger sich richten können. Hierfür muss eine medizinisch-wirtschaftliche Bewertung durchgeführt werden, die den demografischen Herausforderungen und der Aufgabe der Entwicklung der Gesundheitssysteme zugunsten der Patienten Rechnung trägt.

In Bezug auf die von der Europäischen Kommission durchzuführenden Maßnahmen ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Europäische Kommission pädagogische Programme fördern sollte, mit denen die Patienten mit diesen neuen Praktiken und Instrumenten vertraut gemacht werden, zumal diese Patienten oftmals ältere Menschen sind, um die Bedenken der Anwender auszuräumen und ihrem Vertrauensmangel abzuhelfen.

Der Ausschuss bedauert, dass die Europäische Kommission der Frage der ärztlichen Ausbildung keinen besonderen Stellenwert eingeräumt hat, um die Ärzte mit den neuen Bedingungen, unter denen sie ihren Beruf ausüben, vertraut zu machen. Zur Gewährleistung der Kontinuität und der Koordinierung der Behandlung müssen sie die neuen Kommunikationsmittel für den Dialog mit den Patienten auch zu nutzen wissen.

4.1.3.1.1.   Der Ausschuss betont, dass in der Telemedizin wie in zahlreichen anderen Bereichen auch spezifische Bildungsmaßnahmen für die einzelnen Gesundheitsberufe als wichtigstes Werkzeug des Wandels anzusehen sind. Ein strukturiertes Projekt für die Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Optimierung der Nutzung der Telemedizin im Hinblick auf die Verbesserung der Behandlungsqualität ist unerlässlich. Dies beinhaltet auch eine konsequente Information der breiten Öffentlichkeit.

4.1.3.1.2.   Der Ausschuss hält ferner fest, dass die interaktive und berufsgruppenübergreifende Nutzung dieser neuen Technologien selbst wiederum ein geeignetes und um sich greifendes pädagogisches Mittel zur Förderung des Selbstlernens im Rahmen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist.

4.1.4.   Der Ausschuss erachtet es als unerlässlich, dass die Telemedizin sowohl in Bezug auf die technologische Forschung als auch die Entwicklung der Ausrüstungen und Softwareprogramme, die wirtschaftlichen Aspekte der Bereitstellung der Geräte, die Kostenerstattung der Leistungen sowie die Akzeptanz und das in sie gesetzte Vertrauen als eigenständige medizinische Handlung und nicht als Modeerscheinung oder Ersatzhandlung angesehen wird. Außerdem sollten für telemedizinische Handlungen eine Harmonisierung und Zulassungsvorschriften vorgesehen werden, um den Austausch zwischen den Leistungserbringern und die Einbindung der Patienten in einem für alle Beteiligten angenehmen Umfeld zu erleichtern.

5.   Schlussfolgerungen

5.1.   Die kulturelle Revolution, die der Einsatz der Telemedizin bedeutet, erfordert eine entsprechende Kommunikation. Im Zuge dieser Entwicklungen können auch neue Berufsbilder entstehen.

5.2.   Die Entwicklung der Telemedizin muss nach Meinung des Ausschusses im Rahmen der Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme und -politiken erfolgen.

5.3.   Die Nutzer der Gesundheitssysteme sind angehalten, verstärkt gesundheitliche Selbstkompetenz zu entwickeln. Daher ist die Einbindung ihrer Vertretungsorganisationen sowie derjenigen der Angehörigen der Gesundheitsberufe in die Festlegung der Modalitäten für die Entwicklung und Finanzierung dieser neuen Technologien unerlässlich.

5.4.   Der Ausschuss erachtet es als wichtig, in die Bewertung der bei der Verwirklichung der Maßnahmen erzielten Fortschritte eingebunden zu sein, denn über die operationelle Entwicklung der Telemedizin und der verfügbaren Mittel hinaus geht es um die Gleichstellung aller Bürger beim Zugang zu Gesundheitsdiensten.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 8.

(2)  Die Telemedizin umfasst eine Reihe von Diensten, u.a. Teleradiologie, Telepathologie, Teledermatologie, Telekonsultation, Telemonitoring, Tele-Ophthalmologie, mit Ausnahme der Telechirurgie. In der Mitteilung werden jedoch Portale mit Gesundheitsinformationen, elektronische Patientendatensysteme, die elektronische Übertragung von Verschreibungen oder Überweisungen an den Facharzt aus den telemedizinischen Diensten ausgeklammert.

(3)  ABl. C 224 vom 20.8.2008, S. 8.

(4)  ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 116.

(5)  Im Rahmen des Siebten Forschungsrahmenprogramms.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/89


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Passagierrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden“

KOM(2008) 816 endg. — 2008/0246 (COD)

(2009/C 317/16)

Berichterstatter: Bernardo Hernández BATALLER

Mitberichterstatter: Jörg RUSCHE

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 12. Februar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Passagierrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden

KOM(2008) 816 endg. — 2008/0246 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER, Mitberichterstatter war Jörg RUSCHE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 65 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Ausschuss unterstützt den Vorschlag der Kommission, da die Durchführung der Verordnung im Allgemeinen eine Stärkung des Binnenmarktes und der Passagierrechte — insbesondere von Personen mit Behinderungen — bewirken wird.

1.2.   Allerdings bedauert der Ausschuss, dass der Vorschlag weder nähere Einzelheiten zur Situation der Personen mit Behinderungen noch strengere Standards in Bezug auf den Schutz der Grundrechte und der wirtschaftlichen Rechte der Verbraucher enthält.

1.3.   In Bezug auf Personen mit Behinderungen muss ein Rahmen geschaffen werden, der unter allen Umständen deren Zugänglichkeit gewährleistet, wie sie vom Ausschuss in dieser Stellungnahme vorgeschlagen wird.

1.4.   Was die Sicherheit betrifft, muss im Rahmen der jeweiligen Regulierungsumfelder, die in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in diesem Bereich zur Anwendung kommen oder kommen sollen, stets den höchsten Standards Rechnung getragen werden.

1.5.   Andere Grundrechte, wie zum Beispiel der Schutz personenbezogener Daten, müssen ebenfalls Gegenstand einer spezifischen Regelung sein, die die Garantien in diesem Bereich stärkt.

1.6.   Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Rechte der Verbraucher muss die Verordnung in mehrerlei Hinsicht deutlich verbessert werden, wie z.B. in Bezug auf die anderweitige Beförderung und Fahrpreiserstattung, die Entschädigung durch Fahrpreisnachlass sowie die Unterrichtung der Reisenden und das System zur Bearbeitung von Beschwerden.

2.   Hintergrund

2.1.   Laut Artikel 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (1) sollen die Politiken der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellen. Artikel 3 des EG-Vertrags legt die Verbesserung des Verbraucherschutzes als eine der Tätigkeiten der Gemeinschaft fest, und Artikel 153 EGV enthält ein Mandat zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus.

2.2.   In ihrem Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“  (2) sah die Europäische Kommission vor, durch die Festlegung gemeinsamer, für alle Verkehrsträger geltender Grundsätze, die Passagierrechte für alle Verkehrsträger festzuschreiben (3). Sie weist darin auch auf die Notwendigkeit hin, eine Reihe von Rechten zu stärken, wie z.B. durch besondere Maßnahmen zugunsten von Personen mit eingeschränkter Mobilität; automatische Sofortleistungen bei Unterbrechung der Reise (große Verspätungen, Annullierung oder Nichtbeförderung); die Verpflichtung zur Unterrichtung der Reisenden, die Bearbeitung von Beschwerden sowie Rechtsmittel.

2.3.   Die Europäische Kommission hat 2006 eine öffentliche Anhörung zu den Rechten von Schiffspassagieren eingeleitet, bei der es teilweise um den Schutz der Rechte von Personen eingeschränkter Mobilität bei einer Schiffsreise auf See und auf Binnenwasserstraßen ging. Dabei wurde mehrheitlich die Meinung vertreten, dass in der gesamten EU ungeachtet des Verkehrsträgers sowie unabhängig davon, ob eine Reise vollständig innerhalb eines Mitgliedstaats erfolgt oder ob dabei Binnen- oder Außengrenzen überschritten werden, ein gemeinsames Schutzniveau für Passagierrechte bestehen sollte.

2.4.   Andererseits ist der Schutz der Passagiere in der EU laut der allgemeinen Schlussfolgerungen einer unabhängigen Studie (4) nicht völlig zufriedenstellend, und zwar unter anderem wegen mangelnder Einheitlichkeit des Umfangs und der Intensität des Schutzes der Passagierrechte, des fehlenden Rahmens vorab festgelegter Sofortleistungen bei Annullierung und Verspätungen sowie aufgrund der unzureichenden Unterrichtung der Passagiere über ihre Rechte bei einem kritischen Ereignis.

2.5.   Die Folgenabschätzung erstreckte sich vorwiegend auf die Grundsätze der Entschädigungs- und Unterstützungsleistungen bei Annullierungen und Verspätungen, die Regeln zur Zugänglichkeit sowie zur Nichtdiskriminierung und Hilfeleistung für Personen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität, die Qualitätsstandards und die Informationspflicht sowie auf die Regeln zum Umgang mit Beschwerden und zur Überwachung der Einhaltung der Vorschriften.

3.   Der Vorschlag der Kommission

3.1.   zielt darauf ab, im Wege einer Verordnung gemeinsame Mindestanforderungen festzulegen bezüglich der Nichtdiskriminierung von Passagieren bei den Beförderungsbedingungen von Beförderern; der Gleichstellung und obligatorischen Unterstützung von Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität; der Pflichten von Beförderern gegenüber den Passagieren bei Annullierung von Fahrten und bei Verspätungen; der Informationen, die den Fahrgästen mindestens verfügbar zu machen sind; des Umgangs mit Beschwerden und der Durchsetzung der Passagierrechte.

3.2.   Diese Verordnung gilt für gewerbliche See- und Binnenschiffsverkehrsdienste einschließlich Kreuzfahrten zwischen bzw. in Häfen oder Ein- bzw. Ausschiffungsorten auf dem unter den Vertrag fallenden Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates.

3.3.   Des Weiteren wird in dem Vorschlag eingegangen auf die Verpflichtungen der Verkehrsunternehmen im Fall von Reiseunterbrechungen und bezüglich der Bereitstellung von Informationen, das Recht auf Hilfeleistung, anderweitige Beförderung und Fahrpreiserstattung, die Entschädigung durch Fahrpreisnachlass sowie auf sonstige Maßnahmen zu Gunsten der Passagiere.

3.4.   Es ist vorgesehen, dass jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige unabhängige Stellen benennt. Jede dieser Stellen kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Passagierrechte, einschließlich der Einhaltung der Vorschriften zur Zugänglichkeit gewahrt werden.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Der EWSA begrüßt den in dem Verordnungsentwurf enthaltenen Vorschlag für gemeinsame Mindestanforderungen und hofft, dass gemäß dem im EG-Vertrag erteilten Mandat in Zukunft ein günstigeres und höheres Verbraucherschutzniveau erreicht werden kann. Die Kommission sollte ausdrücklich darauf hinweisen, dass touristische Ausflüge, deren Dauer kürzer als ein Tag ist, nicht unter den Anwendungsbereich dieses Vorschlags fallen.

4.1.1.   Es handelt sich dabei um einen ehrgeizigen Vorschlag, der entsprechend den jüngsten Ansätzen der Europäischen Kommission die Verbraucher in den Mittelpunkt der Funktionsweise des Binnenmarktes rückt und sie als die letztlichen Nutznießer der nationalen Marktöffnungen versteht.

4.1.2.   Die vorgeschlagene Verordnung beinhaltet neben den Regeln und Prinzipien zur Gewährleistung der wirtschaftlichen Rechte der Passagiere im nationalen und internationalen See- und Binnenschiffsverkehr eine Regelung der Anerkennung und Gewährleistung der Grundrechte der Bürger und Personen im Allgemeinen.

4.1.3.   Darüber hinaus ergänzt der Vorschlag die nationalen Rechtsvorschriften vieler Mitgliedstaaten der EU, die nicht alle diese Thematik aufgreifen oder aber so zögerlich vorgehen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder älteren Menschen in der Praxis nicht gewährleistet sind. Dies betrifft zurzeit die Zugangs-, Informations- und Hilfssysteme auf Schiffen sowie die Vorabinformation, die in vielen Fällen eindeutig verbesserungsfähig ist.

4.1.4.   Allerdings ist der EWSA nicht damit einverstanden, dass die Mitgliedstaaten diejenigen Verkehrdienste, die öffentlichen Dienstleistungsverträgen unterliegen, vom Geltungsbereich der Verordnung ausnehmen können, da diese gerade am häufigsten von den Bürgern in Anspruch genommen werden und gerade für Personen mit Behinderungen unverzichtbar sind. Die Kommission könnte nach den Punkten 19 a) und b) einen Absatz einfügen, in dem die zuständigen Behörden dazu aufgefordert werden, für derartige Fälle ein automatisches Entschädigungssystem in Betracht zu ziehen.

Trotz der bereits vorhandenen Rechtsvorschriften zur Sicherheit im Seeverkehr (Richtlinien 1999/35/EG; 98/18/EWG und 98/41/EG) ist der EWSA der Ansicht, dass in der Verordnung ausdrücklich auf das spezielle Recht der Fahrgäste auf Sicherheit verwiesen werden sollte.

In diesem Sinne sollte der Begriff Sicherheit auch die Zugänglichkeit umfassen. Das heißt, die Zugänglichkeit muss den Passagieren nicht nur beim Anbordgehen und Verlassen der Schiffe, sondern während der gesamten Fahrt gewährleistet werden.

Ebenso muss auf allen Schiffen und bei allen Fahrten, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, unbedingt der Zugang von Begleithunden gewährleistet werden, damit die Personen mit Behinderungen ihre Rechte auf Freizügigkeit und Mobilität uneingeschränkt ausüben können.

4.1.5.   Der EWSA ruft der Kommission in Erinnerung, dass sie auf EU-Ebene alle nötigen Maßnahmen ergreifen muss, damit die Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität das gleiche Recht auf Freizügigkeit, Entscheidungsfreiheit und Nichtdiskriminierung haben wie alle anderen Bürger. Das „Sozialmodell der Behinderung“, einschließlich der starken Übergewichtigkeit, muss umgesetzt werden, damit alle Menschen Zugang zu den Verkehrsmitteln erhalten.

4.1.6.   Was den Rechtsrahmen von Artikel 70 und 81 EG-Vertrag angeht, ist der Ausschuss der Ansicht, dass dieser um Artikel 153 ergänzt werden sollte, der im Rahmen der Tätigkeiten der Gemeinschaft ein hohes Verbraucherschutzniveau vorsieht.

4.1.7.   Der EWSA hält in dieser Frage eine Verordnung als Rechtsinstrument für angebracht, da die darin enthaltenen Regeln in der gesamten Europäischen Union einheitlich und wirksam angewandt werden müssen, um ein angemessenes Schutzniveau für Schiffspassagiere und gleiche Rahmenbedingungen für alle Beförderer sicherzustellen.

4.1.8.   Der EWSA teilt den Standpunkt der europäischen Gesetzgeber, dem zufolge die Mechanismen der Koregulierung und Selbstregulierung „nicht anwendbar [sind], wenn es um Grundrechte oder wichtige politische Entscheidungen geht oder in Situationen, in denen die Bestimmungen einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten angewendet werden müssen“  (5). Deshalb lehnt sich der Vorschlag für eine Verordnung an das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an.

4.1.9.   Soweit Kapitel III betroffen ist, wird das Ziel, einheitliche Bedingungen für die Wirtschaftsteilnehmer im Binnenmarkt sicherzustellen, allerdings nur eingeschränkt erreicht, weil den Mitgliedstaaten die Regelung weiterreichender Ansprüche bei Verspätung und Annullierung gestattet wird. In dem Bericht, der von der Kommission innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung zu erarbeiten ist (Artikel 30), müsste konkret geprüft werden, ob eventuelle Abweichungen in den Rechtsvorschriften in diesem Bereich den Wettbewerb oder das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes beeinträchtigen.

4.1.10.   Der EWSA erkennt an, dass Beförderungen, die vor allem touristischen Zwecken dienen, insbesondere Ausflugsfahrten und Sight-seeing, nicht unter den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Allerdings muss der Fall von Passagieren berücksichtigt werden, die aufgrund eines Problems auf einer Etappe ihrer Reise ihren Anschluss verpassen.

Der EWSA plädiert für die Anerkennung des Fahrscheins als Beleg für den Abschluss des Beförderungsvertrages, und hält es für wichtig, dass die Bestimmungen der Verordnung als zwingendes und unverzichtbares Recht zugunsten der Passagiere betrachtet werden, ohne dass die geltenden Verbraucherschutzbestimmungen, insbesondere diejenigen bezüglich missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen (6) und unlauterer Geschäftspraktiken (7), beeinträchtigt werden.

Es muss nach einer speziellen Lösung gesucht werden, um die derzeit geltende und fast universelle Auflage für die Menschen mit Behinderungen, nach der die betreffenden Personen den Beförderer spätestens 48 Stunden im Voraus über ihren geplanten Reiseantritt informieren müssen, außer Kraft zu setzen oder dahingehend zu ändern, dass sie den behinderten Personen bestmöglich zugute kommt. Diese starre Frist kann Personen mit Behinderungen zweifelsfrei an der vollen Wahrnehmung bestimmter Rechte im Zusammenhang mit der Freizügigkeit hindern, wie z.B. deren Recht auf Freizeit oder das Recht, gegebenenfalls jeglicher Art von Notsituationen zu begegnen.

Der Ausschuss fordert eine gewisse Flexibilität in Bezug auf das Benachrichtigungssystem für Hilfe an Bord. Diese Reisemethode setzt nicht voraus, dass die Passagiere im Voraus buchen, und verpflichtet Personen mit Behinderungen dazu, ihren Hilfebedarf im Voraus mitzuteilen, wodurch deren Recht auf Gleichbehandlung verletzt werden könnte. Daher sollte eine Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzstreckenreisen und dem verwendeten Boots- bzw. Schiffstyp getroffen werden. Die Europäische Kommission sollte die Beförderer dazu verpflichten, den Passagieren zu bestätigen, dass sie ihre Benachrichtigung erhalten haben, damit diese im Falle einer Störung des Informationsübermittlungssystems über einen Nachweis verfügen, dass sie den Beförderer über ihren Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt haben.

4.2.1.   Im Sinne der in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen enthaltenen Rechte umzusetzen, müssen diese Personen an Häfen, Ein- und Ausschiffungsorten sowie auf Fahrgastschiffen Hilfe in Anspruch nehmen können. Der Ausschuss ist völlig einverstanden, dass all diese Maßnahmen zur sozialen Integration, die diese Hilfe erfordern, kostenlos sein müssen, dergestalt dass die Bestimmungen von Artikel 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Bezug auf das Recht auf soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen erfüllt werden.

4.2.2.   Deswegen ist der EWSA der Ansicht, dass die Ausnahmen für die Nichtbeförderung von Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität auf objektiven, nichtdiskriminierenden Kriterien beruhen und transparent und überprüfbar sein müssen.

4.3.   Er begrüßt den in Artikel 8 des Verordnungsentwurfs enthaltenen Vorschlag betreffend die Konzertation und den Dialog zwischen den Organisationen der organisierten Zivilgesellschaft und den Behörden, dem zufolge die Beförderer, Organisationen von Personen mit Behinderungen und nationalen Durchsetzungsstellen für die Aufstellung der Zugangsregeln zuständig sein sollen. Die Qualitätsstandards sollten ebenfalls in Anlehnung an Artikel 22 des Vorschlags in Zusammenarbeit mit den Verbraucherverbänden festgelegt werden, wobei den Empfehlungen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation und anderen einschlägigen internationalen Organisationen Rechnung getragen werden sollte.

4.4.   Die geplante Umlage gemäß Artikel 9.3 des Vorschlags steht, zumal wegen des in dieser Ziffer beschriebenen einseitigen Charakters, völlig im Widerspruch zu dem Grundsatz der Unentgeltlichkeit der Maßnahmen zur sozialen Integration. Allerdings ist die getrennte Rechnungsführung eine natürliche Konsequenz der geforderten Mindesttransparenz, auch wenn der geprüfte Jahresbericht den Organisationen von Personen mit Behinderungen und den Verbraucherverbänden zur Verfügung stehen müsste. Der EWSA empfiehlt jedoch eine Prüfung, ob der Aufwand, der zur Erstellung einer solchen Rechnung notwendig ist, kleinen und mittleren Betrieben zugemutet werden muss.

4.5.   Die Haftung für Rollstühle und Mobilitätshilfen ist ebenso wie die Bereitstellung einer Ersatzausrüstung für interessierte Personen für die Verbraucherschutzziele der Verordnung geeignet. Dabei muss es sich um eine volle Haftung handeln, die alle entstandenen Schäden oder Nachteile abdeckt.

Die Verpflichtungen im Fall von Reiseunterbrechungen als gemeinsame Mindestanforderungen sind angesichts der bislang fehlenden diesbezüglichen Vorschriften angemessen. Der EWSA kann verstehen, dass auf gemeinschaftlicher Ebene zunächst eine Angleichung an die Schutzvorschriften für Flugreisende stattfinden muss, ist jedoch der Ansicht, dass die zügige Erreichung eines höchstmöglichen Verbraucherschutzniveaus nahegelegt werden sollte.

4.6.1.   Die Entschädigung durch Fahrpreisnachlass als automatisches Entschädigungssystem könnte eine geeignete Methode sein, sofern sie schnell und effizient funktioniert. Dieses System müsste ausgebaut werden, so dass es in Zukunft bei Verspätungen einen größeren Anteil ausmacht.

4.6.2.   Die Aussage von Artikel 20.4 des Vorschlags in Bezug auf eine Nichtanwendung dieses Artikels im Falle einer Verspätung durch „außergewöhnliche Umstände“ sollte geklärt werden (8). Diese Umstände sollten im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs so definiert werden, dass diese Bestimmung im Falle eines technischen Problems des Schiffes, das zur Annullierung der Reise führt, nicht greift, es sei denn, dieses Problem ist auf einen Vorfall zurückzuführen, der durch eine nicht ordnungsgemäße Ausführung der Tätigkeit des Beförderers hervorgerufen wurde. Darüber hinaus darf die Einhaltung der Mindestnormen für die Schiffinstandhaltung nicht allein als Beweis dafür dienen, dass der jeweilige Beförderer alle „angemessenen Maßnahmen“ ergriffen hat und somit von der Entschädigungsverpflichtung befreit ist. Dabei sollten auch die nautischen Besonderheiten des jeweiligen Verkehrsdienstes berücksichtigt werden.

4.6.3.   Indes steht die Bestimmung von Artikel 21 des Vorschlags, dass Passagiere nicht daran gehindert werden dürfen, vor nationalen Gerichten weitergehende Ansprüche aufgrund von Nachteilen zu verfolgen, die sie wegen Annullierung oder Verspätung von Verkehrsdiensten erlitten haben, völlig im Einklang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

4.7.   Die Verbraucherinformationen sind ein wichtiger Aspekt für die Passagiere. Sie müssen zugänglich sein und dem Stand der Technik entsprechen, weshalb der Vorschlag in dieser Hinsicht angemessen ist.

4.8.   Beschwerden, die zivile und/oder kommerzielle Schäden betreffen, müssten bei Einrichtungen für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten eingereicht werden, die bereits auf Grundlage der Empfehlung Nr. 1998/257/EG der Kommission vom 30. März 1998 eingerichtet wurden, oder aber bei Einrichtungen, die den Grundsätzen der Unabhängigkeit, Transparenz, des Widerspruchs, der Effizienz, der Rechtmäßigkeit, der Freiheit und der Möglichkeit zur Vertretung genügen.

4.9.   Die nationalen Durchsetzungsstellen müssen für die uneingeschränkte Anwendung wirksamer, abschreckender und verhältnismäßiger Sanktionen zuständig sein, die in jedem Fall die Möglichkeit zur Veranlassung einer Entschädigungszahlung an die betroffenen Passagiere auf deren Beschwerde hin umfassen sollten.

Die Verordnung sollte des Weiteren eine Verpflichtung über die Bereitstellung angemessener und entsprechend zugänglicher Informationen über Sanktionen und Beschwerden seitens der Passagiere enthalten.

4.10.   In Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten und den freien Datenverkehr (9) teilt der EWSA die Ansicht der Kommission, dass die geltenden Rechtsvorschriften strikt angewandt werden müssen, um die Privatsphäre der Passagiere gemäß der Richtlinie 95/46/EG und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für persönliche Daten, die aufgrund der Erbringung einer Beförderungsleistung an Drittstaaten weitergegeben werden können. Personen, deren Daten in eine Datei aufgenommen wurden, müssen über diese Tatsache unterrichtet werden sowie über die Möglichkeit, auf diese Datei zuzugreifen und die Berichtigung oder Löschung ihrer Daten zu verlangen.

4.11.   Der EWSA erinnert die Kommission an die Notwendigkeit, die Richtlinie 90/314/EG zu überarbeiten, um sie stärker auf den Verordnungsentwurf und ähnliche gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften abzustimmen, und insbesondere um:

Definitionen und Begriffsklärungen wie „Pauschalpreis“, „Pauschalreise“ und „im Voraus festgelegte Verbindung“ zu aktualisieren;

eine klarere Absteckung bezüglich der genauen Verantwortung des Reiseveranstalters oder -maklers im Falle einer Nichteinhaltung oder unvollständigen Einhaltung des Vertrages zu erreichen, ungeachtet dessen, ob der Reiseveranstalter oder -makler die betreffende Dienstleistung direkt oder indirekt erbracht hat;

den Verbraucher im Falle einer Annullierung des Vertrages durch den Reiseveranstalter eine deutliche und umfassende Entschädigung zukommen zu lassen.

4.12.   Der EWSA erinnert die Kommission ferner an die Notwendigkeit, die Richtlinien für die See- und Binnenschifffahrt, die auf ein hohes Schutzniveau insbesondere der Personen mit eingeschränkter Mobilität zielen, ausdrücklich in der Verordnung zu nennen und deren geografischen Geltungsbereich bei Bedarf anzupassen.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 303 vom 14.12.2007, S. 1.

(2)  KOM(2001) 370 vom 12.9.2001.

(3)  Wie in Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (ABl. L 46 vom 17.2.2004).

(4)  Unabhängige Studie mit dem Titel „Analysis and assessment of the level of protection of passenger rights in the EU maritime transport sector“ (Untersuchung und Bewertung des Schutzes der Passagierrechte im Schiffsverkehrssektor der EU), die 2005-2006 von der GD TREN in Auftrag gegeben wurde.

(5)  Interinstitutionelle Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (2003/C 321/01), Nummer 17.

(6)  Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. ABl. L 95 vom 21.4.1993, S. 29.

(7)  Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern. ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22.

(8)  Urteil vom 22. Dezember 2008 in der Rechtssache C-549/07 (Friederike Wallentin-Hermann gegen Alitalia-Linee Aeree Italiane SpA).

(9)  Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Artikel 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr“

KOM(2008) 852 endg. — 2008/0247 (COD)

(2009/C 317/17)

Berichterstatter: Dumitru FORNEA

Der Rat beschloss am 19. Januar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr

KOM(2008) 852 endg. - 2008/0247 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Dumitru FORNEA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 164 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag der Kommission als Schritt hin zur Förderung des Aufbaus internationaler Korridore für den Schienengüterverkehr sowie der Entwicklung dieses Verkehrsträgers in Europa.

1.2.   Um die Entwicklung von Schienengüterverkehrskorridoren anzuregen, ist unabhängig von jeglichem Legislativprozess konkretes politisches Handeln auf der Ebene der einzelnen Korridore erforderlich. Regulierung allein reicht nicht aus, um diese Korridore zu fördern. Die Sicherung von öffentlichen und privaten Investitionen zur Steigerung von Qualität, Effizienz und Kapazität der Infrastruktur insgesamt sollte ebenso wie die vollständige Umsetzung des 1. und 2. Eisenbahnpakets in der gesamten EU zu den obersten Prioritäten zählen.

1.3.   Für jeden einzelnen Korridor wird eine effiziente hochrangige Koordinierung gebraucht, um Fortschritte bei der Verbesserung der Schieneninfrastruktur zu erzielen; dies macht eine Zusammenarbeit aller an einem Korridor beteiligten Verkehrsminister umso unerlässlicher. Im Anschluss an Regierungsgespräche sollten die Mitgliedstaaten Bedingungen und Verpflichtungen festlegen. Das für Verkehr zuständige Kommissionsmitglied sollte sich im Rahmen koordinierter politischer Maßnahmen auf EU-Ebene aktiver um die Mitwirkung der Verkehrsminister der an den jeweiligen Korridoren beteiligten Mitgliedstaaten bemühen.

1.4.   Der EWSA stimmt zu, dass im Voraus vorzuhaltende Kapazitätsreserven nicht verpflichtend vorgeschrieben, sondern von den Infrastrukturbetreibern festgelegt werden sollten, wenn derartige Reserven für erforderlich erachtet werden. Wenn die Infrastrukturbetreiber von vornherein gezwungen würden, Kapazitätsreserven vorzuhalten, könnte dies anstelle einer optimalen Kapazitätsauslastung dazu führen, dass Kapazitäten nicht genutzt werden. Den Infrastrukturbetreibern sollte jedoch auch weiterhin die Möglichkeit gegeben werden, Kapazitätsreserven vorzuhalten.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass den Infrastrukturbetreibern Flexibilität eingeräumt werden sollte, bei der Anwendung von Vorrangregeln pragmatisch vorzugehen. Hier ist es wichtiger, Verzögerungen im Gesamtnetz so gering wie möglich zu halten, als einer Verkehrsart Vorrang vor einer anderen einzuräumen. Erforderlich ist, dass die Infrastrukturbetreiber den Unternehmen unabhängig von den geltenden Regeln transparent Auskunft über diejenigen Regeln erteilen, die bei verspäteten Zügen zur Anwendung kommen.

1.5.   Alle betroffenen Parteien sollten verpflichtend konsultiert bzw. an dem Leitungsorgan für die Güterverkehrskorridore beteiligt sein: Infrastrukturbetreiber, Eisenbahnunternehmen, Vertreter der Mitgliedstaaten, die betroffenen Gewerkschaften, Kunden und Umweltschutzorganisationen. Eisenbahnunternehmen sollten umfassend in die Leitung der Korridore eingebunden werden, da sie näher am Markt sind und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie Beschlüsse über Verbesserungen umsetzen müssen bzw. von diesen betroffen sind.

1.6.   Die Einschaltung einer einzigen Anlaufstelle sollte für Eisenbahnunternehmen nicht verbindlich vorgeschrieben werden, um einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Infrastruktureinheiten zu ermöglichen. Die herkömmliche Art der Beantragung von Fahrwegtrassen über jeden nationalen Infrastrukturbetreiber oder einen führenden Infrastrukturbetreiber sollte zumindest als Ausweichlösung beibehalten werden, falls das Konzept der einzigen Anlaufstelle nicht funktioniert.

1.7.   Zugelassene Antragsteller sollten nicht auf dem gesamten Korridor zugelassen werden, wenn ein entlang des Korridors gelegener Staat sie national nicht zulässt. Die Kommission sollte die Fragen im Zusammenhang mit den zugelassenen Antragstellern eingehend prüfen, um der Öffentlichkeit ein umfassendes Bild der wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Bestimmung zu vermitteln. Der EWSA ist nicht per se gegen das Konzept des diskriminierungsfreien Zugangs zu Infrastrukturen, sieht in diesem speziellen Fall jedoch den Bedarf an weiteren Untersuchungen und Beratungen mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, europäischen und nationalen Sozialpartnern, Kunden von Schienverkehrsdiensten und weiteren betroffenen Organisationen der Zivilgesellschaft.

1.8.   Das Kriterium „Bestandteil des TEN-V“ sollte nicht als ausschließliches Kriterium für die Auswahl von Güterverkehrskorridoren herangezogen werden. Die Korridore sollten nicht von außen, nur anhand von politischen und geografischen Kriterien festgelegt werden, sondern es sollte dafür gesorgt werden, dass flexible und marktorientierte Korridore ausgewählt werden. Die Auswahl der Korridore sollte anhand marktorientierter Ziele erfolgen, bei denen wichtige bestehende oder potenzielle Güterströme berücksichtigt werden. Der Markt und das Kosten-Nutzen-Verhältnis sollten ausschlaggebend sein.

1.9.   Die Möglichkeit, die Auswahl über das transeuropäische Verkehrsnetz hinaus zu erweitern, sollte in die Verordnung aufgenommen werden. Wenn z.B. ein Abschnitt, der nicht Bestandteil des TEN-V ist, für einen dynamischen Güterverkehr von Bedeutung ist, sollte die Möglichkeit vorgesehen werden, ihn von Anfang an in den Korridor einzubeziehen und später in das TEN-V aufzunehmen.

1.10.   Das Konzept strategisch wichtiger Terminals ist wettbewerbsfeindlich. Dieses Konzept könnte zu einer Stärkung der dominanten Stellung der so genannten „strategisch wichtigen Terminals“ zu Ungunsten der als „strategisch nicht wichtigen“ erachteten Terminals führen. Der Verweis auf strategisch wichtige Terminals sollte aus dem Vorschlag für eine Verordnung gestrichen werden, um den heute strategisch nicht wichtigen Terminals die Chance zu geben, sich zu entwickeln und in Zukunft strategisch wichtig zu werden.

1.11.   Für die in diesen Güterschienenverkehrskorridoren eingesetzten Beschäftigten darf die Güterverkehrsfreiheit nicht im Widerspruch zur Ausübung ihrer Grundrechte stehen.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1.   Die Europäische Kommission hat sich dazu verpflichtet, die Schaffung und Organisation eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr, das sich auf die internationalen Schienengüterverkehrskorridore stützt, voranzutreiben. Zur Erreichung dieses Ziels beschloss die Kommission, diesen Vorschlag für eine Verordnung vorzulegen, im Anschluss an eine umfassende öffentliche Konsultation und die Evaluierung verschiedener Optionen im Wege einer Folgenabschätzung. Die Folgenabschätzung zeigte, dass im Vergleich zu einem freiwilligen Konzept, bei dem die Gefahr des Nichterreichens der vorgeschlagenen Ziele größer wäre, über einen legislativen Ansatz die besten wirtschaftlichen Ergebnisse erzielt werden könnten.

2.2.   Die Bestimmungen der vorgeschlagenen Verordnung richten sich vor allem an die betroffenen Wirtschaftsakteure, die Infrastrukturbetreiber und die Eisenbahnunternehmen und beziehen sich insbesondere auf:

die Verfahren für die Auswahl der Schienengüterverkehrskorridore;

die Leitung all dieser Korridore;

die Merkmale, über die Güterverkehrskorridore verfügen müssen.

2.3.   Die Verordnung gilt nicht für:

nicht mit anderen Fahrwegen vernetzte örtliche und regionale Schienennetze für Personenverkehrsdienste;

nur für die Durchführung von Personenverkehrsdiensten im Stadt- oder Vorortverkehr bestimmte Netze;

regionale Schienennetze, die von einem nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 91/440/EWG fallenden Eisenbahnunternehmen ausschließlich für regionale Güterverkehrsdienste genutzt werden, bis von einem anderen Antragsteller die Zuweisung von Fahrwegkapazität auf dem betreffenden Netz beantragt wird;

Fahrwege in Privateigentum, die von ihrem Eigentümer ausschließlich zur Nutzung für den eigenen Güterverkehr unterhalten werden (1).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Die optimale Entwicklung aller Verkehrsträger in den Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung von Umweltschutz, Sicherheit, Wettbewerb und Energieeffizienz ist die Richtung, die von der europäischen Verkehrspolitik angestrebt wird, wie in KOM(2006) 314, der Halbzeitbilanz zum Verkehrsweißbuch der Europäischen Kommission von 2001, beschrieben.

3.2.   Die Europäische Union hat sich zu einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 20 % bis 2020 verpflichtet. Ohne eine drastische Senkung der verkehrsbedingten Emissionen wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. Daher muss den energieeffizientesten und umweltfreundlichsten Verkehrsträgern absoluter Vorrang gegeben werden, wobei diesbezüglich Einhelligkeit darüber besteht, dass der Schienenverkehr in Bezug auf Energieverbrauch und Emissionen die umweltfreundlichste Verkehrsart ist (2).

3.3.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat bereits eine Stellungnahme zum Konzept eines vorrangig für den Güterverkehr bestimmten Schienennetzes vorgelegt (3). In dieser Stellungnahme sollen die zu diesem Thema vorgebrachten allgemeinen Bemerkungen, die auch für den Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr, gelten, nicht wiederholt werden.

3.4.   Die aktuelle Situation des Güterverkehrs in der Europäischen Union erfordert effiziente europäische und nationale Rechtsinstrumente sowie eine Mobilisierung der Politik, um die für Investitionen in die Schieneninfrastruktur erforderlichen Mittel festzulegen. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung als Fortschritt für die Förderung des Aufbaus internationaler Schienengüterverkehrskorridore sowie für die Entwicklung dieses Verkehrsträgers in Europa (4).

3.5.   Potenzieller Nutzen durch die Schaffung dieser Korridore:

Umweltfreundlicher Verkehrsträger - insgesamt eine Reduzierung der verkehrsbedingten Umweltauswirkungen in Europa;

Verringerung der Verkehrsunfälle;

die Initiative erfüllt die Wachstumsziele der Lissabon-Agenda;

wichtiger Beitrag zur Beseitigung von Engpässen im Straßenverkehr;

Förderung der Ko-Modalität (Schiene, See- und Binnenschifffahrt - Straße);

die Schaffung der Korridore wird zur Sicherung der Versorgung der europäischen Wirtschaft mit Rohstoffen beitragen, indem einer der umweltfreundlichsten Verkehrsträger für Schüttguttransporte eingesetzt wird;

Unterstützung des Aufbaus von an das Schienennetz angebundenen Logistikzentren (Logistikterminals könnten zunehmend als Vertriebslager dienen, die derzeit zumeist an Produktionsstätten angegliedert sind.);

der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt in der Europäischen Union wird gestärkt.

3.6.   Ökologische Ziele für die Nutzung von Güterverkehrskorridoren:

umweltfreundliche Infrastruktur und umweltfreundliche Fahrzeuge für den Schienengüterverkehr;

geringe spezifische Emissionen;

geringe Betriebsgeräusche durch Lärmschutzwände und den Einsatz geräuscharmer Technik für den Fahrzeugbestand und die Schieneninfrastruktur;

100 % elektrifizierte Bahnstrecken in den Güterverkehrskorridoren;

Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien im Fahrstrom-Mix.

4.   Spezifische Bemerkungen zu der vorgeschlagenen Verordnung

4.1.   Investitionen in die Infrastruktur, die Terminals und deren Ausstattung von Güterverkehrskorridoren

4.1.1.   Im vergangenen Jahrzehnt wurden durch europäische Politiken mit dem Ziel einer Marktöffnung zwar Fortschritte erzielt, doch waren die Ergebnisse in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb zwischen Verkehrsträgern und wirkungsvolle Investitionen in eine moderne, interoperable Infrastruktur eher begrenzt.

4.1.2.   Die finanziellen Kapazitäten der Mitgliedstaaten erscheinen im Verhältnis zu den ehrgeizigen Zielen der Kommission nicht ausreichend. Daher kommt den europäischen Institutionen eine wichtige Rolle dabei zu, den Einsatz der EU-Förderinstrumente für die Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr zu ermöglichen, und zwar durch die Ko-Finanzierung der Schaffung der Schienengüterverkehrskorridore über den Haushalt für das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V), des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und des Kohäsionsfonds sowie über EIB-Darlehen.

4.1.3.   Der Investitionsbedarf (und seine Finanzierung) sollte in der Verordnung deutlicher hervorgehoben werden (5). Zwischen 1970 und 2004 wurde das Autobahnnetz in der EU-15 um 350 % verlängert, wohingegen die Länge des Schienennetzes um 14 % verringert wurde. Wenn Straßen verstopft sind, werden Beschlüsse über den Ausbau bzw. die Anlage neuer Straßeninfrastruktur rasch umgesetzt. Nach Auffassung des EWSA können nicht mehr Güter über die Schiene transportiert werden, wenn für die Schiene nicht die gleiche Investitionspolitik angewandt wird wie die in den vergangenen 40 Jahren für die Straßen praktizierte Politik.

4.1.4.   In diesem Zusammenhang sollte das Erfordernis der Finanzierung der Anbindung von Industriestandorten an das Hauptschienennetz nicht vernachlässigt werden. Die Anbindung von Industriegebieten an das Hauptstraßennetz wird normalerweise über öffentliche Haushalte finanziert. In den meisten EU-Mitgliedstaaten wird die Schienenanbindung von Industriestandorten an das Hauptschienennetz nicht auf die gleiche Art behandelt. Im Allgemeinen wird diese Anbindung von dem Unternehmen, das die Industrieanlage betreibt, gemeinsam mit einem Schienengüterverkehrsbetreiber, das den Auftrag annimmt, finanziert. Es werden sowohl europäische als auch nationale Investitionslösungen gebraucht, um den Schienengüterverkehr zu erleichtern (z.B. über Instrumente wie öffentliche Finanzierungssysteme, die es bereits in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt).

4.1.5.   Eines der Ziele der Kommission besteht darin, alle technischen und legislativen Mittel für die Sicherung der Versorgung der europäischen Wirtschaft mit Rohstoffen durchzusetzen. Die Schienenkorridore werden maßgeblich zum Erreichen dieses strategischen Ziels beitragen, der Güterverkehr zwischen der Europäischen Union und ihren östlichen Partnern ist hier von großer Bedeutung. Daher muss die EU in den Ausbau der West-Ost-Schieneninfrastruktur und in die hiermit verbundenen Umschlageinrichtungen investieren. Auch die Überarbeitung des TEN-V wird einen Beitrag zu diesem Ziel leisten.

4.1.6.   Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Zollwesen gewidmet werden, um die Verfahren innerhalb der EU zu vereinfachen (6) und so eine zügige Abwicklung des grenzüberschreitenden Schienengütertransports zu gewährleisten. Finanzielle Unterstützung seitens der Europäischen Union ist erforderlich für die Vorwegnahme eines auf dem elektronischen Datenaustausch basierenden Systems für Zollverpflichtungen sowie für die Absicherung von Investitionen in Eisenbahnen, die derzeit noch nicht über ein automatisiertes System für die Erfüllung von Zollverpflichtungen verfügen.

4.1.7.   Der EWSA hält eindeutige Leitlinien für staatliche Beihilfen für wichtig, um leichter ersichtlich zu machen, welchen staatlichen Beihilfen für den Schienensektor die Kommissionsdienststellen zustimmen würden. Zugleich betont der Ausschuss, dass der Einsatz mehrjähriger Verträge zu einer dauerhaften Finanzierung des europäischen Schienennetzes beitragen kann.

4.1.8.   Bezüglich des Konzepts der in Artikel 9 der Verordnung erläuterten „strategisch wichtigen Terminals“ macht der EWSA darauf aufmerksam, dass dies zu einer Stärkung der dominanten Position der so genannten „strategisch wichtigen Terminals“ zu Ungunsten der als „strategisch nicht wichtigen“ erachteten Terminals führen kann.

4.1.9.   Für die in diesen Güterschienenverkehrskorridoren eingesetzten Beschäftigten darf die Güterverkehrsfreiheit nicht im Widerspruch zur Ausübung ihrer Grundrechte stehen.

4.2.   Auswahl der Schienengüterverkehrskorridore und Leitung des Netzes

4.2.1.   Die Überarbeitung des TEN-V bietet dem Schienensektor die Gelegenheit, die Bedeutung des weiteren Ausbaus flexibler Fernstrecken-Schienengüterverkehrskorridore als Rückgrat des europäischen Verkehrsnetzes zu unterstreichen.

4.2.2.   Der EWSA betont, dass die Korridore nicht ausschließlich auf das TEN-V (wie in Kapitel II Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a) vorgegeben wird) oder die heutigen ERTMS-Korridore beschränkt bleiben sollten, da ein solcher Ansatz Strecken ausschließen könnte, die für den Güterverkehr wichtig sind oder vielleicht auch noch werden und bislang noch nicht Bestandteil des TEN-V oder der ERTMS-Korridore sind. Ganz im Gegenteil sollte das TEN-V angepasst werden, wenn neue Schienengüterverkehrskorridore geschaffen werden.

4.2.3.   Alle betroffenen Parteien - einschließlich der betroffenen Gewerkschaften, Kunden und Umweltschutzorganisationen - sollten verpflichtend konsultiert bzw. am Leitungsorgan beteiligt werden. Eisenbahnunternehmen sollten auf der gleichen Ebene wie Infrastrukturunternehmen am Leitungsorgan beteiligt werden, da sie die Nutzer der Korridore sind, den Kundenkontakt haben und dem Markt am nächsten sind. Sie sind von den Beschlüssen, die vom Leitungsorgan gefasst werden, direkt betroffen und müssen u.U. auch einige dieser Beschlüsse umsetzen. Daher wäre es nur gerecht, wenn sie auch im Leitungsorgan vertreten wären.

4.2.4.   Eine angemessene Vertretung der Eisenbahnunternehmen, die den Korridor nutzen, ist tatsächlich auch ohne die Schaffung eines „Wasserkopfs“ in der Leitung möglich, nämlich als Vertretung durch einzelne Unternehmen, als „Gruppe von Unternehmen“ oder als eine Mischung aus beidem. Um jedoch einen echten Beitrag zum Ausbau des Korridors leisten zu können, sollten hier nur diejenigen Unternehmen einbezogen werden, die den Korridor auch tatsächlich nutzen.

4.3.   Operative Maßnahmen

4.3.1.   Der EWSA hält die Erörterung von Vorrangregeln (Zuweisung von Fahrwegtrassen, Reservierung von Fahrwegkapazitäten, Vorrang bei Verkehrsstörungen) generell für alle Güterverkehrskorridore insgesamt (Kapitel IV, Artikel 11, 12, 14) für ein schwieriges und problematisches Unterfangen. Diese Regeln sollten besser so formuliert werden, dass auf der Ebene der einzelnen Korridore eine pragmatische Anwendung möglich ist und die Trassenzuweisung durch die Infrastrukturbetreiber auf möglichst gerechte und transparente Weise erfolgt.

4.3.2.   Die Vorhaltung von Kapazitätsreserven sollte nicht verpflichtend vorgeschrieben, sondern von den Infrastrukturbetreibern festgelegt werden, wenn derartige Reserven für erforderlich erachtet werden. Wenn die Infrastrukturbetreiber von Vorneherein gezwungen würden, Kapazitätsreserven vorzuhalten, könnte dies anstelle einer optimalen Kapazitätsauslastung dazu führen, dass Kapazitäten nicht genutzt werden, vor allem dann, wenn nicht schon einige Monate im Voraus feststeht, wann welche Züge fahren.

4.3.3.   Außerdem ist eine Änderung der Vorrangregeln vielleicht gar nicht nötig und bewirkt außerdem auch in keinster Weise eine Kapazitätssteigerung. Die Änderung von Vorrangregeln würde nur den Ärger von einer Nutzerkategorie auf eine andere übertragen. Als übergeordnete Regel sollte immer gelten, dass Verzögerungen im Gesamtnetz möglichst gering gehalten und Verkehrsstauungen so rasch wie möglich aufgelöst werden sollten.

4.3.4.   Hinsichtlich der Bestimmungen in Kapitel IV Artikel 10 zur Einschaltung der einzigen Anlaufstelle vertritt der EWSA die Auffassung, dass diese Entscheidung dem jeweiligen Korridor überlassen werden sollte, und zwar unter Berücksichtigung der Markterfordernisse bzw. der Erfordernisse derjenigen Eisenbahnunternehmen, die den Korridor nutzen.

4.3.5.   Den Eisenbahnunternehmen sollte auch weiterhin die Freiheit gegeben werden, Fahrwegtrassen auf die Art und Weise ihrer Wahl zu beantragen, d.h. also entweder über die einzige Anlaufstelle oder auf die herkömmliche Art. Durch die fakultative Einschaltung einer einzigen Anlaufstelle erhalten Eisenbahnunternehmen die Möglichkeit, verschiedene Infrastruktureinheiten (d.h. die einzige Anlaufstelle und die einzelnen Infrastrukturbetreiber entlang des Korridors) im Wettbewerb miteinander zu nutzen, wodurch ihnen der Anreiz zu Verbesserungen gegeben würde.

4.3.6.   Die verpflichtend vorgeschriebene Einschaltung der einzigen Anlaufstelle könnte zur Schaffung eines großen Infrastrukturmonopols auf dem Korridor führen, und das ohne Garantie, dass die einzige Anlaufstelle tatsächlich bessere Dienste leistet als einzelne Infrastrukturbetreiber. Daneben funktioniert der herkömmliche Ansatz der einzigen Anlaufstelle nicht.

4.3.7.   Wenn zugelassene Antragsteller (z.B. Verlader, Spediteure, intermodale Betreiber) Infrastrukturkapazitäten erwerben dürften, könnte dies Eisenbahnunternehmen (insbesondere „Newcomer“) aufgrund des hohen Risikos im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Fahrwegtrassen von Investitionen in Zugführer und Triebfahrzeuge abschrecken. So könnte der Wettbewerb auf den einheimischen Märkten zu Ungunsten von Eisenbahnunternehmen und der Qualität der von diesen Unternehmen bereitgestellten Arbeitsplätze verzerrt. Die Preise könnten steigen, die verfügbaren Kapazitäten blieben begrenzt und die Spekulation könnte blühen.

4.3.8.   In der Europäischen Union ist heute jedoch festzustellen, dass Unternehmen - abgesehen von Eisenbahnunternehmen (d.h. Logistikdienste, Händler, Hersteller) - großes Interesse an einer Ausweitung ihrer Nutzung der Schiene haben (7). Einige europäische Eisenbahnunternehmen haben bereits Logistikunternehmen erworben, um Fracht auf die Schiene zu bringen, die bislang über die Straße befördert wurde. Unter diesen Bedingungen ist es möglich, dass die zugelassenen Antragsteller über ein sozialverträgliches und innovatives Konzept in naher Zukunft eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Schienengüterverkehrskorridoren spielen werden.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Artikel 1 Absatz 2, KOM(2008) 852 endg.

(2)  Ca. 80 % des Schienenverkehrs in Europa verläuft über elektrifizierte Bahnstrecken.

(3)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 41-44.

(4)  Die Notwendigkeit effizienter Rechtsinstrumente, einer Mobilisierung der Politik und von Investitionen wurde im Rahmen der vom EWSA am 28.4.2009 in Brünn (Brno) in der Tschechischen Republik im Rahmen des tschechischen Ratsvorsitzes veranstalteten Anhörung zum Thema „Europäisches Schienennetz für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr“ erneut betont.

(5)  Einer Studie der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (GEB) zu den Schienengüterverkehrskorridoren zufolge, die von der Beraterfirma McKinsey durchgeführt wurde, könnten Investitionen in Höhe von 145 Mrd. EUR bis 2020 die Kapazität des Schienenverkehrs um 72 % auf 6 großen Schienengüterverkehrskorridoren auf der Grundlage der ERTMS-Korridore erhöhen, was 34 % des in Europa transportierten Gütervolumens entspricht.

(6)  Daher ist es wichtig, auf EU-Ebene die Verordnung (EG) Nr. 1875/2006 der Kommission zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften wirkungsvoll durchzusetzen.

(7)  Positionspapier des CLECAT, Brüssel, 19.1.2009.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden“

KOM(2008) 817 endg. — 2008/0237 (COD)

(2009/C 317/18)

Berichterstatterin: Anna Maria DARMANIN

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 19. Januar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 71 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden

KOM(2008) 817 endg. — 2008/0237 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatterin war Anna Maria DARMANIN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 75 gegen 3 Stimmen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Kommissionsvorschlag über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr, einem als kostengünstigere Beförderungsalternative sehr gefragten Verkehrsträger.

1.2.   In dem Vorschlag werden die verschiedenen Grundrechte dargelegt, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt werden, namentlich Freizügigkeit, Verbot von Diskriminierungen aus Gründen einer Behinderung und Verbraucherschutz. Der Ausschuss befürwortet daher weitgehend den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission, möchte jedoch einige Empfehlungen zu seiner Verbesserung aussprechen.

1.3.   Der Ausschuss befürchtet, dass einige Textstellen Anlass zu Fehlinterpretationen geben könnten. Folgende Aspekte sind zu klären:

die Verantwortung für die Bereitstellung von Diensten für Menschen mit Behinderungen: Es muss klarer aus dem Wortlaut hervorgehen, dass es der Europäischen Kommission in erster Linie darum geht, Diskriminierungen in Bezug auf die Bereitstellung (bzw. Nichtbereitstellung) von Fahrgastinformationen über Dienste, die für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind, zu beseitigen;

die Haftung des Verkehrsunternehmens bei Gepäckverlust: Diese sollte eindeutig festgelegt werden. Außerdem muss eine Art Check-In-System eingerichtet werden;

die Bereitstellung von Informationen an Bushaltestellen nach Abfahrt: Diese gestaltet sich sehr schwierig, weshalb die Praxistauglichkeit der Erstellung und Übermittlung derartiger Informationen untersucht werden sollte;

die Verwendung des Begriffs „Busbahnhof“: Dieser Begriff ist ungeeignet, da es sich zumeist nicht um Busbahnhöfe, sondern nur um einfache Bushaltestellen handelt – und wenn doch, dann sind nicht die Verkehrsunternehmen dafür zuständig.

1.4.   Der Ausschuss hält fest, dass die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Bestimmungen für Fahrgastrechte auf den Stadt- und Vorortverkehr die Qualität der Dienste und das Image dieses Sektors verbessern würde. In Anbetracht der zahlreichen Unterschiede zwischen dem städtischen und dem internationalen Kraftomnibusverkehr gelangt er jedoch zu der Auffassung, dass es vielleicht sinnvoller wäre, eine Unterscheidung der Fahrgastrechte in Bezug auf diese beiden Beförderungsarten vorzunehmen und spezifische Fahrgastrechte für Stadt- und Vorortverkehrsdienste auszuarbeiten. Der Verordnungsvorschlag sollte sich daher nicht unbedingt auf Stadt- und Vorortverkehrsdienste erstrecken.

1.5.   Die Schulung der Mitarbeiter von Verkehrsunternehmen ist für die Bereitstellung von Diensten für Menschen mit Behinderungen von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss unterstützt diesbezüglich die Aufnahme von Artikel 18 über Schulungsmaßnahmen für Busfahrer.

2.   Kommissionsvorschlag

2.1.   Die Europäische Kommission hat 2005 ein Konsultationsverfahren zu Fahrgastrechten im grenzüberschreitenden Kraftomnibusverkehr eingeleitet, an dem sich zahlreiche Fachverbände, Organisationen der Zivilgesellschaft, nationale Agenturen und Mitgliedstaaten beteiligt haben.

2.2.   Die Europäische Kommission hat außerdem eine Folgenabschätzung für die folgenden Politikoptionen vorgenommen:

Beibehaltung des Status quo;

Mindestschutz;

Maximaler Schutz;

Freiwillige Verpflichtungen und Selbstregulierung.

Aufgrund dieser Folgenabschätzung wurde eine Kombination dieser Optionen für die verschiedenen ermittelten Schutzaspekte angewendet.

2.3.   Durch den Vorschlag sollen im Wesentlichen Rechte für Fahrgäste im Kraftomnibusverkehr festgeschrieben werden, um die Attraktivität des Omnibusverkehrs und das Vertrauen in diesen Verkehrsträger zu steigern sowie einheitliche Bedingungen für den Wettbewerb zwischen Verkehrsunternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten und zwischen verschiedenen Verkehrsträgern zu schaffen.

2.4.   Der Vorschlag enthält Bestimmungen für folgende Bereiche:

Haftung für von Fahrgästen erlittene Personenschäden (einschließlich Tod) sowie für Beschädigung oder Verlust des Reisegepäcks;

Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts in den Beförderungsbedingungen von Omnibusunternehmen;

Hilfeleistung für Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität;

Pflichten von Omnibusunternehmen bei Annullierung von Fahrten und bei Verspätungen;

Informationspflichten;

Umgang mit Beschwerden;

allgemeine Durchsetzungsvorschriften.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Kommissionsvorschlag über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr, die in den einzelnen Mitgliedstaaten bislang sehr stark voneinander abweichen. Nach Meinung des Ausschusses sind klare Leitlinien für den Schutz der Rechte der Fahrgäste, die diesen Verkehrsträger benutzen, erforderlich, zumal der Kraftomnibusverkehr in den meisten Ländern der am wenigsten regulierte Verkehrsträger ist.

3.2.   Der Ausschuss befürwortet die Stärkung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung sowie die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität in diesem Vorschlag, fordert allerdings spezifische Klarstellungen, um Ungenauigkeiten auszuräumen und so Fehlinterpretationen des Textes vorzubeugen.

3.3.   Da einige Verpflichtungen aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen übernommen wurden, sollten die Mitgliedstaaten ein auf Verkehrsunternehmen anzuwendendes Sanktionssystem im Falle von Verstößen gegen diese Rechte festlegen.

3.4.   Hinsichtlich der Rechte von Fahrgästen mit Behinderungen ist nach Meinung des Ausschusses die Option „Maximaler Schutz“ unbedingt der geeignete Ansatz, damit die Achtung, die Würde und die Rechte des Einzelnen auch wirklich gewährleistet werden. Um jedoch eine korrekte Anwendung der Rechtsvorschriften sicherzustellen, müssen die entsprechenden Regelungsstandards so schnell wie möglich umgesetzt und aufmerksam überwacht werden.

3.5.   Es ist angemessen, dass der Vorschlag Vorschriften für Kraftomnibusverkehrsdienste enthält. Mit Artikel 2 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags wird ein vergleichbares Schutzniveau in der gesamten Europäischen Union sichergestellt; dies steht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und trägt den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung.

3.6.   In Bezug auf die Haftung von Omnibusunternehmen für Fahrgäste und Reisegepäck sollte klargestellt werden, dass die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Höhe der Entschädigung die Möglichkeit der betroffenen Verbraucher unberührt lassen sollte, gegebenenfalls den Rechtsweg zu beschreiten. Nach dem Vorbild anderer Verkehrsträger sollte eine Entschädigungsregelung eingeführt werden.

3.7.   Der Ausschuss betont, dass es oftmals die schwächsten Bevölkerungsgruppen sind, die diese grenzüberschreitenden Verkehrsträger nutzen, und befürwortet daher die neuen, von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen.

3.8.   Nach Auffassung des Ausschusses sollten Aktionspläne aufgestellt werden, damit Menschen mit eingeschränkter Mobilität in Busbahnhöfen, an Bushaltestellen und an Bord der Busse die erforderliche Hilfe bekommen. Vertreter von Menschen mit Behinderungen und Omnibusunternehmen sollten hierbei eine Schlüsselrolle übernehmen.

3.9.   Zwar sollte als vorrangiges Ziel stets der Komfort der Fahrgäste angestrebt werden, doch sollten in die Überlegungen über Entschädigungen und Erstattungen auch folgende Aspekte einfließen:

Verletzung oder Tod infolge der Nutzung des Transportmittels;

Fahrtannullierung, Verspätungen oder Umleitungen;

Verlust von Eigentum durch das Verkehrsunternehmen und

Informationsmangel.

3.10.   Unter all diesen Umständen muss jedoch die Verantwortung des Verkehrsunternehmens erwiesen sein. Außerdem darf die Entschädigungslast nicht zu dessen wirtschaftlichem Untergang führen. Daher sollten die Entschädigungen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse sowohl der Verbraucher als auch der Verkehrsunternehmen realistisch bemessen sein und prompt geleistet werden.

3.11.   Schadensersatzansprüche sollten einfach erhoben werden können; in den einschlägigen Bestimmungen sollte festgelegt werden, dass die Verfahren sowohl in dem Mitgliedstaat, der Reiseziel ist, als auch im Wohnsitzland angestrengt werden können.

3.12.   Der Informationszugang ist von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss begrüßt daher, dass in dieser Frage die Option „Maximaler Schutz“ gewählt wurde, zumal Information eines der besten Mittel ist, um Unannehmlichkeiten im Reiseverkehr zu vermeiden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Nahverkehr

4.1.1.   Der Ausschuss befürwortet den Kommissionsvorschlag, da mit der Anwendung dieser Verordnung der Binnenmarkt ganz allgemein vertieft und die Fahrgastrechte, insbesondere von Menschen mit Behinderungen, gestärkt werden, sowie die Einführung der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, Stadtverkehrs-, Vorortverkehrs- und Regionalverkehrsdienste, die in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 vom 23. Oktober 2007 erfasst werden, von dem Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.

Er ist jedoch der Ansicht, dass zum Schutz der Verbraucherrechte in dem mit diesem Verordnungsvorschlag beabsichtigten Ausmaß eine ganze Reihe öffentlicher Dienstleistungsverträge überarbeitet werden müsste, die gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 abgeschlossen wurden. Außerdem unterscheiden sich die Bedingungen, Infrastruktur und Ausrüstung für Straßenverkehrsdienste (die in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 fallen) und für den grenzüberschreitenden Personenverkehr mit Kraftomnibussen so sehr, dass ein Vergleich kaum möglich ist.

Der Ausschuss würde vorziehen, dass Stadtverkehrs-, Vorortverkehrs- und Regionalverkehrsdienste vollkommen aus diesem Verordnungsvorschlag ausgenommen und die Rechte ihrer Benutzer in einer gesonderten Verordnung behandelt werden.

4.2.   Zugänglichkeit

4.2.1.   Der Ausschuss bedauert, dass die Situation von Menschen mit Behinderungen in diesem Vorschlag nicht gezielter und ausführlicher berücksichtigt wurde bzw. keine fortschrittlicheren Normen für den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität festgelegt wurden. Ihr Zugang zu Verkehrsdiensten muss unbedingt gewährleistet werden.

Die praktische Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen würde keinerlei neue Belastung für die Unternehmen nach sich ziehen, da die in dieser Verordnung verankerten Verpflichtungen aus anderen Gemeinschaftsvorschriften wie der Richtlinie 2001/85/EG (1) abgeleitet sind. In Erwägungsgrund 11 dieser Richtlinie ist Folgendes festgehalten: „(…) im Einklang mit der Verkehrs- und der Sozialpolitik der Gemeinschaft sind jedoch auch technische Vorschriften für die Zugänglichkeit der unter diese Richtlinie fallenden Fahrzeuge für Personen mit eingeschränkter Mobilität erforderlich. Es muss alles unternommen werden, um die Zugänglichkeit dieser Fahrzeuge zu verbessern.“

4.2.2.   Der Ausschuss vertritt daher die Auffassung, dass die neuen Verpflichtungen für Verkehrsunternehmen als gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen anerkannt werden sollten. Aus diesem Grund sollte eine finanzielle Abgeltung nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße erfolgen.

4.2.3.   Ziel ist es, Menschen mit eingeschränkter Mobilität einschließlich stark übergewichtiger Menschen vergleichbare Möglichkeiten für Busreisen wie Menschen ohne Mobilitätseinschränkungen zu eröffnen. Der Ausschuss unterstützt daher Vorschriften, die Diskriminierungen verbieten und zur Bereitstellung von Hilfeleistungen für diese Fahrgäste während der Reise verpflichten, wie sie, wenn auch unzureichend, in dem Verordnungsvorschlag dargelegt werden. Hierfür müssen die Verbände der Verkehrsunternehmen und die Organisationen von Menschen mit Behinderungen gemeinsam Voraussetzungen für die Zugänglichkeit der Dienste ermitteln.

4.2.4.   Aus gerechtfertigten Gründen wie der Straßenverkehrssicherheit kann die Gewährleistung der Zugänglichkeit verweigert werden, doch darf dies nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen geschehen. Der Zugang sollte nur aus objektiven, nichtdiskriminierenden und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügenden Gründen verweigert werden können, die zuvor veröffentlicht und eng ausgelegt werden, da sie die Freizügigkeit einschränken. Aus Artikel 5 des Verordnungsvorschlags wird deutlich, dass es um unveräußerliche Rechte geht.

4.2.5.   Der Ausschuss fordert die Europäische Kommission auf, das Verfahren zur Normung von Rollstühlen und Rollstuhlbefestigungssystemen einzuleiten, damit diese sicher in Bussen genutzt werden können.

4.2.6.   Der Ausschuss befürwortet Initiativen wie „Beförderung auf Abruf“, die für Menschen mit Behinderungen oftmals eine gute Alternative sein können. Daher würde der Ausschuss die Aufnahme derartiger Dienste in Ausschreibungen im Verkehrswesen begrüßen.

4.2.7.   In Kapitel III des Verordnungsvorschlags sind die Beförderungspflicht sowie Vorschriften für das Recht auf Hilfe in Busbahnhöfen und im Fahrzeug, die Voraussetzungen, unter denen diese Hilfe geleistet wird, die Benachrichtigung Dritter und die Haftung für Rollstühle und Mobilitätshilfen verankert. All dies ist zwar angemessen, aber durchaus ausbaufähig. Der Ausschuss empfiehlt die Auszeichnung von Verkehrsunternehmen, die über die verpflichtenden Maßnahmen hinausgehen, um wirklich an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasste Verkehrsdienste anzubieten.

4.3.   Schulung von Personal

4.3.1.   Mit Schulungsmaßnahmen steht und fällt die Bereitstellung von Diensten für Menschen mit Behinderungen. Der Ausschuss befürwortet daher ausdrücklich Artikel 18 des Verordnungsvorschlags. Dies wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit für eine weiterführende Zusammenarbeit zwischen den Verbänden der Verkehrsunternehmen und den Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die derartige Schulungen durchführen könnten.

4.4.   Entschädigung im Todesfall

4.4.1.   Der Ausschuss räumt zwar ein, dass Vorauszahlungen für entschädigungsberechtigte natürliche Personen, die einen Angehörigen bei einem Verkehrsunfall verloren haben, zum Teil spät erfolgen, ist jedoch der Meinung, dass nach Maßgabe des erlittenen Schadens 15 Tage eine angemessene Frist für Vorauszahlungen zur Deckung eines etwaigen unmittelbaren Finanzbedarfs an die Familien der Opfer von Verkehrsunfällen mit tödlichem Ausgang oder an die Opfer selbst ist, die infolge des Unfalls Beeinträchtigungen der körperlichen oder der geistigen Gesundheit davongetragen haben.

4.4.2.   Diesbezüglich empfiehlt der Ausschuss die Klarstellung von Artikel 8, um als „entschädigungsberechtigte Person“ insbesondere auch Minderjährige festzulegen, die ihre Eltern (bzw. ihren Vormund) verloren haben.

4.5.   Gepäckverlust

4.5.1.   Der Ausschuss befürwortet, dass die Fahrgastrechte bei Gepäcksdiebstahl oder -verlust sichergestellt werden sollten und die Fahrgäste daher Anspruch auf Entschädigung haben. Omnibusunternehmen sollten für den Verlust des ihnen anvertrauten Gepäcks haften. Zur Gewährleistung der Rechtssicherheit sollte Europäische Kommission daher die Vorschriften von Artikel 9 des Verordnungsvorschlags präzisieren, da der derzeitige Wortlaut unklar ist und eine unterschiedliche Auslegung je nach Umständen zulässt.

4.5.2.   Der Ausschuss hebt diesbezüglich insbesondere hervor, dass der Verkehrsunternehmer nicht dazu verpflichtet ist, dem Verbraucher einen Check-In-Dienst anzubieten.

4.5.3.   Nach Meinung des Ausschuss sollten auch gesonderte Vorschriften für den Verlust oder die Beschädigung von Mobilitätshilfen von Menschen mit Behinderungen gelten.

4.6.   Informationen bei Versäumen von Anschlussverbindungen

4.6.1.   Es gilt, alle nur erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, damit die Fahrgäste rechtzeitig über etwaige Verspätungen oder das Versäumen von Anschlussverbindungen informiert werden. Es ist jedoch manchmal sehr kompliziert, die entsprechende Information an den Fahrgast weiterzuleiten. Daher erachtet der Ausschuss Artikel 21 als praxisuntauglich, seine Bestimmungen können angesichts der Wesensmerkmale von Bushaltestellen, die schließlich normalerweise nicht bemannt sind, nur schwer in die Praxis umgesetzt werden.

4.6.2.   Der Ausschuss schlägt vor, dass die Europäische Kommission FuE-Mittel für die Konzipierung und Umsetzung von IKT für Fahrgastinformationssysteme bereitstellen sollte, die zuverlässige und sichere Daten in Echtzeit an den Bushaltestellen liefern, und spricht sich für die Entwicklung leichter On-Board-Informationssysteme zur Vereinfachung der Reiseplanung (Intelligente Verkehrssysteme - IVS) aus.

4.7.   Busbahnhöfe

4.7.1.   Die Europäische Kommission verweist in ihrem Verordnungsvorschlag mehrmals auf „Busbahnhöfe“. Derartige Busbahnhöfe bestehen in der Regel nicht oder wenn doch, dann fallen sie meistens in die Zuständigkeit von Bahnhöfen und Flugplätzen. In allen anderen Fällen gibt es kaum echte Busbahnhöfe, sondern nur unbemannte Haltestellen.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. L 42 vom 13.2.2002, S. 1-102.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/103


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1321/2004 über die Verwaltungsorgane der europäischen Satellitennavigationsprogramme“

KOM(2009) 139 endg. — 2009/0047 (COD)

(2009/C 317/19)

Berichterstatter: Thomas MCDONOGH

Der Rat beschloss am 21. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 156 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1321/2004 über die Verwaltungsorgane der europäischen Satellitennavigationsprogramme

KOM(2009) 139 endg. — 2009/0047 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 26. Juni 2009 an. Berichterstatter war Thomas McDONOGH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 174 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Vorschläge der Kommission voll und ganz, da Rechtsvorschriften, die 2004 in Kraft getreten sind, sehr veraltet sein können.

1.2.   Die Sicherheit der Systeme ist von entscheidender Bedeutung, Maßnahmen zur Ausschaltung von Hackern sollten ergriffen werden.

1.3.   Die vorgeschlagenen Sicherheitsüberprüfungen sind bei den Mitarbeitern durchzuführen, da im Verwaltungsorgan zivile Mitarbeiter beschäftigt sind. Die Mitarbeiter sollten sich auch ihrer großen Verantwortung gegenüber den Endnutzern bewusst sein, damit Kontinuität und Zuverlässigkeit des Dienstes sichergestellt werden.

1.4.   Die Kosten für die Nutzer müssen im Vergleich zu ähnlichen Systemen konkurrenzfähig sein.

1.5.   Es ist wichtig, dass sich die Europäische Union unabhängig von anderen Anbietern macht, die ihre Systeme nach Belieben ausschalten und die Tätigkeiten der Endnutzer entweder für kommerzielle oder für militärische Zwecke beobachten könnten.

1.6.   Galileo sollte den Unionsbürgern auf geeignete Weise verständlich gemacht werden, da es das Leben der meisten Bürgerinnen und Bürger - von Piloten bis zu Bergleuten und Landwirten - direkt oder indirekt beeinflussen wird, und damit sein volles Potenzial ausgeschöpft werden kann.

1.7.   Der EWSA sollte in verschiedenen Phasen des Beschlussfassungsprozesses in Bezug auf die Fortschritte bei der Umsetzung des Projekts konsultiert werden.

1.8.   Der EWSA unterstützt die Finanzierung von europäischen GNSS-Programmen und betont, dass der Erfolg der Programme durch eine mehrjährige Finanzierung sichergestellt werden sollte.

1.9.   Die Rolle des EWSA sollte anerkannt werden. GNSS-Programme haben direkten Einfluss auf die Bürgerinnen und Bürger, daher sollte der EWSA umfassend informiert und konsultiert werden. Galileo wird von Zivilisten entwickelt und kontrolliert, Transparenz ist erforderlich. Die Europäische Kommission sollte den EWSA auch weiterhin konsultieren, da im Zusammenhang mit der Aufsicht, mit Persönlichkeitsrechten und der Privatsphäre zu einem späteren Zeitpunkt wesentliche Fragen entstehen werden.

2.   Einleitung

2.1.   Der EWSA hat bereits mehrere Stellungnahmen zu Galileo verabschiedet (1).

2.2.   Galileo muss so schnell wie möglich in Gang gebracht werden, damit Europa ebenso wie die Vereinigten Staaten über ein eigenes Satellitennavigationssystem verfügt und nicht von anderen abhängig ist, die diese Dienste anbieten.

2.3.   So wird aus nationaler Sicht die Sicherheit verbessert, und aus kommerzieller Sicht werden Einnahmen erzielt. Dies sollte die kommerzielle Nutzung ermöglichen und eine wertvolle Einnahmequelle darstellen.

2.4.   Der EWSA sollte der Kommission für diese dringend erforderliche Rechtsvorschrift seine volle Unterstützung zukommen lassen.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu europäischen GNSS-Programmen

3.1.   Die EU muss von anderen großen, weltweit agierenden Anbietern von Satellitendiensten unabhängig sein. Galileo wird jedoch effizienter auf dem Weltmarkt sein, EGNOS wird andere Systeme ergänzen und die Qualität der Informationen verbessern.

3.2.   Galileo bietet zudem einigen Mitgliedstaaten, die ansonsten nicht in der Raumfahrt tätig wären, einen Zugang zu Raumfahrtvorhaben. GNSS-Programme sollten eine gute PR erhalten, wodurch sich das Image der EU in der Öffentlichkeit verbessern und der Erfolg der Programme sichergestellt würde. Sensibilisierungsmaßnahmen bezüglich der Vorteile europäischer GNSS-Programme sind erforderlich, damit die Öffentlichkeit das Beste aus den neuen Möglichkeiten machen kann.

3.3.   Europäische GNSS-Programme können einen positiven Einfluss auf andere EU-Politiken haben.

3.4.   Die Forschung in diesem Bereich sollte gefördert werden.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Eine rasche und explizite Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1321/2004 ist aus folgenden Gründen angezeigt:

Die derzeitige Situation, d.h. das Nebeneinander zweier einander teilweise widersprechender Texte, nämlich der Verordnung (EG) Nr. 1321/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 683/2008, ist in rechtlicher Hinsicht unbefriedigend.

Zwar sieht die Verordnung (EG) Nr. 683/2008 vor, dass die Kommission für alle Fragen in Verbindung mit der Sicherheit der Systeme zuständig ist, doch wird gleichzeitig der Aufsichtsbehörde die Aufgabe der Sicherheitsakkreditierung übertragen. Es bedarf dringend einer Klärung, worin genau die Rolle der Behörde in Bezug auf Sicherheit und Akkreditierung besteht.

4.2.   Der Änderung der Verordnung zufolge sollen der Agentur folgende Aufgaben übertragen werden:

Sicherheitsakkreditierung: Die Agentur initiiert und überwacht die Anwendung der Sicherheitsverfahren und führt Prüfungen in Bezug auf die Sicherheit der europäischen GNSS-Systeme durch.

Sie arbeitet an der Vorbereitung der kommerziellen Nutzung der europäischen GNSS-Systeme, einschließlich der Durchführung der erforderlichen Marktanalyse, mit.

Sie gewährleistet den Betrieb der Galileo-Sicherheitszentrale.

4.3.   Eine Ex-ante-Bewertung wurde bei Errichtung der Agentur im Jahr 2004 vorgenommen.

4.4.   Mit dieser Änderung der die Agentur betreffenden Bestimmungen für ihre Lenkung sollen die Lehren aus den Erfahrungen gezogen werden, die bisher in Bezug auf die Verwaltung der Agentur, den von ihr geleisteten Beitrag und ihre Rolle innerhalb der europäischen Satellitennavigationsprogramme gewonnen wurden.

4.5.   Ein neuer Rahmen für die öffentliche Lenkung ist daher erforderlich. Die Verordnung (EG) Nr. 683/2008 sieht Folgendes vor:

eine strikte Trennung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Gemeinschaft, vertreten durch die Kommission, der Behörde und der Europäischen Weltraumorganisation;

sie überträgt der Kommission die Verantwortung für die Verwaltung der Programme und

legt die der Agentur damals übertragenen Aufgaben genau fest.

4.6.   Die Errichtung von Satellitennavigationssystemen kann auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden, da dies die finanziellen und technischen Möglichkeiten eines einzelnen Mitgliedstaates übersteigt. Eine Maßnahme auf Gemeinschaftsebene ist somit der am besten geeignete Weg für die Durchführung der europäischen GNSS-Programme (Galileo und EGNOS).

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 73-75.

ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 47.

ABl. C 324 vom 30.12.2006, S. 41-42.

ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 28.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/105


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa“

KOM(2008) 725 endg.

(2009/C 317/20)

Berichterstatter: Arno METZLER

Die Europäische Kommission legte am 10. Dezember 2008 eine an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen gerichtete Mitteilung vor:

Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa

KOM(2008) 725 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatter war Arno METZLER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli 2009) mit 104 gegen 29 Stimmen bei 29 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Bewertungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1.   Der EWSA begrüßt die Vorlage des Grünbuches über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa durch die EU-Kommission. Der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf die Arbeitskräfte und die Arbeitsbelastungen im Gesundheitswesen werden durch das Grünbuch dargestellt.

1.2.   Nach Meinung des EWSA müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Gesundheitsberufe für junge Menschen attraktiver zu gestalten, damit diese vermehrt Gesundheitsberufe ergreifen.

1.3.   Der EWSA empfiehlt die Schaffung ausreichender personeller Kapazitäten im Gesundheitswesen, um den Pflegebedarf abdecken zu können und Vorsorge, Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken.

1.4.   Der unerwünschten Abwanderung von Gesundheitsfachkräften in andere Länder kann nach Meinung des EWSA durch eine höhere Entlohnung, bessere Arbeitsbedingungen ggf. neue Verantwortungen entgegengewirkt werden. Neue Verantwortungen bedingen die entsprechenden Qualifikationen. Dies würde auch allgemein die Attraktivität des Sektors erhöhen.

1.5.   Der Umfang der statistischen Daten über die Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in der EU, insbesondere im Bereich der Migration und Mobilität, die als Basis für die Entscheidungsfindung dienen, muss erheblich verbessert werden.

1.6.   Der Einsatz neuer Technologien im Gesundheitswesen, die zu einer Entlastung der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen führen, die Qualität der Leistungserbringung erhöhen und die Patienten unterstützen, ist zu fördern. Der EWSA ist sich bewusst, dass dies dazu führen kann, dass die Funktionsweise der Verantwortungskette im medizinischen Bereich erneut überdacht werden muss.

1.7.   Der EWSA betont die wichtige Rolle von Sozialstandards zur Sicherung einer hohen Versorgungsqualität in der Patientenversorgung und der Patientensicherheit und erteilt allen Versuchen diese aufzuweichen eine klare Absage (kein „race to the bottom“).

1.8.   Der EWSA betont die wichtige Rolle, die die Freien Berufe neben der zentralen Säule der Krankenhäuser und öffentlichen Gesundheitsdienste im Gesundheitswesen spielen, da besonders durch diese Freien Berufe die Behandlungs- bzw. Pflegebeziehung zum Menschen unter kompetenten und sicheren Bedingungen gewährleistet werden kann. Die Angehörigen der Freien Berufe haben dank der Bemühungen zugunsten des öffentlichen Bildungswesens, die von der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten getragen werden, eine qualitativ hochwertige Ausbildung erhalten. Die Mitglieder des EWSA, die diese Zivilgesellschaft vertreten, stehen dem Bestreben der Kommission, medizinische Fachkräfte zur freiberuflichen Tätigkeit zu ermutigen, skeptisch gegenüber. Zugleich sieht der EWSA eine zunehmende Tendenz zur Scheinselbstständigkeit überall dort kritisch, wo dies der Tätigkeit nach problematisch erscheint (z.B. in der Kranken- und Altenpflege).

1.9.   Der EWSA sieht die Diskussion über neue Aufgabenverteilungen im Gesundheitswesen, mit dem Ziel, die Ausübung der Heilkunde durch qualifizierte Kräfte durch kostengünstigere Alternativen zu ersetzen, mit Besorgnis. Der EWSA ist der Meinung, dass sich die Strukturüberlegungen zur Aufgabenverteilung der Gesundheitsberufe an den medizinischen Notwendigkeiten, dem Qualifikationsniveau sowie den Patientenbedürfnissen orientieren sollten.

1.10.   Der EWSA ist dezidiert der Auffassung, dass Gesundheitseinrichtungen mit ihren Arbeitskräften Einrichtungen der Daseinsvorsorge darstellen und daher der Strukturfonds für die Aus- und Weiterbildung medizinischer Fachkräfte intensiver genutzt werden sollte. Der EWSA betont nachdrücklich, dass für diese Fachkräfte unbedingt die zu ihrer Weiterbildung erforderlichen Bedingungen gewährleistet werden müssen, damit sie ihre Qualifizierung in der Breite und in der Tiefe ausbauen können, aber auch damit Unterversorgung in strukturschwachen Regionen beseitigt wird.

1.11.   Der EWSA betont die herausragende Rolle der Sozialpartner und des sozialen Dialogs bei der Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und Qualifizierung für die Arbeitskräfte des Gesundheitswesens.

1.12.   Nach Meinung des EWSA spielen soziale Berufe eine wichtige Rolle in der Patientenversorgung und Patientenbetreuung und somit eine bedeutende Rolle im Gesundheitswesen.

2.   Zusammenfassung des Papiers der Kommission

2.1.   Das Grünbuch soll als Grundlage für einen intensiven Diskussionsprozess zwischen den EU-Institutionen, den EU-Mitgliedstaaten und den entscheidenden sozialen und wirtschaftlichen Akteuren auf europäischer und nationaler Ebene dienen. Es stellt ein Rahmenwerk dar, in dem die Anforderungen langfristig berücksichtigt werden können.

2.2.   Das Grünbuch konzentriert sich auf neun Schlüsselbereiche:

Demografischer Wandel

Kapazitäten im Gesundheitswesen

Aus-, Weiter- und Fortbildung

Umgang mit der Mobilität und Abwanderung von Fachkräften in der EU

Weltweite Migration medizinischer Fachkräfte

Datenlage als Grundlage für Entscheidungen

Die Einführung und Verbreitung neuer Technologien zur Effizienzsteigerung und Steigerung der Versorgungsqualität

Die Stärkung des Prinzips der Selbstständigkeit

Kohäsionspolitik.

2.3.   Der Kontext

2.3.1.   Die Gesundheitssysteme der EU müssen eine stetige Zunahme der Nachfrage nach Leistungen bewältigen, auf sich verändernde Gesundheitsbedürfnisse reagieren und auf größere Krisen der öffentlichen Gesundheit vorbereitet sein. Dies im Zusammenhang mit einem Erwartungshorizont, der eine hohe Qualität der Gesundheitsdienstleistungen voraussetzt. Es muss anerkannt werden, dass es sich um einen arbeitsintensiven Wirtschaftssektor handelt, in dem einer von zehn Beschäftigten der europäischen Arbeitnehmerschaft tätig ist und dass im Schnitt 70 % der Gesundheitsausgaben für Löhne und Gehälter verwendet werden.

2.3.2.   Artikel 152 des EU-Vertrags stellt fest, dass „Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation und das Zurverfügungstellen der Gesundheitsdienste und Gesundheitsversorgung voll respektieren sollten“ und zugleich die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten begünstigt werden sollte, um eine Koordination von Strategien und Programmen sowie eine gegenseitige Information über erfolgreiche Programme in den einzelnen Mitgliedstaaten zu fördern.

2.3.3.   Im Grünbuch legt die Europäische Kommission wichtige Schlüsselfragen dar, die Probleme und Herausforderungen der Gesundheitsversorgung aufgreifen, um Diskussionen anzuregen. Diese Schlüsselfragen umfassen:

die alternde Bevölkerung,

neue Technologien,

die Notwendigkeit einer Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen,

die Qualität der Angebote und damit kostenintensiver werdenden Behandlungen,

der Ausbruch und das Potenzial epidemisch entstehender Erkrankungen und

die Verfügbarkeit einer wohnortnahen Gesundheitsversorgung.

Definition Arbeitskräfte: Unter Arbeitskräfte im Gesundheitswesen werden alle Kräfte im Gesundheitswesen verstanden, die Leistungen erbringen in der Krankenpflege und -betreuung, der Pflege, der Sozialen Versorgung und Betreuung sowie alle Angehörigen von Fachberufen.

2.3.4.   In allen Mitgliedstaaten ist zurzeit eine Diskussion über den notwendigen Umfang und die Verfügbarkeit des Arbeitskräftepotenzials im Gange, der für die nächste Dekade und darüber hinaus notwendig sein wird. In einigen Mitgliedstaaten besteht schon ein erheblicher Nachwuchs- und Fachkräftemangel, insbesondere dort, wo überwiegend ältere Leistungserbringer tätig sind.

2.3.5.   Neben dem auf dieser Basis bestehenden Arbeitskräftemangel ist auch noch ein Arbeitskräfteabfluss aus der EU in andere Länder, z.B. in die USA oder die Schweiz, insbesondere im hochqualifizierten Sektor des Gesundheitswesens festzustellen.

Auch innerhalb der EU ist eine hohe Mobilitäts- und Migrationsquote zu verzeichnen. Ausgeprägte Wanderungsbewegungen zwischen den einzelnen Ländern sind im Gange.

Die Wanderung der Arbeitskräfte in der Gesundheitsversorgung ist von existenziellem Interesse. Das Gehaltsgefälle und Unterschiede in den Arbeitsbedingungen sind Ursachen dieser Entwicklung. Die Verschiedenheit der Systemstrukturen wirkt sich stark auf die Angebots- und die Qualifikationsstrukturen aus.

2.3.6.   Die Kommission ermöglicht mit dem Grünbuch, auch in einer öffentlichen Konsultation zur Zukunft der Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa die Probleme der Gesundheitsberufe stärker in den Vordergrund zu rücken und ein klares Bild der zukünftigen Herausforderungen zu zeichnen. Sie trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Gesundheitsversorgung ein ganz zentrales und elementares Bedürfnis aller EU-Bürger darstellt. Ebenso berücksichtigt sie damit, dass ohne genügende Gesundheitsversorgung die Grundfreiheiten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sehr schnell eingeschränkt sein können.

2.3.7.   Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsfürsorge haben einen ökonomischen Bestandteil. Das Gesundheitswesen erfordert ausgebildete und im hohen Maße erfahrene Arbeitskräfte mit anerkannten Qualifikationen, die einen wesentlichen Bestandteil der Wissensgesellschaft darstellen.

3.   Bemerkungen des EWSA zu den Lösungsansätzen des Grünbuches

3.1.   Lösungsansätze der EU-Kommission:

Aufgrund beschränkter Zuständigkeit im Gesundheitsbereich ist die Kommission mit Lösungsvorschlägen zurückhaltend. Sie sieht zum einen, dass der Anteil der Frauen in den Gesundheitsberufen in den letzten Jahren gestiegen ist und schlägt deshalb zur Sicherung des Gesundheitskräfte- und Fachpersonalangebots eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben sowie dazu notwendige Maßnahmen vor. Sie fordert zum anderen solide Planungsstrategien und legt nahe, Investitionen in die Ausweitung von Fortbildungen in allen europäischen Staaten zu verstärken, damit Arbeitskräfte im Gesundheitswesen nicht in nur wenigen Staaten ausgebildet und in anderen Staaten nur eingesetzt werden, was zu weiterer Reduzierung von Ausbildungskapazitäten führen könnte. Die Verbesserung der Qualifikationsmöglichkeiten, insbesondere im Weiterbildungs- und Fortbildungsbereich, würden auch die Personaleinstellungs- und Bildungsmotivationen verbessern.

3.2.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt das Grünbuch als umfassendes Diskussionspapier zu den großen Herausforderungen der Gesundheitssysteme, des Gesundheitswesens und die Arbeitskräfte in Europa betreffend. Es regt öffentliche Diskussionen im Rahmen der Lissabon-Strategie an, um wissensbasierte Dienstleistungen zu fördern. Es sieht Gesundheitsversorgung als integrales Fach.

3.3.   Der EWSA ist der Meinung, dass der Markt für Gesundheitsdienstleistungen als ein Markt mit besonderen Regeln gesehen werden sollte, da er direkten Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung hat. Die EWSA schlägt daher eine Diskussion über die Probleme, die durch den fragmentierten Charakter der Gesundheitsversorgung in einigen Ländern verursacht werden, vor, besonders jener Systeme, die nicht direkt vom Staat kontrolliert werden, was es recht schwer macht, einen einheitlichen Standard in der Entwicklung der Qualifikationen sowie der Weiterbildung zu sichern.

3.4.   Demografie und Förderung der Nachhaltigkeit der Arbeitskräfte

3.4.1.   Der EWSA betont, dass bereits ein hoher Anteil von Frauen in Berufen des Gesundheitsbereiches arbeitet und dass ihre Anzahl sehr wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Das gilt für alle Arten von Tätigkeiten. Gleichberechtigung ist notwendig, um gemäß den Gleichberechtigungsrichtlinien gleiche Bedingungen für die Geschlechter zu erreichen und auch mehr Männer dafür zu gewinnen, im Gesundheitswesen in verschiedenen Bereichen tätig zu werden. Dazu würden unter anderem Maßnahmen zählen, die dazu beitragen, das Arbeits- und Familienleben in Einklang zu bringen, die eingebrachten Qualifikationen und die Beschwerlichkeit der Arbeit anzuerkennen und Frauen dabei zu unterstützen, ihre Erwerbstätigkeit fortzuführen und nach längeren Zeiten in der Familie den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu finden.

3.4.2.   Es ist wenig überraschend, welchen Einfluss einwandfreie Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz auf die Angestellten der Gesundheitsversorgung haben. Zufriedenheit und Sicherheit erhöht die Sorgfalt gegenüber den Patienten. Zur Absicherung eines hohen Qualitätsniveaus, der Sicherheit der Patienten und einer entsprechenden Versorgungssicherheit kommt der Arbeitsplatzqualität, der Personalvorsorge und dem Umgang mit den besonderen Belastungen am Arbeitsplatz im Gesundheitsbereich ein ganz besonderer Stellenwert zu. Dazu finden sich im Grünbuch kaum Ansätze.

3.4.3.   Der EWSA nimmt die Forschungsbemühungen der Sozialpartner über Programme zur Rückkehr ins Arbeitsleben zur Kenntnis. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass solche Programme eine entscheidende Rolle dabei spielen können, medizinische Fachkräfte - und insbesondere Frauen - zur Beibehaltung sowie zur Wiederaufnahme ihrer Erwerbstätigkeit zu bewegen, und dass solche Programme künftig immer wichtiger werden, um dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zu begegnen.

3.4.4.   Nach Meinung des EWSA müssen in einigen Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen werden, um Gesundheitsberufe für junge Menschen attraktiver zu gestalten, damit diese vermehrt Gesundheitsberufe ergreifen bzw. im Gesundheitsbereich nach Tätigkeiten suchen. Um mehr junge Menschen und auch mehr Männer zum Berufseinstieg im Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich zu motivieren, muss diese Beschäftigung durch bessere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen während der gesamten beruflichen Laufbahn attraktiver gemacht werden.

3.5.   Kapazitäten im Gesundheitswesen

3.5.1.   Erfolgreiche Prävention und Gesundheitsförderung sowie ein verbessertes Gesundheitsmanagement können den Bedarf an Behandlungs- und Pflegeleistungen senken. Der EWSA empfiehlt daher ausreichende Kapazitäten im Gesundheitswesen, um Vorsorge, Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken. Voraussetzung muss jedoch sein, dass wissenschaftlich fundierte Maßnahmen verfügbar sind, die dann flächendeckend und nachhaltig finanziert werden. Nach Einschätzung des EWSA sollte die Gemeinschaft mit Blick auf die Gesundheitsberufe dabei auch die betriebliche Gesundheitsförderung der Gesundheitsberufe selbst im Blick haben, damit diese selbst gesund und leistungsfähig bleiben (Burn-out-Syndrom). Insbesondere sollte auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer geachtet werden, die am Ende ihrer beruflichen Laufbahn stehen, damit diese verstärkt in die Lage versetzt werden, ohne Gesundheitsprobleme zu arbeiten. Außerdem sollte die Beschwerlichkeit ihres Arbeitslebens bei der Festlegung der Bedingungen für ihren Renteneintritt berücksichtigt werden.

3.6.   Aus-, Weiter- und Fortbildung

3.6.1.   Der EWSA regt an, dass die Probleme der Kleinteiligkeit der Angebotsstrukturen im Gesundheitswesen in den einzelnen Ländern, insbesondere in solchen, die nicht unmittelbar staatlich dirigiert werden, welche die Qualifikation sowie die Fort- und Weiterbildung einheitlich auf hohem Standard erschweren, thematisiert werden. Er legt Wert auf die Prüfung der Frage, inwieweit diese kleinteiligen Angebotsstrukturen im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen besser unterstützt werden können. Der EWSA stellt die Frage der Weiterbildungs- und Fortbildungsverpflichtung und die Durchsetzung hoher Standards sowie ihrer Transparentmachung durch Zertifizierung und einheitlicher Standards auf europäischer Ebene und deren Sicherstellung. Er fragt darüber hinaus, inwieweit die Länder hierzu Anregungen für Fortschritte bekommen haben?

3.6.2.   Der EWSA stellt Fragen zur Verzahnung der Diplomanerkennungsrichtlinie und einer möglichen Richtlinie, die Qualifikationen im Gesundheitswesen betreffend. Er fragt, wie sich dies mit den für einige Berufe bestehenden Sonderrichtlinien verbindet? Er hinterfragt, wie diese Richtlinien die Einheitlichkeit der Qualifikation und Qualifizierungen, Fort- und Weiterbildung für Europa beeinflusst haben und die Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen im Alltag bestimmen?

3.6.3.   Der EWSA will sich mit der Kosten- und Nutzenüberlegung für eine entsprechende Anforderungsstruktur an die Weiterqualifizierung der europäischen Gesundheitsdienstleister beschäftigen.

3.7.   Umgang mit der Mobilität und Abwanderung von Fachkräften in der EU

3.7.1.   Der EWSA fragt nach den Auswirkungen von Angeboten und der Wirkung von Förderprogrammen und bittet darum wissenschaftlich darzustellen, inwieweit Staatsgrenzen, aber auch Sprachgrenzen, ggf. kulturelle Differenzierungen in Europa, sich auf die Migration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem besonders mit Empathie- und Wissensbedürfnissen ausgestatteten Bereich auswirken.

3.8.   Weltweite Migration medizinischer Fachkräfte

3.8.1.   Wie im Grünbuch gefordert, müssen bei der Anwerbung von Fachkräften ethische Grundsätze beachtet werden: So sollte beispielsweise neben der Möglichkeit zur Anstellung von Fachkräften aus anderen Ländern in ausreichendem Maße eigener Nachwuchs gefördert werden. Mangelnde eigene Nachwuchsförderung darf nicht durch die Abwerbung von Fachkräften aus anderen Ländern kompensiert werden. Angesichts der Vielzahl von bereits erfolgten Selbstverpflichtungen und der Mitarbeit der EU an der Erarbeitung des Verhaltenskodexes der WHO bittet der EWSA zu prüfen, welchen zusätzlichen Nutzen ein „Code of Conduct“ der EU neben dem der WHO bedeuten würde.

3.8.2.   Es ist ebenfalls erforderlich, der Abwanderung von Fachkräften aus Entwicklungsländern vorzubeugen. Die Einstellung medizinischer Fachkräfte sollte möglichst in einem institutionalisierten Rahmen erfolgen, in dem die Mobilität der Arbeitskräfte durch zwei- oder mehrseitige Kooperationsprogramme unterstützt wird. Dies kann durch Investitionen in Infrastrukturen für die Ausbildung im Gesundheitswesen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschehen. Wird den Gründen für die Abwanderung, d.h. den enormen Unterschieden bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen, nicht begegnet, wird die Abwanderung weiter anhalten und zu einem noch größeren Mangel an Gesundheitspersonal in den Entwicklungsländern führen.

3.9.   Datenlage als Grundlage für Entscheidungen

3.9.1.   Der EWSA fordert dazu, dass nationale Statistiken europaweit vergleichbar sein müssen. Dem steht allerdings das Problem teilweise unterschiedlicher Klassifikationen der Gesundheitsberufe in den Mitgliedstaaten entgegen. Nationale Besonderheiten bei Kompetenzen und Bezeichnungen von Gesundheitsberufen dürfen nicht unter dem Primat einheitlicher Indikatoren kaschiert werden. Der EWSA regt an, entsprechende Statistiken zu den Gesundheitsberufen in Europa sowie der staatenübergreifenden Migration zu sammeln. Hinsichtlich der im Grünbuch vorgeschlagenen Idee der Einrichtung einer Beobachtungsstelle für die Entwicklung der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen, stellt sich die Frage, ob diese wirklich benötigt wird bzw. nicht bereits bestehende Einrichtungen, wie etwa Eurostat oder Dublin Foundation, für die genannten Zwecke genutzt werden können.

3.9.2.   Im Allgemeinen sollte die Datenlage durch ein Datenregister verbessert werden. Der EWSA regt an, die im Grünbuch angesprochene Observation der Gesundheitsberufe mit anderen EU-Projekten, bspw. der Förderung von Gesundheitsinformationssystemen, zu verknüpfen und die Kommunikation nationaler Register - soweit vorhanden - für alle Berufe zu verbessern.

3.9.3.   Da in den allermeisten Mitgliedstaaten das Gesundheitswesen staatlich organisiert bzw. reglementiert ist, begrüßt der EWSA eine Unterstützung der Europäischen Kommission, die zu einer besseren Planung führt. Er regt daher an, dass die Europäische Union Mittel für die Erarbeitung von Versorgungsanalysen der Mitgliedstaaten bereitstellt. Diese Versorgungsanalysen sollen die Basis zum Aufbau einer flächendeckenden und wohnortnahen Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen und pflegerischen Leistungen darstellen.

3.10.   Die Einführung und Verbreitung neuer Technologien zur Effizienzsteigerung und Steigerung der Versorgungsqualität

3.10.1.   Der EWSA regt an zu prüfen, ob neue Technologien, mit neuen Behandlungsmöglichkeiten, die an elektronischen Kommunikationsnetzen angebunden sind und auch in besonders abgelegenen Gebieten flächendeckend angeboten werden können, auch zur Selbstdiagnose oder vom Patienten unterstützt, im Interesse der Beschäftigten genutzt werden können. Hierzu sollten Erfahrungen aus anderen Staaten Berücksichtigung finden. Bevor die neuen Technologien eingeführt werden können, muss allerdings die Akzeptanz seitens der medizinischen Fachkräfte sichergestellt werden. Um die Akzeptanz unter den medizinischen Fachkräften zu erzielen, müssen sie in der Entwicklung der e-health-Technologie involviert werden, damit sichergestellt ist, dass die elektronischen Tools in der täglichen Praxis einfach und sicher eingesetzt werden können. Ein adäquates Training von den medizinischen Fachkräften im optimalen Umfang mit der neuen Technologie ist für einen erfolgreichen Einführungsprozess unerlässlich. Der EWSA verweist darauf, dass bei allen Vorteilen neuer Technologien stets auch die Risiken, wie z.B. Datenschutzaspekte, berücksichtigt werden müssen. Der Einsatz von neuen Technologien muss sich an dem unterschiedlichen nationalen Gesundheitssystem orientieren und kann zu einer Anpassung der nationalen Haftungsbestimmungen führen, die in den einzelnen Mitgliedstaaten auf medizinische Fachkräfte anwendbar sind. Er fragt, inwieweit die von der Europäischen Kommission geförderten verschiedenen Maßnahmen und Pilotprojekte dem Aufbau nationaler IT-Infrastruktur entgegenstehen oder sie sogar nivellieren.

3.11.   Die Bedeutung Selbstständiger für das Arbeitskräftepotenzial im Gesundheitswesen

3.11.1.   In einigen Ländern der Europäischen Union spielen die in eigener Praxis niedergelassenen Angehörigen der Gesundheitsberufe, die auf diese Weise den Grundsatz des Unternehmertums in die Praxis umsetzen, eine wichtige Rolle beim Angebot von Gesundheitsdienstleistungen in den Mitgliedstaaten. Das Grünbuch anerkennt die Rolle der Freien Berufe im Gesundheitssystem sowie die Funktion, die sie neben dem öffentlichen Sektor erfüllen. Häufig ist es den Freien Berufen zu verdanken, dass die Behandlungs- bzw. Pflegebeziehungen zum Menschen mit einer Kompetenz- und Sicherheitsgarantie gewährleistet werden können. Der EWSA unterstreicht jedoch, dass die freiberuflich tätigen Angehörigen der Gesundheitsberufe in der Union ihre Qualifikationen in den meisten Fällen über lange Zeiträume hinweg und dank kollektiver Bemühungen zugunsten des kostenfreien öffentlichen Bildungswesens erlangt haben. Damit hat die Zivilgesellschaft das Recht, einen entsprechenden Ertrag (Preis und Kosten) zu erwarten, und ihre Vertreter können dem in Punkt 6 der Kommissionsvorlage zum Ausdruck gebrachten Wunsch, offenbar eine Ausweitung der privaten Formen dieses Glieds der Gesundheitssysteme fördern zu wollen, nur skeptisch gegenüberstehen. Zugleich sieht der EWSA die zunehmende Tendenz zur Scheinselbstständigkeit überall dort kritisch, wo dies der Tätigkeit nach problematisch erscheint (z.B. in der Kranken- und Altenpflege).

3.12.   Kohäsionspolitik

3.12.1.   Der EWSA befürwortet eine stärkere Nutzung der Strukturfonds für die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften im Gesundheitswesen. Der gesundheitlichen Unterversorgung in strukturschwachen Regionen könnte beispielsweise auch dadurch begegnet werden, dass die Aus-, Fort- und Weiterbildung in Regionen aufgebaut und unterstützt werden, in denen ausgebildete Fachkräfte am dringendsten benötigt werden. Dieser Forderung liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich Gesundheitsberufe vorrangig dort niederlassen, wo sie qualifiziert wurden. Die Kohäsionspolitik könnte auch einen Rahmen bieten, Modellprojekte zu fördern, die sich mit den aufgeworfenen Fragestellungen beschäftigen. Er regt ferner an, Mittel des Europäischen Strukturfonds für die Verbesserung der Infrastruktur im Gesundheitswesen ggf. der Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit oder neuer Behandlungsstandards (evidence based medicine) zu öffnen.

3.12.2.   Der EWSA sieht die im Wesentlichen ökonomisch motivierte Diskussion, vor allem aus dem Managementbereich und interessierten Berufsgruppen über neue Aufgabenverteilungen im Gesundheitswesen, mit dem Ziel, die Ausübung der Heilkunde durch qualifizierte Kräfte durch kostengünstigere Alternativen zu ersetzen, mit Besorgnis. Eine bessere Koordination, Prozessoptimierung und Vernetzung mit einer Flexibilisierung von Aufgabenverteilungen wäre dagegen die bessere Lösung. Dabei legt der EWSA größten Wert darauf, dass entsprechende Qualifizierungen vorgenommen werden, um eine Absenkung der Behandlungsqualität auszuschließen.

3.12.3.   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Zuordnung der Qualifikationen bzw. Berufe zu den Aufgaben sich orientieren sollte an:

1.

der medizinischen Notwendigkeit,

2.

der Ausbildung, der Aufgabenstellung und Verantwortung sowie

3.

den Bedürfnissen der Patienten.

3.12.4.   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass auch angesichts der Finanzkrise die Bereitschaft der Mitgliedstaaten aufrechterhalten werden sollte, die mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme ausreichend zu finanzieren (financial management), um insbesondere auch ausreichende personelle Ressourcen sicherzustellen, die hochwertige Dienstleistungen erbringen können, wozu es auch gehört, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in diesem Sektor zu verbessern.

3.13.   Sozialpartnerschaft

3.13.1.   Der EWSA betont die wichtige Rolle und die Verantwortung der Sozialpartner bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen und die ausgeprägte Diversität der Gesundheitsberufe und verweist auf die bereits erfolgten Vorarbeiten der Sozialpartner in diesem Bereich.

3.13.2.   Der demografische Wandel, der zu einer Verknappung der Nachwuchsarbeitskräfte führt, darf nicht dazu führen, dass Qualifikations- und Entlohnungsniveau absinken (race to the bottom). Der EWSA sieht die Mitgliedstaaten in der Pflicht, hierfür die Verantwortung zu übernehmen.

3.13.3.   Der EWSA sieht die Einrichtung eines sozialen Dialogs im europäischen Krankenhaussektor und stellt fest, dass das von den Sozialpartnern vereinbarte Arbeitsprogramm alle in dem Grünbuch erörterten Fragen anspricht. Daher bedauert der EWSA, dass in dem Grünbuch nicht auf diesen Prozess Bezug genommen wird.

3.13.4.   Der EWSA betont die wichtige Rolle des Prinzips der gleichen Entlohnung für die gleiche Tätigkeit unabhängig vom Geschlecht.

3.13.5.   Die besonderen 24/7-Arbeitsbedingungen erfordern besondere Ausgleichsmechanismen (Bezahlung von Überstunden und Nachtarbeit, Freizeitausgleich), um die hohe Belastung der Arbeitskräfte zu kompensieren. In diesem Zusammenhang sieht der EWSA zunehmende Anreize in vielen Mitgliedstaaten sehr kritisch, Scheinselbstständigkeit, und damit den Verlust sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzes, zu fördern.

Brüssel, den 15. Juli 2009.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/110


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)“

KOM(2008) 815 endg. — 2008/0244 (COD)

(2009/C 317/21)

Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE

Der Rat beschloss am 1. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Neufassung)

KOM(2008) 815 endg. - 2008/0244 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatterin war An LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 154 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Da besonders autoritären und undemokratischen Regierungssystemen durch einen zu restriktiven bzw. aufnahmefeindlichen Regelungsrahmen indirekt Vorschub geleistet wird, begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Neufassung und Nachbesserung der Richtlinie über Aufnahmebedingungen, bekräftigt jedoch einige Empfehlungen aus seinen früheren Stellungnahmen, insbesondere jener zu dem Grünbuch für ein künftiges Gemeinsames Europäisches Asylsystem (1) sowie jener zu der künftige Asylstrategie (2):

In dem vorliegenden Vorschlag für eine Neufassung der Richtlinie sollten „gemeinsame“ Normen und nicht „Mindestnormen“ für die Aufnahme von Asylbewerbern propagiert werden; zudem sollte er Schutzklauseln für die in jenen Mitgliedstaaten geltenden Normen umfassen, welche die Grundrechte von internationalen Schutz, den Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz beantragenden Personen am stärksten achten; hierzu zählen insbesondere:

Gewährleistung des Zugangs zum Hoheitsgebiet;

freie Wahl des Ortes, an dem der Asyl- bzw. Schutzantrag gestellt wird;

zunächst Prüfung des Status eines Konventionsflüchtlings und erst dann Prüfung des subsidiären Schutzes, sofern die notwendigen Voraussetzungen für eine Zuerkennung des erstgenannten Status nicht erfüllt sind;

Nichtzurückweisung, wenn das Leben des Antragstellers in seinem Herkunftsland bzw. letzten Transitland bedroht ist;

Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen eine Ausweisung, solange die Entscheidung des zuständigen Gerichts aussteht, um in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (siehe Ziffer 4.8.1) sicherzustellen, dass das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs tatsächlich gewahrt ist;

Gewährleistung des für Minderjährige bzw. vermutlich Minderjährige erforderlichen besonderen Schutzes;

Achtung der eigenständigen Rechte der einzelnen Personen und insbesondere der Frauen auf Stellung eines Schutzantrages.

1.2.   Nach Ansicht des Ausschusses sollte im Zusammenhang mit Minderjährigen systematisch präzisiert werden, dass der Begriff „Kindeswohlim Sinne von Artikel 3 Absatz 1 des Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes (Artikel 22 Absatz 1) zu verstehen ist.

1.3.   Der „Gewahrsam unter Haftbedingungen“ sollte nur als letztes Mittel nach Ausschöpfung sämtlicher Alternativen und nie ohne entsprechenden Gerichtsbeschluss vollzogen werden, wobei die Verteidigungsrechte nach Maßgabe der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten sind.

1.4.   Die zuständigen nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen sollten stets Zugang zu den Schutz beantragenden Personen und diese wiederum immer Zugang zu Rechtshilfe und humanitärer Unterstützung durch den Staat oder durch nichtstaatliche Organisationen haben.

1.5.   Der Ausschuss appelliert an die Mitgliedstaaten, die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zur Annahme der Neufassung der Richtlinie über Aufnahmebedingungen im Mitentscheidungsverfahren zu beschleunigen, da sie es der Europäischen Union ermöglichen wird, ihre Kapazitäten zur Behandlung von Anträgen zum Schutz von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern unter Achtung deren Menschenwürde auszubauen.

1.6.   Er befürwortet die Einrichtung einer Stelle zur Unterstützung der Mitgliedstaaten in Fragen von Asyl und internationalem Schutz, wenn dadurch die Verteilung der Aufnahme- und Schutzverpflichtungen auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten beschleunigt wird, hinsichtlich der Aufnahme von Asyl bzw. internationalen Schutz beantragenden Personen für Transparenz gesorgt wird und wenn dadurch die Erfahrungen der Verbände und Organisationen, die Asyl bzw. internationalen Schutz beantragenden Personen Hilfe und Unterstützung gewähren, besser genutzt und die Verfahren zur Einzelfallprüfung verbessert werden.

2.   Einleitung und Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1.   Die Einrichtung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vollzog sich in zwei Phasen. Die erste Phase begann nach der Annahme des Vertrags von Amsterdam mit dem Europäischen Rat von Tampere (1999), der der Einwanderungs- und Asylpolitik eine Gemeinschaftsdimension verlieh. Sie endete im Jahr 2005.

2.2.   In dieser ersten Phase konnten Fortschritte bei der Erarbeitung einer Reihe von Asyl-Richtlinien, eine gewisse Verbesserung bei der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sowie Fortschritte bei der Außendimension der Asylpolitik erzielt werden.

2.3.   Die zweite Phase begann mit dem Haager Programm (gebilligt im November 2004), demzufolge die wichtigsten Ziele des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bis 2010 erreicht sein müssen. Dazu sollen Instrumente und Maßnahmen geschaffen bzw. ergriffen werden, die auf die Schaffung besserer und einheitlicherer Schutzstandards im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems abzielen.

2.4.   Im Vorfeld neuer Initiativen legte die Kommission 2007 ein Grünbuch  (3) vor, um eine Debatte zwischen den einzelnen Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft anzustoßen (4). Auf dieser Grundlage nahm die Kommission dann die künftige Asylstrategie an. Die Strategie enthält einen Fahrplan für die kommenden Jahre und zeigt die Maßnahmen auf, die die Kommission ergreifen würde, um die zweite Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems abzuschließen.

2.5.   Vor diesem Hintergrund ist die am 27. Januar 2003 vom Rat angenommene Richtlinie zu sehen, deren Neufassung die Kommission nunmehr vorschlägt. Auch dieser Text war Gegenstand einer Stellungnahme des EWSA (5).

2.6.   Der vorliegende Kommissionsvorschlag zielt hauptsächlich darauf ab, bessere Normen hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber zu gewährleisten, die diesen im Einklang mit dem Völkerrecht ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. Außerdem bedarf es einer weiteren Angleichung der nationalen Vorschriften über die Aufnahmebedingungen, damit die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten dort eingedämmt werden kann, wo sie auf unterschiedliche nationale Aufnahmepolitiken zurückzuführen ist.

2.7.   Mit dem vorliegenden Vorschlag soll der Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeweitet und auf Personen ausgedehnt werden, die subsidiären Schutz beantragen. Außerdem sieht der Vorschlag vor, dass die Richtlinie für alle Arten von Asylverfahren und für alle geografischen Gebiete und Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber gilt.

Mit dem Vorschlag soll der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden. So soll Asylbewerbern nach einem Zeitraum von höchstens sechs Monaten nach der Beantragung des internationalen Schutzes Zugang zu Beschäftigung gewährt werden, wobei dieser nicht durch die Festlegung von Bedingungen für den Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt beschränkt werden darf.

2.8.   Um sicherzustellen, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen „einem Lebensstandard entsprechen, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet“, verpflichtet der Vorschlag die Mitgliedstaaten, bei der Gewährung finanzieller Unterstützung für Asylbewerber den Umfang der den eigenen Staatsangehörigen gewährten Sozialleistungen zu berücksichtigen.

2.9.   Der Vorschlag gewährleistet, dass der Gewahrsam nur aus den in der Richtlinie vorgesehenen außerordentlichen Gründen gestattet werden darf.

2.10.   Der Vorschlag garantiert ferner, dass in Gewahrsam genommene Asylbewerber eine menschenwürdige Behandlung unter Achtung der Grundrechte und im Einklang mit dem jeweiligen innerstaatlichen Recht sowie dem Völkerrecht erfahren.

2.11.   Mit dem Vorschlag wird dafür Sorge getragen, dass auf nationaler Ebene Maßnahmen zur sofortigen Feststellung besonderer Bedürfnisse ergriffen werden.

Außerdem enthält der Vorschlag zahlreiche Garantien, die sicherstellen sollen, dass die Aufnahmebedingungen den besonderen Bedürfnissen von Asylbewerbern Rechnung tragen.

2.12.   Hinsichtlich der Umsetzung und Verbesserung der einzelstaatlichen Systeme umfasst der Richtlinienvorschlag Maßnahmen, die die Kontinuität der Kontrolle gewährleisten und die Rolle der Kommission als Hüterin der EU-Rechtsvorschriften stärken sollen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der Ausschuss begrüßt, dass die Kommission mit ihren Vorschlägen auf eine Verbesserung der Aufnahmebedingungen für internationalen Schutz beantragende Personen, auf eine Vereinheitlichung der nationalen Bestimmungen sowie auf eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf den subsidiären Schutz abhebt. Gleichwohl weist er darauf hin, dass die Lage des Antragstellers stets individuell zu prüfen ist, und zwar in der Phase, in der bestimmt wird, welcher Mitgliedstaat für die umfassende Prüfung des Antrags zuständig ist, und dass subsidiärer Schutz nur dann zu erwägen ist, wenn die notwendigen Voraussetzungen für die Zuerkennung des erstgenannten Status (eines Konventionsflüchtlings) nicht erfüllt sind.

3.2.   Der Ausschuss unterstützt das Ziel, Schutz beantragende Personen einen menschenwürdigen Lebensstandard zu gewährleisten und ihre Integration im Aufnahmeland zu erleichtern (6). Zudem befürwortet er die konkrete Verwirklichung dieses Ziels, indem den vorgenannten Personen nach höchstens sechs Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt wird, ohne dass dieser durch die Festlegung von Bedingungen auf einzelstaatlicher Ebene „unangemessen“ (siehe Artikel 15 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags) beschränkt werden darf. Auf diese Weise könnte die vollständige Wahrung der Grundrechte von Asyl bzw. internationalen Schutz beantragende Personen gewährleistet werden - wie sie sich für das EU-Recht aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 23 Absatz 1) (7), aus dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 2, 9, 10, 11 und 12), aus dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Gleichbehandlung von Inländern und Ausländern in der Sozialen Sicherheit, aus der Europäischen Sozialcharta, aus der Grundrechtecharta sowie aus der Genfer Flüchtlingskonvention (8) ergibt. Überdies befürwortet er die Vorschläge zum gewährten Sozialleistungsumfang, zu den an den besonderen Bedürfnissen der einzelnen Personen auszurichtenden Unterbringungsbedingungen, zu der umfassenderen Definition der familiären Beziehungen des Antragstellers sowie zu der Notwendigkeit, diese bei der Prüfung seines Antrags gebührend zu berücksichtigen.

3.3.   Der Ausschuss weist mit Blick auf die allgemeinen Grundsätze und internationalen Rechtsquellen, auf denen die Anerkennung und Verteidigung der Grundrechte von Personen in Not fußen, sowie hinsichtlich der Ingewahrsamnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, darauf hin, dass - wie die Kommission im 16. Erwägungsgrund ihrer Begründung bekräftigt - gemäß dem Genfer Abkommen und insbesondere nach Maßgabe von Artikel 26 über die Bewegungsfreiheit und Artikel 31 über illegale Flüchtlinge in ihrem Aufnahmeland (9) niemand allein deshalb in Gewahrsam genommen werden darf, weil er um Schutz nachsucht. Daher darf der Gewahrsam nur in unbedingt notwendigen, gebührend begründeten Fällen erwogen werden und nicht als akzeptable Praxis angesehen werden, wenn weder eine betrügerische noch eine verzögernde Absicht des Antragstellers vorliegt.

3.4.   Der Ausschuss begrüßt die in der Richtlinie empfohlenen Maßnahmen zur Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse Minderjähriger. Gleichwohl wäre die Bezugnahme auf das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus dem Jahr 1989 präziser, wenn neben Artikel 37 (10) nicht nur der bekanntlich zu unterschiedlichen Auslegungen einladende Begriff „Kindeswohl“ genannt, sondern auch systematisch auf Artikel 3 Absatz 1 (11) verwiesen würde.

3.5.   Große Bedeutung misst der Ausschuss schließlich der systematischen Einführung von Rechtsbehelfen für Asylbewerber oder Flüchtlinge gegen sie betreffende gerichtliche oder behördliche Entscheidungen bei. Zur Gewährleistung der tatsächlichen Wirksamkeit der Rechtsbehelfe müssen diese jedoch durchwegs aufschiebende Wirkung haben.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Information (Kapitel II Artikel 5)

4.1.1.   Der Ausschuss empfiehlt, folgenden Satz hinzuzufügen: „Die Mitgliedstaaten setzen die Mitglieder der Familie des Asylbewerbers von der Möglichkeit in Kenntnis, einen gesonderten Antrag zu stellen“.

4.2.   Ingewahrsamnahme und Gewahrsamsbedingungen (Kapitel II Artikel 8 bis 11)

Nach Auffassung des Ausschusses ist der Umgang mit Schutz beantragenden Personen generell auf der Grundlage von Artikel 7 des vorliegenden Richtlinienentwurfs zu regeln, da er das Prinzip der Bewegungsfreiheit dieser Personen bekräftigt und weil alternative Lösungen zur Ingewahrsamnahme vorzuziehen sind.

4.2.1.1.   Dies bedeutet, dass Asylbewerber nur unter außergewöhnlichen Umständen in Gewahrsam genommen werden dürfen (Artikel 8), nämlich dann, wenn

ein Asylantrag gestellt wird, obwohl der Asylbewerber zuvor über eine Ausweisungsmaßnahme in Kenntnis gesetzt wurde;

im Fall einer Ingewahrsamnahme oder Einweisung in einen Wartebereich über den Asylantrag im Rahmen eines Verfahrens entschieden werden soll, in dem festzustellen ist, ob der Asylbewerb Anspruch auf Einreise in das Hoheitsgebiet hat.

4.2.1.2.   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein Asylbewerber außer in den beiden vorgenannten Fällen nicht in Gewahrsam genommen werden darf, und eine Ingewahrsamnahme keinesfalls mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann, „seine Identität oder Staatsangehörigkeit fest[zu]stell[en], [zu] bestätig[en] oder [zu] überprüf[en] […]“ geschweige denn, um „Beweismittel [zu] sicher[n] […], auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die andernfalls verloren gehen könnten“.

4.2.1.3.   Der EWSA schlägt vor, die Neufassung von Artikel 9 Absatz 5 wie folgt umzuformulieren: „Die Fortdauer des Gewahrsams wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und auf Antrag des jeweiligen Asylbewerbers von einer Justizbehörde überprüft, sobald es die Umstände erfordern oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit des Gewahrsams auswirken “.

4.2.2.   Nach Ansicht des EWSA haben die Gewahrsamsbedingungen die im Hinblick auf die Wahrung der unveräußerlichen Würde des Menschen angebrachte menschenwürdige Behandlung sicherzustellen. Was die Gewahrsamsbedingungen (Artikel 10) in speziell für diese Zwecke bestimmten Einrichtungen, also nicht in Haftanstalten, betrifft, sollte eine Zusammenlegung von Asylbewerbern mit anderen Drittstaatsangehörigen, die keinen Asylantrag gestellt haben, nur mit dem schriftlichen Einverständnis der Betroffenen zulässig sein (Artikel 10 Absatz 1).

Darüber hinaus weist der Ausschuss angesichts der unterschiedlichen Modalitäten des Gewahrsams in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten darauf hin, dass das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und andere Organisationen Gelegenheit haben müssen, mit Antragstellern an sämtlichen Gewahrsamsorten (Artikel 10 Absatz 2) Verbindung aufzunehmen und ihnen Besuche abzustatten, wobei diese Formulierung auch in Artikel 10 Absatz 3 zu wählen ist.

4.2.3.1.   Zudem empfiehlt der EWSA, wie schon im Zusammenhang mit der Neufassung der Dublin-II-Verordnung zur „Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“ (12), dass die in Artikel 10 Absatz 3 genannten Informationen den Personen, die internationalen Schutz beantragen, in ihrer jeweiligen Sprache bzw. in einer Sprache mitgeteilt werden, von der angenommen werden darf, dass sie sie verstehen.

4.2.4.   Zur Gewährleistung einer einheitlichen Terminologie ist der Begriff „Personen, die internationalen Schutz beantragt haben“ (Artikel 11 Absatz 4) durch „Asylbewerber“ zu ersetzen [Anm.d.Ü.: Betrifft nicht die deutsche Fassung].

4.2.5.   Der Ausschuss begrüßt das Verbot der Ingewahrsamnahme unbegleiteter Minderjähriger (Neufassung von Artikel 11 Absatz 1) und schließt sich dem Standpunkt an, dass Personen mit besonderen Bedürfnissen grundsätzlich nicht in Gewahrsam genommen werden sollten (Neufassung von Artikel 11 Absatz 5).

4.3.   Grundschulerziehung und weiterführende Bildung, Beschäftigung und berufliche Bildung Minderjähriger (Kapitel II Artikel 14 bis 16)

Der Richtlinienvorschlag hebt auf eine Erleichterung und Beschleunigung der Integration von Asylbewerbern im Aufnahmeland ab. Grundschulerziehung und weiterführende Bildung, Beschäftigung und berufliche Bildung Minderjähriger können hierzu beitragen.

4.3.1.1.   Der Ausschuss vertritt daher die Auffassung, dass Verzögerungen beim Zugang Minderjähriger zum Bildungssystem möglichst kurz gehalten werden sollten, wobei eine Frist von „drei Monaten“ unnötig lang ist und auf zwei Monate verkürzt werden sollte (Artikel 14 Absatz 2).

Zudem befürwortet der Ausschuss die Initiative der Kommission, Asylbewerbern innerhalb einer Frist von maximal sechs Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren, erachtet es jedoch für notwendig, den Interpretationsspielraum, den Artikel 15 Absatz 1 offen lässt, durch folgende Präzisierung zu verringern: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Antragsteller spätestens sechs Monate nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz effektiv Zugang zum Arbeitsmarkt erhält“. Dies umfasst auch den Zugang Arbeitsuchender zu begleitenden Sozialdiensten.

4.3.2.1.   Der Ausschuss erkennt an, dass Aufnahmebestimmungen sowohl dem Aufnahmeland als auch dem Asylbewerber selbst Vorteile bringen können, wenn sie letzterem die Chance bieten, einen gewissen Grad an Selbstbestimmtheit zu erlangen.

4.3.3.   Der Ausschuss weist in diesem Zusammenhang auf seine Stellungnahme (13) zu der ersten Richtlinie über Aufnahmebedingungen hin und bekräftigt, dass „den Drittstaatsbürgern, die der Fürsorge eines Mitgliedstaates anvertraut sind, […] ein breitestmögliches Bildungsangebot zur Verfügung stehen [sollte]. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens wirkt sich jede Ausbildung dieser Personen positiv auf die Entwicklung ihrer Herkunftsländer aus, sollten sie dorthin zurückkehren. […] Zweitens wird aufgrund der erhaltenen beruflichen Bildung der Zugang dieser Personen zum Arbeitsmarkt erleichtert, sollten sie in einem Mitgliedstaat bleiben“. In diesem Sinne erachtet er es als notwendig, den Interpretationsspielraum, den Artikel 16 den Mitgliedstaaten offen lässt, durch eine direktere und vollständigere Formulierung einzuengen: „Die Mitgliedstaaten gewähren Asylbewerbern Zugang zur beruflichen Bildung und treffen die hierfür erforderlichen Vorkehrungen, unabhängig davon, ob sie Zugang zum Arbeitsmarkt haben oder nicht“.

4.4.   Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung (Artikel 17)

4.4.1.   Der Ausschuss empfiehlt zu präzisieren, dass die einschlägigen Regelungen während eines Rechtsbehelfsverfahrens weiterhin Anwendung finden.

4.4.2.   Der EWSA begrüßt die Neufassung von Artikel 17 Absatz 5, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in Mitgliedstaaten verbessert werden dürften, in denen sie derzeitig unzureichend sind.

4.5.   Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten materiellen Leistungen (Kapitel III - Artikel 20)

4.5.1.   Der Ausschuss zeigt sich besorgt über die Anwendung einer solchen Maßnahme in Fällen, in denen der Asylbewerber „im gleichen Mitgliedstaat bereits einen Antrag gestellt hat“. Die Praxis zeigt, dass es bei Vorliegen zusätzlicher Informationen über die Situation des Asylbewerbers bzw. weiterer Unterlagen durchaus gerechtfertigt sein kann, im Anschluss an einen ersten Antrag einen Antrag auf erneute Prüfung der Sachlage zu stellen; in einem solchen Fall wäre der betreffende Asylbewerber stark benachteiligt, würde er von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen ausgeschlossen. Daher fordert der Ausschuss die Streichung dieses Passus (Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe c).

Zudem steht eine solche Maßnahme im Widerspruch zum Geist der vorgeschlagenen Neufassung der „Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (14) und den darin vorgesehenen Anpassungen.

4.5.2.   Der EWSA begrüßt die in Artikel 20 Absatz 2 der Neufassung enthaltenen Vorschläge, die darauf abzielen, die Möglichkeiten zum Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen einzuschränken. Weiterhin begrüßt er den in Artikel 20 Absatz 4 der Neufassung enthaltenen Vorschlag zur Stärkung der Bestimmung, durch die sichergestellt werden soll, dass allen Asylbewerbern im Rahmen ihrer Aufnahme materielle Mindestleistungen gewährt werden.

4.6.   Bestimmungen betreffend Personen mit besonderen Bedürfnissen (Kapitel IV - Artikel 21 bis 24)

In Bezug auf Minderjährige sollte nach Auffassung des Ausschusses durchgehend präzisiert werden, dass der Begriff „das vorrangige Wohl des Kindesim Sinne von Artikel 3 Absatz 1 des Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes zu verstehen ist (Artikel 22 Absatz 1).

4.7.   Opfer von Folter und Gewalt (Artikel 24)

4.7.1.   Der Ausschuss empfiehlt, für die Opfer von Folter und Gewalt sowie für Personen mit physischen oder psychischen Gesundheitsproblemen eine Behandlung in einer entsprechenden medizinischen Einrichtung vorzusehen.

4.7.2.   Bei Bedarf muss ihnen Zugang zu Fachzentren gewährt werden. Allgemein- und fachmedizinisches Personal muss Zugang zu Einrichtungen zur Unterbringung und Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern haben, und Personen, die internationalen Schutz beantragen, müssen Anspruch auf eine fachliche Diagnose und Behandlung durch kompetentes und im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems des Aufnahmestaates als kompetent anerkanntes medizinisches Personal haben.

4.7.3.   Zwar schlägt die Kommission keine Änderungen zu Artikel 13 vor, demzufolge die Mitgliedstaaten eine medizinische Untersuchung von Antragstellern aus Gründen der öffentlichen Gesundheit anordnen können, doch möchte der Ausschuss daran erinnern, dass obligatorische HIV-Tests zahlreiche Menschenrechte verletzen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privatlebens (15). Ein solcher Test sollte keine Vorbedingung für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder die Einleitung eines Asylverfahrens von Personen darstellen, die internationalen Schutz beantragen. Allgemein sollten angemessene Informationen über medizinische Untersuchungen bereitgestellt werden, die in einer Sprache verfasst sind, die der Antragsteller versteht (siehe Ziffer 4.2.3.1). Ferner sollte gewährleistet sein, dass entsprechende Einverständniserklärungen eingeholt werden, Beratung angeboten wird, die Vertraulichkeit gewahrt bleibt sowie eine angemessene medizinische Nachsorge und Behandlung sichergestellt ist.

4.8.   Rechtsbehelfe (Kapitel V - Artikel 25)

4.8.1.   Der Ausschuss teilt den Standpunkt, dass die Mitgliedstaaten Asylbewerbern rechtliche Beratung gewährleisten müssen (Artikel 25 Absatz 2). Seiner Ansicht nach sollte jedoch präzisiert werden, dass eingelegte Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung haben (Artikel 25 Absatz 1), da sonst die Gefahr besteht, dass sie in der Praxis wirkungslos bleiben (16).

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 12.3.2008 zu dem „Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem“, Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(2)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 25.2.2009 zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Künftige Asylstrategie - ein integriertes Konzept für EU-weiten Schutz“, Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS, Mitberichterstatterin: Ana BONTEA (ABl. C 218 vom 11.9.2009).

(3)  KOM(2007) 301 endg., vorgelegt am 6. Juni 2007.

(4)  Der EWSA äußerte sich hierzu in seiner Stellungnahme vom 12.3.2008 zum Thema: „Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem“, Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(5)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 28.11.2001 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten“, Berichterstatter: Dario MENGOZZI, Mitberichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS (ABl. C 48 vom 21.2.2002).

(6)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 28.11.2001„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten“, Berichterstatter: Dario MENGOZZI, Mitberichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS (ABl. C 48 vom 21.2.2002).

(7)  „Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit“.

(8)  1951.

(9)  Genfer Abkommen, Artikel 31: „Die Vertragsstaaten können wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen“.

(10)  Artikel 37 bezieht sich insbesondere auf den Gewahrsam.

(11)  Internationales Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Artikel 3 Absatz 1: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“.

(12)  Siehe Seite 115 dieses Amtsblatts.

(13)  Siehe die Stellungnahme des EWSA vom 28.11.2001 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen“; Berichterstatter: Dario MENGOZZI, Mitberichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS (ABl. C 48 vom 21.2.2002) - Richtlinie 2003/9/EG.

(14)  Das Kommissionsdokument KOM(2008) 820 endg. ist Gegenstand der Stellungnahme des EWSA vom 16.7.2009 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)“; Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (CESE 443/2009 - SOC/333; auch im Amtsblatt veröffentlicht).

(15)  Festgeschrieben u.a. in Artikel 8 der EMRK.

(16)  Urteil „Gebremedhin gegen Frankreich“ des EGMR vom 26. April 2007: Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1950, Artikel 3 und Artikel 13; Unwiderruflichkeit des Leids, das im Falle des Eintretens des Risikos von Folter und Misshandlung entsteht; Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung. Ziffern 66 und 67 http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=816069&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649 (Anm. d. Übers.: Das Urteil liegt nur auf Englisch und Französisch vor).


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)“

KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD)

(2009/C 317/22)

Berichterstatterin: An LE NOUAIL-MARLIÈRE

Der Rat beschloss am 1. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)

KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatterin war An LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 154 gegen 6 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass die Kommission die sog. Dublin-II-Verordnung weiter entwickeln möchte, um die Leistungsfähigkeit des Systems zu erhöhen und bei der Anwendung des Verfahrens die Wahrung der Rechte der Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, sicherzustellen sowie auf Situationen zu reagieren, in denen die Aufnahmekapazitäten bestimmter Mitgliedstaaten unter besonderem Druck stehen und diese Länder deshalb nicht das erforderliche Schutzniveau gewährleisten können.

1.2.   Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die Absicht, einen effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten, sowie die Tatsache, dass jeder zuständige Mitgliedstaat dazu verpflichtet wird, den Schutzbedarf von Asylbewerbern, die ihm überstellt werden, umfassend zu prüfen.

1.3.   Der Ausschuss anerkennt die Fortschritte im Kommissionsvorschlag hinsichtlich der Gewährleistung höherer Schutzstandards, insbesondere durch die bessere Information der Asylbewerber über den Stand der Prüfung ihres Antrags; bezüglich der Sprache bzw. sprachlichen Form der Information über den Stand eines Antrags oder einer Überstellung meldet er allerdings Vorbehalte an. Da die Information die Form einer Benachrichtigung hat und mit Einspruchsrechten und Fristen verbunden ist, sollten Personen, die internationalen Schutz beantragen, stets in ihrer Muttersprache bzw. in einer Sprache, die sie zu verstehen angeben, unterrichtet werden, was auch den Einsatz eines vereidigten Dolmetschers oder eines Rechtsübersetzers sowie eines von den Gerichten oder vom Antragsteller selbst bestellten Verteidigers erforderlich machen kann.

1.4.   Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, sollten automatisch unentgeltliche Verteidigung und unentgeltlichen rechtlichen Beistand erhalten.

1.5.   Der Ausschuss begrüßt die Ausweitung der humanitären Klauseln auf Ermessensklauseln, fordert jedoch, den Anwendungsbereich genauer abzustecken, damit die Ermessens- und Souveränitätsklauseln nicht den Interessen und dem Schutz der Antragsteller zuwiderlaufen.

1.6.   Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit einer individuellen Untersuchung der Situation eines jeden Antragstellers, und zwar auch in der Phase der Bestimmung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats im Hinblick auf eine umfassende Prüfung des Antrags. Auch muss der subsidiäre Schutz in Betracht gezogen werden, wenn die notwendigen Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Status eines Konventionsflüchtlings nicht erfüllt sind (und auch nur dann).

1.7.   Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung an die Mitgliedstaaten und die Europäische Union, nicht die Liste der sog. sicheren Drittstaaten zu verwenden, solange keine gemeinsame, den Menschenrechtsorganisationen, dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten vorgelegte Liste erstellt wurde; dies gilt insbesondere in der Phase der Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats.

1.8.   Der Ausschuss bedauert, dass eine nicht gerichtlich angeordnete Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern nicht als inakzeptable Praxis bezeichnet wird.

1.9.   Der Ausschuss fordert dazu auf, entsprechend den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den „Rechtsbehelf“ systematisch als „Rechtbehelf mit aufschiebender Wirkung im Falle der erzwungenen oder sog. freiwilligen Rückkehr“ zu kennzeichnen.

1.10.   Der Ausschuss empfiehlt, sich die Erfahrungen der auf dem Gebiet der Menschenrechte tätigen Nichtregierungsorganisationen zunutze zu machen und diesen den Zugang zu Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, zu ermöglichen. Gleichzeitig sollten die Asylbewerber Hilfe in Anspruch nehmen können. Ihrerseits sollten die Mitgliedstaaten die Kompetenzen der NRO nutzen können, um gegebenenfalls an Bildungsprogrammen teilzunehmen, die sich an die für die Bearbeitung von Schutzanträgen zuständigen Sacharbeiter richten, und zwar auch in der entscheidenden Phase der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Schließlich ist es angezeigt, die lokale Dimension zu berücksichtigen und den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften die Möglichkeit zu geben, auf die Hilfe und Unterstützung durch die zuständigen NRO zurückzugreifen.

1.11.   Der Ausschuss empfiehlt den Mitgliedstaaten, 1.) gegen Kriminelle im Bereich des Menschenhandels aktiver vorzugehen und die internationalen Instrumente zur Bekämpfung der Kriminalität (darunter die beiden Zusatzprotokolle des UN-Übereinkommens gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität) zu ratifizieren, 2.) von ihren Listen der sicheren Drittstaaten jene Länder, die diese Instrumente und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben, zu streichen, 3.) den Schutz und die Straffreiheit der Opfer von Schleusern und Menschenhändlern sicherzustellen, indem ihre Rechte hinsichtlich des internationalen Schutzes besser gewahrt werden, wenn sie um Asyl oder Schutz ersuchen und sobald die Behörden hiervon Kenntnis haben, sowie 4.) eine entsprechende Schulung der zuständigen Beamten zu gewährleisten.

1.12.   Vertraulichkeit und Verwaltung personenbezogener Daten

Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die Datensicherheit im Rahmen der EURODAC-Verordnung (KOM(2008) 825 endg./3) zu stärken, einschließlich der Einführung der Pflicht der einzelnen Mitgliedstaaten, einen Sicherheitsplan zu erstellen, der u.a. zum Ziel hat, einen physischen Datenschutz zu gewährleisten, Unbefugten den Zugriff zu verweigern und das nichtgenehmigte Verwenden, Abrufen, Kopieren oder Eingeben von Daten zu verhindern (1). Das besondere Schutzbedürfnis von Asylbewerbern gegenüber Risiken im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Daten erfordert hohe Vertraulichkeits- und Sicherheitsstandards.

Auch andere Bestimmungen über eine effizientere Datenlöschung werden vom Ausschuss begrüßt, da sie gewährleisten, dass sensible Informationen nicht länger als nötig gespeichert werden, insbesondere nicht über den Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder der Ausreise einer Person aus den Mitgliedstaaten hinaus.

1.13.   Schutz der Flüchtlinge in den Nachbarländern der EU

Der Ausschuss fordert die EU auf, die Behandlung und individuelle Prüfung der Fälle der Asylbewerber nicht Ländern zu übertragen, die die Genfer Flüchtlingskonvention (2) oder ihr Zusatzprotokoll (3) nicht ratifiziert haben.

2.   Einführung und Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1.   Die Entwicklung des gemeinsamen europäischen Asylsystems umfasst zwei unterschiedliche Phasen. Die erste Phase begann mit dem Europäischen Gipfel von Tampere (1999) infolge des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags, der der Einwanderungs- und Asylpolitik eine Gemeinschaftsdimension verlieh, und endete 2005.

2.2.   In dieser ersten Phase konnten Asylrichtlinien erarbeitet und die Grundlagen für eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen werden.

2.3.   Die zweite Phase der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems begann mit dem 2004 verabschiedeten Haager Programm, in dem festgelegt wurde, dass die wichtigsten Ziele dieses Systems durch neue Instrumente und Maßnahmen zur stärkeren Harmonisierung und zur Verbesserung der Schutzstandards bis 2010 erreicht werden sollten.

2.4.   Vor der Erarbeitung neuer Initiativen veröffentlichte die Kommission 2007 ein Grünbuch  (4), das den verschiedenen europäischen Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft vorgelegt wurde (5) und auf dessen Grundlage die Kommission anschließend eine Asylstrategie entwickelte. Darin werden die von der Kommission geplanten Maßnahmen zur Verwirklichung der zweiten Phase des gemeinsamen europäischen Asylsystems aufgeführt.

2.5.   Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (nachfolgend „Dublin-Verordnung“ genannt (6)), deren Neufassung die Kommission in dieser Mitteilung vorschlägt, war bereits Gegenstand einer Stellungnahme des EWSA (7).

2.6.   Hauptziel der Neufassung ist es, die Leistungsfähigkeit des Systems zu stärken und höhere Schutzstandards für Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, zu gewährleisten. Das Dublin-Verfahren dient im Wesentlichen der Bestimmung des Mitgliedstaats, der zuständig ist für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz oder internationalen Schutz im Sinne der Genfer Konvention von 1965, des New Yorker Protokolls von 1967, der „Aufnahmerichtlinie“ 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 und der (derzeit ebenfalls überarbeiteten) „Anerkennungsrichtlinie“ 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004. Darüber hinaus zielt die Neufassung darauf ab, Situationen, in denen die Aufnahmekapazitäten der Mitgliedstaaten besonders hohem Druck ausgesetzt sind, besser bewältigen zu können.

2.7.   Die allgemeinen Grundsätze der bestehenden Dublin-Verordnung bleiben unverändert, insbesondere das Prinzip, wonach für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in erster Linie der Mitgliedstaat zuständig ist, der bei der Einreise des Asylbewerbers und dessen Aufenthalt in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten maßgeblich beteiligt war. Ausnahmen zum Schutz der Einheit der Familie bleiben davon unberührt.

2.8.   Unverändert bleiben auch die wesentlichen Pflichten der Mitgliedstaaten untereinander sowie die Bestimmungen, die die Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Asylbewerbern betreffen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, soweit sich diese auf den Ablauf der Verfahren im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander beziehen oder notwendig sind, um die Übereinstimmung mit anderen Asylrechtsakten zu gewährleisten Die bestehenden Verfahrensgarantien werden verbessert, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten, aber die neuen Bestimmungen zielen lediglich darauf ab, den besonderen Bedürfnissen der Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, besser zu entsprechen und gleichzeitig Schutzlücken zu schließen.

Um die Konformität mit der „Anerkennungsrichtlinie“ 2004/83/EG zu gewährleisten, wird diesem Neufassungsvorschlag zufolge der Anwendungsbereich der Verordnung auf die Personen ausgeweitet, die subsidiären Schutz beantragt haben oder genießen, während sich die ursprüngliche Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nur auf Asylbewerber erstreckte. Es werden zudem einige Bestimmungen verbessert, um den reibungslosen Ablauf des Verfahrens und des Systems zur Bestimmung der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Gleichzeitig werden die Rechtsgarantien für Personen, die internationalen Schutz beantragen, gestärkt und ihnen eine bessere Verteidigung ihrer Rechte ermöglicht.

An Bedeutung gewinnen auch die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Einheit der Familie und zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger und „anderer schutzbedürftiger Personen“.

Um zu vermeiden, dass bei besonders hohem Druck auf Mitgliedstaaten mit begrenzten Aufnahme- und Absorptionskapazitäten die Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung die Belastung dieser Länder weiter erhöhen, wird schließlich ein neues Verfahren eingeführt, das die Aussetzung der Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung ermöglicht.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Dieser Vorschlag ist sowohl Teil eines Bündels von Maßnahmen, die im Rahmen der Asylstrategie zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems angekündigt wurden (8), als auch Teil der vom Ausschuss befürworteten Harmonisierungsanstrengungen und trägt den Mängeln Rechnung, die im Zuge der Anhörung zum Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem aufgedeckt wurden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag nicht das Prinzip in Frage stellt, das besagt, dass für die Prüfung eines Asylantrags der Mitgliedstaat zuständig ist, der bei der Einreise des Asylbewerbers oder dessen Aufenthalt maßgeblich beteiligt war (abgesehen von Ausnahmen). Die Kommission selbst möchte an diesem Prinzip substanziellere Änderungen vornehmen, ohne jedoch Fristen zu nennen (Zusammenfassung der Folgenabschätzung SEK(2008) 2962/2963-2, Kapitel „Begleitung und Bewertung“, Absatz 3). Das Prinzip würde die Grundlage für die Zuweisung der Prüfungszuständigkeit nach dem Ort der Antragstellung bilden (KOM(2008) 820 endg. Begründung, Abschnitt 2 „Anhörung von interessierten Kreisen“, Absatz 3).

3.2.   Der Ausschuss stellt fest, dass die Position der Kommission mit dem Standpunkt der meisten Mitgliedstaaten übereinstimmt, erinnert aber auch daran, dass er sich selbst seit 2001 nachdrücklich dafür ausspricht, dass der Asylbewerber das Land wählen kann, in dem „er seinen Antrag stellt (…), wenn bei dieser Wahl kulturelle und soziale Gründe ausschlaggebend waren, die auch für eine raschere Integration entscheidend sind (9). Er merkt auch an, dass sich seine Ansichten zum künftigen gemeinsamen europäischen Asylsystem (10) mit denen „zahlreicher Organisationen der Zivilgesellschaft“ und denen des UNHCR decken.

3.3.   Trotz seines Vorbehalts gegen das Prinzip begrüßt der Ausschuss, dass ein neues Verfahren vorgesehen ist, um die Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung auszusetzen, wenn der zuständige Mitgliedstaat dadurch zusätzlich belastet würde.

3.4.   Nach Auffassung des Ausschusses lassen diese Maßnahmen erkennen, dass bessere Rechts- und Verfahrensgarantien angestrebt werden, um die Achtung der Grundrechte der Asylbewerber zu gewährleisten.

3.5.   Der Ausschuss bedauert, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern nicht als inakzeptable Praxis bezeichnet wird (ausgenommen sind Fälle, in denen den betreffenden Asylbewerbern betrügerische Absichten oder Verschleppungsmanöver gerichtlich nachgewiesen wurden). Er bedauert auch, dass die Ingewahrsamnahme zwar auf eindeutige „Ausnahmefälle“ beschränkt wird, die zugrunde liegenden Kriterien aber den betreffenden Mitgliedstaaten einen allzu großen Ermessensspielraum lassen und die Verteidiger der Antragsteller zum Rückgriff auf aufwändige und langwierige Verfahren gezwungen sind.

3.6.   Der Ausschuss billigt die systematische Verankerung der Möglichkeit des Rechtsbehelfs bei allen Entscheidungen — insbesondere bei solchen, die eine „Überstellung“ zur Folge haben dürften. Er ist der Auffassung, dass hier von einem Rechtsbehelf „mit aufschiebender Wirkung“ die Rede sein muss, damit diese - entsprechend den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte — ihre volle Wirkung als Rechtsgarantien erzielen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Erwägungsgründe

4.1.1.   In Bezug auf die Einheit der Familie (12) sollte die gemeinsame Bearbeitung der Anträge der Mitglieder einer Familie nicht nur dazu dienen, „dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden“, sondern auch dazu, die Familienzusammenführung für Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, unter Beachtung der individuellen Rechte der einzelnen Antragsteller (namentlich Antragstellerinnen) zu gewährleisten.

4.1.2.   Der Ausschuss unterstützt mit Nachdruck den Vorschlag, dass jeder Mitgliedstaat von den Zuständigkeitskriterien abweichen kann, insbesondere aus humanitären Gründen (14).

4.1.3.   Der Rechtsbehelf bei einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat (16, 17) muss aufschiebende Wirkung haben, da sonst dem Ziel seiner Wirksamkeit zuwidergehandelt würde (11).

4.1.4.   In Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention darf die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern (18) nur in „eindeutig definierten Ausnahmen“ erfolgen. Im Widerspruch zu den Erwägungsgründen des vorgeschlagenen Texts werden diese Ausnahmen hier jedoch nicht eindeutig definiert. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es nur dann möglich sein sollte, einen Asylbewerber in Gewahrsam zu nehmen, wenn er seinen Antrag gestellt hat, nachdem ihm bereits eine Abschiebungsanordnung zugestellt wurde.

4.2.   Gegenstand und Definitionen (Kapitel I, Artikel 1 und 2)

4.2.1.   Der Ausschuss bezweifelt die Zweckmäßigkeit der Aufnahme des Begriffs „Fluchtgefahr“ (Artikel 2, Buchstabe l) in die Reihe der Definitionen, da dieser Begriff im nachfolgenden Text der Neufassung der Verordnung dazu dient, die Fälle von „Gewahrsam“ zu bestimmen. In jedem Falle ist es notwendig, die „auf objektive gesetzlich festgelegte Kriterien gegründete Annahme“, dass sich eine Person dem Vollzug eines Überstellungsbeschlusses durch Flucht entziehen wird, einzuschränken und zu bestimmen, dass diese Kriterien - in Einklang mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - unter Wahrung der Rechte der Verteidigung von einem zuständigen Gericht beurteilt worden sein müssen.

4.3.   Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien (Kapitel II, Artikel 3 bis 6)

Recht auf Information

4.3.1.   Der Asylbewerber muss über sein Recht auf „einen Rechtsbehelf gegen einen Überstellungsbeschluss“ sowie über die Mittel zur Wahrnehmung dieses Recht informiert werden - und nicht nur über „die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs“ (Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe e).

4.3.2.   Nach Auffassung des Ausschusses lässt die Einschränkung auf die Formulierung „Die Informationen (….) werden (…) in einer Sprache mitgeteilt, von der angenommen werden darf, dass der Antragsteller sie versteht“ den Behördenvertretern einen Ermessensspielraum, auch wenn nicht gewährleistet ist, dass diese über die in dieser Hinsicht erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen (Artikel 4 Absatz 2). Die Formulierung sollte vielmehr lauten: „Die Informationen (…) werden in einer Sprache mitgeteilt, die der Antragsteller zu verstehen angibt.“

Garantien für Minderjährige

4.3.3.   Die Bestimmung „Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren (…) eine vorrangige Erwägung“ (Artikel 6 Absatz 1) sollte um den Ausdruck „gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes“ ergänzt werden, damit diese Erwägung vor Gericht eingeklagt werden kann.

Abhängige Angehörige (Artikel 11 Absatz 1)

4.3.4.   Im Interesse der Einheitlichkeit des Texts sollte der Ausdruck „Asylbewerber“ durch „Person, die internationalen Schutz beantragt“ ersetzt werden.

4.3.5.   Die Forderung, dass der Antragsteller seinen Wunsch „schriftlich kundgetan haben“ muss, ist dazu angetan, die Ausdrucksmöglichkeiten des Antragsstellers zu beschränken, was dem Tenor des Texts widerspricht. Richtiger sollte es heißen: „Dieser Antrag kann in jeder Form gestellt werden, die seine Registrierung durch die Behörden ermöglicht (Schreiben, Gespräch, Fragebogen)“.

Ermessensklauseln (Kapitel IV, Artikel 17)

4.3.6.   Der Ausschuss begrüßt, dass „eine Ablehnung des Gesuchs [durch den Staat, der um Aufnahme ersucht wurde] (…) zu begründen“ ist (Artikel 17 Absatz 2 Unterabsatz 3). Es bedarf seiner Auffassung nach folgender Präzisierung: „Geht innerhalb von zwei Monaten keine Antwort ein, so fällt dem ersuchten Staat die Aufgabe der Prüfung des Antrags zu“.

Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI, Artikel 20 bis 31)

4.3.7.   Der Ausschuss ersucht die Mitgliedstaaten, ein Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich zu stellen (Artikel 23 Absatz 2), aber stets innerhalb der von der Kommission empfohlenen Frist (zwei Monate bei EURODAC, drei Monaten in den anderen Fällen).

4.3.8.   Um dem Antragsteller möglichst umfangreiche und ihm verständliche Informationen zu bieten, reicht es nicht aus, dass die Mitteilung in einer Sprache erfolgt, „von der angenommen werden darf, dass die Person sie versteht“ (Artikel 25 Absatz 1). Unter den gleichen Bedingungen wie für Artikel 4 Absatz 2 ist folgende genauere Formulierung zu verwenden: „Die Mitteilung muss in einer Sprache erfolgen, die der Antragsteller zu verstehen angibt.“

Anm.: Es ist zu präzisieren, dass der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (Artikel 25 Absatz 2 und Artikel 26 Absatz 1), wie bereits oben ausgeführt (Erwägungsgründe 16 und 17):

4.3.9.   Der Ausschuss hält es für widersprüchlich, einerseits das Recht auf Rechtsbehelf (mit aufschiebender Wirkung) für einen Antragsteller, gegen den ein Überstellungsbeschluss vorliegt, vorzuschlagen und andererseits in Betracht zu ziehen, dass der Verbleib der betreffenden Person im Hoheitsgebiet bis zum Abschluss der gerichtlichen Überprüfung möglicherweise nicht erlaubt wird (Artikel 26 Absatz 3 und Artikel 26 Absatz 4).

4.3.10.   Im Interesse des aus der Genfer Flüchtlingskonvention hervorgegangenen Grundsatzes, wonach kein Staat eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam kann, weil sie internationalen Schutz beantragt hat (Artikel 27 Absatz 1), schlägt der Ausschuss vor, Artikel 27 Absatz 3 vor Artikel 27 Absatz 2 zu stellen und damit den Alternativlösungen einen höheren Stellenwert zu verleihen.

4.3.11.   Der Ausschuss begrüßt, dass klargestellt wird, dass nur begleitete Minderjährige in Gewahrsam genommen werden können (Artikel 27 Absatz 10).

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Artikel 19 (KOM(2008) 825 endg./3).

(2)  Genf 1951.

(3)  New York 1967.

(4)  KOM(2007) 301 endg. vom 6. Juni 2007.

(5)  Dazu äußerte sich der EWSA in seiner Stellungnahme vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem“; Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(6)  Siehe Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 vom 25.2.2003, S. 1).

(7)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 20.3.2002 zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat“, Berichterstatter: Sukhdev SHARMA (ABl. C 125 vom 27.5.2002).

(8)  Der EWSA wurde zu den an der EURODAC-Verordnung vorgenommenen Änderungen (KOM(2008) 825 endg.) nicht angehört. Diese Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 ist eine direkte Ergänzung der Dublin-Verordnung.

(9)  Siehe insbesondere:

die Stellungnahme des EWSA vom 20.3.2002 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (Dublin II)“ (KOM(2001) 447 endg.), Berichterstatter: Sukhdev SHARMA (ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 28-31);

die Stellungnahme des EWSA vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem“; Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77-84).

(10)  Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem (KOM(2007) 301 endg.).

(11)  Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache „Gebremedhin gegen Frankreich“ vom 26.4.2007: „Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des Europarates von 1950, Artikel 3 und 13, irreparabler Schaden bei Eintritt des Falls der Folter oder Misshandlung, Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung; Absätze 66 und 67: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=816069&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649 [Anm.d. Übers.: Das Urteil liegt nicht auf Deutsch vor].


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen“

KOM(2009) 28 endg. — 2009/0007 (CNS)

und zu dem

„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung“

KOM(2009) 29 endg. — 2009/0004 (CNS)

(2009/C 317/23)

Berichterstatter: Sergio SANTILLÁN CABEZA

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 13. Februar 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 93 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen

(KOM(2009) 28 endg. - 2009/0007 (CNS))

und

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (KOM(2009) 29 endg. – 2009/0004 (CNS)).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 24. Juni 2009 an. Berichterstatter war Sergio SANTILLÁN CABEZA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 114 gegen 3 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die beiden Richtlinienvorschläge über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen und die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, denn sie entsprechen einer dringlichen Notwendigkeit. Die Bestimmungen, die jetzt geändert werden sollen, wurden vor 30 Jahren aufgestellt und haben sich angesichts der gegenwärtigen Erfordernisse als unwirksam erwiesen. Dass heute nur 5 % der Forderungen beigetrieben werden können, erfordert eine umgehende Lösung.

1.2.   Die Kommission stützt ihre Vorschläge auf Untersuchungen, Anregungen und Empfehlungen, die in der EU und ihren Mitgliedstaaten und in internationalen Foren und Einrichtungen, wie der G-20 und der OECD, gemacht wurden. Auch der EWSA hat die Vorschläge für eine wirkungsvollere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Steuerfragen in verschiedenen Stellungnahmen uneingeschränkt befürwortet (siehe Ziffer 4.8 der vorliegenden Stellungnahme).

1.3.   Eine Reform ist heutzutage umso notwendiger, da die Gesellschaft mit den sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Wirtschaftskrise katastrophalen Ausmaßes fertig werden muss, die durch die seit Ende 2007 aufgedeckten spekulativen und betrügerischen Finanzpraktiken ausgelöst wurde. Da dies für die Steuerzahler auf Jahre hinaus eine große Bürde bedeuten wird, wurde schnell der Ruf nach wirkungsvollen Maßnahmen gegen die Steuersünder laut, die ihren Geschäften im Schutz von Steuerparadiesen nachgehen oder Gesetzeslücken ausnutzen, um ihre Steuerpflicht zu umgehen.

1.4.   Die Globalisierung erhöht die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Steuerangelegenheiten. In der EU dürfen die Grundfreiheiten, die das Fundament für das Funktionieren der Union bilden, kein Vorwand für die Nichterfüllung der öffentlichen Pflicht zur Steuerzahlung sein.

1.5.   Als Konsequenz aus diesem Befund hat sich die Kommission zu Recht für eine völlige Neuregelung dieser Fragen entschieden, statt nur Teile der gegenwärtigen Bestimmungen zu reformieren.

1.6.   Der EWSA unterstützt das zentrale Ziel der beiden Vorschläge, nämlich die Schaffung einer gemeinschaftlichen Verwaltungskultur und die Ausstattung der Behörden mit geeigneten Instrumenten, die den Einsatz neuer Technologien (z.B. elektronisch zu bearbeitender Formulare) ermöglichen und so die Verwaltungsabläufe vereinfachen und beschleunigen. Hervorzuheben sind auch die Bestimmungen über die Sprachenregelung, bisher eines der großen Hemmnisse für die Kooperation in Steuerangelegenheiten (siehe Ziffer 5.1).

1.7.   Die Informationspflicht und die Grenzen, die ihr gesetzt werden (siehe Ziffer 5.2), stehen im Einklang mit der OECD; dadurch soll - nach Ansicht des EWSA ganz zu Recht - die missbräuchliche Verwendung des Bankgeheimnisses und anderer, nach außen hin legaler Methoden der Steuerumgehung verhindert werden.

1.8.   Die Mitwirkung von Beamten des ersuchenden Staates an Untersuchungen im ersuchten Staat ist bereits in bestimmten, gegenwärtig geltenden Vorschriften angelegt (siehe Ziffer 5.3). In dieser Hinsicht wie auch in anderen Aspekten wahren die Vorschläge die Souveränität der Staaten (siehe Ziffer 5.5).

1.9.   Der Schutz des Steuerpflichtigen gegenüber dem Fiskus wird im Rahmen der Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten beibehalten, denn der Betreffende hat die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Untersuchungen und der von den Behörden veranlassten Amtshandlungen anzufechten (siehe Ziffer 5.4).

1.10.   Der EWSA regt an, dass die Kommission für die Zukunft die Kodifikation der Steuervorschriften erwägt (siehe Ziffer 5.6).

2.   Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen (KOM(2009) 28 endg.)

2.1.   Begründung des Kommissionsvorschlags

2.1.1.   Die Rechtsvorschriften, die die Amtshilfe regeln (1), sind weder einheitlich noch aufeinander abgestimmt, und die entsprechenden Verfahren undurchschaubar und schwerfällig.

2.1.2.   Die Steuerbehörden sind nicht befugt, außerhalb des Hoheitsgebiets ihres Staates Steuern beizutreiben, weil die entsprechenden Rechtsvorschriften einzelstaatlich sind: Um dies doch tun zu können, müssen sie einen (oder mehrere) andere Mitgliedstaat(en) um Amtshilfe ersuchen, wobei die hierfür vorgesehenen Verfahren sich als unwirksam erwiesen haben. Durch diese Beschränkung der Zuständigkeit entstehen angesichts der zunehmenden Mobilität von Kapital und Menschen immer mehr Probleme. So hat die Freizügigkeit - ein zentrales Ziel der Europäischen Union - in diesem Fall eine negative Folge: sie fördert den Betrug. Die Notwendigkeit neuer Maßnahmen liegt somit auf der Hand.

2.1.3.   Zur Begründung reicht die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten 2007 11 794 Ersuchen anderer Mitgliedstaaten um Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerschulden erhalten haben. Wirklich eingezogen wurden aber nur etwa 5 % der geschuldeten Gesamtsumme.

2.1.4.   Besondere Ausmaße hat der Betrug im Bereich der Mehrwertsteuer, was zwei Nachteile mit sich bringt, die künftig vermieden werden müssen: die Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt werden verfälscht, und das Steueraufkommen der Mitgliedstaaten und der Union fällt niedriger aus (2).

2.2.   Vorgeschlagene Maßnahmen für die Beitreibung von Forderungen

2.2.1.   Erweiterung des Geltungsbereichs der Rechtsvorschriften über Amtshilfe. Im Unterschied zu der Richtlinie 2008/55/EG, in der Beitreibungsmöglichkeiten nur für begrenzte Kategorien von Forderungen vorgesehen sind, findet dieser neue Vorschlag Anwendung auf Forderungen im Zusammenhang mit „allen Steuern und Abgaben, die von oder für gebiets- oder verwaltungsmäßige Gliederungseinheiten eines Mitgliedstaats, einschließlich der lokalen Behörden, erhoben werden“, Sozialversicherungspflichtbeiträgen, „Erstattungen, Interventionen und anderen Maßnahmen“ im Rahmen des EGFL (3) und des ELER (4) sowie „Abschöpfungen und andere Abgaben im Rahmen der gemeinsamen Marktordnung für den Zuckersektor“ (Art. 1 und 2).

2.2.2.   Verbesserung des Informationsaustausches. Über den spontanen Informationsaustausch hinaus (Art. 5) soll es die ausgesprochen wichtige Möglichkeit geben, dass Beamte eines Mitgliedstaats sich aktiv an den Ermittlungen anderer Mitgliedstaaten beteiligen (Art. 6).

2.2.3.   Vereinfachung des Zustellungsverfahrens (Art. 7 und 8).

2.2.4.   Wirksamere Beitreibungs- und Sicherungsverfahren (Kapitel IV). Diese Bestimmungen, die einen bemerkenswerten Aspekt des Vorschlags darstellen, beziehen sich im Einzelnen auf Folgendes:

Erledigung eines Beitreibungsersuchens zur Vollstreckung im ersuchten Mitgliedstaat (Art. 9 und 12).

Gleichbehandlung der Forderung: „Zu dem Zweck der Beitreibung im ersuchten Mitgliedstaat wird jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt, sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt“ (Art. 12.1) (5). Die Beitreibung erfolgt in der Währung des ersuchten Mitgliedstaats.

Sonstige Aspekte des Beitreibungsverfahrens: Unterrichtung des ersuchten Staates, Überweisung der letztlich beigetriebenen Beträge, Verzugszinsen, Ratenzahlung (Art. 12 Abs. 2 bis 5).

Sicherungsmaßnahmen zur Gewährleistung der Beitreibung (Art. 15 und 16).

Einschränkung der Verpflichtungen der ersuchten Behörde (Art. 17).

Verjährung von Forderungen (Art. 18).

Verfahrenskosten (Art. 19).

2.2.5.   Vereinheitlichung und Vereinfachung der allgemeinen Vorschriften für Amtshilfeersuchen (Formblätter, Kommunikationsmittel, Verwendung von Sprachen usw.) (Art. 20 und 23).

3.   Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (KOM(2009) 29 endg.)

3.1.   Begründung des Kommissionsvorschlags

3.1.1.   Sowohl die hochrangige Arbeitsgruppe des Rates zum Steuerbetrug (6) als auch die Kommission (7) und die Mitgliedstaaten sind zu der Feststellung gelangt, dass die Vorschriften über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den für die Bereiche direkte Steuern und Steuern auf Versicherungsprämien zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nicht mehr geeignet sind (8). Der Kommission zufolge bewirken die großen Schwachstellen der Richtlinie 77/799 eine zunehmende Schwierigkeit, Steuern ordnungsgemäß festzusetzen, wirken sich auf das Funktionieren der Steuersysteme aus und verursachen Doppelbesteuerung, die wiederum zu Steuerbetrug und Steuerumgehung Anlass gibt, während die Kontrollbefugnisse auf nationaler Ebene verbleiben (9).

3.1.2.   Infolgedessen wird vorgeschlagen, einen ganz neuen Ansatz zugrundezulegen, der über bloße Änderungen an der geltenden Richtlinie hinausgeht. Die vorgeschlagene Regelung stellt daher einen neuen, integrierten Rechtsrahmen dar, in dem alle wesentlichen Aspekte der Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Besteuerung behandelt und die Möglichkeiten der Steuerbehörden zur Bekämpfung von Steuerbetrug und –umgehung beträchtlich verbessert werden.

3.1.3.   Da es darum geht, funktionsfähige Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten sowie zwischen den einzelstaatlichen Behörden untereinander einzuführen, ist das zentrale Ziel beider Vorschläge die Aufstellung gemeinsamer Regeln unter uneingeschränkter Achtung der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten.

3.2.   Vorgeschlagene Maßnahmen zur Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Staaten

3.2.1.   Ausdehnung des Geltungsbereichs ähnlich wie beim vorhergehenden Vorschlag (Beitreibung von Steuerforderungen).

3.2.2.   Informationsaustausch. Ein Austausch kann auf drei Arten erfolgen:

Auf Antrag der ersuchenden Behörde (Art. 5 bis 7). Das Ersuchen um Information kann zu „allen behördlichen Ermittlungen“ führen, die für den Erhalt der Information notwendig sind.

Automatisch (Art. 8). Hierbei handelt es sich um die systematische Übermittlung zuvor festgelegter Informationen an einen anderen Mitgliedstaat ohne dessen vorheriges Ersuchen in regelmäßigen, im Voraus bestimmten Abständen oder sobald die betreffenden Informationen vorliegen (Art. 3 Abs. 4). Allerdings werden die Einzelheiten dieses Informationsaustausches innerhalb von zwei Jahren im Ausschussverfahren nach Art. 24 festgelegt.

Spontan, wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats dies für zweckmäßig hält (Art. 9).

3.2.3.   Sonstige Formen der Zusammenarbeit

Anwesenheit von Beamten der ersuchenden Behörde in den Amtsräumen sowie Teilnahme an den behördlichen Ermittlungen der ersuchten Behörde (Art. 10).

Gleichzeitig durchgeführte Prüfungen eines oder mehrerer Steuerpflichtiger in unterschiedlichen Hoheitsgebieten (Art. 11).

Zustellung von Verfügungen bzw. Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat erlassen wurden (Art. 12).

3.2.4.   Allgemeine Fragen der Verwaltungszusammenarbeit

Rückmeldungen (Art. 13). Der Schwerpunkt liegt u.a. auf der möglichst raschen Übermittlung der Antworten.

Austausch bewährter Praktiken und Erfahrungsaustausch (Art. 14).

Verschiedene Fragen der Zusammenarbeit. Die Behörden (die ersuchende und die ersuchte) dürfen die auf diesem Wege erhaltenen Informationen und Schriftstücke an andere Behörden weitergeben und zu anderen Zwecken als ursprünglich vorgesehen verwenden (Art. 15). Folgende sonstige Fragen werden genannt: Voraussetzungen für die Pflicht der Mitgliedstaaten zum Informationsaustausch (Art. 16); Grenzen der Verpflichtung zur Zusammenarbeit (Art. 17); Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung (Art. 18); Standardformblätter und elektronische Formate (Art. 19) sowie Nutzung des Kommunikationsnetzwerks (CCN-Netz, Art. 20).

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.   Der EWSA teilt uneingeschränkt die Ansicht der Kommission, dass im „Zeitalter der Globalisierung […] die Amtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Besteuerung und insbesondere bei den direkten Steuern immer vordringlicher [wird]. Durch die erhebliche Zunahme der Mobilität der Steuerzahler, der grenzüberschreitenden Transaktionen und der Internationalisierung der Finanzinstrumente wird es für die Mitgliedstaaten immer schwieriger, Steuern ordnungsgemäß festzusetzen, während sie beim Steuerniveau an ihrer nationalen Souveränität festhalten“ (10).

4.2.   Ausgangspunkt beider Vorschläge ist die Feststellung, dass die vor über drei Jahrzehnten (als die EU noch aus neun Mitgliedstaaten bestand) festgelegten Bestimmungen heutzutage angesichts des inzwischen durch den Binnenmarkt herbeigeführten Wandels nicht mehr ausreichen. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gab es diese Freizügigkeit noch nicht, und die Integration war nicht sehr tief.

4.3.   Seit Jahren ist das erhebliche Ausmaß des Steuerbetrugs und der Steuerumgehung in der EU ein wichtiges Thema. 2004 nahm sich die Europäische Kommission dieser Frage infolge der Skandale an, die durch missbräuchliche Praktiken einiger Unternehmen ausgelöst worden waren (11), und regte eine Reihe von Maßnahmen an, um „die Transparenz der Steuersysteme zu erhöhen“. Außerdem schlug sie vor, „konkrete Vorschläge ausarbeiten, die auf Steuerbetrugs- und –umgehungsfälle ausgerichtet sein werden, bei denen komplexe und undurchsichtige Strukturen genutzt werden“. Anhand konkreter Fälle (12) verwies die Kommission darauf, dass diese Skandale „für Unsicherheit auf den Kapitalmärkten gesorgt [haben], wodurch die gesamte Wirtschaft geschädigt wurde“.

4.4.   Fünf Jahre danach ist festzustellen, dass die in der Mitteilung von 2004 dargelegten Geschehnisse unbedeutend im Vergleich zu denen der letzten Zeit erscheinen und auch der Schaden für die Wirtschaft erheblich größer ist.

4.5.   Diese Problematik hat jetzt eine globale Tragweite als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch die betrügerischen Machenschaften hervorgerufen wurde, die seit Ende 2007 ans Licht kommen. Eine der Aufgaben der G-20 ist es, die Aufstellung internationaler Regeln vorzuschlagen, die kommerzielle Transaktionen transparent und zuverlässig machen, und dadurch Steuerbetrug und -umgehung zu bekämpfen (13).

4.6.   Die Skandale, die in einigen EU-Mitgliedstaaten wegen der Steuerschlupflöcher in Steuerparadiesen entstanden sind (wie im Fall der Steuerhinterziehung in Liechtenstein zum Schaden des deutschen Fiskus), haben in der Bevölkerung eine allgemeine Empörung ausgelöst und den Ruf nach wirksameren Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerumgehung und der Wirtschaftskriminalität laut werden lassen.

4.7.   Informationsaustausch und leichterer Datenzugang zur Bekämpfung des Steuerbetrugs ist auch eines der Ziele der OECD (14).

4.8.   Seit Jahren befürwortet der EWSA nachdrücklich Maßnahmen zur Intensivierung der Zusammenarbeit und mahnt bessere Kontrollinstrumente und -verfahren an (15).

4.9.   In Anbetracht dessen begrüßt der EWSA die beiden Richtlinienvorschläge als einen bedeutsamen Schritt voran in der europäischen Integration. Die Erfüllung der Steuerpflicht ist eine grundlegende Voraussetzung für die Lebensfähigkeit des Sozialstaates.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.   Schaffung einer gemeinschaftlichen Verwaltungskultur

5.1.1.   Für den EWSA ist der herausragendste Aspekt beider Vorschläge, insbesondere des Vorschlags über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, der Wille zur Schaffung einer gemeinschaftlichen Verwaltungskultur, die eine grundlegende Voraussetzung für die Betrugsbekämpfung ist, wie in der Mitteilung von 2006 hervorgehoben wird (16).

5.1.2.   Dieser Entschluss, der aus den im Laufe der Zeit von den Steuerverwaltungen gesammelten Erfahrungen erwächst, findet seinen Niederschlag in verschiedenen Aspekten: der Verpflichtung, in jedem Mitgliedstaat ein einziges Steuerverbindungsbüro zu benennen, wobei es auch möglich ist, spezielle Verbindungsstellen zu benennen, die untereinander in direktem Kontakt stehen; der Möglichkeit, zuständige Beamte zu benennen, die zur direkten Mitwirkung an den Amtshandlungen ermächtigt sind; der Festsetzung von Fristen (die es gegenwärtig nicht gibt) für die Informationsübermittlung; der Verpflichtung zu einer Rückmeldung u.a.

5.1.3.   Der EWSA begrüßt die Festlegung von Standardformblättern und elektronischen Formaten, die die Verfahrensgänge deutlich beschleunigen dürften.

5.1.4.   Hervorzuheben sind auch die Vereinfachung der Sprachenregelung – bisher ein großes Kooperationshemmnis und ein Kostentreiber in den Verfahren – und der Einsatz der neuen Technologien in diesem Bereich, was eine automatische Übersetzung der Formblätter ermöglicht.

5.2.   Die Grenzen der Verwaltungszusammenarbeit, das Bankgeheimnis, die Tätigkeit von Agenten und Besitzrechte

5.2.1.   Die vorgesehene Verwaltungszusammenarbeit hat Grenzen. Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt die angefragten Auskünfte, sofern dies „keinen unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand verursacht“ und der ersuchende Staat „die üblichen Informationsquellen ausgeschöpft hat“. Der ersuchte Mitgliedstaat kann das Ersuchen in bestimmten Fällen ablehnen: a) wenn die Ermittlungen bzw. die Beschaffung der betreffenden Informationen mit seinen Rechtsvorschriften unvereinbar sind; b) wenn der ersuchende Mitgliedstaat Informationen der Art, wie sie angefragt werden, aus rechtlichen Gründen selbst nicht bereitstellen könnte; c) wenn die Auskunft zur Preisgabe eines Geschäfts-, Industrie- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens führen oder die Preisgabe der betreffenden Information gegen die öffentliche Ordnung verstoßen würde (17). Der EWSA hält diese Einschränkungen für angemessen.

5.2.2.   Der ersuchte Mitgliedstaat darf die Bereitstellung der Information nicht allein deshalb verweigern, „weil sich diese Information im Besitz einer Bank, eines anderen Finanzinstituts, eines Bevollmächtigten oder einer Person, die als Agent oder Treuhänder auftritt, befindet oder weil sie sich auf Besitzrechte von Personen bezieht“ (18). Angesichts der mehrfach bestätigten Erfahrungen mit Steuerbetrug begrüßt der EWSA diese Klarstellung, denn ohne sie wäre es fraglich, ob sich die Ziele erreichen lassen, die mit den beiden Vorschlägen im Hinblick auf die Erfüllung der Steuerpflicht verfolgt werden (19).

5.2.3.   Hinzuzufügen ist, dass die Informationspflichten und ihre Grenzen in ähnlicher Form auch in dem Musterübereinkommen der OECD enthalten sind (20).

5.3.   Anwesenheit von Beamten eines anderen Mitgliedstaats

5.3.1.   Sowohl in dem Vorschlag für eine Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden als auch in dem Vorschlag über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen ist vorgesehen, dass Beamte des ersuchenden Mitgliedstaats bei den behördlichen Ermittlungen zugegen sein dürfen, die im ersuchten Mitgliedstaat geführt werden. Der EWSA hält diese Form der Zusammenarbeit für angemessen, denn sie unterliegt zwei wichtigen Bedingungen: Es muss Einvernehmen zwischen der ersuchenden und der ersuchten Behörde bestehen, und die Beamten müssen sich an die „Rechts- und Verwaltungsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats“ halten (21).

5.3.2.   Die Anwesenheit von Beamten eines anderen Mitgliedstaats ist bereits jetzt auf dem Gebiet der Verbrauchssteuern (22) und der Mehrwertsteuer (23) vorgesehen, wobei sie im vorliegenden Fall aber mehr Vollmachten haben sollen, denn die Beamten dürfen Prüfungsbefugnisse ausüben.

5.4.   Rechtmäßigkeit des Vollstreckungstitels der Steuerforderung

5.4.1.   Besondere Aufmerksamkeit gebührt der Rechtmäßigkeit der Untersuchungsverfahren, die die Steuerbehörden durchführen können. Nach Ansicht des EWSA wird diese Frage in dem Vorschlag für eine Richtlinie über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen richtig behandelt. Man muss sich von vornherein darüber im Klaren sein, dass die vorgesehenen Regelungen, sowohl in den beiden in dieser Stellungnahme erörterten Richtlinienvorschlägen als auch auf dem Gebiet der Verbrauchssteuern und der Mehrwertsteuer, nur Verfahrensweisen für die Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten festlegen, die Mitgliedstaaten aber nach wie vor in voller Souveränität über die Rechtmäßigkeit der in ihrem Hoheitsgebiet durchgeführten Ermittlungsverfahren befinden können.

5.4.2.   Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen handeln die Beamten im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften (24) und gilt für Amtshandlungen die Vermutung der Rechtsgültigkeit. Folglich ist ihnen Folge zu leisten, was dem Betroffenen nicht das Recht nimmt, sie bei Gericht anzufechten. Bei Streitigkeiten in Bezug auf die Beitreibung von Forderungen fällt es in die Zuständigkeit des Mitgliedstaates, der die Ansprüche erhebt (d.h. des ersuchenden Staates), über die Gültigkeit der Forderung, des ursprünglichen Vollstreckungstitels, des einheitlichen Vollstreckungstitels und der Zustellung durch die zuständige Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats zu entscheiden (25).

5.4.3.   Werden hingegen die im ersuchten Mitgliedstaat ergriffenen Vollstreckungsmaßnahmen oder die Gültigkeit einer Zustellung durch eine zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats angefochten, ist die Entscheidung darüber Sache der zuständigen Instanzen dieses ersuchten Mitgliedstaats (26). In beiden Fällen ist der Rechtsschutz des Steuerpflichtigen sichergestellt, denn außer in dem Fall, dass die in der folgenden Ziffer erörterte Möglichkeit gesetzlich vorgesehen ist, wird das Vollstreckungsverfahren auf den strittigen Teil der Forderung ausgesetzt. Es ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, über Anfechtungen Mitteilung zu machen, obwohl das natürlich auch die Betroffenen tun können.

5.4.4.   Werden Forderungen bei Gericht angefochten, können Sicherungsmaßnahmen getroffen werden, soweit die Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats dies zulassen. Außerdem kann der ersuchende Staat, wenn dies nach seinem Recht vorgesehen ist, mittels eines begründeten Ersuchens um die gerichtliche Beitreibung einer Forderung bitten (27).

5.4.5.   In Bezug auf strafrechtliche Maßnahmen ist darauf hinzuweisen, dass diese in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen (28).

5.5.   Die Souveränität der Mitgliedstaaten

5.5.1.   Der EWSA hebt hervor, dass die Vorschläge die Souveränität der Mitgliedstaaten in keiner Weise antasten, die sich schließlich im Rahmen der Richtlinien auf ihre eigenen Rechtsvorschriften und ihre eigenen Institutionen in den Bereichen, in denen es ihnen zukommt, stützen können. Anschauliche Beispiele dafür sind u.a. die Regelungen, auf die sich die Ziffern 5.3 und 5.4 dieser Stellungnahme beziehen.

5.5.2.   Dies betrifft auch die Weitergabe von Informationen und Schriftstücken, die eine Behörde im Rahmen der Richtlinie erhalten hat, unter folgenden Maßgaben:

Die (ersuchende oder ersuchte) Behörde darf Informationen und Schriftstücke an andere Behörden desselben Mitgliedstaats weitergegeben, sofern dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zulässig ist. Die Informationen dürfen auch für andere als steuerliche Zwecke verwendet werden.

Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats darf ihrerseits Informationen an die zuständige Behörde eines dritten Mitgliedstaats weiterleiten „unter der Voraussetzung, dass diese Weitergabe im Einklang mit den in dieser Richtlinie festgelegten Regeln und Verfahren erfolgt“.

Außerdem können alle Schriftstücke und Informationen, die die ersuchende Behörde erhalten hat, in gleicher Weise als Beweismittel verwendet werden wie entsprechende Schriftstücke und Informationen einer anderen inländischen Behörde (29).

5.5.3.   Im Unterschied zu den entsprechenden Bestimmungen des OECD-Abkommens über den Informationsaustausch in Steuersachen (30) ist die Genehmigung des ersuchten Staates nicht erforderlich.

5.6.   Zweckmäßigkeit einer Kodifikation der Bestimmungen

5.6.1.   Beide Richtlinienvorschläge enthalten Bestimmungen gleichen oder ähnlichen Inhalts. Ein Beispiel dafür sind die Bestimmungen über die Zustellung von Schriftstücken (31), und es könnten noch weitere genannt werden. Wie bereits ausgeführt, wird die Anwesenheit von Beamten eines anderen Mitgliedstaates in zwei Richtlinien und in zwei Verordnungen geregelt, die dafür zudem einen anderen Befugnisumfang vorsehen.

5.6.2.   Im Sinne einer besseren Rechtsetzung sollte man sich in Zukunft nach Ansicht des EWSA bemühen, die Steuervorschriften zu vereinheitlichen, soweit es geht.

5.7.   Praktische Umsetzung des neuen Systems

5.7.1.   Die Umsetzung des komplizierten neuen Systems, das errichtet werden soll, wird den Institutionen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten erhebliche Anstrengungen abverlangen. Erstens wegen der Fristen: Als Stichtag für die Umsetzung der beiden Richtlinien (die verschiedene Sachgebiete der Rechtsordnung betreffen) wird der 31. Dezember 2009 festgelegt - ein Termin, der kaum einzuhalten sein dürfte. Der Ausschuss für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Steuerbereich wird intensiv daran arbeiten müssen, innerhalb von zwei Jahren die Normen für den automatischen Informationsaustausch auszuarbeiten.

5.7.2.   Zweitens müssen die Verwaltungsapparate den neuen Erfordernissen angepasst werden, was bedeutet, dass die Steuerverwaltungen mit den entsprechenden materiellen und personellen Mitteln auszustatten sind. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die notwendige Fortbildung der Beamten, wofür in vielen Fällen zusätzliche Haushaltsmittel zu bewilligen sein werden.

5.7.3.   Der EWSA möchte jedenfalls unterstreichen, dass die Ziele beider Vorschläge nur dann in greifbare Resultate im Kampf gegen Steuerbetrug und -umgehung überführt werden können, wenn die Politik den entschiedenen Willen zur Bereitstellung der geeigneten Mittel aufbringt.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. Mai 1976 und nachfolgende Änderungen, kodifiziert durch die Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008.

(2)  KOM(2009) 28 endg.: Aufgrund der Richtlinie 2000/65/EG, der zufolge es nicht mehr möglich ist, MwSt-Vertreter einzusetzen, und aufgrund der Ausbreitung von MwSt-Betrug – insbesondere des sog. Karussellbetrugs – ist eine Situation entstanden, in der 57,50 % aller Beitreibungsersuchen MwSt-Forderungen betreffen (Stand von 2007). Vgl. auch Mitteilung der Kommission über eine koordinierte Strategie zur wirksameren Bekämpfung des MwSt-Betrugs in der Europäischen Union, KOM(2008) 807 endg.

(3)  Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft.

(4)  Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums.

(5)  Die geltende Richtlinie 2008/55/EG enthält eine ähnliche Bestimmung (Art. 6 Abs. 2). Dieser Bestimmung zufolge ist die Forderung nicht eine eigene Forderung des ersuchten Mitgliedstaats, wird jedoch wie eine solche behandelt, das heißt, der Mitgliedstaat geht damit vergleichbar wie mit seinen eigenen Forderungen um.

(6)  Bericht vom Mai 2000 (Dokument 8668/00 des Rates „Bekämpfung von Steuerbetrug“).

(7)  Vgl. Mitteilungen aus den Jahren 2004 (KOM (2004) 611 endg.) und 2006 (KOM(2006) 254 endg.).

(8)  Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977.

(9)  KOM(2009) 29 endg., S. 2.

(10)  KOM(2009) 29 endg., Begründung.

(11)  Mitteilung der Kommission über die Verhütung und Bekämpfung von Unternehmens- und Finanzdelikten (KOM(2004) 611 endg.).

(12)  Etwa Parmalat und Enron, deren Aktionäre Verluste in Höhe von 67 Mrd. US-Dollar erlitten.

(13)  G-20-Erklärung von Washington vom 15.11.2008: „Tax authorities, drawing upon the work of relevant bodies such as the Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), should continue efforts to promote tax information exchange. Lack of transparency and a failure to exchange tax information should be vigorously addressed.“

(14)  Weltsteuerforum, an dem auch Nicht-OECD-Länder teilnahmen. Siehe „Tax co-operation: towards a level playing field – 2008 Assessment by the Global Forum on Taxation“, OECD, August 2008.

(15)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission hinsichtlich der Notwendigkeit der Entwicklung einer koordinierten Strategie zur Verbesserung der Bekämpfung des Steuerbetruges“ (ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 8). Diese Stellungnahme enthält eine umfassende Auflistung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts. Zu nennen sind hier auch die Stellungnahmen zu folgenden Vorschlägen:

„Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer“ und „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/799/EWG des Rates über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern“, ABl. C 80 vom 3.4.2002, S. 76.

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern und zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/799/EWG des Rates über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, bestimmter Verbrauchsteuern und der Steuern auf Versicherungsprämien sowie der Richtlinie 92/12/EWG des Rates über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren“, ABl. C 112 vom 30.4.2004, S. 64.

„Vorschlag für eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates: Einführung eines Gemeinschaftsprogramms zur Verbesserung der Funktionsweise der Steuersysteme im Binnenmarkt (Fiscalis 2013)“, ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 1.

(16)  Darin wird eine Erwägung der Ad-hoc-Gruppe des Rates über Steuerbetrug aufgegriffen (Vgl. KOM(2006) 254, Ziffer 3.1).

(17)  KOM(2009) 29 endg., Art. 16.

(18)  KOM(2009) 29 endg., Art. 17.2.

(19)  Schätzungen zufolge befindet sich rund ein Drittel der weltweit 11 000 Mrd. Dollar an verborgenem persönlichem Vermögen in der Schweiz. „Swiss banks ban top executive travel. Concern that employees will be detained“ (Financial Times vom 27.3.2009).

(20)  Musterübereinkommen für die Besteuerung von Einkommen und Vermögen, Art. 26 und 16, OECD, 17.7.2008.

(21)  KOM(2009) 28 endg., Art. 6.2 und KOM(2009) 29 endg., Art. 10.2.

(22)  Verordnung (EG) Nr. 2073/2004 des Rates vom 16. November 2004 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern, Art. 11.

(23)  Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 des Rates vom 7. Oktober 2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 218/92, Art. 11.

(24)  Gemäß dem Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis „achtet [der Beamte] darauf, dass Beschlüsse, die die Rechte oder Interessen von Einzelpersonen berühren, eine rechtliche Grundlage haben und ihr Inhalt mit den geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt“ (Artikel 4).

(25)  KOM(2009) 28 endg., Art. 13.1.

(26)  KOM(2009) 28 endg., Art. 13.2.

(27)  Wird der Anfechtung später stattgegeben, haftet die ersuchende Behörde für die Erstattung bereits beigetriebener Beträge samt etwaig geschuldeter Entschädigungsleistungen gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Mitgliedstaats der ersuchten Behörde. KOM(2009) 28 endg., Art. 13 Abs. 3, letzter Absatz.

(28)  „… berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“, Vertrag über die Europäische Union, Art. 33.

(29)  KOM(2009) 29 endg., Art. 15 Abs. 1, 2 und 3.

(30)  Die Informationen dürfen ohne die ausdrückliche schriftliche Zustimmung der zuständigen Behörde der ersuchten Vertragspartei nicht anderen Personen, Einrichtungen, Behörden oder einer anderen hoheitlichen Gewalt übermittelt werden (Art. 8).

(31)  KOM(2009) 28 endg., Art. 7 und 8; KOM(2009) 29 endg., Art. 12.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/126


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Regionale Integration zur Förderung der Entwicklung in den AKP-Staaten“

KOM(2008) 604 endg.

(2009/C 317/24)

Berichterstatter: Gérard DANTIN

Mitberichterstatter: Luca JAHIER

Die Europäische Kommission beschloss am 1. Oktober 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Regionale Integration zur Förderung der Entwicklung in den AKP-Staaten

KOM(2008) 604 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 27. Mai 2009 an. Berichterstatter war Gérard DANTIN, Mitberichterstatter Luca JAHIER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 132 Ja- Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Wie bereits in vorhergehenden Arbeiten zum Ausdruck gebracht, ist der Ausschuss der Auffassung, dass die regionale Integration in den AKP-Staaten eine der wesentlichen Voraussetzungen für deren Entwicklung ist. Die Entwicklung wird wiederum zur Vertiefung der Integration beitragen, wodurch ein „circulus virtuosus“ in Gang gesetzt wird.

1.2.   Der Ausschuss begrüßt die in der hier erörterten Mitteilung enthaltenen Analysen und Vorgaben und spricht sich dafür aus, dass die regionale Integration bei der Überprüfung des Cotonou-Abkommens 2010 einen der wesentlichen Aspekte bildet.

1.3.   Der EWSA bedauert hingegen, dass in der Mitteilung nicht auf die bisherigen Schwierigkeiten eingegangen wird und dass die Prioritäten für die Umsetzung nicht nachdrücklicher bekräftigt werden.

1.4.   Der Ausschuss betont, dass bestimmte Faktoren für Fortschritte bei der regionalen Integration unumgänglich sind. Bei jedem dieser Faktoren kann und muss die EU einen wichtigen Beitrag leisten.

1.5.   Eine Vertiefung der regionalen Integration wäre ohne eine größere Stabilität der Staaten nicht möglich. Frieden und Sicherheit müssen zu den Prioritäten der EU gehören.

1.6.   Die Entwicklung der AKP-Staaten ist eine der Voraussetzungen für deren regionale Integration, die wiederum ihre Entwicklung voranbringen wird.

1.7.   Diese Entwicklung hängt insbesondere von folgenden Faktoren ab:

inhaltliche Neuausrichtung des Wachstums mit dem Ziel einer Diversifizierung der Wirtschaft, der Produktionsstrukturen und der Dienstleistungssysteme;

nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raums, die die Ernährungssicherheit gewährleistet;

Ausbau des privaten Sektors, insbesondere der KMU;

verantwortungsvolle Regierungsführung in ihrer Gesamtheit betrachtet, insbesondere in Bezug auf die Menschen- und Arbeitnehmerrechte, den Rechtsstaat, die Demokratie und die Korruptionsbekämpfung. In Bezug auf den letztgenannten Punkt bringt der Ausschuss sein Befremden darüber zum Ausdruck, dass die Korruption in der Mitteilung mit keinem Wort erwähnt wird. Er fordert, insbesondere die Zuweisung der zur Förderung der Integration bestimmten 1,75 billion EUR aus dem 10. EEF an die Nachvollziehbarkeit ihrer Verwendung zu knüpfen;

effektive Beteiligung nichtstaatlicher Akteure, wie dies beim Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) CARIFORUM/EU der Fall war. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, die sozialen und wirtschaftlichen Netze auf regionaler Ebene sowohl politisch als auch finanziell zu unterstützen.

1.8.   Der Ausschuss spricht sich dafür aus, die Überlegungen zu folgenden Aspekten fortzuführen bzw. einzuleiten:

Zweckmäßigkeit und Möglichkeit der Förderung der regionalen Zusammenarbeit unter Einbindung der Regionen in äußerster Randlage der EU und der integrierten AKP-Regionen, die ihr geographisches Umfeld bilden;

die Hindernisse, die vorläufige WPA mit nur einem Staat für den Abschluss von regionalen WPA darstellen können, und entsprechende Abhilfemaßnahmen;

die Hindernisse, die WPA-Verhandlungen mit anderen Gruppen als den bereits bestehenden in Bezug auf die regionale Integration verursachen können;

mögliche Auswirkungen der Art und der Vielfalt der „Wirtschaftsmächte“ (die sich in den letzten Jahren gewandelt und zugenommen haben) auf die regionale Integration - insbesondere in Afrika;

Auswirkungen der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise.

2.   Einleitung

2.1.   Nach vernünftigem Ermessen ist davon auszugehen, dass die Haupttendenz des neuen Jahrtausends der weltweite Wettbewerb sein wird. Angesichts der Chancen und Herausforderungen der Globalisierung besteht eine der möglichen Reaktionen aller Staaten auf allen Kontinenten in der regionalen Wirtschaftsintegration mit den Nachbarländern und in der Schaffung bedeutenderer und wettbewerbsfähigerer Wirtschaftsblöcke (NAFTA, ASEAN, APEC, MERCOSUR, CARIFORUM usw.), um am internationalen Handel nicht nur als Staat, sondern auch als Regionalmacht teilnehmen zu können.

2.2.   Diese Entwicklung ist nirgendwo dringender als in den AKP-Staaten (und insbesondere in Afrika (1)), die aufgrund der Auswirkungen mehrerer Faktoren (vergleichsweise schwache Wirtschaft, große Armut, Handelsbedingungen, koloniales Erbe bezüglich des Grenzverlaufs, schlechte Governance, oftmals endemische Konflikte, Korruption usw.) noch nicht in der Lage sind, sich in signifikanter Weise im internationalen Handel zu etablieren - und dies trotz der nicht unerheblichen Größe ihrer Märkte und ihres Potenzials.

2.3.   Die Förderung der regionalen Integration ist somit ein Eckpfeiler der auf die AKP-Staaten ausgerichteten Kooperationspolitik der Europäischen Union. Die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft für die Politik zur Förderung der wirtschaftlichen Integration geht auf das Abkommen von Jaunde 1969 und die Definition dieses Konzepts der Zusammenarbeit in Verbindung mit Partnerschaftshilfe zurück. Seitdem hat die EU im Rahmen unterschiedlicher Abkommen (Lomé, Cotonou) diese sowohl politische als auch technische und finanzielle (2) Zusammenarbeit gepflegt. Anschließend wurde das Thema ausgebaut und über die AKP-Staaten hinaus auf alle Entwicklungsländer ausgeweitet (3). Ferner sei darauf hingewiesen, dass einer der acht auf dem Gipfeltreffen EU-Afrika am 8./9. Dezember 2007 in Lissabon verabschiedeten Aktionspläne die „Regionale Integration und die Infrastrukturen“ (4) zum Gegenstand hatte.

2.4.   Ziel der hier erörterten Mitteilung ist es, den Rahmen und den Kontext der regionalen Integration zu beleuchten und eine Bestandsaufnahme der erzielten Fortschritte und der Herausforderungen vorzunehmen. Darüber hinaus werden in der Mitteilung Ziele festgelegt und unterstützende Maßnahmen für deren Erreichung vorgeschlagen.

2.5.   In dieser Stellungnahme wird zunächst der wesentliche Inhalt der Mitteilung dargelegt und beleuchtet. Anschließend folgen einige Beobachtungen sowie allgemeine, besondere und spezifische Bemerkungen zur Mitteilung. Dabei stützt sich der Ausschuss auf all seine bisherigen Arbeiten - sowohl auf frühere Stellungnahmen als auch auf regionale Seminare, die er unter Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft aus verschiedenen AKP-Regionen organisiert hat, sowie auf in Brüssel veranstaltete Konferenzen, an denen nichtsstaatliche Akteure aus allen AKP-Staaten teilnahmen.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1.   Nach einer kurzen Darlegung der „neuen Rahmenbedingungen“ und einem Verweis auf die kontinuierlichen und seit langem durchgeführten Maßnahmen der Europäischen Union sowie auf einige unlängst durchgeführte Maßnahmen zur Förderung der regionalen Integration in den AKP-Staaten (die regionale Programmierung für den 10. Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) und die intensiven Verhandlungen über WPA mit AKP-Regionen usw.) wird in der Mitteilung vorgeschlagen, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, die Kohärenz der Maßnahmen der Europäischen Union zu prüfen und das weitere Vorgehen unter Verwendung von EU-Instrumenten zu planen.

3.2.   Zu diesem Zweck wird die Bestandsaufnahme der bisherigen Maßnahmen und der Perspektiven in vier Hauptkapiteln vorgenommen:

Hauptziele der regionalen Integration;

Errungenschaften und Herausforderungen der regionalen Integration der AKP-Staaten;

Entwicklung einer Unterstützung durch die EU auf der Grundlage von fünf Prioritäten:

Stärkung regionaler Einrichtungen;

Aufbau regionaler integrierter Märkte;

Förderung der Unternehmensentwicklung;

Verbund regionaler Infrastrukturnetze;

Entwicklung regionalpolitischer Konzepte für eine nachhaltige Entwicklung;

optimale Nutzung der EU-Instrumente und Stärkung des politischen Dialogs auf globaler, regionaler und nationaler Ebene bei gleichzeitiger systematischer Errichtung bzw. Entwicklung regionaler Foren der Zivilgesellschaft. Diese verstärkte gemeinschaftliche Unterstützung bringt eine Aufwertung des 10. EEF mit sich.

4.   Allgemeine Bemerkungen

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist im Rahmen seiner Arbeiten mehrfach auf die Frage der regionalen Wirtschaftsintegration der AKP-Staaten eingegangen.

4.1.1.   Ferner war die regionale Integration das zentrale Thema von drei regionalen Seminaren (Jaunde im Mai 2003, Fidschi im Oktober 2004 und Bamako im Februar 2006) und sowie von zwei Stellungnahmen des Ausschusses.

4.1.2.   Die Überlegungen zu diesem Thema wurden auf der AKP-Konferenz der nichtstaatlichen Akteure im Juni 2005 in Brüssel konkretisiert. In den Schlussfolgerungen der Konferenz heißt es: „Wenn sich die AKP-Staaten dem Handel öffnen wollen, müssen sie ihre regionale Integration stärken. In Afrika, im karibischen Raum und im pazifischen Raum muss die Errichtung echter gemeinsamer Märkte beschleunigt werden. Wenn diese Länder in diesem Bereich besser organisiert wären, könnten sie ihre eigenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen angesichts der Globalisierung besser verteidigen.“

4.1.3.   In einer unlängst auf Ersuchen des Kommissionsmitglieds Luis Michel erarbeiteten Stellungnahme des Ausschusses zum Thema „EU-Afrika-Strategie“ (5) heißt es: „ Die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas geschieht zuallererst und vor allem durch einen Ausbau seines Binnenmarktes, damit auf diese Weise ein endogenes Wachstum gewährleistet werden und sich der Kontinent stabilisieren und seinen Platz in der Weltwirtschaft finden kann. Regionale Integration und Entwicklung des Binnenmarktes sind der Ausgangspunkt, das Sprungbrett, das es Afrika erlaubt, sich in positivem Sinne dem Welthandel zu öffnen . Vor diesem Hintergrund bedauert der Ausschuss, dass die regionalen Verhandlungen über den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die gerade eben auch eine wirtschaftliche Integration zum Ziel haben, bisher nicht zu Ende geführt werden konnten.“

4.2.   Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und seiner früheren Standpunkte begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die Mitteilung mit all ihren Vorgaben. Darüber hinaus ist er der Auffassung, dass die regionale Integration angesichts ihrer Bedeutung bei der Überarbeitung des Abkommens von Cotonou 2010 eine wesentliche Rolle spielen muss, sowohl in Bezug auf die gemeinsame Bewertung durch die Akteure der Partnerschaft als auch die Stärkung und prioritäre Neubelebung der Bestimmungen in den kommenden Jahren.

4.3.   Gleichzeitig bedauert er, dass die Mitteilung keine vollständigere oder gar erschöpfende Bestandsaufnahme und kritische Analyse der bisherigen Schwierigkeiten enthält, die ein Hindernis für die regionale Integration darstellen. Mithilfe einer solchen Analyse könnten die zu umschiffenden Klippen ermittelt und eine vernünftige Definition der für eine Zusammenarbeit vorzuschlagenden Vorgaben festgelegt werden. Darüber hinaus wäre die Mitteilung nach Auffassung des Ausschusses nachvollziehbarer und verständlicher, wenn es eine klarere Hierarchie der Prioritäten gäbe, und zwar ungeachtet der Modulation, die aufgrund der Unterschiede bei der Entwicklung der Staaten während der Umsetzungsphase erforderlich ist.

4.4.   Im Rahmen der folgenden allgemeinen und besonderen Bemerkungen ist es nach Auffassung des Ausschusses zweckmäßig, gewisse Probleme herauszustellen. Diese werden in der Mitteilung teilweise kurz angesprochen, teilweise außer Acht gelassen. Da sie jedoch für die Vertiefung der regionalen Integration ausschlaggebend sind, ist es gerechtfertigt, dass sie herausgestellt und als Dreh- und Angelpunkt, als unumgängliche und unausweichliche Faktoren dieses Prozesses dargestellt werden.

5.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

5.1.   Es ist allgemein anerkannt, dass gewisse Faktoren zu einer erfolgreichen Umsetzung der regionalen Integration beitragen. Hierzu zählen politisches Engagement, Frieden und Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, gute Governance der öffentlichen Angelegenheiten und makroökonomische Stabilität. Erforderlich sind darüber hinaus ein wirtschaftliches Umfeld, das eine wirksame Funktionsweise des Marktes begünstigt, eine Öffnung gegenüber den Drittstaaten, ausreichend starke und mit einem präzisen Mandat ausgestattete Institutionen, angemessene Ressourcen, eine politische Unterstützung und eine umfassende Beteiligung des privaten Sektors und der Zivilgesellschaft.

5.2.   Um jedoch bei der Umsetzung der regionalen Integration Fortschritte zu erzielen, insbesondere wenn die im Abkommen von Cotonou vorgeschlagene allgemeine Definition (6) als Zielvorgabe dienen soll, ist es unumgänglich, die in den folgenden Ziffern aufgeführten Aspekte, die zur Entwicklung der AKP-Staaten beitragen, prioritär zu berücksichtigen - zumal es wahr ist, dass die Integration die Quelle der Entwicklung ist und die Entwicklung wiederum die Integration fördert. Im Hinblick auf all diese Aspekte muss die EU die notwendigen Anstrengungen unternehmen.

5.3.   Frieden und Sicherheit – Die Entwicklung, insbesondere in Afrika, und somit auch die regionale Integration wären ohne eine größere Stabilität der Staaten nicht möglich. Indes sind viele Länder nach wie vor in nicht enden wollende Konflikte verstrickt. In den letzten zehn Jahren haben Konflikte in Guinea, Liberia und Sierra Leone, Ländern mit reichen Vorkommen an natürlichen Ressourcen wie vor allem Diamanten und Holz, die Region in eine schwere Krise gestürzt, die zu großen Flüchtlingsströmen führte. Ganz zu schweigen von dem im Sudan wütenden Darfur-Konflikt, dem „vergessenen Krieg“ im Norden Ugandas, den Massakern im Kivu im Zusammenhang mit Coltan und ethnischen Kriegen, der ein Stück weit an den Völkermord in Ruanda erinnert, der anhaltenden Unsicherheit im Norden und Osten der Zentralafrikanischen Republik, der Instabilität im Kongo, in Mauretanien, in Fidschi oder den jüngsten „Schwierigkeiten“ in Kenia oder in Simbabwe - um nur einige zu nennen. All dies sind unausweichliche Hindernisse für die regionale Integration. Ein Beitrag zu einer größeren Stabilität und zum Frieden in den AKP-Staaten muss zu den Prioritäten der Europäischen Union gehören, um insbesondere die Entwicklung zu fördern, die wiederum zur Vertiefung der Integration führen wird.

5.4.   Die Staaten zuerst… - Die regionale Integration ist zwar von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der AKP-Länder, Grundvoraussetzung dafür ist jedoch die Entwicklung der einzelnen Staaten, der Grad der Komplementarität des Entwicklungsstands der einzelnen Volkswirtschaften und der von diesen Staaten durchgeführten Arten von politischen Maßnahmen (7). In der Tat ist es ja nicht möglich, die Integration von etwas voranzutreiben, das überhaupt nicht existiert. Eine regionale Integration des Verkehrs, eine Verflechtung der Infrastruktur usw. ist nur dann möglich, wenn diese Einrichtungen existieren und von den einzelnen Staaten weiter ausgebaut werden. In dieser Hinsicht kommt der Qualität der inhaltlichen Ausarbeitung (Einbeziehung nichtstaatlicher Organisationen) sowie der Durchführung der nationalen und - in einem weiteren Schritt - regionalen Richtprogramme zentrale Bedeutung zu. Die EU muss insbesondere die „Verwendung“ der aus dem EEF zur Verfügung gestellten Mittel überprüfen. Darüber hinaus schlägt der Ausschuss vor, dem Problem der Finanzierung von Maßnahmen zur Sicherstellung des Zusammenhalts besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und zwar dann, wenn die wirtschaftliche Integration auf regionaler Ebene zwischen Ländern gefördert wird, die große Unterschiede bei ihrer jeweiligen Wirtschaftsstruktur und ihrem Entwicklungsstand aufweisen. Geschieht dies nicht, könnte damit mehr Schaden angerichtet als Nutzen erzielt werden.

5.5.   Korruption – Diese betrifft, insbesondere in Afrika, quasi alle Bereiche der Gesellschaft und ist ein Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung (8). Daraus folgt, dass sie auch die regionale Integration behindert (9). Der EWSA zeigt sich sehr erstaunt darüber, dass die Korruption in der vorliegenden Kommissionsmitteilung kein einziges Mal beim Namen genannt wird, wo doch deren Bekämpfung eines der Ziele der „Afrikanischen Union“ ist und ihr auch im Abkommen von Cotonou ein wichtiger Stellenwert eingeräumt wird (siehe Artikel 30 Ziffer f). Sicherlich sind die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, vor allem bei den afrikanischen Staaten, nicht zu vernachlässigen, und diplomatische Bemühungen müssen eine wichtige Rolle spielen, sie werden aber auf keinen Fall ausreichen. Selbst wenn die EU als Geberin ihren Partnern nicht aufoktroyieren kann, welche Maßnahmen mit den Mitteln durchzuführen sind, ist sie verpflichtet, deren korrekte Verwendung ebenso wie die zweckgemäße Ausschöpfung der Kooperationsfonds sicherzustellen, handelt es sich doch bei den Mitteln immerhin um das Geld der europäischen Steuerzahler. Der Ausschuss fordert daher, die Auszahlung der im 10. EEF vorgesehenen 1,75 Milliarden EUR für die Integrationsförderung an die Sicherstellung der Nachvollziehbarkeit der Mittelverwendung zu knüpfen.

5.6.   Es bedarf einer Neuorientierung der Wachstumsziele durch Diversifizierung der Wirtschaft, Produktionsstrukturen und Dienstleistungssysteme, da ein diversifizierter Wachstumsmarkt die wirtschaftliche Integration auf regionaler Ebene erleichtern würde. Dies lässt sich aber nicht alleine durch die Nutzung natürlicher Ressourcen oder auch mittels traditioneller bzw. intensiver Agrarproduktion (Zuckerrohr, Baumwolle, Bananen, Erdnüsse, Kakao usw.) bewerkstelligen. Eine solche Diversifizierung wird jedoch nur durch den Aufbau einer verarbeitenden Industrie zur Herstellung komplexer Produkte mit entsprechender Wertschöpfung möglich sein, was längerfristig auch der beste Weg ist, eine Verschlechterung der Handelsbedingungen zu vermeiden und einen positiven Beitrag zur Entwicklung der regionalen Wirtschaft zu leisten (8).

5.7.   Gewährleistung der Ernährungssicherheit, der Entwicklung des ländlichen Raums sowie der Nachhaltigkeit – Es kann keine wirtschaftliche Integration auf der regionalen Ebene geben, wenn nicht in sämtlichen Staaten, die an dieser Integration teilnehmen sollen, auch die Ernährungssicherheit gewährleistet ist1 (8). Aus diesem Grund muss der Landwirtschaft als essentiellem Bereich der nachhaltigen Entwicklung strategische Priorität beigemessen werden. Zudem sind alle erforderlichen Schlüsse aus der Ernährungskrise 2007/2008 sowie der laufenden Ernährungskrise zu ziehen, die aus dem starken Anstieg der Preise für Agrarprodukte und Energie im Jahr 2008 resultiert. Die kontinuierliche Entwicklung der Landwirtschaft als Voraussetzung für den Auf- bzw. Ausbau einer Lebensmittelindustrie, sowie, allgemeiner gesprochen, eine Verlagerung des Schwerpunkts hin zu der landwirtschaftlichen Dimension der Entwicklungsbemühungen kann nur durch die Erarbeitung einer durchdachten und gut strukturierten, kurz-, mittel- und langfristig angelegten Politik für den Agrarsektor sowie für die Ernährungssicherheit und die integrierte Entwicklung des ländlichen Raums auf einzelstaatlicher wie auch regionaler Ebene gewährleistet werden. Diesbezüglichen Maßnahmen ist budgetäre und finanzielle Priorität im weitesten Sinne einzuräumen; zudem muss bei ihrer Konzipierung sowohl den Bedürfnissen der einzelnen Staaten als auch der regionalen Integration Rechnung getragen werden. Im Rahmen des 10. EEF sollte schwerpunktmäßig ein Programm zur Förderung der Entwicklung der Landwirtschaft in allen an der regionalen Integration teilnehmenden AKP-Staaten eingerichtet werden. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass der 10. EEF anders ausgeschöpft wird als sein Vorgängerfonds, bei dem nur vier von insgesamt 78 AKP-Staaten die Landwirtschaft als prioritären Bereich eingestuft und nur 15 den Schwerpunkt auf die ländliche Entwicklung gelegt haben. In der Folge wurden nur 7 % der Mittel des 9. EEF für nachhaltige Entwicklung verwendet und gerade einmal 1,1 % für Aktivitäten in direktem Zusammenhang mit der Landwirtschaft. In dieser Hinsicht kommt einer umfassenderen, langfristigen und strukturellen Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure, insbesondere der Landwirte und der Landwirtschaftsorganisationen sowie der lokalen Gebietskörperschaften, entscheidende Bedeutung im Hinblick auf die Gewährleistung einer auf lange Sicht wirksamen Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen zu.

5.8.   Entwicklung der Privatwirtschaft – Die Privatwirtschaft sowie ihre Stärkung und Diversifizierung sind Schlüsselfaktoren für die nachhaltige Entwicklung, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und somit die Linderung von Armut. Der Ausbau der Privatwirtschaft und insbesondere von KMU (8) im Industriesektor ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration, da er neue Möglichkeiten des Handelsaustauschs eröffnet. Für eine erfolgreiche Entwicklung der Privatwirtschaft bedarf es zum einen einer Stärkung der Organisation von KMU auf regionaler Ebene und zum anderen einer besseren Nutzung der Humanressourcen  (10), und zwar in erster Linie in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, aber auch im Gesundheitsbereich, also bei der Bekämpfung von HIV/AIDS (11), der Trinkwasserversorgung, der Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung mit Gesundheitsdiensten (Sozialversicherung) sowie der Sicherstellung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz usw. Der Ausschuss begrüßt daher die von der Kommission bekundete Absicht, die Entwicklung von Unternehmen und insbesondere von KMU im Hinblick auf die Förderung der regionalen Integration zu unterstützen. In dieser Hinsicht spielen der soziale Dialog, Tarifverhandlungen und die Rolle der repräsentativen Sozialpartner insgesamt eine wichtige Rolle für die Gewährleistung der Wirksamkeit des Prozesses. Es gilt daher, ihn auf regionaler Ebene zu stärken. Die Internationale Arbeitsorganisation hat im Rahmen ihres Bildungsprogramms „PRODIAF“ (12) die Entwicklung des sozialen Dialogs in Westafrika gefördert. Wie bereits in einer Reihe von Schlusserklärungen zu EWSA-Seminaren bzw. -Konferenzen fordert der Ausschuss, den sozialen Dialog nach diesem Vorbild auch im englischsprachigen Afrika sowie im Pazifikraum zu stärken und dabei insbesondere das Konzept regionaler Tarifverträge zu fördern, wie dies bereits im französischsprachigen Afrika geschehen ist.

5.9.   Verantwortungsvolle Regierungsführung – Eine schlechte Regierungsführung mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Staaten, die an der regionalen Integration teilnehmen, ist nicht nur ein Integrationshemmnis, sondern auch ein Handicap, wenn es darum geht, Auslandsdirektinvestitionen anzuziehen. Es ist daher eine verantwortungsvolle Regierungsführung in sämtlichen Bereichen anzustreben, insbesondere in Bezug auf die Menschen- und Arbeitnehmerrechte, den Rechtsstaat, die Demokratie und die Korruptionsbekämpfung (13). Zur Gewährleistung der Wirksamkeit einer solchen verantwortungsvollen Regierungsführung muss diese von starken und von den politischen Machthabern unabhängigen repräsentativen Verbänden der Arbeitgeber wie auch der Arbeitnehmer mitgetragen und überwacht werden.

5.10.   Einbindung nichtstaatlicher Akteure  (8) – Der EWSA begrüßt die in der vorliegenden Mitteilung bekundete Absicht der Kommission, „die Einrichtung bzw. Stärkung regionaler zivilgesellschaftlicher Foren […] zur Überwachung der regionalen Integration systematisch [zu] unterstützen“. In dieser Hinsicht stellen die Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen eine gute Gelegenheit dar. Im Rahmen des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens CARIFORUM/EG wurde diese Gelegenheit durch die Institutionalisierung der Einbindung nichtstaatlicher Akteure in die Überwachung der Umsetzung des Abkommens auf vorbildliche Art und Weise aufgegriffen. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass eine solche Vorgehensweise aufgrund der Bündelung der Sachkenntnis zur Vertiefung der regionalen Integration und zur Übernahme von Verantwortung durch die Bürgerinnen und Bürger beiträgt, was zu einer Stärkung der Partnerschaft zwischen den AKP-Staaten und der EU führt, und fordert die Kommission und die AKP-Staaten, die zur Zeit Verhandlungen über ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen führen, auf, dieses Modell beim Abschluss aller künftigen regionalen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen anzuwenden. Um die bekundete Absicht, die Zivilgesellschaft umfassend und wirksam in den regionalen Integrationsprozess einzubinden, zu konkretisieren und in die Tat umzusetzen, müsste die Schaffung und/oder Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Netze auf der regionalen Ebene sowohl politisch als auch finanziell unterstützt werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dies ein unabdingbarer Schritt hin zur Gewährleistung eines abgestimmten und wirksamen sozialen Dialogs der nichtstaatlichen Akteure auf der regionalen Ebene ist.

Um ein Scheitern zu vermeiden, ist den Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die in diesem Zusammenhang und insbesondere beim Aufbau der Kapazitäten der nichtstaatlichen Akteure im Zuge der Umsetzung des Abkommens von Cotonou aufgetreten sind. Angesichts der Notwendigkeiten, die sich aus dem staatlichen – nationalen bzw. regionalen – Rahmen sowie aus dessen häufig konstatierter Schwäche ergeben, ist dies eine absolute Notwendigkeit.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1.   Fortsetzung des Reflexionsprozesses – Der EWSA fordert die Kommission dazu auf, die Auswirkungen kultureller und ethnischer Aspekte sowie jene der Grenzziehung auf die Bemühungen um regionale Integration zu bewerten und in diesem Zusammenhang zu prüfen, welche Maßnahmen gegebenenfalls erforderlich sind, um diese einzudämmen.

6.2.   Bemühungen um Zusammenarbeit – Der Ausschuss fordert die Kommission dazu auf, die regionale Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten bzw. den Regionen Afrikas und des Pazifiks unter Einbeziehung der EU-Gebiete in äußerster Randlage, die mit diesen Staaten bzw. Regionen einen gemeinsamen geografischen Raum bilden, zu fördern und/oder zu unterstützen, um zu gewährleisten, dass Kooperationsprojekte auf dem Entwicklungsbedarf der einzelnen Partner fußen und den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen.

6.3.   Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und regionale Integration – In Ziffer 4.1.3 der vorliegenden Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass der Ausschuss in seiner im September 2008 verabschiedeten Stellungnahme zu der „EU-Afrika-Strategie“ sein Bedauern darüber ausgedrückt hat, dass (mit Ausnahme des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens CARIFORUM-EG) bislang keine regionalen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen abgeschlossen worden seien, deren Ziel u.a. gerade in der Förderung der regionalen Integration bestehe. Zur Zeit werden anstelle regionaler Wirtschaftspartnerschaftsabkommen Übergangs-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit einzelnen Staaten geschlossen. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass diese Vorgehensweise insofern ein Hindernis für den Abschluss regionaler Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und somit auch für die regionale Integration darstellen kann, als dabei die Besonderheiten der einzelnen Staaten im Vordergrund standen und nicht etwa eine Synthese angestrebt wurde, die die für die Identität der Region charakteristischen Aspekte vereint. Dieser Tatsache ist gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, da sie den Übergang einzelstaatlicher Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zu regionalen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen erschweren wird.

Darüber hinaus ist der Ausschuss der Ansicht, dass die möglichen Auswirkungen bewertet werden müssen, die die Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die mit anderen regionalen Gruppen als den bereits bestehenden geführt werden, auf die regionale Integration haben könnten (14).

6.4.   Etablierung neuer Kräfte – In zahlreichen AKP-Staaten und insbesondere in Afrika hat sich eine Vielfalt neuer „Wirtschaftsmächte“ etabliert. Im Hinblick auf die Wirksamkeit der künftigen EU-Politik wäre es angebracht gewesen, in der vorliegenden Kommissionsmitteilung auch die Auswirkungen zu untersuchen, die sich aus der Allgegenwart Chinas, der klar erkennbaren Rückkehr der USA sowie des beginnenden Engagement Indiens, Japans und Koreas für die regionale Integration ergeben. Es wäre zudem nützlich gewesen, die vorliegende Kommissionsmitteilung mit der Mitteilung „Die EU, Afrika und China: Auf dem Weg zum trilateralen Dialog und zur trilateralen Zusammenarbeit“ (15) abzustimmen und unter dem Gesichtspunkt der regionalen Integration zu beleuchten.

6.5.   Die vorliegende Kommissionsmitteilung wurde lange vor dem Höhepunkt erarbeitet, den die globale Wirtschaftskrise gegenwärtig erreicht hat, so dass diese Tatsache nicht darin berücksichtigt werden konnte. Nach Auffassung des Ausschusses ist die Krise ein weiterer Beweis für die absolute Notwendigkeit der Integration. Es steht jedoch zu befürchten, dass - wie in den USA und auch in Europa zu beobachten ist - das Gegenteil die Folge sein wird, nämlich ein Rückzug auf die einzelstaatliche Ebene einschließlich des Strebens nach Autarkie und eines Wiedererstarkens des Nationalismus… wobei es natürlich nicht die EU ist, die die Entscheidungen der AKP-Staaten steuert. Die EU muss jedoch maßgeblich dafür Sorge tragen, dass es nicht zu einer dem Wirtschaftswachstum der AKP-Staaten abträglichen Entwicklung kommt, indem sie die Umsetzung des Abkommens von Cotonou und den Abschluss regionaler Wirtschaftspartnerschaftsabkommen fördert, sich massiv dafür einsetzt, eine mögliche Minderung der ursprünglich von den EU-Mitgliedstaaten zugesagten Finanzmittel zu verhindern und die korrekte Durchführung der Beschlüsse der G-20 sicherstellt, die diese im Hinblick auf die Entwicklungsländer gefasst haben. Eine solche Entwicklung könnte nämlich zu einem Anschwellen der Migrationsströme führen, welches insofern noch stärker ausfallen könnte, als mit einem drastischen Rückgang der Gelder zu rechnen ist, die von den nach Europa Ausgewanderten in die AKP-Staaten und insbesondere nach Afrika (16) transferiert werden.

Darüber hinaus ist die Stärkung der regionalen Dimension für die AKP-Staaten und insbesondere für Afrika sehr wahrscheinlich eine der wenigen konkreten Möglichkeiten, der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise proaktiv zu begegnen, um angesichts der fortschreitenden Globalisierung künftig die ihnen gebührende Rolle spielen zu können und sich auf diese Weise eine Entwicklungsperspektive zu sichern.

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusse

Mario SEPI


(1)  Abgesehen von ihrer Größe entfallen auf Afrika im Vergleich zu den anderen AKP-Gruppen 95 % der Beihilfen.

(2)  Das Abkommen von Cotonou enthält sehr klare Bestimmungen für diese Zusammenarbeit sowohl im Hinblick auf die Ziele (Art. 1) als auch die Strategie der Zusammenarbeit und der regionalen Integration (Art. 28, 29 und 30, siehe Anhang 1). Diese Bestimmungen gelten nach wie vor, müssen jedoch erneut aufgegriffen und neu belebt werden.

(3)  Mitteilung der Kommission - Unterstützung regionaler wirtschaftlicher Integrationsbestrebungen in den Entwicklungsländern durch die Europäische Gemeinschaft, KOM(1995) 219 endg. vom 16.6.1995.

(4)  Ziele: „Unterstützung der afrikanischen Agenda der Integration; Stärkung der Fähigkeiten in den Bereichen Vorschriften, Normen und Qualitätskontrolle; Umsetzung der EU-Afrika-Infrastrukturpartnerschaft.“ Siehe EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die EU-Afrika-Strategie“, ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 148-156.

(5)  REX/247 - ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 148-156, Berichterstatter: Gérard DANTIN.

(6)  „Regionale Integration ist der Prozess der einvernehmlichen Überwindung politischer, materieller, wirtschaftlicher und sozialer Schranken, die Länder von ihren Nachbarn trennen, sowie der Zusammenarbeit bei der Bewirtschaftung gemeinsamer Ressourcen und dem Umgang mit regionalem Gemeingut.“

(7)  Der EWSA hat dieses Thema in seiner Sondierungsstellungnahme „Die EU-Afrika-Strategie“ (ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 148-156) analysiert und dazu Vorschläge unterbreitet.

(8)  Siehe Fußnote 7.

(9)  In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auf einen im Mai 2008 veröffentlichten Bericht der Weltbank über die Elfenbeinküste zu verweisen, in dem diese festhält, dass die „Erpressereien der ivorischen Sicherheitskräfte und deren Schikanen an Straßensperren Hindernisse für den freien Waren- und Personenverkehr im Land darstellen“. Gleichzeitig wirkt sich die Erpressung negativ auf die Wirtschaftsaktivität aus, da in diesem Zusammenhang den Spediteuren zwischen 230 und 363,3 Mio. Dollar illegal „abgepresst“ und „abgezweigt“ werden. In der Studie wird außerdem darauf hingewiesen, dass diese Summe 35 bis 50 % der Ausgaben für Investitionen entspricht, die das Land im Jahr 2007 aus Haushaltsmitteln getätigt hat.

(10)  Siehe Fußnote 7: Artikel 7 Absatz 5 und Anhang V.

(11)  Siehe Fußnote 7. In diesem Zusammenhang wird auch auf die im Mai 2006 verabschiedete Initiativstellungnahme „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“ (ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 104-109) verwiesen, für die Herr BEDOSSA als Berichterstatter fungierte.

(12)  Das Akronym „PRODIAF“ steht für „Promotion du dialogue social en Afrique francophone“ (Förderung des sozialen Dialogs im französischsprachigen Afrika).

(13)  Siehe Fußnote 7 sowie Artikel 30 des geltenden Abkommens von Cotonou.

(14)  In Afrika umfasst etwa die Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) 15 Mitgliedstaaten. Hingegen führen sieben Staaten gemeinsame Verhandlungen für das südliche Afrika, sechs für Südostafrika (Regionalzusammenschluss Südostafrika (ESA), Südostafrikanische Gemeinschaft), ein Staat für Ostafrika (Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC), Ostafrika) sowie ein weiterer Staat für Zentralafrika.

(15)  KOM(2008) 654 endg.

(16)  Siehe die Stellungnahme „Migration und Entwicklung: Chancen und Herausforderungen“ (ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 82-88), für die Sukhdev SHARMA als Berichterstatter fungierte.


23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/132


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über reinrassige Zuchtrinder“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2009) 235 endg. — 2006/0250 (CNS)

(2009/C 317/25)

Der Rat beschloss am 26. Juni 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 37 und Artikel 94 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über reinrassige Zuchtrinder (kodifizierte Fassung)

KOM(2009) 235 endg. - 2006/0250 (CNS).

Da der Ausschuss dem Inhalt dieses Vorschlags vollkommen zustimmt und sich bereits in seiner Stellungnahme vom 15. Februar 2007 (1) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 15. Juli) mit 185 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der oben genannten Stellungnahme vertreten hat.

Brüssel, den 15. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts-und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über reinrassige Zuchtrinder“ (kodifizierte Fassung) - ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 13.