ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2009.100.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 100

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

52. Jahrgang
30. April 2009


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008

2009/C 100/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Kleine und mittlere Unternehmen — Schlüsselfaktoren für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine Halbzeitbewertung der zeitgemäßen KMU-PolitikKOM(2007) 592 endg

1

2009/C 100/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Vorkommerzielle Auftragsvergabe: Innovationsförderung zur Sicherung tragfähiger und hochwertiger öffentlicher Dienste in EuropaKOM(2007) 799 endg.

6

2009/C 100/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Abbau von Hindernissen für grenzüberschreitende Investitionen von RisikokapitalfondsKOM(2007) 853 endg.

15

2009/C 100/04

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Bekämpfung von Betrug und Fälschung im bargeldlosen Zahlungsverkehr

22

2009/C 100/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Konsultation zum Entwurf des überarbeiteten Leitfadens der Kommission zur Folgenabschätzung

28

2009/C 100/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung

33

2009/C 100/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Flugsicherheit für Passagiere

39

2009/C 100/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die EU und das weltweite Nahrungsmittelproblem

44

2009/C 100/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung

53

2009/C 100/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Gesundheitssicherstellung bei der Einfuhr von Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln

60

2009/C 100/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Strukturelle und konzeptuelle Veränderungen als Voraussetzung für weltweit wettbewerbsfähiges Wissen und eine forschungsbasierte europäische Industrie (Europa: Spitzenreiter oder Mittelfeld?)

65

2009/C 100/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Umstrukturierung und Entwicklung der Haushaltselektrogeräteindustrie in Europa und die Auswirkungen auf Beschäftigung und Klimawandel

72

2009/C 100/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Wie können soziale Experimente zur Konzeption staatlicher Fördermaßnahmen im Bereich der aktiven Integration in Europa beitragen?

77

2009/C 100/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die ethische und soziale Dimension der europäischen Finanzinstitute

84

2009/C 100/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Brasilien

93

2009/C 100/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess (Initiativstellungnahme)

100

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008

2009/C 100/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von VerteidigungsgüternKOM(2007) 765 endg. — 2007/0279 (COD)

109

2009/C 100/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und SicherheitKOM(2007) 766 endg. — 2007/0280 (COD)

114

2009/C 100/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts - und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemein-same Vorschriften über Messgeräte sowie über Mess - und Prüfverfahren (Neufassung) KOM(2008) 357 endg. — 2008/0123 (COD)

120

2009/C 100/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von energieverbrauchsrelevanten ProduktenKOM(2008) 399 endg. — 2008/0151 (COD)

120

2009/C 100/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe, zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Anpassung der Gemeinsamen Agrarpolitik durch Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 320/2006, (EG) Nr. 1234/2007, (EG) Nr. 3/2008 und (EG) Nr. […]/2008, und zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)KOM(2008) 306 endg. — 2008/0103+0104+0105 (CNS)

121

2009/C 100/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte (Verordnung über tierische Nebenprodukte)KOM(2008) 345 endg. — 2008/0110 (COD)

133

2009/C 100/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen (Neufassung)KOM(2008) 505 endg. — 2008/0165 (COD)

135

2009/C 100/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und WeiterbildungKOM(2008) 179 endg. — 2008/0069 (COD)

136

2009/C 100/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET)KOM(2008) 180 endg. — 2008/0070 (COD)

140

2009/C 100/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der ArbeitKOM(2008) 111 endg. — 2006/0214 (COD)

144

2009/C 100/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das allgemeine VerbrauchsteuersystemKOM(2008) 78 endg./3 — 2008/0051 (CNS)

146

2009/C 100/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen und dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates (EG) Nr. 1798/2003 zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen UmsätzenKOM(2008) 147 endg. — 2008/0058 (CNS) 2008/0059 (CNS)

150

2009/C 100/29

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat (kodifizierte Fassung) KOM(2008) 492 endg. — 2008/0158 (CNS)

153

2009/C 100/30

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds in Bezug auf bestimmte einnahmenschaffende ProjekteKOM(2008) 558/2 — 2008/0186 (AVC)

154

2009/C 100/31

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Stiftung für Berufsbildung (Neufassung) KOM(2007) 443 endg. — 2007/0163 (COD)

155

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008

30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Kleine und mittlere Unternehmen — Schlüsselfaktoren für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine Halbzeitbewertung der zeitgemäßen KMU-Politik“

KOM(2007) 592 endg

2009/C 100/01

Die Europäische Kommission beschloss am 4. Oktober 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Kleine und mittlere Unternehmen — Schlüsselfaktoren für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine Halbzeitbewertung der zeitgemäßen KMU-Politik“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr Burns.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 85 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Förderung des Unternehmergeistes muss bei Schülern sehr früh ansetzen. Schülern muss vermittelt werden, dass die Gründung eines eigenen Unternehmens eine ganz normale Beschäftigungsmöglichkeit darstellt, die nicht nur Vermögenden oder Hochschulabsolventen offen steht.

1.2   Die Kommission muss die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit mit Organisationen wie CEDEFOP, den Verbänden der KMU sowie dem EWSA auffordern, um ein anerkanntes, von den Arbeitgebern initiiertes, unternehmensorientiertes und europaweites System für berufliche Befähigungsnachweise zu schaffen, das den Anforderungen der Unternehmen und insbesondere der KMU gerecht wird.

1.3   Die Kommission sollte ferner gemeinsam mit den nationalen Regierungen ein europaweites effizientes System zum Schutz des geistigen Eigentums sowie von Erfindungen und Innovationen entwickeln und umsetzen.

1.4   Bei Konsultationen der Regierungen sollten sämtliche Änderungen dargelegt werden, die im Anschluss an ein Konsultationsverfahren angenommen wurden, und zwar noch vor der Verabschiedung einer Richtlinie, eines Gesetzes oder eines anderen Rechtsakts.

1.5   Darüber hinaus muss die Kommission ihre Verfahren zur Konsultation der KMU-Verbände und der gewerblichen Organisationen überprüfen. Die Kosten, die den KMU aufgrund der Teilnahme an Konsultationen auf Regierungsebene erwachsen, müssen anerkannt werden, wobei eine Kostenerstattung für Eigentümer von KMU in Betracht gezogen werden sollte, die zur aktiven Teilnahme an einem Konsultationsprozess eingeladen werden.

1.6   Die zentralen und regionalen Behörden in den Mitgliedstaaten müssen, wie in der Halbzeitbewertung dargelegt, stärker in die KMU-relevanten Prozesse und Verfahren eingebunden werden. Die von der Europäischen Kommission propagierten beispielhaften Vorgehensweisen zeitigen nicht die erwarteten Erfolge, weil die zentralen und regionalen Behörden in einigen Mitgliedstaaten über die Vorschläge zur Schaffung eines KMU-freundlichen Umfelds hinwegsehen bzw. diese ablehnen.

1.7   Staatliche Hilfen und unlauterer Wettbewerb stören das freie Spiel der Marktkräfte. Die Kommission muss den Auswirkungen Rechnung tragen, die die Gewährung wettbewerbsverzerrender Beihilfen auf die KMU sowohl in den vor- als auch in den nachgelagerten Märkten hat. Staatliche Hilfen sollten nur aus sozialen, ökologischen oder ähnlichen Gründen gewährt werden, nicht aber zur Förderung der Produktion. Das Prinzip, wonach jede Beihilfe, die einem bestimmten Unternehmen gewährt wird, aus der Sicht seiner Mitbewerber unlauterer Wettbewerb ist, sollte künftig bei der Gewährung von Zuschüssen oder Subventionen stets berücksichtigt werden.

1.8   Die für Unternehmer relevanten Rechtsvorschriften sind klar und verständlich abzufassen. Sie sollten keinerlei vage, missverständliche oder beliebig auslegbare Bestimmungen enthalten.

1.9   Die Definition des Begriffes „KMU“ muss überprüft werden; zudem muss dokumentiert werden, mit welchen Auswirkungen zu rechnen ist, wenn der Definition von KMU und Kleinstunternehmen andere Zahlen hinsichtlich des Jahresumsatzes und der Jahresbilanzsumme zu Grunde gelegt werden (siehe Ziffer 4.5.2).

1.10   Es sollten besondere Verfahrensweisen für die Vergabe von EU-Zuschüssen und projektbezogenen Fördermitteln an KMU und Kleinstunternehmen erarbeitet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass kleinere Unternehmen oftmals besonderen zeitlichen Zwängen unterliegen.

1.11   Die Weitergabe eines Unternehmens an die nächste Generation wirft Probleme auf, die berücksichtigt und angegangen werden müssen.

2.   Einleitung (Hintergrund)

2.1   Die Entwicklung von KMU und Kleinstunternehmen wird von den meisten Politikern und Ökonomen als Schlüsselbereich der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik anerkannt.

2.2   2005 hat die Europäische Kommission die Mitteilung „Eine zeitgemäße KMU-Politik für Wachstum und Beschäftigung“ angenommen. Ziel dieser Politik war es. sicherzustellen, dass die EU-Maßnahmen zur Unterstützung der KMU in jeglicher Hinsicht aufeinander abgestimmt sind und bei deren Festlegung den Bedürfnissen der KMU stärker Rechnung getragen wird. In den folgenden fünf Bereichen waren Maßnahmen vorgesehen:

1.

Förderung unternehmerischer Initiative und Fähigkeiten

2.

Verbesserung des Marktzugangs der KMU

3.

Abbau bürokratischer Hindernisse

4.

Stärkung des Dialogs und der Konsultation mit den KMU-Akteuren

5.

Verbesserung des Wachstumspotenzials der KMU.

2.3   Hauptanliegen dieser Politik war es, ein KMU-freundliches Wirtschaftsumfeld in Europa zu schaffen. Es wurde anerkannt, dass zu diesem Zweck alle relevanten Stellen (sowohl auf der Ebene der EU als auch jener der Mitgliedstaaten und der Regionen) an einem Strang ziehen müssen, damit gewährleistet ist, dass die verschiedenen konzipierten Maßnahmen einander ergänzen und die Entwicklung der KMU nicht behindern.

2.4   Am 4. Oktober 2007 veröffentlichte die Kommission die Mitteilung „Kleine und mittlere Unternehmen — Schlüsselfaktoren für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine Halbzeitbewertung der zeitgemäßen KMU-Politik“ (1). Sie berichtet darin Politikern und Behörden über den (bisherigen) Erfolg der EU bei der Umsetzung der Ziele, die in der 2005 angenommenen Mitteilung zur KMU-Politik festgelegt worden waren.

3.   Bemerkungen zur Halbzeitbewertung

3.1   Der Ausschuss nimmt anerkennend zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission den KMU im Rahmen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Agenda größeren Stellenwert einge-räumt hat. Ferner erkennt er an, dass sich die Kommission trotz des teilweise eingeschränkten Handlungsspielraums der nationalen Regierungen bemüht hat, EU-weit ein KMU-freundlicheres Wirtschaftsumfeld zu schaffen. Auch teilt der Ausschuss die Auffassung der Kommission, dass noch viel zu tun bleibt, bevor Europa als wirklich KMU-freundlich gelten kann.

3.2   Auch nach Ansicht des Ausschusses sollten Politiker und Gesetzgeber stets nach dem Prinzip „Think Small First“ (zuerst an die KMU-Dimension denken) handeln. Trotz der Befürwortung dieses Prinzips durch die Kommission ist der Ausschuss nicht davon überzeugt, dass auch alle anderen Regierungsstellen auf nationaler und regionaler Ebene einschließlich ihrer unter-schiedlichen Agenturen und Organisationen diese Auffassung teilen bzw. auf dasselbe Ziel hinarbeiten.

3.3   Der Ausschuss erkennt an, dass der Begriff „KMU“ als Bezeichnung bzw. Beschreibung eines Firmentypus bereits in den meisten Kommissionsdokumenten zu Unternehmensfragen berücksichtigt wird, er ist jedoch auch der Auffassung, dass die Erwähnung des Begriffs „KMU“ in einem Dokument noch keine Garantie dafür ist, dass diesem Unternehmenstypus bei dem betreffenden Prozess bzw. den darin empfohlenen Maßnahmen ausreichend Rechnung getragen wird. Zudem zeigt er sich besorgt darüber, dass die Standpunkte der freien Berufe, der Selbstständigen und der Kleinstunternehmen keine Berücksichtigung finden. Der Ausschuss kann daher nicht der Aussage zustimmen, dass „die KMU nunmehr in vollem Umfang in die Gemeinschaftspolitik integriert sind“.

3.4   Alle Rechtsvorschriften haben immer auch Auswirkungen auf KMU. Der kumulierte Effekt vieler einzelner Regelungen stellt KMU vor ernstzunehmende Schwierigkeiten, was von den Politikern und den Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung nur selten erkannt wird. Kleinunternehmen brauchen ihre beschränkte Zeit und ihre beschränkten Ressourcen für die Arbeit mit ihren Kunden. Je mehr Zeit in das Ausfüllen behördlicher Formulare und sonstigen Verwaltungsaufwand fließt, desto weniger Zeit verbleibt für die Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung durch die Herstellung von Gütern und das Erbringen von Dienstleistungen.

3.5   Viele KMU sind der Ansicht, dass die Verfahren auf der Ebene der EU und der einzelnen Mitgliedstaaten nach wie vor viel zu bürokratisch angelegt, zu stark von der Zulassung durch Dritte abhängig und zu kostspielig sind. Außerdem bringen die zuständigen Beamten kein Verständnis für die Notwendigkeit auf, zwischen den Faktoren Risiko, Zeitaufwand, Kosten und Nutzen abzuwägen, deren Ausgeglichenheit für die meisten KMU eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Teilnahme an einem Projekt, einem Forschungsvorhaben oder einer Konsultation bzw. über die Erfüllung von Auflagen im Zusammenhang mit Anträgen auf Unternehmensförderung spielt.

3.6   Einvernehmlich und beharrlich fordern KMU und Kleinstunternehmen europaweit gleiche Bedingungen für alle Akteure. Der EWSA ist der Auffassung, dass dieses Ziel gegenwärtig noch in weiter Entfernung liegt. Von den KMU erhobene Vorwürfe bezüglich unlauteren Wettbewerbs werden ihnen nur allzu häufig als Ruf nach Subventionen oder Sonderbehandlung ausgelegt, während sie doch nichts weiter fordern als das Recht auf fairen Wettbewerb.

3.7   KMU klagen über Rechtsvorschriften, weil diese nicht klar und verständlich sind. Großunternehmen verfügen über Rechtsberater, die die Gesetze für sie auslegen. Viele kleine Unternehmen können sich dies nicht leisten. Für sie ist es daher von essenzieller Bedeutung, dass Rechtsbestimmungen nicht unklar, vage oder missverständlich formuliert werden bzw. eine Auslegung durch Dritte erfordern.

3.8   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten dieses Problem nicht erkannt haben und es in Europa deshalb zu viele unterschiedliche Rechtsauffassungen bezüglich einzelner Rechtsvorschriften gibt. Außerdem ist nach seiner Überzeugung die Praxis des „Gold-Plating“ durch die einzelstaatlichen Regierungen viel zu weit verbreitet. Aus diesem Grund ist die nationale Gesetzgebung für KMU nur schwierig nachzuvollziehen und umzusetzen. Des Weiteren wird dadurch die Entwicklung grenzüber-greifender Wirtschaftsaktivitäten behindert.

4.   Spezifische Aspekte

4.1   Förderung unternehmerischer Initiative und Fähigkeiten

Unternehmergeist und schulische Bildung

4.1.1   Die Notwendigkeit, ein in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht freundlicheres Umfeld für die unternehmerische Initiative zu schaffen, ergibt sich aus einem holistischen Ansatz, der auf Verhaltensänderungen und die Verbesserung der Kompetenzen der Bürger abzielt. Die für die Bildungspolitik Verantwortlichen sind selbst aber nicht in einem Bildungssystem groß geworden, das unternehmerische Initiative und Fähigkeiten fördert, so dass sie kaum über praktisches Wissen darüber verfügen, wie Unternehmergeist gefördert wird bzw. was jemanden dazu veranlasst, sich selbstständig zu machen und ein Unternehmen zu gründen.

4.1.2   Trotz erheblicher Investitionen zur Förderung von Unternehmergeist im Rahmen von Bildungsmaßnahmen haben sich die unterstützenden Strukturen als weitgehend ineffizient erwie-sen und weder unternehmerische Kompetenzen vermittelt noch ein der Selbstständigkeit förderliches Klima geschaffen. Studierenden sollte vermittelt werden, dass die Gründung eines Unternehmens eine ebenso interessante Möglichkeit wie die Suche nach einer Arbeitnehmertätigkeit oder die Fortsetzung der Hochschulbildung darstellt.

4.1.3   Ein Großteil der Mittel floss in Maßnahmen für Schüler ab 16. Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass dies mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung zu spät ist und die Ermunterung deutlich früher einsetzen muss.

4.1.4   Besondere Aufmerksamkeit hätte dem Thema Unternehmergeist sowie diesbezüglichen Bildungsmaßnahmen für Vollzeitstudierende gewidmet werden sollen, die möglicherweise oder definitiv ein Familienunternehmen übernehmen werden (Weitergabe von Unternehmen). In bestimmten Teilen Europas ist dies zu einem ernstzunehmenden Problem geworden, dass dringlich gelöst werden muss.

4.1.5   Die Sozialpartner spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung des Unternehmergeistes und diesbezüglicher Bildungsmaßnahmen. Deswegen ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Sozialpartnern erforderlich, um diesen Themenkomplex verständlich und erfolgreich zu vermitteln.

4.1.6   Die Schüler müssen dazu ermuntert werden, Arbeit als Möglichkeit anzusehen, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen zu gestalten, Chancen zu ergreifen, unternehmerisch zu den-ken, Risiken einzugehen und gegebenenfalls ihr eigenes Unternehmen zu gründen.

Berufsausbildung und Befähigungsnachweise

4.1.7   Alle kleinen Unternehmen bilden ihre Mitarbeiter aus, aber nur wenige Beschäftigte erhalten Befähigungsnachweise. Problematisch ist dies insbesondere im Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltbereich sowie bei Tätigkeiten mit möglichen rechtlichen Folgen. Die Kommission und die für Berufsbildung zuständigen staatlichen Stellen hätten sich stärker darum be-mühen müssen, dass Befähigungsnachweise auch tatsächlich die berufliche Praxis widerspiegeln. Gerade im Bereich der freien Berufe hat dies zu Schwierigkeiten in Bezug auf bedarfsgerechte Berufsbildungsmaßnahmen geführt.

4.1.8   Nach Auffassung des Ausschusses ist das Versäumnis, ein an den Bedürfnissen der Arbeitgeber ausgerichtetes System für berufliche Bildung und Qualifikation zu schaffen, ein erhebliches Hemmnis für die Entwicklung des Unternehmertums, die europäischen Unternehmen und insbesondere die Beschäftigten von KMU. Da dieses Problem nicht erkannt und angegangen worden ist, wird nach Meinung des Ausschusses die Annahme der Kommission, dass nämlich ihre Förderung unternehmerischer Initiative und Fähigkeiten erfolgreich war, grundlegend in Frage gestellt.

4.2   Verbesserung des Marktzugangs der KMU

4.2.1   Der Ausschuss räumt ein, dass sich die Kommission um die Beseitigung unnötiger Hindernisse, die den Zugang zum Markt erschweren, bemüht hat. Er hegt jedoch die Befürchtung, dass die von der Kommission in der besten Absicht festgelegten Zielsetzungen von den Mitgliedstaaten nicht umgesetzt wurden. Insbesondere das Versäumnis, EU-weit ein funktionierendes System zum Schutz von geistigem Eigentum, Erfindungen und Innovationen zu schaffen, stellt ein Hindernis für einen besseren Zugang von KMU zu neuen Märkten dar. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass EU-Unternehmer über Kapitalinvestitionen oder Konzessionsvergabe in Drittländern KMU gründen können, in denen EU-Bürger beschäftigt werden. Solche KMU sollten ähnliche Vergünstigungen erhalten, und das Inverkehrbringen ihrer Produkte auf dem EU-Markt sollte zumindest zu Beginn ihrer Tätigkeit nicht behindert werden.

4.2.2   Auch im öffentlichen Beschaffungswesen hätte nach Auffassung des Ausschusses eine stärkere Öffnung und größere Rechenschaftspflicht angestrebt werden sollen, wodurch KMU der Zugang zu diesem Bereich erleichtert worden wäre. Öffentliche Aufträge machen ca. 16 % des BIP der EU aus, und trotz geringfügiger Verbesserungen bei der Beteiligung von KMU blei-ben die folgenden grundlegenden Probleme, die in der Halbzeitbewertung aufgezeigt hätten werden sollen, bestehen:

Die KMU-Problematik wird im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge allzu leicht übersehen;

die Tatsache, dass KMU von den Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung auf der lokalen und der zentralen Ebene als nicht ausreichend vertrauenswürdig angesehen werden, führt dazu, dass ihnen oftmals ungerechtfertigte Hürden in den Weg gestellt werden. Insbesondere die Voraussetzung, eine Zulassung durch Dritte zu erlangen, um an einer Aus-schreibung teilnehmen zu können, ist für die meisten KMU eine überaus kostspielige und oftmals unnötige Hürde;

KMU, die an einer öffentlichen Ausschreibung teilgenommen haben und der Ansicht sind, dabei unfair behandelt worden zu sein, klagen darüber, dass die Verfahren zur Prüfung von Beschwerden nicht transparent sind.

4.3   Abbau bürokratischer Hindernisse

4.3.1   Es gibt so viele bürokratische Hindernisse und überflüssige Rechtsvorschriften, dass kaum beurteilt werden kann, was getan wurde, um den Verwaltungsaufwand zu verringern. Die Vielzahl unnötiger Vorschriften, Regelungen und von den Behörden auferlegten Maßnahmen (von Agenturen, staatlichen Stellen und Zulassungsbehörden) ist ein enormer Hemmschuh für KMU und Kleinstunternehmen. Der Ausschuss zeigt sich insbesondere besorgt darüber, dass dieses Problem nicht in der Halbzeitbewertung aufgezeigt wurde, und zwar vor allem im Hinblick auf die von Agenturen, staatlichen Stellen und Zulassungsbehörden geschaffenen bürokratischen Hindernisse. Oftmals sind im Falle derartiger Stellen keine offiziellen Beschwerdeverfahren vorgesehen, werden sie doch als unabhängige, nicht staatliche Gremien definiert, die somit nicht der Kontrolle durch die öffentliche Hand unterliegen.

4.4   Stärkung des Dialogs und der Konsultation mit den KMU-Akteuren

4.4.1   Die Konsultation der KMU-Verbände ist ein schwerwiegendes Problem, das in der Halbzeitbewertung nicht erwähnt wird. Es gibt Konsultationen mit einer beschränkten Zahl von Gewerbe- und Unternehmensverbänden auf europäischer Ebene (2), aber die Zahl der konsultierten Unternehmensverbände ist sehr gering, und Gewerbeverbände scheinen kaum eingebunden zu werden.

4.4.2   Die KMU haben nur wenig Vertrauen in die Konsultationen auf Regierungsebene und sind der Auffassung, dass ihre Anliegen von den politischen Entscheidungsträgern ignoriert werden. Nach Ansicht der meisten kleinen Unternehmen sind Konsultationen eine Pflichtübung, bei der nur wenig bzw. gar keine Bereitschaft besteht, die ursprünglichen Vorschläge zu än-dern.

4.4.3   Kleinstunternehmen und KMU werden häufig als „zu unterschiedlich“ und „zu wenig organisiert“ beschrieben, so dass die Berücksichtigung ihrer Anliegen im Rahmen abschließender Empfehlungen zu kompliziert sei. Dies trifft sogar auf Konsultationen zu, die zum Thema KMU und Entwicklung kleiner Unternehmen durchgeführt werden. Aus diesem Grund wird dem Standpunkt größerer Unternehmen nur allzu oft eher Gehör geschenkt als dem der Kleinstunternehmen und der KMU.

4.5   Definition von Kleinunternehmen

4.5.1   Der Ausschuss bedauert, dass die Probleme im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs „kleine und mittlere Unternehmen“, die seiner Auffassung nach überholt ist (3), nicht in der Halbzeitbewertung aufgegriffen wurden. Produktionssteigerungen aufgrund der Mechanisierung und des Wandels der Arbeitsorganisation haben die Betriebsweise von Unternehmen radikal verändert.

Mehr als 98 % der europäischen Unternehmen fallen laut derzeitiger Definition in die Kategorie „KMU“.

Wofür ein Unternehmen früher 50 Mitarbeiter benötigte, sind heutzutage nur mehr zehn erforderlich.

Für eine echte Unterstützung von Kleinstunternehmen und KMU bedarf es einer realistischen Definition dieser Art von Unternehmen. Das Fehlen einer solchen Definition ist einer der Hauptgründe dafür, dass die derzeitige KMU-Gesetzgebung immer wieder ihr Ziel verfehlt.

4.5.2   Gegenwärtig gilt folgende Definition:

Unternehmenskategorie

Beschäftigte

Jahresumsatz

 

Jahresbilanzsumme

Mittleres Unternehmen

< 250

50 Mio. EUR

oder

43 Mio. EUR

Kleines Unternehmen

< 50

10 Mio. EUR

oder

10 Mio. EUR

Kleinstunternehmen

< 10

2 Mio. EUR

oder

2 Mio. EUR

4.6   Status von Kleinunternehmen, Selbstständigen und freien Berufen

4.6.1   Der EWSA bedauert, dass die derzeitigen Probleme im Zusammenhang mit Selbstständigkeit in der Halbzeitbewertung nicht angesprochen wurden. In zu vielen europäischen Ländern wurden künstliche Hindernisse für Bürger errichtet, die ihre unternehmerischen Fähigkeiten nutzen und ein kleines Unternehmen gründen wollen. Der Begriff der Selbstständigkeit ist auf europäischer Ebene rechtlich nicht definiert, was zu Missbrauch und sowohl bei den Unternehmen als auch den Behörden zu Missverständnissen führt.

4.6.2   Dieser verwaltungsrechtliche Missbrauch hemmt die Entwicklung kleiner Unternehmen von Selbstständigen, die ihre Steuern zahlen und sich an die einschlägigen Rechtsvorschriften halten.

4.6.3   Es hätte erkannt werden müssen, dass es in diesem Bereich Probleme gibt. Die Kommission hätte der Definition des Begriffs „selbstständige Erwerbstätigkeit“ hohe Priorität einräumen sollen; bislang wurde dieses Problem aber entweder noch nicht als solches erkannt oder einfach ignoriert.

4.7   Vertretung kleiner Unternehmen

4.7.1   In der Halbzeitbewertung wurde nicht berücksichtigt, wie wichtig die Vorgehensweise zur Konsultierung der KMU sowie die Form der Vertretung ihrer Standpunkte auf der Ebene der Mitgliedstaaten und der EU sind. Zu häufig sind die von den Wirtschaftsverbänden zu Konferenzen der einzelstaatlichen Regierungen entsandten Vertreter keine Unternehmer, die die be-stehenden Probleme verstehen oder aus eigener Erfahrung kennen.

4.7.2   In vielen Dienststellen der Kommission ist man sich dieser Problematik bewusst, aber offensichtlich wurde bislang nichts unternommen, um dieses Problem anzugehen.

4.7.3   Um sicherzustellen, dass möglichst viele Unternehmen angesprochen werden, sollten die Konsultationsverfahren sowohl auf Papier als auch online in allen EU-Amtssprachen stattfinden.

4.8   Zugang zu EU-Mitteln

4.8.1   Es stehen mehr Finanzmittel für Projekte und Zuschüsse zur Verfügung, aber der Zugang zu diesen Mitteln bereitet den KMU und Kleinstunternehmen Schwierigkeiten:

Die Verfahren sind zu bürokratisch;

sie dauern zu lange;

die Hilfestellung bei der Suche nach Fördermitteln und der Antragsstellung ist nicht auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten;

die Rechnungslegungsverfahren ändern sich laufend und erfordern oftmals eine kos-tenintensive Prüfung durch Dritte, was einen größeren Verwaltungsaufwand und Mehrkosten verursacht.

4.8.2   Zur Gewährleistung des Zugangs von KMU und Kleinstunternehmen zu EU-Fördermitteln bedarf es eigener Verfahren, bei denen die arbeitszeitlichen Zwänge, denen KMU und Kleinstunternehmen unterliegen, berücksichtigt werden.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2007) 592 endg.

(2)  Z. B. mit der UEAPME (Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe), der offiziell anerkannten Vertreterin der KMU im europäischen sozialen Dialog.

(3)  http://ec.europa.eu/enterprise/enterprise_policy/sme_definition/sme_user_guide_de.pdf


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Vorkommerzielle Auftragsvergabe: Innovationsförderung zur Sicherung tragfähiger und hochwertiger öffentlicher Dienste in Europa“

KOM(2007) 799 endg.

2009/C 100/02

Die Kommission beschloss am 14. Dezember 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Vorkommerzielle Auftragsvergabe: Innovationsförderung zur Sicherung tragfähiger und hochwertiger öffentlicher Dienste in Europa“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr VAN IERSEL.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21. - 23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 70 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt die Europäische Kommission voll und ganz in ihrem Ziel, die Schaffung von Anreizen für Innovationen durch die öffentliche Auftragsvergabe in ganz Europa zu fördern. Europa kann seine Führungsrolle bei der kosteneffizienten Erbringung hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen für die Bürger zum Wohl der Wirtschaft und des sozialen Umfelds und unserer Umwelt nur behaupten, wenn Innovationen und technischer Fortschritt optimal im öffentlichen Dienst eingesetzt werden.

1.2   Der EWSA schließt sich den Empfehlungen der Kommission bezüglich des „intelligenten Kunden“ an, da damit der Weg bereitet wird für mehr Eigeninitiative im Rahmen eines modernen Beschaffungswesens in öffentlichen Behörden. Eine öffentliche Auftragsvergabe, die im stärkeren Maße nach intelligenten Kriterien erfolgt, wird im Regelfall der Qualität der Verträge mit den privaten Auftragnehmern zugute kommen.

1.3   Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass die Förderung der Möglichkeiten für Innovation und angewandte Technologien im öffentlichen Beschaffungswesen für Europa in zweierlei Form Früchte tragen wird: erstens durch eine Verbesserung der Qualität sowie des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, was dem Steuerzahler zugute kommt, und zweitens durch die Erschließung neuer Innovationschancen für die Wirtschaft, womit ein Beitrag zu Europas Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit insgesamt geleistet wird.

1.4   Der EWSA betont, dass unabhängig von den potenziellen Vorteilen neuer oder anderer Ansätze im öffentlichen Beschaffungswesen die korrekte Umsetzung und Anwendung der 2004 erlassenen Richtlinien (1) (nachstehend: die Richtlinien) ein vorrangiges Ziel bleibt. Traditionelle und kulturell bedingte Haltungen sind häufig tief verwurzelt. In der Praxis hat sich gezeigt, dass für eine korrekte Umsetzung in den Mitgliedstaaten eine fortwährende genaue Beobachtung sowie der Erfahrungsaustausch und die Verbreitung guter Praktiken erforderlich sind.

1.4.1   Das öffentliche Beschaffungswesen erstreckt sich heute auf ein breites Spektrum von Bereichen und es gibt neue Paradigmen. Der EWSA hebt hervor, dass klar zu unterscheiden ist zwischen der Auftragsvergabe durch Behörden und der Auftragsvergabe durch öffentliche Versorgungsunternehmen, insbesondere mit Blick auf die Förderung der Innovation. Versorgungsunternehmen, die zum großen Teil seit über 100 Jahren an innovativen Projekten beteiligt sind, verfügen über mehr fachliche Kenntnisse und Erfahrung mit Projekten im Hochtechnologiebereich und können daher neue Innovationen gut bewältigen. Das gleiche gilt für den Bereich Verteidigung, obgleich Europa hier im Vergleich zu den USA nicht über große Haushaltsmittel und eine entsprechende Basis von Anbietern auf dem gesamten Kontinent verfügt. Aus diesem Grund sind vornehmlich Behörden Gegenstand dieser Stellungnahme, da Versorgungsunternehmen bereits die Fähigkeit zur Bewältigung von FuE-Tätigkeiten besitzen.

1.5   Die Kommission ist offenbar sehr zuversichtlich, dass sich nützliche Erfahrungen aus den USA bei der Verknüpfung von Technologie, Innovation und öffentlichem Beschaffungswesen auf Europa übertragen lassen. Der EWSA befürchtet jedoch, dass sich vergleichbare Möglichkeiten nicht so einfach schaffen lassen. In Europa wurden das öffentliche Beschaffungswesen und die damit verbundene Innovation auf den Märkten der Versorgungsunternehmen und im Rüstungsbereich bislang im Wesentlichen auf der Grundlage einzelstaatlicher Gegebenheiten und Erfahrungen entwickelt.

1.6   Das öffentliche Beschaffungswesen in Europa unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Vereinigten Staaten, weil in Europa folgende Voraussetzungen nicht gegeben sind:

ein einheitlicher großer Markt und ähnliche Bedingungen für alle KMU der Hochtechnologiebranche auf dem gesamten Kontinent;

eine gemeinsame Sprache;

die Sonderbeziehungen zwischen dem Pentagon und den technologiebasierten Unternehmen;

die Nutzung von Ergebnissen im Rüstungsbereich für zivile Produkte und Anwendungen.

1.7   Der EWSA schließt sich ausdrücklich der Auffassung der Kommission an, wonach jede Möglichkeit der Innovationsförderung für qualitativ hochwertigere und kosteneffizientere öffentliche Dienstleistungen genutzt werden muss. Die Kommission sollte zu diesem Zweck die Behörden auch bei der gegenseitigen Nutzung bewährter Verfahren unterstützen.

1.8   Die öffentlichen Auftraggeber sollten durch Anreize dazu gebracht werden, sich innovativen und alternativen Lösungen (d.h. Varianten) zu öffnen und ihr Beschaffungswesen nicht unbedingt in der gleichen Weise wie bisher fortzuführen. Ihr Ziel sollte ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis und nicht nur der günstigste Preis sein. Der Austausch zwischen Wissenszentren, die in einigen Mitgliedstaaten in diesem Bereich tätig sind, kann dazu beitragen, beispielgebende Maßstäbe für ganz Europa zu setzen. Dadurch können öffentliche Auftraggeber unterstützt werden, die erforderlichen Fähigkeiten, die einen intelligenten Kunden ausmachen, zu entwickeln und dann schrittweise damit Erfahrung zu sammeln. Diese Fähigkeiten und die Erfahrung sind unabdingbar.

1.9   Im Hinblick auf Innovationen müssen die öffentlichen Auftraggeber lange vor der Ausschreibung des Auftrags transparente Gespräche über technische Fragen führen, um den neuesten Stand der Technik auf dem Markt zu ermitteln und den Marktteilnehmern Gelegenheit zu geben, das zu lösende Problem besser zu verstehen und dadurch optimale Lösungen anzubieten.

1.10   Der EWSA rät zur Vorsicht, wenn es darum geht, öffentliche Behörden am Innovationsprozess zu beteiligen oder als frühzeitige Nutzer der Innovationen einzubinden; das gilt für das Gros der Behörden. Allzu oft haben die Behörden die Chance verpasst, die notwendigen Fähigkeiten und Erfahrungen für die Teilnahme an echten Innovationsprojekten zu entwickeln. Es bestehen erhebliche Risiken und ein Management von höchster Qualität ist nötig, denn die Möglichkeit eines Scheiterns solcher Projekte ist durchaus real.

1.11   Deshalb sollte in den Mitgliedstaaten ein Netz erfahrener Fachleute und Gremien geschaffen werden, auf das ein öffentlicher Auftraggeber gegebenenfalls zurückgreifen kann, um seine eigenen Ressourcen bei komplexeren Innovationsvorhaben zu verstärken.

1.12   Im Anhang werden kurz die Verfahren der vorkommerziellen Auftragsvergabe umrissen, die aufgrund von Ausnahmebestimmungen (2) nicht in den Geltungsbereich der Richtlinien fallen, jedoch trotzdem im Einklang mit dem bestehenden Rechtsrahmen stehen; es besteht jedoch trotzdem die Möglichkeit, dass damit - wenn auch unwissentlich - gegen Vorschriften verstoßen wird. Der EWSA empfiehlt den Auftraggebern, den Anhang und die darin enthaltenen Empfehlungen zu berücksichtigen. Besteht beim öffentlichen Auftraggeber oder bei einem der potenziellen Auftragnehmer auch nur der geringste Zweifel, dann sollte sich der Auftraggeber nach Ansicht des EWSA unbedingt vorab von der Kommission bescheinigen lassen, dass kein Verstoß gegen die Vorschriften über staatliche Beihilfen oder gegen die Ausnahmebestimmungen der Richtlinien vorliegt, und diese Bescheinigung allen potenziellen Auftragnehmern zusenden.

1.13   Die Kommission betont zu Recht die Bedeutung des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums. Der EWSA fügt dem hinzu, dass bei der Feststellung, Gewährung und Verwaltung dieser Rechte große Sorgfalt angebracht ist. Es handelt sich hier nicht um einen einfachen Tätigkeitsbereich.

2.   Hintergrund und Kontext

2.1   Im Jahr 2004 erließ der Rat Richtlinien über die Auftragsvergabe durch öffentliche Versorgungsunternehmen (3) und Behörden (4); das Volumen dieser beiden Bereiche macht zusammen ungefähr 16 % des europäischen BIP aus.

2.2   Mit diesen Richtlinien wurde das Ziel verfolgt, einen schlüssigen Rahmen diskriminierungsfreier und transparenter Vorschriften festzulegen, der die Öffnung von bis dato völlig oder teilweise abgeschotteten Märkten sicherstellt und damit den Wettbewerb unter den Anbietern sowie ein für die Regierungen und Bürger günstigeres Preis-Leistungs-Verhältnis fördert.

2.3   Der Wortlaut der endgültigen Vorschläge wurde lange und ausführlich diskutiert, um sicherzustellen, dass die Richtlinien praktisch anwendbar und für das Erreichen dieses Ziels geeignet sind.

2.4   In der Zwischenzeit ist die Umsetzung der Richtlinien in einzelstaatliches Recht im Gange. Die praktische Anwendung auf nationaler und regionaler Ebene erweist sich jedoch bei weitem nicht als einfach. Die Verfahren erfordern Fähigkeiten, Professionalität und Erfahrung, über die die öffentlichen Auftraggeber häufig nicht in ausreichendem Maße verfügen. In vielen Fällen lernen sie zu langsam.

2.5   Innovation ist ein zentrales Thema der Lissabon-Strategie und deshalb haben die Mitgliedstaaten und die Kommission eine Reihe von Initiativen eingeleitet, um zu prüfen, wie Innovationen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens auf der Grundlage der genannten Richtlinien gefördert werden können, und entsprechende Vorschläge auszuarbeiten.

2.6   Die Kommission hat in jüngster Zeit unter anderem folgende Initiativen ergriffen:

zehn Empfehlungen für ein erfolgreiches öffentliches Beschaffungswesen (5) („Zehn-Punkte-Leitfaden“);

Gespräche zwischen Kommissionsbeamten, IKT (6) -Forschungsdirektoren in den Mitgliedstaaten, in deren Ergebnis konkrete Vorschläge für die vorkommerzielle Auftragsvergabe (7) formuliert wurden, die in Abschnitt 4 dieser Stellungnahme näher untersucht werden;

die Initiative der GD Umwelt im Bereich Technologieüberprüfung und Umweltzertifikate im Rahmen des Aktionsplans für Umwelttechnologie (ETAP) (8);

in der GD Forschung hat eine Gruppe von Fachleuten im Bereich Risikomanagement im öffentlichen Beschaffungswesen ihre Arbeit aufgenommen.

2.7   Die Initiativen der Kommission stützen sich auf verschiedene wegbereitende Berichte wie zum Beispiel den Aho-Bericht „Creating an Innovative Europe“ (9) und die Mitteilung „Eine Pilotmärkte-Initiative für Europa“ (10) und sie orientieren sich an diesen. In beiden Dokumenten wird ausdrücklich festgestellt, dass öffentliche Aufträge eine wichtige Quelle für innovative Bauleistungen, Produkte und Dienstleistungen sein können und müssen (11). In der Mitteilung über eine Pilotmärkte-Initiative werden sechs für Innovationsvorhaben besonders geeignete Bereiche (12) genannt, von denen fünf großes Potenzial für Innovationen im öffentlichen Bereich bieten.

2.8   Im Zuge der Konsultationen von Interessenträgern wurden eine Reihe von Kriterien für Pilotmärkte festgelegt, darunter die „Orientierung an der Nachfrage statt Technologieschub“ und das „strategische und wirtschaftliche Interesse“, die beide für öffentliche Auftraggeber besonders von Belang sind. In allen Konsultationen wurde gemeinhin die Notwendigkeit hervorgehoben, dass das öffentliche Beschaffungswesen stärker als bisher innovative Bauleistungen, Produkte und Dienstleistungen in Europa fördern muss.

2.9   Der im März 2007 veröffentlichte Zehn-Punkte-Leitfaden ist ein Ergebnis des Aho-Berichts. In ihm werden Leitlinien dazu festgelegt, wie innovative Lösungen im öffentlichen Beschaffungswesen am besten zu fördern sind; genannt werden zehn wichtige Punkte, um ein erfolgreicher intelligenter Kunde zu werden (13). Die Thematik intelligenter Kunde wird weiter unten in Ziffer 3.14 erörtert.

2.10   In der Mitteilung über die vorkommerzielle Auftragsvergabe (14) führt die Kommission ein neues Instrument zur Ankurbelung der Innovation im öffentlichen Beschaffungswesen ein. Die Kommission beabsichtigt, unter Beachtung der Bestimmungen der Richtlinien von 2004 FuE-Dienstleistungsverträge zwischen öffentlichen Auftraggebern und Anbietern zu fördern, die sich auf die FuE-Phasen vor der kommerziellen Nutzung erstrecken. Diese Förderung umfasst die Phasen Entwurf, Prototypentwicklung, Erprobung und weitere Phasen im Vorfeld der Fertigung, endet jedoch kurz vor kommerzieller Herstellung und Vertrieb.

2.11   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt ausdrücklich alle Bemühungen, Innovationen im öffentlichen Beschaffungswesen zu fördern. Daher begrüßt er alle Dokumente und unterstützt die anschließenden Konsultationen und Gespräche zwischen politischen Entscheidungsträgern und öffentlichen Auftraggebern, mit denen der Boden bereitet wird für einen Ausbau des Innovationspotenzials der Wirtschaft in der EU zum Nutzen der Gesellschaft.

2.12   Gegenstand dieser Stellungnahme ist jedoch, folgende Fragen zu untersuchen:

der Begriff der vorkommerziellen Auftragsvergabe im Sinne der Mitteilung und des Anhangs dazu;

Wie kann die vorkommerzielle Auftragsvergabe neben anderen Initiativen zu einem besseren Innovationsklima für die angestrebten Neuerungen bei Bauleistungen, Produkten und Dienstleistungen beitragen?

In welchem Umfang und in welcher Form verfügt das öffentliche Beschaffungswesen über geeignete Instrumente zur Innovationsförderung bei öffentlichen Dienstleistungen?

Wo genau liegen hier die Grenzen und die Risiken?

3.   Bemerkungen

3.1   Im Zehn-Punkte-Leitfaden (15) werden zehn vorbildliche Verfahren beschrieben, die den Behörden eine Hilfe bei der effizienten Einführung innovativer Lösungen im öffentlichen Beschaffungswesen sein sollen; der Leitfaden stellt damit eine gute Grundlage dar, auf der aufgebaut werden kann. Um die Empfehlungen des Leitfadens in die Praxis umzusetzen, sind jedoch noch größere Anstrengungen erforderlich. In einigen Bereichen ist positiveres Handeln nötig, in anderen ist Vorsicht geboten.

3.2   Für ein erfolgreiches öffentliches Beschaffungswesen sind gute Verfahren notwendig, die im Einklang mit den Richtlinien stehen. Die Richtlinien dienen der Förderung des europäischen Binnenmarktes und stärken damit Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Wirtschaftsräumen mit großen Binnenmärkten. Gute Verfahren („Good Practice“) und die Richtlinien bilden hier eine untrennbare Einheit.

3.3   In einigen Mitgliedstaaten ist der Prozess der Umsetzung der Richtlinien von 2004 in nationales Recht noch im Gang (siehe Ziffer 2.4), während in anderen Ländern Widersprüche zum einzelstaatlichen Recht bestehen. Derartige Mängel erschweren die volle Nutzung der Vorteile, welche die Richtlinien bieten.

3.4   In praktischer Hinsicht ist es aufgrund der insgesamt zunehmenden Komplexität öffentlicher Beschaffungsaufträge natürlich notwendig, die Fähigkeiten und die Erfahrung aller Beteiligten zu verbessern. Insbesondere sollte in der gesamten Organisationsstruktur des öffentlichen Auftraggebers eine geeignete Kultur für die erfolgreiche Umsetzung komplexer Projekte gefördert werden.

3.5   Für eine prosperierende Innovationstätigkeit ist ein großer und leicht zugänglicher Markt von wesentlicher Bedeutung. Nur so lohnt sich der in Innovationen investierte Aufwand - Geld, Zeit, Kraft. Innovationen sind sehr wichtig für das Wachstum und die Stärkung der Wirtschaft.

3.6   Im Zuge der Lissabon-Agenda von 2000 wurde entschieden, dass auch das öffentliche Beschaffungswesen Anreize und Unterstützung für die Innovationstätigkeit bieten muss.

3.7   Die in Ziffer 2 genannten wichtigsten Kommissionsdokumente zum Thema Innovation beziehen sich im Allgemeinen auf die beiden Bereiche Behörden und öffentliche Versorgungsunternehmen, ohne zwischen diesen zu unterscheiden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss möchte jedoch deutlich auf die vorhandenen Wesensunterschiede zwischen den Organisationen dieser beiden Bereiche hinweisen.

3.8   Öffentliche Versorgungsunternehmen sind - ebenso wie das Militär und das öffentliche Gesundheitswesen - bereits seit langem Förderer, Nutzer, Auftraggeber und Entwickler von Innovationsprojekten und verfügen deshalb über die erforderlichen Fähigkeiten und Erfahrung. Auf ihre Managementerfahrung im Umgang mit den Risiken und der Komplexität von Innovationen sollte nicht leichtfertig verzichtet werden.

3.9   Öffentliche Behörden können von öffentlichen Versorgungsunternehmen, vom Militär und von anderen erfahrenen Sektoren lernen, wie man ein Innovationsprojekt erfolgreich abwickelt. Nicht zuletzt können sie ein besseres Verständnis dafür entwickeln, welche Ressourcen aus der gesamten Organisation dem Projekt gewidmet werden müssen. Die Einstellung ehemaliger Mitarbeiter aus den einschlägigen Abteilungen der Organisationen, welche seit kurzem im Ruhestand sind, aber noch einige Jahre erwerbstätig bleiben wollen, wäre auf kurze Sicht denkbar und eine Quelle wertvoller Erfahrung.

3.10   Innovation bedeutet, neue Wege des Handelns einzuschlagen. Das kann sich in einer Bauleistung, einer Lieferung oder einer Dienstleistung niederschlagen. Forschung und Entwicklung sind wesentliche Voraussetzungen für ein Innovationsprojekt. Dabei ist stets zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung zu unterscheiden: Grundlagenforschung wird im Wesentlichen durch Hochschulen und Forschungseinrichtungen betrieben; sie liefert das theoretische und praktische Fundament, auf dem die angewandte Forschung und Entwicklung aufbauen können. Die angewandte Forschung besteht in der theoretischen und praktischen Arbeit zur Herstellung einer Grundlage für die Entwicklung eines oder mehrerer Projekte. Um Grundlagenforschung geht es in dieser Stellungnahme nicht, oder nur in dem Maße, wie die vorkommerzielle Auftragsvergabe wie in Ziffer 4 beschrieben als Grundlagenforschung angesehen werden kann.

3.11   Bezüglich der Art und Weise der Verwaltung und Abwicklung eines Innovationsprojekts gibt es grundsätzlich keinen großen Unterschied zwischen dem öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft. Natürlich gibt es kleinere Unterschiede: die öffentliche Hand unterliegt viel stärker der Überprüfung, gegen die die Privatwirtschaft weitgehend abgeschirmt ist. Bei jeder bahnbrechenden Neuentwicklung wird es natürlich Misserfolge geben; das ist der Preis des Fortschritts. Durch eine geeignete Disziplin sollten die Misserfolge auf ein Mindestmaß reduziert und versucht werden, aus ihnen zu lernen, doch zu langes Zaudern hemmt die Weiterentwicklung.

3.12   Im 2004 verabschiedeten Wortlaut der Richtlinien sind bereits öffentliche Aufträge in Verbindung mit Innovationen vorgesehen. Es bedarf keiner weiteren Rechtsvorschriften, sondern lediglich eines Einvernehmens darüber, wie in diesem Rechtsrahmen Innovationsprojekte abgewickelt werden können.

3.13   Bei allen mit Innovationen verknüpften Projekten wie auch bei vielen anderen Projekten sollte der Auftraggeber die Eigenschaften eines intelligenten Kunden haben. Diese Eigenschaften werden in dem Zehn-Punkte-Leitfaden eingehend behandelt und in dieser Stellungnahme aufgrund ihrer großen Bedeutung hervorgehoben.

3.14   Ein intelligenter Kunde braucht im Wesentlichen eine für neue Ideen offene Grundeinstellung gepaart mit der erforderlichen Disziplin, um diese Ideen managen zu können. Er braucht Mitarbeiter mit Erfahrung und erworbenen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Leitung und Abwicklung innovativer Projekte. Am wichtigsten ist jedoch, dass seine Organisation bis in die Führungsspitze auf die Erfordernisse von Innovationsprojekten ausgerichtet ist. Eine solche Kultur ist Voraussetzung für den Erfolg der Mitarbeiter an der Projektbasis.

3.15   Es ist sinnvoll, Innovationsprojekte in drei Kategorien zu unterteilen, von denen jede eigene besondere Merkmale aufweist, wobei es auch allen Kategorien gemeinsame Aspekte gibt. Sofern nichts anderes angegeben ist, umfasst der Begriff „Produkt“ im Rahmen dieser Stellungnahme sowohl Bauleistungen als auch Lieferungen sowie Dienstleistungen.

3.16   Die drei Kategorien:

a)

Annahme eines innovativen Produkts zur Deckung eines festgelegten Bedarfs, das jedoch kaum oder gar keine Auswirkungen auf die Geschäftsabwicklung durch den Auftraggeber hat. Es bietet Vorteile bei geringen Risiken und ist kaum mit Störungen verbunden.

b)

Übernahme eines innovativen Produkts, für das der Auftraggeber seine Geschäftsabwicklung anpassen muss. Es bietet potenziell beträchtliche Vorteile, ist jedoch mit bestimmten Risiken verbunden und erfordert die Ausarbeitung neuer Verfahren und eine Schulung der Mitarbeiter.

c)

Die Beteiligung an einem innovativen Projekt. Die Beteiligung des Auftraggebers kann in unterschiedlichem Maße ausgeprägt sein und von wirklich gemeinsamen Projekten, die von der Definitionsphase an zusammen entwickelt werden, bis zur frühzeitigen Nutzung von Betaversionen (16) in der Erprobungsphase und zum Kauf erster Exemplare aus der Vorproduktionsphase reichen.

3.17   Die aus unmittelbarer Sicht wichtigste und für die Innovationsförderung wirksamste Kategorie der Beteiligung öffentlicher Auftraggeber an Innovationen ist die unter a) genannte Form, die auch die am einfachsten umzusetzende ist. Sie erfordert, dass der Auftraggeber sich für Varianten (17) - alternative Lösungen - öffnet und über Mitarbeiter verfügt, die in der Lage sind, abweichende Angebote nach dem Kriterium „wirtschaftlich am günstigsten“ zu bewerten.

3.18   Kategorie b) ist nützlich für Auftraggeber, die mit dem Einsatz eines neuartigen Produkts Verbesserungen ihrer Tätigkeit anstreben, womit oft ein gewisses Maß an notwendiger Entwicklungsarbeit zur Integration des neuartigen Produkts in die Tätigkeit des Unternehmens verbunden ist. Diese Kategorie erfordert die Fähigkeit, die Anforderungen klar und ohne übermäßig restriktive Bedingungen zu beschreiben, und bedingt die Beteiligung von Mitarbeitern aus dem Kreis der Nutzer und der technischen Abteilungen des Auftraggebers. Die vom Auftraggeber einzusetzenden Ressourcen sind nicht unbedeutend, doch bei einem guten Projektmanagement sind die mit der Integration verbundenen Risiken zu bewältigen und wird der Nutzen gegenüber den investierten Anstrengungen überwiegen.

3.19   Die unter c) genannte ist die schwierigste Kategorie. Die Definition und Entwicklung völlig neuer Lösungen von Null an ist natürlich mit einem höheren technischen Risiko verbunden als Teiländerungen zur Anpassung oder Integration von Marktneuheiten in bestehende Prozesse (Kategorie b). Neben den in Ziffer 3.8 genannten Organisationen (Militär usw.) haben nur wenige Einrichtungen die notwendigen Fähigkeiten und Erfahrung für die Teilnahme an einem wirklich innovativen Projekt der Kategorie c). Die Projekte sind mit erheblichen Risiken verbunden und erfordern deshalb ein Management von höchstem Niveau. Am Ende winkt ein beträchtlicher Nutzen – nur so haben diese Projekte Sinn, doch die Möglichkeit des Scheiterns ist überaus real. In der Mitteilung der Kommission geht es um eine Art von Projekten, die in Kategorie c) fällt.

3.20   In der Mitteilung wird vorausgesetzt, dass ein Auftraggeber ein Innovationsprojekt bis zur eigentlichen Entwicklung der ersten Produkte als Beschaffung von FuE-Leistungen durchführt. Bei möglichen Folgeaufträgen für Endprodukte in gewerblicher Stückzahl oder Menge muss die Notwendigkeit einer öffentlichen Ausschreibung fallweise und im Einklang mit den Richtlinien über öffentliche Aufträge bewertet werden. Unternehmen stellen die von ihnen entworfenen Dinge normalerweise auch selbst her, zumindest solange, bis sich eine Lizenzfertigung anbietet. Nach Ansicht des EWSA sollte die Frage der Aufteilung möglicher Rechte an geistigem Eigentum, die sich aus dem Projekt ergeben, und die Vereinbarungen für die Verwaltung dieser Rechte bereits vor Projektbeginn unter Berücksichtigung praktischer und kommerzieller Erwägungen sorgfältig geprüft werden.

3.21   Es gibt Belege dafür, dass ein solches Verfahren wie das in der Mitteilung vorgesehene in den Vereinigten Staaten verwendet wird. Es gibt zwar Beispiele auf militärischem Gebiet (der Auftrag für Tankflugzeuge, der möglicherweise auf Boeing und Airbus aufgeteilt wird), doch finden sich solche Fälle vor allem auf dem Gebiet der Elektronik. In diesem Bereich liegen kommerzielle und militärische Anwendungen dichter beieinander als auf vielen anderen Gebieten, abgesehen vom Schutz integrierter Schaltkreise vor elektromagnetischen Impulsen.

3.22   Bei Vergleichen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa sind auch die strukturellen Unterschiede zwischen beiden zu bedenken. Die USA sind seit langem ein homogenes Land, dessen Wachstum auf schier unerschöpflichen materiellen Ressourcen basierte – Landwirtschaft, Gold, Erdöl, Menschen und, mit Ausnahme der Zeit nach 1929, auch Kapital. Das hat (mit der bis unlängst bestehenden Ausnahme des Bankenwesens) zur Entwicklung eines fest etablierten Binnenmarktes und der entsprechenden Infrastruktur zur Bedienung dieses Binnenmarktes geführt. Es ist noch ein weiter Weg, bis Europa über die gleichen Vorteile verfügen wird. Dessen ungeachtet liegen die USA trotz ihrer Stärke in bestimmten Bereichen derzeit hinter Europa zurück, was insbesondere für den universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung gilt.

3.23   Neben den Risiken eines technischen Scheiterns, mit denen jedes wirklich innovative Projekt behaftet ist, gilt es die finanziellen Risiken aufgrund möglicher Verstöße gegen die Vorschriften über staatliche Beihilfen und Transparenz, gegen das Diskriminierungsverbot und bei der Anwendung der Richtlinien zu berücksichtigen. Diese Risiken werden in Ziffer 4.3 (staatliche Beihilfen) erörtert.

4.   Anhang SEK(2007) 1668 zur Mitteilung über vorkommerzielle Auftragsvergabe - Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen

4.1   Vorgeschlagenes System (nachstehend: „das System“)

4.1.1   Zugrunde liegendes Prinzip: Wendet der öffentliche Auftraggeber die Teilung von Risiken und Nutzen zu Marktpreisen an, können FuE-Leistungen unter Berufung auf die Ausnahmebestimmungen (18) in den Richtlinien (19) in Auftrag gegeben und eingesetzt werden für die Sondierung bedarfsgerechter innovativer Lösungen (als Vorläufer für eine Ausschreibung für Endprodukte in gewerblichen Mengen), womit auch innovative Ideen grundsätzlich gefördert werden.

4.1.2   Notwendiger Vorläufer: der Auftraggeber muss sich mit der Geschäftstätigkeit und den Kapazitäten der Anbieter vertraut machen und seinen Bedarf hinsichtlich der Produktion klar definieren, ohne jedoch unnötig restriktive Bedingungen zu stellen.

4.1.3   Abwicklung: nach Festlegung der Anforderungen und Ermittlung der Anbieter sollte der öffentliche Auftraggeber mit einer angemessenen Zahl dieser Anbieter (empfohlen werden fünf) ein FuE-Projekt in drei Phasen starten und die Zahl der Anbieter schrittweise auf zwei verringern, die dann die Vorproduktionsphase und die Betatests durchführen. Danach sollten die Produktionsanforderungen gemäß den Bestimmungen der Richtlinien in einer Ausschreibung veröffentlicht werden.

4.2   Bemerkungen

4.2.1   Das System beruht im Wesentlichen auf den Verfahren, die in verschiedenen Ländern zur Beschaffung im Verteidigungsbereich angewandt werden. Diese Verfahren sind im Großen und Ganzen weltweit ähnlich gestaltet und gut bekannt.

4.2.2   Die Verteidigungsindustrie ist insofern eine besondere Branche, als die Akteure hier weit in die Zukunft schauen und sich auf politische und taktische Annahmen stützen müssen, die aufgrund ihrer Natur nicht genau festgestellt werden können. Dazu wird - wie im System vorgesehen - in großem Umfang Forschung und begrenzte Entwicklung betrieben, nur ein kleiner Teil davon mündet jedoch in Produktionsprogrammen. FuE-Projekte und auch Produktionsaufträge unterliegen nur allzu oft dem Einfluss ständiger Änderungen, die sich ergeben, wenn innerhalb langer Planungszeiträume neue taktische oder politische Informationen verfügbar werden; dadurch werden regelmäßig die Mittelansätze überschritten. Von zivilen Behörden in Angriff genommene Entwicklungen dürften bei richtigem Projektmanagement nicht in diesem Maße Änderungen ausgesetzt sein.

4.2.3   Ob sich ein solches System für andere Teile des öffentlichen Sektors eignet, die weniger Erfahrung mit hoch technischen FuE-Projekten haben, ist noch die Frage.

4.2.4   Es bestehen klare Bedenken, dass die Ausnahmeregelungen, die in den Richtlinien für nicht nur vom Auftraggeber genutzte FuE-Dienstleistungen vorgesehen sind, als wettbewerbshemmendes Instrument eingesetzt werden könnten, um nationale „Platzhirsche“ zu fördern, was dem Ziel der Richtlinien, zur Entwicklung eines europaweiten Binnenmarktes beizutragen, zuwiderläuft.

4.2.5   Sollten im Rahmen dieses Systems Projekte in Angriff genommen werden, müssen mehrere Einzelaspekte näher beleuchtet werden.

4.3   Staatliche Beihilfen

4.3.1   Bei der Einleitung eines öffentlichen Auftrags im Rahmen dieses Systems stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Vorliegen einer staatlichen Beihilfe, wie im Anhang zum Kommissionsdokument bemerkt wird. Die Fragen, ob bei einem bestimmten Projekt Elemente einer staatlichen Beihilfe gegeben sind oder nicht, und wenn ja, ob diese Beihilfe zulässig ist, würden den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen. Doch die Auswirkungen von Unwägbarkeiten auf ein im Rahmen des Systems unternommenes Projekt fallen wohl in den Bereich dieser Stellungnahme.

4.3.2   Laut Definition in der Mitteilung ist die vorkommerzielle Auftragsvergabe ein Ansatz für die Vergabe von Aufträgen für FuE-Dienstleistungen, bei dem die Risiken und der Nutzen so aufgeteilt werden, dass es sich nicht um eine staatliche Beihilfe handelt. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss empfiehlt dem Auftraggeber, sorgfältig die im Anhang zur Mitteilung aufgeführten Beispiele für die rechtskonforme Gestaltung und Durchführung der vorkommerziellen Auftragsvergabe zu prüfen. Bestehen bei der Anbahnung erster vorkommerzieller Aufträge im Rahmen von Pilotprojekten Zweifel, dann sollte vorab von der Kommission eine Bescheinigung eingeholt werden, dass kein Verstoß gegen die Vorschriften über staatliche Beihilfen oder gegen andere Vorschriften vorliegt, wobei diese Bescheinigung allen potenziellen Auftragnehmern zuzusenden ist. Die Feststellung, ob eine staatliche Beihilfe vorliegt, ist in jeder Hinsicht eine komplexe Angelegenheit.

4.3.3   Stellt sich heraus, dass unrechtmäßig eine staatliche Beihilfe gewährt wurde, könnte vom Auftragnehmer die Rückzahlung dieser Beihilfe verlangt werden, wobei der Auftragnehmer allerdings keinen Regressanspruch gegen den Auftraggeber der FuE-Leistungen hätte. Der Auftragnehmer ist somit einem konkreten und wahrscheinlich unversicherbaren Risiko ausgesetzt. Die Tatsache, dass der durch eine unrechtmäßig gewährte staatliche Beihilfe Begünstigte (ein Auftragnehmer) die erhaltenen Mittel zurückzahlen muss, und zwar ohne Rückgriff auf den Auftraggeber, ist natürlich kein besonderes Merkmal von FuE-Aufträgen, denn die gleichen Vorschriften gelten für alle öffentlichen Aufträge. Die Tatsache, dass ein validiertes Vergabeverfahren (d.h. ein in den Richtlinien geregeltes Verfahren) Anwendung findet, ist auch keine absolute Garantie dafür, dass keine staatliche Beihilfe vorliegt, denn eine Bevorteilung von Auftragnehmern kann in vielfältiger direkter und indirekter Form geschehen. Die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung bewirkt nicht automatisch ein kleineres oder größeres Risiko, dass der Auftrag nicht transparent, ohne Diskriminierung und zu Marktpreisen vergeben und abgewickelt wird.

4.3.4   Es ist sehr zu wünschen, dass die für öffentliche Aufträge zuständigen Abteilungen aller Behörden mehr Erfahrung gewinnen und so in die Lage versetzt werden, die Kriterien für den Ausschluss einer staatlichen Beihilfe richtig anzuwenden. Zu diesen Kriterien zählt auch der transparente und diskriminierungsfreie Einkauf zu Marktpreisen. Diese Erfahrung ist überall von Bedeutung, da diese Kriterien nicht nur für FuE-Aufträge, sondern für öffentliche Aufträge aller Art gelten, auch wenn die Risiken bei der vorkommerziellen Auftragsvergabe möglicherweise größer sind.

4.3.5   Im Anhang werden die Kriterien umrissen, anhand derer die Betroffenen sicher feststellen können, dass ein Projekt der vorkommerzielle Auftragsvergabe keine staatliche Beihilfe darstellt. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA der Kommission und den Mitgliedstaaten, die Fortbildung und Weitergabe von Kenntnissen über die rechtskonforme Gestaltung von Projekten der vorkommerzielle Auftragsvergabe zu fördern und so das Risiko zu vermeiden, dass die Behörden und ihre Auftragnehmer später Probleme wegen staatlichen Beihilfen haben.

4.3.6   Stellt sich heraus, dass bestimmte Arten von FuE-Projekten zu Unrecht von den Richtlinien freigestellt wurden, fällt der Vertrag wieder in den Anwendungsbereich der Richtlinien, wobei dies allerdings keine Frage von staatlichen Beihilfen ist. Gemäß der Rechtsmittel-Richtlinie würde dies die Unwirksamkeit des Auftrags bewirken, der wahrscheinlich weder ordnungsgemäß angemeldet war noch der Stillhalteverpflichtung unterlag (20). In diesem Falle wäre der Auftragnehmer dem Risiko ausgesetzt, dass er für die erbrachte Leistung keine Bezahlung erhält. Dieses Risiko, das wahrscheinlich auch unversicherbar ist, ist kein besonderes Merkmal von FuE-Aufträgen, wird aber durch den Einsatz der in den Richtlinien enthaltenen Freistellung für FuE-Leistungen noch verstärkt. Hier ist Vorsicht geboten und Beratung angezeigt.

4.4   Risiken

4.4.1   Bei jedem FuE-Programm gibt es Risiken; nicht alle Innovationsprojekte erfüllen die Erwartungen hinsichtlich der Ergebnisse. In dem System wird ziemlich deutlich festgelegt, dass Auftraggeber und Auftragnehmer die Risiken und den Nutzen teilen sollten. Der Schwerpunkt liegt im Kommissionsdokument auf Erwägungen hinsichtlich staatlicher Beihilfen und Grundsätze des EG-Vertrags, die zwar wahrscheinlich unvermeidbar sind, diese bereits komplizierte Materie jedoch noch komplexer machen.

4.4.2   Wie bei jedem Risikomanagement sollten die Vertragsparteien eine Risikoübernahme vereinbaren, bei der die Partei das entsprechende Risiko übernimmt, die am besten in der Lage ist, das Risiko zu steuern und eine kontinuierliche Verbindung zu halten, um sicherzustellen, dass alle auftretenden oder sich verschärfenden Risiken ermittelt und aufgefangen werden.

4.4.3   Im Anhang werden Verträge mit Festpreisen erörtert, bei denen der öffentliche Auftraggeber einen Höchstpreis festgelegt und die Bieter auffordert, Gebote bis zu diesem Höchstpreis abzugeben mit dem Ziel, dass der Auftragnehmer das Projekt im größeren oder kleineren Maße subventioniert und im Gegenzug Nutzungsrechte erhält. Solche Vereinbarungen können für jene Auftragnehmer besonders attraktiv sein, die die Ergebnisse der Entwicklungsarbeit gut auf einem größeren Markt vermarkten können. In Fällen, in denen die Chancen für eine breitere Vermarktung nicht auf der Hand liegen, jedoch ein beträchtlicher Nutzen für den Auftraggeber gegeben ist, komplizieren sie jedoch die Dinge. Im letzten Fall sollte der Auftraggeber wahrscheinlich eine andere Handlungsalternative in Betracht ziehen.

4.5   Geistiges Eigentum

4.5.1   Die sich ergebenden Rechte an geistigem Eigentum sind ein wichtiger Teil des Systems. Die Frage, wer solche Rechte besitzt und in welchem Umfang, betrifft die rechtliche Basis des Projekts und das praktische Ergebnis in Form von Gewinn aus der FuE.

4.5.2   Es gibt im Wesentlichen drei Möglichkeiten des Schutzes von geistigem Eigentum:

durch Patente (gesetzliches Monopol);

durch Urheberrechte (die bei jedem individuellen Werk bestehen);

durch Geheimhaltung (wenn weder Patente noch Urheberrechte einen wirksamen Schutz gewähren).

4.5.3   Patente sind die stärkste und am besten wirtschaftlich nutzbare Form des Schutzes grundlegender Erfindungen, für die Lizenzen an Dritte erteilt werden können. Es ist aber auch die teuerste Möglichkeit. Die Patentanmeldung ist in diesem Fall wahrscheinlich eine Geldverschwendung, es sei denn, die Entdeckung entspricht den genannten Kriterien oder das Projekt wird in einem Wirtschaftszweig durchgeführt, in dem Patente als Instrument im Konkurrenzkampf eingesetzt werden. Patente können zudem nur mit großem Kostenaufwand verteidigt werden.

4.5.4   Urheberrechte kosten gar nichts, sondern bestehen einfach. Im Gegensatz zu einem Patentinhaber muss ein Inhaber von Urheberrechten jedoch den Nachweis erbringen, dass ein Verletzer seiner Rechte tatsächlich das Werk kannte und kopiert hat. Die spontane Nachbildung urheberrechtlich geschützter Inhalte, bei der der Nachbilder keine Einsicht in diese Inhalte hatte, gilt nicht als Nachahmung und kann daher nicht erfolgreich angefochten werden.

4.5.5   In der Wirtschaft ist Geheimhaltung ein übliches Mittel, um Wettbewerbsvorteile zu schützen. Erfindungen, die zum Patent angemeldet werden sollen, müssen unbedingt geheim gehalten werden. Ihre frühzeitige Offenbarung könnte sie für eine Patentierung ungeeignet machen. Kann eine wirtschaftlich wertvolle Erfindung weder durch Patente noch durch Urheberrechte wirksam geschützt werden, ist die Geheimhaltung die einzige Möglichkeit des Schutzes. Coca-Colas Rezeptur für sein gleichnamiges Getränk ist z.B. ein sorgsam gehütetes Geheimnis.

4.5.6   Geheimhaltung ist zwar eine wirksame Form des Schutzes geistigen Eigentums und kann in bestimmten Fällen die einzige Möglichkeit dieses Schutzes sein, sie passt aber nicht richtig in den Kontext der Transparenz.

4.5.7   Die Formulierung von Ausschreibungsspezifikationen für öffentliche Folgeaufträge über Endprodukte in gewerblichen Mengen als funktionale und nicht als normative Produktspezifikationen kann dazu beitragen, den Erfordernissen der Transparenz gegenüber bietenden Mitbewerbern gerecht zu werden, ohne zugleich die Einzelheiten der technischen Umsetzung der in der vorkommerziellen Phase entwickelten Einzellösungen zu offenbaren.

4.5.8   Rechte des geistigen Eigentums sind natürlich bei FuE- Projekten, wie sie in dem System vorgesehen sind, sehr wichtig. Im Hinblick auf die Feststellung, Gewährung und Verwaltung dieser Rechte ist jedoch große Sorgfalt und gesunder Menschenverstand angebracht. Es handelt sich hier nicht um einen einfachen Tätigkeitsbereich.

4.5.9   Bei der vorkommerziellen Auftragsvergabe werden die Rechte an geistigem Eigentum zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer aufgeteilt: der Auftragnehmer bleibt Inhaber der Schutzrechte, während der Auftraggeber ein lizenzfreies Nutzungsrecht sowie das Recht hat, die teilnehmenden Unternehmen zur Lizenzvergabe zu fairen und vernünftigen Marktbedingungen an dritte Auftragnehmer aufzufordern. Mit einem lizenzfreien Nutzungsrecht kann somit der öffentliche Auftraggeber die Ergebnisse der Forschung und Entwicklung intern nutzen und muss nicht Kosten für Lizenzen an die teilnehmenden Unternehmen zahlen. Mit dem Recht, die teilnehmenden Unternehmen zur Vergabe von Lizenzen zu Marktpreisen an Dritte aufzufordern, kann der öffentliche Auftraggeber den Zugang einer ausreichend großen und wettbewerbsfähigen Wertschöpfungskette gewährleisten, zugleich jedoch den teilnehmenden Unternehmen Einkommen aus den Rechten an geistigem Eigentum sichern, die sie in der vorkommerziellen Phase des Beschaffungsvorhabens erworben haben. In Europa haben öffentliche Auftraggeber möglicherweise nur wenig Erfahrung bei der Beurteilung des Marktwertes von Rechten an geistigem Eigentum und daher werden Schulungsmaßnahmen und der Austausch von Erfahrungen zum Risiko-Nutzen-Verhältnis empfohlen.

4.5.10   Die Behörden müssen von den bewährten Praktiken der Privatwirtschaft beim Kauf und Verkauf von Rechten an geistigem Eigentum sowie von den weltweit verwendeten Standardklauseln bzw. -verträgen hinsichtlich der Aufteilung dieser Rechte zwischen Auftragnehmer und öffentlichem Auftraggeber lernen.

4.6   Kriterien für Auftragnehmer und Auftraggeber

4.6.1   Potenzielle Auftragnehmer müssen natürlich über die Fähigkeiten für das Management von Innovationsprojekten verfügen. Ihre Erfahrung kann durch einen intelligenten Kunden relativ einfach festgestellt werden.

4.6.2   Potenzielle Auftraggeber müssen auch über Fähigkeiten zum Management solcher Projekte verfügen. Die Ermittlung des neusten Stands der Technik im relevanten Markt, die Formulierung der Leistungsbeschreibung in Bezug auf das angestrebte Ergebnis, die Verhandlungen mit Anbietern und deren Auswahl sowie das Management des Projekts und der damit verbundenen Risiken erfordern umfassende Fähigkeiten und eingehende Erfahrung innerhalb der Organisation des Auftraggebers. Es wird vorausgesetzt, dass es in der Organisation - von der obersten bis zur untersten Ebene- eine geeignete Kultur des Managements solcher Projekte gibt, sonst besteht die Gefahr eines Misserfolgs, der teuer zu stehen käme. Die genannten Eigenschaften sind natürlich die eines intelligenten Kunden.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Richtlinien von 2004: 2004/17/EG betreffend die Versorgungsunternehmen und 2004/18/EG betreffend Behörden.

(2)  Ausnahmebestimmungen:

Versorgungsunternehmen: Art. 24 Buchstabe e. Aufträge für Dienstleistungen, die vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen sind: Diese Richtlinie gilt nicht für Dienstleistungsaufträge, die Folgendes zum Gegenstand haben: […] e) Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen, deren Ergebnisse nicht ausschließlich Eigentum des Auftraggebers für seinen Gebrauch bei der Ausübung seiner eigenen Tätigkeit sind, sofern die Dienstleistung vollständig durch den Auftraggeber vergütet wird.

Behörden: Art. 16 Buchstabe f. - Besondere Ausnahmen. Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf öffentliche Dienstleistungsaufträge, die Folgendes zum Gegenstand haben: […] f) Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen, deren Ergebnisse nicht ausschließlich Eigentum des öffentlichen Auftraggebers für seinen Gebrauch bei der Ausübung seiner eigenen Tätigkeit sind, sofern die Dienstleistung vollständig durch den öffentlichen Auftraggeber vergütet wird.

(3)  2004/17/EG.

(4)  2004/18/EG.

(5)  Kommissionsdokument „Guide on dealing with innovative solutions in public procurement – 10 elements of good practice“, SEK(2007) 280, (Leitfaden für die Übernahme innovativer Lösungen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens – 10 Elemente der guten Praxis).

(6)  IKT: Informations- und Kommunikationstechnologien.

(7)  „Vorkommerzielle Auftragsvergabe: Innovationsförderung zur Sicherung tragfähiger und hochwertiger öffentlicher Dienste in Europa“, KOM(2007) 799 endg. und Anhänge. SEK(2007) 1668.

(8)  Vorrangige Aktionen von ETAP sind: Förderung von Forschung und Entwicklung, Mittelbeschaffung, Beitrag zur Ankurbelung der Nachfrage und Verbesserung der Marktbedingungen.

(9)  „Creating an Innovative Europe“, Bericht der unabhängigen Sachverständigengruppe für FuE und Innovation, die im Ergebnis des Gipfels in Hampton Court eingesetzt wurde (Januar 2006).

(10)  „Eine Leitmarktinitiative für Europa“, KOM(2007) 860 endg.

(11)  Ein weiteres erwähnenswertes Kommissionsdokument ist zum Beispiel die 2005 veröffentlichte Mitteilung „Mehr Forschung und Innovation - In Wachstum und Beschäftigung investieren: Eine gemeinsame Strategie“, ISBN 92-894-9417-4.

(12)  Elektronische Gesundheitsdienste („eHealth“), Schutztextilien, nachhaltiges Bauen, Recycling, biobasierte Produkte und erneuerbare Energie.

(13)  Kommissionsdokument „Guide on dealing with innovative solutions in public procurement – 10 elements of good practice“, SEK(2007) 280, (Leitfaden für die Übernahme innovativer Lösungen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens – 10 Elemente der guten Praxis).

(14)  „Vorkommerzielle Auftragsvergabe: Innovationsförderung zur Sicherung tragfähiger und hochwertiger öffentlicher Dienste in Europa“, KOM(2007) 799 endg. und Anhänge. SEK(2007) 1668.

(15)  Kommissionsdokument „Guide on dealing with innovative solutions in public procurement – 10 elements of good practice“, SEK(2007) 280, (Leitfaden für die Übernahme innovativer Lösungen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens – 10 Elemente der guten Praxis).

(16)  Die Begriffe Alpha- and Beta-Testphase stammen aus der Softwarebranche.

Die Alphatestphase ist eine simulierte oder tatsächliche operative Erprobung durch einen potenziellen Nutzer oder durch ein unabhängiges Testgremium und findet gewöhnlich in den Räumlichkeiten des Entwicklers statt.

Auf den Alphatest folgt der Betatest. Als Betaversionen bekannte Softwareversionen werden an einen begrenzten Benutzerkreis außerhalb des Programmierteams ausgegeben, um durch weitere unabhängige Tests sicherzustellen, dass das Produkt so wenig wie möglich Restfehler hat.

(17)  Richtlinie betreffend die Behörden 2004/18/EG, Artikel 24 - Varianten

1.

Bei Aufträgen, die nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots vergeben werden, können die öffentlichen Auftraggeber es zulassen, dass die Bieter Varianten vorlegen.

2.

Die öffentlichen Auftraggeber geben in der Bekanntmachung an, ob Varianten zulässig sind; fehlt eine entsprechende Angabe, so sind keine Varianten zugelassen.

3.

Lassen die öffentlichen Auftraggeber Varianten zu, so nennen sie in den Verdingungsunterlagen die Mindestanforderungen, die Varianten erfüllen müssen, und geben an, in welcher Art und Weise sie einzureichen sind.

4.

Die öffentlichen Auftraggeber berücksichtigen nur Varianten, die die von ihnen verlangten Mindestanforderungen erfüllen. Bei den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Liefer- oder Dienstleistungsaufträge dürfen öffentliche Auftraggeber, die Varianten zugelassen haben, eine Variante nicht allein deshalb zurückweisen, weil sie, wenn sie den Zuschlag erhalten sollte, entweder zu einem Dienstleistungsauftrag anstatt zu einem öffentlichen Lieferauftrag bzw. zu einem Lieferauftrag anstatt zu einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag führen würde.

(18)  Kommissionsdokument „Guide on dealing with innovative solutions in public procurement – 10 elements of good practice“, SEK(2007) 280, (Leitfaden für die Übernahme innovativer Lösungen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens – 10 Elemente der guten Praxis).

(19)  Vgl. Fußnote 2.

(20)  Rechtsmittel-Richtlinie 2007/66/EG, Artikel 2 d): „Unwirksamkeit - (1) Die Mitgliedstaaten tragen in folgenden Fällen dafür Sorge, dass ein Vertrag durch eine von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle für unwirksam erklärt wird, oder dass sich seine Unwirksamkeit aus der Entscheidung einer solchen Stelle ergibt: a) falls der öffentliche Auftraggeber einen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies nach der Richtlinie […] zulässig ist“.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Abbau von Hindernissen für grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapitalfonds“

KOM(2007) 853 endg.

2009/C 100/03

Die Europäische Kommission beschloss am 21. Dezember 2007 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Abbau von Hindernissen für grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapitalfonds“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr MORGAN, Mitberichterstatter Herr DERRUINE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Mitteilung der Kommission fasst zwei Schwerpunkte des Lissabon-Programms zusammen, nämlich die Gründung und das Wachstum innovativer Kleinunternehmen und die Integration der Kapitalmärkte der EU zur Finanzierung von Arbeit und zur Steigerung der Produktivität. Die Notwendigkeit, eine EU-weite Risikokapitalbranche zu entwickeln, wirkt als Katalysator für die Konvergenz dieser beiden Politikbereiche.

1.2   Die Mitteilung erläutert die laufenden Arbeiten. Es bedarf einer engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und der Risikokapitalbranche, um die unter Ziffer 3.6 genannten nächsten Schritte umzusetzen. Die Kommission wird 2009 im Anschluss an diese Arbeiten erneut Bericht erstatten.

1.3   Die Verfügbarkeit von Risikokapital ist kein Allheilmittel. Die Risikokapitalbranche ist an großen Investitionen interessiert, da eine kleine Investition genauso zeitaufwändig sein kann wie eine große. Daher ist diese Branche eher geneigt, Kapital für die Erweiterung von wachsenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen, als für die Anschubfinanzierung von Neugründungen. Da die Risikokapitalbranche Kapital für die Anschubfinanzierung, Gründung und Expansion von Unternehmen bereitstellt, ist sie ein wichtiger Bestandteil der Lissabon-Strategie. Der EWSA unterstützt diese Initiative der Kommission. Der Zugang zu Risikokapital muss in den Mitgliedstaaten verbessert werden, in denen die Branche wenig entwickelt ist.

1.4   Die Risikokapitalbranche muss unbedingt die Möglichkeit haben, ihre Investitionen zu veräußern. Hierzu muss entweder ein gewerblicher Käufer, d.h. ein größeres Unternehmen, gefunden oder das Unternehmen über eine Börsenotierung an andere Investoren verkauft werden. Allgemein gesehen hat die EU das Problem, dass Investitionen in junge Kleinunternehmen als nicht attraktiv genug gelten. Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten den Privatpersonen über die Steuergesetzgebung Anreize für Investitionen in kleine Unternehmen bieten. Dies wiederum wird die Entwicklung von Börsen fördern, an denen Anteile kleiner Unternehmen gehandelt werden können. Bisher sind die einzigen solchen Börsen in der EU der „Alternative Investment Market“ (AIM) in London und der „Entry Standard“ der Deutschen Börse, obwohl es jetzt eine Initiative von Euronext gibt.

1.5   Da der AIM ideale Bedingungen für eine Börsennotierung dieser Unternehmen bietet, wird die Bereitstellung von Risikokapital für nicht börsennotierte Unternehmen sehr attraktiv. Der AIM bietet der Risikokapitalbranche den von ihr benötigten Exitkanal (d.h. eine Möglichkeit, ihre Beteiligungen zu veräußern). Eine der AIM ähnliche Börse könnte sich auch in anderen Mitgliedstaaten gut dazu eignen, Kapital für KMU zu beschaffen und mit Unternehmensanteilen zu handeln. Dies könnte ein wichtiger Wachstumsfaktor für Risikokapital auf den noch wenig entwickelten Märkten innerhalb der EU sein.

1.6   Auch wenn die Risikokapitalbranche notwendigerweise auf die Börse als Exitkanal ausgerichtet ist, sollte nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass ein Börsengang für jedes kleinere Unternehmen die beste Art der Veräußerung darstellt. Börsennotierte Unternehmen können Beteiligungskapital akquirieren und ihre Aktien sind die Währung für Übernahmen, gleichzeitig verlieren sie jedoch - besonders auf lange Sicht einen gewissen Handlungsspielraum aufgrund der Erwartungen, die der Markt an sie hat. Deshalb bietet Risikokapital nicht jedem kleineren Unternehmen eine vernünftige Zukunftsperspektive. Im Falle von KMU, die bereits mit Risikokapital ausgestattet, jedoch noch nicht für einen Börsengang bereit sind, kann der Rückgriff auf Replacement Capital eine Alternative bieten.

1.7   Die Risikokapitalbranche wird nicht den gesamten Bedarf an Startkapital bedienen, da diese Branche nur selektiv in Unternehmensneugründungen investiert. Diese Lücke kann teilweise durch öffentliche Risikokapitalgeber geschlossen werden, allerdings müssen auch dann noch Verwandte und Freunde des Unternehmers oder Einzelinvestoren („Business Angels“) aushelfen. Die Notwendigkeit, die Bereitstellung von Startkapital zu fördern, ist ein zweiter Grund, weshalb der EWSA der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten empfiehlt, steuerliche Anreize für private Investitionen in Unternehmensneugründungen zu schaffen.

1.8   Gemäß den Erläuterungen unter Ziffer 2 (Begriffsbestimmungen) ist Risikokapital technisch gesehen eine Art von privatem Beteiligungskapital. Der EWSA verweist nachdrücklich darauf, dass die Beseitigung der Hindernisse, die grenzüberschreitenden Tätigkeiten der Risikokapitalbranche entgegenstehen, nicht auch andere Tätigkeiten privater Beteiligungsfonds, etwa fremdfinanzierte Unternehmensübernahmen („leveraged buyout“), ohne entsprechende Sicherungsvorkehrungen fördern dürfen.

1.9   In einer früheren Stellungnahme (1) hat der EWSA bereits seinen Bedenken hinsichtlich möglicher Gefahren für die Beschäftigung (einschließlich der Arbeitsplatzqualität) Ausdruck verliehen, die von Transaktionen von privatem Beteiligungskapital ausgehen. Es ist überaus wichtig, dass solche Transaktionen grundsätzlich innerhalb des mit den Sozialpartnern in den einzelnen Mitgliedstaaten vereinbarten Verhandlungsrahmens durchgeführt werden. Dementsprechend ersucht der EWSA die Europäische Kommission, im Zusammenhang mit dieser Risikokapitalinitiative sicherzustellen, dass der soziale Dialog weiterhin an erster Stelle steht und dass die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in diesen Fällen zur Anwendung kommt. Außerdem drängt der EWSA die Europäische Kommission zur Vorlage eines Vorschlags zur Aktualisierung der Richtlinie über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer, damit sie sich auch auf den Übergang von Unternehmen durch die Übertragung von Aktien erstreckt (2).

1.10   Hierbei handelt es sich um ein überaus wichtiges Anliegen, da „der gebräuchlichste Exitkanal (nämlich 39 %) die Veräußerung an einen gewerblichen Investor ist. An zweiter Stelle stehen die Verkäufe an andere Beteiligungsgesellschaften (24 %), die in den letzten zehn Jahren sichtlich an Bedeutung gewonnen haben“ (3).

2.   Begriffsbestimmungen

2.1   Der Mitteilung der Kommission liegt ein Arbeitsdokument bei, das ein ausführliches Glossar enthält. Im Folgenden werden einige Schlüsselbegriffe aus dem Bereich Risikokapital erklärt.

2.2   In der Risikokapitalbranche wird zwischen sechs allgemein anerkannten Investitionsarten unterschieden:

Mit Seed-Kapital wird die Finanzierung der Untersuchung, Lagebeurteilung und Ent-wicklung eines Unternehmenskonzepts bezeichnet.

Start-up-Kapital wird den Unternehmen in der Anlaufphase zur Produktentwicklung und Absatzplanung zur Verfügung gestellt.

Durch eine Wachstumsfinanzierung kann ein Unternehmen ausgebaut werden.

Replacement Capital (Ersatzfinanzierung) bezeichnet den Erwerb von Beteiligungen an einem bestehenden Unternehmen von einem anderen Investor privaten Beteiligungskapitals oder Anteilseigner.

Eine Unternehmensübernahme („Buy-Out“) beinhaltet den Kauf eines gesamten oder eines Teils eines Unternehmens von den bisherigen Anteilseignern. Dies kann unter Umständen darauf hinauslaufen, dass ein Unternehmen von der Börse genommen, d.h. in Privateigentum überführt wird. Bei einem Management Buy-out wird ein Unternehmen durch das vorhandene Management übernommen, üblicherweise unterstützt durch privates Beteiligungs- oder Risikokapital.

2.3   Mit Risikokapital werden Investitionen in nicht börsennotierte Unternehmen bezeichnet, die von Risikokapitalfonds getätigt werden. Diese Fonds werden als Geschäftsherren tätig und verwalten privates, institutionelles oder eigenes Geldvermögen. Die wesentlichen Investitionszeitpunkte sind die Frühphase (Vorbereitungs- und Anlaufphase) und die Expansionsphase. Risikokapital ist demnach professionell verwaltetes Geldvermögen, das zusammen mit dem Unternehmer in eine Unternehmensgründung oder -erweiterung investiert wird. Der Investor geht ein hohes Risiko ein, aber dafür ist bei diesen Investitionen mit größeren Gewinnmargen zu rechnen.

2.4   Streng genommen ist Risikokapital eine Art von privatem Beteiligungskapital. Private-Equity-Unternehmen können Risikokapitalinvestitionen tätigen, ihre Aktivitäten gehen jedoch über diese Sparte hinaus, da sie auch Replacement Capital bereitstellen und Übernahmen („Buy-Outs“) finanzieren. Der EWSA zeigt sich über die möglichen sozialen Auswirkungen dieser Aktivitäten besorgt.

2.5   Business Angels sind vermögende Privatpersonen, die direkt in neugegründete oder expandierende nicht börsennotierte Unternehmen investieren. Sie können mit ihrem Kapital die Tätigkeiten der Risikokapitalbranche ergänzen, indem sie die Anlaufphase eines Unternehmens (mit-)finanzieren.

2.6   Institutionelle Anleger sind Geldinstitute wie Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds, Banken und Investmentgesellschaften, die Geldvermögen von (üblicherweise) privaten Anle-gern verwalten und auf den Finanzmärkten anlegen. Sie verfügen über ein umfangreiches Vermögen und sind erfahrene Anleger.

2.7   Die Privatplatzierung ist ein Verkaufsverfahren für Anlageprodukte, bei dem Käufer und Verkäufer bei der Durchführung einer Transaktion von vielen bzw. allen Bestimmungen entbunden sind, die für öffentliche Anteilsveräußerungen gelten. Für Privatplatzierungsverfahren gelten im Allgemeinen bestimmte Kriterien, die die juristischen Personen erfüllen müssen, um zur Durchführung von Transaktionen unter diesen Bedingungen befugt zu sein. Diese Bestimmungen gelten üblicherweise für von institutionellen Anlegern (die per Definition erfahrene Anleger sind) getätigten Investitionen in von Risikokapitalunternehmen verwaltete Fonds.

2.8   Der Vorsichtsgrundsatz gestattet es Pensionsfonds, private Beteiligungs- bzw. Risikokapitalfonds in ihr Portfolio einzuschließen und sich dennoch entsprechend dem Risikoprofil ihrer Kunden zu verhalten. Mit anderen Worten ist der Pensionsverwalter dazu verpflichtet, das Geld seiner Kunden so anzulegen, wie er es mit seinem eigenen Geld tun würde. Dies beinhaltet eine vernünftige Diversifizierung des Portfolios, falls dieses auch Risikokapitalanlagen umfasst.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1   Aus den Statistiken der European Venture Capital and Private Equity Association (EVCA, die Interessenvertretung der Beteiligungskapitalgesellschaften Europas) geht hervor, dass Risiko-kapital beträchtlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt. EU-Unternehmen, in die privates Risiko- oder sonstiges Beteiligungskapital investiert wurde, haben in den Jahren 2000 bis 2004 eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen. Mehr als 60 % dieser Arbeitsplätze entstanden in Unternehmen, in die Risikokapital investiert wurde, und die Beschäftigung in diesen Unternehmen stieg um 30 % pro Jahr. Außerdem geben innovative wachstumsorientierte Unternehmen, die Risikokapital erhalten haben, im Durchschnitt 45 % ihrer Gesamtaufwendungen für FuE aus. (Der EWSA bemängelt, dass die Kommission keine unabhängigen Quellen zur Überprüfung dieser Analyse finden konnte. Dies wird unter 4.10 und 4.11 aus-führlicher dargelegt).

3.2   Das Potenzial der Risikokapitalmärkte in der EU wird nicht voll genutzt, und die Märkte stellen innovativen KMU in einem frühen Wachstumsstadium nicht genügend Kapital zur Verfügung. Das Fehlen einer Kultur von Beteiligungskapitalinvestitionen, Informationsprobleme, ein fragmentierter Markt, hohe Kosten und bislang ungenutzte Synergien zwischen Unternehmen und dem akademischen Bereich gehören zu den Hauptgründen für dieses Marktversagen. Die unterschiedliche Politik der Mitgliedstaaten führt zu einer beträchtlichen Marktfragmentierung, die sowohl die Mittelbeschaffung als auch die Investitionen in der EU beeinträchtigt.

3.3   Auch wenn die öffentliche Hand die Finanzierung von Innovation bis zu einem gewissen Grad fördern kann, so besteht die langfristige Lösung angesichts der Herausforderungen der Globalisierung jedoch nur in verstärkten Investitionen privater Geldgeber. Zu diesem Zweck müssen die Kommission und die Mitgliedstaaten die Rahmenbedingungen für Risikokapital-fonds verbessern, was einen Abbau ungerechtfertigter Hindernisse für grenzüberschreitende Investitionen einschließt.

3.4   Die Strategie zur Verbesserung der Bedingungen für grenzüberschreitende Investitionen beinhaltet freien Kapitalverkehr, bessere Bedingungen für die Kapitalbeschaffung, einen besseren Regelungsrahmen, Abbau steuerlicher Unterschiede sowie Fortschritte bei der gegenseitigen Anerkennung.

3.5   Das Glossar und der Bericht einer Expertengruppe, die der Mitteilung beiliegen, enthalten eine Analyse der Probleme und mögliche Lösungen (siehe Tabelle I).

Tabelle I

Problem

Mögliche Lösung

Kapitalbeschaffung und Verteilung (zwischen Investoren und Risikokapitalfonds)

Unterschiedliche nationale Normen zur Bestimmung qualifizierter Investoren im Bereich des privaten Beteiligungs- und Risikokapitals (institutionelle vs. private Anleger)

Einheitliche europäische Definition eines qualifizierten Investors (für institutionelle und private Anleger)

Unterschiedliche nationale Regelungen dazu, wo institutionelle Anleger investieren können (länderspezifische Beschränkungen)

Anwendung eines Vorsichtsgrundsatzes (Einführung des Vorsichtsgrundsatzes wie in der Richt-linie 2003/41/EG über Pensionsfonds definiert)

Schwierigkeiten bei der Vermarktung von privaten Beteiligungs- und Risikokapitalfonds in mehreren Mitgliedstaaten aufgrund der unterschiedlichen Behandlung von Privatplatzierungen/Ausnahmen von den Bestimmungen zu öffentlichen Angeboten in den einzelnen Staaten

Einheitliches europäisches Konzept für „Privatplatzierungen“

Steuerneutralität (zwischen dem Land, in dem der Risikokapitalfonds seinen Sitz hat, und dem Land, in dem investiert wird)

Komplizierte Fondsstrukturen je nach Land des Investors und des Unternehmens, in das investiert wird (zur Vermeidung von Doppelbesteuerung)

Besteuerung der Kapitalerträge im Land des Investors; Gleichbehandlung von direkten und Private Equity-Investoren; Gleichbehandlung von börsennotierten und nicht börsennotierten Beteiligungsgesellschaften.

Unterschiedliche Bestimmungen für und Anforderungen an Kapitalbeteiligungsfonds, damit Steuerabkommen auf sie anwendbar sind

Steuertransparenz: Liste gegenseitig anerkannter Fondsstrukturen (bzw. einheitliche Kriterien für die Mitgliedstaaten, anhand derer sie prüfen, ob Steuertransparenz gegeben ist);

Steuerneutralität: Für Kapitalbeteiligungsfonds, die als Gesellschaften mit beschränkter Haftung fungieren (nicht transparent), sollten Steuerabkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung greifen; hierfür müssen einheitliche Anforderungen festgelegt werden.

Fachspezifische Normen (für Kapitalbeteiligungsfonds)

Unterschiedliche länderspezifische Regeln für Bewertung und Berichterstattung (höhere Kosten und mangelnde Vergleichbarkeit)

Empfehlung, die von der Branche selbst vorgegebnen fachspezifischen Normen anzuwenden (z.B. die der EVCA)

Probleme bei der Anwendung der IFRS (International financial reporting standards) auf Kapitalbeteiligungsfonds, insbesondere der Verpflichtung zur Konsolidierung

 

Ständige Niederlassung (des Komplementärs bzw. des Fondsmanager)

Der Komplementär (die Fondsverwaltungsgesellschaft) kann gezwungen sein, in dem Land eine Niederlassung zu haben, wo er in ein Unternehmen investiert (da er andernfalls steuerlich benachteiligt wäre)

gegenseitige Anerkennung von Verwaltungsgesellschaften bzw. „Pass“ für Verwaltungsgesellschaften;

langfristig gesehen Einführung eines „Passes“ für Verwaltungsgesellschaften

3.6   In diesem Zusammenhang sieht die Kommission folgende Schritte und Empfehlungen vor:

3.6.1   Zur Verbesserung der Mittelbeschaffung und der grenzüberschreitenden Investitionstätigkeit wird die Kommission

a)

nationale Ansätze und Hemmnisse für grenzüberschreitende Privatplatzierungen analysieren; ein Bericht über die Möglichkeit der Einführung eines europäischen Systems für Privatplatzierungen wird in der ersten Jahreshälfte 2008 vorgelegt werden (jetzt verschoben auf das dritte Quartal 2008);

b)

zusammen mit Experten aus den Mitgliedstaaten Fälle von Doppelbesteuerung und andere Hindernisse im Bereich der direkten Steuern ermitteln, die grenzüberschreitenden Risikokapitalanlagen in der EU entgegenstehen. Die Expertengruppe wird Ende 2008 Bericht erstatten;

c)

auf der Grundlage dieser Berichte die Möglichkeiten zur Festlegung gemeinsamer Kriterien untersuchen, um so einem EU-weiten Rechtsrahmen für Risikokapital näher zu kommen,

d)

und ferner prüfen, wie die Mitgliedstaaten bei der gegenseitigen Anerkennung unterstützt werden könnten.

3.6.2   Um der Marktfragmentierung entgegenzuwirken und die Bedingungen für die Beschaffung und Investition von Risikokapital zu verbessern, fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf,

a)

soweit dies nicht bereits der Fall ist, den Vorsichtsgrundsatz auf andere Arten internationaler Investoren, einschließlich Pensionsfonds, auszudehnen;

b)

eine Verständigung über die Merkmale von Risikokapitalfonds und qualifizierten Anlegern herbeizuführen und eine gegenseitige Anerkennung der nationalen Rechtsrahmen in Betracht zu ziehen;

c)

regulatorische und steuerliche Hindernisse durch Überprüfung der bestehenden Vorschriften oder Einführung neuer Rechtsvorschriften abzubauen;

d)

Zusammenarbeit und ein für alle Seiten akzeptables Maß an Aufsicht und Transparenz zu ermöglichen;

e)

die Entwicklung wettbewerbsfähiger Cluster voranzutreiben (nach dem Vorbild von Wissenschaftsparks)

f)

sowie liquide Exitmärkte zu fördern.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Außenstehende Betrachter der Risikokapitalbranche neigen dazu, diese in erster Linie als Kapitalgeber zu sehen, während die Branche jedoch neben der Investition ebenso sehr auch mit der Beschaffung von Kapital beschäftigt ist. Dementsprechend muss die EU-weite Integration von Risikokapitalfinanzierungen Investitionen in Risikokapitalfonds fördern und auch die spätere Auszahlung der betreffenden Investitionen erleichtern.

4.2   Da die Risikokapitalbranche davon lebt, hohe Renditen für ihre Investoren zu erzielen, besteht ihre Vorgehensweise darin, Mittel zu beschaffen, diese zu investieren und diese Investitionen beizeiten wieder zu veräußern, um den Investoren die erwartete Rendite auszuzahlen. Von der Investition bis zum Verkauf vergehen normalerweise sieben Jahre.

4.3   Die Risikokapitalbranche muss unbedingt die Möglichkeit haben, ihre Investitionen zu veräußern. Hierzu muss entweder ein gewerblicher Käufer, d.h. ein größeres Unternehmen, gefunden oder das Unternehmen über eine Börsenotierung an andere Investoren verkauft werden. Allgemein gesehen hat die EU das Problem, dass Investitionen in junge Kleinunternehmen als nicht attraktiv genug gelten. Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten den Privatpersonen über die Steuergesetzgebung Anreize für Investitionen in kleine Unternehmen bieten. Dies wiederum wird die Entwicklung von Börsen fördern, an denen Anteile kleiner Unternehmen gehandelt werden könnten. Bisher sind die einzigen solchen Börsen in der EU der „Alternative Investment Market“ (AIM) in London und der „Entry Standard“ der Deutschen Börse, obwohl es jetzt eine Initiative von Euronext gibt.

4.4   Die Verfügbarkeit von Risikokapital ist kein Allheilmittel. Die Risikokapitalbranche ist an großen Investitionen interessiert, da eine kleine Investition genauso zeitaufwändig sein kann wie eine große. Daher ist diese Branche eher geneigt, Kapital für die Erweiterung von wachsenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen, als für die Anschubfinanzierung von Neugründungen. Als Beispiel hierfür wäre die britische traditionsreiche private Beteiligungsgesellschaft „3i Group PLC“ anzuführen: Ende März 2008 verkündete sie ihren Rückzug aus dem Geschäft mit der Anschubfinanzierung, ihrem Geschäftsbereich mit den schlechtesten Ergebnissen seit dem Platzen der Dotcom-Blase 2000. Sie hatte ihr Risikokapitalgeschäft zuvor bereits erheblich verkleinert, so dass Investitionen in Unternehmensneugründungen nur ein Zehntel ihres Portfolios ausmachten - 2000 war es noch die Hälfte. 3i hielt die Expansionsfinanzierung für erfolgversprechender und erklärte, die Gruppe werde sich fortan auf Buyouts, Wachstumskapital und Infrastruktur konzentrieren.

4.5   Die Risikokapitalbranche wird nicht den gesamten Bedarf an Startkapital bedienen, da diese Branche lediglich selektiv in Unternehmensneugründungen investiert. Diese Lücke kann teilweise durch öffentliche Risikokapitalgeber geschlossen werden, allerdings müssen auch dann noch Verwandte und Freunde des Unternehmers oder Einzelinvestoren („Business Angels“) aushelfen. Die Notwendigkeit, die Bereitstellung von Startkapital zu fördern, ist ein zweiter Grund, weshalb der EWSA der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten empfiehlt, steuerliche Anreize für private Investitionen in Unternehmensneugründungen zu schaffen, wie dies etwa im Rahmen des britischen Investitionssystems für Unternehmen („Enterprise Investment Scheme“) geschieht. Innerhalb dieses Systems werden für das eingesetzte Kapital Einkommensteuervergünstigungen gewährt, und Kapitalgewinne aus dieser Investition sind von der Steuer ausgenommen. Durch diese steuerlichen Anreize wird das Verhältnis zwischen Risiko und Ertrag für in junge Unternehmen investierende Privatpersonen günstiger.

4.6   Im Rahmen des britischen Systems gelten ähnliche Anreize für Investitionen von Privatpersonen in kollektive Investmentfonds, die Anteile an im AIM notierten jungen Kleinunternehmen halten. Investitionen in diese so genannten Risikokapitalfonds führen zu Einkommensteuervergünstigungen; für das investierte Kapital werden weder Ertrags- noch Erbschaftssteuern fällig.

4.7   Ähnliche Anreize werden Privatpersonen geboten, die direkt in eines der am AIM notierten Unternehmen investieren. Die Schaffung des AIM und die diesbezüglichen Steuervergünstigungen haben für einen erheblichen Auftrieb bei den Unternehmensgründungen im Vereinigten Königreich gesorgt.

4.8   Der AIM ist auf erste öffentliche Zeichnungsangebote junger Kleinunternehmen auf dem organisierten Kapitalmarkt spezialisiert. Hierdurch wird die Bereitstellung von Risikokapital für nicht börsennotierte Unternehmen im Vereinigten Königreich sehr attraktiv, da die Erstemissionen des AIM der Risikokapitalbranche die erforderlichen Exit-Möglichkeiten bieten. Die Schaffung von der AIM ähnlichen Einrichtungen, die die Märkte eines oder mehrerer Länder abdecken, könnte sich auch in anderen Mitgliedstaaten gut dazu eignen, Kapital für KMU zu beschaffen und mit Unternehmensanteilen zu handeln. Dies könnte ein wichtiger Wachstumsfaktor für Risikokapital auf den noch wenig entwickelten Märkten innerhalb der EU sein.

4.9   Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass eine Nachfrage nach Risikokapital vorhanden sein muss, damit die Risikokapitalbranche gedeihen kann. Dies heißt wiederum, dass in der gesamten EU die Zahl der Unternehmensgründungen und somit Unternehmertum und Innovation zunehmen müssen. Der EWSA konstatiert diese Bedenken lediglich. Es ist nicht Sinn und Zweck dieser Stellungnahme, die verschiedenen Aspekte von Unternehmertum und Innovation zu erörtern, sondern es soll lediglich nochmals darauf hingewiesen werden, dass durch die Schaffung steuerlicher Anreize die Zahl der Gründung kleiner Unternehmen steigen wird.

4.10   Der EWSA unterstützt zwar die Vorschläge zur Erleichterung grenzüberschreitender Aktivitäten der Risikokapitalbranche, bedauert jedoch, dass es keine verlässlichen Angaben aus unparteiischen Quellen gibt, auf die er sich bei seiner Bewertung beziehen könnte. Angesichts des „Fehlens einer klaren Trennung zwischen den Veränderungen im Bereich der Beschäftigung in von Risikokapitalfirmen kontrollierten Unternehmen und in solchen, die durch andere Formen von privatem Beteiligungskapitel finanziert werden,“ (4) legen unabhängige Studien in diesem Zusammenhang Vorsicht nahe.

4.11   In einer früheren Stellungnahme (5) hat der EWSA bereits seinen Bedenken hinsichtlich möglicher Gefahren für die Beschäftigung (einschließlich der Arbeitsplatzqualität) Ausdruck verliehen, die von Transaktionen von privatem Beteiligungskapital ausgehen. Mit privatem Beteiligungskapital finanzierte Unternehmen schaffen nach erfolgtem Buy-out (5 Jahre) ca. 10 % weniger Arbeitsplätze als vergleichbare Unternehmen (6). Es ist des Weiteren überaus wichtig, dass solche Transaktionen grundsätzlich innerhalb des mit den Sozialpartnern in den einzelnen Mitgliedstaaten vereinbarten Verhandlungsrahmens durchgeführt werden. Dementsprechend ersucht der EWSA die Europäische Kommission, im Zusammenhang mit dieser Risikokapitalinitiative sicherzustellen, dass der soziale Dialog weiterhin an erster Stelle steht und dass die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in diesen Fällen zur Anwendung kommt. Außerdem drängt der EWSA die Europäische Kommission zur Vorlage eines Vorschlags zur Aktualisierung der Richtlinie über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer, damit sie sich auch auf den Übergang von Unternehmen durch die Übertragung von Aktien erstreckt (7).

5.   Besondere Bemerkungen zu den Vorschlägen der EU-Kommission

5.1   Es ist von großer Bedeutung, statistische Instrumente für eine bessere Erfassung des Phänomens der Hedge-Fonds und Private-Equities (privates Beteiligungskapital) sowie Indikatoren für die Corporate Governance zu entwickeln - sie alle sollten zumindest auf europäischer Ebene harmonisiert werden (8).

Vorschläge der Kommission zur Verbesserung der Mittelbeschaffung und der grenzüberschreitenden Investitionstätigkeit

5.2   Die Einführung eines europäischen Systems für Privatplatzierungen wird vom EWSA uneingeschränkt befürwortet, da es sich hierbei um eine wesentliche Grundlage für grenzüberschreitende Risikokapitalfonds handelt.

5.3   Das Hemmnis der Doppelbesteuerung muss beseitigt werden, da andernfalls grenzüberschreitende Investitionen von Risikokapital für die Risikokapitalbranche nicht attraktiv genug sind. Deshalb wartet der EWSA gespannt auf den Bericht der von der Kommission eingerichteten Arbeitsgruppe, die sich mit den Steuerfragen befasst.

5.4   Das Konzept eines EU-weiten Rechtsrahmens für Risikokapital ist dann attraktiv, wenn es dazu führt, dass die Mitgliedstaaten von anderen Staaten regulierte Risikokapitalfirmen akzeptieren. Dies wird für die gegenseitige Anerkennung förderlich sein und grenzüberschreitende Tätigkeiten der Risikokapitalbranche ohne ausufernde Bürokratie erleichtern. Angesichts der Bedeutung einer enger abgestimmten Steuerpolitik erachtet es der Ausschuss allerdings für notwendig, bei der Besteuerung der Fondsmanager Mindestsätze festzulegen, um Steuerdumping und wirtschaftliche Ineffizienz zu vermeiden.

An die Mitgliedstaaten gerichtete Vorschläge zur Verringerung der Marktfragmentierung und zur Verbesserung der Bedingungen für die Beschaffung und Investition von Risikokapital

5.5   Die Ausdehnung des Vorsichtsgrundsatzes ist eine wichtige Voraussetzung für die Kapitalbeschaffung, da die institutionellen Anleger die wichtigste Kapitalquelle sind. Es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten einen rechtlichen Rahmen schaffen, durch den dem Vorsichtsgrundsatz genügende Investitionen in Risikokapitalfonds von institutionellen Anlegern, insbesondere von Pensionsfonds, ermöglicht werden.

5.6   In Bezug auf die Regulierung und gegenseitige Anerkennung müssen die Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, damit bei den Initiativen der Kommission Fortschritte erzielt werden können.

5.7   Die Idee wettbewerbsfähiger Cluster steht im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Förderung von Unternehmergeist und Innovation. Hierbei geht es darum, dass Cluster innovativer Firmen aus Universitäten ausgegründet („Spin-outs“) und auf demselben Gelände wie diese angesiedelt werden. Derartige Entwicklungen sind für die Risikokapitalbranche sehr interessant.

5.8   Die Fragen in Zusammenhang mit liquiden Exitmärkten wurden bereits unter Ziffer 4 behandelt.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 96.

(2)  Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 16 - 20).

(3)  „Globalization of Alternative Investment: the global economic impact of private equity“ (S. viii), vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Studie, 2008.

(4)  Ebd., S. 43.

(5)  ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 96.

(6)  Ebd., S. 54.

(7)  Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 16 - 20).

(8)  ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 96.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/22


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bekämpfung von Betrug und Fälschung im bargeldlosen Zahlungsverkehr“

2009/C 100/04

Am 17. Januar 2008 beschloss der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Bekämpfung von Betrug und Fälschung im bargeldlosen Zahlungsverkehr“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr IOZIA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober 2008) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss bedauert, dass sich die bislang angenommenen Initiativen zur Vorbeugung und Bekämpfung von Betrug und Fälschungen im bargeldlosen Zahlungsverkehr als nicht ausreichend erwiesen haben, um deren Verbreitung zu verhindern. Wie die Europäische Kommission bereits in ihrem Aktionsplan 2004—2007 betont hatte, wurde zwar der gemeinschaftliche Rechtsrahmen verbessert und verstärkt, aber der Informationsaustausch zwischen privaten und staatlichen Stellen ist noch nicht ausreichend entwickelt, ebenso wenig eine effiziente Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten.

1.2   Als das größte Hindernis für ein wirksames System zur Betrugsbekämpfung wurde von der Kommission die Schwierigkeit angesehen, Daten über Betrüger oder Verdächtige innerhalb der Union auszutauschen. Um eine effiziente Betrugsbekämpfung zu gewährleisten, erscheint es also erforderlich, durch eine Verbesserung der Zusammenarbeit aller zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten den Austausch von Informationen über Betrüger auszubauen.

1.3   Ein weiteres Hemmnis für wirksame Maßnahmen gegen Betrug und Fälschungen ist die fehlende Homogenität der Rechtsvorschriften für die Tätigkeit der einzelstaatlichen Ermittlungs-behörden und das unterschiedliche Strafmaß. Die Forderung nach einer Angleichung der Rechtsvorschriften ist also die Hauptorientierung, der gefolgt werden muss, um Betrug und Fälschungen wirksam zu bekämpfen, die gerade in diesem Sektor typischerweise grenzüberschreitende Straftaten sind.

1.4   Die Europäische Union muss deshalb ihre Strategie zur Bekämpfung von Betrug und Fälschungen im Zahlungsverkehr durch eine Vielzahl von Maßnahmen verbessern. Dazu ist es notwendig:

den Informationsaustausch zwischen privaten und öffentlichen Akteuren auszubauen;

die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu intensivieren;

die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Bereich der Prävention und Ahndung zu harmonisieren, wobei im Rahmen der Prävention die innerhalb der EU geltenden Datenschutzbestimmungen besonders zu berücksichtigen sind, um den grenzüberschreitenden Informationsaustausch zu ermöglichen;

in jeder zuständigen nationalen Behörde eine digitale Datenbank einzurichten, die Daten über charakteristische Merkmale der Betrugsrisiken enthält;

Europol mit der Überwachung der Offensive zur Verhütung und Bekämpfung des Betrugs und mit der Koordinierung der verfügbaren Datenbestände zu beauftragen;

gezielte Informationskampagnen unter Einbeziehung der Verbraucherverbände zu starten, damit die Benutzer auf mögliche Gefahren bei der Verwendung bargeldloser Zahlungsinstrumente aufmerksam gemacht werden und nach Möglichkeit bewusst an einer effizienteren und rechtzeitigen Betrugsbekämpfung mitwirken.

2.   Die Verbreitung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und des damit einhergehenden Betrugs

2.1   Ein Merkmal des heutigen Entwicklungsstandes der Weltwirtschaft ist die beträchtliche Verbreitung bargeldloser Zahlungsmittel wie Kredit- und Debitkarten oder Online-Zahlungen. Die mit elektronischen Zahlungsinstrumenten abgewickelten Geschäftsvorgänge machen mengen- und wertmäßig einen wachsenden Anteil des inländischen und grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs aus, und dieser Trend dürfte sich mit der Weiterentwicklung der Märkte und dem technischen Fortschritt der elektronischen Zahlungssysteme noch verstärken.

2.2   Die notwendige Gewährleistung der Entwicklung bargeldloser Zahlungsarten in der Europäischen Union hängt mit dem Liberalisierungsprozess des Kapitalverkehrs und der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion zusammen. Eine moderne technologiegestützte Wirtschaft kann ohne ein effizientes Zahlungssystem nicht funktionieren, da es durch seine positiven Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzsektors für gesamtwirtschaftliche Effizienzgewinne sorgt. Elektronische Zahlungssysteme fördern nachweislich die Konsumbereitschaft und das Wirtschaftswachstum, da sie den Kauf von Waren und Dienstleistungen erleichtern. Schätzungen zufolge finden alljährlich in der Europäischen Union 231 Mrd. — bare und unbare — Zahlungsvorgänge in einem Gesamtwert von 52 000 Mrd. EUR statt.

2.2.1   In den letzten Jahren war weltweit eine wachsende Verbreitung bargeldloser Zahlungsmittel zu beobachten. So belief sich im Jahr 2004 in der EU-25 die Anzahl der bargeldlosen Geschäftsvorgänge pro Kopf auf 142 (davon 32,3 unter Verwendung von Zahlungskarten), in den Euro-Staaten auf 150 (28,3 mit Zahlungskarten) und in den USA auf 298 (47,5 mit Zahlungskarten). Die entsprechenden Werte für 2006 liegen bei 158 (davon 55,2 unter Verwendung von Zahlungskarten) in der EU-25, 166 (50,5 mit Zahlungskarten) in den Euro-Staaten und 300 (145,1 mit Zahlungskarten) in den USA. Innerhalb der EU verzeichnete Finnland 2006 pro Kopf die höchste Anzahl bargeldloser Geschäftsvorgänge, nämlich 294 (davon 153,9 per Zahlungskarte), gefolgt von den Niederlanden mit 257 (103,2 per Zahlungskarte) und dem Vereinigten Königreich mit 239 (111,4 per Zahlungskarte) (1).

2.2.2   Spanien wies 2006 die höchste Anzahl von POS-Terminals auf, nämlich 1 291 000, und verzeichnete je Terminal 1 276 Zahlungsvorgänge in einer durchschnittlichen Höhe von 52 EUR. Auf Platz zwei rangierte Frankreich mit 1 142 000 Terminals und 4 938 Zahlungsvorgängen je Terminal in einer durchschnittlichen Höhe von 51 EUR, gefolgt von Italien mit 1 117 000 Terminals und 690 Zahlungsvorgängen in einer durchschnittlichen Höhe von 93 EUR. Das EU-Land mit der höchsten Anzahl von Zahlungsvorgängen je Terminal war Finnland mit 7 799 und einem durchschnittlichen Betrag von 35 EUR bei einer Gesamtzahl von 105 000 Terminals. Irland war hingegen das Land mit dem höchsten Durchschnittsbetrag bei Zahlungsvorgängen mit Kredit- und Debitkarten (94 EUR), allerdings bei insgesamt nur 53 000 POS-Terminals (2).

2.2.3   Ein EU-weit harmonisierter Rechtsrahmen wird die Anbieter von Dienstleistungen in die Lage versetzen, die Zahlungsinfrastrukturen und -dienste rationeller zu gestalten und den Verbrauchern zu einem größeren Angebot und höheren Schutzniveau zu verhelfen.

2.3   Wenn diese Zahlungsmittel in allen Teilen der Welt verwendbar sein sollen, müssen sie effizient, benutzerfreundlich, weithin akzeptiert, verlässlich und zu relativ geringen Kosten verfügbar sein. Da die Effizienz jedoch Sicherheit voraussetzt, gilt es, das im Rahmen des wirtschaftlich Rentablen höchstmögliche Maß an technischer Sicherheit zu gewährleisten, wobei ein erhöhtes Sicherheitsniveau anhand der Betrugsstatistik und konkreter Sicherheitsparameter zu messen ist.

2.3.1   Um sich greifende Betrugsfälle können das Vertrauen der Verbraucher in die Zahlungssysteme erschüttern und gelten daher als wichtigste Hemmnisse für die Ausweitung des elektronischen Geschäftsverkehrs. Eine weitere Folge besteht darin, dass die Reputation der Betreiber darunter leidet und die Verbraucher das Sicherheitsniveau dieser Systeme verzerrt wahrnehmen.

2.4   Im internationalen Zahlungsverkehr sind Betrugsfälle häufiger als bei inländischen Transaktionen, insbesondere bei Fernzahlungen, vornehmlich über das Internet. Nach Angaben der Kommission (3) belief sich im Jahr 2000 der Schaden durch Zahlungskartenbetrug auf 600 Mio. EUR, was ca. 0,07 % des gesamten Umsatzes der Zahlungskartenanbieter entsprach. Eine stärkere Zunahme war bei den Fernzahlungen (per Telefon, Post oder Internet) zu verzeichnen. Wie neuere Untersuchungen ergeben haben, waren in der Europäischen Union im Jahr 2006 500 000 Geschäfte von Betrugsfällen mit bargeldlosen Zahlungsmitteln im Zuge von 10 Millionen betrügerischer Transaktionen betroffen, die einen Schaden von rund 1 Mrd. EUR verursacht haben — fast doppelt so viel wie im Jahr 2005. Am stärksten waren das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland von diesen Betrugsfällen betroffen.

2.5   Die Verbreitung und der transnationale Charakter der Betrugsfälle machen eine kohärente gesamteuropäische Präventionsstrategie erforderlich. Denn von den einzelnen Mitgliedstaaten bereits ergriffene Maßnahmen mögen durchaus wirksam sein, reichen aber nicht aus, um der vom Zahlungskartenbetrug ausgehenden Bedrohung entgegenzuwirken.

2.6   Um den Erfordernissen des Marktes gerecht zu werden und das Vertrauen in die Nutzung der neuen Technologien zu stärken, ist es darüber hinaus erforderlich, sich verstärkt um die Schaffung einer sicheren elektronischen Signatur im Rahmen der bereits unter der Richtlinie 99/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 1999 angelaufenen Initiativen zu bemühen. Die elektronische Signatur ist im Übrigen auch für den Start des „E-Government-Projekts“ unverzichtbar. Mit dem Projekt STORK unter Schirmherrschaft der EU sollen die Probleme der Interoperabilität der Systeme gelöst werden.

2.7   Die Kommission hat darauf verwiesen, dass Betrug mit gestohlenen oder gefälschten bargeldlosen Zahlungsmitteln hauptsächlich auf das Konto krimineller Vereinigungen geht, die vielfach in puncto Personal, Ausstattung und Logistik eine komplexe Struktur aufweisen und grenzübergreifend agieren. Zum Zahlungsbetrug im Internet oder zur Fälschung von Zahlungskarten setzen sie ausgeklügelte Techniken ein. Sie können ihre Vorgehensweise rasch umstellen, um gegen sie ergriffenen Maßnahmen zu entgehen.

2.7.1   Untersuchungen haben ergeben, dass sich kriminelle Vereinigungen bei komplizierteren Betrugsfällen in der Regel an ein standardisiertes und bewährtes Prozedere halten, das meist wie folgt abläuft:

Auswahl einer Geschäftsstelle, in die ein Bandenmitglied nachts einbricht oder in die es sich nach Ladenschluss einschließen lässt, um in dem mit der Kasse verbundenen POS-System eine ausgeklügelte elektronische Vorrichtung anzubringen, die sowohl die auf den Magnetstreifen der Zahlungskarten gespeicherten Daten als auch die eingegebenen Geheimzahlen (PIN) ausspionieren kann;

die von diesen elektronischen Geräten gespeicherten Daten werden dann in physischer oder — unter Verwendung von GSM- oder Bluetooth-Technologie — elektronischer Form abgerufen und dazu verwendet, mit den Daten versehene Plastik-Duplikate der Zahlungskarten mit dazugehöriger PIN herzustellen;

die illegal hergestellten Kredit- und Debitkarten werden dann benutzt, um — auch im Ausland — Waren zu kaufen oder Bargeld abzuheben.

3.   Gemeinschaftlicher Rechtsrahmen

3.1   Da eines der Hauptziele der EU darin besteht, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, in dem Zahlungssysteme eine wesentliche Rolle spielen, wurden vor längerer Zeit spezifische Maßnahmen eingeleitet, die eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung des Zahlungskartenbetrugs zum Ziel haben und zwei zentrale Komponenten beinhalten:

Maßnahmen zur Harmonisierung der Vertragsbestimmungen, die das Verhältnis zwischen Karteninhaber und Kartenaussteller und die Modalitäten für die Zahlungsvorgänge regeln;

Maßnahmen aller Mitgliedstaaten, um Zahlungskartenbetrug unter Strafe zu stellen und wirksame und abschreckende Sanktionen vorzusehen.

3.2   Zur ersten Gruppe gehören:

Empfehlung 87/598/EWG der Kommission vom 8. Dezember 1987 zu den Beziehungen zwischen Finanzinstituten, Händlern/Dienstleistungserbringern und Verbrauchern, die einen europäischen Verhaltenskodex im Bereich des elektronischen Zahlungsverkehrs und die Einführung von Systemen zum Schutz der Verbraucher zum Ziel hat;

Empfehlung 88/590/EWG der Kommission vom 17. November 1988 zu den Beziehungen zwischen Karteninhabern und Kartenausstellern, in der die Zahlungskartenaussteller aufgefordert werden, einheitliche Vertragsbedingungen zur Sicherheit des Zahlungsinstruments und der damit zusammenhängenden Daten sowie zu den eigenen Verpflichtungen des vertraglich gebundenen Inhabers im Falle von Verlust, Diebstahl oder Fälschung von Zahlungsinstrumenten zu beschließen;

Empfehlung 97/489/EG der Kommission vom 30. Juli 1997 zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus im Bereich der elektronischen Zahlungsinstrumente. Darin werden die Mindestinformationen festgelegt, die in den Geschäftsbedingungen enthalten sein müssen, welche für die Ausgabe und Verwendung von elektronischen Zahlungsinstrumenten gelten;

Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, mit der die Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche durch die Einschränkung von Bargeldzahlungen weiter ausgebaut werden sollen;

Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, mit deren Hilfe gewährleistet werden soll, dass die einzelstaatlichen aufsichtsrechtlichen Bestimmungen koordiniert werden, neue Finanzdienstleister Marktzugang erhalten und die Informationspflichten sowie die Rechte und Pflichten von Zahlungsdienstnutzern und Zahlungsdienstleistern festgelegt werden.

3.3   In Bezug auf die zweite Gruppe wurden aufgrund der Zunahme von Betrugsfällen und des zuvor vorwiegend einzelstaatlichen Charakters präventiver Maßnahmen folgende Initiativen eingeleitet:

Mitteilung der Kommission KOM(1998) 395 endg.: Rahmenregelung zu Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, in der die Kommission ein Bündel von Maßnahmen vorschlägt, um einen hinreichend sicheren Rahmen für Zahlungsinstrumente und die ihnen zugrunde liegenden Systeme zu fördern;

Beschluss 2000/642/JI des Rates vom 17. Oktober 2000über Vereinbarungen für eine Zusammenarbeit zwischen den zentralen Meldestellen der Mitgliedstaaten beim Austausch von Informationen; darin werden die Mindestnormen für die Zusammenarbeit zwischen den zentralen Meldestellen der Mitgliedstaaten für Finanztransaktionen aufgestellt;

Mitteilung der Kommission KOM(2001) 11 endg. vom 9. Februar 2001 zur Vorbeugung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, in der die Kommission ihren Aktionsplan zur Betrugsbekämpfung 2001—2003 für die EU verabschiedet hat. Im Plan heißt es, dass die Prävention auf der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen staatlichen Stellen und der Zahlungsmittelbranche basiert. Die wichtigsten Verbesserungen seien technischer Art und dienten der Erhöhung der Zahlungssicherheit, so z. B. die Einführung von Chipkarten, Mechanismen zur umgehenden Meldung des Verlustes oder Diebstahls von Zahlungsinstrumenten und Elemente (wie PIN oder ein sonstiger Code) zur weitgehenden Verhinderung oder Eindämmung von Betrugsmöglichkeiten;

dem Plan zufolge ist eine wesentliche Voraussetzung für jede wirksame Betrugsbekämpfungsstrategie der Informationsaustausch, speziell zwischen Banken und Vollstreckungsbehörden in und zwischen den Mitgliedstaaten. Dazu wird im Plan die Einführung eines Rahmens für einen regelmäßigen Dialog zwischen allen an der Betrugsbekämpfung beteiligten Akteuren (Kreditkartenaussteller, Bankenverbände, Netzbetreiber, Europol, nationale Polizeibehörden usw.) befürwortet. Des Weiteren schlägt die Kommission die Durchführung internationaler Konferenzen für höhere Polizeibeamte, Richter und Staatsanwälte vor, um deren Sensibilität für Zahlungsbetrug und dessen Auswirkungen auf die Finanzsysteme zu erhöhen;

Rahmenbeschluss 2001/413/JI des Rates vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln. In diesem Rahmenbeschluss werden alle Mitgliedstaaten aufgerufen, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen, darunter Freiheitsstrafen, die zu einer Auslieferung führen können, für Zahlungskartenbetrug vorzusehen, der unter Verwendung von IT oder elektronischen Geräten oder sonstigen besonders geeigneten Mitteln begangen wurde und folgende Tatbestände erfüllt:

Diebstahl oder sonstige widerrechtliche Aneignung eines Zahlungsinstruments,

Fälschung oder Verfälschung eines Zahlungsinstruments zum Zwecke betrügerischer Verwendung,

Annehmen, Sichverschaffen, Transportieren, Verkauf oder Weitergabe an eine andere Person oder Besitz von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfälschten Zahlungsinstrumenten zum Zwecke betrügerischer Verwendung,

unrechtmäßige Eingabe, Veränderung oder Löschung von Computerdaten oder unrechtmäßiges Eingreifen in den Ablauf eines Computerprogramms oder den Betrieb eines Computersystems,

betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen, Verkaufen oder Weitergeben von Instrumenten, Computerprogrammen oder anderen Mitteln, die ihrer Beschaffenheit nach besonders für das Begehen eines solchen Betrugs geeignet sind;

der Beschluss sieht auch einen konkreten Rahmen für die internationale Zusammenarbeit vor, wonach die Mitgliedstaaten einander ein Höchstmaß an Rechtshilfe bei Verfahren hinsichtlich der Straftaten im Sinne des Beschlusses zu gewähren haben. Die Mitgliedstaaten sollen die Anlaufstellen bestimmen oder können vorhandene Strukturen nutzen, um den Austausch von Informationen und andere Kontakte zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen;

Mitteilung der Kommission KOM(2004) 679 endg. vom 20. Oktober 2004: EU-Aktionsplan zur präventiven Betrugsbekämpfung im bargeldlosen Zahlungsverkehr (2004—2007). Mit diesem Aktionsplan beabsichtigt die Kommission, die bereits eingeleiteten Initiativen zur Betrugsbekämpfung weiter auszugestalten, um angesichts der Zunahme von Hacking und Identitätsdiebstahl das Vertrauen in den Zahlungsverkehr zu erhalten und zu erhöhen. Vorrangige Ziele der Kommission sind die Sicherheit der Zahlungsprodukte und -systeme und die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen und dem privaten Sektor, die dadurch erreicht werden soll, dass:

die EU-Sachverständigengruppe „Präventive Betrugsbekämpfung“ ausgebaut und umorganisiert wird,

die Hersteller von Zahlungsmitteln, die Anbieter von Zahlungssystemen und die nationalen Behörden nach einem abgestimmten, strukturierten Konzept verfahren, um im elektronischen Zahlungsverkehr für die Verbraucher das im Rahmen des wirtschaftlich Rentablen höchstmögliche Maß an Sicherheit zu gewährleisten,

alle Beteiligten im Interesse einer frühzeitigen Aufdeckung und Meldung von Betrugsversuchen Informationen austauschen,

die zuständigen Verwaltungsbehörden der EU-Staaten verstärkt zusammenarbeiten, um Zahlungsbetrug zu verhindern und die Ermittlungskapazitäten der nationalen Strafverfolgungsbehörden zu erhöhen,

neue Mechanismen zur Meldung von Kartenverlusten und -diebstählen in der EU eingeführt werden.

4.   Anmerkungen und Vorschläge

4.1   Auch wenn der gemeinschaftliche Rechtsrahmen nachgebessert und verstärkt wurde, sind der Informationsaustausch zwischen staatlichen und privaten Akteuren ebenso wie eine wirksame Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten noch nicht voll entwickelt. Dazu müssen, auch vor dem Hintergrund der jüngsten EU-Erweiterung, der Rahmenbeschluss und die Empfehlungen inhaltlich von sämtlichen EU-Mitgliedstaaten in innerstaatliches Recht umgesetzt werden.

4.1.1   Als wichtigstes Hindernis für eine effektive Einführung eines Betrugsbekämpfungssystems bezeichnet die Kommission die Probleme beim Austausch von Daten über Betrüger oder ihre potenziellen Opfer innerhalb der EU. Im Aktionsplan 2004—2007 wird dafür plädiert, als Voraussetzung für einen grenzüberschreitenden Datenaustausch die Datenschutzbestimmungen EU-weit zu harmonisieren, auch durch Angleichung der in der EU geltenden Datenschutzvorschriften.

4.2   Um eine wirksame Prävention zu gewährleisten, könnte nach Ansicht des Ausschusses die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, dass jede zuständige nationale Behörde eine digitale Datenbank einrichtet, die von Zahlungskartenanbietern mit folgenden Daten versehen wird: Angaben zu betrugsanfälligen Verkaufsstellen und Geschäftsvorgängen; nähere Angaben zu Verkaufsstellen und den gesetzlichen Vertretern von Unternehmen, denen aus Sicherheitsgründen oder wegen einer Strafanzeige die Annahme von Zahlungskarten untersagt wurde; nähere Angaben zu Geschäftsvorgängen, die vom Karteninhaber nicht anerkannt oder zur Anzeige gebracht wurden sowie Informationen über Geldautomaten, die in betrügerischer Absicht manipuliert wurden. Unter Achtung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften könnte dieses Archiv unter anderem dazu dienen, kriminelle Handlungen und die polizeiliche Zusammenarbeit — auch auf internationaler Ebene — zur Verhütung und Verfolgung von Straftaten, die mit Kreditkarten und anderen Zahlungsmitteln begangen werden, zu analysieren.

4.3   Neben dem Austausch von Informationen über die Betrüger ist auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten erforderlich, und zwar durch neue Initiativen zur Erfassung von Daten und ihres flächendeckenden Austauschs zwischen den mit der Betrugsbekämpfung befassten Stellen, insbesondere den Polizeidienststellen und den Zahlungskartenausstellern.

4.3.1   Dazu könnten die bestehenden Kooperationsstrukturen für die Bekämpfung von Euro-Fälschungen gestrafft und die zuständigen nationalen Behörden auch unmittelbar an der Verhütung von Betrug im bargeldlosen Zahlungsverkehr beteiligt werden.

4.3.2   Dabei könnte man in Erwägung ziehen, Europol — das nach Maßgabe des Ratsbeschlusses vom 29. April 1999 auch für die Bekämpfung der Fälschung von Bargeld und anderen Zahlungsmitteln zuständig ist — mit der Überwachung der Offensive zur Verhütung und Bekämpfung des Betrugs im bargeldlosen Zahlungsverkehr zu beauftragen, und zwar mit folgenden Zielsetzungen:

Koordinierung der Verwaltung der Datenbestände aller Mitgliedstaaten mit Angaben zu Fälschungen von Zahlungskarten, damit auch die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu nachweislichen Ermittlungszwecken darauf zugreifen können;

sofortige Unterrichtung von Zahlungskartenanbietern und -ausstellern über in anderen Mitgliedstaaten aufgedeckte Betrugsfälle;

Erleichterung des im Rahmenbeschluss 2001/413/JI vom 28. Mai 2001 vorgesehenen Informationsaustauschs zwischen den Polizei- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten.

4.4   In diesem Zusammenhang könnte in Erwägung gezogen werden, die an der Bekämpfung von Betrug und von Fälschungen bargeldloser Zahlungsmittel beteiligten Polizeiorgane und Ermittlungsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten zu vernetzen, insbesondere im Hinblick auf den direkten Informationsaustausch über ein zertifiziertes E-Mail-Sysstem, um u. a. die einschlägigen Datenbanken gemeinsam zu nutzen.

4.4.1   Eine solche Maßnahme setzt zwar eine vorherige Vereinbarung über die Inhalte der in diesen Datenbanken gespeicherten Daten und die Vereinbarkeit mit den in den einzelnen Mitgliedsländern geltenden Datenschutzvorschriften voraus, wäre jedoch — in Einklang mit Artikel 79 der Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 — ein deutlicher Fortschritt bei der besseren Bekämpfung von Betrug mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, da die Ermittlungsbehörden damit unmittelbar, sofort und ohne unnötige bürokratische Formalitäten über die erforderlichen Informationen verfügen könnten. Zu diesem Zweck wäre eine Festlegung von europaweiten Mindeststandards für die Art der auszutauschenden Daten wünschenswert, um unter Achtung der Richtlinie 1995/46/EG zum Schutz personenbezogener Daten über einen gemeinsamen Pool von Informationen zur Bekämpfung von Betrugsfällen verfügen zu können.

4.5   Die Eindämmung betrügerischer Handlungen in der EU wird dadurch erschwert, dass die nationalen Rechtsvorschriften über die Ausübung von Untersuchungsbefugnissen durch die einzelstaatlichen Behörden uneinheitlich sind und das jeweilige Strafmaß unterschiedlich hoch ist. So ist voraussehbar, dass Betrug vor allem in den Ländern begangen wird, in denen die Überprüfungsbefugnisse der Kontrollorgane weniger weitreichend sind beziehungsweise das Strafmaß nicht abschreckend wirkt. Die Forderung nach einer Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften scheint der einzige Weg zur wirksamen Eindämmung von Betrügereien in diesem Bereich zu sein; insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass, wie bereits im Aktionsplan 2004—2007 betont wurde, die früheren Initiativen nicht ausgereicht haben, um der Gefährdung durch Zahlungsmittelbetrug entgegenzuwirken.

4.5.1   In diesem Zusammenhang (4) muss geprüft werden, ob die Mitgliedstaaten die in Artikel 2, 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2001/413/JI des Rates vom 28. Mai 2001 benannten Straftatbestände für widerrechtliche Handlungen unter Einsatz von Zahlungsinstrumenten, Computern und ausgetüftelten technischen Hilfsmitteln wirksam in das eigene Strafrecht aufgenommen haben. Unter Achtung der Souveränität der Mitgliedstaaten sollte geprüft werden, ob das für derartige Straftaten vorgesehene Strafmaß wirklich abschreckend wirkt, auch im Hinblick auf das gesetzlich vorgesehene Strafmaß. Zugleich sollte das Strafmaß für Betrugsfälle vergleichbarer Schwere auf EU-Ebene angeglichen werden, wie dies beispielsweise bei der Bekämpfung von Geldwäsche geschehen ist.

4.6   Die Verabschiedung der vorgeschlagenen Initiativen würde eine wirksame Betrugsbekämpfung ermöglichen und die Schaffung eines einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrraums (SEPA) erleichtern, in dem unabhängig vom Wohnort im gesamten Euro-Raum bargeldlose Zahlungen von einem Konto aus unter den gleichen Bedingungen erfolgen können, womit die gegenwärtige Unterscheidung zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Zahlungen hinfällig wird.

4.7   Die EU muss ihre Strategie zur Bekämpfung des Zahlungsbetrugs und der Geldfälschung durch ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Maßnahmen intensivieren. Ein Kernstück ist die Aufklärung der Öffentlichkeit, mit der die Benutzer von Kredit- und Debitkarten noch weiter sensibilisiert werden, um die Verbraucher über die möglichen Risiken bei der Verwendung bargeldloser Zahlungsinstrumente noch besser aufzuklären. Phishing-Versuche können z. B. bei ahnungslosen Verbrauchern erfolgreich sein. Die EU-Institutionen sollten durch europaweite Kampagnen, die von der Kommission koordiniert werden, zur Aufklärung beitragen.

4.8   Den Verbraucher- und Handelsverbänden kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Durch enge Zusammenarbeit könnten sie mithelfen, ein Frühwarnsystem einzurichten und die Verbraucher zu sensibilisieren und über die gängigsten und neuesten Praktiken zu unterrichten. Hierzu scheinen gezielte Verbraucherinformationskampagnen, auch in Form von praktischen und leicht zugänglichen Ratschlägen, erforderlich, um die Kenntnisse über die Funktionsweise von Zahlungskarten und über sofortige Verhaltensweisen für den Fall zu verbessern, dass man Opfer eines Betrugs geworden ist.

4.9   Das Engagement der Mitgliedstaaten sollte sich auch in einer Verschärfung der Strafen für Betrüger niederschlagen, die auch tatsächlich zum Tragen kommen muss. Bei Straftaten, die im EU-Ausland und — bei besonders schweren Straftaten — auch in Drittstaaten begangen werden, sollten die einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen im gesamten europäischen Rechtsraum gelten. Diese Praxis wird mittlerweile immer häufiger angewandt und es gibt immer mehr Vorschläge zur Verfolgung und Ahndung von Straftaten. In Anbetracht der Tatsache, dass Betrügereien mit Zahlungsmitteln in der Regel von organisierten Banden und in mehreren Staaten verübt werden, stellen das Übereinkommen und die Zusatzprotokolle der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, die von der Generalversammlung der VN am 15. November 2000 und am 31. Mai 2001 verabschiedet wurden und Maßnahmen gegen grenzüberschreitende Straftaten vorsehen, ein wirksames Instrument zu ihrer Bekämpfung dar.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Quelle: Europäische Kommission, KOM(2005) 603 endg. vom 1.12.2005, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, SEK(2005) 1535.

(2)  Quelle: Jahresbericht 2007 der Banca d'Italia, Anhang. Die Daten resultieren aus Auswertungen von Daten der italienischen Zentralbank, der Banca dei Regolamenti Internazionali BRI, der italienischen Post S.p.A. und der Banca d'Italia.

(3)  Quelle: Europäische Kommission, KOM(2004) 679 endg. vom 20.10.2004, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Europäische Zentralbank und Europol — Neuer EU-Aktionsplan zur präventiven Betrugsbekämpfung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, SEK(2004) 1264.

(4)  In dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen (SEK(2008) 511 vom 22.4.2008) Report on fraud regarding non cash means of payments in the EU: the implementation of the 2004 — 2007 EU Action Plan wird die Notwendigkeit wirksamer Sanktionen betont, da die in manchen Mitgliedstaaten geltenden Strafen keinen abschreckenden Charakter haben, wie aus zwei von der Kommission im April 2004 [KOM(2004) 356] und Februar 2006 [KOM(2006) 65] vorgelegten Berichten über die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2001/413/JI des Rates vom 28.5.2001 hervorgeht.


30.4.2009   

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C 100/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Konsultation zum Entwurf des überarbeiteten Leitfadens der Kommission zur Folgenabschätzung“

2009/C 100/05

Die Europäische Kommission beschloss am 29. Mai 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Konsultation zum Entwurf des überarbeiteten Leitfadens der Kommission zur Folgenabschätzung“.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 8. Juli 2008 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober 2008) Herrn RETUREAU zum Hauptberichterstatter und verabschiedete mit 83 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   In ihrer „Jährlichen Strategieplanung für 2008“ (1) betont die Kommission: „Die Vereinfachung und Modernisierung des ordnungspolitischen Umfelds für Unternehmen und Bürger in der EU zählt ... zu den vorrangigen Anliegen der Kommission. 2007 wird das System der Folgenabschätzung verbessert, ein Aktionsprogramm zur Beseitigung unnötigen Verwaltungsauf-wands aufgrund gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Vorschriften eingeleitet und das aktualisierte Vereinfachungsprogramm umgesetzt“; zudem werde die Kontrolle der Anwen-dung des Gemeinschaftsrechts fortgeführt (2). „Die Realisierung dieser Maßnahmen bildet das Kernziel für 2008.“

1.2   Diese Strategie hat sich im Arbeitsprogramm niedergeschlagen, wobei für jede Maßnahme und jeden Vorschlag für ein Programm ein Fahrplan mit einer Reihe präziser Fragen erstellt wird, auf die zumeist kurze Antworten gegeben werden; im Fahrplan spiegeln sich jeweils die ersten Ergebnisse der Folgenabschätzung bzw. der vorläufigen Folgenabschätzung wider; er enthält zudem eine Vorausschätzung der Kosten der einzelnen Maßnahme bzw. des Vorschlags.

1.3   Zu dem System der Folgenabschätzung hat die Kommission den Entwurf eines internen Leitfadens erstellt — diese Vorlage wird in dieser Stellungnahme geprüft (3); 2007 war bereits eine externe Bewertung dieses 2002 eingeführten und 2005 verbesserten Systems der Folgenabschätzung erfolgt, wobei die Erfahrungen und Lehren aus der Tätigkeit des Ausschusses für Folgenabschätzung (IAC) eingeflossen waren. Die Kommission wünscht eine Verbesserung der allgemeinen Methodik: Die Methodik sollte genau festgelegt, vorhersehbar, transparent und für den Gemeinschaftshaushalt bezifferbar sein, denn bis zum Abschluss einer Folgenabschätzung vergehen je nach der Komplexität der Sachlage fünf bis 13 Monate, und es sind Ressourcen und Mittel erforderlich, die die Kommission den Dienststellen zur Verfügung stellen will, damit die Ziele des Programms „Bessere Rechtsetzung“ in Bezug auf die Folgenabschätzungen erreicht werden.

1.4   Mit dem überarbeiteten Leitfaden sollen allgemeine Leitlinien vorgegeben werden für die Durchführung der Folgenabschätzungen — von den vorläufigen Folgenabschätzungen bis hin zur Formulierung der Optionen, die der Kommission dann letztendlich von der zuständigen Generaldirektion vorgeschlagen werden. Das Kollegium der Kommissionsmitglieder kann somit sein Initiativrecht bei der Rechtsetzung in Kenntnis der Sachlage wahrnehmen bzw. eine alternative Maßnahme zur Rechtsetzung vorschlagen oder aber in der Phase der vorläufigen Folgenabschätzung beschließen, nicht tätig zu werden bzw. eine Mitteilung zu erstellen, die naturgemäß keinen normativen Charakter hat.

1.5   Jede Folgenabschätzung ist einzigartig, spezifisch und gekennzeichnet durch die jeweils zu erreichenden, im jährlichen Arbeitsprogramm der Kommission vorgegebenen Ziele. In den Leitlinien sind somit ein Ablauf, Verfahren und Arbeitsweisen beschrieben, die ausreichend flexibel sind, um je nach Zuständigkeit der Gemeinschaft und Anforderungen seitens der Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen der Verträge und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Subsidiaritätsprinzips an die unterschiedlichen Situationen und Probleme angepasst zu werden.

1.6   Die Folgenabschätzungen können in folgenden Amtssprachen der Gemeinschaften erstellt werden: Deutsch, Englisch und Französisch. In der Praxis werden jedoch fast alle Folgenab-schätzungen in englischer Sprache verfasst, weil sich dies für die interne Kommunikation innerhalb der Generaldirektionen und zwischen ihnen sowie für die externe Kommunikation insbesondere in der Phase der Konsultation mit den betroffenen Parteien als praktisch erweist. Jeder im jährlichen Arbeitsprogramm vorgesehenen Rechtsetzungsinitiative werden systema-tisch Anhänge mit einer vollständigen Folgenabschätzung sowie einer Zusammenfassung unter der Dokumentennummer [SEC(Jahr), Nummer], in englischer Sprache beigefügt. Der Rechtsetzungsvorschlag wird somit untermauert durch die Folgenabschätzung und durch Erläuterungen zu der von der Kommission gewählten Option.

2.   Allgemeine Bemerkungen des EWSA

2.1   Mit jedem Rechtsetzungsvorschlag geht ein Verfahren der vorläufigen Bewertung einher, wobei zu bestimmten Zeitpunkten bzw. in bestimmten Phasen unter den verschiedensten Gesichtspunkten geprüft werden kann, ob eine entsprechende Notwendigkeit besteht und welche internen wie auch externen Folgen sich ergeben.

2.2   In der Legistik als der (angewandten) Wissenschaft der Rechtsetzung mit dem Ziel, die besten Modalitäten für die Erarbeitung, Abfassung, Bekanntmachung und Anwendung der Rechts-normen zu ermitteln (4), werden für den Gesetzgeber auf nationaler Ebene nicht dieselben hohen Maßstäbe wie für die Rechtsetzungsinstanzen auf Gemeinschaftsebene angelegt. Diese sind in der Tat weiter entfernt von den Bürgern und offenbar nicht immer so gut mit deren Anliegen und Sorgen vertraut. Der Gemeinschaftsgesetzgeber muss daher sämtliche Initiativen deutlich darlegen und die Information und die Mitwirkung über verschiedene Kanäle fördern, um die partizipative Dimension der Unionsbürgerschaft zu stärken, die untrennbar mit der staatsbürgerlichen Dimension verbunden ist. Vor diesem besonderen politischen Hintergrund sind die Folgenabschätzungen ein wichtiger Bestandteil der normativen Arbeit und der Maßnahmen der Kommission.

2.3   Aus der Reihe der zahlreichen theoretischen und praktischen Fragen zur Rechtsetzungstätigkeit in der Europäischen Union, deren eingehende Erörterung und Diskussion den Rahmen einer solchen Stellungnahme natürlich sprengen würde, sollte zumindest der Aspekt hervorgehoben werden, dass die Rechtsetzungsinstanzen in einem Umfeld fester „Vorgaben“ tätig sind: die Verträge zur Gründung der Gemeinschaften, die allgemeinen Grundsätze des Rechts in den wirtschaftlich entwickelten, demokratischen Gesellschaften, die Vertragspartner sind (oder es noch werden sollen), einschließlich deren Verfassungsgrundsätze und der Auslegungen des Primärrechts und des abgeleiteten Rechts durch die Gerichte (5).

2.4   Alle Völker der Union streben heutzutage nach Demokratie, nach friedlicher Beilegung von Konflikten, nach mehr Zusammenarbeit und Solidarität, der Förderung der individuellen und kollektiven Rechte, nach einer realistischen und qualitativ hochwertigen Rechtsetzung, die klar im Einklang steht mit den Verträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die in allen Mitgliedstaaten gelten. Die politischen Entscheidungen sowie die Rechtsetzungsakte sind Teil eines größeren Rahmens, der durchaus als „Verfassungsrahmen“ zu bezeichnen ist, denn in ihm werden der demokratische Charakter der politischen Institutionen und die Grenzen der Zuständigkeiten der mit politischen, legislativen und administrativen Aufgaben betrauten Institutionen und der Gerichte festgelegt. In diesem „Verfassungsrahmen“, in dem durch Rechtsnormen die Politikfelder mit ausschließlicher Zuständigkeit der Gemeinschaft von denen unterschieden werden, in denen die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten geteilt wird, und in dem die von einer rechtsstaatlichen Regierung bei der Vorlage von Gesetzen zu befolgenden Verfahren festgelegt werden, in diesem Verfassungsrahmen also muss es möglich sein, die Entwicklung der Rechtsvorschriften zu bewerten und deren Wirksamkeit wie auch die wirtschaftliche Verwendung der Finanzmittel und der sonstigen bereitgestellten Ressourcen zu kontrollieren. Dieser Rahmen muss zudem erlauben, die Rechtsvorschriften regelmäßig auf die Notwendigkeit eventueller Anpassungen bzw. Änderungen hin neu zu bewerten bzw. um festzustellen, ob die vorgegebenen Ziele erreicht wurden.

2.5   Aus dieser simplen Aufzählung ergibt sich, ohne dass dies schon gebührend gewürdigt wurde, die Komplexität der Zuständigkeiten, der Verantwortung und der Aufgaben, die den einzelnen Akteuren der Union zugewiesen wurden.

2.6   Die Folgenabschätzung wurde von Anfang an als ein Instrument konzipiert, mit dem die Qualität und die Kohärenz der legislativen Verfahren zur Gestaltung der Politik in den einzelnen Bereichen verbessert werden sollten, um so einen Beitrag zu einem wirksamen und leistungsfähigen ordnungspolitischen Umfeld sowie zu kohärenten Maßnahmen zur nachhaltigen Ent-wicklung zu leisten. Sie stärkt die verantwortungsvolle Politikgestaltung, ohne jedoch an deren Stelle zu treten. Sie muss es ermöglichen, voraussichtliche positive wie negative Wirkungen eines Rechtsetzungsvorhabens festzustellen und einen Konsens bei der Verwirklichung miteinander konkurrierender Ziele zu erreichen. In der Praxis wurde die Folgenabschätzung zunächst für die größten Vorhaben eingeführt, und in der Folge auch für alle Vorhaben aus der Jährlichen Strategieplanung und aus dem Arbeitsprogramm der Kommission. Die wichtigsten Aspekte der Methodik für die Folgenabschätzungen wurden im Anhang zu der Mitteilung vom Juni 2002 erläutert, und die technischen Modalitäten der Umsetzung wurden davon getrennt im Herbst 2002 veröffentlicht (6). Eine Überarbeitung des Leitfadens erfolgte 2005, und dann fortlaufend seit Ende 2007 bis zu dem vorliegenden Entwurf vom Mai 2008.

2.7   Bereits seit den ersten Bemühungen um eine bessere Rechtsetzung hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (nachstehend „der EWSA“) die einschlägigen Vorschläge der Kommission unterstützt. Er unterstützt auch allgemein Vorschläge zur Verbesserung der Durchführung und Strukturierung der Folgenabschätzungen, denn diese haben bei der Vorbe-reitung der Rechtsetzungsvorhaben stets an Bedeutung gewonnen, wie auch die Vorschläge für sonstige Verfahren wie Kodifizierung, Vereinfachung (soweit möglich) des Wortlauts und insbesondere Verbesserung der Qualität und der Klarheit der verwendeten Rechtsbegriffe. Der Ausschuss stellt zudem fest, dass die Qualität der Übersetzungen der Rechtstexte und die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entscheidend sind für eine verbesserte Harmonisierung und Einhaltung der Rechtsnormen.

2.8   Es werden drei wesentliche Kategorien von Auswirkungen bewertet:

soziale Auswirkungen;

wirtschaftliche Auswirkungen;

ökologische Auswirkungen.

Der EWSA stellt fest, dass unter die Kategorie „soziale Auswirkungen“ eine Vielzahl von Fragen fällt, die besser in zwei verschiedenen Kategorien zu behandeln wären: zum einen die sozialen Auswirkungen im eigentlichen Sinne und zum anderen die Auswirkungen auf die Gesellschaft (Kampf gegen den Terrorismus, Sicherheit, Justiz usw.). Die sozialen Fragen im engeren Sinne stehen im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Fragen und betreffen die Sozialpartner, die Tarifverhandlungen sowie die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, während es bei den gesellschaftlichen Fragen um andere Bereiche (Justiz, Polizei usw.) mit mehr politischen Akteuren geht, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen.

2.9   Bei der Abschätzung der wirtschaftlichen Folgen stehen die Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Analysen und der Wettbewerbssituation im Vordergrund. Wegen der Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung möchte der Ausschuss jedoch unterstreichen, dass die Zahlenangaben über die qualitativen Auswirkungen wie auch die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Berechnung in einem langfristigen Rahmen zu bewerten sind. Zum Wettbewerb weist er darauf hin, dass dieser ein Mittel und kein Zweck an sich ist. Zu nennen sind auch die Zwänge der Industriepolitik, das Entstehen von Wirtschafts- und Finanzakteuren mit internationaler Dimension, die in einem Kontext des globalen Wettbewerbs bestehen können. Die globalisierte Wirtschaft und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Drittstaaten sind der Gesamtrahmen für die Folgenabschätzungen zu wirtschaftlichen und finanziellen Fragen.

2.10   Für die Abschätzung der Auswirkungen auf die Umwelt ist auch eine Reihe Indikatoren hinzuzuziehen, die aus regelmäßigen Beobachtungen und Daten gewonnen werden, welche unter vergleichbaren technischen Bedingungen und in einem vergleichbaren Umfeld erhoben wurden (etwa Luftqualität im städtischen Bereich, Aufheizung der Atmosphäre usw.). Bei dieser Kategorie von Folgen geht es vor allem darum, die qualitativen Analysen mit der Kosten-Nutzen-Analyse zu kombinieren. Der EWSA ist der Auffassung, dass den Kosten-NutzenAnaly-sen nicht in jedem Falle der Vorzug vor anderen, eher qualitativen Ergebnissen der Vorrang gegeben werden sollte. Es sollte möglich sein, beide Ergebnisarten vorzustellen und Kriterien für einen Vorrang festzulegen, etwa was die Auswirkungen bestimmter Arten der Umweltverschmutzung auf die Gesundheit betrifft. Eigentlich ist es nicht möglich, in einem Geldbetrag Jahre menschlichen Lebens auszudrücken, die durch vorgeschlagene Maßnahmen gewonnen werden können, aber eine solche Datenangabe ermöglicht einen Vergleich über einen Zeitraum, wenngleich die auf die Gesundheit einwirkenden Faktoren mannigfaltig sind und bei einem Vergleich über einen bestimmten Zeitraum erhebliche Fehlerquoten auftreten, insbesondere wegen der Bedeutung anderer Faktoren als der Luftqualität für die Gesundheit (Lebensführung, Ernährung, Wirkungen der Maßnahmen der Früherkennung usw.).

2.11   Besonders wichtig ist die Rolle der Konsultation der betroffenen Kreise und ihrer repräsentativen Einrichtungen auf europäischer Ebene, vor allem des Ausschusses der Regionen und des EWSA, die die organisierte Zivilgesellschaft und die von ihr auf lokaler und regionaler Ebene gewählten politischen Organe vertreten. Wegen der Kürze der vorgegebenen Zeit und der Abfassung der Folgenabschätzungen in nur einer Sprache — diese Umstände sind für eine Vielzahl von Verbänden, vor allem für nationale Verbände ein Problem — müssen die beraten-den Einrichtungen der Union eine besondere Verantwortung in Bezug auf die Qualität der Folgenabschätzungen und auf die Konsultation gemäß den interinstitutionellen Vereinbarungen über die Zusammenarbeit wahrnehmen. Es ist wichtig, dass diese erste Konsultation nicht der Konsultation über die dann tatsächlich den Rechtsetzungsinstanzen vorgelegten Vorhaben im Wege steht, denn letztere Konsultation hat dann eher politischen Charakter.

2.12   Der EWSA begrüßt das komplexe Vorgehen bei den Folgenabschätzungen — bereichsüber-greifend, wenn mehrere Generaldirektionen betroffen sind, sowie ihre zeitliche Streckung (kurz-, mittel- und langfristig). Die 2007 durchgeführte Ex-post-Bewertung der Folgenabschätzungen könnte dazu führen, dass der IAC die Ex-post-Überprüfungen in das Verfahren für die Durchführung der Folgenabschätzungen aufnimmt, um so ein gründliches Nachdenken über die Indikatoren und ihre Zweckmäßigkeit sowie über die Brauchbarkeit der Bewertungen zu ermöglichen, und zwar sowohl der Bewertungen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses als auch der Bewertungen an Hand qualitativer Maßstäbe. Der EWSA ist insbesondere der Meinung, dass die Frage der Indikatoren im Leitfaden selbst eingehender erörtert werden sollte (7), wobei die von Eurostat erhobenen Daten oder die durch spezifische Untersuchungen seitens der Kommissionsdienststellen gewonnenen Daten als Grundlage dienen sollten. Gleiches gilt für die Indikatoren, die von anderen Organisationen aufgestellt wurden, insbesondere von den Agenturen der Vereinten Nationen, etwa ihrem Entwicklungsprogramm (UNDP), und für die Indikatoren, die aus den in mehreren Ländern von Ministerien oder Hochschulen durchgeführten Forschungsarbeiten hervorgegangen sind.

2.13   Die Fragen allgemeiner Art und die Querschnittsfragen werden im zweiten Teil des Entwurfs des Leitfadens ausführlich behandelt: zeitliche Streckung, Berücksichtigung der zu verrin-gernden Verwaltungslasten, Erfordernis, weder die Auswirkungen, die sich nicht unmittelbar in einer Kosten-Nutzen-Analyse einfangen lassen, noch die Wechselwirkung zwischen den die Folgen beeinflussenden Faktoren zu unterschätzen. So ist die Wirkung zu berücksichtigen, die die sonstigen Rechtsetzungsvorhaben entfalten, die angenommen wurden bzw. für die eine Folgenabschätzung läuft, vor allem wenn es um ein Rechtsetzungspaket und allgemeine Ziele der Gemeinschaft geht (Lissabon-Strategie, Wahrung der Grundrechte, europäische Energiestrategie und Ziel der nachhaltigen Entwicklung). Auch externe Auswirkungen dürfen nicht vernachlässigt werden.

2.14   Gesondert betrachtet werden müssen die Auswirkungen auf die KMU-KMI, wie gegebenenfalls höhere Kosten einer Regelung wegen der Größe dieser Unternehmen und der Verwal-tungslasten, die sich bei einem kleinen Betrieb viel stärker als in einem Großunternehmen bemerkbar machen. Der EWSA begrüßt diese besondere Berücksichtigung der Auswirkungen auf die KMU-KMI und pflichtet der Empfehlung der Kommission bei, Maßnahmen zur Verringerung dieser Auswirkungen vorzusehen, wenn sich aus der Folgenabschätzung ergibt, dass diese unverhältnismäßig bzw. übermäßig groß wären.

2.15   Schließlich dürfen die in den Folgenabschätzungen vorgestellten Optionen nicht künstlich oder „an den Haaren herbeigezogen“ sein; vielmehr muss es sich stets um echte, glaubwür-dige und durchführbare Alternativen handeln, aus denen eine politische Auswahl der bestgeeigneten Option erfolgen kann.

3.   Kritische Überlegungen

3.1   Die Kommission erarbeitet im Detail die Verfahren und legt die Fristen für sämtliche Folgenabschätzungen fest. Dennoch sind diese Verfahren und Fristen ausreichend flexibel, um der Vielfalt der besonderen Situationen gerecht zu werden.

3.2   Jede Folgenabschätzung ist ein eigener Ad-hoc-Vorgang, wobei jedoch eine bestimmte Zahl Regeln und Vorgaben unumgänglich sind, sowohl für die vorläufigen als auch für die endgültigen Folgenabschätzungen. Hier wären beispielsweise die diensteübergreifende Konsultation, die Frist für eine an einen externen Berater vergebene Studie, die Haushaltsplanung oder auch das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission zu nennen.

3.3   Die Gemeinsame Forschungsstelle (GFS), deren Forscher vielfach mit einer Universität oder Fachleuten zusammenarbeiten und sich dabei auf die Daten von Eurostat stützen, ist das am häufigsten in die Erstellung der Folgenabschätzungen einbezogene Gremium. Allerdings führen die Forscher bei Bedarf ihre eigene Aggregation der verfügbaren Daten durch, um ein bestimmtes Problem zu beschreiben, bzw. verwenden sie mathematische und haushaltstechnische Verfahren sowie gemeinsame Indikatoren. Sie können auch Untersuchungen oder Mei-nungsumfragen durchführen, um die Standardverfahren der Konsultation zu ergänzen, die für diesen Bereich vorgesehen sind.

3.4   Eine deutliche Tendenz bei den Folgenabschätzungen, die im Übrigen auch den methodo-logischen Anforderungen im Anhang gerecht wird (der Anhang enthält ein neues Handbuch bzw. einen Leitfaden für die Erstellung von Folgenabschätzungen) besteht darin, die Auswirkungen verschiedener Optionen in Geldwert auszudrücken, um so ein zusätzliches Entschei-dungskriterium zur Verfügung zu stellen.

3.5   Zwar können Umweltverträglichkeitsprüfungen (8) beispielsweise Messungen von Kosten bzw. von Einsparungen enthalten, bestimmte Faktoren sollten aber trotz der Kosten aus höherrangigen, qualitativen Gründen ebenfalls berücksichtigt werden: Auswirkungen auf den Klimawandel, Wahrung der Grundrechte, ethische Fragen und die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit.

3.6   Die qualitativen Kriterien sollten häufig Vorrang haben, denn sie entsprechen den Zielen der Union allgemein und in ihren Politikbereichen. Sie können schließlich in finanziellen Kosten münden (ein Beispiel war die Entschädigung von Asbestopfern), aber die Vorsorge ist hier ethisch gesehen eine zwingende Notwendigkeit. So war Asbest zwar eine wirksame und kostengünstige Lösung für die Wärmedämmung von Gebäuden, Maschinen und vor allem Rohrleitungen, aber heute fressen die Kosten für die Asbestbeseitigung die seinerzeit kurzfristig erzielten finanziellen Vorteile vollständig wieder auf. Der Saldo ist also negativ, und nach mehreren Jahrzehnten kann der Verursacher der Umweltverschmutzung zumeist nicht mehr haftbar gemacht werden. Das Vorsorgeprinzip sollte daher nachdrücklich in den Folgenabschätzungen bekräftigt werden, es darf aber nicht als Vorwand für Tatenlosigkeit dienen.

3.7   Mit Abstand betrachtet lässt sich sagen, dass die größten Probleme bei der Konsultation der betroffenen Kreise auftreten. Bestimmte Kommentare werden manchmal als individuelle Ansichten interpretiert, obwohl der Autor möglicherweise ein Kleinunternehmer oder Selbstständiger ist, dessen wertvolle Erfahrung nicht hinter den Aussagen etablierter und zielgerichtet tätiger Lobbyisten zurückstehen sollte, die in der Lage sind, zuweilen verzerrte Gutachten bzw. Informationen zu liefern (9).

3.8   Im Rahmen sehr komplexer Vorhaben lassen sich die Auswirkungen unter Umständen nur sehr schwer beziffern (z. B. REACH). Der Schutz der Arbeitnehmer und der Nutzer der Pro-dukte behielt letztlich die Oberhand, wenngleich die Branche sehr gewichtige Unterstützung in der Politik gefunden hatte, um die Tragweite der Rechtsvorschriften zu begrenzen.

3.9   Solche Situationen sind jedoch durchaus an der Tagesordnung. Die Vereinigungen der betroffenen Akteure verteidigen ihre Interessen, es obliegt jedoch dem Gesetzgeber/den Rechtset-zungsinstanzen, dem Gemeinwohl vor kurzfristigen Partikularinteressen Vorrang zu verschaffen. Diese kurzfristigen „Einschränkungen“ können mittelfristig zu Wettbewerbsvorteilen werden, insbesondere wenn europäische Standards festgelegt werden, die bei einem tech-nologischen Vorsprung zu weltweiten Standards werden (z. B. Begrenzung der Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen, Bemühungen um die Förderung alternativer, weniger umweltschädlicher und nachhaltigerer Energieträger).

3.10   Der Rückgriff auf Grünbücher und Weißbücher zur Vorbereitung der Rechtsetzung erweist sich verbunden mit einer öffentlichen Debatte als sehr geeignet, um die Standpunkte der betroffenen Kreise und im weiteren Sinne der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen des EWSA bzw. über Vertreter in den fachspezifischen Nichtregierungsorganisationen auf euro-päischer Ebene einzuholen. Der Gesetzgeber selbst hat im Rahmen einer internen Debatte dann Zeit, nach dynamischen Kompromissen zu suchen.

3.11   Der EWSA muss hingegen feststellen, dass überstürztes Vorgehen oder ideologische Positionen auch Projekte beeinträchtigen können, die letztendlich verworfen oder aber stark abgeändert werden, obwohl ein weniger brachiales Vorgehen zu für alle Parteien akzeptablen Ergebnissen hätte führen können (das war der Fall beim Entwurf einer Richtlinie über die „Hafendienstleistungen“, die mit heißer Nadel von einer scheidenden Europäischen Kommission genäht wurde, die sich damals nicht die Zeit für eine Konsultation und die Suche nach Kompromissen genommen hatte).

3.12   Die derzeitige Krise sollte Anlass sein, mehr Vorsicht gegenüber bestimmten Vorurteilen und sonstigen „maßgeblichen“ Grundsätzen walten zu lassen. Das Kriterium des Praxistests ist wesentlich für den Aufbau einer kollektiven Erfahrung mit den Folgenabschätzungen, wobei zugleich Vorsicht und Kreativität herrschen können. Dieses Konzept steht im Gegensatz zu sogenannten wissenschaftlichen Konzepten wie z. B. der Auffassung, ein nicht regulierter Mark sei effizienter als eine angepasste Regelung, die auf die Sicherstellung von Transparenz und auf die Verhütung von Schieflagen und Betrug ausgerichtet ist, und der Auffassung, staatliche Beihilfen seien von Natur aus etwas Negatives. Eine realistische und ausgewogene Sicht der Dinge sollte gegenüber zu stark vereinfachenden Ansichten aus der Welt der Wirt-schaft und Finanzen den Vorrang erhalten.

4.   Schlussfolgerungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass die Folgenabschätzungen zur wirksamen Verbesserung der Rechtsetzung beitragen, und er bekräftigt seine Bereitschaft, daran im Rahmen seiner Zuständigkeiten und der verfügbaren Mittel und Personalressourcen mitzuwirken. Es geht hier um eine wesentliche politische Voraussetzung für die bestmögliche Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in einzelstaatliches Recht. Es sollte sichergestellt werden, dass der Prozess der Rechtsetzung bzw. Aufstellung von Normen so gut es geht von den Bürgerinnen und Bürgern verstanden wird, ganz gleich, ob es sich um materielles Recht (hard law) oder freiwillige Vereinbarungen (soft law) handelt. Des Weiteren sollten die repräsentativen nichtstaatlichen Organisationen über den klassischen Kanal der Fragebögen an den Gestaltungsprozessen der Gemeinschaft beteiligt werden.

4.2   Der EWSA ist überzeugt, dass die Generaldirektionen diesen Konsultationen permanent hohe Aufmerksamkeit widmen sollten, denn die gegenüber bestimmten Rechtsetzungsvorschlägen geäußerten Einwände sind nicht immer ausreichend berücksichtigt worden. Dies hat zuweilen zu umfangreichen Änderungen der Vorschläge über substantielle Änderungsanträge oder gar zur Ablehnung durch Ministerrat oder Parlament geführt, die als Rechtsetzungsinstanzen die Reaktionen bzw. Signale aus der Zivilgesellschaft aufmerksam aufnehmen. Durch die partizi-pative Demokratie können Situationen vermieden werden, die letztendlich sowohl politisch als auch in Bezug auf die Haushaltsmittel sehr kostspielig werden können.

4.3   Die Rolle des Gemeinschaftsgesetzgebers kann durch ein modernes und wirksames Verfahren der Aufstellung von Rechtsnormen nur gewinnen.

4.4   Abschließend begrüßt der EWSA die Anstrengungen und Instrumente, die seit Jahren im Hinblick auf eine bessere Rechtsetzung unternommen bzw. eingesetzt werden, denn letztere hat entscheidende Bedeutung für eine rechtsstaatlich funktionierende Union, und er fordert die Kommission auf, diesen Weg weiter zu gehen.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2007) 65 endg. vom Februar 2007.

(2)  Stellungnahme CESE, ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 9.

(3)  KOM, Mai 2008, Arbeitsdokument ohne Nummer (http://ec.europa.eu/governance/impact/consultation/ia_consultation_de.htm).

(4)  CHEVALLIER, J. (1995), „L'évaluation législative: un enjeu politique“ (Bewertung der Rechtsvorschriften: eine politische Herausforderung), in DELCAMP A. u. a., Contrôle parlementaire et évaluation (parlamentarische Kontrolle und Bewertung), Paris, 1995, S. 15.

(5)  Zu berücksichtigen wären auch die tragischen Erfahrungen aus Zeiten, in denen das Recht allgemein und insbesondere die Rechte des Einzelnen mit einer zum Teil unvorstellbaren Bestialität verletzt wurden.

(6)  KOM(2002) 276 endg., 5.6.2002.

(7)  Leitlinien für die Folgenabschätzung.

(8)  Ziffer 9.3.4. des Anhangs „Modelle für die Umweltverträglichkeitsprüfung“.

(9)  Dieser Aspekt wurde deutlich bei der Konsultation zur Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen (von den Dienststellen der Generaldirektion Binnenmarkt erstelltes Konsultationsdokument vom 19.10.2000).


30.4.2009   

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C 100/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung“

2009/C 100/06

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. September 2008 an. Berichterstatter war Herr Hernández BATALLER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 50 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

A)

Der EWSA fordert die anderen EU-Institutionen auf, eine Gemeinschaftsinitiative auf den Weg zu bringen, um eine gründliche Erörterung über die Notwendigkeit einzuleiten, Leitlinien für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung festzulegen.

B)

Der EWSA ersucht die Kommission, in den entsprechenden Bewertungsberichten, die sie über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vorlegt, regelmäßig ein Kapitel der Globalisierung und deren möglichen Auswirkungen auf die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu widmen.

C)

Bezüglich der öffentlichen Aufträge sollte unbeschadet der Anwendung der notwendigen Innovationen durch die Erbringung von Dienstleistungen der Informationsgesellschaft (1) bei der Weiterentwicklung der Dienstleistungen versucht werden, ihre wesentlichen Merkmale beizubehalten und einen Rahmen für die angemessene Einrichtung entsprechender Dienste zu schaffen (z. B. im Bereich Telemedizin, Berufsethik und Datenschutz).

D)

Es muss die künftige Schaffung einer globalen Governance gefördert werden, die auf einer ausgewogenen Teilhabe der internationalen Organisationen, der Mitgliedstaaten und anderer Interessenträger beruhen könnte.

E)

Die ILO und die WHO, die sich mit arbeitsrechtlichen und Gesundheitsfragen beschäftigen, sollten im Wege eines Beobachterstatus auch in die Bestrebungen zu einer globalen Governance auf WTO-Ebene eingebunden werden.

F)

Ein Beratungsforum, das mit der Festlegung und Überarbeitung der künftig im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu ergreifenden Maßnahmen beauftragt wäre, könnte zu dieser Governance sowie zur Überwachung der Einhaltung der den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zugrunde liegenden Prinzipien und Werte beitragen.

G)

Was die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter angeht, sollte eine Diskussion über die wesentlichen Aspekte einer künftigen globalen Governance dieser Güter angestoßen werden. Auf Gemeinschaftsebene sollte ein europäisches Aktionsprogramm aufgestellt werden, in dem die Modalitäten für die Finanzierung dieser Güter festgelegt werden.

Diese globale Governance müsste die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter umfassen und damit den anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm zum Thema „biologische Vielfalt und Energie“ eingeschlagenen Weg fortsetzen.

2.   Einleitung

2.1   Zweifellos spielen die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse eine so wichtige Rolle im täglichen Leben der EU-Bürger, dass ihr Beitrag zum sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt sowie zur nachhaltigen Entwicklung der EU nunmehr ein integraler Bestandteil des europäischen Sozialmodells (2) ist. Darüber hinaus vervollständigen sie den Binnenmarkt und gehen über dessen Rahmen hinaus; sie sind damit eine Voraussetzung für das wirtschaftliche und soziale Wohl der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen (3).

2.1.1   Unter Globalisierung ist die Öffnung der Wirtschaft und der Grenzen als Resultat der Zunahme der Handelsbeziehungen, der Kapitalbewegungen, des Personenverkehrs und des Informationsflusses, der Verbreitung von Informationen, Wissen und Technologien sowie eines Deregulierungsprozesses zu verstehen. Dieser zugleich geografische und sektorbezogene Prozess ist nicht neu, hat sich in den vergangenen Jahren aber beschleunigt.

2.1.2   Die Globalisierung bietet zahlreiche Chancen, auch wenn sie noch immer zu den größten Herausforderungen für die Europäische Union gehört. Um das Wachstumspotenzial dieses Phänomens voll ausschöpfen und eine gerechte Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile garantieren zu können, versucht die Europäische Union mittels einer multilateralen Governance das Modell einer nachhaltigen Entwicklung zu schaffen, um Wirtschaftswachstum, sozialen Zusammenhalt und Umweltschutz miteinander in Einklang zu bringen.

2.2   Die wirtschaftliche Globalisierung führt jedoch zu einer neuen Situation, in der die von einigen internationalen Organisationen (wie z. B. der WTO) gefassten Beschlüsse von großer Bedeutung sind und das Fortbestehen der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Identitätsmerkmal jenes Modells in Frage stellen können.

2.3   In diesem Zusammenhang ist es nötig, einschlägige internationale Rechtsinstrumente zu konzipieren, damit die EU und ihre Mitgliedstaaten das Fortbestehen der Dienstleitungen von allgemeinem Interesse gewährleisten können, ohne auf Strategien zurückgreifen zu müssen, die die Anwendung der Prinzipien des freien internationalen Handels behindern oder die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft beeinträchtigen.

2.3.1   Darüber hinaus müssen die Institutionen der Europäischen Union der Funktionsweise der Selbstregulierungsorgane besondere Aufmerksamkeit schenken, die sich auf globaler Ebene um die Festlegung gemeinsamer Handlungsleitlinien für Behörden in die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse betreffenden Bereichen kümmern (z. B. die Internationale Fer-meldeunion ITU).

2.3.2   Artikel 63 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (4) sieht vor, dass die EU den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse anerkennt und achtet, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu fördern; damit wird erstmals eine Verbindung zwischen diesen Dienstleistungen und den Grundrechten hergestellt (5).

2.3.3   Im Lissabon-Vertrag wird die Rolle der Europäischen Union im Bereich Wirtschaft und Handel erheblich gestärkt. Dieses Handeln der EU auf internationaler Ebene ist besonders notwendig angesichts der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und der Stärkung des multilateralen Handelssystems infolge der ihm durch die Schaffung der Welthandelsorganisation im Jahr 1995 verliehenen starken Impulse.

2.3.4   Der Lissabon-Vertrag enthält Bestimmungen, die für das gesamte auswärtige Handeln der Union im Rahmen des Kapitels I von Titel V des EU-Vertrags (EUV) gelten. Im EG-Vertrag (EGV) finden sich die Bestimmungen über die Gemeinschaftspolitik in Titel IX, Kapitel 3, Artikel 131 bis 134, die sich auf die „gemeinsame Handelspolitik“ beziehen. Im Vertrag bezeichnet dieser Ausdruck eine Reihe institutioneller Beschlussfassungsmechanismen in konkreten Zuständigkeitsbereichen zur Erreichung bestimmter Ziele, die ein geschlossenes Handeln der Gemeinschaft in diesen Bereichen ermöglichen (6).

2.3.5   Nach Artikel 131 EGV sind die Beiträge zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken wesentliche Ziele der gemeinschaftlichen Politik.

2.3.6   Darüber hinaus sollten die Auswirkungen berücksichtigt werden, die die Ziele der verschiedenen horizontalen Politiken der Gemeinschaft wie etwa die Kulturpolitik, die Gesund-heitspolitik (7), der Verbraucherschutz und die Industriepolitik auf die Gestaltung der gemeinsamen Handelspolitik haben können; dabei dürfte die Industriepolitik gemeinsam mit den Dienstleistungen wahrscheinlich einen stärkeren und problematischeren Einfluss auf die Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik haben.

2.3.7   Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die Reform der Verträge ein Fortschritt ist, insbesondere was die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeht, da unter die Bestimmungen zur Arbeitsweise der Europäischen Union in Artikel 14 eine generell anzuwendende Bestimmung für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingeführt wird, die auf die gesamte Politik der Union, einschließlich Binnenmarkt und Wettbewerb, angewendet werden soll, sowie ein Protokoll als Anhang zu den beiden Verträgen, das die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in ihrer Gesamtheit betrifft — also einschließlich solcher nicht wirtschaftlicher Art (8).

2.4   Durch die Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags mit seinen neuen Bestimmungen, die die Möglichkeit bieten, einen supranationalen Rechtsrahmen zu schaffen, der sich besser dafür eignet, in allen EU-Mitgliedstaaten den Zugang zu diesen Dienstleistungen zu regeln und deren Funktionsweise festzulegen, werden in dieser Hinsicht neue Horizonte für das Projekt der europäischen Integration eröffnet. Dazu gehören im Einzelnen:

die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zur Verfügung gestellt, in Auftrag gegeben und organisiert und dabei so gezielt wie möglich an die Bedürfnisse der Verbraucher angepasst werden können;

die Vielfalt der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die möglichen Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die sich aus den verschienen geografischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten ergeben können;

ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, die Gleichbehandlung, die Förderung des universellen Zugangs und die Nutzerrechte.

2.4.1   Einige Maßnahmen zur Bewältigung der Globalisierung, die von internationalen multilateralen Organisationen wie der WTO gefördert werden, könnten diese Position stärken, insbe-sondere über deren Schiedsgremien, die eine besonders wichtige Rolle spielen könnten.

2.5   Bei einem derartigen supranationalen Ansatz fiele es leichter, in der internationalen Gemeinschaft wirklich Einfluss zu nehmen und so die erforderlichen Instrumente zur Abwehr der Gefahren für das europäische Sozialmodell zu entwickeln, das das Bild eines für alle seine Bürger demokratischen, umweltfreundlichen, wettbewerbsfähigen, solidarischen, integrierenden und wohlfahrtsstaatlichen Europas zeichnen sollte (9).

2.6   Folglich lassen sich vor dem aktuellen internationalen Hintergrund verschiedene Pläne bzw. Konstellationen identifizieren, die von der EU eine differenzierte strategische Vorgehens-weise der EU erfordern, wie z. B.:

2.6.1   Die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter (Luft, Wasser, Wälder usw.), die auf Grundlage vager Solidaritätserklärungen, wie sie in der „Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ (Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution 3201 vom 2.5.1974) enthalten sind, soll, von der Europäischen Union ausgehend, die Schaffung eines supranationalen Rahmens fördern, der mit den internationalen Vereinbarungen und Beschlüssen in Einklang steht, die in diesem Zusammenhang getroffen werden können;

2.6.1.1   Die globalen öffentlichen Güter oder Dienstleistungen sind unerlässlich für das Wohlergehen des Einzelnen sowie das Gleichgewicht der Gesellschaften der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel. Die Bereitstellung dieser globalen öffentlichen Güter kann nicht von der nationalen Ebene oder vom Markt abhängen: für ihren Erhalt und ihre Produktion ist eine internationale Zusammenarbeit erforderlich.

2.6.2   Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung einiger gemeinschaftlicher Dienstleistungen zum Gemeinwohl der Unionsbürger, wie Galileo, für die hohe Investitionen in Form öffentlicher Gelder nötig sind;

2.6.3   Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten bei der Regulierung des Zugangs zu bestimmten Universaldiensten im Bereich der Kommunikation wie etwa dem Internet;

2.6.4   Festlegung der Funktionen der subnationalen (bundesstaatlichen, regionalen und lokalen) Einheiten, die derzeitig Sozialdienstleistungen erbringen, verwalten und regulieren, vor dem Hintergrund der künftigen Umsetzung internationaler Abkommen zur Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen in Bereichen, die zurzeit noch nicht liberalisiert sind oder zunächst von dieser Option ausgeschlossen sind;

2.6.5   Festlegung einer differenzierten politischen und rechtlichen Strategie in Bezug auf die künftige Situation der über Netze erbrachten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und der übrigen Dienstleistungen.

2.6.6   Bedauerlicherweise werden die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse derzeit auf den internationalen Foren nicht mit dem Ziel behandelt, um ihre Prinzipien und Werte aufrechtzuerhalten und zu verbreiten.

2.6.7   Seit Januar 2003 besitzen jedoch sechs internationale Organisationen (die Weltbank, die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD), die Welternäh-rungsorganisation (FAO), der IWF, die OECD und die UNO) Beobachterstatus bei der WTO, womit sie dem Prinzip einer im Entstehen begriffenen und künftig weiter auszubauenden globalen Governance Gestalt geben, in deren Rahmen die Regeln des internationalen Rechts gelten (multilaterale Umweltabkommen, internationale Arbeitsübereinkünfte, Menschen-rechte, Wirtschafts- und Sozialsektor). Da die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedoch fehlen, werden die Beschäftigungs- und Gesundheitsprobleme von der im Entstehen begriffenen globalen Governance ausgeklammert; die Union sollte sich diesbezüglich um Abhilfe bemühen.

3.   Der Rechtsbesitzstand im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, den die EU im Rahmen des GATS/WTO-Abkommens wahren muss

3.1   Im letzten Jahrzehnt haben die EU-Institutionen bei der Erarbeitung einer Definition eines Rechtsrahmes für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ständige Fortschritte erzielt, ohne jedoch einen kompletten gemeinsamen Rechtsrahmen in diesem Bereich zu erarbeiten (10).

3.2   Hier ist allerdings die Kohärenz der Haltung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu betonen, der in mehreren aufeinander folgenden Stellungnahmen (11) einen einhelligen und festen Standpunkt in Bezug auf die wesentlichen rechtlichen Aspekte der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vertreten hat, nämlich (12):

Wahrung der Grundsätze der Gleichheit, Allgemeingültigkeit, Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit, Qualität und Effizienz, Garantie der Nutzerrechte und wirtschaftlichen und sozialen Rentabilität;

Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse bestimmter Nutzergruppen wie Menschen mit Behinderungen, hilfebedürftige oder benachteiligte Personen usw.

3.3   Vor diesem Hintergrund unterstreicht der EWSA, dass die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse nicht bis in alle Einzelheiten definiert werden sollten, sondern vielmehr deren Gemeinwohlauftrag im Mittelpunkt stehen sollte, auch wenn die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse durch unterschiedliche Entscheidungen gekennzeichnet sind:

zwischen Markt und allgemeinem Interesse;

zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielen;

zwischen Nutzern (Einzelpersonen — auch aus benachteiligten Gruppen —, Unternehmen oder Kollektive), die nicht alle dieselben Bedürfnisse und Interessen haben;

zwischen den Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Integration der Gemeinschaft (13).

3.3.1   Sinn und Zweck der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (14) ihrerseits ist es, auf die verschiedensten Umstände schwieriger sozialer Situationen zu reagieren, die aufgrund von Krankheit, Alter, Arbeitsunfähigkeit, Behinderungen, prekären Lebensumständen, Armut, Ausgrenzung, Drogensucht, familiären Schwierigkeiten, Wohnraumproblemen sowie Schwie-rigkeiten bei der Integration von Ausländern entstehen.

3.3.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass unbeschadet der Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten u. a. Dienstleistungen im Bereich der allgemeinen Schulpflicht und der gesetzlichen Gesundheits- und Sozialsysteme sowie kulturelle Aktivitäten, karitative Tätigkeiten, Dienste sozialer Art oder auf Solidarität oder Spenden basierende Dienste sowie Dienste im audiovisuellen Bereich, der Wasserversorgung und der Abwasserbehandlung als Dienstleistungen von nationalem, regionalem oder kommunalem Interesse anzusehen sind (15).

3.4   Der EWSA hält es diesbezüglich für wesentlich, sich auf die spezifische Funktion der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die zur Erfüllung dieser Funktion erforderlichen Voraussetzungen (gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen) zu konzentrieren, die eindeutig festgelegt werden sollten.

3.5   Mit dem Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse des Lissabon-Vertrags wird eine Definition dieser Dienstleistungen eingeführt, die Auslegungsspielraum lässt und sich mit dem Standpunkt des EWSA deckt. Erstmals befasst sich das primäre EU-Recht speziell mit dieser Frage und wird aufgrund seines bindenden Charakters in eine solide Leitlinie für das institutionelle Handeln der EU, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten, münden.

3.6   Artikel 2 des Protokolls besagt: „Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.

3.6.1   Auch wenn in dem Protokoll implizit zwischen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wirtschaftlicher und nicht wirtschaftlicher Natur unterschieden wird, bleibt angesichts des Fehlens eines EU-Rechtsakts, der diese Dienstleistungen in Kategorien einteilt, und im Lichte der der Schlussakte der Regierungskonferenz von 2007 beigefügten Erklärung zur Abgren-zung der Zuständigkeiten sowie des Protokolls über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit, das dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beigefügt ist, die Position der Mitgliedstaaten in dieser Frage der wichtigste zu berücksichtigende Rechtsrahmen.

In diesem Zusammenhang wird es aufgrund der künftigen Auswirkungen auf die Aushandlung und den Abschluss von Liberalisierungsabkommen für den Handel mit in der EU regulierten Dienstleistungen sehr hilfreich sein, die von der Europäischen Kommission vorgenommenen Bewertungen der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten zu verfolgen.

3.6.2   Folglich hängt das Handeln der EU auf diesem Gebiet derzeit von zwei Bedingungen ab:

a)

bei der Erarbeitung und dem Erlass künftiger abgeleiteter Rechtsakte muss den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Definitionen, Kategorien und Kriterien für die Funktionsweise der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse Rechnung getragen werden;

b)

es werden internationale Übereinkommen ausgearbeitet, einschließlich solcher, die von Organisationen unterzeichnet werden, denen die EU und ihre Mitgliedstaaten angehören, und in Verhandlungsrunden oder auf internationalen Konferenzen werden gemeinsame Standpunkte vertreten, die mittels gemeinsamer Beratungen der Mitgliedstaaten und der EU erzielt werden und stets die wesentlichen Aspekte des Lissabon-Vertrags und der für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften widerspiegeln.

4.   Der Sonderfall von GATS und WTO

4.1   Die Welthandelsorganisation (WTO) ist die internationale Organisation, die sich auf der Basis eines multilateralen Systems mit den weltweiten Regeln für den Handel zwischen den verschiedenen Ländern befasst. Die Pfeiler, auf die sie sich stützt, sind die WTO-Abkommen, die von der großen Mehrheit der am Welthandel teilnehmenden Länder ausgehandelt und unterzeichnet worden sind (16).

4.2   Ihre Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Handelsströme möglichst reibungslos, kalkulierbar und frei fließen. Praktisch alle Entscheidungen werden von allen Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen getroffen und anschließend von ihren jeweiligen Parlamenten ratifiziert. Handelskonflikte werden im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens der WTO gelöst.

4.3   Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) stellt die wichtigste Gruppe von Grundsätzen und Normen dar, die auf multilateraler Ebene vereinbart wurden, um den internationalen Dienstleistungshandel zu regeln. Darin werden die Dienstleistungssektoren aufgeführt, die die WTO-Mitglieder bereit sind, für den externen Wettbe-werb zu öffnen, und es wird angegeben, wie weit diese Märkte geöffnet werden, darunter einige Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wie etwa die Finanzdienstleistungen, die elektronische Kommunikation, die Postdienstleistungen, die Verkehrs- und Energiedienstleistungen.

4.4   Der EWSA hat bereits die anderen EU-Institutionen aufgefordert (17), die Leitgrundsätze der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse auch in die Positionen der EU für die Handelsverhandlungen, insbesondere diejenigen im Rahmen der WTO und des GATS, einfließen zu lassen. Er hält es für nicht hinnehmbar, wenn die Europäische Union in den internationalen Handelsverhandlungen Verpflichtungen zur Liberalisierung bestimmter Branchen oder Tätigkeiten einginge, die nicht zuvor im Rahmen der Bestimmungen des Vertrags betreffend Dienstleistungen von allgemeinem Interesse beschlossen worden wären. Es muss die Möglichkeit der Mitgliedstaaten erhalten bleiben, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu regulieren, um die von der Union aufgestellten Ziele in den Bereichen Soziales und Entwicklung zu erreichen; dies macht es erforderlich, die nicht regulierten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aus den oben genannten Handelsverhandlungen auszuklammern.

4.5   Gemäß Artikel I Absatz 3 Buchstabe b) des GATS-Abkommens werden im Prinzip „Dienstleistungen[…], die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden“ von seinem Geltungs-bereich ausgenommen. Unter diesen Dienstleistungen ist laut Buchstabe c desselben Artikels Folgendes zu verstehen: „jede Art von Dienstleistung [in jedwedem Sektor], die weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern erbracht wird“.

4.5.1   Da sich das Abkommen streng genommen nicht auf „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ bezieht — abgesehen von einem sinngemäßen Wortgebrauch in Artikel XXVIII (18) Absatz ii Buchstabe c — besteht erhebliche Ungewissheit in Bezug auf die Festlegung einer einheitlichen Definition und die Schaffung eines internationalen Rahmens, der sich für die Regulierung der Funktionsweise der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse innerhalb der WTO eignet, wodurch einige Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt werden könnten.

4.5.2   In Anbetracht der Vielzahl an Maßnahmen der Regierungen (oder der öffentlichen Hand), für die das GATS-Abkommen aufgrund von Artikel I Absatz 1 (19) gelten würde, und der Haltung des Berufungsorgans, das bei allen nicht ausreichend begründeten Maßnahmen, die zu Verzerrungen des Handels mit Dienstleistungen führen könnten (20), ganz klar die Anwendung des Abkommens befürwortet, erweist es sich außerdem als erforderlich, unter Wahrung der gemeinsamen Prinzipien und Werte, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes sind, innerhalb der WTO für die EU einen einheitlichen und festen Standpunkt festzulegen.

4.5.3   Die einzige Ausnahme von dieser Regel bilden die Buchstaben a und b von Artikel II der Anlage des GATS-Abkommens zu Luftverkehrsdienstleistungen, in denen „bereits gewährte Verkehrsrechte, gleichviel auf welche Weise sie gewährt wurden“ oder „Dienstleistungen, die mit der Ausübung von Verkehrsrechten in unmittelbarem Zusammenhang stehen“ vom Geltungsbereich des Abkommens und den darin enthaltenen Streitbeilegungsverfahren ausgenommen werden.

4.6   Bei dieser Sachlage bieten sich u. a. folgende Möglichkeiten an, zu denen die WTO Stellung beziehen sollte:

4.6.1   Es ist in jedem Fall zweckmäßig, eine Vereinbarung mit den übrigen Vertragsparteien zu fördern, um den Begriff „in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachte Dienstleistung“ von Artikel I Absatz 3 des GATS-Abkommens näher zu bestimmen, damit die Bestimmungen von Buchstabe b dieses Artikels, in dem es allgemein um die Liberalisierung jeder Art von Dienstleistung in jedem Sektor geht, die Staaten nicht daran hindern, Ausnahmeregelungen zu treffen und die sozialen Dienstleistungen und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse von der Liberalisierung auszunehmen, ohne jedoch die aus dem GATS-Abkommen erwachsenden Pflichten in Bezug auf die Nichtbehinderung des Dienstleistungshandels zu verletzen.

4.6.2   Wahl eines anderen Blickwinkels, unter dem die Erbringung einer Dienstleistung bewertet und ggf. als Dienstleistung von allgemeinem Interesse eingestuft werden kann, die unter das GATS-Abkommen fällt, indem der Schwerpunkt auf die Dienstleistungsnutzer und nicht auf den Dienstleistungserbringer gelegt wird. Als Gründe dafür, die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom Geltungsbereich des GATS-Abkommens auszunehmen, können nur die Wahrung des allgemeinen Interesses auf gemeinschaftlicher oder einzelstaatlicher Ebene und der Verbraucherschutz gelten, denn in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob die Dienstleistung von einem öffentlichen oder privaten, in- oder ausländischen Dienstleistungserbringer erbracht wird.

4.6.3   Die Notwendigkeit, die gemeinschaftliche Definition öffentlicher Kreditinstitute und im Sinne des Gemeinwohls erbrachter Finanzdienstleistungen (z. B. Ruhestandsregelungen und gesetzliche Rentenversicherungssysteme) mit der Definition in Artikel I der Anlage des GATS-Abkommens zu Finanzdienstleistungen in Einklang zu bringen, demgemäß „sonstige Tätigkeiten, die von einer öffentlichen Stelle für Rechnung oder aufgrund Gewährleistung oder unter Einsatz der finanziellen Mittel der Regierung ausgeübt werden,“ als „in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachte Dienstleistungen“ gelten.

4.6.4   Die G20 (21) könnte im Hinblick auf die Entscheidungen, die die spezialisierten internationalen Organisationen (wie die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Welternährungsorganisation FAO, der IWF usw.) im Bereich der Finanzdienstleistungen und zur Wahrung der Grundsätze und Werte der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse treffen müssen, eine „Katalysatorrolle“ übernehmen.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Förderung eines breiten Zugangs zur Europäischen Digitalen Bibliothek für alle Bürger“, ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 46.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 119.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 135.

(4)  ABl. C 303 vom 14.12.2007 (gemäß der feierlichen Proklamation des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission von 2007).

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, Ziffer. 3.9.

(6)  Siehe: „Los objetivos de la Política Comercial Común a la luz del Tratado de Lisboa“ (zu Deutsch: „Die Ziele der gemeinsamen Handelspolitik im Licht des Lissabon-Vertrags“), Miguel Angel Cepillo Galvín, in der Sammlung: El Tratado de Lisboa: salida de la crisis constitucional (zu Deutsch: „Der Lissabon-Vertrag: ein Weg aus der Verfassungskrise“). Herausgeber: José Martín y Pérez de Nanclares, Ed. Iustel, 2008.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Arbeitsplatzqualität verbessern und die Arbeitsproduktivität steigern“, ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 87.

(8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 42.

(9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, ABl. C 309 vom 16.12.2006.

(10)  Siehe Entschließung des Europäischen Parlaments, A.6-0275/2006 vom 26.9.2006; Weißbuch der Europäischen Kommission, KOM(2004) 374 vom 12.5.2004; Mitteilung der Europäischen Kommission, KOM(2007) 725 vom 20.11.2007, usw.

(11)  Sondierungsstellungnahme des EWSA zum Thema „Leistungen der Daseinsvorsorge“, ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 119; Stellungnahme des EWSA zum Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 17; Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 135.

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, Ziffer 3.2.

(13)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, Ziffer 3.7.

(14)  Stellungnahme des EWSA zur „Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Gemeinschaftsprogramms von Lissabon — Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 80.

(15)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, Ziffer 10.3.

(16)  Mit dem Beschluss 94/800/EG vom 22. Dezember 1994, (ABl. L 336 vom 23.12.1994) hat der Rat die Rechtsakte verabschiedet, die aus den mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Marrakesch und der Errichtung der Welthandelsorganisation abgeschlossenen multilateralen Handelsverhandlungen der Uruguay-Runde hervorgegangen sind.

(17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006,

(18)  In dieser Bestimmung geht es um die „Begriffsbestimmung“, der zufolge der Begriff „den Handel mit Dienstleistungen betreffende Maßnahmen von Mitgliedern“„im Zusammenhang mit der Erbringung einer Dienstleistung den Zugang zu und die Nutzung von Dienstleistungen, die diese Mitglieder der Öffentlichkeit allgemein anbieten müssen,“umfasst.

(19)  In diesem Absatz heißt es: „Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf die Maßnahmen der Mitglieder, die den Handel mit Dienstleistungen beeinträchtigen“.

(20)  Siehe Rechtssache Vereinigte Staaten (Maßnahmen, die die grenzübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Glücksspiel- und Wettbereich beeinträchtigen), WT/DS/AB/R (AB-2005-1). Analyse in Moreira González, C. J. „Las cláusulas de Seguridad Nacional“ (Die Bestimmungen im Bereich der nationalen Sicherheit), Madrid 2007, S. 229 ff. Vgl. auch Rechtssache Europäische Gemeinschaften (System für die Einfuhr, den Verkauf und den Vertrieb von Bananen), WT/DS27/AB/R/197.

(21)  Der G20 gehören neben den G8-Staaten 11 Finanzminister und Gouverneure von Zentralbanken an, die insgesamt 85 % des weltweiten BIP repräsentieren, sowie die Europäische Union (vertreten durch das jeweils die Ratspräsidentschaft führende Land und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank).


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/39


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Flugsicherheit für Passagiere“

2009/C 100/07

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Flugsicherheit für Passagiere“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. September 2008 an. Berichterstatter war Herr McDONOGH.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21. — 23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 94 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt, zusätzlich zu den geltenden gemeinsamen Rechtsnormen für den gemeinschaftlichen Ansatz in Bezug auf die Sicherheit in der Zivilluftfahrt spezielle und möglichst einheitliche Normen für Sicherheitsdienste in der Luftfahrt zu schaffen.

1.2.   Nach Ansicht des Ausschusses sollten Anbieter ua. dann von Sicherheitsdienstleistungen in der Luftfahrt ausgeschlossen werden, wenn: sie sich im Insolvenz- oder Liquidationsverfahren befinden, ein Konkursverfahren gegen sie eingeleitet worden ist, sie wegen einer ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellenden, strafbaren Handlung verurteilt worden sind, sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, sie ihrer Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen oder Steuern nicht nachgekommen sind, sie bei der Erteilung der für die Ausschreibung erforderlichen Auskünfte falsche bzw. keine Erklärungen abgegeben haben oder nicht im einschlägigen Berufsregister eingetragen sind, obwohl die Rechtsvorschriften des betreffenden Landes dies vorschreiben. Darüber hinaus sollten Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen in der Luftfahrt über ein Einstellungsverfahren verfügen, eine angemessene Schulung der Mitarbeiter vorsehen und einen Nachweis einer Versicherung vorweisen können, die potenzielle Haftungsansprüche, die sich aus der Vertragsausführung ergeben können, übernimmt.

1.3.   Der EWSA empfiehlt die Einführung einer rechtlich verbindlichen Anzahl von Schulungsstunden sowie eines obligatorischen Schulungspakets für Sicherheitskräfte in allen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

1.4.   Nach Ansicht des Ausschusses sollten die Maßnahmen klar und präzise sein.

1.5   Der EWSA hält es für erforderlich, Fluggesellschaften, Flughäfen, und Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen über die Anwendung von Rechtsvorschriften zu Sicherheitsmaßnahmen ausdrücklich zu informieren und ihnen unter strengen Auflagen direkten Zugang zu diesen Vorschriften zu gewähren.

1.6.   Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Veröffentlichung nicht sensibler Teile der Durchführungsbestimmungen, die Sicherheitsmaßnahmen beinhalten, durch die den Fluggästen Pflichten auferlegt bzw. deren Rechte eingeschränkt werden, im Amtsblatt der Europäischen Union sowie eine alle sechs Monate stattfindende Überprüfung der Sicherheitsmaßnahmen wichtige Voraussetzungen für die gemeinschaftliche Rechtsordnung sind.

1.7.   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, im Luftfahrtbereich Maßnahmen für die Entschädigung von Opfern von Straftaten, wie etwa von Terroranschlägen, zu treffen.

1.8.   Es sollten Maßnahmen für eine stärkere Anerkennung der Berufe sowie zur Förderung der Karriereaussichten im Sicherheitssektor ergriffen werden.

1.9.   Durch Maßnahmen zur Umsetzung des Konzepts der einmaligen Sicherheitskontrolle in der gesamten EU sollten überflüssige Sicherheitskontrollen vermieden werden. Die Anerkennung von in Drittstaaten durchgeführten Sicherheitsmaßnahmen sollte gefördert werden.

1.10.   Im Rahmen der Maßnahmen sollte ein maßgeschneiderter, innovativer Ansatz entwickelt werden, der eine Differenzierung zwischen den Sicherheitsmaßnahmen für die Besatzung und für die Fluggäste ermöglicht, ohne die Sicherheit zu beeinträchtigen.

1.11.   Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Luftsicherheit Vorrang bei der Zuweisung von Forschungsmitteln im Sicherheitsbereich erhalten.

1.12.   Eine unabhängige Bewertung der Technologien und technischen Anforderungen durch die Europäische Kommission ist unerlässlich. Anhand dieser unabhängigen Bewertung sollten nach Auffassung des EWSA Normen für Technologien, die im Bereich der Luftfahrtsicherheit eingesetzt werden, aufgestellt und ein Zentralregister zugelassener Lieferanten eingerichtet werden.

1.13.   Der EWSA hält ein besser koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen für erforderlich. Darüber hinaus sollten strengere, auf Ebene der Mitgliedstaaten ergriffene Maßnahmen, die Pflichten für die Fluggäste einführen und/oder ihre Rechte beschneiden, auf einer Risikobewertung basieren, die Menschenwürde achten, alle sechs Monate überprüft und den Reisenden ausdrücklich mitgeteilt werden.

2.   Einleitung

2.1.   Nach den tragischen Ereignissen des 11. Septembers 2001 wurde eine Rahmenverordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Luftsicherheit in der Zivilluftfahrt (1) angenommen. In dieser Verordnung sind die wesentlichen Bestimmungen und gemeinsamen Normen für den gemeinschaftlichen Ansatz im Bereich der Luftsicherheit in der Zivilluftfahrt festgelegt. Zwar werden durch die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften grundlegende gemeinsame Normen festgelegt, doch haben die Mitgliedstaaten (oder einzelne Flughäfen) auch die Möglichkeit, aufgrund des unterschiedlich hohen Risikos eines Terroranschlags für den jeweiligen Mitgliedstaat, Flughafen oder eine Fluggesellschaft, strengere Normen festzulegen.

2.2.   Im Jahr 2005 begann die Europäische Kommission mit der Überarbeitung dieser Rahmenverordnung im Bereich der Luftsicherheit (2). Schließlich wurde am 11. Januar 2008 ein Konsens zwischen den Mitgliedern des Europäischen Parlaments und dem Rat der Europäischen Union erzielt, der am 11. März 2008 zur Annahme der neuen Rahmenverordnung Nr. 300/2008 (3) führte. Durch diese Überarbeitung sollten die rechtlichen Anforderungen klarer gefasst, vereinfacht und weiter harmonisiert werden, um so die Sicherheit in der Zivilluftfahrt insgesamt zu verbessern.

2.3.   Die durch die Überarbeitung der Rahmenverordnung hervorgerufene Dynamik sollte genutzt werden, da sie eine grundlegende Änderung der Rechtsvorschriften für den Bereich der Luftsicherheit mit sich bringt. Eine gemeinsame Verkehrspolitik war eine der ersten gemeinsamen Politiken der Europäischen Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang ist der Luftverkehr für den freien Personen- und Warenverkehr — zwei Ziele der Europäischen Gemeinschaft — von wesentlicher Bedeutung. Die Freiheit der Bürger eines Mitgliedstaats, frei in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen, setzt voraus, dass diese Personen vor Gefahren geschützt werden. Darüber hinaus hätten Störungen im Luftverkehrssystem (zum Beispiel durch einen Terroranschlag) negative Auswirkungen auf die gesamte europäische Wirtschaft. Deshalb liegt es auf der Hand, dass die Sicherheit ein Schlüsselelement für den Erfolg des Luftverkehrs bleiben sollte.

2.4.   Trotz der vielen Initiativen im Bereich der Luftsicherheit bleiben im derzeitigen Rechtsrahmen für diesen Bereich einige grundlegende Anliegen von Fluggästen, Fluggesellschaften, Flughäfen und privaten Sicherheitsdiensten unberücksichtigt. Im Luftverkehrssektor sind klarere, umfassende und harmonisierte Maßnahmen erforderlich. Das übergreifende Ziel der Luftsicherheitspolitik sollte deshalb darin bestehen, einen eindeutigen, effizienten und transparenten Rechtsrahmen zu schaffen und die Sicherheit „menschlich“ zu gestalten.

3.   Notwendigkeit der Zertifizierung von Anbietern privater Sicherheitsdienste

3.1.   Da die Luftsicherheit für das Funktionieren des Luftverkehrssystems von grundlegender Bedeutung ist, ist es erforderlich, zusätzlich zu den geltenden gemeinsamen rechtlichen Normen im Rahmen des gemeinschaftlichen Ansatzes für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt spezielle Rechtsvorschriften für Flugsicherheitsdienste zu erlassen. In der Praxis wird zur Auswahl von Anbietern privater Sicherheitsdienste trotz der Sensibilität ihrer Aufgabe oftmals der niedrigste Preis als einziges Kriterium herangezogen. Neue verbindliche Rechtsvorschriften, die solche spezifischen Normen umfassen, sollten auf der Grundlage von Qualitätskriterien zur Orientierung bei der Auswahl von Sicherheitsdiensten im Luftfahrtbereich dienen.

3.2.   Die Auswahl- und Vergabekriterien für Anbieter von Sicherheitsdiensten sollten unter anderem deren finanzielle und wirtschaftliche Kapazitäten sowie ihre finanzielle Transparenz und technische Leistungsfähigkeit berücksichtigen, da hierdurch die Qualität der Dienstleistungen gesteigert wird.

3.3.   Die Europäische Agentur für Flugsicherheit hat kürzlich über eine Qualitätscharta und deren Anhang zur Ausbildung privater Sicherheitskräfte eine Selbstregulierungsinitiative eingeleitet. Die in diesem Dokument enthaltenen Grundsätze könnten als Grundlage für die Zertifizierung aller privaten Flugsicherheitsunternehmen herangezogen werden und veranschaulichen das Engagement der Industrie für qualitativ hochwertige Lösungen.

3.4.   Der EWSA empfiehlt die Aufstellung rechtlich verbindlicher Qualitätskriterien für Anbieter privater Luftsicherheitsdienste. Dienstleister könnten ua. dann von Sicherheitsdienstleistungen in der Luftfahrt ausgeschlossen werden, wenn: sie sich im Insolvenz- oder Liquidationsverfahren befinden, ein Konkursverfahren gegen sie eingeleitet worden ist, sie wegen einer ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellenden, strafbaren Handlung verurteilt worden sind, sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, sie ihrer Pflicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen oder Steuern nicht nachgekommen sind, sie bei der Erteilung der für die Ausschreibung erforderlichen Auskünfte falsche bzw. keine Erklärungen abgegeben haben oder nicht im einschlägigen Berufsregister eingetragen sind, obwohl die Rechtsvorschriften des betreffenden Landes dies vorschreiben. Darüber hinaus sollten Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen in der Luftfahrt über ein Einstellungsverfahren verfügen, eine angemessene Schulung der Mitarbeiter vorsehen, und sie sollten einen Nachweis einer Versicherung vorweisen können, die potenzielle Haftungsansprüche, die sich aus der Vertragsausführung ergeben können, übernimmt.

3.5.   Daneben schlägt der EWSA vor, eine rechtlich verbindliche Anzahl von Schulungsstunden sowie ein obligatorisches Schulungspaket für Sicherheitskräfte in allen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzuführen.

4.   Anerkennung der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Sicherheitskräften

4.1.   Vor ihrer Einstellung sollten Sicherheitskräfte gemäß der geltenden und künftigen Rahmenverordnung über die Sicherheit in der Zivilluftfahrt eine spezielle Schulung durchlaufen und einer Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass künftige Sicherheitskräfte weder in Verbindung zu potenziellen terroristischen oder kriminellen Vereinigungen stehen noch vorbestraft sind, da ihre Arbeit ein Schlüsselelement für das Sicherheitssystem der Luftfahrt ist.

4.2.   Derzeit werden Zuverlässigkeitsüberprüfungen von nationalen Behörden, in der Regel vom Justiz- oder Innenministerium, nur im Rahmen ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs durchgeführt. Folglich wird diese Einstellungsvoraussetzung von den meisten Mitgliedstaaten nicht gegenseitig anerkannt. Dieses Thema ist insbesondere mit Blick auf die Mobilität der Arbeitnehmer, eine der im EWG-Vertrag festgelegten Grundfreiheiten, von Bedeutung.

4.3.   Der EWSA fordert den Rat der Europäschen Union und die Europäische Kommission auf, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in der EU über dieses Thema nachzudenken.

5.   Einmalige Sicherheitskontrolle

5.1.   Das mit der Übertragung von Zuständigkeiten im Bereich der Luftfahrtsicherheit an die Europäische Union verfolgte Ziel war im Wesentlichen der Wunsch, einen gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen zu schaffen, der in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich zur Anwendung kommen sollte. Da alle auf EU-Ebene entwickelten Rechtsvorschriften von allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollen, wäre die gegenseitige Anerkennung der EU-Sicherheitsstandards unter den Mitgliedstaaten die logische Konsequenz, was mit dem Konzept der einmaligen Sicherheitskontrolle letztlich gemeint ist. Die Fluggäste, das Gepäck und die Fracht, die von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen reisen, sollten als sicher angesehen werden und somit keine zusätzlichen Sicherheitskontrollen am europäischen Umsteigeflughafen vor dem Zielort durchlaufen müssen.

5.2.   Das Konzept der einmaligen Sicherheitskontrolle wurde auf EU-Ebene anerkannt und wird in der neuen Rahmenverordnung zur Sicherheit in der Zivilluftfahrt weiter gestärkt. Jedoch ist die gegenseitige Anerkennung der Sicherheitsstandards der einzelnen EU-Mitgliedstaaten bisher noch nicht völlig erreicht worden. Da das Ausmaß der Bedrohung nicht in allen Mitgliedstaaten gleich hoch war, haben manche Mitgliedstaaten strengere Sicherheitsmaßnahmen als andere ergriffen, um der speziellen Bedrohung, der sie ausgesetzt sind, begegnen zu können.

5.3.   Da die Sicherheitsstandards nicht EU-weit anerkannt werden, werden viele überflüssige Kontrollen durchgeführt, die nicht nur zu zusätzlichen Verspätungen und Kosten für die Fluggesellschaften führen, sondern auch Ressourcen in Anspruch nehmen, die besser für den Schutz gefährdeterer Bereiche eingesetzt werden könnten.

5.4.   Dieses Prinzip der einmaligen Sicherheitskontrolle, das EU-weit eingeführt werden sollte, sollte ebenfalls mit Blick auf andere Länder in Betracht gezogen werden. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Flugzeuge aus Ländern mit umfassenden Flugsicherheitsvorschriften, wie den Vereinigten Staaten oder Israel, als „unsicher“ angesehen werden sollten. Die gegenseitige Anerkennung von Sicherheitsstandards sollte auch mit „gleichgesinnten“ Drittstaaten möglich sein. Dies wiederum würde zur Schaffung eines ausgewogenen globalen Sicherheitssystems beitragen, in dem alle Bemühungen auf die wahre Bedrohung ausgerichtet sind.

5.5.   Daher fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, dafür zu sorgen, dass das Prinzip der einmaligen Sicherheitskontrolle in der EU ordnungsgemäß umgesetzt und jedes Flugzeug, das von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen fliegt, als „sicher“ angesehen wird. Die Europäische Kommission wird des Weiteren nachdrücklich ersucht, bei der Anerkennung der Sicherheitsstandards von Drittstaaten, deren Standards in etwa denen der EU entsprechen — insbesondere mit Blick auf die Vereinigten Staaten — rasche Fortschritte zu erzielen.

6.   Differenzierung

6.1.   In Anbetracht des erwarteten erheblichen Anstiegs der Fluggastzahlen in den kommenden Jahren stellen die derzeitigen Sicherheitskontrollen von Fluggästen und Gepäck kein nachhaltiges Modell dar. Derzeit werden alle Fluggäste auf ähnliche Weise durchsucht und denselben Sicherheitskontrollen unterzogen. Dieser beschwerliche Prozess ist der Hauptbeschwerdegrund von Fluggästen, wenn diese um eine Bewertung ihrer Reiseerfahrung gebeten werden. Ihre Unzufriedenheit wird durch das Wissen um die Tatsache verstärkt, dass von einem Großteil der Reisenden keinerlei Gefahr für den Flughafen oder das Flugzeug ausgeht.

6.2.   Wie bereits erwähnt, sind die für die Sicherheit in der Luftfahrt verfügbaren Ressourcen äußerst knapp bemessen. Zunächst sollte unterschieden werden zwischen dem, was möglich und dem, was wahrscheinlich ist. Die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems sollte auf der Fähigkeit beruhen, wahrscheinlichen Bedrohungen zu begegnen, anstatt zu versuchen, die Gesamtheit aller möglichen Risiken abzudecken. Die Ermittlung einer wahrscheinlichen Bedrohung sollte auf der Grundlage einer Einschätzung dieser Bedrohung sowie auf der Grundlage einer Bewertung des Risikos erfolgen, das durch das Ergreifen geeigneter Maßnahmen eingegangen wird.

6.3.   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, über ein Vorgehen nachzudenken, bei dem die systematischen Sicherheitskontrollen von Fluggästen durch eine proaktive Differenzierung der Fluggäste ersetzt würde, wobei die Informationserfassung mit der Durchführung von Stichproben als Abschreckungsmaßnahme kombiniert würde.

7.   Mittelzuweisung für Forschung und Entwicklung im Bereich der Sicherheit

7.1.   Der EWSA begrüßt, dass im Siebten Forschungsrahmenprogramm Mittel in Höhe von 1,2 Mrd. EUR für die Sicherheitsforschung vorgesehen sind. Die Sicherheit in der Luftfahrt sollte aufgrund der steigenden Kosten für den Luftfahrtsektor und aufgrund ihres Einflusses auf die Gesellschaft im Allgemeinen bei der Mittelvergabe Vorrang erhalten. Darüber hinaus müssen die ausgewählten Projekte unbedingt mit der Politik, die derzeit ausgestaltet wird, in Einklang stehen, und es müssen Mittel für die diesbezüglich erforderliche Forschung bereitgestellt werden, wie z B. für die Forschung an Technologien zur Erkennung von Flüssigsprengstoffen oder an anderen Detektionstechnologien, wie etwa der Einsatz biometrischer Daten.

7.2.   Daher fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, ihre Arbeit intern zu koordinieren, damit die aus Steuergeldern finanzierten Ressourcen möglichst optimal eingesetzt werden.

7.3.   Des Weiteren empfiehlt der EWSA die Bereitstellung von Mitteln für eine unabhängige Bewertung der Technologien und technischen Anforderungen durch die Europäische Kommission. Anhand dieser unabhängigen Bewertung sollten Normen für Technologien, die im Bereich der Luftfahrtsicherheit eingesetzt werden, aufgestellt und ein Zentralregister zugelassener Lieferanten eingerichtet werden.

8.   Schwierigkeiten bezüglich der Einstellung und Beschäftigung von Sicherheitskräften

8.1.   In einigen Mitgliedstaaten stoßen Flughäfen oder Anbieter von Sicherheitsdiensten bei der Einstellung von Sicherheitskräften auf große Schwierigkeiten. Die Auswahlkriterien wurden aufgrund der wichtigen Rolle dieser Sicherheitsbediensteten selbstverständlich verschärft. So schränken die Voraussetzungen einer „einwandfreien“ Vergangenheit, der Beherrschung einer oder mehrerer Fremdsprachen und eines gewissen Bildungsniveaus, um die Verfahrensweisen verstehen und mit schwierigen Fluggästen umgehen zu können, die Zahl möglicher Bewerber stark ein.

8.2.   Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass es äußerst schwierig ist, die Mitarbeiter zu halten, nachdem sie eingestellt und ordnungsgemäß eingearbeitet wurden. Denn die für die Arbeitszeit erforderliche Flexibilität sowie der ständige Druck und die relativ geringe Vergütung machen den Beruf des Sicherheitsbediensteten für viele unattraktiv. Darüber hinaus versteht sich von selbst, dass der Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung und die fehlenden Karriereaussichten zu einem Verlust an Fachkräften in diesem Sektor führen.

8.3.   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Europäische Kommission in diesem sozialen Bereich eine wichtige Rolle spielen kann, indem sie die Vorteile des Berufs des Sicherheitsbediensteten hervorhebt und konkret eine Aufwertung dieser wichtigen Arbeitsplätze in der gesamten Europäischen Union fördert.

9.   Verantwortlichkeiten

9.1.   Die Luftfahrtindustrie investiert in die Erbringung qualitativ hochwertiger Dienstleistungen, stößt jedoch auf Hindernisse, die eine klare Sicht auf die gesetzlichen Erfordernisse verhindern und somit eine qualitativ hochwertige Umsetzung beeinträchtigen.

9.2.   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Maßnahmen klar und so einfach wie praktisch möglich formuliert werden sollten. Das derzeitige Regelwerk besteht häufig aus einer ganzen Reihe von Vorschriften, die über verschiedene Rechtstexte verteilt sind und zahlreiche Ausnahmen enthalten. Das Ergebnis ist eine komplexe Palette von Anforderungen, die keineswegs zur Effizienz beitragen und den Stress für die Mitarbeiter sowie Verspätungen und Unannehmlichkeiten für die Reisenden erhöhen.

9.3.   Darüber hinaus haben die „Endnutzer“ von Sicherheitsmaßnahmen, dh. Fluggesellschaften, Flughäfen und Anbieter von Sicherheitsdiensten, die diese Maßnahmen praktisch anwenden, keinen direkten Zugang zu diesen Vorschriften. Von wichtigen Dienstleistern, wie etwa den Fluggesellschaften, Flughäfen und Anbietern von Sicherheitsdiensten, wird zwar erwartet, dass sie die Vorschriften ordnungsgemäß befolgen, sie werden aber nicht direkt über diese Vorschriften informiert. Artikel 254 EG-Vertrag sieht jedoch vor, dass alle Verordnungen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden müssen, und es ist absurd zu erwarten, dass die Dienstleister Vorschriften durchsetzen, die sie eigentlich gar nicht kennen dürften. In ihrem Schlussantrag zu der anhängigen Rechtssache C-345/06, auch bekannt als „Rechtssache HEINRICH“, schlägt Generalanwältin SHARPSTON vor, die Durchführungsverordnung über die Sicherheit in der Luftfahrt für inexistent zu erklären. Der Generalanwältin zufolge ist die beharrliche und absichtliche Nichtveröffentlichung des Anhangs zu der Verordnung Nr. 2320/2002, der u. a. die Liste der im Handgepäck verbotenen Gegenstände enthält, ein so schwerer Fehler, dass sie von der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht geduldet werden kann (4).

9.4.   Daher empfiehlt der EWSA, Fluggesellschaften, Flughäfen und Anbietern von Sicherheitsdiensten, die die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen durchsetzen müssen, klare und direkte Informationen über diese Maßnahmen zukommen zu lassen und ihnen unter strengen Auflagen direkten Zugang zu diesen Vorschriften zu ermöglichen. Der Umstand, dass private Anbieter von Sicherheitsdiensten Sicherheitsmaßnahmen durchsetzen sollen und in gewissem Maße für deren Umsetzung verantwortlich sind, obwohl sie nicht direkt über diese Vorschriften in Kenntnis gesetzt werden, trägt nicht unbedingt zur Qualität der Dienstleistungen bei. Da diese Vorschriften jedoch streng vertraulich sind, müssen bestimmte Bedingungen zur Gewährleistung der Vertraulichkeit festgelegt und durchgesetzt werden. Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, die nicht sensiblen Teile der Durchführungsbestimmungen der Verordnung Nr. 2320/2002, durch die den Fluggästen bestimmte Pflichten auferlegt bzw. deren Rechte eingeschränkt werden, wie in Artikel 254 des EG-Vertrags gefordert, im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen und die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen alle sechs Monate zu überprüfen. Der EWSA erkennt die Notwendigkeit an, die Mitgliedstaaten dazu zu ermächtigen, angesichts des unterschiedlich hohen Risikos gegebenenfalls strengere Maßnahmen zu ergreifen. Nichtsdestotrotz hält der EWSA ein besser koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen für erforderlich. Darüber hinaus sollten strengere, auf Ebene der Mitgliedstaaten ergriffene Maßnahmen, die Pflichten für die Fluggäste einführen und/oder ihre Rechte beschneiden, auf einer Risikobewertung basieren, die Menschenwürde achten, alle sechs Monate überprüft und den Reisenden ausdrücklich mitgeteilt werden.

10.   Folgen eines Terroranschlags

10.1.   Ein Ziel der Europäischen Union ist der freie Personen- und Warenverkehr. Darüber hinaus hat sich die EU dazu verpflichtet, eine gemeinsame Verkehrspolitik zu schaffen und die Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Leben und das Eigentumsrecht, zu schützen.

10.2.   In der Rechtssache COWAN (5) urteilte der Europäische Gerichtshof, das wenn das Gemeinschaftsrecht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit ist, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Der Rat der Europäischen Union fügte in der Richtlinie 2004/80/EG des Rates hinzu, dass zur Verwirklichung dieses Ziels unter anderem Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern. Diese Grundsätze sollten auf Opfer von Terroranschlägen im Bereich der Zivilluftfahrt angewandt werden.

10.3.   Auf seiner Tagung am 15./16. Oktober 1999 in Tampere forderte der Rat der Europäischen Union die Einführung von Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen, insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten.

10.4.   In Anbetracht der Tatsache, dass Fluggesellschaften, Flughäfen und die Sicherheitsindustrie über die Forschung in qualitativ hochwertige Dienstleistungen investieren und somit zur Sicherheit der Gesellschaft beitragen, sie letztlich jedoch nicht in der Lage sind, Terroranschläge völlig zu verhindern, muss sich die Europäische Union um Hilfe für Opfer von Terroranschlägen bemühen.

10.5.   Derzeit gibt es keine europäischen Rechtsvorschriften für die Entschädigung von Terroropfern. Die Opfer sind vom Ausgang der Gerichtsverfahren und freiwilligen Leistungen der Mitgliedstaaten abhängig. Eine Folge der fehlenden gemeinsamen europäischen Rechtsvorschriften ist, dass nationale Haftungsregelungen zur Anwendung kommen würden, was nicht zufriedenstellend ist und die Bürger nicht vor den weit reichenden Folgen eines Terroranschlags schützt. Ein Beispiel dafür wäre, dass Opfer, die eine Entschädigung verlangen, langwierige Gerichtsverfahren gegen Terroristen führen müssten, die oftmals nicht leicht gefasst werden können oder evtl. nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen, um den Opfern eine Entschädigung zu zahlen. Darüber hinaus könnten verschiedene Akteure, wie Fluggesellschaften, Flughäfen und private Anbieter von Sicherheitsdiensten, verklagt werden, da sie auf der Grundlage nationaler Haftungsregelungen uneingeschränkt haftbar gemacht werden können. Die bestehenden Versicherungslösungen sind nicht ausreichend, da Fluggesellschaften, Flughäfen und privaten Anbietern von Sicherheitsdiensten hohe Versicherungsprämien für einen nur begrenzten Versicherungsschutz aufgebürdet werden. Diese privaten Akteure sind eindeutig weder in der Lage, die erforderlichen Entschädigungen an die Opfer zu zahlen, noch ist es wünschenswert, dass private Akteure für die Folgen von Anschlägen aufkommen müssen, die gegen die nationale Politik gerichtet sind.

10.6.   Der EWSA möchte auf Artikel 308 des EG-Vertrags hinweisen, der die Gemeinschaft zum Tätigwerden ermächtigt, sofern zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss das Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich sein, um eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und zweitens dürfen in keiner anderen Bestimmung des EG-Vertrags die hierfür erforderlichen Befugnisse vorgesehen sein.

10.7.   Vor diesem Hintergrund schlägt der EWSA als mögliche Lösung vor, im Hinblick auf die Entschädigung von Terroropfern auf der Grundlage von Artikel 308 des EG-Vertrags tätig zu werden. Denn das Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft ist erforderlich, um das Ziel des freien Personen- und Warenverkehrs zu verwirklichen und um das Funktionieren des Luftverkehrssystems sowie das Recht auf Leben und das Eigentumsrecht der Bürger zu schützen.

10.8.   In dieser Stellungnahme schlägt der EWSA der Europäischen Kommission und dem Rat der Europäischen Union vor, Grundsätze anzuwenden, die bereits in anderen Bereichen zur Anwendung kommen (z.B. in der Kernindustrie und der Seeschifffahrt). Konkret bedeutet dies eine verschuldensunabhängige, beschränkte Haftung, die sich exklusiv auf einen Akteur bezieht und auf einer dreigliedrigen Haftungsregelung beruht, d.h. dass sie durch eine Versicherung, einen von allen beteiligten Akteuren finanzierten Fonds und einen staatlichen Beitrag gedeckt wird.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt, ABl. L 355 vom 30.12.2002, S. 1.

(2)  KOM(2003) 566, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Luftsicherheit in der Zivilluftfahrt, ABl. C/2004/96.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 300/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2320/2002, ABl. L 97 vom 9.4.2008, S. 72.

(4)  Schlussantrag von Generalanwältin Eleanor Sharpston in der Rechtssache C-345/06, 10. April 2008, www.curia.europa.eu

(5)  EuGH, Ian William Cowan gegen Trésor public, Rs. 186/87, www.curia.europa.eu


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/44


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die EU und das weltweite Nahrungsmittelproblem“

2009/C 100/08

Mit Schreiben vom 25. Oktober 2007 an den EWSA-Präsidenten DIMITRIADIS ersuchte der französische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zu dem Thema:

„Die EU und das weltweite Nahrungsmittelproblem“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr KALLIO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 73 gegen 11 Stimmen bei 27 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die EU die langfristige Ausrichtung der Landwirtschafts- und Handelspolitik prüfen und der Frage nachgehen sollte, ob die Nahrungsmit-telversorgung unter den veränderten Gegebenheiten in der EU und auf der globalen Ebene als gesichert betrachtet werden kann.

1.2   Die EU muss die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln zum zentralen Thema ihrer Landwirtschaftspolitik machen, die eine rentable Erzeugung in allen Gebieten der EU gestatten sollte. Dies muss im Kontext des GAP-Gesundheitschecks erfolgen.

1.3   Die Nahrungsmittelerzeugung muss Vorrang vor der Energieerzeugung haben. Bei der Energieerzeugung aus Pflanzenmaterial sollten solche Pflanzen oder Biomasse bevorzugt werden, die normalerweise nicht für die Nahrungsmittelerzeugung in Frage kommen.

1.4   Erzeugerpreise in angemessener Höhe sind eine stabile Grundlage für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung (Primärerzeugung und Verarbeitung) sowohl in der EU als auch welt-weit.

1.5   Im Handel mit Landwirtschaftserzeugnissen ist auf ein Regelwerk hinzuarbeiten, das die Nahrungsmittelversorgung in allen Ländern und unter allen Umständen gewährleistet. Den Entwicklungsländern sind Vorzüge einzuräumen, die die Stärkung der nationalen Erzeugung unterstützen.

1.6   Die EU muss mit den Entwicklungsländern stärker zusammenarbeiten und diese stärker unterstützen, sodass sie ihre Nahrungsmittelketten modernisieren und leistungsfähiger gestalten können.

1.7   Der EWSA betont, dass die EU Anstrengungen unternehmen muss, um die Arbeit von Erzeugervereinigungen und Marktorganisationen in den Entwicklungsländern zu stärken und auf diese Weise die Grundvoraussetzungen für die Nahrungsmittelversorgung zu verbessern. Die EU muss zu dem Vorschlag stehen, die Bauern in den Entwicklungsländern mit Hilfen im Gesamtwert von einer Milliarde Euro zu unterstützen.

1.8   Die EU muss ihre Förderanstrengungen im Bereich der neuen Technologien einschließlich der Biotechnologie erhöhen, damit ihre Anwendungen zum praktischen Einsatz gelangen können.

1.9   Die künftige Strategie muss auf eine Verbesserung der Qualität von Nahrungsmittelerzeugnissen ausgerichtet sein, und die Lebensmittelsicherheit muss durch eine transparente Herkunftslandbezeichnung und die Aufklärung der Verbraucher erhöht werden.

1.10   Die Verbraucherpreise für Nahrungsmittel dürfen nicht künstlich gesenkt werden, sondern die Preiskompensation sollte durch die Sozialpolitik erfolgen.

1.11   Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen sollten die Erzeugung von Nahrungsmitteln als Ausgangspunkt der Armutsbekämpfung zur ersten Priorität machen.

1.12   Zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung sollte nach dem Vorbild des in der EU aufgebauten Systems der Ölbevorratung ein globales Programm zur verpflichtenden Lagerhaltung ins Leben gerufen werden.

1.13   Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit in der EU muss ein besseres Lagerhaltungssystem für die wichtigsten Erzeugnisse und Einsatzgüter (Protein, Düngemittel, Saatgut, Pflanzenschutzmittel) geschaffen und müssen aktive Maßnahmen ergriffen werden, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, der EU und den am Handel Beteiligten zu verbessern.

1.14   Zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit muss der Ausbildungsstand in diesem Bereich sowohl in der EU, aber auch insbesondere in den Entwicklungsländern angehoben werden, um auf die neuen Herausforderungen durch die Nahrungsmittelkrisen zu reagieren.

1.15   Der EWSA hält es für sinnvoll, dass die EU Joint Ventures im Bereich der Landwirtschaft und der Fischerei in den Entwicklungsländern gründet, um die wirtschaftlichen Bedingungen in diesen Ländern zu verbessern.

1.16   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, Vorschläge vorzulegen, nach denen die Mitgliedstaaten mehr Mittel für Forschung, Entwicklung und Innovation im Fischereisektor aufwenden sollen, insbesondere für den Bau und den Unterhalt von Meeresforschungsschiffen. Deren Forschungen und Arbeiten tragen zur Erhaltung und Entwicklung einer nach-haltigen Fischerei ebenso bei wie zur Ernährung und zu den sozioökonomischen Bedingungen der am wenigsten entwickelten Länder.

2.   Einleitung

2.1   Die Gesundheit der europäischen Bürger und ihre Sorge um die Zukunft, der jüngste starke Preisanstieg für landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel und das drängende Thema des Hungers in der Welt im Allgemeinen machen das weltweite Nahrungsmittelproblem zu einem Schwerpunkt der öffentlichen Debatte. Die Preise für Ausgangserzeugnisse im Agrarprodukte- und Lebensmittelsektor sind seit den 70er Jahren stetig gefallen. Der Aufwärtstrend der letzten drei Jahre ist eine Entwicklung in die richtige Richtung, die dem schwächsten Glied der Kette, den Verbrauchern, Probleme bereitet. Sie müssen Preise für Grundnahrungsmittel hinnehmen, die in manchen Fällen erheblich über dem Erzeugerpreis liegen, den der Landwirt erhält. Einem Teil der europäischen Landwirtschaft nützen die höheren Preise zwar, doch ist auf die kritische Situation der europäischen Viehwirtschaft hinzuweisen, die den Anstieg der Futtermittelpreise nicht auffangen und ihre höheren Kosten auch nicht an die Verbraucher weitergeben kann. In diesem Stellungnahmeentwurf werden Probleme der Nahrungsmittelversorgung aus der EU-Perspektive heraus beleuchtet und zugleich die gesellschaftlichen Auswirkungen der EU-Maßnahmen im weiteren Sinne untersucht (1).

2.2   Im Mittelpunkt stehen dabei die Nahrungsmittelversorgung und die Versorgungssicherheit. Die weltweiten Nahrungsmittelprobleme sollen ermittelt und Vorschläge für eine geeignete Reaktion unterbreitet werden. In der Tat haben die starken Marktveränderungen radikale Kommentare ausgelöst: Von mancher Seite wurde sogar vorgeschlagen, Landwirtschafts- und Ernährungsfragen aus den WTO-Verhandlungen herauszulösen und auf EU-Ebene zu produktionsgebundenen Beihilfen zurückzukehren. Schließlich werden die Auswirkungen dieser Herausforderungen untersucht sowie mögliche Antworten auf die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen gegeben: Was bedeuten sie für die Verbraucher in Europa? Was bedeuten sie für die langfristige Lebensmittelversorgung in den Entwicklungsländern? Inwiefern tragen sie zur Dynamik der ländlichen Gebiete bei?

2.3   Am Anfang steht ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der landwirtschaftlichen Erzeugung und Lebensmittelproduktion in der EU und die europäische Politik in diesem Bereich, und die Grundzüge des derzeitigen EU-Rahmens für die landwirtschaftliche Erzeugung und Lebensmittelherstellung werden erläutert. Anschließend wird auf die wichtigen externen Kräfte eingegangen, die den Wandel antreiben und eine Weiterentwicklung des bestehenden Rahmens erforderlich machen. Auf der Grundlage dieser Analyse wird eine Zusammenfassung erarbeitet, in der die wichtigsten künftigen Herausforderungen für die Landwirtschaft und die Lebensmittelversorgung der EU und alternative Handlungsansätze aufgezeigt werden. Schließlich werden diese Ansätze und die Rolle der EU als Hersteller und als Verbraucher bei der weltweiten Lebensmittelversorgung dargelegt.

3.   Die Agrar- und Lebensmittelpolitik der EU und die Trends in diesem Bereich

3.1   Die agrar- und lebensmittelpolitischen Ziele der EWG/EU, Wachstum und Wandel im Sektor und auf den Märkten

3.1.1   Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Erzeugung und Lebensmittelherstellung in der EU verlief im Laufe der Jahrzehnte im Einklang mit anderen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung. Zunächst lag der Schwerpunkt auf der Produktionssteigerung. Infolge dessen gab es in den 80er Jahren erhebliche Exportüberschüsse. In jenem Jahrzehnt traten ökolo-gi-sche Probleme in der Landwirtschaft zu Tage, wie beispielsweise die Ausbringung von Düngemitteln in Gebieten mit intensiver Landwirtschaft oder Wasserversorgungsprobleme.

3.1.2   Der ökologische Landbau war die Antwort auf die beträchtlichen Anbau- und Umweltprobleme und ist ein Beispiel für Produktdifferenzierung: Bestimmte Verbrauchergruppen sind bereit, für Lebensmittel mehr zu zahlen, die nach Methoden hergestellt werden, die als umweltfreundlich gelten. Die 90er Jahre bleiben als das Jahrzehnt der Tierseuchen und Zoonosen in Erinnerung. Damals hatten die Nutztierhalter und die Lebensmittelindustrie der EU mit Rinderwahn und Schweinepest zu kämpfen. Die Lebensmittelsicherheit wurde zu einem wichtigen Faktor der Lebensmittelversorgung, und viele Länder begannen, mehr Aufwand beispielsweise in der Salmonellenbekämpfung und -vorbeugung zu betreiben.

3.1.3   Diese Probleme und die Maßnahmen, die zu ihrer Bekämpfung ergriffen wurden, trugen zur Entwicklung der Agrar- und Lebensmittelpolitik der EU bei. Zu den aktuellen Themen der letzten Jahre zählt die Erzeugung von Bioenergie aus landwirtschaftlichen Rohstoffen, d. h. die Landwirtschaft als Quelle für Bioenergierohstoffe.

3.1.4   Ein weiterer Gesichtspunkt, der in den Vordergrund gerückt ist, ist der Nährwert von Lebensmitteln und dessen Bedeutung für die öffentliche Gesundheit, wobei die Zusammensetzung von Lebensmitteln und die Frage, inwieweit die Lebensmittelindustrie für das wachsende Problem der Übergewichtigkeit im Westen verantwortlich ist, im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Dies ist eine Frage, der die Nahrungsmittelwirtschaft Rechnung tragen muss, z. B. bei der Produktkonzipierung und -vermarktung, und die die Verbraucher in ihren Konsumentscheidungen berücksichtigen müssen. Ein verantwortungsvoller Konsum muss durch Verbraucheraufklärung gestützt werden.

3.1.5   Ein hochaktuelles Thema ist derzeit der starke Anstieg der Preise für Lebensmittel und landwirtschaftliche Einsatzgüter und Enderzeugnisse: Die Frage ist, ob es sich hierbei um einen dauerhaften Anstieg handelt und welche Auswirkungen er auf die weltweite Lebensmittel-versorgung und die Lebensbedingungen der Armen haben wird. Die veränderte Marktlage sollte auch den Entscheidungsträgern zu denken geben: Greifen die politischen Maßnahmen, die für Märkte mit niedrigen und immer weiter fallenden Nahrungsmittelpreisen gedacht sind, unter den neuen Gegebenheiten überhaupt noch?

3.2   Die Agrar- und Fischereipolitik der EU — Ziele und Wandel

3.2.1   Die Agrarpolitik der EU stützt sich auf einen soliden Binnenmarkt und eine Marktregulierung mithilfe von Beihilferegelungen, deren Ziel es ist, in allen Ländern unter allen Bedingungen eine stabile Lebensmittelversorgung sicherzustellen. Die EU legt ihrer Politik ein europäisches Landwirtschaftsmodell zugrunde, das die landwirtschaftliche Vielfalt schützt und gewährleistet, dass der Landbau selbst in den benachteiligten Gebieten der EU rentabel ist. Ziel war es, für die Verbraucher hochwertige und sichere Lebensmittel zu angemessenen Prei-sen herzustellen.

3.2.2   Die internationale Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik als Teil der Globalisierung hat im Hinblick auf die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik neue Herausforderungen mit sich gebracht. Dazu zählen die zunehmende Konkurrenz und das Problem der politischen Maßnahmen im Bereich der Einkommen von Landwirten. Jahrelang bestand das Problem der Agrarmärkte in den niedrigen Preisen für Produkte, was die EU im Wege von Agrarreformen zu beheben versuchte.

3.2.3   Mit den Agrarreformen von 1999 und 2003 wurde ein stärker marktorientiertes System eingeführt, die Interventionsmechanismen wurden abgeschafft, die Verwaltungskosten reduziert und die Entkopplung direkter Beihilfen vom Produktionsvolumen durchgesetzt. Es folgten Reformen der Marktordnungen für zahlreiche Produkte, was einigen Landwirten in der EU Probleme bereitete. Diese Neujustierungen bildeten die Grundlage für die Ziele der EU im Rahmen der laufenden WTO-Handelsgespräche.

3.2.4   Die EU arbeitet derzeit an einer Generalüberprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik, die für einige Feineinstellungen genutzt werden sollte. Die Hauptziele dieses „Gesundheitschecks“ sind es, die Umsetzung der GAP-Reform von 2003 zu beurteilen und diejenigen Anpassungen in den Reformprozess einzubeziehen, die für eine weitere Vereinfachung der GAP, das Erschließen neuer Marktchancen und die Bewältigung neuer Herausforderungen auf dem Markt und in der Gesellschaft als erforderlich angesehen werden. Diese Generalüberprüfung erfolgt in einer Zeit großer Turbulenzen auf den internationalen Agrarmärkten, die ernste Bedrohungen der Lebensmittelversorgung mit sich brachten.

3.2.5   Neben der Landwirtschaft ist die Fischerei ein Grundpfeiler unserer Nahrungsmittelversorgung. Die globale Fischerei- und Aquakulturproduktion erreichte im Jahre 2005 knapp 142 Millionen Tonnen, was einer Produktion von 16,6 kg pro Kopf und einem Anteil von 15 Prozent an der globalen Tiermehlproduktion entspricht. Fischereiprodukte erfüllen eine wichtige Funktion in der Nahrungsmittelversorgung. Weiterhin sind Fischerei und Aquakultur eine wichtige Quelle für Ernährung, Arbeitsplätze und Einkommen in Europa und in den Entwicklungsländern. Die Europäische Union sollte danach streben, dass auch die Entwicklungsländer ihre Fischbestände möglichst gut bewirtschaften und nutzen können.

3.2.6   Die EU muss in ihrem Handeln eine ganzheitliche Herangehensweise verfolgen, bei der zugleich die nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen und die Armutsbekämpfung ange-strebt werden und bei der der Ausgleich zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern unter folgenden Gesichtspunkten gegeben ist:

1.

Die EU sollte lokale Fangmethoden entwickeln und eine Ausweitung der nachhaltigen und verantwortungsvollen Fischerei und Aquakultur unterstützen.

2.

Die EU sollte auch weiterhin Fischereiprodukte einführen und die Lebensmittelsicherheit und die Praktiken des Verbraucherschutzes stärken.

3.

Die EU sollte das Fischen europäischer Fischer in den Gewässern von Drittländern unterstützen, sofern dies unumstritten auch im Interesse dieser Länder und ihrer Bürger ist.

4.

Die Weltmeere sind globale Ressourcen, die der Weltgemeinschaft gehören. Die Europäische Union muss ihre eigenen Gewässer und die Gewässer der Drittstaaten vor Überfischung schützen.

3.3   Die Notwendigkeit eines Wandels: externe Faktoren, die die Agrar- und Lebensmittel-politik der EU beeinflussen

3.3.1   Der Rahmen der EU-Agrar- und Lebensmittelpolitik hat sich, wie oben geschildert, im Laufe der vergangenen 50 Jahre stetig entwickelt und ist das Ergebnis sowohl der eigenen Ziel-setzungen und Möglichkeiten als auch externer Faktoren. Zu den externen Faktoren, die zum Wandel und zur Weiterentwicklung der Politik in diesem Bereich beitrugen, zählen ins-besondere die EU-Handelspolitik (die derzeitige Doha-Runde der WTO-Handelsgespräche), die technische Entwicklung, die ökologischen Herausforderungen und die Trends auf den Lebensmittelmärkten.

3.3.2   Die multilateralen WTO-Handelsgespräche im Rahmen der Doha-Runde werden nunmehr seit bereits fast sieben Jahren geführt. In einigen Teilfragen konnten Lösungen in den Verhandlungen erreicht werden, doch sind die Fortschritte insgesamt sehr begrenzt. Die EU ist bei den vielfältigen Themen, die im Rahmen der Verhandlungen debattiert wurden, sehr aktiv gewesen. Einige Länder hatten kein Interesse an einem Fortschritt, der zu einem erfolgreichen Ergebnis führen würde. Die EU hat beträchtliche Zugeständnisse gemacht, beispiels-weise in den Bereichen Landwirtschaft und Industrie und in Fragen im Zusammenhang mit den Entwicklungsländern. Für ein funktionierendes internationales Handelssystem wäre es wichtig, eine Lösung auf dem Verhandlungsweg zu finden.

3.3.3   Die Landwirtschaft ist in den Verhandlungen stets ein heikles Thema, da die meisten Länder aus Gründen der grundlegenden Sicherheit ihre eigene Produktion schützen. Einige der ande-ren Verhandlungspartner sind wichtige Exportländer, die jedoch ihre Importmärkte nicht öffnen wollen. Die EU ist ein wichtiger Exporteur bestimmter Produkte, gleichzeitig aber auch der weltweit größte Lebensmittelimporteur. 2007 hat die Europäische Union Nahrungsmittelerzeugnisse im Wert von 54,6 Milliarden EUR ausgeführt, während gleichzeitig veredelte Erzeugnisse im Wert von 52,6 Milliarden EUR in die EU eingeführt wurden.

3.3.4   Sollte die Doha-Runde in naher Zukunft doch noch zu einem Abschluss gelangen, so wird dies die Situation der EU-Agrarmärkte ändern. Ausgehend von den derzeitigen Vorschlägen werden die Ausfuhrbeihilfen bis 2014 abgeschafft und die Schutzzölle werden um mehr als 50 % gekürzt. Für den EU-Agrarsektor könnte dies einen wirtschaftlichen Verlust in Höhe von mehr als 20 Milliarden EUR bedeuten. Der jüngste Anstieg der Agrarpreise wird sich auf die Handelsstruktur und die Folgen des endgültigen Ergebnisses auswirken.

3.3.5   Die EU hat eine Reihe wichtiger Fragen im Zusammenhang mit dem Agrarhandel angesprochen, z. B. Umwelt- und Sozialstandards und den Tierschutz (d. h. nichtkommerzielle Faktoren). Leider kamen diese Vorschläge überhaupt nicht voran. Die Produktionsbestimmungen und standards müssten harmonisiert werden, um im Welthandel gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen.

3.3.6   Die EU hat den ärmsten Entwicklungsländern in den Verhandlungen große Zugeständnisse gemacht und Einfuhrzölle abgeschafft, was die Chancen dieser Länder im Agrarhandel ver-bessern dürfte. Wichtig ist auch, dass die eigene landwirtschaftliche Produktion der Entwicklungsländer mit mehr Ressourcen, einer Vorzugsbehandlung und technischer Hilfe unterstützt wird. Die EU sollte auch Initiativen unterstützen, mit denen die eigene Erzeugung der Entwicklungsländer für die Heimatmärkte gefördert und den Akteuren ländlicher Gegenden dabei geholfen wird, sich zu organisieren. Die Handelsbedingungen der Entwicklungsländer sind sehr unterschiedlich, und dies sollte bei den neuen Handelsregeln berücksichtigt werden.

3.3.7   Die jüngsten tiefgreifenden Veränderungen des Zustands der internationalen Agrarmärkte werden sich auf den Lebensmittelhandel und seine Struktur auswirken. Sollte der Preisanstieg dauerhaft sein, so wird sich dies indirekt auf die neuen handelspolitischen Vereinbarungen und Bestimmungen auswirken. Die EU begann in der Tat, die mit zahlreichen Handelspart-nern abgeschlossenen bilateralen Handelsvereinbarungen zu verlängern, teilweise aufgrund der Schwierigkeiten in den multilateralen Gesprächen, teilweise jedoch auch aufgrund des raschen Wandels, der sich beispielsweise auf den Lebensmittel- und Energiemärkten vollzieht. Ziel muss es sein, zu einer Übereinkunft und einem Interventionsmechanismus zu gelangen, der zur Verminderung der Produktpreisschwankungen und zur Stabilisierung der Märkte genutzt werden könnte.

3.4   Klimawandel und technische Entwicklung

3.4.1   Umweltfragen

3.4.1.1   Der wichtigste Umweltfaktor sind die durch den Klimawandel verursachten Veränderungen und insbesondere die daraufhin ergriffenen Maßnahmen. Der Klimawandel verändert die globalen klimatischen Verhältnisse, denen die Produktion angepasst werden muss, was die Produktivität der Landwirtschaft verringert. Auch die von Seiten der Politik ergriffenen Maßnahmen haben eine indirekte Auswirkung: Die Maßnahmen zur Verlangsamung des Klimawandels machen Änderungen der Produktionsstrukturen und -methoden notwendig, was an sich die Produktivität senkt. Der Klimawandel beeinflusst nicht nur die Landwirtschaft, sondern in hohem Maße auch die Handlungsmöglichkeiten und die Ertragslage der Nahrungsmittelindustrie.

3.4.1.2   Besonders erwähnenswert ist auch die Erzeugung von Bioenergie aus landwirtschaftlichen Rohstoffen. Die Lebensmittelmärkte sind nunmehr eng mit den Energiemärkten verzahnt, da die Bioenergieerzeugung mit der Lebensmittelherstellung um die gleichen Rohstoffe konkurriert und da die heutige landwirtschaftliche Erzeugung stark von fossilen Brennstoffen Gebrauch macht. Aufgrund dieser Konkurrenz haben Preisentwicklungen auf den Energiemärkten und die politischen Maßnahmen zur Gestaltung dieser Märkte direkte Auswirkungen auf die Lebensmittelmärkte.

3.4.1.3   Die Verwendung lebensmitteltauglicher Rohstoffe als Ausgangsstoffe für die Bioenergieerzeugung erhöht die Nachfrage und damit den Preis von Landwirtschaftserzeugnissen.

3.4.1.4   Der Treibhauseffekt ist ein allumfassendes Umweltproblem, das viele andere Umweltfragen überschattet, unter denen jedoch die Frage der Artenvielfalt wegen ihres weltweiten Umfangs eine wichtige ist. In der EU gewinnt der Schutz eines vielfältigen genetischen Bestands zunehmend an Bedeutung für die Erhaltung geschützter Gebiete und ursprünglicher Pflanzen- und Tierarten als Teil der Nahrungsmittelerzeugung oder ergänzend dazu und dient dem Aufbau einer Genbank. Außerhalb Europas sind die Erfordernisse im Wesentlichen die gleichen, aber die Bandbreite von Arten kann um ein Vielfaches größer sein, und die wirtschaftlichen Chancen geringer.

3.4.1.5   Neben der Artenvielfalt sind übertragbare Tierkrankheiten und Zoonosen sowie nichtheimische Arten Probleme, die durch internationalen Handel, Transport und Zusammenarbeit immer mehr in den Vordergrund rücken. In der EU sind Schweinepest und BSE, Maul- und Klauenseuche und Salmonellen wahrscheinlich die bekanntesten Formen dieser Bedrohungen der Biosicherheit, während weltweit die Vogelgrippe eine Epidemie ist, die Anlass zur Sorge gibt. Jede Krankheit und Seuche hat ihren eigenen Verbreitungsweg — gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Nahrungsmittelerzeugung haben und die Verbraucher in ihrer Kaufentscheidung verunsichern können. Zudem üben sie langfristig eine nicht zu übersehende negative Wirkung auf die Versorgungssicherheit aus.

3.4.2   Neue Technologien

3.4.2.1   Die größere Nachfrage nach Agrarprodukten, die als Rohstoffe für die Erzeugung von Bioenergie eingesetzt werden, ist in erster Linie auf politische Maßnahmen im Bereich des Klimawandels, aber auch auf die technische Entwicklung zurückzuführen. Die Biotechnologie bietet zahlreiche neue Möglichkeiten für eine effizientere Herstellung und Weiterverarbei-tung von Produkten als Lebensmittel oder für Non-Food-Anwendungen. Im Bereich Energie zeichnet sich ab, dass die Erzeugung von Bioenergie aus Zellulose gegenüber der Energie aus Stärke in die Nähe der Marktreife gelangt.

3.4.2.2   Innovationen in der Biotechnologie haben zu einer beachtlichen Anzahl neuer Produktions-methoden geführt. Die Fortschritte der Biotechnologie werden als bedeutender Effizienzsprung in der Produktion gewertet. Diesen Prozess gilt es durch FuE-Anstrengungen zu stützen. Neben dem Nutzen dürfen allerdings auch die möglichen Risiken für Umwelt und Gesundheit keineswegs ausgeklammert werden. Das Problem ist, dass die potenziellen Nebenwirkungen biotechnologischer Anwendungen auf die Gesundheit von Tieren und Pflanzen sowie den Zustand der Ökosysteme nach wie vor unklar sind.

3.4.2.3   Der Mangel an Daten und Untersuchungen über die Nebenwirkungen moderner Biotechnologien für die Gesundheit und die Umwelt prägt die Wahrnehmung der Verbraucher im Hinblick auf die Einführung biotechnologischer Anwendungen. Die Ansichten und Sorgen der Verbraucher gegenüber den Entwicklungsanstrengungen müssen ernst genommen und die in Verkehr gebrachten Erzeugnisse entsprechend gekennzeichnet werden.

3.5   Preisentwicklung auf den Lebensmittelmärkten

3.5.1   In den letzten zwei Jahren sind die Preise für landwirtschaftliche Grunderzeugnisse und verschiedene wichtige Grundnahrungsmittel drastisch gestiegen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, u. a. die gestiegene Nachfrage aufgrund des Bevölkerungswachstums, höhere Energiepreise, eine weltweite Verringerung der Bestände und das dadurch ausgelöste investitions-orientierte und spekulative Interesse an landwirtschaftlichen Grundstoffen sowie die klimatischen Bedingungen, und hier sowohl örtlich begrenzte Extremwetterlagen als auch die Gefahr eines eher dauerhaften Wandels.

3.5.2   Es ist schwierig, auf der Grundlage von Prognosen zu sagen, wie sich die Märkte in Zukunft entwickeln werden. Der Preisrückgang der letzten Monate liefert keinen Anhaltspunkt dafür, auf welchem Niveau sich die Preise letztlich einpendeln werden. Jedenfalls haben die Preisbewegungen eine beträchtliche Wirkung auf die Entwicklungsländer, und auch in den ent-wickelten Ländern, einschließlich der EU-Staaten, sind die Effekte zu spüren.

3.5.3   In der EU haben höhere Weltmarktpreise den Eindruck entstehen lassen, dass es in der Agrar- und Ernährungspolitik etwas größere Spielräume als zuvor gibt. Die Lebensmittelkäu-fer nehmen den Anstieg der Nahrungsmittelpreise als sehr rasch wahr, und tatsächlich hat dieser in den EU-Staaten schon Auswirkungen auf die Gesamtinflation gehabt. Ein ähnliches, wenn auch dramatischeres Szenario ist auch in den Entwicklungsländern zu beobachten; aus vielen Ländern wurde in jüngster Zeit über Unruhen berichtet, die mit der Verfügbarkeit und den Preisen von Lebensmitteln zusammenhängen. Andererseits hat sich gezeigt, dass der Preisanstieg auch eine gute Seite für einige Produktionsbereiche hat — zum ersten Mal seit Jahren sind lokale Erzeuger heute oftmals in der Lage, mit Lebensmitteln zu konkurrieren, die zu Weltmarktpreisen eingeführt werden. Langfristig könnte dies zu einem Anstieg der Nahrungsmittelproduktion führen und auch der örtlichen Bevölkerung Produktionsmöglichkeiten verschaffen. Dies kann nur gelingen, wenn das Wirtschaftswachstum ausreicht, um den Verbrauchern genügend Kaufkraft für den Lebensmitteleinkauf zu geben.

3.5.4   Der Anstieg der Weltmarktpreise für Nahrungsmittel dürfte sich günstig auf das Volumen der Nahrungsmittelerzeugung auswirken. Der Preisanstieg könnte aber den Hunger auf der Welt noch verschlimmern, weil sich die Armen grundlegende Nahrungsmittelerzeugnisse immer weniger leisten können und insbesondere, weil ein immer größerer Anteil der Ernte für Non-Food-Erzeugnisse verwendet wird. Auf jeden Fall hat die neue Situation deutliche Folgen für die Einkommensverteilung in den einzelnen Ländern und ist daher ein politisch heikles Thema. Bisher ist auch unklar, welche Haltung die großen Weltorganisationen zu den künftigen Entwicklungen einnehmen.

3.5.5   Es geht hier durchaus nicht einfach nur um Märkte für Enderzeugnisse, denn wenn die Preise für Enderzeugnisse steigen, besteht auch die Tendenz einer Verteuerung der Produktionseinsatzgüter und umgekehrt. Das zeigt sich auch in der gegenwärtigen Situation: Die Preise für Energie und Dünger steigen unaufhörlich, so dass es den Landwirten nicht unbedingt besser geht als früher. Wenn es der Lebensmittelindustrie nicht gelingt, ihren eigenen relativen Anteil am Preis der Enderzeugnisse beizubehalten, wird auch sie unter den gestiegenen Rohstoffpreisen leiden.

3.5.6   Der Preisanstieg spiegelt das neue Marktgleichgewicht wider, das durch viele verschiedene Faktoren entstanden ist. Es veranschaulicht praktisch die Fähigkeit der Weltnahrungsmittelindustrie, die globale Nahrungsmittelversorgung — die globale Ernährungssicherheit — zu gewährleisten und die Menschen bedarfsgerecht zu ernähren. In der Vergangenheit wurde oft behauptet, dass der Hunger in der Welt nicht das Ergebnis mangelnder Erzeugungsmöglichkeiten sei, sondern vielmehr die Folge der nationalen und internationalen Politik. Diese Schlussfolgerung wird man in naher Zukunft überdenken müssen: Bewirken das zunehmende Bevölkerungswachstum, der Klimawandel und die Verwendung landwirtschaftlicher Erzeugnisse für Non-Food-Zwecke (vor dem Hintergrund schrumpfender Vorräte an fossiler Energie) eine Veränderung der Situation dergestalt, dass in Zukunft die Ursache von Nahrungsmittelknappheit nicht mehr einfach in der Politik zu suchen ist, sondern zunehmend in Begrenzungen der insgesamt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Nahrungsmittelerzeugung?

3.5.7   Die Frage der Preisentwicklung für Grundnahrungsmittel kann nur erörtert werden, wenn man sie sorgfältig in ihrer ganzen Komplexität angeht. Dazu ist es unerlässlich, Transparenz in die Preisbildung bei den einzelnen Gliedern der Wertschöpfungskette der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie zu bringen. In dieser Hinsicht ist es Sache der Regierungen, für eine bessere Rückverfolgbarkeit der Preise zu sorgen, indem sie durch geeignete Kontrollen missbräuchliche Praktiken einiger Wirtschaftsbeteiligter aufdecken und gleichzeitig eine intensive Verbraucheraufklärung betreiben, damit der Verbraucher sachlich richtig und umfassend informiert ist.

3.6   Qualität, Sicherheit und Nährwert der Lebensmittel

3.6.1   Neben der Quantität der Lebensmittelerzeugung sind auch die Qualität und die Sicherheit der Lebensmittel, ihr Nährwert sowie die Verbraucherpräferenzen wichtige Faktoren auf den Lebensmittelmärkten. Die Lebensmittelsicherheit wird durch Standards gewährleistet, die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) überwacht werden.

3.6.2   Ernährung ist ein komplexes Geschehen, bei dem sich die Verbraucher in ihren Wahlentscheidungen nicht nur von gesundheitlichen Aspekten leiten lassen, sondern auch von kulturell geprägten Verhaltensweisen. Über die Folgen von Nahrungsmitteln auf die Gesundheit und darüber, wer für sie verantwortlich ist, wird fortlaufend diskutiert, wobei die Marktakteure allerdings zu keinem einheitlichen Standpunkt gelangen können.

3.6.3   Die Verbraucherpräferenzen gründen auf persönlichen Werten und Anschauungen (z. B. ökologisch erzeugte Lebensmittel) und auf kulturellen Faktoren, die nicht vergleichbar sind. Den-noch darf ihr wichtiger Einfluss auf die Nahrungsmittelmärkte nicht unterschätzt werden.

3.7   Position und Rolle der Verbraucher

3.7.1   Verantwortungsvolle Verbrauchsgewohnheiten und ein nachhaltiger Konsum, einschließlich Recycling, müssen allgemeine Verbreitung finden. Dies gilt sowohl für die Lieferkette als auch die Verbraucher. Dieses Ziel kann durch eine umfassende gesellschaftliche Debatte erreicht werden.

3.7.2   Für die europäischen Verbraucher ist es etwas Selbstverständliches, dass sie Nahrungsmittel von guter Qualität und zu angemessenen Preisen erhalten. Neben dem Preis sind auch Auswahlfreiheit und Angebotsvielfalt wichtige Erwägungen für die Verbraucher. Generell ist niemand bereit, in Sachen Lebensmittelsicherheit Kompromisse einzugehen.

3.7.3   In der Praxis machen viele Verbraucher jedoch Abstriche bei der Sicherheit von Nahrungs-mittelerzeugnissen und ihrer kulturellen Bedeutung. Außerdem sind vielen Verbrauchern die speziellen Eigenschaften von Nahrungsmittelerzeugnissen wichtig; so haben z. B. ökologische Erzeugung und GMO-haltige Ausgangsstoffe Einfluss auf den Verkaufspreis der Erzeugnisse.

3.7.4   Die Qualitätsproblematik zeigt, wie wichtig Information ist: Die Risiken und Vorzüge der einzelnen Erzeugungsverfahren und Einsatzgüter müssen den Verbrauchern auf eine Weise erklärt werden, die eine klare Risikoabwägung hinsichtlich der Produkte erlaubt. Der auf Schwarz-Weiß-Malerei beruhende Diskurs muss überwunden werden, so dass sich die Verbraucher selbst ein ausgewogenes Bild über die Vor- und Nachteile des jeweiligen Produkts machen können.

3.7.5   Für den Verbraucher ist es entscheidend zu wissen, wonach sich die Qualität, anhand derer er seine Kaufentscheidung trifft, bemisst. Dass sich der Verbraucher leicht über die Qualität eines Erzeugnisses informieren kann, ist eine Vorbedingung für den Aufbau von Vertrauen. Vielfach wurde von Verbraucherseite u. a. die Rückkehr zu den Herkunftslandbezeichnungen auch bei europäischen Lebensmitteln gefordert. Europäische Erzeugnisse haben einen guten Stand auf den europäischen Märkten, weil die Verbraucher gut informiert und offen sind. Eine aufmerksame Verbraucherpolitik ist daher ein Schlüsselfaktor für die künftige Entwicklung der Nahrungsmittelerzeugung.

3.8   Entwicklungspolitik und Nahrungsmittelerzeugung

3.8.1   Zahlreiche politische Entscheidungen zur Ausmerzung des Problems des Hungers in der Welt wurden in internationalen Gremien getroffen, zuletzt in Verbindung mit den Millenniums-Entwicklungszielen. Die praktischen Ergebnisse nehmen sich bisher eher bescheiden aus. Die Zahl der Hungernden nimmt weiter zu, und immer noch gibt es weltweit eine Milliarde Menschen, die hungern müssen. Die Zunahme der landwirtschaftlichen Erzeugung reichte nicht, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten, so dass es nicht möglich war, einen wirkungsvollen Weg für den Umgang mit der neuen Situation in der Nahrungsmittelerzeugung auf globaler Ebene zu finden. Die EU hat an diesen Arbeiten sowohl in internationalen Organisationen als auch bilateral mit Entwicklungsländern engagiert mitgewirkt. Sie hat sich um eine aktive Rolle sowohl in der Entwicklungszusammenarbeit als auch in der Handelspolitik bemüht, um die Nahrungsmittelerzeugung in den Entwicklungsländern zu verbessern.

3.8.2   Die Ernährungssicherheit muss auf der internationalen entwicklungspolitischen Agenda ganz oben stehen, damit die Armut verringert werden kann. Die Entwicklung der Nahrungsmittelerzeugung muss ein zentrales Element der innerstaatlichen Politik in den Entwicklungsländern sein. Jedes Entwicklungsland muss eine eigene nationale Agrarpolitik verfolgen, die die Grundvoraussetzungen für die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln schafft.

3.8.3   Zur Erreichung dieses Ziels bedarf es angemessener Ressourcen für Ausbildung, Beratung und Forschung in den Entwicklungsländern. Die Völkergemeinschaft und die EU sollten entschiedenere Schritte unternehmen, um diese Ziele in ihren entwicklungspolitischen Programmen zu berücksichtigen.

3.8.4   Die Bauern in den Entwicklungsländern sollten durch die Förderung von Erzeugerorganisationen darin unterstützt werden, die heimische Erzeugung, Vermarktung und Verarbeitung zu verbessern und ihre eigene Marktstellung zu stärken. Als Teil der Bemühungen zur Verbesserung der Produktionsbedingungen in den Entwicklungsländern muss das Risikomanagement verstärkt werden. Neben der Produktion sind auch soziale Fragen, wie der Schulbesuch der Kinder und die Ermunterung hierzu einzubeziehen. In gleicher Weise müssen auch die Vereinten Nationen ihre eigenen Maßnahmen zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung effizienter gestalten.

3.8.5   Im Rahmen der Handelspolitik muss es möglich sein, den Entwicklungsländern eine echte Chance zu garantieren, ihr eigenes System der „grünen Erzeugung“ zu haben. Dazu muss den Entwicklungsländern geholfen werden, das Know-how ihrer Verwaltung im Umgang mit Handelsregeln und -systemen zu verbessern. Die EU könnte sich noch mehr dafür engagieren, den Qualifikationsstand in den Entwicklungsländern anzuheben. Eine klarere Gliederung der Entwicklungsländer in am wenigsten entwickelte Länder (LDC) und starke Exportländer würde die Position der ärmsten Länder verbessern. Die EU hat sich in den WTO-Verhandlun-gen für die Förderung dieser Ziele eingesetzt.

4.   Mögliche Handlungsoptionen für die EU und begrenzende Faktoren

4.1   In den letzten Jahrzehnten haben sich das Augenmerk der EU und die Debatte über Nahrungsmittel von der Überschussproduktion verlagert; in den Vordergrund getreten sind Umwelt- und Tierschutzbelange, später auch die Gesundheitsauswirkungen auf Mensch und Tier sowie die öffentliche Gesundheit. In einer nicht allzu fernen Zukunft dürfte es eine Rückbesinnung auf die Ursprünge geben: In Europa wird sich die Diskussion um die Verfügbarkeit der Nahrungsmittel und ihren Preis drehen, ein Trend, der sich bereits in den vergangenen Jahren abgezeichnet hat.

4.2   Gleichzeitig ist klar, dass die EU keine Insel ist: In den Entwicklungsländern wird das große Problem nach wie vor die Armut und die in ihrem Gefolge auftretenden Probleme sein — der Hunger auf der Welt wird kurzfristig nicht verschwinden. Nach wie vor kommt der EU eine Verantwortung bei der Armutsbekämpfung zu.

4.3   Die grundsätzliche Sorge in der EU — und auch in der Nahrungsmittelwirtschaft — gilt der Verfügbarkeit der Energie. Die Nahrungsmittelwirtschaft in ihrer jetzigen Form basiert auf dem großzügigen Einsatz von Energie, was wiederum die Sicherung der Energieverfügbarkeit erfordert. Der zweite bedeutende Begrenzungsfaktor ist, insbesondere global gesehen, das Wasser. Beider Verfügbarkeit muss sichergestellt werden.

4.4   Es gibt eine Reihe von Handlungsoptionen. Die EU könnte ihre landwirtschaftliche Erzeugung und ihre Fischerei intensivieren, müsste dabei aber zugleich Umweltfragen, Tierschutz und die öffentliche Gesundheit im Auge behalten. Bei der Intensivierung ihrer Erzeugung kann die EU die Größe der Betriebe und der Erzeugungsanlagen steigern, was jedoch wie-derum nach Maßgabe des Umwelt- und Tierschutzes geschehen muss; vergessen werden darf dabei auch nicht, dass die Erzeuger mit der Situation klarkommen müssen und keine Entvölkerung der ländlichen Gegenden eintreten darf.

4.5   Die EU kann die Versorgungssicherheit durch Lagerhaltung und u. a. durch die Diversifizierung ihrer Energieversorgung sicherstellen. Die Erzeugung von Bioenergie muss erhöht werden, allerdings nicht auf Kosten des Nahrungsmittelangebots.

4.6   Die EU muss sich auch weiterhin von humanistischen Prinzipien leiten lassen und ihrer Verantwortung für die Fragen der Zuwanderung und der Probleme der Entwicklungsländer gerecht werden; zugleich muss sie darauf bedacht sein, Möglichkeiten für Konflikte in ihrer Nachbarschaft einzudämmen, indem nach Sicherung der Lebensmöglichkeiten der Menschen in ihren Heimatgebieten gestrebt wird, sowohl inner- als auch außerhalb der EU.

Die EU sollte die Erzeuger in den Entwicklungsländern und deren Organisierung in der Weise unterstützen, dass die Erzeuger gemeinsam und voneinander lernen, wie sie die Versorgungssicherheit ihrer Gebiete besser sicherstellen können. Die europäischen Landwirte sollten sich an einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Bauer zu Bauer beteiligen. Die EU hat im Juli 2008 die Grundsatzentscheidung getroffen, aus dem Agrarhaushalt eine Milliarde Euro für die Verbesserung der Bedingungen für die Tätigkeit der Landwirte in den Entwicklungsländern bereitzustellen.

4.7   Wichtig ist darüber hinaus die Entwicklung global verantwortungsvoller Verbrauchs- und Ernährungsgewohnheiten: Bei einer vornehmlich vegetarischen Ernährung kann die Menschheit ihren Nahrungsmittelbedarf mit einen bedeutend geringeren Energieeinsatz decken als bei proteinreicher Kost. Auf der Erzeugerseite kommt es auf eine kontinuierliche Verbesserung der Produktion und eine Stärkung der wissenschaftlichen Erkenntnislage an. In all diesen Fragen muss die EU Initiative zeigen, und zwar sowohl bei ihren eigenen Maßnahmen wie auf der internationalen Ebene.

5.   Versorgungssicherheit — das Fundament der Nahrungsmittelversorgung der EU

5.1   Die Versorgungssicherheit ist ein zentrales Mittel der Risikoeindämmung, durch das die Nahrungs- und Arzneimittelversorgung in Ausnahmesituationen sichergestellt wird. Die Mitgliedstaaten der EU verfügen über eigene, sehr unterschiedliche Systeme der Versorgungssicher-heit. Im Zuge der EU-Mitgliedschaft tritt im Allgemeinen eine Schwächung der nationalen Versorgungssicherheit ein, da die EU davon ausgeht, dass sie die Gesamtverantwortung für die Versorgungssicherheit in Krisenfällen übernehmen kann. Der EU-Binnenmarkt bietet eine gute Grundlage für dieses Ziel. Die Krisen der letzen Jahre waren ihrem Wesen nach qualitativer Art, bei denen kein Mangel an Grundnahrungsmitteln eintrat.

5.2   Ein Kernziel der Versorgungssicherheit besteht in der Gewährleistung der Produktion von Rohstoffen für Nahrungsmittel. Im Fall einer Krise kann die Verteilung der Nahrungsmittel gesteuert und kontrolliert werden. Ausschlaggebend dafür ist die Zusammenarbeit zwischen Landwirten, Handel, Industrie, Behörden und sonstigen Akteuren.

5.3   In ausgedehnten Krisensituationen tritt die Verfügbarkeit landwirtschaftlicher Einsatzgüter in den Vordergrund. Dies sind zum Beispiel Düngemittel, Energie wie z. B. Öl, Pflanzenschutzmittel, Saatgut, Tierarzneimittel, Wasser usw. Die Behörden müssen von Gesetz wegen die Verfügbarkeit von Einsatzgütern in Ausnahmesituationen gewährleisten. Das erfordert eine klare Arbeitsteilung und Planung zwischen den verschiedenen Beteiligten. Die nationalen Systeme und der Grad der Bereitschaft in der Versorgungssicherheit stellen sich unterschied-lich dar. Die EU ist dabei, neue Systeme aufzubauen, insbesondere weil das Spektrum der internationalen Risiken immer breiter wird.

5.4   Die Versorgungssicherheit im Nahrungsmittelsektor der EU erfordert Mechanismen und Systeme, die stärker als die vorhandenen sind, damit sich die Union auf neue mögliche Risiken vorbereiten kann. Ausreichend große und EU-weite Systeme zur Lagerhaltung sind der Grundpfeiler der Versorgungssicherheit. Stabile und funktionierende Märkte für Landwirt-schaftserzeugnisse in den Mitgliedstaaten und der EU-Binnenmarkt schaffen die Grundlage für die Versorgungssicherheit. In Krisenfällen sind die Verlässlichkeit und die Reaktionsgeschwindigkeit der einzelnen Beteiligten der Schlüssel für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  In Zusammenhang mit der Erarbeitung dieser Stellungnahme hat der EWSA am 22. September 2008 eine Anhörung zum Thema „Wie wird es mit den Agrar- und Nahrungsmittelpreisen weitergehen?“ durchgeführt.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Ausschusses

Die folgenden Änderungsanträge, die mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten, wurden abgelehnt:

Ziffer 3.4.2.2

Wie folgt ändern:

„Innovationen in der Biotechnologie haben zu einer beachtlichen Anzahl neuer Produktionsmethoden geführt. Die Fortschritte der Biotechnologie werden von einigen Saatgut-und Chemikalienherstellern als bedeutender Effizienzsprung in der Produktion gewertet. Diesen Prozess gilt es durch FuE Anstrengungen zu stützen. Neben dem Nutzen dürfen allerdings auch die möglichen Risiken für Umwelt und Gesundheit keineswegs ausgeklammert werden, sondern sie müssen ernst genommen werden, und es sind ausreichende Mittel für ihre Erforschung bereitzustellen . Das Problem ist, dass die potenziellen Nebenwirkungen biotechnologischer Anwendungen auf die Gesundheit von Tieren und Pflanzen sowie den Zustand der Ökosysteme nicht lückenlos bekannt nach wie vor unklar sind.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 41, Nein-Stimmen: 49, Stimmenthaltungen: 18

Ziffer 1.8

Wie folgt ändern:

„Die EU muss ihre Förderanstrengungen im Bereich der neuen an Nachhaltigkeitskriterien angepasster Technologien einschließlich der Biotechnologie erhöhen, damit ihre Anwendungen zum praktischen Einsatz gelangen können. Was die Biotechnologie angeht, schließt sich der EWSA der Position des von der Weltbank, der FAO und anderen öffentlichen Institutionen eingerichteten Weltagrarrates an, der im April 2008 festgestellt hat, dass die Welternährungsprobleme, die ja außerhalb der EU auftreten, nicht durch Gen- und Biotechnologien und eine weitere Chemisierung der Landwirtschaft, sondern primär durch bäuerliche Verfahren und den ökologischen Landbau gelöst werden müssen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 39, Nein-Stimmen: 47, Stimmenthaltungen: 19

Ziffern 3.4.2.1 und 3.4.2.2

Wie folgt ändern:

„3.4.2.1

Die größere Nachfrage nach Agrarprodukten, die als Rohstoffe für die Erzeugung von Bioenergie eingesetzt werden, ist in erster Linie auf politische Maßnahmen im Bereich des Klimawandels, aber auch auf die technische Entwicklung einer wachsenden Weltbevölkerung und veränderter Ernährungsgewohnheiten (wie höherer Fleischkonsum) zurückzuführen. Die Biotechnologie bietet zahlreiche neue Möglichkeiten für eine effizientere Herstellung und Weiterverarbeitung von Produkten als Lebensmittel oder für Non-Food-Anwendungen. Im Bereich Energie zeichnet sich ab, dass die Erzeugung von Bioenergie aus Zellulose gegen-über der Energie aus Stärke in die Nähe der Marktreife gelangt.

3.4.2.2

Innovationen bei der Entwicklung umwelt- und sozialverträglicher Methoden zur Effektivierung von Züchtung (wie smart breeding) und Anbau sollten weiter in der Biotechnologie haben zu einer beachtlichen Anzahl neuer Produktionsmethoden geführt. Die Fortschritte der Biotechnologie werden als bedeutender Effizienzsprung in der Produktion gewertet. Diesen Prozess gilt es durch FuE-Anstrengungen zu gefördert und ge stütz t en werden . Neben dem Nutzen dürfen allerdings auch die möglichen Risiken für Umwelt und Gesundheit keineswegs ausgeklammert werden . Der EWSA teilt die Position des Weltagrarrates, dass die Ernährungsprobleme, die sich global, allerdings außerhalb der EU weiter verschärft haben, nur mit an die lokale Situation angepassten Methoden, d. h. mit bäuerlichen Verfahren, dem ökologi-schen Landbau etc., und ausdrücklich nicht mit der Gentechnik, gelöst werden müssen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 34, Nein-Stimmen: 53, Stimmenthaltungen: 21


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/53


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“

2009/C 100/09

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16./17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz (in diesem Fall die Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung) nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr SIECKER.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 114 gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Das BIP ist ein wichtiger Indikator für das wirtschaftliche Wachstum, es kann allerdings nicht als Richtschnur für eine Politik dienen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden will. Dazu sind andere, zusätzliche Indikatoren erforderlich. Zu diesem Schluss kamen sowohl die Konferenz der Europäischen Kommission am 19./20. November 2007 in Brüssel zum Thema „Jenseits des BIP“, als auch eine am 10. Januar 2008 in Tilburg veranstaltete Konferenz unter dem Titel „Eine bequeme Wahrheit“.

1.2   Das BIP ist nützlich, um das Tempo der Wirtschaft zu ermitteln. Es gibt an, wieviel Geld insgesamt verdient wird, unabhängig davon, ob nützliche Produkte erzeugt und nützliche Dienstleistungen geboten werden oder ob dadurch den Menschen und der Umwelt Schaden zugefügt wird. In erster Linie ist so etwas wie ein Höhenmesser erforderlich, der anzeigt, wie weit wir noch von einer nachhaltigen und solidarischen Wirtschaft entfernt sind.

1.3   Da es um zwei verschiedene Dinge geht — Nachhaltigkeit und Wohlfahrt — sind eigentlich zwei Höhenmesser erforderlich. Bei der Nachhaltigkeit geht es um eine gesunde Umwelt für uns und unsere Nachkommen, um Solidarität zwischen den Generationen — sie ist eine Vorbedingung. Wohlfahrt dagegen sagt etwas über die soziale Entwicklung aus und ist eine Zielvariable. Nachhaltigkeit ist gegeben, wenn gewährleistet werden kann, dass längerfristig weltweit die Lebensführung gesichert ist. Wenn dieses Kriterium erfüllt ist, besteht kein weiterer Grund, noch mehr Nachhaltigkeit anzustreben. Bei der Wohlfahrt liegen die Dinge anders: Mehr Wohlfahrt ist immer besser als weniger Wohlfahrt, also ist es sinnvoll, nach immer mehr Wohlfahrt zu streben.

1.4   Es gibt einen Indikator, um die Nachhaltigkeit und ihre Entwicklung zu messen, nämlich den ökologischen Fußabdruck, der trotz seiner Mängel der beste zur Verfügung stehende globale Indikator für die nachhaltige Entwicklung im Umweltbereich ist.

1.5   Der ökologische Fußabdruck ist von hoher Aussagekraft und einer der wenigen, wenn nicht der einzige Indikator, bei dem die ökologischen Auswirkungen unserer Verbrauchs- und Produktionsmuster (Ein- und Ausfuhren) auf andere Länder berücksichtigt werden. Er kann weiter verfeinert oder, wenn in Zukunft eine bessere Messgröße gefunden wird, auch ersetzt werden.

1.6   Die Herausforderung besteht darin, einen Indikator für die soziale Entwicklung festzulegen, der die einzelnen Aspekte der Lebensqualität auf eine Weise misst, die ein realistisches Bild der Gegebenheiten liefert. Ein derartiger Indikator für die Lebensqualität soll im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen, da es ein politisches Instrument dieser Art mit guten Funktionseigenschaften (noch) nicht gibt.

1.7   Ein praxistauglicher und wissenschaftlich zuverlässiger Indikator für die Lebensqualität deckt die im Allgemeinen als unentbehrlich für die Lebensqualität geltenden Lebensbereiche ab und genügt folgenden Kriterien:

er besteht aus objektiven Faktoren, die die Leistungsfähigkeit der Menschen bestimmen;

er reagiert empfindlich auf politische Einflüsse;

die Daten sind rechtzeitig abrufbar;

er erlaubt den Vergleich zwischen den einzelnen Staaten;

er erlaubt den Vergleich zwischen verschiedenen Zeiträumen;

er ist für die breite Öffentlichkeit nachvollziehbar.

1.8   Die folgenden sechs Bereiche werden im Allgemeinen als grundlegend für die Lebensqualität angesehen:

körperliche Unversehrtheit und Gesundheit;

materieller Wohlstand;

Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen;

gesellschaftliche Teilhabe und Integration von Zuwanderern;

Freizeit;

Qualität des Lebensumfelds.

Die grundlegenden, zur Messung der Entwicklung in diesen Bereichen erforderlichen Daten sind in den EU-Mitgliedstaaten verfügbar. Diese Daten müssen jedoch noch verfeinert werden (Häufigkeit, Erhebung, Verarbeitung).

1.9   Der vorstehend beschriebene Indikator ist nicht unfehlbar. Er ist auch nicht als Blaupause gedacht, sondern soll einen Beitrag zur laufenden Diskussion über dieses Thema liefern. Messen ist ein dynamischer Prozess, es werden ja schließlich die Veränderungen in einer Gesellschaft gemessen. Die Veränderungen können ihrerseits wieder den Bedarf an weiteren oder verfeinerten Indikatoren auslösen. Die Festlegung eines Indikators ist ebenfalls ein dynamischer Prozess und muss in einer demokratischen Gesellschaft die Folge eingehender Diskussionen sein.

1.10   Die Umstellung auf eine Politik, die nicht ausschließlich durch das Wirtschaftswachstum, sondern auch durch soziale und ökologische Faktoren bestimmt wird, kann zu einer nachhaltigeren und solidarischeren Wirtschaft führen. Dies ist kein kurzfristiges Unterfangen, dazu ist es zu vielschichtig. Um die Durchführbarkeit nicht zu gefährden, muss das Hauptaugenmerk auf die EU-Mitgliedstaaten gerichtet werden, eventuell unter Hinzuziehung der Kandidatenländer Kroatien und Türkei sowie einiger Staaten mit vergleichbarer wirtschaftlicher Entwicklung wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan. Die großen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung machen es unmöglich, die Entwicklungen sowohl in den Industriestaaten, als auch in den Entwicklungsländern mit nur einem Instrument, unter Einsatz nur einer Messskala zu erfassen und zu verdeutlichen.

2.   Die Grenzen des BIP

2.1   Glück ist das Endziel, das alle Menschen anstreben. Die wichtigste Aufgabe des Staates besteht darin, optimale Voraussetzungen für das Streben der Menschen nach ihrem persönlichen Glück zu schaffen. Das bedeutet, dass der Staat ständig in Tuchfühlung mit der Gesellschaft bleiben muss, um zu erfahren, in welchem Zustand sie sich befindet. Messen ist Wissen — nur wenn bekannt ist, worüber in der Gesellschaft ein Gefühl der Unzufriedenheit herrscht und aus welchen Gründen man unzufrieden ist, kann versucht werden, Abhilfe zu schaffen.

2.2   Um ein Bild davon zu erhalten, wie es der Gesellschaft geht, wird in den meisten Staaten auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zurückgegriffen. Als Messinstrument eingeführt wurde das BIP im vorigen Jahrhundert nach der Weltwirtschaftskrise und dem darauf folgenden Zweiten Weltkrieg. Für die politischen Entscheidungsträger ist er die wichtigste, wenn nicht gar einzige Messgröße, um vor allem wirtschaftliche Leistungen und Aktivitäten zu messen. Es beruht auf einem international anerkannten System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, die auf die gleiche Weise erstellt werden. Zudem werden alle Leistungen in eine einheitliche Maßeinheit umgerechnet, und diese Maßeinheit heißt: Geld. Aus diesem Grunde ist das BIP international gut vergleichbar.

2.3   Es sagt zugleich nichts aus über das Wohlbefinden (Glück) der Menschen oder über die Frage, wie nachhaltig die Entwicklung der Gesellschaft ist. Das Pro-Kopf-BIP in den Vereinigten Staaten gehört zu den höchsten der Welt. Daraus kann indes nicht der Schluss gezogen werden, dass die Amerikaner glücklicher sind, als die Einwohner anderer Länder, und auch die Nachhaltigkeit der amerikanischen Gesellschaft ist durchaus in Frage zu stellen. Auf der ganzen Welt ist das Pro-Kopf-BIP etwas höher als vor 60 Jahren, doch hat das nicht zu einer nennenswerten Zunahme des Glücks geführt, denn zusätzlich zu den allenthalben zu hörenden Klagen, dass früher alles besser gewesen sei, leiden 2008 nicht weniger als 900 Mio. Menschen auf der Welt Hunger — so viel wie noch nie. Hunger aber macht einen Mensch jedenfalls nicht glücklich.

2.4   Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Gesellschaft und die derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse unterscheiden sich grundlegend von der Situation Mitte des vorigen Jahrhunderts. Es besteht — vor allem in den entwickelten Ländern — ein zunehmender Bedarf, auch Faktoren zu untersuchen, die nicht das Ergebnis von Markttransaktionen oder formellen wirtschaftlichen Prozessen sind. Viele dieser Aspekte und Nöte spiegeln sich im BIP nicht oder nur unzureichend wider.

2.5   Hinter einem wachsenden BIP kann sich ein beträchtlicher Verlust an Wohlfahrt und Wohlbefinden verbergen. Wenn beispielsweise ein Land hinginge und alle seine Wälder abholzen ließe, um das Holz zu verkaufen, wenn es alle Kinder arbeiten ließe, anstatt sie auf die Schule zu schicken, dann wäre dies für das BIP sehr positiv, da die wirtschaftlichen Wachstumszahlen eine Zunahme an materiellem Wohlstand erkennen lassen. Ein derartiges Vorgehen wäre jedoch in keiner Weise nachhaltig, und die Menschen, vor allem die Kinder, würden dadurch nicht glücklich(er) werden.

2.6   Auch Naturkatastrophen und politische Einbrüche können positive Auswirkungen auf das BIP haben. Der Wirbelsturm Katrina war ein Segen für das BIP des Bundesstaates Louisiana, da der Wiederaufbau gewaltige Anstrengungen und außerordentliche wirtschaftliche Aktivitäten erforderte. Gleiches gilt für das BIP einer Reihe von asiatischen und afrikanischen Ländern nach dem Tsunami sowie für das BIP nahezu aller europäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Abgesehen davon, dass längst nicht jeder in gleichem Maße an höherem Wohlstand teilhatte, trugen diese Katastrophen nicht gerade dazu bei, dass die Lebensumstände der Menschen sich verbesserten oder die Gesellschaft sich nachhaltiger entwickelte.

2.7   Doch auch weniger extreme Beispiele zeigen, dass das BIP als Messinstrument nicht ausreicht. Ein höherer materieller Wohlstand führt dazu, dass mehr Autos verkauft werden und das Straßennetz weiter ausgebaut wird. Dadurch steigen die Zahl der Unfälle sowie die Kosten (Ersatzteile/Reparatur der Autos, Kosten für die Versorgung von Verletzten/Invaliden, höhere Versicherungsprämien). Höherer Wohlstand kann auch zu Auswüchsen wie Waffenhandel oder zum Verkauf von Antidepressiva an Kinder führen. Alle diese Dinge tragen zu einem Anstieg des BIP bei, bringen jedoch den Menschen seinem eigentlichen Ziel, dem Glück, nicht näher. Ausnahmen sind vielleicht die wenigen, die ihr Geld mit derartigen Aktivitäten verdienen.

2.8   Die Dominanz des BIP wird vor allem dann deutlich, wenn es schrumpft: dann kommt es nämlich unmittelbar zu Panikreaktionen. Dazu besteht nicht per definitionem Anlass, denn es kann durchaus sein, dass das BIP als Folge einer positiven Entwicklung schrumpft. Wenn ein jeder morgen hingeht und seine alten Glühbirnen durch die neusten LED-Lampen ersetzt, führt dies zwar zu einmaligen hohen Ausgaben für neue Beleuchtungskörper, gleichzeitig aber auch zu einer wesentlichen Reduzierung des Energieverbrauchs — mithin zu einer Verringerung des BIP, da die Lampen im Vergleich zu traditionellen Glühbirnen nur einen Bruchteil an Elektrizität benötigen.

2.9   Das BIP ist also eine gute Messgröße, wenn es darum geht, wirtschaftliche Leistungen zu messen, doch es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Fortschritt auf anderen Ebenen der Gesellschaft. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, sind Indikatoren erforderlich, die deutlich machen, wie es beispielsweise um die Entwicklung der sozialen und ökologischen Dimension bestellt ist.

3.   Andere Wohlfahrtsindikatoren

3.1   Die Diskussion darüber, dass neben dem BIP weitere Messinstrumente erforderlich sind, erfolgt gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. So fand neben der Konferenz „Beyond GDP — Jenseits des BIP“ der Europäischen Kommission vom 19. /20. November 2007 in Brüssel (1) am 10. Januar 2008 die Konferenz „Eine bequeme Wahrheit“ an der Universität Tilburg (2) statt. Es sind deutliche Parallelen in den Schlussfolgerungen beider Konferenzen festzustellen, deren Teilnehmer einhellig hervorheben, dass neben dem wirtschaftlichen Wachstum weitere Indikatoren erforderlich sind. Das BIP ist nützlich, um das Tempo der Wirtschaft zu ermitteln. Es gibt an, wieviel Geld verdient wird, unabhängig davon, ob nützliche Produkte erzeugt und nützliche Dienstleistungen geboten werden oder ob dadurch den Menschen und der Umwelt Schaden zugefügt wird. In erster Linie ist so etwas wie ein Höhenmesser erforderlich, der anzeigt, wie weit wir noch von einer nachhaltigen und solidarischen Wirtschaft entfernt sind. Namhafte Wirtschaftswissenschaftler wie Samuelson (3) haben sich bereits kurz nach Einführung des BIP dafür ausgesprochen, das Bruttoinlandsprodukt durch nichtmaterielle Aspekte wie Umwelt und Naturwerte zu erweitern, damit das BIP nicht auf rein wirtschaftliche Aspekte beschränkt bleibt. Diese Bemühungen haben jedoch nicht zu einer allgemein anerkannten Änderung der Definition des BIP geführt, so dass die Dominanz des traditionellen BIP bis zum heutigen Tag immer noch ungebrochen ist. Einige Wissenschaftler haben sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ihre Ansichten werden im Folgenden kurz wiedergegeben.

3.2   Der britische Professor für Arbeitsökonomie, Richard Layard, stellt in seinem Buch „Happiness“ (4) fest, dass es dem Menschen in der westlichen Welt in den vergangenen 50 Jahren trotz eines starken Anstiegs des materiellen Wohlstands nicht gelungen ist, glücklicher zu werden. Die Ursache dafür liegt nach Layard in dem enormen Konkurrenzdruck, denn ein jeder legt es in erster Linie darauf an, mehr zu verdienen als die anderen. Diese einseitige Festlegung nur eines Ziels hat dazu geführt, dass andere Faktoren, die für das Wohlbefinden der Menschen wichtiger sind, zu kurz gekommen sind: stabile Familien, Freude an der Arbeit und Beziehungen zu Freunden und zur Gemeinschaft. Das geht aus den Statistiken über wachsende Scheidungsraten, die Zunahme von Stressfaktoren am Arbeitsplatz und höhere Kriminalitätsraten hervor. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, muss das Hauptaugenmerk eher darauf gerichtet werden, gleiche Chancen zum Einkommenserwerb zu bieten, als darauf, gleiches Einkommen zu erzielen.

3.3   In seiner Theorie über die Wohlfahrtsökonomie hebt der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen  (5) mit besonderem Nachdruck hervor, dass es bei Wohlstand nicht um Güter geht, sondern um Aktivitäten, zu deren Ausübung die Güter angeschafft werden. Einkommen bieten den Menschen die Möglichkeit, Aktivitäten und damit sich selbst zu entfalten. Diese Möglichkeiten, von Sen „Kapazitäten“ genannt, sind auch von Faktoren wie Gesundheit und Lebensdauer abhängig. Vor allem in Entwicklungsländern sind Informationen über die Sterblichkeit von Bedeutung, da sie gute Indikatoren für soziale Ungleichheit und die Lebensqualität sind.

3.4   In ihrem neuesten Buch „Frontiers of Justice“ skizziert die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum  (6) zehn soziale Mindestrechte, die grundlegend sind für ein menschenwürdiges Leben. Eine Gesellschaft, die diese Rechte und Freiheiten allen ihren Bürgern nicht bis zu einem bestimmten Niveau zu garantieren vermag, versagt ihrer Meinung nach und ist keine gänzlich gerechte Gesellschaft. Konkret geht es um die Möglichkeit, ein menschliches Leben normaler Länge zu führen, gesund zu sein, sich frei bewegen zu können, seinen Verstand zu gebrauchen, sein Herz an andere Dinge oder Menschen zu hängen, ein eigenes Verständnis über das Gute zu entwickeln, um ohne jegliche Diskriminierung mit anderen und für andere zu leben, ein Leben in Sorge um die Tiere und die Natur und in Beziehung zu ihnen zu führen, zu lachen und zu spielen, an politischen Entscheidungen teilzuhaben und in der Lage zu sein, Eigentum zu erwerben. Diese Liste ist nicht erschöpfend und kann weiter ergänzt werden.

4.   Weitere Indikatoren

4.1   Es gibt verschiedene Initiativen, um neben dem BIP auch die anderen Faktoren zu messen, die wichtig sind, um sich ein Bild davon machen zu können, in welchem Zustand sich eine Gesellschaft befindet. Um einen Einblick zu erhalten, werden im Folgenden vier dieser Indikatoren aufgeführt und kurz beschrieben. Es gibt noch weitere Indikatoren, beispielsweise die Initiative des Föderalen Rates für Nachhaltige Entwicklung in Belgien (7), den kanadischen Index des Wohlbefindens (CIW) (8), das Bruttonationalglück in Bhutan (9), die Initiative QUARS in Italien (10) und die Stiglitz-Kommission in Frankreich (11), die OECD (12) hat ein weltweites Projekt ins Leben gerufen, um den Fortschritt zu messen, und auch bei Eurofound (13) sind Informationen darüber zu finden. Aus Platzgründen jedoch kann nicht auf alle diese Initiativen eingegangen werden.

4.2   Der Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) (14) ist ein Instrument, um die Fortschritte der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Gruppen zu messen. Diese Methode wird seit 1993 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme/UNDP) angewandt, um einen jährlichen Bericht über die Lage in den einzelnen Ländern zu erstellen. Neben dem Einkommen spielen Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate und Bildungsniveau eine Rolle. Seit 1977 wird auch ein Armutsindex (Human Poverty Index, HPI) (15) veröffentlicht, in dem Zugang zur Bildung, zu sicheren Lebensmitteln und Wasser sowie zu Gesundheitseinrichtungen eine Rolle spielen. Der HDI basiert u.a. auf den Theorien von Sen. In den Entwicklungsländern ist der HDI zwar gut anwendbar, doch ist er leider weniger geeignet, den Fortschritt in entwickelten Ländern zu messen.

4.3   Beim Ökologischen Fußabdruck  (16) geht man davon aus, dass Verbrauch umgerechnet werden kann in die Fläche, die erforderlich ist, um die konsumierten Güter zu produzieren. Auf diese Weise können die ökologischen Auswirkungen unterschiedlichen Konsumverhaltens (unterschiedliche Lebensstile) und verschiedener Bevölkerungsgruppen (Länder) miteinander verglichen werden. Pro Person stehen weltweit 1,8 Hektar Anbaufläche zur Verfügung, um den individuellen Konsum zu decken. Zur Zeit werden weltweit pro Person 2,2 Hektar gebraucht, so dass die Menschheit bereits mit großen Schritten an die Reserven der Erde geht. Die Unterschiede dabei sind jedoch sehr groß: In den Vereinigten Staaten beträgt der durchschnittliche ökologische Fußabdruck 9,6 Hektar pro Kopf, in Bangladesch 0,5 Hektar. Wenn hier keine politische Änderung stattfindet, werden diese Probleme noch zunehmen. Durch Erosion und die Ausbreitung der Wüsten verringert sich der Anteil der zur Verfügung stehenden Fläche zusehends. Durch die wachsende Weltbevölkerung müssen sich immer mehr Menschen diese geringere Fläche teilen, gleichzeitig aber wächst auch die Nachfrage, da die Menschen mit zunehmendem Wohlstand ihren Verbrauch steigern. Der ökologische Fußabdruck ist ein brauchbarer Indikator zur Messung der nachhaltigen Entwicklung. Der Nachteil besteht darin, dass er nichts über das Wohlbefinden der Menschen aussagt.

4.4   Der Index der Lebenssituation (Leefsituatie-Index) (17) bietet eine systematische Beschreibung und Analyse der Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Niederlanden. Er wird auch „Soziale Lage in den Niederlanden“ (Sociale Staat van Nederland, SSN) genannt. Die SSN beschreibt die Entwicklungen der Lebenssituation über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren. Zu den Kriterien gehören Einkommen, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Mobilität, Kriminalität, Wohnen und Wohnumgebung. Zusätzlich zu den bereichsspezifischen Kapiteln gibt es einen zusammenfassenden Index der Lebensbedingungen. Des Weiteren werden Informationen vorgestellt, die sich auf die öffentliche Meinung über Politik und Staat beziehen. Die Untersuchung wird alle zwei Jahre vom niederländischen Sociaal Cultureel Planbureau veröffentlicht. Der Index der Lebenssituation hat in den Niederlanden nie größere Bedeutung erlangt, da er sich in erster Linie aus einem Gemisch von verschiedenartigen Elementen zusammensetzt und deswegen kein schlüssiges Bild des gesellschaftlichen Wohlbefindens liefert.

4.5   Professor Ruut Veenhoven von der Erasmus-Universität in Rotterdam beschäftigt sich bereits seit dreißig Jahren mit der Untersuchung des Glücksgefühls in der ganzen Welt. In seiner World Database of Happiness  (18), der weltweiten Datenbank des Glücks, kommt er zu dem Schluss, dass die Wechselbeziehungen zwischen Geld und Glück außergewöhnlich schwach sind. Bei Menschen, die mehr Geld erhalten, ist eine kurzfristige Belebung festzustellen, doch nach einem Jahr ist dieses Extraglück verschwunden. Freiheit in der Zeitgestaltung und bei Wahlmöglichkeiten führen in der Regel zu einer tiefer empfundenen Glückserfahrung. Veenhoven unterscheidet übrigens wie auch Layard in dieser Hinsicht sehr deutlich zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. In den Entwicklungsländern führt ein Einkommensanstieg zu einem größeren und dauerhafteren Glücksgefühl als in den entwickelten Ländern. Dieser Unterschied fällt weg, wenn das Pro-Kopf-BIP eine Einkommensgrenze von 20 000-25 000 Dollar überschreitet. Der Nachteil der World Database of Happiness besteht darin, dass sich unterschiedliche individuelle Prioritäten auf die Messung des Glücksgefühls auswirken können. Außerdem lassen sich Glückserfahrungen kaum durch die staatliche Politik beeinflussen.

5.   Denkbare Anwendungen

5.1   Es gibt, vereinfacht gesagt, zwei Möglichkeiten, die vorherrschende Stellung des BIP in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu durchbrechen. Die erste besteht darin, neben dem BIP eine Reihe weiterer Indikatoren für die (Aspekte der) Nachhaltigkeit und des Wohlstands zu schaffen, die in der Politik den gleichen Stellenwert erhalten müssen, wie das BIP. Die zweite Möglichkeit wäre, das BIP durch einen neuen, übergeordneten Indikator zu ersetzen, in dem alle wichtigen Faktoren der Nachhaltigkeit und des Wohlstands zusammengefasst werden. Dieser neue Indikator müsste dann tonangebend in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sein.

5.2   Die erste Möglichkeit — eine Reihe weiterer Indikatoren neben dem BIP — ist eigentlich bereits Realität, doch funktioniert sie nicht. Es gibt zahlreiche Indikatoren, mit denen die unterschiedlichen Aspekte der Nachhaltigkeit und des Wohlstands gemessen werden. Indikatoren für Demokratie, Glück und Lebenszufriedenheit, Gesundheit, Ausbildungsstand, Bildungsgrad, Meinungsfreiheit, Kriminalität, Qualität der Umwelt, CO2-Ausstoß, ökologischer Fußabdruck etc. Doch wird diesen Indikatoren weniger Gewicht beigemessen als dem BIP, das immer noch als der umfassendste und anerkannteste Indikator für den Wohlstand der Menschen gilt.

5.3   Die zweite Möglichkeit — ein umfassender Indikator anstelle des BIP — ist schwer zu bewerkstelligen, da es um zwei grundlegend verschiedene Dinge geht: Nachhaltigkeit und Wohlfahrt. Nachhaltigkeit ist eine Vorbedingung, Wohlfahrt dagegen ist eine Zielvariable. Nachhaltigkeit ist gegeben, wenn gewährleistet werden kann, dass längerfristig weltweit die Lebensführung gesichert ist. Wenn dieses Kriterium erfüllt ist, besteht kein weiterer Grund, noch mehr Nachhaltigkeit anzustreben. Bei der Wohlfahrt liegen die Dinge anders: Mehr Wohlfahrt ist immer besser als weniger Wohlfahrt, also ist es sinnvoll, nach immer mehr Wohlfahrt zu streben.

5.4   Da diese zwei grundlegend verschiedenen Dinge nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, kommt eine dritte Möglichkeit ins Spiel: zwei Indikatoren zusätzlich zum BIP. Also ein Nachhaltigkeitsindikator und ein Indikator für die Lebensqualität. Es gibt einen Indikator, um die Nachhaltigkeit und ihre Entwicklung zu messen, nämlich den ökologischen Fußabdruck, der trotz seiner Mängel der beste zur Verfügung stehende globale Indikator für die nachhaltige Entwicklung im Umweltbereich ist. Der ökologische Fußabdruck ist von hoher Aussagekraft und einer der wenigen, wenn nicht der einzige Indikator, bei dem die ökologischen Auswirkungen unserer Verbrauchs- und Produktionsmuster (Ein- und Ausfuhren) auf andere Länder berücksichtigt werden. Er kann weiter verfeinert oder, wenn in Zukunft eine bessere Messgröße gefunden wird, auch ersetzt werden. Es gibt noch keinen gut funktionierenden Indikator für die soziale Entwicklung, der die einzelnen Aspekte der Lebensqualität auf eine Weise misst, die ein realistisches Bild der Gegebenheiten liefert. Ein derartiger Indikator für die Lebensqualität soll im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen.

6.   Indikator für die Lebensqualität

6.1   Ein praxistauglicher und wissenschaftlich zuverlässiger Indikator deckt die im Allgemeinen als unentbehrlich für die Lebensqualität geltenden Lebensbereiche ab und genügt folgenden Kriterien:

er besteht aus objektiven Faktoren, die die Leistungsfähigkeit der Menschen bestimmen;

er reagiert empfindlich auf politische Einflüsse;

die Daten sind rechtzeitig abrufbar;

er erlaubt den Vergleich zwischen den einzelnen Staaten;

er erlaubt den Vergleich zwischen verschiedenen Zeiträumen;

er ist für die breite Öffentlichkeit nachvollziehbar.

6.2   Die innerhalb der EU im Allgemeinen als grundlegend für die Lebensqualität angesehenen Bereiche, die diese Kriterien erfüllen, lauten wie folgt:

Körperliche Unversehrtheit und Gesundheit. Durch diesen Indikator wird der Anteil der Bevölkerung ermittelt, der nicht physisch, sei es durch „interne“ (Krankheit, Behinderung) oder „externe“ Faktoren (Verbrechen und Gefangenschaft) daran gehindert wird, sein Leben nach den eigenen Wünschen zu gestalten.

Materieller Wohlstand. Hierbei handelt es sich um das standardisierte Durchschnittseinkommen in Kaufkraftparitäten, die weltweit beste Messgröße für die effektive Kaufkraft des Durchschnittsbürgers. Die Kaufkraft in verschiedenen Ländern wird durch die Korrekturparameter zur Berücksichtigung der Unterschiede im Preisniveau dieser Länder vergleichbar gemacht.

Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Anteil des BIP, der für die Gesundheitsversorgung, für Bildung, den öffentlichen Verkehr, Wohnen und Kultur aufgewendet wird.

Gesellschaftliche Teilhabe. Der Prozentsatz der 20- bis 65-Jährigen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, sowie der Prozentsatz der über 20-Jährigen, die eine ehrenamtliche Tätigkeit ausüben. In der Regel gilt die Ausübung einer Tätigkeit gegen Entgelt als eine der wichtigsten Formen der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration. Darüber hinaus ist das Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten wichtig, um soziale und gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Dadurch wird die Dominanz des wirtschaftlichen Bereichs teilweise durchbrochen. Wegen der höheren Mobilität der Menschen ist es sehr wichtig, dass Zuwanderer freundlich aufgenommen werden und ihre kulturelle und soziale Integration in gewachsene Gemeinschaften gefördert wird.

Freizeit. Die durchschnittliche Zahl der Stunden, die 20- bis 65-Jährige nicht für den Bildungserwerb oder für bezahlte oder unbezahlte Arbeit (einschließlich Fahrtzeiten, Arbeiten im Haushalt und Pflegeaufgaben) aufwenden. Hiervon abzuziehen ist die freie Zeit in Folge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Ausreichende Freizeit ist neben der bezahlten Arbeit von grundlegender Bedeutung, um das Leben den eigenen Vorstellungen entsprechend zu gestalten.

Qualität des Lebensumfelds. Die Größe der Naturflächen in Relation gesetzt zur Gesamtfläche des Landes sowie der Anteil der Bevölkerung, der keiner Luftverschmutzung ausgesetzt ist. Hier geht es nicht um den Anteil der Natur und Umwelt an der Nachhaltigkeit der sozioökonomischen Entwicklung (dazu gibt es den ökologischen Fußabdruck als eigenen Indikator), sondern um die Lebensqualität der Bürger. Der Indikator ist somit auf diese beiden Aspekte Natur und Umwelt beschränkt, die die Bürger unmittelbar als positiv oder negativ erfahren können.

6.3   Diese sechs Bereiche werden in unterschiedlichen Einheiten gemessen. Um sie in einem übergreifenden Indikator zusammenfassen zu können, muss zunächst ihre Vergleichbarkeit gewährleistet sein. Am einfachsten — und auch effizientesten — geschieht dies, indem durch eine international anerkannte und vielfach verwendete statistische Methode aus jedem Teilindikator ein normalisierter Wert (Z-Wert, z-score) errechnet wird. Das ist eine Variable mit einem Mittelwert 0 und einer Standardabweichung von 1. Das bedeutet, dass etwa ein Drittel der Länder zwischen 0 und + 1 rangiert, ein Drittel zwischen 0 und - 1, ein Sechstel höher als + 1 und ein Sechstel niedriger als - 1. Der übergreifende Indikator kann dann als Mittelwert der Z-Werte für die sechs Bereiche errechnet werden.

6.4   Um zeitliche Veränderungen zu messen, können nicht jedes Jahr erneut die Z-Werte auf Grundlage des Mittelwertes und der Standardabweichung in dem jeweiligen Jahr berechnet werden. Dann wäre nämlich die durchschnittliche Lebensqualität per definitionem in jedem Jahr gleich. Aus diesem Grunde werden der Mittelwert und die Standardabweichung, wie sie im ersten Jahr der Anwendung dieses Indikators ermittelt wurden, auch bei der Berechung der Z-Werte der folgenden Jahre verwendet. Wenn der Mittelwert in einem Jahr höher ist als im Vorjahr, bedeutet dies demnach, dass die durchschnittliche Lebensqualität sich tatsächlich verbessert hat. Wenn dagegen der Mittelwert in einem Jahr niedriger ist als im Vorjahr, ist dies ein Hinweis auf eine tatsächliche Verschlechterung der durchschnittlichen Lebensqualität.

6.5   Für die breite Öffentlichkeit, die mit den mathematischen Begriffen der Statistik nicht vertraut ist, hat das Ergebnis dieser Berechnung nur wenig Aussagekraft. Um das sechste Kriterium zu erfüllen (Nachvollziehbarkeit durch die breite Öffentlichkeit), sollte auf Grundlage des statistischen Materials jedes Jahr eine Rangliste erstellt werden, so dass jeder auf Anhieb erkennen kann, auf welchem Platz sein eigenes Land im Vergleich zu anderen Ländern rangiert und wie sich sein Land im Vergleich zum Vorjahr entwickelt hat. Derartige Ranglisten sind in der Regel sehr anschaulich und können zur Verbreitung dieses Instruments beitragen und somit starke Impulse zur Verbesserung der Lebensqualität nach sich ziehen.

7.   Mehr Ausgewogenheit in der Politik

7.1   Die zur Veranschaulichung der Entwicklung in diesen sechs Bereichen erforderlichen Daten sind in den EU-Mitgliedstaaten in der Regel verfügbar, wenn sie auch (noch) nicht in den gleichen Zeitabständen und in gleicher Qualität erhoben werden. Berichterstattungen über die Finanz- und Wirtschaftswelt sind seit langem schon gang und gäbe, und Informationen darüber sind täglich in Form von Börsenkursen abrufbar. Berichte über die Umwelt und die Lebensqualität sind dagegen eine verhältnismäßig junge Erscheinung, daher gibt es darüber auch viel weniger Informationen. Statistiken über die Bereiche Soziales und Umwelt sind häufig zwei bis drei Jahre alt. Eine der wichtigsten Bedingungen, um von einem vollwertigen und qualitativ hochstehenden Indikator sprechen zu können, besteht darin, die Qualität und Verfügbarkeit der Daten auf einen Nenner zu bringen. Das Fundament ist jedoch gelegt: Wenn sich die politischen Entscheidungsträger entsprechend verständigen, kann dieser Indikator im Prinzip in relativ kurzer Frist zum Einsatz gebracht werden. Einer der politisch attraktiven Faktoren eines derartigen Indikators kann darin bestehen, dass er - in der EU sicherlich in naher Zukunft - ein größeres Wachstumspotenzial aufweist als das BIP.

7.2   Messen allein reicht nicht aus, die Ergebnisse müssen in der Politikgestaltung auch Anwendung finden. Das 21. Jahrhundert konfrontiert uns mit einer Reihe von Problemen, für die es noch keine bewährten Lösungsansätze gibt, da sie verhältnismäßig neu sind. Rasches Handeln ist angesagt, da unser Planet durch fehlende strukturelle Lösungen ausgelaugt wird. Die Umstellung auf eine Politik, die nicht ausschließlich durch das Wirtschaftswachstum, sondern auch durch die nachhaltige Entwicklung auf wirtschaftlichem (Kontinuität der Wirtschaftsaktivitäten), sozialem (Menschen die Möglichkeit bieten, gesund zu leben und ein Einkommen zu erzielen; denjenigen, die dazu nicht in der Lage sind, ein ausreichendes Maß an sozialer Sicherheit gewährleisten) und ökologischem Gebiet (Bewahrung der biologischen Vielfalt, Umstellung auf Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch) bestimmt wird, können eine Reihe dringender Fragen (Beschäftigung, Ungleichheit, Ausbildung, Armut, Migration, Glück, Klimawandel, Ausbeutung der Erde) auf überschaubare Weise gelöst werden.

7.3   Der vorstehend beschriebene Indikator ist nicht unfehlbar. Er ist auch nicht als Blaupause gedacht, sondern soll einen Beitrag zur laufenden Diskussion über dieses Thema liefern. Vielleicht müssen einige der Bereiche noch ausgeweitet werden, vielleicht müssen die Kriterien, die die Bereiche erfüllen müssen, noch verfeinert werden. Ein derartiger Indikator ist nie ganz fertig. Messen ist ein dynamischer Prozess, es werden ja schließlich die Veränderungen in einer Gesellschaft gemessen. Die Veränderungen können ihrerseits wieder den Bedarf an weiteren oder verfeinerten Indikatoren auslösen. Die Festlegung eines Indikators ist ebenfalls ein dynamischer Prozess und muss in einer demokratischen Gesellschaft die Folge eingehender Diskussionen sein.

7.4   Dies ist kein kurzfristiges Unterfangen, dazu ist es zu vielschichtig. Um die Durchführbarkeit nicht zu gefährden, muss das Hauptaugenmerk auf die EU-Mitgliedstaaten gerichtet werden, eventuell unter Hinzuziehung der Kandidatenländer Kroatien und Türkei sowie einiger Staaten mit einem vergleichbaren politischen und wirtschaftlichen System wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan. Die großen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung machen es unmöglich, die Lebensqualität sowohl in den Industriestaaten, als auch in den Entwicklungsländern mit nur einem Instrument, unter Einsatz nur einer Messskala zu messen und einander gegenüberzustellen. Durch die Übereinstimmungen zwischen den politischen Systemen dieser Länder wurde der Teilindikator demokratische Freiheiten nicht zu den Bereichen gezählt, die für die Lebensqualität von entscheidender Bedeutung sind, denn demokratische Freiheiten werden in diesen Staaten als eine Selbstverständlichkeit angesehen.

7.5   Eine Politik, die nicht länger ausschließlich durch das einseitige Interesse an Wirtschaftswachstum, sondern auch durch soziale und ökologische Faktoren bestimmt wird, kann zu besseren und ausgewogeneren politischen Weichenstellungen und damit zu einer nachhaltigeren und solidarischeren Wirtschaft führen. Der Ausschuss erwartet von der Europäischen Kommission, dass sie sich in ihrem Zwischenbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung, den sie im Juni 2009 vorlegen will, deutlich zu diesem Punkt äußert. Als Ziel des politischen Handelns könnte das europäische Sozialmodell, wie es in einer früheren Stellungnahme des EWSA (19) definiert wurde, ins Auge gefasst werden. Diesem Modell liegt die Vorstellung zugrunde, dass allen Unionsbürgern der Weg in ein demokratisches, umweltfreundliches, wettbewerbsfähiges, solidarisches, auf gesellschaftliche Integration ausgerichtetes und wohlfahrtsstaatliches Europa geebnet werden soll.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  www.beyond-GDP.eu

(2)  www.economischegroei.net

(3)  Samuelson, P. (1950), „Evaluation of real national income“, Oxford Economic Papers 2, 1-29.

(4)  Layard, R. (2005), Happiness: lessons from a new science, Penguin Books.

(5)  Sen, A. (1985), Commodities and capabilities, Amsterdam North Holland.

(6)  Nussbaum, M. (2005), Frontiers of justice, Harvard University Press.

(7)  www.duurzameontwikkeling.be

(8)  www.statcan.ca

(9)  www.bhutanstudies.org.bt

(10)  www.sbilanciamoci.org

(11)  http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/en/index.htm

(12)  http://www.oecd.org/statsportal

(13)  http://www.eurofound.europa.eu

(14)  www.eurofound.europa.eu/

(15)  http://hdr.undp.org/en/statistics/

(16)  www.footprintnetwork.org

(17)  http://hdr.undp.org/en/statistics/indices/hpi/

(18)  http://worlddatabaseofhappiness.eur.nl

(19)  ABl. C 309, 16. Dezember 2006, S. 119.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/60


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Gesundheitssicherstellung bei der Einfuhr von Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln“

2009/C 100/10

Der französische Ratsvorsitz ersuchte mit Schreiben vom 3. Juli 2008 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zu dem Thema:

„Die Gesundheitssicherstellung bei der Einfuhr von Agrarerzeugnissen und Nah-rungsmitteln“ (Sondierungsstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt-schutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr BROS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 92 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Als Reaktion auf gravierende Lebensmittelskandale hat die Europäische Union ein ausgeklügeltes System der Gesundheitssicherstellung eingeführt, mit dem ein hohes Maß an Schutz der Gesundheit der Verbraucher ebenso wie der Tiere und Pflanzen gewährleistet werden soll. Vor dem Hintergrund des zunehmenden weltweiten Handels mit Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln steigt jedoch das Gesundheitsrisiko und kommt es in der EU immer wieder zu Gesundheitsgefährdungen durch eingeführte Erzeugnisse. Derartige Beeinträchtigungen der Lebensmittelsicherheit bedrohen die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen und verursachen hohe gesellschaftliche Kosten.

1.2   Der EWSA begrüßt das von 15 Mitgliedstaaten unterstützte Memorandum über die „Sicher-heit der Einfuhren von Lebens- und Futtermitteln, Tieren und Pflanzen sowie die Einhaltung der diesbezüglichen Gemeinschaftsvorschriften“ (1), das auf der Tagung des Rates „Landwirt-schaft und Fischerei“ im Juni 2008 vorgelegt wurde. Mit der vorliegenden Stellungnahme will der Ausschuss einen Beitrag zu den Überlegungen darüber leisten, wie das europäische System der Lebensmittelsicherheit weiter verbessert werden kann. Durch die WTO ist der not-wendige rechtliche Rahmen zur Vermeidung ungerechtfertigter Handelsbeschränkungen vorgegeben. Der EWSA unterstützt die Einhaltung dieser Regeln, schlägt jedoch einige Anpassungen vor.

1.3   In Anbetracht der Tatsache, dass die unterschiedliche Handhabung der Einfuhrkontrollen in den einzelnen Mitgliedstaaten große Nachteile mit sich bringt, empfiehlt der EWSA, die Angleichung dieser Verfahren weiter zu verfolgen und rasch umzusetzen.

1.4   Da zahlreiche wirksame Maßnahmen zur gesundheitlichen Überwachung von Einfuhren nur tierische Erzeugnisse betreffen, ist der EWSA der Auffassung, dass einige dieser Maßnahmen auch auf pflanzliche Erzeugnisse ausgedehnt werden sollten. Damit könnten Gefährdungen durch Pestizidrückstände, Kontamination durch giftige Substanzen oder Pflanzenkrankheiten besser kontrolliert werden. Der EWSA empfiehlt insbesondere, die Anzahl der Inspektionen für pflanzliche Produkte zu erhöhen, für diese Produkte eine Liste zugelassener Importeure zu erstellen und bei der Einfuhr systematische Kontrollen durchzuführen.

1.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Beschlüsse über Einfuhrmaßnahmen so weit wie möglich auf objektiven Daten beruhen sollten. Der Ausschuss plädiert daher für eine syste-matische Anwendung der Grundsätze der Risikoanalyse sowie für eine genauere Festlegung der jeweils angemessenen Schutzniveaus, wie sie in dem Abkommen über die Anwendung von gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen vorgesehen sind.

1.6   Die sozioökonomischen Faktoren, wie etwa die wirtschaftlichen Folgen eines Beschlusses oder seine gesellschaftliche Akzeptanz, sollten im Rahmen einer unabhängigen Evaluierung ebenso gründlich untersucht werden wie die Gesundheitsrisiken. Mehrere Länder, darunter Kanada und Großbritannien, haben innerhalb ihrer für Lebensmittelsicherheit zuständigen Behörden bereits Fachabteilungen für wirtschaftliche und soziale Belange eingerichtet. Der EWSA schlägt der Kommission vor zu prüfen, ob die Einrichtung einer unabhängigen Agentur für sozioökonomische Analysen nicht sinnvoll wäre.

1.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass das System der Rückverfolgbarkeit, das das Kernstück des europäischen Modells der Lebensmittelsicherheit bildet und anhand dessen der Weg eines Lebensmittels „vom Hof bis auf den Tisch“ transparent gemacht wird, auch auf Produkte aus Drittländern anwendbar sein sollte. Diese Frage sollte in den bilateralen Verhandlungen ebenso wie in den technischen Hilfsprogrammen für die am wenigsten entwickelten Länder im Vordergrund stehen.

1.8   Der EWSA weist darauf hin, dass den Erzeugern in den am wenigsten entwickelten Ländern die Einhaltung der europäischen lebensmittelrechtlichen Vorschriften Schwierigkeiten berei-tet. Er fordert dazu auf, die handelsbezogene technische Hilfe, den Technologietransfer und die Unterstützung bei der Einrichtung von Rückverfolgbarkeits- und Schnellwarnsystemen in diesen Ländern auszubauen.

1.9   An importierte landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel werden geringere Anforderungen an Rückverfolgbarkeit, Tierschutz oder auch an Umweltnormen gestellt als an EU-Erzeugnisse. In Anbetracht der Tatsache, dass die internationalen Handelsregeln gegenwärtig keine ausreichende Berücksichtigung dieser für die EU wichtigen Belange erlauben, spricht sich der EWSA nachdrücklich dafür aus, dass die Kommission eine Strategie zum Schutz dieser kollektiven europäischen Präferenzen vorschlägt. Nach Ansicht des EWSA sollte die EU eine Vorreiterrolle übernehmen, wenn es darum geht, im internationalen Handel auch anderen legitimen Faktoren Rechnung zu tragen. Zu diesem Zweck sollte die EU zu ihren kollektiven Präferenzen stehen, für die „anderen legitimen Faktoren“ in den internationalen Organisationen eintreten und die Diskussion über den Zusammenhang zwischen WTO und anderen internationalen Übereinkommen wiederaufnehmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Als Reaktion auf die Lebensmittelskandale, die die EU erlebt hat, hat die Europäische Kommission eine umfassende Überarbeitung des Lebensmittelrechts in Angriff genommen. Es wurde ein neuer, sehr ausgefeilter institutioneller und rechtlicher Rahmen geschaffen, der einen echten Fortschritt bedeutet.

2.2   In der Verordnung Nr. 178/2002 ist festgelegt, dass sich „die Gemeinschaft […] für ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ entschieden hat und dass sie das Lebensmittelrecht „ohne Diskri-minierung anwendet, unabhängig davon, ob die Lebensmittel oder Futtermittel auf dem Binnenmarkt oder international gehandelt werden“ (2).

2.3   Das europäische Modell beruht auf mehreren unumstößlichen Grundsätzen:

Rückverfolgbarkeit „vom Hof bis auf den Tisch“: „die Möglichkeit, ein Lebensmittel […] durch alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen zu verfolgen (3)“,

Trennung von Risikobewertung und Risikomanagement,

Haftung aller an der Lebensmittelherstellungskette Beteiligten,

ein effizientes Warnsystem.

2.4   Durch Einfuhrerzeugnisse verursachte Beeinträchtigungen der Lebensmittelsicherheit kommen jedoch auch heute noch häufig vor. In den letzten Jahren kam es in der EU dazu durch Pestizidrückstände in importierten Früchten, Aflatoxin in Schalenfrüchten und Mais, Rückstände von Tierarzneimitteln in tierischen Erzeugnissen, Maul- und Klauenseuche usw. 2007 waren in 314 Fällen, in denen das Schnellwarnsystem ausgelöst wurde, Produkte aus Drittländern betroffen, also insgesamt in 32 % der Fälle (4). Diese immer wiederkehrenden Probleme deuten auf Missstände hin, die es zu beheben gilt.

2.5   Durch Einfuhren verursachte Beeinträchtigungen der Lebensmittelsicherheit gefährden zum einen die Sicherheit der europäischen Verbraucher und verursachen zum anderen hohe gesell-schaftliche Kosten. Die durch einen Alarm ausgelösten Rückrufaktionen bzw. die Rücknahme eines Lebensmittels vom Markt sind für die betroffenen Unternehmen eine schwere Belas-tung. Ebenso haben gesundheitspolizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung einer Tier- oder Pflanzenkrankheit in einem bestimmten Gebiet, wie etwa die Impfpflicht für Tierherden oder der verbindliche Einsatz von Insektiziden in einer ganzen Region, beträchtliche und möglicherweise dauerhafte Folgen.

3.   Bessere Vorbeugung gegen Gesundheitsrisiken

3.1   Durch die Nutzung der bestehenden Handlungsspielräume zur besseren Vorbeugung gegen Gesundheitsrisiken kann die Häufigkeit von Gefährdungen der Lebensmittelsicherheit redu-ziert werden.

3.2   Die gemeinschaftsweite Angleichung der Einfuhrkontrollverfahren ist derzeit im Gange und muss ein vorrangiges Ziel sein. Die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschiedenen Verfahren der Einfuhrkontrolle wirken sich sehr nachteilig aus. Es ist nicht akzeptabel, dass es Händlern freisteht, ihre Waren über das Land in den Binnenmarkt einzuführen, das ihnen durch weniger strenge Kontrollen bekannt ist. So wird z.B. berichtet, dass Importeure von Zitrusfrüchten spanische Häfen meiden, da sich dort Labors befinden, die auf Krankheiten dieser Pflanzen bzw. entsprechende Rückstände spezialisiert sind.

3.3   Zahlreiche Maßnahmen zur gesundheitlichen Überwachung von Einfuhren werden bislang nur auf lebende Tiere und tierische Erzeugnisse angewandt. Bestimmte Gefahrenpotenziale, wie etwa Pestizidrückstände, physische oder chemische Kontamination durch krebserregende bzw. giftige Stoffe (z.B. Schwermetalle, Biotoxine, Farbstoffe usw.) oder Pflanzenkrankhei-ten, müssten besser überwacht werden. Wirksame Maßnahmen sollten folglich auch auf pflanzliche Erzeugnisse ausgedehnt werden.

3.4   Zunächst könnten bei bestimmten Arten pflanzlicher Produkte häufigere Inspektionen durchgeführt werden. Laut der Programmplanung des Europäischen Lebensmittel- und Veterinäramts für 2008 betrifft nur ein Drittel der vorgesehenen Inspektionen pflanzliche Erzeugnisse.

3.5   Des Weiteren sollte für Importe pflanzlicher Erzeugnisse eine Liste zugelassener Länder und Betriebe erstellt werden, wie dies bereits für ca. fünfzehn Arten tierischer Erzeugnisse der Fall ist.

3.6   Ebenso müssten pflanzliche Erzeugnisse unmittelbar am ersten Einfuhrort systematisch kontrolliert werden. Dies ist bislang nicht der Fall. Bei tierischen Erzeugnissen haben sich die Grenzkontrollstellen bewährt. Auch sollte die Zusammenarbeit der staatlichen Überwachung mit den privaten Kontrollen der Importeure verbessert werden. Importeure lassen zunehmend Analysen bereits am Erzeugungsort vornehmen. Die Lebensmittelüberwachungsstelle sollte Zugang zu diesen Ergebnissen haben können.

3.7   Nicht zuletzt ließe sich auch die Datenbank TRACES (Trade Control and Expert System), anhand derer Informationen über Handel und Einfuhr von lebenden Tieren und Nahrungs-mitteln tierischen Ursprungs erfasst und ausgetauscht werden können, in Verbindung mit dem System „EUROPHYT“ auf den Pflanzenschutz ausdehnen.

4.   Bessere Anwendung der Grundsätze der Risikoanalyse

4.1   Die Grundsätze der Risikoanalyse sind von den internationalen, von der WTO anerkannten Organisationen als ein dreistufiges Verfahren aus Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation festgelegt. Die Reform des europäischen Lebensmittelrechts war ein erster Schritt hin zur Anwendung der Risikoanalyse. Mit der Einrichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) konnte die sehr wichtige Trennung von Risikobewertung und Risikomanagement vollzogen werden. Die von der EFSA auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Daten „unabhängig, objektiv und transparent“ (5) durchge-führte Risikobewertung ermöglicht es der Kommission bzw. den Mitgliedstaaten als jeweils für das Risikomanagement zuständige Stelle, über die notwendigen Maßnahmen zu entscheiden.

4.2   Die von der Kommission beschlossenen Importmaßnahmen, sowohl das Stoppen eines Importflusses als auch dessen Aufrechterhaltung, stoßen jedoch zuweilen sowohl in der EU als auch in den Drittländern auf Unverständnis. Die lebhaften Diskussionen über den Import von chloriertem Geflügelfleisch aus den USA oder von Rindfleisch aus Brasilien sind hierfür Beispiele aus jüngster Zeit. In einigen Fällen wird die Kommission beschuldigt, den Handels-interessen auf Kosten der Verbraucher Vorrang einzuräumen. Der EWSA ist der Ansicht, dass Beschlüsse über Importmaßnahmen in stärkerem Maße auf objektiven Daten beruhen sollten.

4.3   Häufig aber bestehen Zielkonflikte, die abgewogen werden müssen. Wenn Abwägungen von verschiedenen Zielen erfolgen, muss dies für Verbraucher transparent gemacht werden.

4.4   Der EWSA ruft die Kommission dazu auf, die Grundsätze der Risikoanalyse systematischer anzuwenden, indem sie der EFSA die Mittel für die Einführung einer entsprechenden Metho-dik an die Hand gibt.

4.5   In Artikel 5 Ziffer 7 des Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen („SPS-Übereinkommen“) ist die Möglichkeit einst-weiliger Maßnahmen vorgesehen, wenn die Unschädlichkeit eines Erzeugnisses oder einer Herstellungstechnik nicht in ausreichendem Maße wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. Das Vorsorgeprinzip, wie es im Gemeinschaftsrecht festgelegt ist, wird demnach auch in den internationalen Handelsregeln anerkannt. Das SPS-Übereinkommen sieht außerdem unter der Voraussetzung, dass ein „angemessenes Schutzniveau“ festgelegt wird, die Möglichkeit vor, strengere als die internationalen Normen anzuwenden. Die EU sollte sich darum bemühen, ihre eigenen angemessenen Schutzniveaus besser zu definieren, damit bei der Risikoanalyse darauf Bezug genommen werden kann.

4.6   Andererseits wird in der Verordnung darauf hingewiesen, dass „die wissenschaftliche Risiko-bewertung allein in manchen Fällen nicht alle Informationen liefert, auf die sich eine Risikomanagemententscheidung gründen sollte, und dass auch noch andere, für den jeweils zu prüfenden Sachverhalt relevante Faktoren zu berücksichtigen sind“ (6). Diese Faktoren, denen im SPS-Übereinkommen ebenfalls Rechnung getragen wird, können die wirtschaftlichen Folgen, die gesellschaftliche Akzeptanz oder das Kosten/Nutzen-Verhältnis eines Beschlusses betreffen. Sie werden gegenwärtig in Folgeanalysen der Kommission oder in Konsultationen einer Bewertung unterzogen.

4.7   Auch die sozioökonomischen Faktoren sollten jedoch einer objektiven und unabhängigen Bewertung unterzogen werden, die mit der gleichen wissenschaftlichen Genauigkeit durchge-führt wird wie die Bewertung des Gesundheitsrisikos und zu der Sachverständige aus den Gebieten Wirtschaft, Soziologie und Recht hinzugezogen werden sollten. Mehrere Länder, darunter Kanada und Großbritannien, haben innerhalb ihrer für Lebensmittelsicherheit zustän-digen Behörden bereits Fachabteilungen für wirtschaftliche und soziale Belange eingerichtet (7). Der EWSA schlägt der Kommission vor zu prüfen, ob die Einrichtung einer unabhängigen Agentur für sozioökonomische Analysen nicht sinnvoll wäre.

5.   Das Problem der unterschiedlichen Anforderungen an importierte Produkte

5.1   Die Anforderungen an importierte Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse sind vielfach geringer als an Produkte innergemeinschaftlichen Ursprungs. Dies gilt nicht für die privaten Normen, die Unternehmen ihren Lieferanten auferlegen, aber für bestimmte rechtliche Anforderungen. So gilt z.B. die Verpflichtung zur Rückverfolgbarkeit der Herkunft von Tieren bis zu deren Geburt, zur Einhaltung der Tierschutzbestimmungen oder das Verbot des Einsatzes bestimmter Pestizide nicht für Produkte aus Drittländern.

5.2   Ein europäisches Regelwerk, wie das im Bereich des Lebensmittelrechts, spiegelt unabhängig davon, ob es als sinnvoll angesehen wird oder nicht, eine kollektive Präferenz der EU wider. Das institutionelle Verfahren, das über die Debatten im Parlament, im Rat und mit der Zivilgesellschaft zu diesem Regelwerk geführt hat, kann als legitimer Ausdruck einer Entschei-dung der Europäer gelten. Die Maßnahmen, die den Erzeugern auferlegt werden, sind das Ergebnis dieser kollektiven Entscheidung und gelten für jeden in der EU. Da diese Maßnahmen jedoch nicht für Erzeuger aus Drittländern gelten, sind im Binnenmarkt Produkte im Handel, die diese Bedingungen erfüllen, und andere, bei denen dies nicht der Fall ist.

5.3   Dieses Problem, das auch in anderen Bereichen besteht (Umweltnormen, soziale Rechte usw.), ist für die Verbraucher nicht akzeptabel. Ohne es zu wissen, kaufen sie möglicherweise Produkte, die nicht der Kollektiventscheidung der Europäer entsprechen. So findet man z.B. im Binnenmarkt rechtmäßig Orangen aus Drittländern, die mit Lebaycid behandelt wurden, einem starken Insektizid mit dem Wirkstoff Fention. Die Verwendung dieses Produktes ist jedoch in der EU aus Umweltschutzgründen seit mehreren Jahren verboten. Die kollektiven europäischen Präferenzen werden so gewissermaßen unterlaufen, und die Verbraucher getäuscht.

5.4   Die europäischen Normen, die nicht für importierte Produkte gelten, verursachen zugleich auch Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der europäischen Erzeuger. Das französische Institut für Tierzucht hat den Versuch unternommen, einige dieser Zusatzkosten auszuwerten. So wurden zum Beispiel in Zusammenhang mit der Rückverfolgbarkeit in Europa bedeutende Anstrengungen zur Tieridentifizierung unternommen. Diese Investitionen belaufen sich in der Rindfleischerzeugung auf 0,4 Euro pro 100 kg Tierkörper, also nahezu 32 Mio. Euro in der EU-25. Bei den Tierschutzmaßnahmen verursacht die Pflicht zur Gruppenhaltung für Mastkälber Kosten in Höhe von 4 Euro pro 100 kg Tierkörper, also 31 Mio. Euro in der EU-25.

6.   Folgen der europäischen Normen für die Entwicklungsländer

6.1   Die EU ist der größte Importeur von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln aus Entwicklungsländern, gerade auch aufgrund umfangreicher, in der Vergangenheit gewährter Handelszugeständnisse. Die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) macht regelmäßig auf die Folgen der europäischen Lebensmittelsicherheitsnormen für die Erzeuger und Unternehmen in weniger entwickelten Ländern aufmerksam.

6.2   Die EU kann bei der Lebensmittelsicherheit keine Kompromisse eingehen. Der EWSA for-dert allerdings im Bewusstsein dieser Problematik zu technischer Unterstützung, Dialog und Zusammenarbeit mit den schwächsten Handelspartnern auf. Er regt die Kommission dazu an, ihre Initiative zur Förderung von Rückverfolgbarkeits- und Schnellwarnsystemen in den Entwicklungsländern fortzusetzen.

7.   Der Grundsatz der Gleichwertigkeit und der Rückverfolgbarkeit

7.1   Das Übereinkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (SPS) und das Überein-kommen über technische Handelshemmnisse (TBT) bilden für die WTO-Mitglieder den not-wendigen rechtlichen Rahmen zur Vermeidung ungerechtfertigter Einfuhrbeschränkungen und zur Ermöglichung einer größeren Transparenz bei den Marktzugangsbedingungen.

7.2   Nach Gemeinschaftsrecht müssen importierte Lebensmittel den Anforderungen des europäischen Lebensmittelrechts „oder den von der Gemeinschaft als zumindest gleichwertig anerkannten Bedingungen“ (8) entsprechen. Der EWSA möchte auf die Gefahren aufmerksam machen, die entstehen können, wenn die EU den in den internationalen Handelsregeln aner-kannten Begriff der Gleichwertigkeit allzu großzügig auslegt.

7.3   Die Rückverfolgbarkeit der Lebensmittel bildet das zentrale Element des EU-Konzepts der Lebensmittelsicherheit. Sie gilt „beginnend mit der Primärproduktion eines Lebensmittels bis (…) zu seinem Verkauf oder zu seiner Abgabe an den Endverbraucher“ (vom Hof bis auf den Tisch), „da jedes Glied dieser Kette eine potenzielle Auswirkung auf die Lebensmittelsicher-heit haben kann“ (9). Für die meisten importierten Produkte wird aber lediglich eine Rückverfolgbarkeit ab dem Exporteur gefordert. Ungeachtet der Rolle, die der Privatwirtschaft zukommen kann, zweifelt der EWSA daran, dass die Verfahren in bestimmten Drittländern unter Sicherheitsgesichtspunkten als „gleichwertig“ betrachtet werden können. Der EWSA setzt sich dafür ein, dass das Thema Rückverfolgbarkeit offensiv angegangen und in den bilateralen Verhandlungen sowie bei der technischen Unterstützung der am wenigsten entwickelten Länder prioritär behandelt wird.

8.   Andere legitime Faktoren und Entwicklung des internationalen Rechts

8.1   In den GATT-Texten (General Agreement on Tariffs and Trade, Allgemeines Zoll- und Han-delsabkommen) und den verschiedenen WTO-Abkommen wird bei der Regelung des interna-tionalen Handels neben gesundheitlichen Faktoren auch „anderen legitimen Faktoren“ Rechnung getragen. Die Entwicklung des internationalen Rechts ist allerdings diesbezüglich nur zögerlich vorangekommen. Nun lassen sich die Entscheidungen der EU aus rein gesundheitlicher Sicht nicht immer rechtfertigen. Im Falle des chlorierten Geflügels fällt es der Kommission schwer nachzuweisen, dass das in den USA mit Chlorwasser desinfizierte Geflügel für die europäischen Verbraucher gesundheitsschädlich ist. Hier bestehen zwischen den Kontinenten unterschiedliche Auffassungen von Lebensmittelqualität. Auch für die Entscheidung, den Import von Robbenfellen zu verbieten, waren nicht Gesundheits-, sondern Tierschutzaspekte ausschlag-gebend. Die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit den Regeln der WTO ist Gegenstand einer lebhaften internationalen Debatte.

8.2   Die Rechtsprechung der WTO-Schlichtungsstelle zeigt jedoch positive Signale. Sie hatte z.B. im Falle des „Krabben-Schildkröten-Streits“ zwischen den USA und Malaysia den USA mit dem Hinweis darauf Recht gegeben, dass das Importverbot für Krabben im Hinblick auf das internationale Artenschutzabkommen gerechtfertigt sei. Die malaysischen Fischer wurden angehalten, ihre Fangtechniken so zu ändern, dass ihnen die durch dieses Abkommen geschützten Schildkröten nicht mehr ins Netz gehen. Auch die Klarstellung der Zusammen-hänge zwischen WTO-Vorschriften und anderen internationalen Übereinkommen ist gegenwärtig Gegenstand von Diskussionen.

8.3   Die EU sollte bei Überlegungen zu diesen Themen eine Vorreiterrolle übernehmen. Zu diesem Zweck sollte die EU zu ihren kollektiven Präferenzen stehen, für die „anderen legitimen Faktoren“ in den internationalen Organisationen eintreten und die Diskussion über den Zusammenhang zwischen WTO und anderen internationalen Übereinkommen wieder aufneh-men. Zudem sollte verstärkt nach Methoden zur Objektivierung der kollektiven Präferenzen und der legitimen Faktoren gesucht werden, um deren internationale Anerkennung zu erreichen.

9.   Verbraucherinformation

9.1   Die europäischen Verbraucher wollen in immer stärkerem Maße über die Herstellungsbedin-gungen ihrer Lebensmittel informiert werden. Der Privatsektor entwickelt zahlreiche Initiati-ven, um diesem Wunsch zu entsprechen. Zudem sind derzeit verschiedene Ideen in der Diskussion, wie z.B. die Idee eines EU-Labels oder ein Tierschutzetikett. Man könnte den Vor-schlag unterbreiten, dass eine internationale Organisation den Verbrauchern unabhängige Informationen über die Herstellungsmethoden in den verschiedenen Ländern bietet. Aufgabe dieser unabhängigen Informationsstelle sollte dann auch die Bereitstellung von Auskünften in einem noch zu schaffenden weltweiten Frühwarnsystem sein.

9.2   Die Information der Verbraucher kann jedoch nicht die einzige Reaktion auf die in dieser Stellungnahme angeschnittenen Fragen sein. Die Herkunftskennzeichnung bei verarbeiteten Lebensmitteln, die in zunehmendem Maße die Grundlage der Ernährung bilden, ist sowohl für die Unternehmen als auch für die Verbraucher zu komplex geworden. Es ist daher Aufgabe öffentlicher Stellen zu garantieren, dass alle Produkte, die im Binnenmarkt im Umlauf sind, den Kollektiventscheidungen der europäischen Bürger entsprechen. Die Verbraucher erwarten, dass diese Kollektiventscheidungen nicht in politischen Prozessen (wie z.B. dem transatlantischen Dialog) geopfert werden, die lediglich dem Ziel der Profilierung dienen oder gutes Wetter bei einzelnen Handelspartnern machen sollen.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Ratsdokument 10698/08 (liegt nur in französischer Sprache vor).

(2)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Erwägungsgrund 8.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Artikel 3.

(4)  Jahresbericht 2007 über das Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel (RASFF).

(5)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Artikel 6.

(6)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Erwägungsgrund 19.

(7)  OECD, 2003: „Taking account of the socioeconomic aspects of food safety: a study of the innovative measures adopted by certain countries“.

(8)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Artikel 11.

(9)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Artikel 3 Ziffer 16 und Erwägungsgrund 12.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/65


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strukturelle und konzeptuelle Veränderungen als Voraussetzung für weltweit wettbewerbsfähiges Wissen und eine forschungsbasierte europäische Industrie (Europa: Spitzenreiter oder Mittelfeld?)“

2009/C 100/11

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Strukturelle und konzeptuelle Veränderungen als Voraussetzung für weltweit wettbewerbsfähiges Wissen und eine forschungsbasierte europäische Industrie (Europa: Spitzenreiter oder Mittelfeld?)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 10. September 2008 an. Berichterstatter war Herr TÓTH, Mitberichterstatter Herr LEO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober (Sitzung vom 22. Oktober) mit 98 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Klimawandel, demografische Veränderungen, Globalisierung, Rohstoff und Energieknappheit werden zu weit reichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen in Europa führen. Die Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa hängen maßgeblich davon ab, ob es gelingt, frühzeitig die richtigen Maßnahmen zu treffen. Die Notwendigkeit, auf neue Herausforderungen innovative Antworten zu finden, ergibt sich auch aus einem in vielen Bereichen erfolgreich abgeschlossenen europäischen Aufholprozess. Das Erreichen der technologischen Grenze macht eigenständige Innovationen zum wesentlichsten Entwicklungsfaktor, verlangt jedoch Veränderungen in Bereichen, die lange Zeit als Erfolgsfaktoren galten (z.B. bei der Aus- und Weiterbildung). Die Förderung der Kohäsion innerhalb der Gemeinschaft ist dazu ein gleichberechtigtes Ziel. Der gegebene Anpassungsbedarf wird das Europäische Sozialmodell auf eine Bewährungsprobe stellen, deren Ausgang über die Lebensqualität der jetzigen und der zukünftigen Generationen entscheiden wird. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, wird dem Sozialen Dialog und Zivilgesellschaftsdialog mit allen relevanten „Stakeholders“ eine wichtige, gestalterische Rolle zukommen.

1.2.   In jedem Fall bedarf es einer gesteigerten Anpassungsfähigkeit und einer höheren Anpassungsgeschwindigkeit, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern und zusätzliches Entwicklungspotenzial für Europa zu erschließen. Die LissabonStrategie (1) hat Ziele gesetzt, die mit dieser Perspektive weitgehend übereinstimmen und für Europa wichtig sind. Gleichzeitig war der Umfang der notwendigen Anpassungsleistungen oft nicht klar und die Übersetzung der Vorgaben in wirtschaftspolitische Strategien oft zu zögerlich. Die Auswirkungen dieser Vorgangsweise sind bekannt und es bedarf nun erneuter Anstrengungen, um diese Ziele wieder mit Nachdruck zu verfolgen. Es wird daher eine nachhaltige Ausweitung der Mittel für die Umsetzung der Lissabon-Strategie vorgeschlagen.

1.3   Gleichzeitig ist klar, dass es keine „one size fits all“-Strategie geben kann und in einigen Politikbereichen jeder Mitgliedstaat die europäischen Vorgaben mit einem anderen, an die nationalen Gegebenheiten angepassten, Maßnahmenbündel umsetzen muss, um eine effiziente Politik zu garantieren. Dabei muss jedoch auf Komplementarität zwischen den Maßnahmen auf europäischer Ebene und jenen im Mitgliedstaat geachtet werden. Die gleichen Komplementaritätsanforderungen gelten natürlich auch für die auf europäischer Ebene gefassten Maßnahmen. Bei horizontalen Politikbereichen — d.h. Themen, die in die Kompetenz von verschiedenen Generaldirektionen fallen — muss eine Strategie auch in abgestimmter Art und Weise umgesetzt werden. Komplementarität ergibt sich in beiden Fällen aus expliziter Kooperation und Koordination von Politikstrategien und -maßnahmen, die gemeinsam erarbeitet und getragen werden.

1.4   Derzeit wird vielfach Kooperation und Koordination versprochen, tatsächlich jedoch nur mit geringem Einsatz umgesetzt. Hier muss es Änderungen geben, um die positiven Effekte, die sich aus einer koordinierten Umsetzung ergeben, zu maximieren (2). Auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten kann durch verstärkte Zusammenarbeit bei der Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen die Effizienz erhöht werden. Um diesen Prozess zu unterstützen, sollte ein Teil der zusätzlichen Mittel explizit für die Entwicklung kooperativer Programme zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten zurückgestellt werden. Zugang zu diesen Mitteln sollte nur dann möglich sein, wenn Maßnahmen gesetzt werden, die explizit aufeinander abgestimmt sind und der Erreichung gemeinsamer Ziele dienen.

1.5   Europa ist vor allem deshalb herausgefordert, weil nur in wenigen Mitgliedstaaten die Weichenstellungen für das Arbeiten im Spitzenfeld geschaffen wurden. Viele Mitgliedstaaten haben den Übergang von der Aufholphase zur Produktion an der technologischen Grenze noch nicht bewältigt. Im Zuge des Übergangs zu einer wissensbasierten Ökonomie kommt es zu einer verstärkten Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitskräften. Um dieser Situation gerecht zu werden, bedarf es mittel- bis langfristiger Prognosen des benötigten Qualifikationsniveaus der Arbeitskräfte, die die Basis für die zu treffenden Umstrukturierungen im Aus- und Weiterbildungssektor sind.

1.6   Zur Lösung der anstehenden Probleme und zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bedarf es Strukturen in Wissenschaft und Forschung, die Spitzenleistungen hervor-bringen. Hier sind ebenfalls nachhaltige Anstrengungen notwendig, um sowohl den Forschungsoutput als auch die Lehre weiterzuentwickeln und auf breiter Front an die internationalen Spitzenreiter heranzuführen. Auf Europäischer Ebene wurden nach dem Relaunch der Lissabon-Strategie schon einige Weichenstellungen gesetzt, um diesen Weg zu beschreiten. Der Europäische Forschungsrat und das Europäische Technologieinstitut werden diesen Wandlungsprozess beschleunigen. Die Investitionen in diese Strukturen müssen in Zukunft weiter ausgeweitet werden, um die Mitgliedstaaten zu komplementären Strategien zu motivieren. Außerdem ist es auch notwendig, weiter die nahe Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen und Akademiker-, Universität- und Forschungsgemeinschaften zu ermutigen und die Unterstützen-Dienstinfrastruktur: wie Wissenschafts-, Innovations-, Technologie- und Industrieparks zu unterstützen.

1.7   Neben Investitionen in die Arbeitskräfte und das Wissenschaftssystem bedarf es in der Forschungsförderung der Mitgliedstaaten eine deutlich stärkere Unterstützung von riskanten Innovationsprojekten, Verbesserungen beim Schutz der Eigentumsrechte (beispielsweise das europäische Patent und Maßnahmen gegen Produktpiraterie), innovationsfreundliche Regulierungen auf den Produkt- und Arbeitsmärkten, risikoadäquate Finanzierungsmöglichkeiten, Maßnahmen zur Stimulierung der Nachfrage nach Innovationen (z.B. Binnenmarkt, öffentliche Beschaffung, Leitmärkte), mehr Mobilität auf allen Ebenen und einer entsprechenden Wettbewerbs- und Makropolitik. Das Ergebnis einer erfolgreichen Umsetzung dieser Politikansätze sind deutlich ausgeweitete Innovationsanstrengungen und damit auch höhere FuE-Ausgaben.

1.8   Letztendlich geht es um die Schaffung eines Systems, das flexibel und rasch auf die anstehenden Herausforderungen reagiert. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass die zukünftigen Kosten von gegenwärtigem Nichthandeln sehr viel höher sind, als die Kosten für die jetzt zu treffenden Maßnahmen. Dies gilt zwar in hohem Maße aber nicht ausschließlich für umweltpolitische Maßnahmen. Gerade bei diesen hat Europa in der Vergangenheit eine Vorreiterrolle gespielt, die durch konsequente Weiterführung der eingeschlagenen Strategie ausgebaut werden soll. Dies sichert die industriepolitische (First-Mover-Advantage), gesellschaftliche und ökologische Dividende, die sich aus Maßnahmen zum Schutz der Umwelt durch eine harmonisierte Umweltregulierung, Standardisierung, durch die Förderung von Innovationen im Umwelttechnikbereich und durch die Unterstützung von sozialen Innovationen ergeben kann.

1.9   Eine Vorwärtsstrategie dieser Art muss jedoch auch von der Bevölkerung mitgetragen werden, wenn sie erfolgreich implementiert werden soll. Wenn der Änderungsbedarf nicht nachvollziehbar ist und die Erträge nicht sichtbar oder ungleich verteilt sind, dann wird auch die Bereitschaft, die gesellschaftliche und individuelle Anpassungsleistung zu erbringen, gering sein. Für die Gestaltung und Kommunikation sind die Institutionen der Zivilgesellschaft unerlässlich. Eine Voraussetzung für die Akzeptanz ist natürlich die Einflussnahme bei der Gestaltung der Strategie und der Maßnahmen. Wenn es bereits in der Vorbereitungsphase eine breite Einbindung und Diskussionen gibt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein gemeinsames Projekt entsteht. Obwohl es für die Diskussionen zur Fortführung der Lissabon-Strategie schon fast zu spät ist, sollte dennoch der Versuch unternommen werden, hier breite Teile der interessierten Öffentlichkeit einzubinden.

2.   Ausgangslage

2.1   Die Wirtschaftsleistung Europas hat sich in den letzten 50 Jahren beständig verbessert und damit die Rückstände aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert verringert (3). Europa hat mittlerweile bei der Stundenproduktivität beinahe zu den USA aufgeschlossen, obwohl der pro-Kopf-Output bei knapp 70 % der USA stagniert (siehe Gordon 2007). Der Aufholprozess wurde jedoch im Jahr 1995 unerwartet unterbrochen, und es folgte eine Phase, in der die USA stärker gewachsen sind als Europa. Als wesentlicher Grund für die Beschleunigung der Wirtschaftsleistung der USA wird die schnellere Integration neuer Technologien — in diesem Fall von Informations- und Kommunikationstechnologien — gesehen. Die USA haben hier sowohl in der Entwicklung als auch in der Verbreitung dieser Technologien schneller als die meisten europäischen Staaten reagiert.

2.2   Die unterschiedliche Geschwindigkeit bei der Entwicklung und Integration neuer Technologien ist jedoch nicht spezifisch für die Informations- und Kommunikationstechnologien, sondern eine Folge des etablierten wirtschaftspolitischen Systems. Die USA, als Spitzenreiter bei vielen neuen Technologien, bauen auf ein stark marktorientiertes System mit weltweit führenden Universitäten und Forschungseinrichtungen, hochqualifizierten Arbeitskräften aus allen Weltregionen, hoher Risikobereitschaft, schnellem Wachstum von neu gegründeten Unternehmen und einen homogenen Binnenmarkt auf.

2.3   Die europäischen Staaten hingegen haben Strukturen geschaffen und wirtschaftspolitische Maßnahmen gesetzt, die beim Aufholprozess helfen und die rasche Übernahme von Techno-logien ermöglichen. Die hohen Investitionsquoten waren und sind ein sichtbares Zeichen für diesen Zugang ebenso wie die stärker berufsorientierten Ausbildungssysteme, tendenziell risikoaverse Strukturen bei der Innovationsfinanzierung, geringere Investitionen in tertiäre Ausbildung und die vielfach zuwenig radikale Weiterentwicklung von Produkten und Technologien.

2.4   Das schwache europäische Wachstum (siehe beispielsweise Breuss, 2008) der letzten Jahre legt nahe, dass in vielen Bereichen das Wachstumspotenzial der Aufholstrategie weitgehend ausgeschöpft ist. Der Übergang von einer Aufholstrategie zu einer Position an Spitze erfordert jedoch weit reichende Umstellungen, die in Europa erst am Anfang stehen und vielfach nur halbherzig umgesetzt wurden. Mit zunehmender Nähe zur technologischen Grenze werden eigenständige und radikale (im Sinne von Marktneuheiten) Innovationen die wesentlichste Wachstumsquelle. Um diesen Modus zu unterstützen müssen Bereiche (z.B.: Aus- und Weiterbildung, Produkt- und Arbeitsmarktregulierung, makroökonomische Steuerung) umgebaut werden, die in der Vergangenheit als Erfolgsfaktoren für den Aufholprozess eingestuft wurden. Der Veränderungsbedarf in Europa ergibt sich jedoch auch aus den gegenwärtigen Herausforderungen zu denen Klimawandel, Globalisierung, demografische Entwicklung, Rohstoff und Energieverknappungen gehören. Dabei gilt es, Strukturen zu schaffen, die rasch auf die neuen Herausforderungen reagieren können und sozial akzeptable, umweltgerechte und wettbewerbsfähige Lösungen produzieren.

2.5   Letztendlich geht es um die Schaffung eines Systems, das flexibel und rasch auf die anstehenden Herausforderungen reagiert. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass die zukünftigen Kosten von gegenwärtigem Nichthandeln sehr viel höher sind, als die Kosten für die jetzt zu treffenden Maßnahmen. Dies gilt zwar in hohem Maße — aber nicht ausschließlich — für umweltpolitische Maßnahmen. Gerade bei diesen hat Europa in der Vergangenheit eine Vorreiterrolle gespielt, die durch konsequente Weiterführung der eingeschlagenen Strategie ausgebaut werden soll. Dies sichert die industriepolitische (First-Mover-Advantage), gesellschaftliche und ökologische Dividende, die sich aus Maßnahmen zum Schutz der Umwelt durch eine harmonisierte Umweltregulierung, Standardisierung, durch die Förderung von Innovationen im Umwelttechnikbereich und durch die Unterstützung von sozialen Innovationen ergeben kann.

2.6   Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf jene Teile der Lissabon-Strategie, die sich mit Innovationen beschäftigen. Dabei werden Möglichkeiten erörtert, wie es zu einer effizienten Politikgestaltung im heterogenen europäischen Umfeldkommen kann.

3.   Europas Antwort auf die Wachstumsschwäche der 90iger Jahre: Die Lissabon-Strategie

3.1   Europas Antwort auf den wachsenden Rückstand gegenüber den USA im Hinblick auf Produktivität und Wirtschaftswachstum war die Lissabon-Strategie, welche nach der Neuausrichtung 2005 unter anderem eine Erhöhung der FuE-Ausgaben auf 3 % des BIP und der Beschäftigungsquote auf 70 % der Personen im erwerbsfähigen Alter anstrebt.

3.2   Die angestrebte Erhöhung der FuE-Ausgaben stützt sich auf viele ökonomische Studien, die einen klaren positiven Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und den FuE-Ausgaben zeigen. Zu wenig Beachtung bei der Zielformulierung fand der Umstand, dass die Höhe der FuE-Ausgaben wesentlich von der Branchenstruktur abhängt und nur in Bezug auf die Branchenzusammensetzung beurteilt werden kann. Neuere Forschungsarbeiten (Leo — Reinstaller — Unterlass, 2007, Pottelsberghe, 2008) zeigen, dass die meisten „alten“ Mitgliedstaaten FuE-Ausgaben aufweisen, die nahe dem Niveau liegen, das aufgrund ihrer Branchenstruktur zu erwarten wäre, während die meisten „neuen“ Mitgliedstaaten darunter liegen (d.h. unter der 45° Linie, siehe Abbildung 1). Schweden und Finnland (und auch die USA) geben deutlich mehr für FuE aus, als aufgrund ihrer Branchenstruktur zu erwarten wäre. Dies ergibt sich zum einen aus dem Umstand, dass diese Länder in einigen Branchen an der technologischen Grenze arbeiten und bei ihren Innovationsaktivitäten stärkere Akzente setzen als ihre Mitbewerber und — im Falle der USA — für einen großen Binnenmarkt produzieren. Zum anderen können höhere FuE-Ausgaben auch durch einen forschungsintensiven Hochschulsektor induziert werden (siehe dazu Pottelsberghe 2008).

Abbildung 1: Strukturbereinigte FuE-Ausgaben

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3.3   Wenn die FuE-Ausgaben des Unternehmenssektor in Europa (zumindest in den alten Mitgliedstaaten) also weitgehend in Einklang mit der Branchenstruktur sind, gibt es keine schlagenden Gründe für eine massive Veränderung der FuE-Ausgaben, weil diese auch als Kostenfaktor gesehen werden müssen und abnehmende Grenzerträge aufweisen. Höhere Investitionen in FuE-Ausgaben sind sinnvoll, wenn man zur technologischen Grenze vorstößt oder ergeben sich aus einen Strukturwandel (4) hin zu forschungsintensiven (5) Branchen. Beide Veränderungen sind unerlässlich, wenn man Europa wettbewerbsfähig erhalten und das „Europäische Modell“ absichern will.

3.4   Allerdings kommt dieser Prozess nicht durch eine isolierte Erhöhung der Mittel für FuE in Gang als vielmehr durch verstärkte Unterstützung von riskanten Innovationsstrategien, durch Investitionen in die Forschungsinfrastruktur und durch Verbesserungen im Bildungs- und Ausbildungssystem. Die Schaffung eines innovationsfreundlichen Marktumfelds und mehr Mobilität auf allen Ebenen sind weitere notwendige Veränderungen (siehe dazu Aho et al. 2006). Komplementäre Eingriffe bei der Regulierung der Arbeitsmärkte und des Finanzie-rungssystems, der Wettbewerbs- und Makropolitik sind ebenfalls notwendig. Das Ergebnis einer erfolgreichen Umsetzung dieser Politikansätze sind deutlich ausgeweitete Innovationsanstrengungen und damit auch höhere FuE-Ausgaben.

3.5   Die Verlagerung des wirtschaftspolitischen Schwerpunkts von FuE zu Innovation reduziert auch die implizite Bevorzugung von „high-tech-Industrien“ die sich aus dem Versuch, die FuE-Ausgaben zu steigern, ergibt. Dadurch werden Branchen aufgewertet, die zwar high-tech im Hinblick auf die Anwendungen von Technologien sind, jedoch keine hohen Investitionen in FuE tätigen, weil ihre Innovationsanstrengungen auf intelligentem Technologieeinsatz und menschlicher Kreativität basieren. Beispielsweise kommen viele technologisch anspruchsvolle Innovationen im Bereich der Kreative Industries, der Stahlindustrie oder im Textil- und Bekleidungsbereich ohne oder mit wenig eigenen FuE-Ausgaben zustande. Auch hat sich gezeigt, dass es in praktisch allen Branchen Potential für schnell wachsende Klein- und Mittelbetriebe (so genannte Gazellen) gibt (siehe dazu Hölzl — Friesenbichler, 2008), was ebenfalls eine breite Förderung von Innovationen nahe legt. Der Fokus auf Hochtechnologiebranchen — und das sichert deren hohe Relevanz auch in Zukunft — beruht auf deren hohem Nachfragewachstum. Gelingt es, über FuE-Anstrengungen erfolgreich Innovationen hervorzubringen, dann können die Erträge — in Bezug auf Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum — aufgrund des hohen Nachfragewachstums überproportional hoch sein (Falk — Unterlass, 2006).

3.6   Die neuen und alten Herausforderungen erfordern Spitzenleistungen sowohl in Forschung, als auch in deren Umsetzung. Nur mit Spitzenleistungen in der Grundlagen- und angewandten Forschung kann Europa angesichts der globalen Herausforderungen wettbewerbsfähig bleiben. Wesentliche Beschränkungen für die Verfolgung dieser Strategie liegen schon jetzt — und in der Zukunft noch viel stärker — im Bereich des Humankapitals. Mehr und besser ausgebildete Arbeitskräfte mit sekundärem und tertiärem Bildungsabschluss sind die Voraussetzung für Strukturwandel und das Aufschließen zur technologischen Grenze. Die bisher gemachten Versäumnisse sind nur mit großem zeitlichem Vorlauf wettzumachen und werden vielfach noch immer nicht mit dem notwendigen Nachdruck betrieben. Gleichzeitig muss bei den Bildungsstrukturen darauf geachtet werden, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen sich an der Nachfrage orientiert (6) und dass die kontinuierliche Weiterbildung der Arbeitskräfte (Stichwort: Lebenslanges Lernen) ebensoviel Aufmerksam erhält, damit die Arbeitskräfte in allen Phasen des Arbeitsprozesses ihre Produktivität und Beschäftigungsfähigkeit erhalten.

3.7   Die Neufassung der Lissabon-Strategie brachte auf europäischer Ebene maßgebliche Veränderungen, die geeignet sind, den Strukturwandel in Richtung forschungsintensiver Wirtschaftsstrukturen und Spitzenleistungen zu beschleunigen: Maßnahmen zur besseren Verfügbarkeit von Risikokapital und zur Erhöhung der Mobilität von Forschern, das Europäische Innovations- und Technologieinstitut (ETI), der Europäische Forschungsrat und die Leitmarktinitiative gehören beispielsweise dazu. Hinzu kommt eine Erhöhung der Mittel für die Rahmenprogramme und eine Ausweitung der Leitprojekte auf europäischer Ebene.

4.   Europa: Effektive Politik trotzt Diversität?

4.1   Auch wenn die europäischen Zielvorstellungen weitgehend klar und von allen geteilt werden, stellt sich die Frage, ob Europa angesichts seiner Heterogenität überhaupt „politikfähig“ ist? Die Europäische Vielfalt zeigt sich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten, den gemischten Erfolgen und der der Technologiefront (z.B. der GSM-Standard vs. IKT-Einsatz) und den großen Unterschieden auf sektoraler Ebene sowohl zwischen als auch innerhalb der Sektoren (siehe dazu Falk, 2007, Leo — Reinstaller — Unterlass, 2007, siehe dazu Anlage 3).

4.2   Diese Vielfalt stellt eine große Herausforderung für die Wirtschaftspolitik dar, weil wirtschaftspolitische Maßnahmen in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Entwicklungsniveau unterschiedliche Erträge bringen. Erfolgreiche Länder passen ihre wirtschaftspolitische Strategie explizit oder implizit an das wirtschaftliche Entwicklungsniveau an und versuchen daher, entweder einen Aufholprozess zu unterstützen oder auf die Produktion an der technologischen Grenze ausrichten. Die Rationalität dieser Anpassung der Wirtschaftspolitik an das Entwicklungsniveau wurde durch eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten belegt. Es zeigt sich dabei, dass gleiche Politikmaßnahmen in Abhängigkeit vom Entwicklungsniveau eines Landes unterschiedliche Erträge bringen. So kann eine Maßnahme, die bei einem Land, das an der technologischen Grenze produziert, hohe Erträge bringt, in einem Catching-Up-Land niedrigere oder gar negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung haben.

4.3   Diese Aussage lässt sich am Beispiel des Bildungssystems gut illustrieren (7). Will man die Erträge von Investitionen in das Bildungssystem maximieren, dann muss man auch auf die nach Entwicklungsniveau unterschiedlichen Wirkungsketten achten: Tertiäre Bildung wird umso wichtiger, je näher sich ein Land an der technologischen Grenze befindet. Berufsorientierte Bildungssysteme unterstützen hingegen eher einen Aufholprozess. Aghion et al. (2005) schätzen, dass eine Erhöhung der Ausgaben für Hochschulbildung um 1 000 $ pro Person für ein Land an der technologischen Grenze die jährliche Wachstumsrate um ca. 0,27 Prozentpunkte erhöht, wogegen diese Investition in einem Land das hinter der technologischen Grenze liegt, nur zu einer Erhöhung der Wachstumsrate um ca. 0,10 Prozentpunkte führt. Personen mit tertiärer Ausbildung können in Ländern nahe der technologischen Grenze mit höherem Ertrag eingesetzt werden, weil auch radikalere Innovationen angestrebt werden, die nur unter Einsatz von wissenschaftlicher Forschung realisiert werden können.

4.4   Ein höherer Bildungsabschluss führt dabei zu mehr Flexibilität bei der Wahl der Technologie. Rund 60 % des Wachstumsunterschieds zwischen den europäischen Ländern und den USA können auf die starke Fokussierung der europäischen Bildungssysteme auf die Berufsbildung bzw. sekundäre Ausbildung zurückgeführt werden (Krueger — Kumar, 2004). Wissensgesellschaften benötigen allgemeine Schlüsselqualifikationen und höhere Ausbildung, die die Adaption von neuen Technologien und die Schaffung neuer Sektoren mit neuen Unternehmen unterstützt. Die historische und für den Aufholprozess richtige europäische Fixierung auf die sekundäre Ausbildung wird somit mit dem Erreichen der technologischen Grenze zu einem Wachstumshemmnis.

4.5   Die Europäische Union ist bei der Formulierung und Umsetzung der Wirtschaftspolitik natürlich mit einem heterogenen Staatenverbund konfrontiert. Bei großer Heterogenität wird üblicherweise die Umsetzungskompetenz auf die Ebene der Mitgliedstaaten delegiert, damit diese Lösungen finden, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind (8). Wesentlich ist jedoch, dass gemeinsame Politiklinien zwischen den verschiedenen Ebenen aufeinander abge-stimmt und koordiniert umgesetzt werden müssen, damit eine gewählte Strategie ihrer volle Wirkung erzielen kann. Diese Aussage wird auch durch die Interdependenzen innerhalb der Europäischen Union unterstützt. Von den Fortschritten der Mitgliedstaaten profitieren auch die anderen und Trittbrettfahrer-Strategien sollten kein akzeptables Verhalten sein.

4.6   Klar ist, dass es keine „one size fits all“-Strategie geben kann, sondern nur ein auf das jeweilige Land angepasstes Maßnahmenbündel erfolgreich sein kann. Wichtig ist aber auch die Erkenntnis, dass mit dem Erreichen der technologischen Grenze die wirtschaftspolitischen Strukturen und Strategien verändert werden müssen, weil das bestehende - oft über Jahrzehnte entwickelte Instrumentarium - keine oder nur mehr geringe wachstumssteigernde Wirkungen hat und damit zumindest teilweise ineffizient geworden ist. Gleiches gilt - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen - für Länder im Aufholmodus. Wenn dort dieselben Strategien wie für Länder an der technologischen Grenze eingesetzt werden, dann ist dies ebenfalls eine ineffiziente Lösung. Jede europäische Strategie muss daher Antworten bieten wie man

sowohl die Kohäsion als auch die Spitzenleistungen verstärkt und damit das wirtschaftliche Entwicklungsniveau berücksichtigt,

Ziele und Maßnahmen formulieren die dem Querschnittscharakter vieler Politikbereiche gerecht werden (z.B. Umwelt, Innovation) und trotz des Koordinationsbedarf über diese Politikbereiche effizient eingesetzt werden können,

die Arbeitsteilung zwischen Europäischer Ebene und Mitgliedstaaten der Sachlogik entsprechend fixieren und

die getroffenen Maßnahmen verbindlich festlegen und Abweichungen sanktionieren.

4.7   Die Strukturen und Mechanismen für eine derartige Politik sind in Europa weitgehend vorhanden und müssen „nur“ in einer entsprechenden Form und mit den passenden Inhalten zum Einsatz gebracht werden. Auch bei letzteren sind die wesentlichen Eckpunkte bekannt und schon lange in Diskussion. Was fehlt ist politische Durchschlagskraft um hier Spuren in der realen Wirtschaft und den europäischen Gesellschaften zu hinterlassen.

5.   Verwendete Literatur:

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Aghion, P., A Primer on Innovation and Growth, Bruegel Policy Brief 02, 2006.

Aghion, P., Bloom, N., Blundell, R., Griffith, R., Howitt, P., Competition and Innovation: An Inverted-U Relationship, Quarterly Journal of Economics, Vol. 120, No. 2, pp. 701-728, 2005.

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Aghion, P., Marinescu, I., Cyclical Budgetary policy and Economic Growth: What Do We Learn from OECD Panel Data?, 2006.

Aho, E., (Chairman), Cornu, J., Georghiou, L., Subirá, A., Ein innovatives Europa schaffen, Bericht der unabhängigen Sachverständigengruppe für FuE und Innovation, eingesetzt im Anschluss an das Gipfeltreffen in Hampton Court, 2006

Breuss, F., Die Zukunft Europas, in: BMWA, Das österreichische Außenhandelsleitbild — Globalisie-rung gestalten — Erfolg durch Offenheit und Innovation, Wien, 2008

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Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Natürlich umfasst die LissabonStrategie mehr Aspekte als hier erwähnt worden sind. Für weitere Informationen siehe: http://ec.europa.eu/growthandjobs/index_de.htm

(2)  Mit Politikkoordination wird die Produktion öffentlicher Güter (beispielsweise Information und Wissen, Umwelt und Klimaschutz) und die Schaffung positiver externer Effekte stimuliert. Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung in Europa führt zu Externalitäten, und nur durch Politikkoordination lassen sich positive Externalität erhöhen und negative verringern.

(3)  Insgesamt hat die EU ihre führende Position im Welthandel erfolgreich gehalten, sowohl im Waren als auch im Dienstleistungssektor. Die europäische Wirtschaft ist Marktführer in einem weiten Bereich von Industrien mit mittlerem Technologieniveau und bei kapitalintensiven Gütern. Anlass zur Sorge geben das wachsende Handelsbilanzdefizit mit Asien und eine im Vergleich mit den USA eher schwache Performance der EU im Bereich der IKT (siehe CCMI/043).

(4)  Strukturwandel entsteht durch Neugründungen, Diversifikationen von bestehenden oder der Ansiedlung von neuen Unternehmen.

(5)  An dieser Stelle wird bewusst über „forschungsintensive“ Sektoren geschrieben, weil die Einteilung in High-, Medium- und Low-tech-Sektoren anhand der FuE-Ausgaben, den Technologieeinsatz in vielen Wirtschaftsbereichen unterschätzt. Nimmt man auch die Integration von anderswo entwickelten Technologien in Produkte und Produktionsabläufe hinzu, dann sind vielfach auch Branchen, die in der klassischen Einteilung als low-tech eingestuft werden, eher dem Medium- oder High-tech-Bereich zuzuordnen (siehe dazu Peneder, 2007).

(6)  Cedefop schätzt, dass auf dem Arbeitsmarkt in Europa in den Jahren zwischen 2006 und 2015 voraussichtlich insgesamt mehr als 13 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen werden. Hierzu zählen nahezu 12,5 Mio. Arbeitsplätze auf dem höchsten Qualifikationsniveau (entspricht etwa Niveau 5 und 6 der ISCED-Klassifizierung) sowie fast 9,5 Millionen Arbeitsplätze auf mittlerem Niveau (Niveau 3 and 4 der ISCED-Klassifizierung). Andererseits werden mehr als 8,5 Millionen Arbeitsplätze für Menschen mit niedrigem oder gar keinem Bildungsabschluss (ISCED-Niveau 0-2) verloren gehen. Quelle: Cedefop, Future skill needs in Europe: Mediumterm forecast [Der künftige Qualifikationsbedarf in Europa — mittelfristige Vorausschau], 2008.

(7)  Grundsätzlich sei festgehalten, dass Investitionen in das Humankapital sehr hohe Erträge bringen: Wenn man den durchschnittlichen Schulbesuch um ein Jahr erhöht, dann steigt langfristig der potenzielle Output der Volkswirtschaft um 6 % (De la Fuengte, 2003).

(8)  Obwohl eine Überprüfung dieser „Kompetenzverteilung“ im Zeitablauf immer wieder erfolgen sollte, würde eine Erörterung den Rahmen der Stellungnahme sprengen (siehe dazu Falk — Hölzl — Leo, 2007).


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umstrukturierung und Entwicklung der Haushaltselektrogeräteindustrie in Europa und die Auswirkungen auf Beschäftigung und Klimawandel“

2009/C 100/12

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Umstrukturierung und Entwicklung der Haushaltselektrogeräteindustrie in Europa und die Auswirkungen auf Beschäftigung und Klimawandel“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 10. September 2008 an. Berichterstatterin war Frau DARMANIN, Ko-Berichterstatter Herr GIBELLIERI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22.-23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 86 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass die Stärke der europäischen Haushaltselektrogeräteindustrie (1) in ihrer Fähigkeit liegt, qualitativ hochwertige und nachhaltige Produkte herzustellen. Diese Stärke muss durch eine angemessene europäische Politik gestützt und erweitert werden, die auf fortgesetzten Anstrengungen und Verbes-serungen in den Bereichen technologische Innovation und Weiterbildung zur Erhöhung des Fachwissens der Mitarbeiter basiert. Durch eine solche Politik dürfte die Entwicklung energieeffizienter Haushaltsgeräte mit einer erhöhten Wiederverwertbarkeit beschleunigt werden. Die Auswirkungen auf die Umwelt müssen auf Grundlage einer Lebenszyklusanalyse insgesamt auf ein Minimum beschränkt werden.

1.2   Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass die Rechtsetzung der Europäischen Union insbesondere durch den Vorschlag für die Ausweitung der Ökodesign-Richtlinie und den Vorschlag für eine Überarbeitung der Umweltzeichen-Verordnung einen unmittelbaren Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Branche nehmen, damit eine Erhöhung der Energieeffizienz und eine Verminderung des CO2-Ausstoßes bewirken und so die Gefahr und die Tendenz einer Verlagerung des verarbeitenden Gewerbes in außereuropäische Länder, des Verlusts von Arbeitsplätzen und des drohenden Eingriffs in Verbraucherinteressen verringern könnte.

1.3   Marktüberwachung ist von größter Bedeutung, um die Interessen der europäischen Industrie, ihrer Arbeitnehmer, die Interessen der Verbraucher und die Umwelt zu schützen. Marktüberwachung sollte mittels folgender Maßnahmen durchgeführt werden:

Bereitstellung von mehr Mitteln durch die Mitgliedstaaten und die EU (2) zur strengeren Überwachung der Produktkonformität mit den Normen und rechtlichen Bestimmungen des Europäischen Binnenmarktes, insbesondere der Konformität importierter Waren;

Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und Dumpings. Zur Vermeidung negativer Auswirkungen auf die Industrie der EU sollten Antidumping-Maßnahmen sorgfältig geprüft werden, damit sie nicht eine Verlagerung der Branche außerhalb Europas oder den Anstieg von Importen begünstigen. Antidumping-Maßnahmen sollten nicht nur in Bezug auf ganze Geräte, sondern auch auf einzelne Bestandteile getroffen werden;

Revision des Etikettierungssystems zur Berücksichtigung der Fortschritte bei der technologischen Innovation, ohne den falschen Eindruck einer Wertveränderung zu erwecken;

strengere Kontrollen zur Verhinderung von Produktfälschung und Markentäuschung sowie von sklavischen Nachahmungen und Kopien;

Kontrollen der Etiketten insbesondere importierter Waren hinsichtlich Wahrheitsgehalt und möglicher Irreführung.

1.4   Der EWSA ist der Ansicht, dass Anpassungen des Systems der Etikettierung äußerst wichtig sind. Das Etikett sollte immer dann aktualisiert werden, sobald der Standard infolge neuer, effizienterer Haushaltselektrogeräte mit höherem Wirkungsgrad steigt. Das System sollte dahingehend dynamisch sein, dass, wenn neue Produkte mit besseren Eigenschaften auf den Markt kommen, für diese ein neues Etikett gelten würde, anstatt dass sie den Rang der früher bewerteten Geräte herabsetzen. Eine solche Überprüfung sollte im Zusammenhang mit der technischen Innovation stehen, aber gemäß dem Aktionsplan für Energieeffizienz mindestens alle fünf Jahre vorgenommen werden. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass alle Interessenträger an dieser Überprüfung beteiligt werden. Weiterhin sollte die Kommission die Durchsetzung von Vorschriften fördern, um die Verbindlichkeit dieses Etiketts für Hersteller, Importeure und Einzelhändler zu erhöhen.

1.4.1   Um die Nachhaltigkeit zu erhöhen, wäre es weiterhin empfehlenswert, wenn die EU sich darum bemühen würde, dass auch andere Länder die von der EU für den Binnenmarkt gesetz-ten Standards anerkennen würden, was zu einer weltweiten Reduzierung des Energieverbrauchs führen könnte.

1.5   Durch Schaffung von Systemen in den Mitgliedstaaten, die Anreize bieten sollen, alte Haushaltsgeräte durch modernere und energieeffizientere Geräte, die bereits hergestellt, aber auf dem Markt noch nicht ausreichend nachgefragt werden, zu ersetzen, könnte die europäische Haushaltsgeräteindustrie einen gewaltigen Aufschwung erfahren. Eine solche Unterstützung sollte so angelegt werden, dass den sozial Schwächeren unter Beachtung des Gebots der Gleichbehandlung ein angemessenes finanzielles Instrument an die Hand gegeben wird. Man sollte von erfolgreichen Beispielen inner- und außerhalb Europas lernen.

1.6   Es ist zudem sinnvoll, die Verbraucher hinsichtlich der Instandhaltung von Haushaltsgeräten und der benötigten Ersatzteile zu unterstützen und zu garantieren, dass die Kenntnisse der Arbeitnehmer ständig verbessert und auf dem aktuellsten Stand gehalten werden, um einen effizienten und verlässlichen Service sicherzustellen. Dies könnte zu einer Erhöhung und/oder Erhaltung der Beschäftigungsquote führen.

1.7   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Politik der EU den Übergang der Industrie zu innovativeren Produkten und entsprechenden Dienstleistungen erleichtern sollte; letztere sind aufgrund ihrer Auswirkungen auf den CO2-Ausstoß und Energieverbrauch von strategischer Relevanz, so z.B. Sonnenkollektoren, Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Wasserstoffzellen, Kleinstkraftwerke und leistungsstarke Klimaanlagen. Dies würde stimulierend auf die Schaffung von Arbeitsplätzen wirken und größere Wahlmöglichkeiten für den Verbraucher schaffen.

1.8   Der EWSA bekräftigt erneut, dass der Erfolg der Umsetzung der Empfehlungen zur effektiven Umstrukturierung der Haushaltselektrogeräteindustrie in der EU mit dem Ziel der Nachhaltigkeit nur dann sichergestellt und in größtmöglichem Umfang erreicht werden kann, wenn in diesem Industriezweig ein eingehender und effektiver sozialer Dialog auf europäischer Ebene stattfindet.

2.   Hintergrund

2.1   Die Verlagerung der Haushaltselektrogeräteindustrie nicht nur in mittel- und osteuropäische Länder, sondern auch nach Russland, in die Türkei und nach China ist zurzeit das größte Problem der Branche. Es findet also nicht nur eine Verschiebung innerhalb der Mitgliedstaaten der EU statt, sondern ganze Segmente im Bereich Haushaltselektrogeräte werden fast vollständig von Europa nach China verlagert.

2.2   Gerade entdecken die Unternehmen Russland: dort werden neue Fabriken für die Herstellung von Waschmaschinen und Kühlschränken errichtet und bereits bestehende Haushaltselektrogerätefirmen wurden übernommen. In Russland werden im Moment zwischen fünfzehn und zwanzig Fabriken für Haushaltselektrogeräte errichtet. Für europäische Hersteller ist dies von wesentlicher Bedeutung für die Erschließung dieses neuen Marktes, dessen Potenzial enorm ist. Dabei darf aber nicht aus den Augen verloren werden, dass diese Fabriken künftig nicht nur für den nationalen russischen Markt produzieren, sondern ihre Produktion auch in die Union exportieren werden, wenn die grundsätzlichen Probleme des EU-Marktes nicht angegangen werden.

2.2.1   Auch Asien, Nordamerika und der Nahe Osten bieten EU-Herstellern ein großes Exportpotenzial, wobei es in der EU bereits einen Trend zum Export von Haushaltsgeräten gibt. Die Hersteller der Union können die gegenwärtige Situation wie z.B. die wachsende Mittelschicht in diesen Regionen und den guten Ruf der Produkte aus der EU nutzen, um diese Märkte weiter zu erschließen.

2.3   Die wachsende Zahl billiger und problematischer Importerzeugnisse trägt zur Verschärfung der Krise in der europäischen Haushaltselektrogeräteindustrie bei. Es wird an der Qualität gespart, um, unter Ausnutzung der Unterschiede der Steuersysteme und der Arbeitskostenvorteile sowie der relativ geringen Transportkosten, gegen alteingesessene Hersteller in Europa anzugehen.

2.4   Es ist offensichtlich, dass die europäischen Monatslöhne z.B. nicht mit denen in China konkurrieren können. Ein in China hergestellter Kühlschrank (bzw. ein dort hergestelltes Gefrier-gerät) ist — ebenso wie einfache Bauteile wie Motoren oder Kompressoren — konkurrenzlos billig. Rein über den Preis und nicht über bessere Qualität lässt sich für europäische Waren kein Wettbewerbsvorteil erzielen. Die Stärke der europäischen Haushaltselektrogeräteindustrie liegt in ihrer Fähigkeit, qualitativ hochwertige Ware herzustellen. Andere Wettbewerbsvorteile bieten sich in den Bereichen Design, Garantieleistungen, Kundendienst, Kompatibilität der Ersatzteile und Reparaturen. Diese Stärke kann durch eine klare europäische Politik gestützt und ausgebaut werden.

2.5   Europäische Fabriken stellen Kühlschränke und Gefriergeräte der Energieeffizienzklassen A++, A+, A und B her. Der Großteil der derzeitigen Produktion entfällt auf die Klassen A+ und A. Geräte der Klasse A++ machen weniger als 4 % aller Geräte aus.

2.6   Der Absatz energieeffizienter Kühlschränke bewegt sich gleich bleibend auf niedrigem Niveau. Laut CECED (Europäischer Verband der Hausgerätehersteller) gibt es in europäischen Haushalten noch ungefähr 188 Millionen Kühlschränke und Gefriergeräte, die älter als 10 Jahre sind. Alte Haushaltsgeräte (von 1990) verbrauchen ca. 600 kWh/Jahr; Haushaltsgeräte der Klasse A+ verbrauchen ca. 255 kWh/Jahr, und Haushaltsgeräte der Klasse A++ ca. 182 kWh/Jahr. Bei den derzeitigen Preisen und unter den derzeitigen Bedingungen (3) muss ein Haushaltsgerät der Klasse A++ ungefähr 12 Jahre laufen, damit sich seine Anschaffung für den Verbraucher rechnet.

2.7   Noch mehr Anlass zur Besorgnis als die älteren Haushaltsgeräte geben den europäischen Herstellern potenziell gefährliche, nicht energieeffiziente und störanfällige Importe. Diese Besorgnis betrifft insbesondere Importe über den Spotmarkt, bei denen die importierte Ware schnell auf dem gesamten EU-Markt abverkauft wird.

2.7.1   Der Energiebedarf der Haushalte macht infolgedessen 25 % des gesamten Energiebedarfs in der EU aus, wobei der Energieverbrauch von Geräten in Privathaushalten in den letzten Jah-ren aufgrund neuer Anwendungen und Produkte den stärksten Anstieg verzeichnet.

2.8   Die Verwendung hochwertigerer Materialien für den magnetischen Kern bei gleichzeitiger Optimierung der Bauweise unter Berücksichtigung der neuen Materialeigenschaften könnte die Effizienz elektrischer Motoren in Haushaltsgeräten (um bis zu 15 %) steigern und zu einer erheblichen Senkung des Stromverbrauchs in Privathaushalten beitragen.

2.9   Die Europäische Kommission sollte auch die Entwicklung wart- und wiederverwertbarer Haushaltselektrogeräte unterstützen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass europäische Hersteller bereits große Anstrengungen in diesem Bereich unternommen haben und den Energie und Wasserverbrauch von Elektrogroßgeräten deutlich gesenkt haben. Immer mehr Roh-stoffe sind inzwischen nicht nur unter dem Umweltaspekt, sondern auch hinsichtlich ihrer Kosten problematisch geworden. Das gilt für Stahl, Plastik, Nickel, Chrom, Kupfer usw. Die Preise für diese Rohstoffe sowie für Öl-Nebenprodukte steigen. Hersteller, die den Materialaufwand begrenzen können, haben einen großen Wettbewerbsvorteil. Die Möglichkeiten eines solchen Wettbewerbsvorteils durch die Anwendung der Nanotechnologie und die Ökobilanzierung (LCA) zur Verbesserung und Beurteilung der richtigen Materialwahl in der Haushaltselektrogeräteindustrie sind noch längst nicht ausreichend erforscht.

2.9.1   Ein Problem besteht momentan darin, dass unter den gegenwärtigen Rechtsbestimmungen für Elektro- und Elektronik-Altgeräte nicht alle für die Wiederverwertung geeigneten Materialien tatsächlich wieder an die Hersteller zurückgegeben werden, wodurch die Hersteller folglich die Kosten für die Wiederverwertung tragen, die Produkte faktisch aber nicht erhalten.

2.10   Die Förderung der entsprechenden Forschung und der weiteren Miniaturisierung von Bautei-len wie z.B. Motoren, Radiatoren, Kompressoren usw. sollte das Ziel einer von der Kommis-sion finanzierten Forschungspolitik sein. Von einem solchen Standpunkt aus bedeutet die Entwicklung von Haushaltselektrogeräten mit einem Minimalverbrauch von Materialien die Ent-wicklung von Geräten mit einer höheren Wiederverwertbarkeit. Die umweltgerechte Gestaltung (die EU-Rahmenrichtlinie von Mai 2005 mit der Anforderung einer umweltgerechten Gestaltung energiebetriebener Produkte) stellt hier einen wichtigen Ausgangspunkt dar. Die Europäische Kommission muss ihre politischen Instrumente nicht neu erfinden, sondern die bereits vorhandenen Instrumente verfeinern. Das gilt auch für das bestehende EU-Energieetikett mit Verbrauchsangabe. Vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Energiekrise und der Verknappung von Rohstoffen sollte die Kommission dieses Etikett durch zwingende Vorschriften für das Inverkehrbringen von Produkten unterstützen. Nur denjenigen Herstellern, die qualitativ hochwertige Produkte herstellen, sollte künftig gestattet werden, Haushaltselektrogeräte auf dem europäischen Binnenmarkt zu verkaufen. Das wäre der Grundtenor von Rechtsvorschriften, die von Firmen verlangen, qualitativ hochwertige und haltbare Haushaltselektrogeräte herzustellen.

2.11   Es ist ebenfalls sinnvoll, Hersteller und Händler durch eine Richtlinie dazu zu verpflichten, instandsetzbare Haushaltselektrogeräte herzustellen und zu verkaufen, für die Ersatzteile für Reparaturen bereitgehalten und Kundendienstleistungen angeboten werden. Der europäische Verbraucher erwartet einen solchen Kundendienst und durch ihn können sich die europäi-schen Hersteller und Händler von den kostengünstigen Herstellern abheben, deren Produkte nicht repariert werden können, sondern weggeworfen und durch neue ersetzt werden. Das kann nicht im Sinne einer Strategie für nachhaltige Entwicklung sein.

2.11.1   In dieser Hinsicht verfolgt der EWSA mit Interesse die weitere Entwicklung der Diskussion über die Umsetzung des „Aktionsplans für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch und für eine nachhaltige Industriepolitik“ (4) der Europäischen Kommission.

2.12   Die europäische Haushaltselektrogeräteindustrie beschäftigt zurzeit noch etwa 200 000 Arbeitnehmer. Die Branche ist seit vielen Jahren in der Krise. Etwa 57 000 Arbeitsplätze sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Westeuropa verloren gegangen. Die Haushaltselektrogeräteindustrie in Mittel- und Osteuropa ist nach dem Ende des alten politischen Systems zusam-mengebrochen, und nur etwa 20 000 neue Arbeitsplätze wurden seitdem geschaffen.

2.13   Die am stärksten von Verlagerungen in außereuropäische Länder (Russland, China, Türkei) betroffenen Produktgruppen der Haushaltselektrogeräteindustrie sind Klimaanlagen und Kleinelektrogeräte. In den Kühlschrank- und Gefriergerätefabriken sind ungefähr noch 23 000 Menschen beschäftigt.

2.14   Die Umstrukturierungen im europäischen Haushaltselektrogerätesektor werden in den kommenden Jahren andauern. Ihr Umfang wird nicht nur von Markt- und Technologieentwicklungen, sondern auch von politischen Entscheidungen und der Gesetzgebung abhängen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Die europäische Politik sieht sich vier Problemen gegenüber:

3.1.1   Wie kann sichergestellt werden, dass dieser Industriezweig nicht an Länder außerhalb der EU verloren geht? Es besteht eindeutig eine Tendenz zur räumlichen Verlagerung, und daher sollten gegen die vorhergesehene und tatsächliche Gefahr des Abwanderns dieser Branche in Drittstaaten Maßnahmen ergriffen werden.

3.1.2   Wie kann der Strukturwandel in Europa so gestaltet werden, dass die mittel- und osteuropäischen Länder ihre sich entwickelnde Haushaltselektrogeräteindustrie für die Zukunft stabilisieren können, ohne dass die westeuropäischen Länder den wissenschaftlichen und technischen Produktionsprozess, ihr Know-how und die damit verbundenen Arbeitsplätze verlieren?

3.1.3   Wie kann eine wirtschaftlich vernünftige Antwort auf die Schwemme von Importen aus Asien gefunden werden, die gegenüber vergleichbaren europäischen Produkten einen geringeren Wert und eine geringere Qualität aufweisen oder den Normen des Binnenmarktes nicht entsprechen?

3.1.4   Wie kann sichergestellt werden, dass die Ausstattung mit nachhaltigen Geräten auch die erwarteten Folgen für den Binnenmarkt hat und die Nachfrage nach solchen Produkten steigt und weiter in die Forschung und Entwicklung von Geräten mit weniger starken Auswirkungen auf Klimawandel und Nachhaltigkeit investiert wird?

3.2   Die Situation für die Industrie

3.2.1   Diese Branche ist hinsichtlich ihrer Erfolge bei der Energieeffizienzforschung und -entwicklung ein fortgeschrittener Industriezweig. Die freiwilligen Verpflichtungen sind effektiv und wurden von der Industrie eingehalten.

3.2.2   Bedauerlicherweise gibt es auch einen entmutigenden Faktor, nämlich den, dass die Situation der Industrie eine Verschärfung der Politik der EU erfordert, um sicherzustellen, dass die Bemühungen der Industrie auch wirklich Ergebnisse zeigen. Im letzten Jahr entschloss man sich in der Industrie, die in der Vergangenheit so erfolgreichen freiwilligen Vereinbarungen nicht zu erneuern.

3.2.3   Marktüberwachung ist zu diesem Zeitpunkt von größter Bedeutung. Schärfere Kontrollen sollten erwogen werden, um sicherzustellen, dass die Produkte auf dem Markt tatsächlich der Art und Qualität sind, dass — insbesondere hinsichtlich des Klimawandels — positive Wirkungen zu erwarten sind.

3.2.4   Es ist eine größere Unterstützung der Mitgliedstaaten erforderlich, um sicherzustellen, dass höchsteffiziente Produkte, die auf den Markt kommen, wirklich vom Verbraucher angenommen werden. Produkte der Energieeffizienzklasse A++ werden immer noch als zu teure Produkte angesehen, die sich nicht rentieren. Daher wird auf dem Markt immer noch vorwiegend die Entscheidung zugunsten der Produkte der Energieeffizienzklasse A+ getroffen. Es kann verschiedene Anreize geben und es gibt bereits — sowohl in Mitgliedstaaten als auch außerhalb Europas - Beispiele, die sich als gute Verfahrensweisen (5) erwiesen haben.

3.2.5   Auf Ebene sowohl der Mitgliedstaaten als auch der EU sollte die Unterstützung durch die Mitgliedstaaten ebenso wie der lautere Wettbewerb dem Tempo der technischen Innovation in diesem Bereich angepasst werden.

3.2.6   Ein wichtiges Glied in der Versorgungskette ist der Einzelhändler. Dem Einzelhändler der EU müssen die verschiedenen Folgen des Imports von Produkten zum Verkauf auf dem Binnenmarkt deutlicher bewusst sein. Jegliche Bemühung der Industrie wäre vergebens, wenn die Einzelhändler weiterhin Waren importieren und vertreiben würden, die dem Standard nicht entsprechen, potenziell gefährlich und nicht nachhaltig sind. In dieser Hinsicht ist der EWSA der Auffassung, dass der Einzelhandel noch ein beträchtliches Potenzial für eine Sensibilisie-rung für Fragen der Haushaltselektrogeräteindustrie auf dem Binnenmarkt und der Nachhaltigkeit solcher Geräte bietet.

3.3   Der soziale Aspekt

3.3.1   Es ist eine Tatsache, dass Arbeitsplätze verloren gehen, wenn Produktionsstätten verlagert werden. Dadurch verfügt eine Reihe von Arbeitnehmern über Kenntnisse und Fähigkeiten, die keine Anwendung mehr finden, wenn diese Menschen den Produktionsstätten nicht nachziehen. Eine Umstrukturierung der Branche ist von größter Wichtigkeit, um sicherzustellen, dass keine Arbeitsplätze verloren gehen, und dass dieser Industriezweig seine Attraktivität für Spitzenkräfte der Belegschaften behält.

3.3.2   Eine Branche, die besonders berücksichtigt werden muss, sind die Dienstleistungen und hier insbesondere die Reparatur von Haushaltsgeräten. Das weitere gesunde Gedeihen dieser Branche muss dadurch gewährleistet werden, dass die Möglichkeit der Reparatur qualitativ hochwertiger Haushaltsgeräte garantiert wird, und dass Ersatzteile vorhanden sind, damit Reparaturen überhaupt möglich sind.

3.3.3   Gleichzeitig sollte eine gemeinsame Politik der EU und der Mitgliedstaaten den Übergang der Branche zur Herstellung innovativer Produkte fördern und so neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Dieser Prozess sollte durch einen gut strukturierten Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten sowie in den Unternehmen begleitet werden. Auch in den neuen Produktionsstätten in den neuen Mitgliedstaaten der EU müssen die qualitativ hochwertigen europäischen Normen in der Industrie erreicht werden.

3.3.4   Ein effektiver und andauernder sozialer Dialog in diesem Bereich auf EU-Ebene ist zusammen mit der Marktüberwachung und der Durchsetzung von Standards in ganz Europa einer der wesentlichen Faktoren, um sicherzustellen, dass weniger Arbeitsplätze verloren gehen.

3.4   Die Situation für den Verbraucher

3.4.1   Der Verbraucher muss sich sicher sein können, qualitativ hochwertige und energieeffiziente Produkte mit guter Leistungsfähigkeit zu erwerben, und daher benötigt er einen Zugang zu verlässlichen Informationen, die einfach verständlich, wahrheitsgetreu und übersichtlich sind.

3.4.2   Die Etikettierung muss dynamischer gestaltet werden und sich weiterentwickeln können, um der in diesem Bereich stattfindenden Innovation gerecht zu werden. Außerdem sollten die Etikette die Standards für die Haushaltsgeräte genau wiedergeben. Daher sollten Prüfungen strenger und genauer sein.

3.4.3   Marktüberwachung in den Mitgliedstaaten ist besonders wichtig, um sicherzustellen, dass die Geräte wirklich die genannte Leistung erbringen, und dass der Verbraucher das bekommt, was er haben wollte.

3.4.4   Ebenfalls erwähnt werden sollte der potenzielle negative Effekt, den die Anschaffung neuer Haushaltsgeräte auf die Umwelt haben kann, wenn die Verbraucher die alten Geräte gleich-zeitig weiter nutzen, und so einen „Rebound-Effekt“ erzeugen.

3.4.5   Unabhängige Verbrauchertests sind die beste Werbung für effiziente und effektive Haushaltselektrogeräte. Mithilfe solcher Tests lassen sich die Qualität und der Standard eines Gerätes bestimmen sowie feststellen, ob das Gerät seine wesentlichen Funktionen angemessen erfüllt.

3.5   Die Situation für die Umwelt

3.5.1   Der EWSA erkennt an, dass auch in diesem Bereich ein besonderer Beitrag für den Erhalt der Umwelt, zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und zur Eindämmung des Klimawandels geleistet werden kann. In dieser Hinsicht verweist der EWSA auf die Position, die er in seiner Initiativstellungnahme „Ökologische Herstellungsverfahren“ (6) vertreten hat, wobei er noch einmal betont, dass ein „grüner Markt“ innerhalb des Binnenmarktes entstehen kann, und auch die Einzelheiten zur Etikettierung und zum Lebenszyklus des Produkts hervorhebt.

3.5.2   Für alle Waren, die unter dem „guten Standard“ liegen, sollte eine Frist von ungefähr fünf Jahren gelten, innerhalb derer der gewünschte Standard erreicht werden muss. Zum Beispiel sollten Kühlschränke, die einen bestimmten Grenzwert nicht erreichen, nach Ablauf dieser Frist nicht mehr auf dem europäischen Markt verkauft werden dürfen. Dies stimmt mit dem am 24. Oktober 2006 von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Aktionsplan zur Energieeffizienz überein („Produkte, die den vereinbarten Mindestanforderungen nicht entsprechen, dürfen nicht in Verkehr gebracht werden“). Diese Vorschläge entsprechen auch der Ökodesign-Richtlinie und der Umweltzeichen-Verordnung.

3.5.3   Darüber hinaus ist es von Bedeutung, dass die Ökodesign-Richtlinie so bald wie möglich für alle entsprechenden Elektrogroßgeräte Anwendung findet und dass die Umweltzeichen-Verordnung dahingehend überarbeitet wird, dass eine schnelle Entwicklung hocheffizienter Geräte ermöglicht wird: Dies wären die legislativen Voraussetzungen, damit Firmen qualitativ hochwertige und langlebige Haushaltselektrogeräte herstellen.

3.5.4   Hinsichtlich der gegenwärtigen Energiepolitik der EU und unter dem Aspekt, dass der Kennzeichnungsmechanismus allein nicht ausreicht, um die Energieziele der EU zu erreichen, ruft der EWSA die Kommission dazu auf, zur Erreichung der gesetzten Ziele neue Rechtsinstrumente in Betracht zu ziehen.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Der Begriff Haushaltsgeräte umfasst Kühlschränke, Waschmaschinen, Geschirrspülmaschinen, Wassererhitzer, Heizgeräte und alle elektronischen Geräte, die im Haus Verwendung finden.

(2)  Der neue — auch als „Ayral-Paket“ bekannte — Rechtsrahmen ist das letzte Paket des Maßnahmenpakets für eine bessere Rechtsetzung, das auf Marktüberwachung, Produktkennzeichnung und Zulassung gerichtet ist und das vom Europäischen Parlament und dem Rat am 23. Juni 2008 verabschiedet wurde. http://ec.europa.eu/enterprise/regulation/internal_market_package/index_en.htm

(3)  Einschließlich der gegenwärtigen Energie- und Kraftstoffkosten.

(4)  KOM(2008) 397 endg. (16.7.2008).

(5)  Italien — 20 % der Kosten für Kühl-/Gefriergeräte der Energieeffizienzklassen A+ und A++ (maximal 20 EUR) können von der Einkommensteuer abgesetzt werden.

Spanien — Rabattschema: Käufer energieeffizienter Produkte können 2008 in Abhängigkeit von der Art des Haushaltsgeräts eine finanzielle Unterstützung von 50-125 EUR erhalten.

Brasilien plant den Beginn eines Programms zur Förderung des Kaufs von 10 Millionen Kühlschränken für Bürger mit niedrigem Einkommen. Verbraucher hätten ihren alten Kühlschrank, der in der Regel mehr Energie verbraucht, abzugeben, um einen Kredit für einen neuen, sparsameren Kühlschrank zu bekommen.

(6)  Stellungnahme EWSA (ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 1); Berichterstatterin: Frau Darmanin.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wie können soziale Experimente zur Konzeption staatlicher Fördermaßnahmen im Bereich der aktiven Integration in Europa beitragen?“

2009/C 100/13

In einem Schreiben vom 5. März 2008 ersuchte der französische Außenminister und Minister für europäische Angelegenheiten den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, mit Blick auf den künftigen französischen EU-Ratsvorsitz eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Wie können soziale Experimente zur Konzeption staatlicher Fördermaßnahmen im Bereich der aktiven Integration in Europa beitragen?“

Erste diesbezügliche Eckpunkte hatte der „Hohe Kommissar für aktive Solidarität gegen Armut“ skizziert, der dieses Ersuchen veranlasste.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 11. September 2008. an. Berichterstatter war Herr BLOCH-LAINÉ, Mitberichterstatter Herr EHNMARK.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober 2008) mit 66 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Das Ersuchen um Erarbeitung dieser Stellungnahme ist im Zusammenhang mit der Entscheidung der französischen Regierung zu sehen, im November in Grenoble eine Konferenz zu sozialen Experimenten („Rencontres de l'Expérimentation sociale en Europe“) zu veranstalten. Mit dieser Veranstaltung soll auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten das gemeinsame Interesse an Erprobungen und an ihrem Einsatz als Instrument zur Konzipierung staatlicher Sozialpolitik und — im vorliegenden Fall — u.a. zur Armutsbekämpfung durch „aktive Eingliederung“ gefördert werden. Auf dieser Konferenz sollen Beiträge zur Entwicklung einer Experimentierkultur erarbeitet und ggf. entsprechende neue programmatische Initiativen vorbereitet werden, die von der Kommission unterstützt werden könnten. Die nachfolgenden Ratsvorsitze — Tschechien und Schweden — würden u.U. diese Initiative auf ihre Weise fortführen.

1.2   Zu diesem Zweck wäre es (nach Auffassung des französischen Ratsvorsitzes) wichtig, einerseits besser über die derzeitigen einschlägigen Praktiken der 27 Mitgliedstaaten informiert zu sein und sie bekannt zu machen, und andererseits ihre Relevanz, Optimierungswege sowie Möglichkeiten der KoEntwicklung, Verbreitung und Weitergabe auszuloten. Für die geplanten, eingeleiteten oder bereits abgeschlossenen Erprobungen gibt es keine Vorgaben in Bezug auf ihre Größenordnung; es wird darauf Wert gelegt, dass die Vielfalt der Akteure, der Kooperationsweisen, der Rechtsformen und Verfahrensweisen herausgestellt wird. Man möchte möglichst schnell auf freiwilliger und realistischer Basis die Grundlagen für den aktualisierten Kenntnisstand eines europäischen Exzellenznetzes für evaluierte experimentelle Innovationen schaffen.

1.3   In dieser Stellungnahme sollen im Anschluss an die Bemerkungen und Hinweise Standpunkte dargelegt und Empfehlungen ausgesprochen werden.

2.   Bemerkungen und Hinweise

2.1   Das dieser Befassung zugrunde liegende Anliegen ist weder unerwartet noch sporadisch oder unvorhersehbar gewesen. Die Entwicklung sozialer Experimente blüht und gedeiht in Europa (wie auch in den Vereinigten Staaten und Kanada).

2.1.1   In den letzten 10 Jahren wurden in einigen EU-Ländern herausragende Studien, Untersuchungen und Recherchen in diesem Bereich durchgeführt. Eine Vielzahl sinnvoller Sitzungen, Workshops, Seminare, internationaler Konferenzen wurden und werden abgehalten bzw. vorbereitet.

2.1.2   Aber bislang ist der Begriff „soziales Experiment“ oder „soziale Erprobung“ in verschiedener Hinsicht immer noch ein schwammiger Begriff: sein weitläufiges und reiches Bedeutungsfeld hat keine klaren Konturen; er wird mit unendlich vielfältigen und sich ständig wandelnden Inhalten belegt; die Bezeichnungen seiner Bestandteile sind mitunter ziemlich esoterisch; und die Auswertung seiner Ergebnisse ist häufig zu vage (wenn nicht sogar inexistent) oder umstritten, weil mehrdeutig und fragwürdig.

2.1.3   Es lassen sich zu diesem Thema zwar häufig sehr interessante Zusammenstellungen, Berichte, Zeugnisse und Vermerke finden, doch gibt es nach Kenntnisstand des Ausschusses bislang nirgends — weder in Ministerien, dezentralen öffentlichen Körperschaften, nationalen Wirtschafts- und Sozialräten, EU-Beratungsgremien noch in Dachorganisationen der Sozialpartner (1) etc. — echte Verzeichnisse im methodischen Sinne des Wortes.

2.1.4   Selbstverständlich kann im Rahmen dieser Arbeit und der einzuhaltenden Frist nicht der Anspruch erhoben werden, eine umfassende Erhebung der Experimente aufzustellen, die ohne Weiteres für die Konzipierung staatlicher Politik herangezogen werden könnten. Für die Ausarbeitung einer kurzen Stellungnahme, deren Bezeichnung „Sondierungsstellungnahme“ hier ganz wörtlich (erkunden, vorfühlen) zu nehmen ist, musste logischerweise eine Auswahl einiger zuverlässiger und aussagekräftiger europäischer Quellen — Institutionen ebenso wie NRO — getroffen werden.

2.2   Der Begriff „soziale Erprobung“ war nicht von vornherein in den politischen Leitlinien der EU vorgesehen. Natürlich tauchten Erprobung und Mini-Projekte bereits im ersten Programm zur Bekämpfung der Armut (1975—1980) auf. Und auch das zweite (1985—1989) ebenso wie das dritte Programm (1989—1994) wurden u.a. von dem Willen getragen, Bilanz aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen. Aber der Begriff Erprobung kam als solcher nicht vor. Und auch wenn die wesentlichen Neuerungen im Vertrag von Amsterdam und die beachtlichen Errungenschaften des Rates von Lissabon unterschwellig stets den Wunsch zum Ausdruck bringen, gemeinsam auf europäischer Ebene die Vorbilder „bewährter Praktiken“ zu prüfen, haben die nationalen Programme oder Aktionspläne und die gemeinsamen Berichte über den Sozialschutz den Erprobungen nur wenig Platz eingeräumt. Und auch im Rahmen der „Methode der offenen Koordinierung“ wurde ihnen nur wenig Beachtung und Raum geschenkt.

2.2.1   Und gleichwohl wurden in den letzten Jahren in diesem Bereich der EU-Sozialpolitik erhebliche Fortschritte erzielt, die in erster Linie der Europäischen Kommission zu verdanken sind. In zwei Arbeitssitzungen mit ihrer Generaldirektion Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit, für die der EWSA sehr dankbar ist, konnte er vor allem die bemerkenswerten Ergebnisse der Programme EQUAL und PROGRESS und der „Peer-Review“ genauer erörtern. Doch ist diese Stellungnahme nicht der geeignete Rahmen für eine detaillierte Beschreibung dieser Instrumente.

2.2.2   Bis zu dem oben erwähnten Treffen im November in Grenoble wird ein entsprechendes Dossier zusammengestellt, in dem gelungene Beispiele für innovative Erprobungen vorgestellt und die einschlägigen Webseiten zur Konsultierung angegeben werden.

2.2.3   An dieser Stelle seien nur einige Fakten erwähnt: das Programm EQUAL hat in seiner sechsjährigen und mittlerweile abgeschlossenen Laufzeit (2002—2008) in mehreren Mitgliedstaaten 3 Mrd. EUR aus dem Europäischen Sozialfonds in soziale Innovationen in den Bereichen Arbeitsmarkt und aktive soziale Eingliederung investiert. Es hat 3 480 Partnerschaften mit mehr als 2 000 Akteuren geschaffen und mehr als 200 000 benachteiligte Personen gefördert. Es handelt sich vermutlich um das sinnvollste und größte abgeschlossene Programm für soziale Innovationen in Europa.

2.2.4   Abgesehen von diesen Zahlen wurde mit EQUAL und der „Peer-Review“ im Namen der Union ein einzigartiges Korpus an methodischem Wissen geschaffen. Hierin liegt vielleicht die wichtigste Errungenschaft für die Zukunft. Viele dieser Erkenntnisse werden klar verständlich in Leitfäden dargelegt. Daher vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Ergebnisse und der Nutzen dieser Programme auf dem Gebiet der sozialen Eingliederung auch weiterhin einer Bewertung unterzogen werden sollten.

2.2.5   Da die Maßnahmen in dieser Sondierungsphase zusammengetragen werden, hat sich der EWSA andererseits in einem ganzheitlichen Ansatz besonders mit den innovativen Erprobungen im Bereich der Eingliederung durch eine wirtschaftliche Tätigkeit befasst. Zu diesem Zweck hat er die NRO-Netze und Einrichtungen (2) in einer Anhörung (3) konsultiert, die über gut analysierte und evaluierte Beispiele für leistungsfähige Maßnahmen europäischer Sozialunternehmen im Bereich der Eingliederung durch Arbeit berichten konnten. Der Ausschuss ist sich bewusst, dass das Feld der „aktiven Eingliederung“ sehr viel weiter gesteckt ist als dieser Bereich, dem jedoch wichtige Akteure mit gut organisierten Netzen angehören, und es war wichtig, sie unverzüglich in einer ersten Phase zu treffen.

2.2.6   Die in der vorgenannten Anhörung (16. Juni 2008) zusammengetragenen Informationen und der diesbezügliche Bericht werden in einem gesonderten Dossier bis zu dem oben genannten Termin verfügbar sein. An dieser Stelle lassen sich folgende Hinweise geben:

2.2.6.1   Zahlreiche Erprobungen oder Experimente haben auf der Grundlage vielfältiger innovativer Ideen und unter sehr unterschiedlichen Rechtsformen sehr gute Ergebnisse gezeitigt;

2.2.6.2   in allen genannten Fällen gab es eine effektive Zusammenarbeit der unterschiedlichen und sehr engagierten Beteiligten;

2.2.6.3   in mehreren Ländern wurden die ergriffenen Maßnahmen gesetzlich anerkannt und flankiert. Allerdings häufig erst nach einer langen Vorlaufzeit;

2.2.6.4   der Faktor „Zeit“ ist in diesem Bereich von grundlegender Bedeutung. An mehreren Orten besteht große Besorgnis in Bezug auf die Weiterführung der Experimente (in diesem Zusammenhang ist das Ende des EQUAL-Programms beunruhigend). Die Frage steht im Raum, wie die Beteiligten — insbesondere die lokalen Gebietskörperschaften — dauerhaft eingebunden werden können;

2.2.6.5   bezüglich der Evaluierung betonen alle Seiten ausdrücklich, dass ganzheitliche Bewertungen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses der Experimente und entsprechende Maßnahmen notwendig sind;

2.2.6.6   alle Beteiligten sind sich einig, dass die Europäische Union eine maßgebliche Rolle sowohl beim Know-How-Transfer als auch für den Fortbestand der eingeleiteten Projekte spielt.

3.   Standpunkte

3.1   Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass die innovative Erprobung als Instrument für die Konzipierung nationaler und transnationaler Politiken in der Europäischen Union einen großen potenziellen Nutzen hat. Folgende Gründe sprechen dafür:

3.1.1   Die gegenwärtigen Formen der Armut und Ausgrenzung sind mittlerweile so komplex, dass sie lange Zeit eine Herausforderung für Analysen darstellten und Antizipationen immer wieder vereitelt haben. Die Diagnosen, vor allem jene, die anhand der von der Europäischen Union in Auftrag gegebenen Studien erstellt wurden, haben erfreulicherweise in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. In Bezug auf die Abhilfemaßnahmen gibt es aber weiterhin zumindest viele unbekannte und unsichere Aspekte. In vielen Ländern sind die globalen Politikansätze hinter ihren Zielvorgaben zurückgeblieben. Allgemeine Vorkehrungen, die aus theoretischen Annahmen abgeleitet wurden, haben sich schon ziemlich rasch als unangemessen, unwirksam, ja sogar überholt oder kontraproduktiv erwiesen. Und das, weil sie entweder die größeren Zusammenhänge, die Besonderheiten und die Wechselwirkungen der zu bekämpfenden Missstände verkannt haben, oder weil die negativen Nebeneffekte nicht vorhergesehen oder rechtzeitig erkannt wurden. Die Erprobung wäre ein Weg, der es auf der Grundlage einer näheren Beobachtung häufig ermöglicht, Anpassungen und Korrekturen zu erleichtern und generell leichter „falsche gute Ideen“ zu vermeiden.

3.1.2   Der Einsatz der in der Philosophie als „induktiv“ bezeichneten Methode („die Wirklichkeit ergibt sich aus meinen Beobachtungen“, also die Schlussfolgerung vom Besonderen auf das Allgemeine) ist in der Wissenschaft ausgesprochen wichtig. Die gegenteilige, nämlich die „deduktive“ Methode („die Wirklichkeit deckt sich zwangsläufig mit meinen Gedanken“, also die Schlussfolgerung vom Allgemeinen aufs Besondere) hat in der Sozialpolitik zu Fehlkalkulationen und Irrtümern geführt (4). Mit anderen Worten: hier soll nicht dem Verzicht auf umfassende Politiken zugunsten von rein punktuellen Experimenten das Wort geredet werden. Das wäre absurd! Vielmehr soll, wo immer möglich, ein vermehrter Einsatz innovativer Experimente empfohlen werden, um den Verantwortlichen klarere und aussagekräftige Erfahrungswerte für die Konzeption umfassender staatlicher Politikansätze an die Hand geben zu können. Die experimentelle Innovation soll innerhalb der EU als Instrument der Politikgestaltung auf nationaler und europäischer Ebene weiterentwickelt und optimiert werden.

3.1.3   Durch die Erprobung könnte man häufig besser als durch eine sofortige Verbreitung in Erfahrung bringen, wie die verschiedenen mitwirkenden und kooperierenden Akteure vor Ort wirklich bedarfsgerecht zu mobilisieren sind.

3.1.4   Sie würde es ermöglichen, ein „Recht auf Irrtum“ wahrzunehmen, ohne Schaden zu verursachen und systematisch Skepsis auszulösen.

3.1.5   „Die sozialen Experimente“ müssen in den bestehenden solidarischen Sozialsystemen eine tragfähige Grundlage haben und durch ausgereifte Konzepte und die Verantwortung der betroffenen Akteure abgesichert sein. In gleicher Weise würde im Rahmen der Erprobung auch der Einsatzbereich der „Methode der offenen Koordinierung“ erweitert und diese gestärkt werden.

3.2   Auch wenn derartige Argumentationen meistens auf Zustimmung treffen, darf nicht vergessen werden, dass hier und dort auch Zweifel und Misstrauen herrschen, die es zu berücksichtigen und zu diskutieren gilt, wenn man vermeiden möchte, dass sinnvolle Maßnahmen diskreditiert oder untergraben werden.

3.2.1   Folgende Einwände werden am häufigsten erhoben:

3.2.1.1   Der Begriff „Experiment“ ist schockierend, weil Menschen keine Versuchskaninchen sind; es wäre besser, von „Erprobungen“ zu sprechen oder ganz einfach von „Innovationen“;

3.2.1.2   Erprobungen im sozialen Bereich sind meistens nichts Anderes als Laborübungen. Wie kann dies vermieden werden? Wie können Zerrbilder, Scheinhandlungen, Maskeraden, Augenwischereien, Karikaturen und Gettos aufgedeckt werden?

3.2.1.3   Durch die Spezifizität der Orte und Größenordnung sind die Erprobungen im Allgemeinen zwangsläufig nicht reproduzierbar.

3.2.1.4   Erprobungen könnten staatlichen Entscheidungsträgern, die generellen Reformen wenig zugeneigt sind, als Alibi dienen. Sie könnten dazu führen, dass bestehende soziale Schutzregeln eingeschränkt, ja sogar abgeschafft werden.

3.2.1.5   Erprobungen bergen die Gefahr, entweder ungleiche Vorteile zu Gunsten einiger Weniger zu schaffen oder — im Falle ihres Abbruchs — nur momentane, vorübergehende Annehmlichkeiten verschafft und herbe Enttäuschungen verursacht zu haben.

3.2.1.6   Wie vertrauenswürdig sind die Evaluierungsprotokolle?

3.3   Um derartige Widerstände und Skepsis zu entkräften, ist es nach Ansicht des EWSA außerordentlich wichtig, die Erprobungen, die mit Unterstützung und Rückendeckung der staatlichen Entscheidungsträger eingeleitet und durchgeführt werden sollen, ganz genau festzulegen.

3.3.1   Weiter oben (Ziffer 2.1.2) heißt es, dass die soziale Erprobung noch immer „ein schwammiger Begriff“ sei. Damit möchte der Ausschuss keinesfalls Spott zum Ausdruck bringen. Wenn dies so wäre, dann wäre es weder lustig noch nützlich und ehrenhaft. Aber dem ist nicht so. Der Ausschuss möchte vielmehr einen Beitrag dazu leisten, dass Überlegungen zur weitgehenden Beseitigung der „unscharfen“ Bereiche dieses Begriffs gebündelt und zusammengeführt werden.

3.3.2   Der erste Schritt in diese Richtung besteht sicherlich darin, sich auf eine Definition zu einigen. Das ist aufgrund der häufigen inhaltlichen Mehrdeutigkeiten kompliziert. Im Grunde ist die Frage zu beantworten, ob die Zielsetzung der sozialen Erprobung nur in der Anerkennung bestehender Methoden liegen könnte, oder ob sie wirkliche Innovationen zu Tage fördern muss.

3.3.3   Der Ausschuss wollte vermeiden, sich bei der Prüfung eines ideologischen und semantischen Katalogs von Definitionen festzufahren. Deshalb hat er sich hauptsächlich mit folgenden zwei akzeptierten Definitionen beschäftigt:

3.3.3.1   Die erste stammt aus einem amerikanischen Referenzinstitut (5), das vier Bestandsmerkmale vorschlägt:

zufällige Zuordnung der Zielpersonen und einer Kontrollgruppe („Random assignment“);

Anwendung des sozialpolitischen Instrumentariums („Policy intervention“);

Kontrollmechanismus („Follow up data collection“);

Evaluierung („Evaluation“).

3.3.3.2   Die zweite Definition wurde von dem französischen Gremium aufgestellt, das um diese Stellungnahme ersucht hat, und schlägt folgende Bestandteile vor:

sozialpolitische Innovation zunächst in kleiner Größenordnung angesichts der Ungewissheit ihrer Auswirkungen;

Umsetzung unter Bedingungen, die eine Evaluierung der Auswirkungen ermöglichen;

Perspektive einer flächendeckenden Einführung.

Der Europäische Wirtschafts und Sozialausschuss spricht sich eindeutig und vorbehaltlos für diese zweite Definition aus.

3.3.4   Es sei noch einmal daran erinnert, dass Ideen für experimentelle Innovationen reichlich vorhanden sind. Es mangelt nicht an guten, unscharfen Absichten: man kann mit ihnen „die Straße pflastern“. Und das größte Unrecht, das man der sozialen Erprobung und ihrer Zukunft antun könnte, bestünde darin, den öffentlichen Durchbruch von Initiativen zu fördern, die im Vorhinein zum Scheitern oder in ihrer Nichtreproduzierbarkeit zur Isolation verurteilt sind.

3.3.5   Das EQUALProgramm hat insbesondere dazu gedient, Regeln und Methoden zu erstellen, mit denen Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren ausprobiert werden konnten. Der Ausschuss erachtet diese Arbeit für wichtig und begrüßt sie, die sich im Wesentlichen an die Programmverwalter des Europäischen Sozialfonds richtete, die aber auch allen lokalen oder nationalen Entscheidungsträgern, die innovative Erprobungsprojekte starten möchten, hilfreich sein könnte.

3.3.6   Wirklich in Betracht kommen sollten nur Experimente, die folgende Anforderungen erfüllen:

3.3.6.1

eindeutig datierte und bezifferte Instrumentarien;

3.3.6.2

eine präzise Mittelplanung;

3.3.6.3

die explizite und effektive Verpflichtung und konstante Zusammenarbeit verschiedener Akteure: öffentliche Gebietskörperschaften, Forscher, Sozialpartner, sonstige Akteure der Zivilgesellschaft (Stiftungen, Genossenschaften, Vereine auf Gegenseitigkeit, Vereinigungen usw.);

3.3.6.4

Instrumentarien zur Gewährleistung einer aktiven und wirklichen Mitwirkung der „Zielgruppen“ an der Konzipierung und Durchführung der Erprobung und Auswertung der Ergebnisse und somit an einer „Mitgestaltung“ der Experimente und politischen Maßnahmen. In der europäischen Kultur sind Menschen in erster Linie keine „Hilfsbedürftigen“, „Nutzer“, „Unterworfenen“, „Schützlinge des Staates“, „Kunden“, „Wähler“ etc., sondern Personen.

3.3.6.5

ein — im Vollsinn des Wortes — methodisch ausgearbeitetes System zur Überwachung und vor allem zur Auswertung, das vor dem Start der Erprobung feststeht; dieses System muss eine echte Folgenabschätzung umfassen, zuverlässige Evaluierungsexperten vorsehen und so ausgestaltet sein, dass insbesondere die Nachhaltigkeit der Ergebnisse zuverlässig gemessen werden kann;

3.3.6.6

eine aussagekräftige Einschätzung der Möglichkeiten der Reproduzierbarkeit der Erfahrungen (wobei selbstverständlich ein nicht übertragbares Projekt sehr aufschlussreiche Elemente und Bestandteile beinhalten kann);

3.3.7   die ohnehin schon lange Liste dieser Voraussetzungen kann nicht in jedem Fall das Gelingen einer Erprobung gewährleisten. Die Gefahr des Scheiterns muss im Vorfeld einkalkuliert werden, sonst braucht man ein Experiment gar nicht erst zu starten.

4.   Empfehlungen

4.1   Allgemeine Leitlinien

4.1.1   Weder Erprobung noch Innovation sind bislang wirklich integraler Bestandteil der EUStrategie im sozialen Bereich und somit der „offenen Methode der Koordinierung“. Gleichwohl haben sich in den letzten Jahren konzeptuelle Übereinstimmungen herauskristallisiert: die Idee der Modernisierung der Sozialpolitik; die Evaluierung als ein Schlüsselelement für gutes Regieren, das gegenseitige Lernen und der Transfer guter Praktiken. Die Kommission hat am 2. Juli 2008 die erneuerte Sozialagenda verabschiedet, die eine wichtige Mitteilung zur Stärkung der offenen Methode der Koordinierung im sozialen Bereich enthält. Darin wird die Unterstützung „sozialer Experimente“ im Rahmen von PROGRESS betont. Aber jetzt gilt es, diesen Kurs beizubehalten und auf diesem Weg weiterzugehen und dabei zu gewährleisten, dass die dem EQUAL-Programm zugrunde liegenden Prinzipien auch tatsächlich in die künftige Verwaltung und Funktionsweise des Europäischen Sozialfonds einfließen. Abgesehen von den bereits durchgeführten Maßnahmen ist es durchaus denkbar und zu unterstützen, dass der Europäische Sozialfonds und auch die Strukturfonds im Rahmen der Innovationsprogramme für aktive Integration tätig werden.

4.1.2   Der EWSA empfiehlt, einen konzeptionellen Ansatz zu entwickeln, der die zahlreichen und unterschiedlichen EU-Programme zusammenführt, damit die innovative soziale Erprobung im Bereich des Zusammenhalts und der sozialen Integration stärker vorangetrieben wird. In Betracht kommen in diesem Zusammenhang z.B. Programme wie das 7. FuEProgramm, einige regionale Entwicklungsprogramme („Jeremie“, „Jaspers“, „Kleinstkredite“), einige Programme der ländlichen Entwicklung (wie „Leader“) und warum nicht auch Programme für nachhaltige Entwicklung.

4.2   Auch wenn die Projekte sozialer Erprobung im Bereich der Ausgrenzungsbekämpfung im Wesentlichen auf die Initiative der lokalen und nationalen Akteure zurückgehen, so können die EU-Institutionen und in besonderem Maße die Kommission doch ihre Bemühungen verstärken und eine maßgebliche Hebelwirkung ausüben. Die Voraussetzungen sind dafür derzeit sehr günstig.

4.3   Zu diesem Zweck ist es unabdingbar, die diesbezüglichen Gegebenheiten in den 27 Mitgliedstaaten besser zu kennen. Dies ist im Übrigen auch einer der Beweggründe für die Erarbeitung dieser Stellungnahme, die angesichts der Fristvorgabe und der thematischen Breite zwangsläufig nur ein erster Schritt sein kann, mit dem hoffentlich der Boden für weiterführende Entwicklungen bereitet wird.

4.3.1   Diesbezüglich schlägt der Ausschuss nicht die Einrichtung einer x-ten Beobachtungsstelle nach dem klassischen institutionellen Modell vor; dies wäre zu kompliziert und kostspielig und nicht wirklich produktiv. Er plädiert vielmehr nachdrücklich für die Schaffung eines Mechanismus in Gestalt eines aufmerksamen europäischen Netzes mit dem Auftrag, die in den einzelnen EUMitgliedstaaten durchgeführten sozialen Experimente unter verschiedenen Gesichtspunkten (Art, Inhalt, Modalitäten, Erkenntnisse, Ergebnisse) flächendeckend zur Kenntnis zu bringen und weiter zu entwickeln. An diesem Mechanismus sollten Forschungseinrichtungen und Projektpartner in Mitverantwortung (politische, wirtschaftliche, soziale und sonstige Partner) beteiligt werden. Die Europäische Union sollte bei der Einsetzung, Aktivierung und nachhaltigen Entwicklung eines solchen Netzes eine treibende Kraft sein, und zwar unter Federführung der Kommission. Der EWSA spielt dabei und im Rahmen seiner Möglichkeiten als „Brücke“ zur „organisierten Zivilgesellschaft“ eine Rolle und würde gerne seinen Beitrag leisten, sofern er darum gebeten wird.

4.3.2   Der Ausschuss empfiehlt, die bereits bestehenden Quellen wirksam zu nutzen: EQUAL-Bilanz, Peer-Review, bekannte Tätigkeitsbereiche der NRO (6).

4.3.3   Der Ausschuss regt an, konkrete Vorkehrungen zu treffen, damit in den Plänen der nationalen Programme und in den gemeinsamen Berichten aktualisierte Informationen über innovative soziale Erprobungen aufgenommen werden.

4.3.4   Das Parlament und der Rat könnten gemeinsam systematisch zumindest ein Jahrestreffen der sozialen Erprobung mit abwechselnden Schwerpunktthemen einführen. Konkret hieße das z.B., in das Programm für das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung eine oder mehrere Gelegenheiten für gemeinsame Arbeiten zu diesen Themen aufzunehmen.

4.3.5   Es wäre sinnvoll, vermehrt europäische Treffen auf lokaler Ebene in Form von Evaluierungssitzungen unter Fachkollegen („Peer-Review“) zu veranstalten.

4.3.6   Mit diesen Empfehlungen soll ein Beitrag zur schrittweisen Errichtung eines entwicklungsbezogenen „Mapping“ territorialer Projekte zur aktiven Eingliederung geleistet werden, die ggf. im Rahmen von EU-Finanzierungen gefördert werden und als Vorläufer für soziale Experimente auf transnationaler Ebene fungieren könnten. Die regelmäßige Erhebung von „Erfolgsgeschichten“ und Paradebeispielen könnte in einen nützlichen gemeinschaftsweiten Prozess des Erfahrungsaustauschs und transfers einfließen.

4.4   Der Ausschuss plädiert nachdrücklich dafür, dass künftig Mittel in einer Größenordnung bereitgestellt werden, wie sie auch für EQUAL zur Verfügung standen.

4.5   Es ist bemerkenswert — und ausgesprochen lobenswert, dass die Verantwortungsträger und anderen Kenner des EQUAL-Programms selbst darauf hinweisen, dass noch viel Reflexionsarbeit zu leisten bleibt und Weitsicht vonnöten ist, was die soziale Erprobung und die beste Weise betrifft, wie die Europäische Union hier ihre Maßnahmen intensivieren und insbesondere ihre Kenntnisse über Durchführbarkeit, Reproduzierbarkeit und Deontologie erweitern kann. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Kommission dem Rat vorschlagen, in einem zu erstellenden Bericht alle wichtigen Aspekte der Frage des erwarteten Mehrwerts der sozialen Erprobung in Europa zu beleuchten, damit dieses Dossier vorangebracht wird. Dabei sollten insbesondere u.a. folgende Fragen beantwortet werden:

4.5.1   Die häufig zu beobachtende Kluft zwischen den sozialen Erprobungen einerseits und ihrer Anerkennung und vor allem ihrer Verallgemeinerung andererseits ist noch lange nicht ausgeleuchtet. Diese Trennlinie ist kein Ergebnis von Zufällen, Missgeschicken oder belanglosen Umständen. Sie ist Ausdruck eines „Grabens“, über den es nachzudenken gilt.

4.5.2   Sollten genaue Schwellenwerte für die Größenordung festgelegt werden, ab der soziale Experimente und Innovationen in Betracht kommen?

4.5.3   Müssen die konzeptionellen Trennungslinien zwischen dem, was die Bezeichnung Innovation verdient, und dem, das diese Bezeichnung nicht verdient, präzisiert werden? Wenn ja, wie?

4.5.4   Bei den Erprobungen im Bereich der Integration ging es im Wesentlichen darum, Missstände zu beheben, d.h. Abhilfe zu schaffen. Wie kann in dieser Richtung weitergegangen werden und dabei der Prävention mehr Raum gegeben und gleichzeitig versucht werden, die noch nicht prägnanten (demografischen, wirtschaftlichen, soziologischen …) Herausforderungen der Zukunft besser vorherzusehen?

4.5.5   Wie kann der Bereich der Partnerschaften zwischen Akteuren der aktiven Integration erweitert werden? Wie können insbesondere Synergien zwischen Vereinigungen, Integrationsunternehmen und Gesellschaften des bürgerlichen Rechts entwickelt werden, um echte Integrationswege zu entwickeln und zu optimieren? Wie können die Übergänge zwischen Ausgrenzung und Integration im Rahmen der Weiterentwicklung der sozialen Verantwortung von Unternehmen (CSR) verstärkt und vermehrt werden? Sollten Ideen, wie etwa die Zusammenarbeit mit Betriebsräten, gefördert werden? Oder die Verpflichtung für Unternehmen, ab einer bestimmten Beschäftigtenzahl einen Jahresbericht über derartige Fragen zu veröffentlichen?

5.   Schlussfolgerungen

5.1   Die soziale Erprobung ist heutzutage eine der großen Herausforderungen, die die öffentliche Politikgestaltung auf allen Ebenen des Staates ebenso wie auf Ebene der Europäischen Union zu bewältigen hat. Sie ist eine komplexe, anspruchsvolle, verbesserungsfähige methodische Vorgehensweise, die aber nachhaltig von Nutzen sein könnte.

5.1.1   Der EWSA betont, dass die umfassenden staatlichen Politiken auf keinen Fall durch rein punktuelle Experimente ersetzt werden dürfen. Seiner Ansicht nach kann ein vermehrter Einsatz innovativer Experimente die Konzeption dieser Politikansätze erleichtern und auf eine stabile Grundlage zu stellen.

5.2   Die Europäische Union ist berechtigt, den Rahmen für nationale und lokale Politiken vorzugeben. Hierin besteht eine ihrer Hauptaufgaben. Im Bereich der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung hat sie bereits mutige und sinnvolle Pionierarbeit geleistet. Sie kann aber noch mehr leisten, nämlich der Zukunft Europas vor Ort und der Verbundenheit ihrer Bürger ihr gegenüber dienen.

5.3   Der EWSA empfiehlt, dass sich die Union ausdrücklich dazu verpflichtet, innovative soziale Experimente in den zahlreichen, subtilen und zentralen Bereichen der Integrationspolitiken zu fördern, zu begleiten und noch aktiver zu unterstützen, und sich dafür natürlich die erforderliche Zeit und notwendigen Mittel nimmt, um keine falschen Hoffnungen zu wecken.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Zentralverbände, Branchenverbände, branchenübergreifende oder sonstige Verbände.

(2)  Conseil National de l'Insertion par l'Activité Economique (CINAE), Europäisches Netz der Vereinigungen zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung (EAPN), EMES, Europäisches Netz sozialer Integrationsunternehmen (ENSIE), Europäischer Verband der nationalen Vereinigungen im Bereich der Obdachlosenhilfe (FEANTSA).

(3)  Nach einer entsprechenden Vorbereitungssitzung am 22. April 2008 fand am 16. Juni 2008 eine Anhörung statt.

(4)  In weitaus dramatischerer Weise und ganz anderer Größenordnung haben Ideologien und Dogmen jeglicher Art in furchtbare Katastrophen geführt und können dies immer wieder tun.

(5)  Das US-amerikanische URBAN-Institute.

(6)  In diesem Zusammenhang könnte sich der zwischen den NRO und dem EWSA eingesetzte Verbindungsausschuss als nützlich erweisen.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die ethische und soziale Dimension der europäischen Finanzinstitute“

2009/C 100/14

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 25. September 2007, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die ethische und soziale Dimension der europäischen Finanzinstitute“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr IOZIA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 122 gegen 23 Stimmen bei 45 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Die unvorhersehbaren und unerwarteten jüngsten Entwicklungen der Finanzkrise im Hinblick auf den gewaltigen Umfang der Verluste und das offenkundige Versagen der zum Schutz des Marktes und damit zum Schutz der Sparer, Unternehmen und Investoren vorgesehenen ordnungspolitischen Mittel machen weitere Überlegungen zum Inhalt der Stellungnahme notwendig. Die weltweit zu beobachtenden Konkurse sowie die Rettungsaktionen für anscheinend solide Banken und Versicherungen haben bei Millionen von Bürgern Angst und Sorge hervorgerufen.

1.1.1   Der Europäische Rat hat sich auf seiner Tagung am 15./16. Oktober hauptsächlich mit der Finanzkrise beschäftigt und seine Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, konzertiert und global vorzugehen, um das europäische Finanzsystem und die Sparer zu schützen. Nach den Ländern des Euro-Währungsgebiets bekräftigte der Rat in seiner Gesamtheit die am 12. Oktober in Paris festgelegten Grundsätze mit dem Ziel, die Stabilität des Finanzsystems zu wahren, die Aufsicht über den europäischen Finanzsektor, insbesondere über die multinationalen Konzerne, zu verstärken und die Koordinierung der Aufsicht auf europäischer Ebene zu verbessern, sowie außerdem die wichtigen Finanzinstitute zu unterstützen, Konkurse zu vermeiden und die Sicherung der Spareinlagen zu gewährleisten.

1.1.2   Überdies drängte der Rat auf die Beschleunigung der Arbeiten im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Tätigkeit der Rating-Agenturen und über die Einlagensicherung und appellierte an die Mitgliedstaaten, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Zuteilung von Aktienoptionen und die Vergütung der Manager, insbesondere im Finanzsektor, nicht zu einer übermäßigen Risikobereitschaft oder einer extremen Konzentration auf kurzfristige Gewinne führt.

1.1.3   Der Europäische Rat unterstrich die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Unterstützung von Wachstum und Beschäftigung zu treffen sowie auf eine echte und umfassende Reform des internationalen Finanzsystems hinzuarbeiten, die auf den Grundsätzen der Transparenz, der Solidität der Banken, der Verantwortung, der Integrität und der globalen Ordnungspolitik gründet, und Interessenkonflikte zu vermeiden.

1.1.4   Der EWSA hatte bereits seit langem vergebens auf Maßnahmen zur Stärkung der ordnungspolitischen Instrumente sowie auf die Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden und die Koordinierung und Harmonisierung der Aufsichtmaßnahmen gedrängt; er hatte die übermäßige Risikobereitschaft des europäischen und internationalen Bankensystems angeprangert, die durch überzogene, an kurzfristige Ergebnisse gekoppelte Gehälter geschürt wird, wodurch die Akteure in diesem Sektor gezwungen sind, wahllos Verkaufskampagnen für hochriskante Produkte durchzuführen.

1.1.5   Trotz der auch in Europa aufgetretenen Finanzskandale wurden keine konkreten Maßnahmen ergriffen, und erst jetzt, wo das Ausmaß der Krise dramatische Folgen für die gesamte Wirtschaft zu haben droht, wird man sich dessen bewusst, dass die Verheißungen eines ungebremsten und unverantwortlichen Kapitalismus und eines maß- und grenzenlosen Wachstums falsch waren und in eine tiefe Krise geführt haben.

1.1.6   Das Modell ist unwiederbringlich am Ende. Der EWSA hofft, dass sich die politischen Entscheidungsträger endlich ihrer Verantwortung stellen und:

die Ziele und den Tätigkeitsbereich der Aufsichtsbehörden stärken;

die Möglichkeit untersagen, nicht in der Bilanz ausgewiesene Mittel, Darlehen und Wertpapiere zu halten;

die Aktivitäten der nationalen Regulierungsbehörden ausweiten und harmonisieren;

in Bezug auf die Aktivitäten von Hegde-Fonds, Investitionsbanken, strukturierten Offshore-Instrumenten für Finanztätigkeiten, Staatsfonds und Aktienfonds angemessenere und transparentere Standards einführen, sie der Aufsicht der Behörden unterstellen und im Einklang mit der Forderung des Europäischen Parlaments den Charakter und ihre Qualität als „Unternehmen“ festlegen, auf die die geltenden Vorschriften Anwendung finden;

das Steuersystem ändern und bei großen Risiken bzw. überhöhten Verschuldungen von Anreizen bzw. Ermäßigungen absehen;

eine europäische Rating-Agentur schaffen;

im Einklang mit der derzeitigen Forderung des Rates das System der Löhne der Topmanager und der Anreize für den Verkauf von unangemessenen Finanzprodukten an die Finanzmarktakteure regeln;

nicht geregelte Märkte überwachen und

die Kapitalanforderungen für komplexe Finanzprodukte und für Derivate anpassen.

1.1.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts der überaus gravierenden Finanzkrise und des erhofften endgültigen Scheiterns des Casino-Kapitalismus zweckmäßigere Maßnahmen zu ergreifen sind, um das Finanzsystem in Zukunft zu schützen und gleichzeitig die Wirtschaft anzukurbeln. Es müssen alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, um die Gefahr abzuwenden, dass das in der Finanzwelt ausgebrochene Virus auf die gesamte Realwirtschaft übergreift. Investitionen in Infrastrukturen, „grüne Investitionen“, beispielsweise in die Energieeffizienz, erneuerbare Energieträger, Innovation und Forschung können zur Förderung der Nachfrage beitragen. Mithilfe eines neuen von den Mitgliedstaaten besicherten Europäischen Fonds, der von der EIB verwaltet werden könnte, ließe sich das Problem der Finanzklemme für die Wirtschaft lösen, insbesondere für solche wirtschaftlichen Vorhaben, für die mittel- und langfristige Investitionen erforderlich sind.

1.1.8   Der EWSA begrüßt die bisherigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Zentralbank und des Rates und fordert alle europäischen Institutionen auf, in dieser für die Bürger, die Arbeitnehmer und die Unternehmen so dramatischen Situation geschlossen und schnell zu handeln, um baldmöglichst das ordnungsgemäße Funktionieren des europäischen und weltweiten Finanzsystems wiederherzustellen.

1.1.9   Überdies spricht sich der EWSA dafür aus, dass neben den erforderlichen Maßnahmen finanzieller Art für dieses vorrangige Ziel alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, um die daraus resultierende Wirtschaftskrise in Schach zu halten.

1.1.10   Hunderte Milliarden von Euro wurden zur Bankenrettung bereitgestellt. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass mit demselben Einsatz und derselben Bereitschaft ein Rettungspaket auch für die Unternehmen, insbesondere die KMU, geschnürt und die Nachfrage auch durch eine Erhöhung der Gehälter und Rentenzahlungen angekurbelt wird, um zu verhindern, dass die Rezession bald in eine Depression übergeht.

1.2   Der Reichtum und die Vielfalt des Angebots im Bereich der Finanzdienstleistungen sind mit dem Reichtum der Natur vergleichbar. Die Notwendigkeit des Schutzes der natürlichen Artenvielfalt ist inzwischen ins Bewusstsein der Bürger gedrungen. Die Artenvielfalt der Erbringer von Finanzdienstleistungen gehört auch zum kulturellen und sozialen Erbe Europas, das aufgrund seiner großen gesellschaftlichen Bedeutung nicht verloren gehen darf und geschützt und gefördert werden muss. Die ethische und soziale Dimension des europäischen Finanzsystems muss gestärkt und bewahrt werden.

1.3   Laut Artikel 2 Absatz 3 des Vertrags von Lissabon „wirkt (die Union) auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und tech-nischen Fortschritt. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“

1.4   Die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten müssen sich nicht nur für die Förderung und Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch der ethischen und sozialen Dimension des Finanzmarkts einsetzen. „Soziale Marktwirtschaft bedeutet auch sozial gerechte Marktwirtschaft (1), und weiter: „Die soziale Marktwirtschaft ermöglicht der Wirtschaft, ihr höchstes Ziel zu erreichen, d. h. Wohlstand und Wohlergehen des ganzen Volkes, indem sie es vor der Bedürftigkeit schützt“  (2).

1.5   Jacques Delors erklärte bei der Lancierung seines Vorschlags, einen hochrangigen europäischen Ausschuss zur Beilegung der Finanzmarktkrise einzusetzen, neue Regelungen zu suchen und die „verrückte Finanz zu bekämpfen, die uns nicht regieren darf“, dass die gegenwärtige Krise Ausdruck des Versagens kaum oder schlecht regulierter Märkte sei und ein weiteres Mal belege, dass diese sich nicht selbst regulieren können.

1.6   Die jüngste Krise verdeutlicht, dass der Pluralismus und die Artenvielfalt des europäischen Finanzsystems nicht nur Teil des kulturellen und historischen Erbes Europas, sondern auch für Initiativen ethisch/sozialen Charakters notwendig sind und wichtige Faktoren für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und die systematische Senkung der Krisenanfälligkeit der Finanzsysteme darstellen.

1.7   Wirtschaftswachstum, das gewisse Grenzen übersteigt, ohne andere Bedürfnisse befriedigen zu können, führt nicht zu einer Steigerung des Glücks der Menschen. Die Dominanz der spekulativen Finanz gegenüber der Realwirtschaft muss eingeschränkt und wieder in vernünftigere, sozial nachhaltigere und ethisch vertretbarere Bahnen gelenkt werden.

1.8   Die Rolle der ethischen und gemeinwohlorientierten Finanzdienstleister muss aufgewertet werden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss schickt voraus, dass ein dirigistischer Ansatz nicht der richtige Weg ist, denn die Erfahrung zeigt, dass es am besten ist, wenn Initiativen mit stark sozialer und ethischer Komponente spontan im Kleinen entstehen.

1.9   Die ethische Dimension beschränkt sich nicht nur auf einen bestimmten Geschäftsbereich. Die nachgewiesenermaßen wichtige Rolle der Sparkassen und der verschiedenen Genossen-schaftsbewegungen bei der Förderung ethisch/sozialer Aktivitäten und der lokalen Entwick-lung bedarf besonderer Beachtung. Trotz ihrer Anerkennung im Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft werden sie in einigen Mitgliedstaaten immer noch nicht explizit anerkannt und geschützt. Es ist notwendig, sich für eine systematischere und breitere Anerkennung dieses Geschäftsmodells einzusetzen. Unlängst bei der Europäischen Kommission eingeleitete Schritte gegen die Genossenschaftsbewegung in Italien, Spanien, Frankreich und Norwegen belegen angesichts einer fehlenden einschlägigen europäischen Regelung diese Notwendigkeit.

1.10   Der EWSA ist der Auffassung, dass der Rechtsrahmen in Bezug auf das Verhalten von juristischen und natürlichen Personen niemals neutral ist. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Schaffung eines systematischen und allgemeinen Kompensationssystems für ethisch/soziale Initiativen — in einem System, das bereits bestimm—te Verhaltensweisen fördert — den Kriterien der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit des öffentlichen Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft entspricht.

1.11   Sobald belegt werden kann, dass eine Organisation — zumindest partiell, aber auf strukturelle und dauerhafte Art und Weise — auf das Kriterium der Gewinnmaximierung verzichtet, um Initiativen ethischer oder sozialer Art zu fördern, müssen steuerliche und gesetzliche Bestimmungen greifen, die sich — unter Ausnahme der grundlegenden aufsichtsrechtlichen Bestimmungen — zumindest teilweise von der allgemeinen Regelung unterscheiden. In einigen Mitgliedstaaten werden bereits die strikt nach ethischen Grundsätzen handelnden Investoren von der Bankenrichtlinie ausgenommen. Es gilt sich dafür einzusetzen, dies in allen Mitgliedstaaten so zu handhaben.

1.12   Der Ausschuss fragt sich, ob als ethisch/sozial deklarierte Initiativen von Organisationen mit eindeutiger Gewinnorientierung in den Genuss von reglementarischen oder steuerlichen Vorteilen kommen dürfen. Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäftsaktivitäten strukturell getrennt ist: In diesem Fall dürften keine Zweifel an der Zweckmäßigkeit bestehen, einen Ausgleich gegenüber der gewöhnlichen Behandlung zu gewähren. Können die Initiativen jedoch strukturell nicht von den üblichen Geschäftsaktivitäten getrennt werden, muss die Diskussion vertieft und die Zweckmäßigkeit der Einführung eines Kompensationssystems bewertet werden.

1.13   In zahlreichen Marktsegmenten wird der sozialen Dimension keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Konzept der sozialen Verantwortung der Unternehmen (CSR) propa-giert ein konstantes Wachstum, das mit der Würde des Menschen und der Umwelt vereinbar ist und diesen gerecht wird. Prämiensysteme hingegen, die sich ausschließlich nach der Menge der verkauften Produkte richten, anstatt die Qualität der Leistungen zu berücksichtigen, führen zu hoher Unzufriedenheit sowohl bei den Kunden als auch bei den Bediensteten, die dem Stress von Ertragszielen ausgesetzt sind, d. h. unter einem ständigen Vertriebsdruck stehen.

1.14   Der EWSA ist der Auffassung, dass der sogenannte „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ systematisch und gezielt angewendet werden muss. Diesem zufolge kann ein kleiner Intermediär mit einfachem Geschäftsbetrieb nicht der gleichen Belastung durch Vorschriften ausgesetzt werden wie ein komplexer multinationaler Konzern, wobei natürlich die gleichen Markt-garantien gewährt werden müssen. Die Regelungen haben den Zweck, den Markt zu schützen.

1.15   Die Europäische Kommission kann zur Gewährleistung der Vielfalt des Angebots an Finanz-, Bank- und Versicherungsdienstleistungen beitragen, indem sie wettbewerbsverzerrende Maß-nahmen der Mitgliedstaaten verhindert. Die staatlichen Beihilferegelungen sollten diese Aspekte berücksichtigen.

1.16   Casino- und Turbokapitalismus haben wichtige Industrieunternehmen und Finanzinstitute ins Visier genommen, sie zerlegt und verkauft und zu einem Schatten ihrer selbst reduziert. Die Zerstörung von Sachwerten auf dem Rücken von Tausenden von Arbeitnehmern, privaten Haushalten, Aktionären und der Wirtschaft im Allgemeinen hinterließ eine Trümmerlandschaft.

1.17   Mit dieser Stellungnahme bekräftigt der EWSA erneut, dass die Wirtschaft wieder in den Dienst des Menschen gestellt werden muss, wie dies auch ein berühmter Wirtschaftswissen-schaftler forderte: „Die größte Gefahr besteht in der Unterordnung der Überzeugungen unter die Notwendigkeiten des modernen Industriesystems. […] Dessen Ziele und Werte bestehen darin, dass Technologie immer gut ist, dass Wirtschaftswachstum immer gut ist, dass Unter-nehmen ständig expandieren müssen, dass Warenkonsum glücklich macht, dass Faulheit schlecht ist, dass die Priorität, die wir der Technik, dem Wachstum und der Steigerung des Verbrauchs einräumen, durch nichts in Frage gestellt werden darf (3).

2.   Einleitung

2.1   Die ethische und die soziale Dimension

2.1.1   Das Gedankengut der griechischen Antike, das die solide Grundlage der abendländischen Kultur bildet, soll herangezogen werden, um zunächst die Begriffe „Ethik“ und „Soziales“ zu definieren.

2.1.2   Nach Aristoteles ist das Gute des Menschen Gegenstand der Ethik, wobei dieses Gute nicht abstrakt, sondern als das höchste Gut, das sich durch Handeln erlangen und verwirklichen lässt, verstanden wird. Das höchste Gut, nach dem jeder Mensch strebt, ist die Glückseligkeit, und tugendhaftes Handeln stellt die höchste Form der Glückseligkeit dar.

2.1.3   Die Glückseligkeit (ist) das Beste, Schönste und Genussreichste zugleich, und diese Dinge liegen nicht auseinander, wie die Aufschrift zu Delos will:

„a)

Schönstes ist was Gerechtestes ist,

b)

das Beste Gesundsein,

c)

aber das Süßeste ist, wenn man erlangt was man liebt.

d)

Denn dieses alles kommt den besten Tätigkeiten zugleich zu. In diesen aber oder der besten ihrer liegt nach uns die Glückseligkeit.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, Neuntes Kapitel, in der Übersetzung von E. Rolfes).

2.1.4   Die Philosophie hilft uns zu verstehen, dass neben der absoluten Wirklichkeit der Ethik auch relative Wirklichkeiten bestehen, die — kleinen oder größeren — gesellschaftlichen Gruppen entsprechen, die die gleiche Auffassung von Glückseligkeit haben und sich in ihrem Streben zusammenschließen.

2.1.5   Ethik und pluralistische Werte existieren nebeneinander, kennzeichnen die vielgestaltige Entwicklung der Menschheit in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und schließen auch das Phänomen mit ein, das seit kurzem als „Ökonomie des Glücks“ bezeichnet wird: dabei werden die Beschaffenheit des Glücks und mögliche Wege zum Glück auf empirischer Grundlage systematisch untersucht.

2.1.6   Es ist erwiesen, dass wirtschaftliches Wachstum ohne entsprechendes Wachstum anderer Zufriedenheitsfaktoren nicht zu einer Steigerung des Glücks der Menschen führt. Vielmehr „führt wirtschaftliches Wachstum ab einem bestimmten Punkt nicht zu mehr Glück. Eine unbegrenzte Zunahme des Konsums führt zu einem unbegrenzten Mehraufwand an Arbeit für seine Finanzierung und zu mehr Zeit, die für die Erwerbstätigkeit aufgebracht werden muss und dann nicht mehr für zwischenmenschliche Beziehungen zur Verfügung steht. Aber genau diese sind die Hauptquelle des Glücks (4).

2.1.7   Aus verschiedenen Untersuchungen von Eurostat geht hervor, dass in den vergangenen 25 Jahren das Pro-Kopf-Einkommen in Europa zwar kontinuierlich gestiegen, das Glücksempfinden aber im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Ähnliche Ergebnisse charakterisieren auch die Lage in den USA.

2.2   Die Finanzkrise 2007/2008 und ihre Folgen

2.2.1   Die turbulenten Ereignisse, die seit Februar 2007 die Finanzmärkte beunruhigen und auch Finanzinstitute und Banken von erstem Rang betreffen, beschäftigen in zunehmendem Maße die internationale politische Debatte.

2.2.2   Die Folgen der US-Kreditkrise wurden dadurch ausgedehnt und verschlimmert, dass zahlreiche als „subprime“ eingestufte, notleidende Forderungen ohne jedwede Transparenz bezüglich Umfang und Größenordnung des Phänomens im Rahmen der Verbriefung umfassenderen „Paketen“ beigemischt worden sind, weshalb die Finanzakteure jetzt unsichere und abgewertete Titel besitzen.

2.2.3   Diese Unsicherheit hat zu einem weiteren Vertrauensverlust gegenüber dem Finanzsystem geführt mit ausgesprochen negativen Auswirkungen auf alle Geschäftsaktivitäten, die auf einen kontinuierlichen Strom günstiger Kredite angewiesen sind.

2.2.4   Die Hedge-Fonds oder Spekulationsfonds, auch die großer Geschäftsbanken, waren die ersten Opfer der Finanzkrise. Zahlreiche europäische Banken mussten feststellen, dass sich in ihren Portfolios ein großer Anteil von US-Subprime-Krediten befand. Einige deutsche Banken, die eigentlich für ihre Vorsicht bekannt sind, waren stark betroffen, aber auch nicht unmittelbar betroffene Finanzinstitute wurden vom Hypothekenstrudel erfasst, da die Refinanzierungskosten unverhältnismäßig stark anstiegen. Dies war die Ursache dafür, dass die Northern-Rock-Bank in Schieflage geraten war.

2.2.5   Der Fall der Société Générale (SocGen) ist teils mit der im letzten Herbst ausgebrochenen Finanzkrise, teils mit einer gewissen Neigung verbunden, die Finanzmarktakteure zum Eingehen exzessiver Risiken anzuhalten, die sowohl zu bedeutenden Gewinnen als auch — im Falle unvorsichtiger Entscheidungen — zu gigantischen Verlusten führen können. Dies macht die dramatische Unzulänglichkeit der internen Kontrollverfahren dieses Finanzinstituts deutlich und lässt Zweifel an den diesbezüglichen Verfahren im gesamten Bankensystem aufkommen.

2.2.6   Das ist Casino-Kapitalismus, bei dem für die gesprengte Bank leider vor allem die den schwächsten Gruppen zugehörigen Sparer — die ohne eigene Schuld auf die eine oder andere Weise die Zeche bezahlen müssen —, die Arbeitnehmer — bislang über 100 000 Entlassungen in der Finanzbranche, weitere werden folgen (5) — sowie die Bürger aufkommen müssen, die ihre Sicherheit schwinden sehen und sich fragen, ob das Finanzsystem noch glaubwürdig ist.

2.2.7   Die bislang erklärten Verluste belaufen sich auf 400 Mrd. Dollar und dürften nach Schätzungen einschlägiger Kreise die Marke von 1,2 Billionen Dollar erreichen (6). Darunter leiden natürlich die großen institutionellen Anleger und die Pensionsfonds, aber das gesamte Wirtschaftssystem hat unter gravierenden Beeinträchtigungen zu leiden: Der Anstieg der Finan-zierungskosten und die verringerte Verfügbarkeit des Geldes führen zum Anstieg der Preise, heizen die Inflation an und dämpfen die Wirtschaftsentwicklung. Sämtliche Wirtschaftsaktivitäten werden von diesem Teufelskreis erfasst. In einigen Mitgliedstaaten ist bereits von Rezession die Rede.

2.2.8   Sicherlich ist das europäische Finanzsystem, von einzelnen begrenzten Fällen abgesehen, eher als Opfer denn als Täter zu bezeichnen. Sicher ist allerdings auch, dass die „Finanzialisie-rung“ der Wirtschaft, die Suche nach immer komplizierteren Mitteln und Wegen zur Mehrung der Gewinnmöglichkeiten, das immer aggressivere Auftreten von Spekulationsfonds und der Auftritt staatlicher Investmentfonds mit schier unerschöpflichen Mitteln die reale Wirtschaft immer mehr ins Abseits drängen. Dadurch wurden auch die Mängel der nationalen Kontrollsysteme, die Ineffizienz der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden und die beunruhigende Rolle der Ratingagenturen — auch derjenigen, die sich mit dem sogenannten ethischen Rating befassen und Unternehmen wie Parmalat mit einem wunderschönen Verhaltenskodex positiv bewertet haben — vor Augen geführt.

2.2.9   Diese Krise hat alle Marktakteure erfasst, ganz unabhängig von ihrer — hohen, niedrigen oder inexistenten — Spekulationsneigung. Die Integration der Märkte hat ein Stadium erlangt, in dem niemand mehr vor negativen Auswirkungen gefeit ist. Das Problem besteht darin, dass nur die Verluste mit den anderen geteilt werden, die Gewinne hingegen fest in der Hand der Spekulanten bleiben.

3.   Das europäische Finanzsystem

3.1   Die Banken

3.1.1   Unter den Finanzintermediären spielen die Banken eine zentrale Rolle. In einigen Ländern üben sie eine wichtige Kontrolle über die reale Wirtschaft aus und besitzen nicht nur wirt-schaftliche Macht, sondern beeinflussen auch die Entwicklung von Gebieten und Unternehmen und vervielfachen ihre Gewinnmöglichkeiten.

3.1.2   Wenngleich alle Kreditinstitute im Marktumfeld operieren und im Wesentlichen alle dieselben Dienstleistungen anbieten — von den Routineleistungen bis zu hochspezialisierten Ange-boten — haben sie doch sehr verschiedene Ursprünge, die sie bis heute kennzeichnen.

3.1.3   Neben den Handels- und Investitionsbanken, die eine Führungsposition auf dem Markt haben, sind die Sparkassen zu nennen, die sich durch Gemeinwohlorientierung auszeichnen. Sie sind entstanden, um lokalen Gemeinschaften und insbesondere ärmeren Bevölkerungskreisen in Krisenzeiten Rückhalt zu bieten. Die Bezeichnung geht auch in anderen Ländern auf die ersten Sparkassen zurück, die in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Vielfach handelt es sich aber auch um ältere Leihhäuser aus dem 15. Jahrhundert, die einfach ihren Namen geändert haben. Mit 160 Mio. Kunden und 980 000 Angestellten haben diese heute einen Anteil am Privatkundenmarkt von über einem Drittel. Beispiele für integrative Maßnahmen der Sparkassen sind die „Zweite Sparkasse“ in Österreich und „Parcours con-fiance“ in Frankreich.

3.1.4   In einigen abgelegenen und ländlichen Gebieten entwickelte sich die Bewegung der Raiffeisenkassen und Handwerkergenossenschaften. Ihr Gründungsvater war Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der 1864 zur Bekämpfung der Wucherei den ersten Darlehnskassenverein gründete. Die Volksbanken, die ebenfalls zu den Genossenschaftsbanken gehören, gehen zurück auf das Gedankengut von Franz Hermann SchulzeDelitzsch, der 1850 den ersten Vorschussverein (Volksbank) gründete. Aus diesen beiden Vorläufern entwickelte sich die große Bewegung der Genossenschafts- und Volksbanken, die heute in der EU mit über 140 Mio. Kunden, 47 Mio. Mitgliedern und 730 000 Angestellten über einen Marktanteil von mehr als 20 % verfügt.

3.1.5   Dieser historische Abriss verdeutlicht, dass die Zivilgesellschaft den Banken immer schon eine Rolle im Wirtschaftssystem zugewiesen hat, die sich — zumindest teilweise — von der anderer Unternehmen unterscheidet. Von ihnen wurde immer schon erwartet, dass sie — neben dem Gewinnstreben — auch ethische und soziale Zielsetzungen haben.

3.1.6   Ein wichtiges Thema, mit dem sich die Finanzbranche befassen muss, ist die möglichst breite Zugänglichkeit von Finanzdienstleistungen. Während in den Entwicklungsländern nur 20 % der Bevölkerung Zugang zu Krediten hat, liegt diese Zahl in Europa bei beruhigenden 90 %. Aber das reicht noch nicht aus, weil 10 % Opfer einer tatsächlich gravierenden Diskrimi-nierung sein können.

3.2   Die Versicherungen

3.2.1   Entstanden die ersten modernen Banken Anfang des 15. Jahrhunderts in Italien (Banco di San Giorgio, 1406), von denen einige heute noch bestehen (Monte dei Paschi di Siena, 1472), so haben die Versicherungen viel ältere Wurzeln. Die ersten Arten von Versicherungen gehen auf das 3. und 2. Jahrtausend vor Christus in China und Babylonien zurück. Die Griechen und Römer führten erstmals das Konzept der Lebens- und Gesundheitsversicherung im Rahmen von „Wohltätigkeitsvereinen“ ein, die für medizinische Behandlungen, Unterstützung für die Familie und selbst für Begräbnisse aufkamen. Die Zünfte des Mittelalters verfolgten das gleiche Ziel. In Genua wurde hingegen im 14. Jahrhundert (1347) der von einer Investition unabhängige Versicherungsvertrag erfunden, der den Erfolg von Edward Lloyd begründete. Dieser eröffnete 1688 in der Tower Street in London ein von Reedern, Händlern und Schiffskapitänen besuchtes Kaffeehaus, ein idealer Ort der Begegnung für Personen, die Schiff und Ladung versichern wollten und Personen, die sich an dem Unterfangen finanziell zu beteiligen gedachten. In den gleichen Jahren, nach dem großen Brand von London im Jahr 1666, bei dem 13 200 Häuser in Flammen aufgingen, gründete Nicholas Barbon die erste Feuerversicherung, „The Fire Office“.

3.2.2   Im Gefolge der Erfahrung Lloyds' (der im technischen Sinne keine Versicherungsgesellschaft gründete) verbreitete sich dieses Versicherungsmodell in ganz Europa, und neue Gesell-schaften entstanden. Die Entwicklung der modernen Versicherungsgesellschaften ist mit der Entstehung der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie verbunden, deren Vorläufer Pacal und de Fermat, aber auch Galileo sind. Ein weiteres Modell in diesem Bereich sind Versicherungen auf Gegenseitigkeit, die sich nicht im Eigentum von Kapitalgebern, sondern der Versicherungsnehmer — also in unmittelbarem Eigentum der Kunden selbst befinden. Im letzten Jahrhundert entstanden Versicherungsgenossenschaften, die sich in mehreren Ländern aufgrund ihres großen Angebots an Qualitätsprodukten für den gesamten Markt durchgesetzt haben. Wie die Genossenschaftsbanken und Versicherungen auf Gegenseitigkeit sind sie eng mit den lokalen Wirtschaftssystemen verbunden und tragen in erheblichem Maße zu deren Entwicklung bei, auch mittels Reinvestition eines großen Teils ihres erwirtschafteten Mehrwerts.

3.3   Ethische Banken und Versicherungen

3.3.1   Seit einigen Jahren haben ethische Banken und Versicherungen den Betrieb aufgenommen. Sie beschränken ihre Geschäftsbeziehungen und ihre finanzielle Unterstützung ausschließlich auf diejenigen Vorhaben und Betriebe, die strikten Voraussetzungen in puncto Werte entsprechen, die von der gesamten Gemeinschaft, die hinter der Gründung dieser Banken und Versicherungen stehen, geteilt werden. Beispiele für solche Werte, die für diesen Bereich paradigmatische Bezugspunkte bilden, sind: ökologische Nachhaltigkeit, eine kompromisslose Haltung gegenüber Waffengeschäften und ein beständiges Engagement gegen jede Form der Diskriminierung.

3.3.2   Die ethische Finanz und die Mikrofinanz

3.3.2.1   Unter „ethischer Finanz“ verstehen sich Aktivitäten im Finanzbereich zur Förderung menschlicher, sozialer und ökologischer Initiativen im Lichte einer ethischen und ökonomischen Beurteilung ihrer Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft mit dem primären Ziel, die betroffenen Aktivitäten finanziell zu unterstützen oder auch Mikrokredite für Einzelpersonen zu gewähren.

3.3.2.2   Die Mikrofinanz, die aus Banken besteht, die sich auf — vom traditionellen Bankensystem ausgeschlossene — ärmere Bevölkerungsgruppen und Kleinstbeträge spezialisieren, ist insbe-sondere für ihre Präsenz in der Dritten Welt bekannt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch die westlichen Länder über eine bedeutsame Tradition der Kleinstersparnisse verfügen (während Kleinstkredite von marginaler Bedeutung waren, so gab es einst z. B. Pfand-leihhäuser): Beispiele für Kleinstersparnisse sind mehrjährige Anlagen mit geringem Kostenaufwand.

3.3.2.3   Ethische Finanzaktivitäten werden nach folgenden Grundsätzen durchgeführt (7):

a)

der Nichtdiskriminierung der Kreditnehmer, weder aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit, noch aufgrund ihres Besitzstands, gemäß der Auffassung vom Darlehen in all seinen Formen als Menschenrecht;

b)

des Erreichens der Benachteiligsten durch die Gleichstellung von Formen persönlicher, gruppenspezifischer oder gemeinschaftlicher Sicherheiten mit materiellen Sicherheitsleistungen;

c)

der Effizienz, aufgrund derer sich die ethische Finanz nicht als Wohltätigkeit, sondern als wichtige und gesellschaftlich sinnvolle Wirtschaftstätigkeit auszeichnet;

d)

der Beteiligung des Einlegers an den Entscheidungen des Unternehmens, das die Einlagen sammelt, sowohl mittels Angabe von Präferenzen für die Verwendung der Mittel, als auch durch Verfahren der demokratischen Teilhabe an den Entscheidungen;

e)

der vollständigen Transparenz und Zugänglichkeit der Informationen für alle, weshalb die Identität der Einleger bekannt sein muss und der Kunde das Recht hat, die Funktionsprinzipien des Finanzinstituts und seine Entscheidungen bezüglich Mittelverwendung und Investitionen zu kennen;

f)

der Ablehnung der Bereicherung allein auf der Grundlage des Besitzes und des Austausches von Geld. Deshalb muss der — auf der Grundlage nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer und ethischer Erwägungen ermittelte — Zinssatz so fair wie möglich sein;

g)

des Ausschlusses von Finanzbeziehungen mit jenen Akteuren und wirtschaftlichen Akti-vitäten, die die menschliche Entwicklung behindern die Grundrechte der Menschen ver-letzen, wie z. B. die Herstellung von und der Handel mit Waffen, gesundheits- und umweltschädliche Produkte sowie Aktivitäten, die auf der Ausbeutung von Jugendlichen oder der Unterdrückung der bürgerlichen Freiheitsrechte basieren.

3.3.2.4   Unter „ethischer Versicherung“ versteht sich die nach folgenden Gesichtspunkten ausgeübte Versicherungstätigkeit (8):

a)

Gegenseitigkeit, verstanden in der ursprünglichen Bedeutung von Versicherung als Mittel der Solidarität zwischen Personen, die nicht geschädigt wurden, und Personen, die geschädigt wurden und der Entschädigung bedürfen;

b)

Versicherungsfähigkeit, die als Gewährleistung des Versicherungsschutzes für jedes Individuum als Vorbeugung gegen einen eventuellen Schaden — ohne ungerechtfertigte Unterscheidungen nach Alter, eventuellen Behinderungen oder anderen sozialen Beeinträchtigungen — verstanden wird;

c)

Transparenz, die als vertragliche Klarheit und als Nachprüfbarkeit der Kriterien zur Ermittlung der Versicherungsprämie verstanden wird;

d)

Schaffung eines Nutzens für das betreffende Gebiet;

e)

Gleichberechtigung der vertragsschließenden Parteien.

3.3.3   Ethische Investitionen

3.3.3.1   Ethische Investitionen dienen der Finanzierung von Initiativen im Bereich des Umweltschutzes, der nachhaltigen Entwicklung, der Sozialdienste, der Kultur und der internationalen Zusammenarbeit. Die Auswahl der Papiere beschränkt sich nicht auf die Anwendung herkömmlicher Finanzkriterien, sondern auch auf Kriterien wie soziale Verantwortung, Qualität der Arbeitsbeziehungen, Umweltschutz und Transparenz.

4.   Die soziale Verantwortung der Unternehmen

4.1   Die GD Unternehmen und die GD Soziales der Kommission arbeiten in einigen thematischen Bereichen mit den Unternehmensverbänden zusammen. Einer dieser Bereiche ist die korrekte Unterrichtung von Anlegern und Sparern, um ihnen ein besseres Verständnis der Funktionsweise der Finanzmärkte und der verfügbaren Produkte zu ermöglichen. Bildungsinitiativen in Finanzfragen sind ein wirkungsvolles und sozial verantwortliches Mittel, damit Sparer Investitionen in Produkte, die ihren Erwartungen und Risikoprofilen nicht entsprechen, vermeiden können.

4.2   Die Teilhabe der Interessenvertreter an den CSR-Initiativen ist noch auf sehr wenige Unternehmen sowie teilweise auf Aktivitäten, die auf die Gesamtheit der Interessenvertreter abzielen, beschränkt und es gibt noch viel zu tun. Doch ganze Geschäftsbereiche wie Volksbanken, Genossenschaften, Sparkassen, genossenschaftliche Versicherungen und Versicherungen auf Gegenseitigkeit wollen die Entwicklung weiter voranbringen und optimieren.

4.3   Ein unlängst aufgetauchtes Problem betrifft die Formen der Prämien und Anreize für Topmanager und Investmentbanker: sie sollten überarbeitet, auf ein vernünftiges Maß reduziert und zu den Gewinnen und Ergebnissen der Unternehmen korrekt in Beziehung gesetzt werden. Arbeitnehmer und Verbraucher, die von der Krise betroffen sind, missbilligen die überzogenen Gehälter von Topmanagern, die zur Verschärfung ihrer Schwierigkeiten beitragen. Diese Gehälter sind häufig unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg extrem hoch.

4.4   Die neuen Betriebsmodelle der Finanzunternehmen, die aufgrund vierteljährlicher Leistungsbewertungen auf sehr kurzfristige Gewinnmaximierung ausgerichtet sind, führen zu mitunter verantwortungslosen Verhaltensweisen, wie die jüngsten Finanzskandale in einigen Ländern der EU belegen. Die soziale Verantwortung zielt hingegen auf die Möglichkeit ab, den Gewinn im Zeitablauf konstant und dauerhaft zu halten und das materielle und immaterielle Kapital des Unternehmens aufzuwerten. Letzteres stellen im Falle der Finanzunternehmen ihre Arbeitnehmer und durch Vertrauen geprägte Beziehungen zu den Kunden dar.

4.5   Der EWSA hofft auf die verbreitete Annahme von Verhaltenskodizes, die an der sozialen Verantwortung der Unternehmen orientiert sind. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass solche Kodizes überprüfbar sind und überprüft werden, um die Wiederholung solcher Fälle zu vermeiden, dass Manager, die hunderttausende von Sparern betrogen haben, hervorragende Verhaltenskodizes unterschrieben und veröffentlichten, wie dies bei den schlimmsten Finanzskandalen der letzten Jahre der Fall war (9).

5.   Lokale Banken, lokale Wirtschaftsentwicklung und KMU

5.1   Die verschiedenen Typen von Banken sind Wettbewerber auf demselben Markt, die im Wesentlichen dieselbe Art von Dienstleistungen anbieten. Alle sind dem Gebot der Wirtschaftlichkeit verpflichtet. Die Aktiengesellschaften und Privatbanken sind mehr auf den Gewinn der Aktionäre ausgerichtet, die anderen Unternehmen haben mehr die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Bezugsgebiete im Blick, wobei den Problemen des Kreditzugangs von weniger wohlhabenden Kunden, der Entwicklung der KMU und der Unterstützung für sozial schwächere Gesellschaftsgruppen sowie für Gebiete in Randlage und in äußerster Randlage besondere Aufmerksamkeit zuteil wird.

5.2   Es ist zu beobachten, dass in Gebieten mit einem stärker entwickelten lokalen Bankensystem „die Wachstumsrate der lokalen Wirtschaften wesentlich höher ist“. Ferner ist zu betonen, dass lokale Banken in vielen Ländern in erster Linie als Sparkassen und als genossenschaftliche Unternehmen betrieben werden, die einen Großteil ihrer Gewinne vor Ort reinvestieren.

5.3   „Das Bankensystem trägt eine doppelte Verantwortung: auf Unternehmensebene im Sinne vermehrter betrieblicher Effizienz der Kreditinstitute, was sich nicht nur auf die Rentabilität (‚Gewinn erzielen‘), sondern auch auf die Innovationsfähigkeit und die Qualität des eingesetzten Humankapitals auswirkt; auf territorialer Ebene in der Verantwortung, zur lokalen Entwicklung beizutragen (‚Entwicklung anschieben‘), was sich nicht nur quantitativ an der Höhe der Kreditvergabe ablesen lässt, sondern auch an den Kapazitäten für Investitionen in die Auswahl der Projekte und die Bewertung der Möglichkeiten von Unternehmern und Unternehmen, was als regionale Effizienz definiert werden kann. Die betriebliche Effizienz ist in den Dienst der regionalen Effizienz zu stellen: es hat keinen Sinn, über effiziente Banken zu verfügen, wenn sie nicht zur lokalen Entwicklung beitragen“ (10).

5.4   Die KMU haben in den — auch auf europäischer Ebene organisierten — Bürgschaftsorganisationen und Garantiefonds ein sinnvolles Instrument für den erleichterten Kreditzugang ihrer Mitglieder gefunden. Sie versorgen KMU, denen die nötige, von den Banken geforderte Sicherheit fehlt, um eine stabile Geschäftsbeziehung aufzubauen, mit einfacherem Zugang zu Investitionskrediten.

6.   Die Rolle der politischen Entscheidungsträger

6.1   Der EWSA schickt voraus, dass ein dirigistischer Ansatz in diesem Bereich als falsch anzusehen ist. Denn die Erfahrung belegt, dass Initiativen mit stark sozialer und ethischer Ausrichtung am besten spontan an der Basis entstehen. Jeder aktive Eingriff läuft Gefahr, die Spontaneität — die maßgebliche Gewähr für die „Artenvielfalt“ des Wirtschafts- und Finanzsystems — zu beeinträchtigen. Gleichzeitig sollten die politischen Entscheidungsträger jedoch nach Auffassung des Ausschusses so agieren, dass bereits bestehende Initiativen oder die spontane Entstehung neuer Initiativen nicht beeinträchtigt werden.

6.2   Der EWSA fragt sich, ob als ethisch/sozial deklarierte Initiativen von Organisationen mit eindeutiger Gewinnorientierung in den Genuss von reglementarischen oder steuerlichen Vorteilen kommen dürfen. Diesbezüglich ist es sinnvoll, zwischen zwei verschiedenen Situationen zu unterscheiden.

6.2.1   Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäfts-aktivitäten strukturell getrennt ist (siehe z. B. den Fall der Schuldnerbetreuung „Point Passerelle“ des Crédit Agricole). In diesem Fall dürften keine Zweifel an der Zweckmäßigkeit bestehen, einen Ausgleich gegenüber der gewöhnlichen Behandlung zu gewähren.

6.2.2   Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäftsaktivitäten nicht strukturell getrennt ist. In diesem Falle ist es strittig, ob ein Ausgleichs-system vorgesehen werden soll. Die Befürworter eines steuerlichen, finanziellen oder reglementarischen Ausgleichs sind der Auffassung, dass dies aufgrund der von der Initiative erzielten externen Vorteile gerechtfertigt ist. Die Gegner stützen sich vor allem auf zwei Überlegungen: Nur wirtschaftlich selbsttragende Initiativen (d. h. die in der Lage sind, einen angemessenen Gewinn sicherzustellen) können auf die Dauer überleben. Ferner darf wirklich ethisch/soziales Handeln keine wirtschaftlichen Interessen verfolgen und nicht durch rechtliche, finanzielle oder steuerliche Vorteile geleitet werden. Ethisch/soziales Handeln belohnt sich nämlich von selbst: Gutes tun ist schlechthin eine Befriedigung für die so Handelnden.

6.2.3   Nach Auffassung des EWSA wird bereits in der Praxis in allen Systemen ein Ausgleich für ethisch/soziale Initiativen anerkannt. Die Steuervorschriften gestatten den Abzug von Kosten nur dann, wenn diese mit der Schaffung des Einkommens verbunden sind. Dieses Abhängigkeitsprinzip wird allerdings (natürlich innerhalb bestimmter Grenzen) außer Kraft gesetzt, wenn es sich bei den Kosten um Spenden an wohltätige Einrichtungen oder gemeinnützige Organisationen handelt. In diesem Falle ist der Abzug von dem zu versteuernden Einkommen möglich, auch wenn die Kosten nicht unmittelbar mit der Schaffung des Einkommens verbunden sind.

6.2.4   Nach Ansicht des EWSA ist der Rechtsrahmen in Bezug auf das Verhalten von juristischen und natürlichen Personen niemals neutral. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist der EWSA der Auffassung, dass die Schaffung eines systematischen und allgemeinen Kompensationssystems für ethisch/soziale Initiativen — in einem System, das bereits bestimmte Verhaltensweisen fördert — den Kriterien der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit des öffentlichen Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft entspricht.

6.2.5   Gemäß dem vom EWSA vorgeschlagenen Verfahren würde der Ausgleich nicht den entsprechenden Finanzeinrichtungen direkt zukommen, sondern vielmehr ihren ethisch/so-zialen Initiativen. Der EWSA hält dies im Grunde nicht für verwerflich: Ethik und Wirtschaft können nicht unter allen Umständen voneinander getrennt und es kann nicht gefordert werden, dass nur diejenigen Aktivitäten, die keinerlei wirtschaftlichen Nutzen erbringen, auch als wirklich ethisch zu betrachten sind, denn sonst wären ethische Initiativen letztlich nur mit Wohltätigkeit oder Freigebigkeit gleichzusetzen.

7.   Finanzieller Ausgleich und Steuern

7.1   Der EWSA begrüßt diesbezügliche Initiativen. Dafür gibt es auch eine wirtschaftliche Recht-fertigung. Aus unterschiedlichen Gründen im Zusammenhang mit politischen Entscheidungen, aufgrund von Haushaltszwängen oder der Ausrichtung auf Wirtschaftlichkeit war in den letzten 10—20 Jahren ein Abbau des Sozialstaats festzustellen. Wenn ein übermäßiges Absinken des Wohlstands der Bevölkerung vermieden werden soll, darf man sich beim Streben nach finanzieller und sozialer Absicherung nicht ausschließlich auf das Wirtschaftswachstum verlassen. Vielmehr muss der Boden für Initiativen von unten bereitet werden.

7.2   Ein Beispiel für Regelungen, die eine Zusammenarbeit des öffentlichen und des privaten Sektors zur Gewährleistung weiterhin hoher Sozialstaatstandards fördern, stellt die Strukturie-rung des Bereichs der Gesundheitsversicherung in den Niederlanden dar. Auf der einen Seite sind die Versicherungen verpflichtet, allen Bürgern Versicherungsschutz zu gewähren, auf der anderen Seite können sie für größere Risiken, die sie deshalb übernehmen müssen, von der öffentlichen Hand Ausgleichsleistungen erhalten. Auf dem niederländischen Markt wurden zudem beispielhafte Initiativen entwickelt, um HIV-Positiven den Zugang zu Lebensversicherungen zu erleichtern.

7.3   Ein weiteres interessantes Beispiel ist der finanzielle Ausgleich für die Förderung des Zugangs zu den grundlegenden Finanzdienstleistungen in Belgien. Dafür wurde ein Banken-fonds für Ausgleichszahlungen an Intermediäre eingerichtet, die einen leichteren Zugang zu den Dienstleistungen bieten. Auf diese Weise zahlen die Institute mit den strikten Bedin-gungen in den Fonds ein, aus dem die weniger restriktiven Institute Mittel erhalten.

7.4   In Bezug auf Steuererleichterungen besteht bereits ein weit verbreitetes System zur Förderung von Genossenschaften, die als Hilfskassen auf Gegenseitigkeit tätig sind.

7.5   Ein Beispiel für eine Regelung, die Organisationen mit eindeutig sozialer Zielsetzung Steuererleichterungen gewährt, ist das italienische ONLUS-Gesetz („Organizzazioni Non Lucrative di Utilità Sociale“, nicht gewinnorientierte gemeinnützige Organisationen).

8.   Rechtsvorschriften

8.1   Die Regelungen gehen mit Kosten und Bestimmungen einher, die Belastungen für die Unternehmen und Intermediäre darstellen. Ein Ansatz, der die Maßnahmen in den letzten 20 Jahren anleitete, war der der „gleichen Ausgangsbedingungen“. Wenn alle vergleichbaren Akteure gleichberechtigt sind (z. B. Banken, Versicherungen usw.), dienen die Vorschriften der Steige-rung des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit. Wird dieses Prinzip jedoch zu strikt und ohne entsprechende Korrekturen angewandt, ist es ein unüberwindbares Hindernis für das Entstehen und Überleben ethischer und sozialer Initiativen. Diese Gefahr kann durch eine systematische und gezielte Anwendung des sogenannten „Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ eingedämmt werden. Diesem zufolge kann ein kleiner Intermediär mit einfachem Geschäftsbetrieb nicht der gleichen Belastung durch Vorschriften ausgesetzt werden wie ein komplexer multinationaler Konzern.

8.2   Sobald belegt werden kann, dass eine Organisation — zumindest partiell, aber auf strukturelle und dauerhafte Art und Weise — auf das Kriterium der Gewinnmaximierung verzichtet, um Initiativen ethischer oder sozialer Art zu fördern, müssen steuerliche und gesetzliche Bestimmungen greifen, die sich zumindest teilweise von der allgemeinen Regelung unterscheiden. In einigen Mitgliedstaaten werden bereits die strikt nach ethischen Grundsätzen handelnden Investoren von der Bankenrichtlinie ausgenommen. Es gilt sich dafür einzusetzen, dies in allen Mitgliedstaaten so zu handhaben.

8.3   Trotz ihrer Anerkennung im Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft werden die Genossenschaftsbewegungen in einigen Mitgliedstaaten immer noch nicht explizit anerkannt und geschützt. Es ist notwendig, sich für eine systematische und breite Anerkennung dieses Geschäftsmodells einzusetzen.

8.4   Die Europäische Kommission kann zur Gewährleistung der Vielfalt des Angebots an Finanz-, Bank- und Versicherungsdienstleistungen beitragen, indem sie wettbewerbsverzerrende Maßnahmen der Mitgliedstaaten verhindert. Die staatlichen Beihilferegelungen sollten diese Aspekte berücksichtigen.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  A.F. Utz, Etica economica, (San Paolo), Cinisello Balsamo, 1999.

(2)  Konrad Adenauer, Memoiren 1945—1953, DVA, Stuttgart 1965.

(3)  John Kenneth Galbraith, Liberty, Happiness … and the Economy, in: The Atlantic Monthly, Juni 1967.

(4)  Luca de Biase, Economia della felicità, Feltrinelli 2007.

(5)  Quelle: UNI United Network International, Genf 2008.

(6)  Mitteilungen der Banca d'Italia, Bollettino Economico Nr. 52 April 2008.

(7)  Partizipative Demokratie: Definitionen einer vom Haushaltsressort der Region Latium/Italien in Auftrag gegebenen Untersuchung.

(8)  Ebenda.

(9)  Einer solchen Person wurde z. B. mit folgender Begründung die Ehrendoktorwürde verliehen: „Engagiert auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene bei der Führung der Unternehmensgeschäfte, wobei er sich durch Mut, Ausdauer, Erfindungsgabe, hervorragender beruflicher Qualifikation und klarer Auffassung der Sachlage auszeichnet. Sein Handeln ist von ethischen Gesichtspunkten nicht zu trennen, wobei er die — ausgesprochen wenigen — Personen Lügen straft, die davon ausgehen, dass Ethik und Wirtschaft fast unvereinbare Begriffe sind“.

(10)  Alessandrini, P. (2003), Le banche tra efficienza gestionale ed efficienza territoriale: alcune riflessioni, („Die Banken zwischen verwaltungsspezifischer und regionaler Effizienz: Einige Überlegungen“).


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/93


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Brasilien“

2009/C 100/15

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 16. Januar 2008, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Brasilien“.

Die mit den Vorarbeiten betraute Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 30. September 2008 an. Berichterstatter war Herr BARROS VALE, Mitberichterstatter Herr IULIANO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 116 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1   In der vorliegenden Stellungnahme wird die Entwicklung der Beziehungen EU-Brasilien dargestellt und die aufstrebende politische und wirtschaftliche Rolle untersucht, die dieses Land mit immer größerem Nachdruck auf der internationalen Bühne spielt.

1.2   Im Jahre 2007 wurde die neue strategische Zusammenarbeit EU-Brasilien (1) beschlossen, die im ersten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs EU-Brasilien am 4. Juli 2007 einen konkreten Ausdruck fand. Der EWSA unterbreitet in der vorliegenden Stellungnahme seine Empfehlungen zu den Vorschlägen des gemeinsamen Aktionsplans, in dem die Inhalte für die strategische Zusammenarbeit entwickelt werden, u. a.: Mitwirkung und wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Wirtschafts- und Handelskooperation, Bildung, Forschung und Entwicklung, sozialer Dialog, Umwelt, Klimawandel und Biokraftstoffe, Einwanderung.

1.3   Bezüglich der Rolle des EWSA wird in dieser Stellungnahme die Gründung eines Forums der Zivilgesellschaft EU/Brasilien vorgeschlagen, nach dem Beispiel der bereits bestehenden Diskussionsforen mit Indien und China. Sein Partner in diesem neuen Gremium wäre der Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung Brasiliens (CDES), die mit dem EWSA vergleich-bare brasilianische Einrichtung, die im Jahre 2003 vom Staatspräsidenten Lula da Silva gegründet wurde. In der Stellungnahme werden Vorschläge für die künftige Zusammensetzung und Arbeitsweise dieses Diskussionsforums gemacht und die Themen genannt, die behandelt werden müssten; so wären wirtschaftliche, soziale und ökologische Fragen zu thematisieren, die multilateralen Beziehungen, die dreiseitige Zusammenarbeit EU-Brasilien mit Drittstaaten, die Rolle Brasiliens für die Integration des MERCOSUR und bei den Beziehungen EU-MERCOSUR.

2.   Zweck der Stellungnahme

2.1   Mit dieser Stellungnahme will der EWSA die Gründung eines Forums der Zivilgesellschaft EU-Brasilien, wie sie bereits mit China und mit Indien erfolgt ist, vorbereiten und seine Standpunkte dazu darlegen.

2.2   Es ist darauf hinzuweisen, dass sich das geplante Diskussionsforum in die umfassende Strategie der EU eingliedert, die auch für die strategische Zusammenarbeit EU/Brasilien bestimmend ist, was aus den Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens EU-Brasilien, das in Lissabon stattfand, deutlich hervorgeht; darin wird die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung Brasiliens als Teil der institutionellen Architektur der Beziehungen zwischen beiden Seiten ausdrücklich empfohlen (2).

2.3   In der Stellungnahme werden der derzeitige Stand der Beziehungen EU-Brasilien, ihre Vorgeschichte und ihre Aussichten erörtert und dabei die Stellung Brasiliens gegenüber dem MERCOSUR und der internationalen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Aspekte behandelt, die direkt oder indirekt die Beziehungen des Landes zur EU auf den unterschiedlichsten Ebenen beeinflussen oder bestimmen.

2.4   In dieser Initiativstellungnahme will der EWSA die künftige Arbeitsweise und die Hauptthemen umreißen, die seiner Ansicht nach das Diskussionsforum und seine Tätigkeit bestimmen sollten; sie soll als Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft Europas zu dem Gipfeltreffen EU/Brasilien dienen, das im Dezember 2008 stattfinden soll und von dem die politische Zustimmung zur Gründung jenes Forums erwartet wird.

3.   Aktionsrahmen

3.1   Vorgeschichte

3.1.1   Brasilien pflegt seit dem Ende der Kolonialzeit bis heute gute Beziehungen zu allen europäischen Staaten. Gleichwohl enthält der Gedanke, die Beziehungen zwischen der EU und Brasilien zu strukturieren, ein neues Element — nämlich dass es die EU selbst ist, die eine systematische und kontinuierliche Organisation der langfristigen Zusammenarbeit zwischen beiden geographischen Räumen zusammenführen, aufwerten und vertiefen will.

3.1.2   Diese Annäherung ist das Ziel verschiedener Initiativen zugunsten ihrer Formalisierung auf verschiedenen Ebenen, wie etwa — auf der Ebene der organisierten Zivilgesellschaft — der institutionellen Vereinbarung, die im Juli 2003 zwischen dem EWSA und dem CDES geschlossen wurde, dem im Jahre 1992 bereits ein Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Föderativen Republik Brasilien vorangegangen war. Der CDES, mit dem der EWSA die Beziehungen weiter intensivieren will, besteht seit Mai 2003. Der Präsident Brasiliens ist gegenwärtig auch Präsident des Rates, der aus 102 Mitgliedern (3) besteht.

3.1.3   Trotz der Bemühungen beider Seiten hat die Vertiefung der Beziehungen, insbesondere im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, nicht die erwartete Entwicklung genommen, wenn-gleich alles darauf hinweist, dass im Jahr 2007 ein Wiederaufschwung der Beziehungen vor allem jenseits des kommerziellen Bereichs stattgefunden hat. Es gab verschiedene Initiativen (4), und die Arbeit dürfte infolge der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Brasilien, wie sie in der Mitteilung der Kommission vom Mai 2007 angeregt worden war, im Jahr 2008 noch weiter intensiviert werden. Es besteht freilich ein Missverhältnis zwischen der Intensität, mit der sich die bilaterale Integration seitens der einzelnen Mitgliedstaaten mit Brasilien im wirtschaftlichen und unternehmerischen Bereich entwickelt, und dem langsamen Rhythmus der allgemeineren Kooperation und in den übrigen Bereichen zwischen der EU und Brasilien. Die Investitionen der europäischen Staaten in Brasilien und deren kommerzielle und industrielle Zusammenarbeit und die Entwicklungshilfe sowie der Dialog zwischen den Sozialpartnern sind positive Vorzeichen, die eine eindeutigere und stärkere Rolle der Zivilgesellschaft rechtfertigen, um bei den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen, die rascher vorangetrieben werden sollen, auch die soziale Dimension zu gewährleisten.

3.1.4   Mit dem Gipfeltreffen von Lissabon am 4. Juli 2007 wurden endlich solide Grundlagen für eine institutionelle bilaterale Beziehung auf höchster politischer Ebene gelegt, indem Verfahren für dauerhafte Gespräche geschaffen wurden, die neue fruchtbare Beziehungen erhoffen lassen. Diese neue Phase wird mit einer Stärkung der politischen Dialoge in den einzelnen Sektoren, mit der Antwort auf verschiedene aktuelle und künftige globale Herausforderungen, der Ausweitung und Vertiefung des Handels und der Wirtschaftsbeziehungen und der Annäherung zwischen den Völkern Europas und Brasiliens einhergehen.

3.1.5   Wie es in der Mitteilung der Kommission heißt, kann die strategische Partnerschaft EU-Brasilien erheblich dazu beitragen, die Führungsstärke Brasiliens in der Welt und der Region auszubauen. In diesem Sinn versteht sich die strategische Partnerschaft als eine Ergänzung und treibende Kraft für die regionale Integration, insbesondere des MERCOSUR, und für dessen Verhandlungen mit der Europäischen Union zugunsten eines Assoziierungsabkommens zwischen den beiden Regionen, aber auch für die Bewegung zur Errichtung einer Union der südamerikanischen Staaten (UNASUR).

3.2   Hintergrund

3.2.1   Brasilien ist aufgrund seiner Bevölkerungsstärke, der Größe seines Territoriums — es grenzt an fast alle übrigen südamerikanischen Staaten — und seiner Wirtschaft einer der wichtigsten Akteure auf dem internationalen Parkett und spielt fraglos eine wichtige Rolle beim Aufbau des MERCOSUR, in Lateinamerika generell und immer mehr auch bei den Welthandelsverhandlungen; seine Bedeutung als einer der wichtigen Akteure auf der Weltbühne (BRIC (5)) in diesem neuen Jahrhundert lässt sich also unschwer absehen. Brasilien, das sein Modell unter Berücksichtigung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells entwickelt hat, spielte auch die wichtigste Rolle bei der Förderung der politischen und sozialen Dimension in der Strategien des MERCOSUR, die im übrigen viel Ähnlichkeit mit denjenigen haben, die bei der Integration der Europäischen Gemeinschaft verfolgt wurden.

3.2.2   Angesichts der ambitionierten Ziele für die Beziehungen EU-Brasilien, insbesondere in Bezug auf die Themenbereiche wirtschaftliche und soziale Integration, erscheint eine Stärkung des Institutionenaufbaus in Brasilien erforderlich, damit eine Schnittstelle zwischen beiden Seiten vorhanden ist und sich die Effizienz und die Ergebnisse der von beiden Seiten angestrebten strategischen Partnerschaft optimieren lassen.

3.2.3   Derzeit konzentrieren sich die Beiträge Brasiliens zu den Beziehungen zur EU auf Handels- und Wirtschaftsaspekte, wie etwa Biokraftstoffe, dreiseitige Entwicklungszusammenarbeit (EU, Brasilien und Entwicklungsländer), Standortbestimmung und Rolle an der Seite der EU bei den Fragen Klimawandel, Wissenschaft und Technologie.

3.2.4   Die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und den Mitgliedstaaten der EU, die durch die bereits so wichtige Position Brasiliens in der Welt bedingt sind, gehen bei weitem über Wirtschafts- und Handelsbeziehungen hinaus und sind in großem Maße auch darin begründet, dass in vielen europäischen Ländern bedeutende Gemeinden brasilianischer Einwanderer vorhanden sind. Denn es gibt seit Jahrhunderten Wanderungsbewegungen in beide Richtungen, was enge Bande zwischen Brasilien und zahlreichen EU-Mitgliedstaaten schuf.

3.2.5   Das nächste Gipfeltreffen EU-Brasilien findet im Dezember 2008 in Rio de Janeiro statt und wird ein neuer Meilenstein sein — unabhängig vom Stand der Verhandlungen über das Abkommen EU-MERCOSUR. Die EU bringt folgende Vorschläge mit, von denen sie erwartet, dass sie in die Ausarbeitung eines gemeinsamen Aktionsplans eingehen, der spätestens auf dem diesjährigen Gipfeltreffen verabschiedet wird: Festlegung einer gemeinsamen Agenda, Stärkung des Multilateralismus, Verbesserung der Standards für die Menschenrechte, Demokratie und verantwortliche Regierungsführung, Förderung der sozialen und menschlichen Entwicklung, Umweltschutz, Energieversorgungssicherheit, Stabilität und Wohlstand in Lateinamerika, Festigung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen (Schwerpunkt: Probleme der Finanzmärkte), Informationsgesellschaft, Luft- und Seeverkehr, wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit, Förderung des Friedens und Austausch in den Bereichen Bildung und Kultur sowie zwischen den Zivilgesellschaften beider Seiten.

3.2.6   Wenngleich die Festlegung eines eindeutigen Rahmens für die Beziehungen EU-Brasilien wichtig ist, liegt doch auf der Hand, dass die normalen Beziehungen nicht zwischen den „politischen Repräsentanten“ stattfinden, sondern vor allem über die vielfältigen Formen der Zivilgesellschaft. Es sind die Unternehmen, die Einrichtungen ohne Erwerbszweck in den unterschiedlichsten Ausprägungen, einzelne Bürger oder Gruppen, die die eigentlich treibende Kraft für die Entwicklung dieser Beziehungen bilden. Die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände waren z. B. unabdingbar für die Reformen in Brasilien und sind es immer noch: die IAO hob in ihrem Bericht von 2006 über beide Amerika Brasilien hervor, weil sich dort Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verbessert haben und sich die Gewerkschaften und Unternehmen darauf verständigt haben, der körperlichen Unversehrtheit der Arbeitnehmer vor bloßen Lohnforderungen Vorrang zu geben. Auch die NGO haben die nationalen Bemühungen zu einer Umlenkung von Ressourcen in die ärmsten Bevölkerungsgruppen und Wohngebiete unterstützt; dabei ging es nicht nur um die Bekämpfung der Armut, sondern auch um die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts mit Hilfe der Sozialpartner, der Genossenschaften und der NGO-Netzwerke, die sich über das gesamte Land spannen. Man kann von einem wirklich erfolgreichen Modell unter breiter Mitwirkung der Zivilgesellschaft sprechen, das vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP anerkannt ist. Dank der aktiven Mitarbeit der Gesellschaft gelang es, den Index der menschlichen Entwicklung in 5 000 Kommunen Brasiliens zu ermitteln. Ferner stellte die Europäische Kommission (6) fest, dass die EU im Jahre 2005 mit Hilfe der NGO vor Ort 37 Vorhaben (mit einem Gesamtvolumen von 24 Mio. EUR) durchgeführt hat: die Kommission hebt hervor, dass die Partner dieser Projekte verantwortungsbewusst, kompetent und fähig sind, den Herausforderungen zu begegnen und sich dem Wandel zu stellen.

3.2.7   Die Möglichkeiten der auf den verschiedenen Ebenen vorhandenen Beziehungen zwischen der EU und Brasilien werden nicht vollständig genutzt, da es keine konkrete Förderpolitik zugunsten der portugiesischen Sprache gibt und Instrumente zur Sprachvermittlung fehlen.

3.2.8   Auch die Förderung des touristischen Potenzials, sowohl der EU in Brasilien als auch Brasiliens in der EU, ist noch weit davon entfernt, das Potenzial der jeweiligen Märkte und ihrer Besonderheiten voll auszunutzen.

3.3   Aussichten

3.3.1   Mitwirkung und wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt. Die Weiterentwicklung und Konsolidierung der Demokratie sind Prioritäten der brasilianischen Politik. In diesem Rahmen ist die Stärkung der partizipativen Demokratie eine grundlegende politische Ausrichtung. Die partizipative Demokratie stützt sich auf die brasilianische Verfassung, und es wurden dazu verschiedene Verfahren geschaffen. Die organisierte Zivilgesellschaft und insbesondere der Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung Brasiliens messen diesen Ausdrucksformen für die Bürger große Bedeutung bei.

Brasilien ist dabei, Erfahrungen mit der Mitwirkung auf verschiedenen Ebenen zu sammeln, um die wichtigsten Programme für die Umverteilung von Mitteln und die soziale Unterstützung durchzuführen. Die EU hat ihrerseits in den vergangenen Jahrzehnten ein vergleichbares System entwickelt, um ihre Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zu verwirklichen. Es ist von größtem Gewinn, diese beiden Erfahrungen miteinander zu vergleichen, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass in Brasilien große regionale Asymmetrien bestehen, wenngleich sich der Gini-Koeffizient (7) verbessert hat. Es muss immer wieder betont werden, dass bei diesen Formen der Mitwirkung auch die Organisationen der Sozialpartner (Gewerkschaften und Arbeitgeber), die NGO und die nationalen, regionalen und lokalen Gebietskörperschaften einbezogen werden müssen. Nur auf diese Weise können Netzwerke von verantwortungsbewussten Akteuren geschaffen werden, die sich für die Politik der Entwicklung und des Ausgleichs mitverantwortlich fühlen.

3.3.2   Zusammenarbeit in Industrie und Handel, das Problem Landwirtschaft. Es wird erforderlich sein, Strategien und Instrumente zur Unterstützung einer immer besseren Integration von Industrie und Handel zu entwickeln, ausgehend von den strategischen Sektoren, bei denen Brasilien und die EU in einem globalisierten Umfeld wettbewerbsfähig sind; ferner wird es wichtig sein, für die organisierte Zivilgesellschaft Bereiche der Mitwirkung und Überwachung zu schaffen, die es gestatten, Investitionstrends und die Ergebnisse der Zusammenarbeit zu verfolgen. Gegenwärtig ist Brasilien bereits einer der weltweit größten Exporteure von Lebensmitteln, und man ist dort davon überzeugt, dass auch die wachsende internationale Nachfrage auf diesem Gebiet gedeckt werden könnte, sofern Brasilien die erforderlichen externen Investitionen erhält. Es sei angemerkt, dass die Zunahme der landwirtschaftlichen Produktion eher durch eine Steigerung der Produktivität als durch eine Ausweitung der Agrarflächen erfolgt ist, was ein wichtiger Faktor für die Verringerung der Abholzung des Amazonaswaldes sein könnte. Die Schwierigkeiten, die im Rahmen der WTO-Verhandlungen (Doha-Verhandlungen und Vorstöße der G20) in den Diskussionen über die Subventionen für die landwirtschaftlichen Erzeuger und die Zolltarife für die Agrarerzeugnisse auftraten, sind Ausdruck der unterschiedlichen Interessen der EU und Brasiliens. Die Reform der GAP muss zugunsten größerer Gerechtigkeit und Ausgewogenheit beim Agrarhandel gestaltet werden. Ebenso wichtig ist die Einführung größerer Markttransparenz und einer besseren Lebensmittelsicherheit, um bei den Verbrauchern mehr Vertrauen zu schaffen.

3.3.3   Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Diesem Thema muss im Diskussionsforum besondere Beachtung geschenkt werden, zumal es zu den ausgewählten Prioritäten der Europä-ischen Kommission gehört. Der EWSA empfiehlt ebenfalls diese Priorität, wobei auf die europäischen Erfahrungen mit dem lebenslangen Lernen besonderer Nachdruck zu legen ist, das von den europäischen Sozialpartnern im Rahmen des sozialen Dialogs wie auch der Strategie zur Förderung von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem Luxemburg-Prozess gefördert wird. Dies könnte in der Form einer vorbildlichen europäischen Praxis geschehen, die auch für Brasilien zweckmäßig ist. Es ist zweifellos richtig, die Thematisierung der Hochschulbildung im Strategiepapier zu unterstützen, aber die Probleme, die Brasilien auf der Ebene der Grundschul- und Sekundarschulausbildung hat, sind ebenfalls schwerwiegend. Die Annäherung zwischen Brasilien und der EU kann in großem Maße über den Austausch zwischen Bildungsanstalten auf verschiedenen Ebenen erfolgen, insbesondere dem Schüler- und Lehreraustausch. Die großen Erfolge mit dem Austausch von Schülern und Studenten innerhalb der EU sollten — neben dem im Länderstrategiepapier 2007—2013 bereits geplanten Erasmus Mundus-Programm (das notwendigerweise begrenzt ist) — als Grundlage für ähnliche Programme dienen, an denen EU und Brasilien beteiligt sind und die in Zukunft eine noch größere Annäherung und bessere gegenseitige Kenntnis fördern.

3.3.4   Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Entwicklung. Im Bereich Forschung und Entwicklung gibt es wegen der unterschiedlichen besonderen Schwerpunkte, die die jeweiligen wissenschaftlichen und technologischen Gemeinden setzen, und den Prioritäten aufgrund der Optionen der beiden unterschiedlichen Ökonomien und Kulturen wichtige gegenseitige Ergänzungen und Synergien. Die EU sollte insbesondere die Möglichkeiten für einen reibungslosen Austausch — „fast track“ — für brasilianische Wissenschaftler im Rahmen des 7. FuE-Rahmenprogramms prüfen.

3.3.5   Sozialer Dialog in den europäischen multinationalen Unternehmen, die in Brasilien operieren. Die europäischen Betriebsräte — Instrumente der Unterrichtung und Konsultierung der Arbeitnehmer in den europäischen multinationalen Unternehmen — sind ein weiteres Beispiel für vorbildliche europäische Verfahren, die freiwillig oder im Rahmen der sozialen Unternehmensverantwortung von den europäischen multinationalen Unternehmen angenommen werden könnten, die in Brasilien operieren.

3.3.6   Umwelt, Klimawandel und Biokraftstoffe. Zu einem Zeitpunkt, wo einerseits die Bekämpfung des Klimawandels und andererseits die Suche nach nachhaltigen und weniger umweltbelastenden Energiequellen zu den ersten Prioritäten der internationalen Agenda gehört, kann Brasilien für Europa und die übrige Welt ein wichtiger Partner sein, auch für die Lieferung von Biokraftstoffen, insbesondere von Bioethanol — ein Sektor, in dem es kürzlich erhebliche Fortschritte gab. Darüber hinaus können Europa und Brasilien als Partner eine Zusammenarbeit mit Afrika in dem Sinne aufbauen, dass dorthin brasilianische Technologie und brasilianisches Know-how ausgeführt werden, um auf dem afrikanischen Kontinent die Produktion von Bioethanol aufnehmen zu können und damit dessen Entwicklung durch eine neue Generation von dreiseitiger Kooperationspolitik zu fördern.

Ein für die europäischen und weltweiten Interessen relevantes Thema ist die Erhaltung des Amazonas-Urwaldes (8), für dessen Schutz internationale Partnerschaften unter Einbeziehung von staatlichen und privaten Körperschaften geschaffen werden müssen, ohne allerdings die Souveränität der brasilianischen Gesetze und des brasilianischen Staates über dieses Welterbe zu berühren. Die öffentliche Meinung und die staatlichen Stellen in Brasilien reagieren auf dieses Thema sehr empfindlich, aber es handelt sich um ein Problem, das angesichts des derzeitigen Zustands der Erde und ihrer vorhersagbaren Entwicklung unter allen Umständen eine Priorität in der Kooperation zwischen Brasilien und Europa darstellen muss.

Es sei darauf hingewiesen, dass es seit circa drei Jahren einen formell geschaffenen „Dialog EU-Brasilien über eine nachhaltige Entwicklung und den Klimawandel“ gibt, dessen Tätigkeit sich bislang aber nur auf einige Sitzungen zur Festlegung einer Agenda mit dem Ziel beschränkt hat, dass beide Seiten zu bestimmten Themen ihre Standpunkte erläutern können.

3.3.7   Armut und soziale Probleme. In der Rangfolge des Human Development Index der Vereinten Nationen befand sich Brasilien im Jahr 2007 auf dem 70. Platz, ein sehr bescheidener Rang, wenn man Brasilien mit jenen Ländern vergleicht, die eine ähnliches wirtschaftliches und technologisches Entwicklungsniveau aufweisen. Nach diesen Daten der UN nahm die Zahl der Brasilianer, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, von 2003 bis 2005 um 19,3 % ab. Derzeit machen sie 22,8 % der Gesamtbevölkerung (d. h. 43 Millionen Personen) aus. Mit den sozialen Programmen der Regierung Lula konnten einige kleine, aber sehr wirksame Schritte bei der Bekämpfung der Armut und der Ungleichheit gemacht werden (9). Gleichwohl ist Brasilien weiterhin eines der Länder mit großen internen Ungleichgewichten: die ärmsten 20 % der Bevölkerung — vorwiegend im Nordosten lebend — erhalten nur 4,2 % der nationalen Ressourcen. Der Zugang zur Bildung hat sich in den vergangenen Jahren verbessert, aber noch immer herrschen große regionale Unterschiede, insbesondere im Sekundar — und Hochschulwesen. Die Alphabetisierungsquote ist ziemlich hoch bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren (93,6 %), aber sehr hoch ist immer noch die Analphabetenquote bei Erwachsenen (12 %). Auch die Indikatoren im Gesundheitswesen haben sich verbessert. Brasilien verwendet 7,9 % seines BIP für das Gesundheitswesen (Durchschnitt der OECD: 8,72 %). Die Sozialpolitik hatte eine Verringerung der Sterblichkeitsrate von Kindern zur Folge (36 pro 1 000), aber im Norden und Nordosten des Landes bleibt noch immer viel zu tun. Nach Angaben von UN-AIDS sind circa 650 000 Brasilianer Träger des HIV-Virus: Brasilien garantiert gesetzlich den allgemeinen Zugang zu medizinischer Behandlung, auch mit Anti-Retroviren-Medikamenten. Die Arbeitslosigkeit hat sich im Zeitraum 2004—2006 von 12,3 % auf 8,4 % verringert. Auch die Jugendarbeitslosigkeit (18—24-Jährige) nahm ab, ist aber immer noch sehr hoch. Deshalb ist die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, gemeinsam mit der Bekämpfung der Kinderarbeit und der Zwangsarbeit (10), eine der Prioritäten des Regierungsprogramms. Der Zugang zu Ackerland ist ein sehr heikles Problem: 1 % der Großgrundbesitzer kontrollieren die Hälfte der fruchtbaren Böden. Auf der Agenda der Regierung steht zwar eine Agrarreform mit dem Ziel, Land an 430 000 Landarbeiterfamilien zu verteilen, und sie sollte bis zum Jahr 2007 erfolgt sein, aber dieses Ziel ist bei weitem noch nicht erreicht (11). Sehr viel bleibt auch noch im Hinblick auf das Wohnungsproblem zu tun, denn immer noch sind mehrere Millionen Brasilianer gezwungen, in Elendsvierteln zu leben.

3.3.8   Einwanderung. Die Wanderungsbewegungen zwischen den europäischen Staaten und Brasilien sind seit vielen Jahren eine konstante Erscheinung, die in beide Richtungen verläuft. [ANMERKUNG: Während des gesamten 20. Jahrhunderts handelte es sich bei den Migrationsströmen aus Europa nach Brasilien vor allem um Menschen aus Italien und Deutschland, gefolgt von — nach Zahlen geordnet — Portugal, Spanien und Polen. Dies erklärt, warum heute in Brasilien 30 Mio. Menschen italienischer Abstammung und 8. Mio. Menschen deutscher Abstammung leben.] Zuwanderfragen fallen heutzutage unter die Maßnahmen und Vorschläge der EU zur Immigration aus Drittstaaten, da die irreguläre Zuwanderung bekämpft werden muss, aber vor allem, um die Bewegungen zu fördern, die für beide Seiten von Nutzen sind (12). Die EU-Mitgliedstaaten müssen anerkennen, dass Europa eine Region mit starkem demografischem Rückgang ist, während Brasilien in einigen Gebieten des Landes ein erhebliches Bevölkerungswachstum erwarten lässt (13). Wegen der besonderen Bedeutung der Aussicht auf eine strategische Zusammenarbeit EU/Brasilien müssen die Fragen der Wanderungsbewegungen von und nach Brasilien nach spezifischen Kriterien behandelt werden: beide Seiten müssen die Verfahren für die Erteilung von Visa und Aufenthaltsgenehmigungen vereinfachen, gründlichere und besser verbreitete Informationen über die Möglichkeit einer regulären Zuwanderung, insbesondere für Studenten und Wissenschaftler, bieten, aber gleichzeitig eine Begünstigung des „brain drain“ verhindern. Darüber hinaus ist es unerlässlich, gemeinsam ein System der gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Qualifikationen und Berufserfahrungen zu schaffen und die Übertragbarkeit von Rentenbezügen zu regeln.

3.3.9   „Unsere Völker zusammenbringen“. Die Bedeutung dieser Frage für die Regierungen beider Blöcke kam auf dem Gipfeltreffen von Lissabon zum Ausdruck und wurde in Erwä-gungsgrund 16 seiner Schlussfolgerungen thematisiert (14). Getrennt durch den Atlantik, aber vereint durch eine gemeinsame Geschichte, können und müssen Brasilien und Europa die gegenseitige Kenntnis und den Austausch über ihre jeweilige gesellschaftliche, natürliche, künstlerische, kulturelle und wissenschaftliche Realität vorantreiben. Bei der Verfolgung dieses Ziels spielt die Zivilgesellschaft eine grundlegende Rolle, indem sie Kultur- und Sportveranstaltungen und sonstige Veranstaltungen organisiert, die es den Bürgern Brasiliens und Europas ermöglichen, sich kennen zu lernen, einander näher zu kommen und kontinuierlich gemeinsame Initiativen ins Leben zu rufen.

3.3.10   Der Stand der Wirtschaftsbeziehungen. Der Handelsaustausch zwischen Brasilien und der EU nimmt spürbar zu, wie die Daten der brasilianischen Regierung für den Zeitraum Januar — Mai 2008 zeigen. Die brasilianischen Ausfuhren in die EU nahmen gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 19 % zu; die EU ist nach den lateinamerikanischen Staaten, die der Lateinamerikanischen Integrationsvereinigung ALADI angehören, nach Asien und den USA der wichtigste Adressat für die brasilianischen Ausfuhren. Die EU ist nach Asien der zweit-größte Handelspartner Brasiliens. Wenn er sich weiterhin so entwickelt wie bisher, könnte der bilaterale Handel im Jahr 2008 einen Rekordumfang von 84 Milliarden US$ erreichen (+25 % gegenüber 2007) (15). Das Potenzial für den Handelsaustausch zwischen der EU und Brasilien lässt noch ehrgeizigere Ziele möglich erscheinen, aber dazu wäre es erforderlich, die Verfahren zu vereinfachen und zu entbürokratisieren und die Einhaltung der Normen und den Schutz von geistigem Eigentum zu garantieren. Sehr wichtig wäre es auch, dass die brasilianische Regierung die Zölle auf die Einfuhr mancher Waren überprüft, denn sie erschweren erheblich den Zugang europäischer Produkte zum brasilianischen Markt.

4.   Diskussionsforum EU-Brasilien

4.1   Organisation und Arbeitsweise

4.1.1   Allein die Gründung eines Diskussionsforums EU-Brasilien ist bereits ein wichtiges Zeichen für die Bedeutung, die beide Seiten ihrer künftigen Zusammenarbeit beimessen.

4.1.2   Der EWSA ist der Meinung, dass zweimal jährlich ein Treffen dieses Forums stattfinden sollte, einmal in Brasilien, ein andermal in Europa, und zwar in der Weise, dass die Rolle der Zivilgesellschaft in der Partnerschaft EU-Brasilien erweitert und vertieft wird.

4.1.3   Das Diskussionsforum sollte paritätisch mit Mitgliedern des EWSA und des CDES besetzt werden und die Delegationen sollten — was gegenwärtig für angemessen erachtet wird — jeweils 12 Mitglieder umfassen.

4.1.4   Das Diskussionsforum muss seine Arbeitsweise selber erörtern und festlegen, um Ausgewo-genheit und stabile Arbeitsregelungen zu gewährleisten.

4.1.5   Der EWSA hält die Schaffung einer eigenen Rubrik für das Diskussionsforum EU-Brasilien im Internetportal des EWSA für überaus zweckmäßig, um Impulse für die Beteiligung und für Beiträge der Zivilgesellschaft zu geben.

4.2   Thematische Vorschläge für die künftige Agenda für den Dialog

Der Mehrwert, den das künftige Diskussionsforum für die strategische Partnerschaft, die entwickelt werden soll, erbringen kann, hängt selbstverständlich eng von den Themen ab, die von ihr vorzugsweise behandelt werden; deshalb hält der EWSA folgende Bereiche für vorrangige Diskussionsthemen (16):

4.2.1   Wirtschaftlicher und sozialer Bereich

Wirtschaftliche Zusammenarbeit, bilateraler Handel und Investitionen;

Folgen der Globalisierung, Verringerung der negativen Auswirkungen und Potenzierung ihrer Vorteile;

Bewertung der sozialen Modelle, Erfahrungsaustausch und Ausarbeitung von politischen Vorschlägen in diesem Bereich, unter Berücksichtigung der Rolle der Zivilgesellschaft und der Förderung ihrer echten und wirksamen Beteiligung;

Begleitung der Entwicklung der Vorschläge, Modelle und Maßnahmen der WTO;

Analyse der Migrationsbewegungen und Kooperation bezüglich der Rechte der europäischen Einwanderer in Brasilien und der brasilianischen Einwanderer in Europa mit Blick auf eine vollständige Integration der Bürger in den jeweiligen Zielstaaten;

Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsbeziehungen, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Sozialpartner für die ausgewogene Entwicklung der Länder, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Organisation und Zusammensetzung der Strukturen auf Arbeitgeberseite und Gewerkschaftsseite, Arbeitsrecht und Tarifverhandlungen;

Diskussion über Fragen im Bereich Lebensmittelsicherheit und Pflanzenschutz sowie über Fragen der Funktionsweise und des Austauschs der Agrarmärkte, Förderung des Erfahrungsaustauschs über beispielhafte Verfahren zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung dieses Sektors;

Diskussion über die Problematik der Informationsgesellschaft und die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien im aktuellen Kontext einer nachhaltigen Entwicklung der Staaten;

Förderung der Diskussion über die Thematik der sozialen Verantwortung der Unternehmen und Erarbeitung von Initiativen zur Sensibilisierung der verschiedenen beteiligten Akteure, damit auf Arbeitgeberseite eine rasche und effiziente Übernahme von entsprechenden Systemen erfolgt;

Diskussion über das Thema und Förderung von Initiativen, die zu einer tatsächlichen Annahme und Integration von Konzepten bezüglich der Gleichstellung von Männern und Frauen, der Chancengleichheit und der Rechte von ethnischen und sozialen Minderheiten führen;

Infrastrukturen und Dienstleistungen — Erörterungen zu diesem Themenkreis, darunter Bau von Straßennetzen und Bildung von Energiekonsortien;

Erfahrungsaustausch im Bereich der wesentlichen Arbeitsnormen;

Erörterungen über die Machbarkeit von öffentlich-privaten Partnerschaften bei der Verfolgung von staatlichen Zielen und über etwaige Probleme dabei.

4.2.2   Politisch-diplomatischer Bereich und Entwicklungshilfe

Dreiseitige Zusammenarbeit zwischen EU, Brasilien und Drittstaaten bei der Analyse der aktuellen Realität und der vorhandenen Initiativen, aber auch bei der Abstimmung der künftigen Initiativen und Maßnahmen;

Begleitung der Entwicklung der regionalen Integrationsprozesse in der EU und im MERCOSUR;

Einsatz der strategischen Zusammenarbeit zwischen der EU und Brasilien als Instrument für die regionale Integration und Weiterentwicklung des MERCOSUR und seiner Beziehungen zu Europa.

4.2.3   Umwelt- und Energiebereich

Vertiefung der Thematik Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung als Grundlage für das Wirtschaftswachstum der Länder und die globale Entwicklung;

Untersuchung der Energieprobleme, der alternativen Energiequellen und der Zusammenarbeit in diesem Bereich, da es sich hierbei um drängende und entscheidende Fragen für die Zukunft der Menschen, der Länder und der Erde insgesamt handelt. Bei dieser Thematik ist den Biokraftstoffen und der Notwendigkeit von Vorschriften und Standards für ihre Vermarktung besonderes Gewicht beizumessen.

4.2.4   Themenbereich Forschung und Technologie und geistiges Eigentum

Gegenseitiger Schutz des geistigen Eigentums;

Entwicklung von Systemen für die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit zur Förderung von Forschungen zugunsten der beiderseitigen Fortschritte.

4.2.5   Themenbereich Bildung

Förderung des Austauschs zwischen Schulen und Universitäten, vor allem durch akademische Austauschprogramme für Studenten und Lehrkräfte, durch Praktika und andere Formen der Förderung des Kenntnisstands und der Weiterentwicklung der Hochschulen;

Erörterungen und Analysen zu Fragen der Bildung und Ausbildung als kontinuierlicher und lebenslanger Prozess, der für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist.

4.2.6   Themenbereich Kulturaustausch und Fremdenverkehr

Förderung des Kulturaustauschs und Verbreitung von Kenntnissen der Geschichte und aktuellen sozialen Realität, um sich gegenseitig besser kennen und verstehen zu lernen;

Untersuchung und Verifizierung der Rolle des Fremdenverkehrs für die Annäherung zwischen der EU und Brasilien und Entwicklung von Strategien zu ihrer Steigerung in nach-haltiger und ausgewogener Form.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: „Auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Brasilien“, KOM(2007) 281 endg. 30.5.2007.

(2)  Gipfeltreffen EU-Brasilien, Lissabon, 4. Juli 2007 — Gemeinsame Erklärung, Ziffer 16 — PR 111531/07 (Presse 162) [nur auf Englisch].

(3)  Die Sozialpartner machen fast die Hälfte der Repräsentanten im Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (CDES) aus. Ferner stammen die Mitglieder aus sozialen, wirtschaftlichen und statistischen Studien- und Forschungszentren, aus privaten Stiftungen, weltlichen und kirchlichen NGO, Behindertenverbänden, Bürgerbewegungen, Genossenschaften, Studentenorganisationen oder sie sind Vertreter der Universitätsrektoren usw.

(4)  Für die Zivilgesellschaft seien folgende Initiativen erwähnt: Gemeinsames Seminar von CDES und EWSA im Juli 2007 zum Thema „EU und MERCOSUR: Beitrag der Einrichtungen der Zivilgesellschaft zur nationalen und regionalen Entwicklung“; Unterzeichnung einer gemeinsamen Absichtserklärung durch EWSA und CDES zur Vertiefung der Beziehungen EU-Brasilien.

(5)  Brasilien, Russland, Indien, China.

(6)  Länderstrategiepapier Brasilien, 2007—2013.

(7)  Gini-Index: Allgemein verwendetes Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen von Einkommen. In der graphischen Darstellung wird auf der vertikalen Achse die Anzahl der Personen und auf der horizontalen Achse die Höhe des Einkommens eingetragen.

(8)  Die brasilianische Regierung führt gegenwärtig den „Plan nachhaltiges Amazonien“ (Plano Amazónia Sustentável — PAS) durch, der Strategien, Perspektiven und Maßnahmen für das Amazonasgebiet umsetzt und mit dem in diesem riesigen Gebiet staatliche Eingriffe, insbesondere gegen die Abholzung, nicht nur als Umweltfrage, sondern als integraler Bestandteil der Regierungspolitik betrachtet werden. Es gibt außerdem einen Fonds, in den alle einzahlen können und mit dessen Hilfe eine Verringerung der Emissionen im Amazonasgebiet unterstützt werden soll. Dabei wird einer Logik gefolgt, die nur Maßnahmen mit nachweisbaren Ergebnissen fördert, nicht aber Modell- oder Pilotvorhaben.

(9)  Siehe v. a. das innovative Programm „Familiengeld“ („Bolsa Familia“) (2,38 Mrd. Real), von dem 8,7 Mio. Familien profitiert haben (Daten von Ende 2007).

(10)  Kinder sind am stärksten betroffen: Nach Angaben der ILO wurden im Jahr 2002 450 000 Minderjährige gezwungen, in Haushalten, in der Landwirtschaft oder in der Sex-Industrie zu arbeiten.

(11)  Die „Landlosenbewegung“ („Movimento dos Sem Terra“, 1,5 Mio. Anhänger) fordert nachdrücklich eine radikale Landreform. Sie ist derzeit nicht im CDES vertreten.

(12)  In Bezug auf das EU-Regelungspaket „Einwanderung“ sei auf die Kritik und die Empfehlungen des EWSA verwiesen, die in einer Reihe von Stellungnahmen zu den Vorschlägen, darunter auch Initiativ- und Sondierungsstellungnahmen, dokumentiert sind.

(13)  Gemäß der Erhebung der PNAD (Haushaltsstichprobenuntersuchung) 2006 lag die Geburtenrate in Brasilien im Jahr 2006 bei 2 Kindern pro Frau.

(14)  http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/er/95167.pdf

(15)  Für eine Vertiefung dieses Themas sei auf die Anhänge zur Wirtschaft verwiesen.

(16)  Bei der Festlegung der Vorschläge, die auf dem Diskussionsforum erörtert werden könnten, wurden die Bestimmungen der Lissabon-Strategie berücksichtigt, da sie ein strategisches Instrument von größter Bedeutung für die EU ist; deshalb durfte sich der EWSA bei seinen Vorschlägen nicht von den in der Strategie aufgeführten Leitlinien, Konzepten und Zwecken entfernen.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/100


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess“ (Initiativstellungnahme)

2009/C 100/16

Auf seiner Plenartagung am 12./13. Dezember 2007 beschloss der EWSA gemäß Artikel 19 Absatz 1 seiner Geschäftsordnung, einen Unterausschuss zu bilden, dem die Aufgabe übertragen wurde, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema auszuarbeiten:

„Die Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess“.

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss nahm seine Stellungnahme am 23. September 2008 an. Berichterstatterin war Frau MORRICE.

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 mit 151 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Aus der Mitwirkung der EU am nordirischen Friedensprozess können etliche Lehren gezogen werden. Seit dem finstersten Kapitel in der von ständigen Unruhen gezeichneten wirtschaftlichen, sozialen und insbesondere politischen Geschichte der Region sind bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. Die Sicherheitslage wurde verbessert, die Neuorganisation der öffentlichen Verwaltung ist auf dem besten Wege, die Anwesenheit von Ausländern - Zuwanderern und Touristen - gibt nicht nur der Wirtschaft neue Schubkraft, sondern trägt auch dazu bei, traditionelle Polarisierungen zu überwinden; die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg übertrifft alle Erwartungen, und die Teilung der Macht zwischen den ehemaligen Gegnern wird zunehmend als „politisch korrekt“ empfunden.

1.2   Selbstgefälligkeit könnte allerdings in diesem Stadium zerstörerische Wirkung haben. Der schockierende Anblick der „Friedensmauern“, die die Katholiken und die Protestanten in Belfast trennen, erinnert auf traurige, aber realistische Weise an die erheblichen Schwierigkeiten, die dem Friedensprozess und insbesondere der Aussöhnung zwischen den Angehörigen der beiden Konfessionen noch im Wege stehen, und an den noch langen und steinigen Weg. Gewalt, Hass, Misstrauen, Abkapselung und Intoleranz haben seit Jahrzehnten die Lage beherrscht und zu einer beispiellosen Kluft zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland geführt. Die Menschen führen zwar jetzt ein „einigermaßen friedliches“ Leben hinter den Mauern, in ihren vier Wänden, in ihren Dörfern, mit ihren Kirchen, Schulen und Sportanlagen, doch kann diese „Koexistenz“ nur ein Übergangsstadium in einem Prozess hin zu gegenseitiger Achtung, Verständigung und Harmonie sein, der möglicherweise Generationen brauchen wird.

1.3   Die Rolle, die die EU im nordirischen Friedensprozess gespielt hat, war und ist einmalig in ihrer Geschichte. Dass die Unterstützung der EU für diesen Prozess relativ unbemerkt geblieben ist, zeigt die Richtigkeit ihres Vorgehens. Nie hat sie versucht, sich in Situationen einzumischen, auf die sie keinen Einfluss haben konnte, oder unüberbrückbare Gegensätze zu übertünchen. Die Friedensstiftungsmethode der EU beruhte auf der langfristigen Bereitstellung erheblicher Finanzmittel, einer strategischen Planung und Ausführung, einer grundsätzlichen Beachtung der Sozialpartnerschaft und des Subsidiaritätsprinzips sowie einer Konsultation aller Betroffenen vor Ort, die in keinem Stadium ausgelassen wurde.

1.4   Durch die Kombination von direkter und indirekter Mitwirkung hat die EU dazu beigetragen, dass im Friedensprozess, als die politischen Voraussetzungen vorhanden waren, eine für einen erfolgreichen Abschluss günstige Atmosphäre geschaffen wurde, und als Katalysator für die Friedenskonsolidierung, deren Geschichte allerdings noch nicht zu Ende ist, gewirkt.

1.5   Die EU hat keinerlei erkennbare Anstrengung unternommen, um sich den Erfolg des Friedensprozesses zuzuschreiben. Und doch wäre es ein Irrtum, wenn die Geschichte den Wert und die Bedeutung der EU-Mitwirkung nicht würdigte — nicht nur, weil die EU den Aussöhnungsprozess noch viele Jahre lang unterstützen dürfte, sondern auch, weil die Erfahrungen aus den EU-Friedensprogrammen zu den Bemühungen beitragen könnten, Frieden und Versöhnung in anderen Teilen der Welt zu fördern. Die EU wird niemals alle Antworten bereit halten, aber mit ihren Mitteln und Erfahrungen anderen dabei helfen können, die richtigen Antworten zu finden, wie sie es in Nordirland getan hat.

1.6   Als der Welt größtes „Rollenmodell“ für Friedensstiftung hat die EU zusammen mit ihren Mitgliedstaaten aufgrund ihres Know-hows, ihrer Erfahrung, ihrer Vielfalt, ihrer Mittel und ihres Renommees die Möglichkeit, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung in der ganzen Welt, wo immer dies nötig ist, zu unterstützen. Dieser Aufgabe kann sie sich nicht entziehen, und es ist ihre Pflicht, die Friedensstiftung zu einem Schwerpunkt ihrer künftigen strategischen Ausrichtung zu machen.

2.   Empfehlungen

2.1   Die Empfehlungen sind in zwei Abschnitte unterteilt: Der erste behandelt die Aktionsmöglichkeiten in Nordirland und den Grenzgebieten, auf die sich die EU-Unterstützung bei der Förderung des Aussöhnungsprozesses konzentrieren sollte, der zweite den allgemeineren Kontext der EU-Unterstützung für friedensstiftende Maßnahmen und Aussöhnung in anderen Konfliktgebieten auf der Grundlage der Erfahrungen aus dem Nordirlandprozess, die in dem „Instrumentarium der EU zur Konfliktlösung“ skizziert werden.

2.2   Der nordirische Kontext

2.2.1   Die im Nordirlandprozess gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass ein Friedensprozess immer strategisch und langfristig angelegt sein muss. Er beginnt mit der Beendigung der gewaltsamen Auseinandersetzungen und durchläuft verschiedene Stadien über politische Stabilität, friedliche Koexistenz und Aussöhnung bis hin zur gesellschaftlichen Harmonie, wirtschaftlichen Prosperität und „einzigen Gesellschaft“. Die Unterstützung der EU für diesen Prozess muss daher angesichts der Zerbrechlichkeit der in den Anfangsphasen erzielten Fortschritte und der langen Zeiträume bis zur endgültigen Aussöhnung langfristig konzipiert sein. Während die gemeinschaftliche Finanzhilfe mit abnehmendem Konfliktpotenzial in der Region allmählich reduziert und gezielter eingesetzt werden kann, sollte die Rolle der EU als Partner in dem Prozess und ihre Fähigkeit, ihre Beziehungen zu der Region in anderer kreativer Weise zu entwickeln, weiter gestärkt werden.

2.3   Empfehlung 1: Die EU sollte den Friedensprozess in Nordirland weiterhin langfristig unterstützen und dabei verstärkt folgende Schwerpunkte setzen:

Versöhnung zwischen den Angehörigen beider Konfessionen auf den Gebieten Kultur, Kunst, Sport, Freizeit, Wohnen und Bildung sowie Schaffung von Arbeitsplätzen und Bereitstellung öffentlicher Leistungen;

Randständige Gruppen als Hauptnutznießer durch ihre Einbeziehung in konfessionsübergreifende Projekte; Unterstützung für die Arbeit mit Angehörigen jeweils nur einer Konfession sollte nur ausnahmsweise gewährt werden, wenn sie eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme an konfessionsübergreifenden Projekten ist;

Hilfe für die Opfer des Konflikts, damit sie ein neues Leben aufbauen, Traumata überwinden und ihre Erfahrungen mit ähnlichen Gruppen aus anderen Gemeinschaften und in anderen Konfliktgebieten teilen können;

Förderung von Initiativen zum Aufbau einer „einzigen Gesellschaft“, um die Notwendigkeit doppelter Strukturen und Behördendienste für das Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen, die Freizeit- und Sporteinrichtungen zu verringern;

Einbeziehung von Freiwilligenorganisationen und Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und Wirtschaftsvertretern auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung im Zusammen-hang mit dem PEACE-Programm;

Wiederherstellung der lokalen Partnerschaftsstrukturen, in deren Rahmen die Sozialpartner und die Politik auf den ersten Stufen des PEACE-Programms zusammenkamen;

Abbau von Bürokratie insbesondere bei kleineren Projekten in Land- und Stadtgemeinden, wobei die Projektevaluierung sowohl unter wirtschaftlichen als auch sozialen Gesichtspunkten erfolgen muss.

2.4   Empfehlung 2: Die Nordirland-Taskforce der Europäischen Kommission sollte neben den Maßnahmen, die auf die PEACE-Finanzierung angewiesen sind, kreative, innovative Lösungen für die Region aufzeigen, erleichtern und unterstützen, und zwar in den Bereichen Forschung, Wissenstransfer, Bildung und Förderung internationaler Netzwerke zur Konfliktbewältigung.

2.5   Der weitere, globale Kontext

2.6   Die EU hat die moralische Pflicht, nicht nur selbst aus ihren Erfahrungen im Nordirlandprozess zu lernen, sondern diesen Erkenntnisgewinn auch an andere weiterzugeben, die im eigenen Land, an den Landesgrenzen oder in einem größeren Zusammenhang Konflikt-situationen zu bewältigen haben. Dadurch kann die positive Rolle der EU bei der Konfliktlösung auf internationaler Ebene optimal zum Tragen kommen.

2.7   Empfehlung 3: Die wichtigsten Erfahrungswerte sollten unter den EU-Institutionen und den Behörden der Mitgliedstaaten sowie auf internationaler Ebene weitergegeben werden, was durch Folgendes erleichtert werden könnte:

eine umfassende Datenbank vorbildlicher Konfliktlösungsrezepte (Vorschlag des Europäischen Parlaments);

ein Kompendium der Evaluierungen des PEACE-Programms und erfolgreicher Projekte;

Weitere Untersuchungen über die Rolle der EU in einer Reihe von Bereichen (interne, grenzübergreifende und externe Konfliktsituationen).

2.8   Empfehlung 4: Dies könnte durch den Aufbau einer Europäischen Einrichtung für Konfliktlösung in Nordirland, die sich die lokal und international geleistete Arbeit zunutze machen würde, erleichtert werden. Die diesbezüglichen Einzelheiten sollten in einer EU-weiten Debatte mit den Sozialpartnern geklärt werden, in deren Vorfeld der EWSA sondieren könnte, wie sich eine Konfliktlösungseinrichtung mit einer europäischen Dimension am besten aufbauen ließe.

2.9   Empfehlung 5: Das auf der nächsten Seite zusammengefasste Instrumentarium sollte eingesetzt und weiterentwickelt werden, um die Analyse von Konfliktsituationen zu unterstützen und, wenn nötig, die Grundlagen für eine EU-Intervention zu liefern. Dieses Instrumentarium umfasst eine ganze Palette von der EU eingesetzter Instrumente und könnte als Bezugspunkt und Quell für Aktivitäten im Zusammenhang mit Minderheitenschutz, Chancengleichheit, Kapazitätsaufbau, konfessions- und grenzübergreifende Zusammenarbeit und sozioökonomische Entwicklung in anderen Gebieten der EU, an ihren Grenzen und in Konfliktzonen außerhalb der EU dienen.

Instrumentarium der EU zur Konfliktlösung

Diagnoseinstrumente:

Sozioökonomische und politische Analyse

Referenzhandbücher:

Erfahrungen aus anderen Gebieten (z. B. von Einrichtungen zur Konfliktlösung)

Kompendium/Datenbank der Programme/Projekte

Berücksichtigung von Konfliktlösungstheorien

Strategische Zielvorstellungen:

Objektive (supranationale) langfristige Perspektive kombiniert mit Risikobereitschaft

Anwendung der gewonnenen Erfahrungen

Zusammenstellung und Entwicklung des Wissens

Bestimmung des Konfliktstadiums

Festlegung der Interventionsschiene je nach Konfliktstadium und Ort (in der EU, an ihren Grenzen oder außerhalb)

 

FINANZINSTRUMENTE

NICHTFINANZIELLE INSTRUMENTE

Grobwerkzeuge

(Makroebene)

Von der EU finanzierte Netzwerke zur Konfliktbewältigung

EU-Institutionen, -Maßnahmen, -Möglichkeiten

EU-Ethos, -Methode, -Beispiel

Europäisierung (auf nationaler Ebene): EU-Normen, -Werte, -Institutionen, -Verfahren (einschließlich der Einbeziehung der Sozialpartner)

Neutraler Raum zur Erleichterung des Dialogs/Konsensbildung

Ausgewogener Ansatz zur Vertrauensbildung

EU-Friedensmodell — nachahmenswertes Beispiel

Enge Partnerschaft mit den wichtigsten Gebern

Hebel und Stellschrauben

(Mesoebene)

Maßgeschneiderte PEACE-Programme der EU

Strukturfondsmittel, die auf die Lösung von Konflikten ausgerichtet sind (nach entsprechenden Unterscheidungskriterien festgelegt)

Bilaterale/grenzübergreifende Zusammenarbeit

Vereinbarungen und Initiativen

Sozialpartnerschaftsmodell

Bewertung auf Programmebene

Taskforce, um Informationen vor Ort zu erfassen, Möglichkeiten/Bereiche für die Zusammenarbeit aufzuzeigen und die Beteiligung an EU-weiten Programmen zu fördern

Partnerschaftlicher Ansatz bei der Zusammenarbeit mit Lokalpolitikern und Sozialpartnern

Konsultation vor Ort mit Blick auf die Herausbildung lokaler Eigenverantwortung bei der Ausarbeitung und Weiterentwicklung der Programme

Einbindung lokaler Einrichtungen

Beseitigung von Hindernissen mithilfe von EU-Maßnahmen

Präzisionsinstrumente

(Mikroebene)

Lokale Akteure für die Umsetzung im Interesse eines basisnahen Vorgehens

Globalzuschüsse zur Gewährleistung der lokalen Sensibilität und der Erreichung des richtigen Ziels

An Bedingungen geknüpfte Finanzierung zur Förderung bewährter Verfahren

Beobachtung zur Gewährleistung des fortwährenden Lernens

Unterstützung für den Aufbau von Kapazitäten und Zusammenarbeit/Kooperation

Bottom-up“- und grenzübergreifende Zusammenarbeit im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich

Selbstbewertung

Europäisierung (auf lokaler Ebene) Einbeziehung der Sozialpartner, Engagement der Bürger, Beteiligung der örtlichen Gemeinschaft, Entsendung von Beamten der Europäischen Kommission

Feiern des Erfolgs

Sensibilisierung durch die Presse und durch Öffentlichkeitsarbeit

3.   Einleitung

3.1   Mit dieser Stellungnahme soll auf die relativ wenig bekannte Erfolgsgeschichte der Unterstützung der EU für den nordirischen Friedensprozess aufmerksam gemacht und das Verständnis dessen, was in Nordirland geschehen ist, in der europäischen Zivilgesellschaft gefördert werden; außerdem sollen die Methoden, die die EU zur Förderung von Frieden und Versöhnung angewandt hat, zu einem Instrumentarium zusammengestellt werden, das gegebenenfalls auch in anderen Konfliktgebieten zum Einsatz kommen kann.

3.2   Die Stellungnahme befasst sich in erster Linie mit der EU-Hilfe, die im Rahmen der PEACE-Programme der EU, des Internationalen Fonds für Irland (IFI) und von INTERREG gewährt wurde. Es wird untersucht, wie die betreffenden Fonds gestaltet waren und welche Auswirkungen sie auf das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben in der Region hatten. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Unterstützung, die die EU der Zivilgesellschaft (Unternehmen, Gewerkschaften, Freiwilligensektor) zukommen ließ.

3.3   In der Stellungnahme wird auch untersucht, welche weiteren Hilfen die Europäische Union für die britisch-irische Zusammenarbeit auf politischem, diplomatischem und verwaltungstechnischem Gebiet bereitgestellt hat und inwieweit das „europäische Friedensmodell“ als Leitbild für eine positive Entwicklung in Nordirland benutzt wurde.

4.   Methode

4.1   Es fanden vier Arbeitstreffen statt, von denen eines eine beratende Konferenz war, die im April 2008 in Nordirland stattfand. Auf dieser Konferenz wurden mithilfe von Fragebogen und einer E-Konsultation Informationen von den betroffenen Akteuren und von Sachverständigen eingeholt, um Schlussfolgerungen aus den unmittelbaren Erfahrungen mit EU-Programmen und -Maßnahmen ziehen zu können. Außerdem unternahmen die Mitglieder des Unterausschusses eine Studienreise und besichtigten EU-finanzierte Projekte in Belfast.

4.2   An der Konferenz, die mit Ereignissen zusammenfiel, die bedeutende politische Fortschritte in Nordirland markierten, nahmen der Erste Minister und der Stellvertretende Erste Minister von Nordirland, der Staatsminister für Nordirland sowie hochrangige Vertreter der EU teil, die das PEACE-Programm mit auf den Weg gebracht hatten.

4.3   Eine Schlüsselrolle hat bei dieser Stellungnahme die wertvolle Zusammenarbeit zwischen den drei Gruppen des EWSA, deren Sachverständigen und den aus Frankreich, Spanien, Italien, Irland und dem Vereinigten Königreich stammenden Mitgliedern des Unterausschusses sowie dem Europäischen Parlament (de-Brún-Bericht) und der Europäischen Kommission gespielt.

5.   Hintergrund

5.1   Geografie/Wirtschaft

5.1.1   Nordirland liegt im nordöstlichen Teil der Insel Irland. Die Gesamtfläche Nordirlands beträgt 14 160 Quadratkilometer und seine Einwohnerzahl beläuft sich nach der letzten Volkszählung (2001) auf 1 685 000, darunter 53,1 % Protestanten, 43,8 % Katholiken, 0,4 % Angehörige anderer Konfessionen 2,7 % nicht konfessionell Gebundene. Nordirland hat eine für europäische Verhältnisse sehr junge Bevölkerung, sind doch mehr als 40 % der Einwohner noch keine 30 Jahre alt. Die Bevölkerungszahl, die bis vor kurzem aufgrund der Nettoabwanderung stagnierte, wird voraussichtlich bis 2011 die 1,8-Millionen-Marke überschreiten.

5.1.2   In der Volkswirtschaft vollzieht sich der Übergang vom herkömmlichen verarbeitenden Gewerbe (Schiffbau und der Textilindustrie) zu mehr dienstleistungs- und exportorientierten Wirtschaftszweigen. Seit 2004/2005 erhöhte sich die (reale) Bruttowertschöpfung (BWS) um 3,5 % und lag somit knapp unter dem Durchschnitt des Vereinigten Königreichs, aber weit unter dem Durchschnitt, der in der Zeit des „keltischen Tigers“ (bis zu 10 % jährlich) zu verzeichnen war. Die Pro-Kopf-BWS liegt bei etwa 80 % des VK-Durchschnitts und die Arbeitslosen-quote hat sich von einem Spitzenwert von 17,2 % im Jahr 1986 auf nunmehr 3,6 % verringert. Diese statistischen Daten sollten jedoch nicht den Blick für eine Reihe von erheblichen Problemen verstellen, wie zum Beispiel die hohe Nichterwerbstätigenquote, die mit 26,9 % die höchste aller Regionen des Vereinigten Königreichs ist, und die hohe Abhängigkeit sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors von öffentlichen Fördermitteln, wodurch der Unternehmergeist gehemmt wird (62 % der BWS entfallen auf öffentliche Finanzierungen).

5.2   Jüngerer historischer/politischer Hintergrund

5.2.1   Als Landesteil des Vereinigten Königreichs wurde Nordirland per „Government of Ireland Act“ gegründet, durch den die Insel 1921 in Nord- und Südirland geteilt wurde. Dies führte dazu, dass auf der Insel eine Grenzregion geschaffen wurde, und markierte den Beginn einer Koexistenz der beiden Teile der Insel, eines „Nebeneinanders“ des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens. Seitdem ist die Teilung der Insel eine Quelle von Konflikten zwischen den nordirischen Nationalisten (hauptsächlich Katholiken) und den Unionisten (hauptsächlich Protestanten). Die ersteren streben im Allgemeinen ein verei-nigtes Irland an, während die letzteren wollen, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleibt.

5.2.2   1921 waren etwa 60 % der Bevölkerung Protestanten und 40 % Katholiken. Die Unionisten hatten aufgrund ihrer Mehrheit fast ein halbes Jahrhundert lang die Macht in der Region. Ende der 1960er begannen Bürgerrechtler für ein Ende der Diskriminierung zu demonstrieren. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen und Unruhen, die dann folgten, werden von vielen als Beginn des sogenannten Nordirlandkonflikts („The Troubles“) betrachtet. Auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts im Jahr 1972 wurde das Nordirische Parlament aufgelöst und Nordirland direkt von London aus regiert („Direct Rule“).

5.2.3   In den darauf folgenden Jahrzehnten gab es zahllose Versuche, die Lage zu stabilisieren; es wurden sogar Versöhnungsinitiativen auf den Weg gebracht, die vor allem von zivilgesellschaftlichen Organisationen, u. a. Gewerkschaften, ausgingen. Im selben Zeitraum kam es jedoch auch zu schrecklichen Gewalttaten, die im Verlauf von 35 Jahren mehr als 3 500 Menschenleben forderten. Darüber hinaus trugen Tausende von Menschen lebenslange körperliche und psychische Schäden davon.

5.2.4   Der Waffenstillstand für paramilitärische Gruppen im Jahre 1994 ebnete den Weg für Gespräche zwischen den politischen Parteien. 1998 wurde das auch als Belfaster Abkommen bekannte Karfreitagsabkommen geschlossen, das in getrennten Volksabstimmungen nördlich und südlich der Grenze die Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit der Bürger fand. Im darauf folgenden Jahr wurden eine Nordirische Regierung („Northern Ireland Executive“) und Versammlung („Northern Ireland Assembly“) eingesetzt und eine Reihe von Nord/Süd-Einrichtungen geschaffen, und in den letzten Wochen des Jahrtausends wurde die Regionalautonomie wiederhergestellt.

5.2.5   Im Jahr 2002 wurde die Versammlung aufgelöst, und erst am 8. Mai 2007 kam es zur Bildung einer neuen, gemeinsamen Regionalregierung unter der Führung der DUP (Unionisten) und der Sinn Fein (Republikaner). Derzeit erlebt die Region den längsten Zeitraum politischer Stabilität seit fast vier Jahrzehnten.

5.3   Die Beteiligung der EU am Friedensprozess

5.3.1   Das Vereinigte Königreich und Irland traten der Europäischen Union 1973 bei, als der Nordirlandkonflikt auf dem Höhepunkt war, und Nordirland erhielt den „Sonderstatus“ einer „Ziel-1-Region“, obwohl es nicht alle dafür erforderlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllte. Damit erhielt es weitere Mittel für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Das Geld sollte zusätzlich zu den von der britischen Regierung bereitgestellten Finanzmitteln gewährt werden; viele Seiten behaupteten jedoch, dass diese Gelder benutzt wurden, um Löcher in den öffentlichen Haushalten zu stopfen.

5.3.2   Bei der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 wurden drei Mitglieder aus Nordirland gewählt — Ian Paisley, John Hume und John Taylor. Im Jahr 1984 veröffentlichte das EP den „Haagerup-Bericht“ über die Lage in Nordirland. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission Lorenzo Natali antwortete darauf mit dem Versprechen, den Vorschlag für einen integrierten Plan für Nordirland und die Grenzgebiete wohlwollend zu prüfen. Er erklärte jedoch, dass er dafür grünes Licht von der britischen und der irischen Regierung benötige.

5.3.3   Im Jahr 1986 richteten die britische und die irische Regierung den Internationalen Fonds für Irland ein, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern und die Ver-söhnung zwischen Nationalisten und Unionisten in ganz Irland zu unterstützen. Neben den USA, Kanada, Australien und Neuseeland ist die EU einer der wichtigsten Geber. In den letzten zwanzig Jahren wurden insgesamt Mittel in Höhe von 849 Mio. EUR bereitgestellt, die es ermöglichten, mehr als 5 700 Projekte in Nordirland und den Grenzbezirken der Republik Irland zu unterstützen. 2013 wird die EU insgesamt 349 Mio. EUR in den IFI eingezahlt haben.

5.3.4   Der Besuch, den der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors Nordirland im Jahr 1992 abstattete, um Gespräche mit lokalen Vertretern über das weitere Vorgehen zu führen, führte dazu, dass er sich noch stärker für die Sache des Friedens in der Region einsetzte. Im selben Jahr wurden mit der Vollendung des Europäischen Binnen-marktes auch die wirtschaftlichen Barrieren für den Nord-Süd-Handel auf der Insel beseitigt. Dies eröffnete interessante Möglichkeiten für den grenzüberschreitenden Handel und für wirtschaftliche Kontakte.

5.3.5   1994, unmittelbar nachdem der Waffenstillstand für paramilitärische Gruppen erklärt wurde, traf Delors mit den drei nordirischen Mitgliedern des Europäischen Parlaments (seinerzeit waren dies Ian Paisley, John Hume und Jim Nicholson) zusammen und vereinbarte mit ihnen Pläne für ein wichtiges neues Maßnahmenpaket der EU. Er setzte eine Taskforce ein, und nach umfassenden Beratungen vor Ort wurde vom EU-Gipfel am 6. Dezember 1994, nur einige Wochen vor dem Ende der Amtszeit von Jacques Delors als Kommissionspräsident, der Vorschlag angenommen, 300 Mio. EUR für ein dreijähriges PEACE-Programm bereitzustellen. Dies wurde später um zwei Jahre verlängert und erhielt weitere 204 Mio. EUR aus dem EU-Haushalt.

5.3.6   So entstand das erste Sonderprogramm zur Förderung von Frieden und Versöhnung in Nordirland und den Grenzbezirken Irlands oder PEACE I. Im Rahmen der umfassenden Konsultationen zu dem Programm wurde 1995 auch eine Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses ausgearbeitet (1), in der die Initiative begrüßt und darauf hingewiesen wurde, dass es eines langfristigen Konzepts und eines flexiblen Vorgehens bei der Zuweisung der Mittel bedürfe.

5.3.7   Auf PEACE I folgte im Jahr 2000, das Programm PEACE II, das von den Parteien der neuen nordirischen Exekutive ausgehandelt wurde und mit Mitteln in Höhe von 531 Mio. EUR ausgestattet war. Es wurde 2005/06 mit weiteren 78 Mio. EUR dotiert. Der EWSA arbeitete eine zweite Stellungnahme aus (Berichterstatter: John Simpson), in der er forderte, dass die Mittel von PEACE II gezielter für Projekte zur Aussöhnung und zur Lösung der Probleme der Wanderarbeitnehmer eingesetzt würden. Im Jahr 2007 wurde ein drittes Programm — PEACE III — für den Zeitraum 2007—2013 auf den Weg gebracht, das mit 225 Mio. EUR gefördert werden soll. Insgesamt hat die EU dann 1,338 Mrd. EUR zu diesen Programmen beigetragen.

5.3.8   Nachdem Nordirland im Mai 2007 seine Autonomie zurückerhielt, setzte der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso eine neue Taskforce unter der Leitung der Kommissarin für Regionalpolitik Danuta Hübner ein, die sich mit der künftigen Zusammenarbeit zwischen Nordirland und der EU befassen soll. In dem im April 2008 veröffentlichten Bericht der Taskforce werden viele Möglichkeiten für eine stärkere Einbeziehung der Region in die EU-Maßnahmen vorgeschlagen. Darüber hinaus wird das Interesse der nordirischen Behörden an der Förderung des Aufbaus einer Europäischen Einrichtung für Konfliktlösung, die Forschungsarbeiten durchführen, Beratungsarbeit leisten und Erfahrungen weitergeben soll, zur Kenntnis genommen.

6.   Die Auswirkungen der Beteiligung der EU

6.1   Die EU hat sich auf verschiedene Weise am Friedensprozess beteiligt — von der hochrangigen politischen Unterstützung bis hin zur Förderung von Projekten an der Basis. Am intensivsten war die Beteiligung in den 90er Jahren im Zusammenhang mit der Unterstützung der beträchtlichen politischen Fortschritte, die im Ergebnis des Waffenstillstands und des Karfreitagsabkommens/BelfasterAbkommens erzielt wurden. Diese Unterstützung wird derzeit mit der Arbeit der Taskforce der Europäischen Kommission, die auf neue Bereiche der Zusam-menarbeit abzielt, sowie mit PEACE III, dem IFI und INTERREG fortgesetzt.

6.2   Die auf die Friedenskonsolidierung ausgerichtete EU-Finanzhilfe ist ein wesentliches Element, mit dem die EU den Friedensprozess unterstützt. Gleichwohl haben sich auch die nichtfinanziellen Faktoren, die sich automatisch aus der EU-Mitgliedschaft ergeben, maßgeblich zugunsten einer positiven Entwicklung ausgewirkt. Der europäische „Einflussbereich“ kann daher in zwei unterschiedliche, sich jedoch überlappende Kategorien unterteilt werden, die hier als finanzielle und nichtfinanzielle Faktoren bezeichnet werden.

6.3   Nichtfinanzielle Faktoren

6.3.1   Nach dem Beitritt bot die EU einen „neutralen Raum“ für die Erleichterung des Dialogs zwischen britischen und irischen Politikern und damit neue Gelegenheiten für einen regelmäßigen Dialog auf neutralem Boden. Dies spielte auch für die nordirischen Mitglieder des Europäischen Parlaments eine wichtige Rolle. Das beste Beispiel für die Zusammenarbeit der MdEP war das Treffen zwischen Paisley, Hume, Nicholson und Jacques Delors, das 1994 in Brüssel stattfand und in dessen Ergebnis das erste PEACE-Programm ins Leben gerufen wurde. Paisley beschrieb diese Zusammenkunft später als eines der produktivsten Treffen seiner gesamten Laufbahn. Auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen britischen und irischen Beamten in alltäglichen Fragen brachte Zusammenkünfte mit sich, die sich zweifellos positiv auf den Friedensprozess ausgewirkt haben.

6.3.2   Der „neutrale Raum“ wurde sogar noch bedeutsamer, als die EU dazu überging, den Friedensprozess vor Ort zu unterstützen. Das Engagement, die Mitwirkung und das eigenverantwortliche Handeln der Zivilgesellschaft wurde von den Institutionen und durch die Entsendung von Personal erleichtert, das sich für ein ausgewogenes und alle Betroffenen einbeziehendes Vorgehen einsetzte.

6.3.3   Ein weiterer wichtiger nichtfinanzieller Faktor bestand darin, dass den britischen und irischen Entscheidungsträgern die Möglichkeit geboten wurde, sich mit der Konsensbildung bei der EU-Rechtsetzung vertraut zu machen. Bei den Verhandlungen im Rat pflegen die Mitgliedstaaten eine neue, auf Vergleichslösungen und Kompromissfindung ausgerichtete Art des multilateralen Dialogs, die sich bei den politischen Gesprächen in Nordirland als nützliches Instrument bewährt hat.

6.3.4   Das Inkrafttreten des Europäischen Binnenmarktes im Jahr 1992 hatte erhebliche nichtfinanzielle Auswirkungen auf den Friedensprozess. Durch die Beseitigung der administrativen Hemmnisse für den grenzüberschreitenden Handel wurde die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen zu beiden Seiten der Grenze stimuliert, und die schon lange andauernden Aktivitäten der Gewerkschaftsbewegung im Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation erhielten neuen Auftrieb. Allerdings bildeten die Sicherheitskontrollen an der Grenze weiterhin ein Hindernis auf dem Weg zu einer verstärkten Zusammenarbeit der wirtschaftlichen und sozialen Organisationen.

6.3.5   Ein nichtfinanzieller Faktor, der zunächst nur geringe Wirkung zeitigte, war die Bezugnahme auf das europäische Friedensmodell als nachahmenswertes Beispiel für die Region. Als Nordirland der EG beitrat, hegten viele Seiten die Hoffnung, die stabilisierende Wirkung des EG-Beitritts würde quasi sofort einsetzen. Da sich die Fronten aber schon zu sehr verhärtet hatten, konnte sich der Einfluss des europäischen Modells auf den Friedensprozess nicht so schnell durchsetzen.

6.3.6   Noch heute, nach 35 Jahren EU-Mitgliedschaft, gibt es in Belfast „Friedensmauern“, die Katholiken und Protestanten trennen. Die Mehrheit der Kinder besucht getrennte Schulen und 90 % der Menschen leben in getrennten Gemeinden.

6.4   Finanzielle Auswirkungen

6.4.1   Die finanziellen Auswirkungen von PEACE I waren deshalb so beträchtlich, weil es sich dabei um eine einzigartige und innovative Initiative handelte, wie sie nie zuvor von der EU erprobt worden war. Mit einem Beitrag von 500 Mio. EUR (1995 bis 1999) zur Förderung von Frieden und Versöhnung übernahm die EU den größten Anteil der für diesen speziellen Zweck bestimmten Hilfsgelder: er entsprach 73 % der Gesamtsumme. Der restliche Anteil wurde von staatlichen Stellen beider Länder und vom nichtöffentlichen Sektor aufgebracht.

6.4.2   Der breit angelegte Konsultationsprozess zur Ausarbeitung von PEACE I war ein wichtiger Faktor, der zu den positiven Auswirkungen des Programms beigetragen hat. Die organisierte Zivilgesellschaft, darunter NRO, Gewerkschaften und Unternehmen, fühlte sich mitverantwortlich, weil ihr Beitrag anerkannt wurde. Die nordirischen Mitglieder des Europäischen Parlaments waren ebenfalls direkt an der Ausarbeitung des Programms beteiligt. Über PEACE I wurde ausführlich berichtet, so dass das Programm im gesamten Zielgebiet bekannt war. Diese „Anerkennung“ besteht auch heute noch. Die Statistiken belegen, dass beinahe die Hälfte der Bevölkerung von den PEACE-Programmen profitierte.

6.4.3   Ein weiterer Schlüsselfaktor für den Erfolg von PEACE waren die neuartigen Finanzierungsmechanismen des Programms. Die Einschaltung von Zwischenfinanzierungsgesell-schaften (IFB) war ein geschicktes Mittel, der lokalen Ebene die Verantwortung zu übertragen und zugleich Kapazitäten aufzubauen. Auch die Distriktpartnerschaften, denen Vertreter der Wirtschaft, der Landwirte, der Freiwilligenorganisationen und Bürgerinitiativen ebenso angehörten wie Vertreter der Gewerkschaften und gewählte Mitglieder der Lokalverwaltungen, stellten für Nordirland eine „Premiere“ dar. Dieser partnerschaftliche Ansatz für die Entscheidungsfindung hat im Friedensprozess eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie die Finanzierung selbst.

6.4.4   Es wird weithin anerkannt, dass dieser von unten nach oben gerichtete Ansatz („Bottom-up“) „denjenigen, die am Rande des wirtschaftlichen und sozialen Lebens stehen“, den Zugang zu Finanzmitteln erleichtert hat. Das Programm war insbesondere auf Gruppen ausgerichtet, die bis dahin nur wenig oder gar keine Unterstützung erhalten hatten, wie Opfer und Haftentlassene; für andere Gruppen wie gemeindeübergreifende und grenzüberschreitende Organisationen, Frauen- und Jugendgruppen wurden die Mittel aufgestockt.

6.4.5   Die finanziellen Auswirkungen dieser Programme waren größer als bei den vorherigen Finanzierungsmaßnahmen der EU, da die „Zusätzlichkeit“ der Mittel gewährleistet war. So konnten die betreffenden Finanzmittel größere Wirkung entfalten und stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken, weil sie über die staatlichen Mittel für die Region hinaus bereitgestellt wurden. Es wird oft angeführt, dass dies bei anderen Strukturfondsprogrammen der EU nicht der Fall war.

6.4.6   Auch die Verlagerung des Schwerpunkts der einzelnen Programme ist nicht wirkungslos geblieben. Während bei PEACE I der größte Anteil der Mittel auf die „soziale Einglie-derung“ entfiel, lag bei PEACE II der Finanzierungsschwerpunkt auf der „wirtschaftlichen Erneuerung“. Bei PEACE III wurde der Schwerpunkt auf die Versöhnung gelegt, was anerkanntermaßen die beste Möglichkeit ist, die immer noch bestehenden Probleme der Abschottung zwischen den Konfessionen zu überwinden.

6.4.7   Ferner wurde die Verantwortung für PEACE II/III der neu geschaffenen, grenzübergreifend tätigen EU-Sonderprogrammstelle (Special EU Programmes Body (SEUPB)) übertragen. Deren Arbeit wird teilweise von Begleitausschüssen unterstützt, in denen die Interessen des öffentlichen, des gewerkschaftlichen und des privaten Sektors Nordirlands und der Grenzbezirke vertreten sind. Während von einigen Seiten angeführt wird, dass infolge dieser Veränderung die Beteiligung vor Ort eingeschränkt wurde, halten andere das Bestehen einer einheitlichen Anlaufstelle für alle Aspekte der Finanzierung des PEACE-Programms und der grenzübergreifenden Finanzierung durch die EU für positiv.

6.4.8   Auch der IFI hatte äußerst bedeutsame Auswirkungen auf den Friedensprozess, nicht nur dank der finanzierten Projekte, sondern auch wegen seiner Zusammensetzung. Der IFI bringt Vertreter aus den Geberländern zusammen, und diese einzigartige Form der Zusammenarbeit, vor allem zwischen der EU und den USA, könnte ein nachahmenswertes Beispiel für andere Konfliktgebiete darstellen.

6.4.9   Obwohl der INTERREG - Fonds in der gesamten EU eingesetzt wird, haben seine spezifischen Auswirkungen auf der Insel Irland auch eine außerordentlich positive Rolle beim Friedensprozess gespielt. Als Ergänzung zu den grenzübergrei-fenden Elementen der PEACE-Programme werden im Rahmen von INTERREG Investitionen in grenzübergreifende Infrastrukturen und sozioökonomische Programme finanziert, die den Konfessionsgemeinschaften dabei helfen, aus dem „Nebeneinander“ ein „Miteinander“ werden zu lassen.

6.4.10   Andere EU-Initiativen wie URBAN, EQUAL und LEADER haben nach wie vor einen nicht ganz so unmittelbaren, aber ebenfalls wichtigen Einfluss auf den nordirischen Friedens-prozess.

6.5   Auswirkungen auf die grenzübergreifende Zusammenarbeit

6.5.1   Nach der Teilung der Insel im Jahr 1921 haben die beiden Gebiete eine getrennte und gegensätzliche Entwicklung genommen. Die Auswirkungen dieser Auseinanderentwicklung waren schon vor dem Nordirlandkonflikt offensichtlich und wurden durch die 35 Jahre währende Gewalt verschärft. Aufgrund der Gefahren und Schwierigkeiten war der grenzüber-schreitende Austausch begrenzt, und der grenzüberschreitende Handel war geringer als an jeder anderen EU-Binnengrenze.

6.5.2   Die EU-Maßnahmen haben den Paradigmenwechsel bei der grenzübergreifenden Zusammenarbeit gefördert und erleichtert. Beschleunigt wurde er durch die Tatsache, dass sowohl Irland als auch das Vereinigte Königreich der Europäischen Gemeinschaft angehörten. Auf wirtschaftlichem Gebiet waren die von oben nach unten verlaufenden Auswirkungen des Binnenmarktes besonders nutzbringend, während sich im sozialen und kulturellen Bereich die von unten nach oben verlaufenden Auswirkungen der PEACE-Programme, die die sechs süd-lichen Grenzbezirke einbezogen, als Triebfeder eines bis dato ungeahnten grenzüberschreitenden Austauschs erwiesen.

6.5.3   Zu den beiderseitigen Zielen gehörten der verstärkte Ausbau der Wirtschaftstätigkeit, soziale Interaktion und engere Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Regierungen. Als Eck-pfeiler des Karfreitagsabkommens/Belfaster Abkommens wurden ein Nord-Süd-Ministerrat sowie grenzübergreifende Gremien eingerichtet. Diese gemeinsam finanzierten Einrichtungen sind in der EU ohne Beispiel. Auch die Idee einer „Inselwirtschaft“ hat sich von einem radikalen Konzept zu einer allgemein anerkannten Idee entwickelt, die als nützlich und vorteilhaft angesehen wird.

6.5.4   Diese verstärkte grenzübergreifende Zusammenarbeit wurde oft von den Sozialpartnern angeführt. Ihre Pionierarbeit stellte sicher, dass die Entscheidungsträger in Nord und Süd zusammenarbeiteten, um Verständnis, Anerkennung und Vertrauen über die Grenze hinweg zu fördern. Diese Zusammenarbeit „Schulter an Schulter“ findet in vielen Bereichen statt, manifestiert sich aber am deutlichsten im wirtschaftlichen Bereich sowie bei Gesundheit und Bildung.

6.5.5   Zu den vielen positiven Beispielen dieser Arbeit gehört ein von zwei Wirtschaftsverbänden aus dem Norden bzw. aus dem Süden — der CBI (Confederation of British Industry) und der IBEC (Irish Business and Employers Confederation) — auf den Weg gebrachtes siebenjähriges Entwicklungsprogramm für Handel und Unternehmen, das von IFI, PEACE und INTERREG finanziert wurde und mehr als 300 Treffen zwischen Käufern und Anbietern durchführte. Der Handel verdoppelte sich in diesem Zeitraum (1991—1997) auf mehr als 2 Mrd. GBP.

6.5.6   Auch die Arbeit, die die Gewerkschaftsbewegung zur Förderung von grenz- und konfessionsübergreifenden Kontakten leistet, ist außerordentlich wertvoll. Der Irische Gewerkschaftskongress (Irish Congress of Trade Unions (ICTU)) ist eine gesamtirische Organisation, die sich während des Nordirlandkonflikts unermüdlich für die Förderung besserer Beziehungen zwischen den Konfessionen einsetzte. Obwohl der Gewerkschaftsbund sich nicht um eine externe Finanzierung bemühte, erhielten einige der mit ihm verbundenen Einrichtungen Finanzhilfe von der EU.

6.5.7   Die Tatsache, dass nur die sechs südlichen Grenzbezirke direkt von Mitteln aus dem PEACE- Programm profitieren konnten, schränkte die grenzübergreifende Reichweite des Programms ein, insbesondere was die Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit betraf, da die Regionen mit dem größten Potenzial außerhalb des südlichen Fördergebiets lagen.

6.5.8   Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wurde auf eine ganz neue, erhebliche breitere und mehr Tiefgang ermöglichende Ebene gehoben. Als die meisten physischen, rechtlichen und sicherheitsspezifischen Schranken beseitigt waren und grenzüberschreitende Handelsgeschäfte, Interaktionen und Kooperationen in ungeahntem Ausmaß ermöglicht und gefördert wurden, ging es noch darum, unbeirrt dafür weiterzukämpfen, dass die verbleibenden, tief verwurzelten kulturellen und sozialen Hindernisse abgebaut werden.

6.5.9   Die Methoden, mit denen die EU Frieden und Versöhnung auf der wirtschaftlichen und der sozialen Ebene quer durch die beiden Konfessionsgemeinschaften unterstützt hat, stellen ein einzigartiges, hoch entwickeltes und zunehmend bewährtes regionales Modell für die Umsetzung der Grundwerte und die Anwendung von Kompetenz und Methodik der EU dar.

6.6   Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung

6.6.1   Durch die Unterstützung des Friedensprozesses hat die EU zu einer beschleunigten Wirtschaftsentwicklung in Nordirland und den Grenzbezirken beigetragen. Die direkten Auswirkungen der Programme PEACE I und II auf die Wirtschaftsentwicklung wurden in verschiedenen Ex-post-Bewertungen als signifikant bezeichnet. Die wichtigste indirekte Wirkung war, dass die EU durch die Unterstützung politischer Fortschritte und friedensstiftender Maßnahmen eine viel raschere wirtschaftliche und soziale Entwicklung angestoßen hat.

6.6.2   Die PEACE-Programme, der IFI und INTERREG haben zusammen zu nachhaltigen Verbes-serungen der Beschäftigungslage, der Umweltsituation und der Infrastruktur, besonders in den vom Konflikt betroffenen Gebieten, geführt; sie haben in Randgruppen und –gemeinden Entwicklung und unternehme-rische Kapazitäten befördert und erheblich zu dem rasanten Wachstum des grenzüberschreitenden Handels im vergangenen Jahrzehnt beigetragen.

6.6.3   Was die qualitative Seite der Auswirkungen angeht, so haben die Programme nach übereinstimmender Auffassung einen bemerkenswerten Beitrag zum Aufbau einer friedlichen und stabilen Gesellschaft geleistet. Dies wurde größtenteils dadurch erreicht, dass innerhalb von Bürgerinitiativen und Freiwilligenorganisationen die zur Unterstützung des Aussöhnungsprozesses notwendigen Kapazitäten aufgebaut wurden.

6.6.4   „Sozialpartnerschaft“ ist einer der Grundpfeiler des Handelns der EU; aus all diesen besonderen Merkmalen des Ansatzes der EU im Friedensprozess schöpfen die wirtschaftlichen und politischen Interessenträger Anregungen und den Mut, neue Wege für den Umgang miteinander zum Wohle der ganzen Gesellschaft zu erproben.

6.6.5   Der EU-Beitrag hat einen Anstoß zur Entwicklung einer strategischen Vision für die Wirtschaft nach Beendigung des Konflikts gegeben. Für die Zukunft zeichnen sich viele neue und spannende Möglichkeiten für die Region ab, auch durch eine engere Zusammenarbeit innerhalb der EU in Bereichen wie Forschung, Innovation und Wissenstransfer entsprechend den Empfehlungen der neuen Taskforce der Europäischen Kommission sowie durch einen weiteren Ausbau der Geschäftsbeziehungen zur Eurozone.

6.7   Auswirkungen auf die soziale Eingliederung

6.7.1   Bei dem Konzept der EU für Friedensprozesse gehört die soziale Eingliederung zu den unverzichtbaren ethischen Voraussetzungen, und in einschlägigen Untersuchungen wird anerkannt, dass im Rahmen des PEACE-Programms der EU Gruppen unterstützt wurden, die zuvor bei der Bereitstellung von Mitteln nicht berücksichtigt worden waren bzw. die nur minimale Unterstützung erhalten hatten. Mit dem Programm wurden die Integration ethnischer Minderheiten, vertrauensbildende und kapazitätsfördernde Maßnahmen sowie die Übernahme von Eigenverantwortung durch zivilgesellschaftliche Gruppen vor Ort unterstützt und zuvor ausgegrenzte Personen eingegliedert.

6.7.2   Indem es mehr als die Hälfte der Einwohner der Region als Projektteilnehmer einband, hat das PEACE-Programm die EU durch ein als beispiellos beschriebenes Engagement vor Ort mit den Bürgern in Kontakt gebracht. Diejenigen Mitglieder der Zivilgesellschaft, die sich innerhalb ihrer Gemeinschaft auf ehrenamtlicher Basis für Veränderungen einsetzten, wurden gezielt gefördert und unterstützt. Diese Anerkennung stellte einen wichtigen vertrauensbildenden Mechanismus dar.

6.7.3   Durch innovative Finanzierungsmethoden wie die Einschaltung von Zwischenfinanzierungsgesellschaften (IFB) und Distriktpartnerschaften, die später zu lokalen strategischen Partnerschaften (LSP) wurden, konnte die Finanzierung gezielt so nah wie möglich bei den Begünstigten erfolgen und auch in Bereichen ankommen, die von vielen anderen Initiativen nicht erreicht wurden. Darüber hinaus trug die Tatsache, dass die Finanzentscheidungen den örtlichen Organisationen übertragen wurden, dazu bei, Kapazitäten aufzubauen, und stellte sicher, dass die Akteure vor Ort in die Ausarbeitung und in die Durchführung der Programme einbezogen wurden.

6.7.4   Die Besonderheit des EU-Konzepts lag im Rückgriff auf das europäische Sozialpartnerschaftsmodell im Rahmen des PEACE-Programms. Vertreter von Unternehmen, Gewerkschaften und des Freiwilligensektors sowie weiterer Tätigkeitsbereiche wurden konsultiert und einbezogen. Obwohl dieser Grundsatz nach wie vor einen hohen Stellenwert hat, wurden viele der ursprünglichen Partnerschaftsstrukturen nicht beibehalten. Dies ist insofern bedenklich, als das Zusammenbringen von Sozialpartnern und Politikern in einem Entscheidungsgremium einen festen Bestandteil des Friedensprozesses bildete.

6.7.5   Es ist eine anerkannte Tatsache, dass die im Rahmen der EU-Programme PEACE und INTERREG sowie die vom IFI bereitgestellten Mittel vielen Personen in den Gebieten zugute kamen, die am stärksten unter den tiefen Gräben und der Strukturschwäche litten, und bei Konsultationen zeigt sich, dass die Rolle der EU in diesem Zusammenhang in hohem Maße gewürdigt wird.

6.8   Auswirkungen auf Frieden und Versöhnung

6.8.1   Was die Friedenskonsolidierung betrifft, so haben sowohl die finanziellen als auch die nicht finanziellen EU-Maßnahmen dazu beigetragen, den Friedensprozess und die Dynamik bei den Bemühungen um politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Bei den Konsultationen der Beteiligten und Betroffenen durch den EWSA ist von einer überwältigenden Mehrheit der Befragten der Schluss gezogen worden, dass die EU mit ihren Finanzierungsprogrammen zur Schaffung des heute herrschenden Friedens beigetragen hat.

6.8.2   Was den langwierigeren Prozess der Aussöhnung zwischen den Konfessionsgemeinschaften betrifft, so gibt es viele Beispiele für den positiven Einfluss, den gemeinschafts - und grenzübergreifende Kontakte und Kooperationen „von unten nach oben“ auf örtlicher Ebene haben. Die PEACE-Programme und die Arbeit des IFI haben in unübersehbarer Weise den Weg dafür bereitet, dass es für verschiedene Teile der nordirischen Gesellschaft leichter wird, einander die Hand zur Versöhnung zu reichen. Wenn diese Kontakte auch in bestimmten Bereichen zu wachsendem gegenseitigen Verständnis und Vertrauen geführt haben, konnten sie bisher noch nicht genug Wirkung entfalten, um auch in anderen Bereichen dem Argwohn und Misstrauen ein Ende zu machen.

6.8.3   Der Beschluss, die Finanzierungsprogramme der EU stärker auf die Aussöhnung zwischen den Konfessionsgemeinschaften auszurichten, findet daher breite Zustimmung. Dadurch sollten die Angehörigen beider Konfessionen so weit gebracht werden, dass die, die hinter Mauern leben, ausreichendes Selbstvertrauen gewinnen, wie selbstverständlich mit anderen umgehen und vor allem ihre Lage als sicher genug empfinden, um ohne die trennenden Mauern leben zu können. Das muss jedoch ihre eigene Entscheidung sein. Die Unterstützung von Projekten zur Vertrauensbildung in unikonfessionellen Gebieten ist hier als eine Möglichkeit gesehen worden. Sie kann aber insofern kontraproduktiv wirken, als sie vielleicht gerade zur Abkapselung beiträgt, weil die Gruppen auf diese Weise dazu gebracht werden, sich vorrangig um sich selbst zu kümmern. Einige Teile der Gesellschaft sind besser als andere darauf vorbereitet, Fördermittel in Anspruch zu nehmen, so dass ein Gefühl der Ungleichbehandlung aufkommen kann.

6.8.4   Die Fortschritte bei der Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung sind gleichwohl ebenfalls begrenzt. Einem kürzlich erschienenen Bericht zufolge sind die Kosten der Segre-gation außerordentlich hoch, was vor allem auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, Dienstleistungen doppelt zu erbringen, um den Erfordernissen der katholischen und der protestantischen Gemeinschaft gesondert zu entsprechen. Die Trennung der öffentlichen Leistungen in Bereichen wie Wohnraumbereitstellung, Gesundheitsversorgung, Freizeit- und Sportanlagen und -aktivitäten aus dem einzigen Grund, dass Ängste und Unsicherheitsgefühle bei Katholiken und Protestanten beschwichtigt werden müssen, bringt eine zusätzliche Belastung für die entsprechenden Etats mit sich. Was das Bildungswesen betrifft, so besuchen nur 6 % der Kinder in Nordirland Schulen mit einem wahrhaft integrierten katholisch-protestantischen Ethos.

6.8.5   Stabilität und Wohlstand stärken sich gegenseitig, und die EU hat mit ihren Finanzierungsprogrammen dazu beigetragen, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern, die eine Folge des Konflikts waren, ihn aber auch angeheizt haben. Die EU war jedoch niemals in der Lage, die tief verwurzelten politischen und konstitutionellen Ursachen des Konflikts zu bekämpfen. Sie konnte in dieser Hinsicht lediglich eine Vermittlerrolle spielen und ein Vorbild bieten.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem Entwurf einer Mitteilung an die Mitgliedstaaten zur Festlegung von Leitlinien für eine Initiative im Rahmen des Sonderprogramms zur Förderung von Frieden und Versöhnung in Nordirland und den Grenzbezirken Irlands, KOM (1995) 279 endg., ABl. C 155 vom 21.6.1995 und ABl. C 236 vom 11.9.1995.


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

448. Plenartagung am 21.-23. Oktober 2008

30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/109


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern“

KOM(2007) 765 endg. — 2007/0279 (COD)

2009/C 100/17

Der Rat beschloss am 29. Januar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr OPRAN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 39 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 16 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Gewährleistung der Sicherheit ist für jeden Staat eine zentrale Aufgabe. Kein einzelner Mitgliedstaat in Europa kann seine Sicherheit alleine garantieren, und eine konzertierte gemeinsame Anstrengung ist erforderlich, um eine angemessene Kontrolle über die Bewegungen von Waffen, oder allgemeiner, von Verteidigungsgütern herzustellen.

1.2   Die Lösung erblickt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in einem gemeinsamen europäischen Sicherheitsrahmen, nicht jedoch in der Aufrechthaltung innergemeinschaftlicher Hemmnisse mit all ihren schädlichen Auswirkungen. Freilich ist dabei zu beachten, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP, Titel V EUV) derzeit zwischenstaatlich angelegt sind, wohingegen die Kommissionsinitiative zur Vereinfachung der innergemeinschaftlichen Verbringung der ersten Säule der Gemeinschaftspolitik zuzuordnen ist (als Teil der Binnenmarktbestimmungen).

1.3   Aufwand im Zusammenhang mit der Verbringung

1.3.1   Die Industrie hält den bisherigen Rechtsrahmen für ungeeignet und unangemessen; er verur-sacht zudem einen hohen Verwaltungsaufwand.

1.3.2   Bei ihren Einwänden gegen Verbringungserschwernisse geht der Blick der Industrie weit über die Perspektive der innergemeinschaftlichen Verbringung hinaus. Die Globalisierung hat auch in der Rüstungsproduktion Einzug gehalten, denn die wenigsten komplexen Systeme sind noch zu 100 % europäisch — sie alle enthalten zumindest einige Bestandteile aus Drittstaaten.

1.3.3   Auch wenn die Branche globaler denkt, begrüßt sie die Initiative der Kommission als einen wichtigen Schritt voran und unterstützt sie im Großen und Ganzen.

1.4   Finanzielle Auswirkungen

1.4.1   Eine genaue Berechnung der durch Hindernisse für die Verbringung innerhalb der EU verursachten Kosten ist nicht einfach, da solche Kosten nur in geringem Umfang veröffentlicht werden und die meisten dieser Kosten durch ineffiziente Verfahrensabläufe oder Inaktivität anfallen (1). Für das Jahr 2003 wurden die durch innergemeinschaftliche Verbringungshinder-nisse entstehenden jährlichen Gesamtkosten auf mehr als 3,16 Mrd. EUR geschätzt, die sich (laut der UNISYS-Studie) folgendermaßen verteilen:

   indirekte Kosten 2,73 Mrd. EUR

   direkte Kosten 0,43 Mrd. EUR.

1.4.2   Die Kosten lassen sich dabei allgemein wie folgt unterteilen:

a)

direkte Kosten: Struktur- und Verfahrenskosten, die durch die Durchführung der Genehmigungsverfahren selbst entstehen;

b)

indirekte Kosten (2): Die indirekten Kosten entstehen insbesondere durch die verbesserungswürdige Organisation der Industrie (beispielsweise Hindernisse bei der Vergabe von Unteraufträgen), aber auch durch die optimierungsbedürftige Einkaufspraxis der Mitgliedstaaten (beispielsweise die exzessive Bevorratung, um dadurch langwierige Genehmigungsverfahren im Ursprungsmitgliedstaat aufzufangen).

1.5   Der Ausschuss hält es für vordringlich, dass sich die Mitgliedstaaten im Umgang mit der innergemeinschaftlichen Verbringung auf gemeinsame Instrumente einigen. Was den Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Richtlinie angeht, so sorgt die „Gemeinsame Militärgüterliste“, die systematisch aktualisiert werden sollte, bereits für eine gemeinsame Sprache.

1.6   Der EWSA stellt sich hinter den Vorschlag der Kommission, die Mitgliedstaaten aufzufordern, die Möglichkeit zur Erteilung von Global- und Allgemeingenehmigungen zu bieten und mindestens zwei Arten von Allgemeingenehmigungen einzuführen:

1.6.1   Allgemeingenehmigungen für alle Rüstungsgüter (auch Ersatzteile und einschlägige Serviceleistungen) für alle Streitkräfte der Mitgliedstaaten;

1.6.2   eine Allgemeingenehmigung zur Lieferung von Bestandteilen an zertifizierte Unternehmen (3).

1.7   Unter Wahrung des vollen Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten für Ausfuhren in Drittstaaten durch in ihrem Hoheitsgebiet ansässige Unternehmen, ergänzt durch die Koordinierung im Rahmen der Gruppe „Ausfuhr konventioneller Waffen“ (COARM), sollte die Richtlinie nach Ansicht des Ausschusses die Verbesserung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf eine wirksame Exportkontrolle in ausreichendem Maße gewährleisten.

1.8   In der vorgeschlagenen Richtlinie wird unterstrichen, dass Empfängerunternehmen keine Weiterausfuhr von Rüstungsgütern in Drittstaaten durchführen dürfen, wenn dadurch mögli-che Ausfuhrbeschränkungen, die der Ursprungsmitgliedstaat an die Verbringungsgenehmigung geknüpft hat, verletzt werden.

1.9   Liegt jedoch eine Integration von Bestandteilen in ein Produkt dergestalt vor, dass der integrierte Bestandteil zu einem späteren Zeitpunkt nicht wieder selbständig verbracht werden kann, sollten die Mitgliedstaaten von gesonderten Ausfuhrbeschränkungen absehen.

1.10   Nach Auffassung des Ausschusses deckt die Folgeabschätzung, die in dem aktuellen Vorschlag enthalten ist, alle 27 Mitgliedstaaten ab, sodass sie die UNISYS-Studie von 2005 zweckmäßig ergänzt.

1.11   Nach Ansicht des Ausschusses wird der Richtlinienvorschlag einen wesentlichen Nutzen für die industrielle Zusammenarbeit in Europa und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie bringen, sodass er vorbehaltlich der Bemerkungen in dieser Stellungnahme dessen Verabschiedung empfiehlt.

2.   Empfehlungen und Vorschläge

2.1   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Grundsätze zur Vereinfachung der innergemeinschaftlichen Verbringung von Verteidigungsgütern im Wege gemeinsamer Genehmigungsinstrumente und zur Gewährleistung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Ausfuhrkontrol-len große Vorteile und eine bedeutende Vereinfachung für diese komplexe Branche mit sich bringen werden.

2.2   Der Ausschuss hält es ausdrücklich für richtig, aus der Richtlinie die Exportpolitik auszuklammern, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleiben sollte und weiterhin der internationalen Zusammenarbeit unterliegt, beispielsweise im Kontext des EU-Verhaltenskodex für die Ausfuhr von Militärgütern.

2.3   Der Ausschuss hebt hervor, dass die Verantwortung der Unternehmen für die Beachtung möglicher Ausfuhrbeschränkungen im Rahmen einer Verbringungsgenehmigung durch die vorgeschlagene Richtlinie erhalten bleibt. Bei Ausfuhrbeschränkungen, die in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurden, aus dem Bestandteile bezogen werden, liegt die Verantwortung für die Einhaltung dieser Auflagen bei dem Unternehmen, das die Ausfuhrgenehmigung beantragt. Es ist Sache des Unternehmens, die Einhaltung einschlägiger Ausfuhrbeschränkungen zu gewährleisten, das heißt, es muss Ausfuhrpapiere vorlegen, die alle Auflagen der nationalen Behörde, die die endgültige Ausfuhrgenehmigung erteilt, erfüllen.

2.4   Hinsichtlich eines offiziellen Standpunktes in Sachen Ausfuhr sicherheitskritischer Güter in Drittstaaten (4) vertritt der Ausschuss Folgendes:

2.4.1   Wenn eine Verbringungsgenehmigung nicht sicherheitskritische Teilsysteme oder Bestandteile betrifft, die dergestalt in größere Systeme eingehen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt nicht wieder selbständig verbracht oder in Drittländer ausgeführt werden können, sollte es ausreichen, dass die Mitgliedstaaten eine Erklärung über die Systemintegration von den Empfängern einfordern, anstatt gesonderte Ausfuhrbeschränkungen zu erlassen.

2.4.2   Ohne Genehmigung des Ursprungsmitgliedstaats darf keine Wiederausfuhr in einen Drittstaat stattfinden.

2.4.3   Ein Empfängerunternehmen darf keine weitere Ausfuhr von Rüstungsgütern in Drittländer vornehmen, wenn dadurch mögliche Ausfuhrbeschränkungen in der Verbringungsgenehmi-gung des Ursprungsmitgliedstaates verletzt werden.

2.4.4   Die Mitgliedstaaten sollten nicht nur vorschreiben, dass die in ihrem Gebiet ansässigen Lieferanten ausführliche Aufzeichnungen über die von ihnen verbrachten Güter führen, sondern dies auch regelmäßig nachprüfen.

2.4.5   Lieferanten müssen ihrer Informationspflicht gegenüber dem jeweiligen Mitgliedstaat über den Endverwender nachkommen, soweit dieser vor der Verbringung bekannt ist.

2.4.6   Die Gültigkeitsdauer der Zertifizierung sollte verkürzt werden, um die Verantwortlichkeit im Zertifizierungsprozess zu stärken.

2.4.7   Die Behörden der Mitgliedstaaten sollten länger in die Aufzeichnungen der Lieferanten über deren Verbringungen Einsicht nehmen können, was dem Vorgang eine größere Transparenz verleihen und mehr Zeit für die Untersuchung möglicher Verstöße gegen die umgesetzte nationale Rechtsetzung oder Verordnung geben würde.

2.5   Der Ausschuss schlägt in diesem Zusammenhang vor, bereits bestehende Ressourcen auf nationaler Ebene zu nutzen. Nationale Behörden, die für die Ausstellung und die Verwaltung der Zertifikate zuständig sind, überwachen bereits die in ihrem Gebiet ansässigen Rüstungsunternehmen und sind daher in der Lage, Untersuchungen und Audits vorzunehmen.

2.6   Damit die industrielle Zusammenarbeit und die Schaffung des Binnenmarkts möglichst viele Früchte tragen, plädiert der Ausschuss für ein hohes Maß an Harmonisierung.

2.7   In diesem Zusammenhang betont der Ausschuss, dass durch die vorgeschlagene Richtlinie Allgemein- und Globalgenehmigungen die Regel werden und Einzelgenehmigungen auf besondere Fälle beschränkt sein sollten, in denen diese Praxis immer noch unumgänglich ist.

2.8   In der gegenwärtigen Lage betrachtet der Ausschuss die derzeitige „EU-Militärgüterliste“ (EU-CML) als die „gemeinsame Sprache“, die in der nächsten Zeit weiterhin die Grundlage für die Kontrolle der innergemeinschaftlichen Verbringung von Verteidigungsgütern sein sollte.

2.9   Um Auslegungs- und Umsetzungsprobleme zu vermeiden, vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass die Militärgüterliste zu nutzen und weiterhin regelmäßig jedes Jahr zu aktualisieren ist, wobei allgemeine Definitionen hinsichtlich der Art der Güter, für die die neuen Bestimmungen gelten sollen, zu verwenden sind. Dadurch würde die gemeinsame EU-Militärgüterliste als aktuelles Verzeichnis über Waffen, Munition und Rüstungsmaterial sowie über die in diesen Bereich fallenden Dienstleistungen und Arbeiten einschließlich der einschlägigen informationstechnischen Geräte und Computerprogramme anerkannt.

2.10   Zugleich unterstreicht der Ausschuss, dass die Kommission bei der Vorlage ihrer Initiative die Auswirkungen der Globalisierung auf Europa und insbesondere auf die Verteidigungs-industrie im Auge hatte und dabei hauptsächlich die Verteidigungsfähigkeit Europas verbessern wollte.

2.11   Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, Vertragsverletzungen im speziellen Geltungsbereich der vorgeschlagenen Richtlinie zu verfolgen und sich dabei des professionellen Sachverstands eines multinationalen Expertengremiums zu bedienen, das unter anderem zu diesem Zweck gebildet werden sollte.

2.12   Was den Vorschlag der Unisys–Studie anbelangt, eine zentrale Datenbank über innergemeinschaftliche Verbringungen anzulegen, so vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass diese Idee mit der derzeitigen Praxis unvereinbar ist und daher verworfen werden sollte.

2.13   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass sich die Transparenz unter den Mitgliedstaaten auch auf den Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden über den Verkauf von Produkten oder innergemeinschaftlich verbrachten Technologien an den Endverwendungsorten innerhalb der EU erstrecken sollte, damit Verfehlungen, Diskriminierung und Korruption aller Art unmöglich werden.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Nationale Bestimmungen und Verfahren

3.1.1   In den Mitgliedstaaten wird rechtlich zwischen zwei Arten von Gütern unterschieden: militärische Güter und Güter mit einem doppelten Verwendungszweck („Dual-Use“-Güter), die meist durch zwei unterschiedliche Behörden genehmigt werden. Güter mit einem doppelten Verwendungszweck und militärische Güter sollten nicht gemeinsam betrachtet werden.

3.1.2   Güter mit einem doppelten Verwendungszweck dienen zivilen Zwecken, aber da sie auch militärisch oder in besonderen sicherheitskritischen, nicht-militärischen Anwendungen (z. B. Sicherheitstechnik) verwendet werden können, sind sie der Kontrolle unterworfen. Sie unterliegen der handelspolitischen „Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck“ (Verordnung (EG) Nr. 1334/2000), die beim Export in Drittstaaten Einzel-, Global- oder Allgemeingenehmigungen vorsieht. Andererseits und in Übereinstimmung mit dem Binnenmarktprinzip des freien Warenverkehrs unterliegen innergemeinschaftliche Verbringungen von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck nicht der Genehmigungspflicht, es ein denn, es handelt sich um besonders sicherheitskritische Güter, wie z. B. kerntechnische Produkte.

3.1.3   Verteidigungsgüter haben einen militärischen Endzweck. Derzeit gibt es keinen gemeinschaftlichen Rechtsrahmen für ihren Verkehr auf dem Binnenmarkt; ihrer Verbringung inner-halb der EU stehen uneinheitliche einzelstaatliche Rechtsbestimmungen und unangemessene Genehmigungserfordernisse im Wege. Nur wenige Mitgliedstaaten haben Globalgenehmigun-gen eingeführt, und nur ein Staat nutzt Allgemeingenehmigungen als Standardpraxis. Die meisten innergemeinschaftlichen Verbringungen unterliegen nach wie vor Einzelgenehmigun-gen, und Unternehmen mit Lieferketten, die sich über mehrere Mitgliedstaaten erstrecken, können diese Lieferketten nicht optimieren, weil abweichende Genehmigungsverfahren in den Ursprungsmitgliedstaaten dem entgegenstehen.

3.1.4   Alle Mitgliedstaaten vertreten eine gemeinsame Ansicht bei der Umsetzung der Verordnung über Güter mit doppeltem Verwendungszweck, die rechtlich bindend und Bestandteil der ersten Säule der Europäischen Union ist (5).

3.1.5   Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche „Munitionslisten“ für „militärische Güter“ erstellt und verwenden diese sowie die gemeinsame Militärgüterliste des Rats, die im Rahmen des Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren verwendet wird. Zahlreiche Mitgliedstaaten stützen sich in ihren nationalen Rechtsetzungen auf diese Listen, während andere Mitgliedstaaten eigene Listen verwenden (6).

3.1.6   Durch die Annahme einer Rahmenübereinkunft (sog. Absichtserklärung oder „Letter of Intent“, L.o.I.) haben die sechs größten waffenproduzierenden Staaten Europas (7) eigene Kooperationsregeln für die Verbringung und die Ausfuhr im Rahmen von Kooperationsprogrammen festgelegt, die nicht Teil des EU-Rahmens sind.

3.1.7   Die Initiative der Kommission beschränkt sich daher auf die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern, während Exporte in Drittstaaten weiterhin durch die Systeme zur Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen geregelt werden.

4.   Gefahren und Hindernisse

4.1   Bezüglich der anzuwendenden Rechtsvorschriften müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden:

4.1.1   Verschiedenartigkeit der Rechtsvorschriften;

4.1.2   Unterschiede in der nationalen Rechtsetzung.

4.2   Aus Sicht der zuständigen Behörde müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden:

4.2.1   Es gibt eine Vielzahl von Behörden, die für die Bearbeitung von Genehmigungsanträgen für die innergemeinschaftliche Verbringung zuständig sind (je nach Mitgliedstaat bis zu 11 ver-schiedene Behörden).

4.2.2   In einigen Ländern (HU, PL, IE, FR, CH, CZ, PT) muss der Exporteur über zusätzliche Genehmigungen/Bewilligungen verfügen, um eine Ausfuhr-/Einfuhr-/Durchfuhrgenehmigung beantragen zu können.

4.2.3   Was das oft angewendete Prinzip des „Juste Retour“ (Kompensationsgeschäfte) betrifft, so wird es von den Mitgliedstaaten häufig aus industrie- und beschäftigungspolitischen Erwägungen genutzt, aber auch — und dies ist teilweise der aktuellen innergemeinschaftlichen Verbringungspraxis geschuldet–, weil sie bei ihren EU-Partnern auf keine echte Beschaffungs-sicherheit zählen können (daher die Bevorzugung einheimischer Produkte, die keinen Verbringungsgenehmigungen anderer Mitgliedstaaten unterliegen).

5.   Mögliche Maßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen für die innergemeinschaftliche Verbringung

5.1   Eine Optimierung des europäischen Verteidigungsmarktes muss sich in Fragen der Verbringung an einer Reihe von grundlegenden Prioritäten orientieren:

5.1.1   Sicherheit: Vereinfachung der Verbringung und gegenseitiges Vertrauen gehen Hand in Hand. Tatsächlich besteht in der jetzigen Situation in Europa nicht überall ein gleiches Maß an Vertrauen. Die Vereinfachung der Verbringung muss durch vertrauensbildende Maßnahmen flankiert werden. Der Kampf gegen den Terrorismus und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hat für alle Staaten der EU Vorrang. Dazu gehört auch eine stärkere Kontrolle der Verbreitung von Waffen in Drittländer, indem die Einhaltung der von den Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Politik auferlegten Ausfuhrbeschränkungen sichergestellt wird.

5.1.2   Einfachere Genehmigung: Die Genehmigungssysteme sind der greifbarste Ausdruck der Verantwortung der Mitgliedstaaten im Waffenhandel. Zusätzlich ermöglichen die Genehmigungen die Auferlegung möglicher Einschränkungen hinsichtlich der Endnutzung und des Endbestimmungslandes der Güter. Da die Verantwortung weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegen sollte, sollten die nationalen Genehmigungen beibehalten werden. Der Vereinfachungseffekt könnte sich somit aus ihrer Vereinfachung und Angleichung ergeben und für die Branche eine Vorhersehbarkeit herstellen. Es sollte die Konsolidierung der verteidigungstechnischen und -industriellen Basis Europas fördern, d. h. alle arbeiten unter denselben Bedingungen und erhalten — insbesondere die kleinen und mittelständischen Betriebe — leichteren Zugang zu den Chancen und Partnerschaften, die der paneuropäische Markt zu bieten hat.

5.1.3   Harmonisierung rechtlicher Verpflichtungen: Sie sollte neben den Verbringungsverfahren für Verteidigungsgüter auch die rechtlichen Verpflichtungen der Unternehmen dieser Branche umfassen. Zu diesem Zweck müssen die Harmonisierungsbestrebungen im europäischen Markt für Verteidigungsgüter fortgesetzt werden (etwa durch die Erarbeitung eines gemein-samen Rahmens für die Kontrolle der Güter).

5.1.4   Frieden bildende Maßnahmen: Bei sämtlichen kommerziellen Aktivitäten in dieser Branche ist auf das Prinzip zu achten, dass Verteidigungsgüter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck nicht die demokratischen Werte und die friedensbildenden Maßnahmen der EU gefährden oder diesen widersprechen.

5.2   Das neue innergemeinschaftliche System könnte zwei Auswirkungen auf die Ausfuhren haben:

Es wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, im Falle einer Ausfuhr ihrer Rüstungsgüter konsultiert zu werden, sofern diese nicht Bestandteile komplexerer Waffensysteme sind.

Die Zertifizierung wird die aktive Teilnahme der Unternehmen an der Beachtung der exportpolitischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten, die bereits im Rahmen des Verhaltenskodexes koordiniert werden, fördern und deshalb den Ausfuhren mehr Sicherheit bezüglich der Risikoprävention gegen illegale Ausfuhren bringen.

6.   Schlussbemerkung

6.1   Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Kommission mit der Mitteilung „Eine Strategie für eine stärkere und wettbewerbsfähigere europäische Verteidigungsindustrie“ und den vorgeschlagenen Richtlinien „über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit“ und zur „Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern“ einen wichtigen Schritt zur Stärkung des europäischen Marktes für Wehr- und Sicherheitstechnik unternommen hat. Er fordert das Europäische Parlament und den Rat auf, diese Initiative noch weiter auszugestalten und sie in einen übergeordneten Ansatz einzugliedern, der einen Fortschritt für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeutend würde.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  In seiner Studie „A single European market for defence equipment: organisation and collaboration“ stellt Professor Keith Hartley vier „Liberalisierungsszenarien“ vor, durch die noch größere Einsparungen von jährlich 3,8—7,8 Mrd. EUR erzielt werden können.

(2)  Ein wesentlicher Aspekt zur Erklärung der indirekten Kosten ist die Tatsache, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Zulieferer den Empfängerstaaten keine echte Beschaffungssicherheit bieten.

(3)  Laut Kommissionsvorschlag ist die Zertifizierung mit der Annahme von Gütern gemäß Allgemeingenehmigung verbunden und nicht mit Globalgenehmigungen. Selbstverständlich können zertifizierte Unternehmen auch gewisse spezifische Bestandteile mit einer Globalgenehmigung beziehen (Komponenten, die nicht unter die einzelstaatlichen Regelungen für Allgemeingenehmigungen fallen).

(4)  Mit „Drittstaat“ ist jeder Staat gemeint, der kein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist.

(5)  Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22. Juni 2000 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck.

(6)  Europäische Union 1998, EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren, 25. Mai, http://ue.eu.int/Newsroom/

(7)  Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Spanien, Italien, Schweden.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/114


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit“

KOM(2007) 766 endg. — 2007/0280 (COD)

2009/C 100/18

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 24. Januar 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 47 Absatz 2, Artikel 55 und Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 1. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr OPRAN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 46 gegen 5 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Breit angelegter Dialog zwischen den Sozialpartnern

1.1.1.   Der Ausschuss stellt mit großer Genugtuung fest, dass Experten aus den Mitgliedstaaten und Vertreter der Rüstungsindustrie und der Interessengruppen und erstmals auch führende Vertreter der Sozialpartner sich aktiv in die Vorbereitung des Vorschlags für diese Richtlinie eingebracht haben und eng in die Erarbeitung des von der Kommission am 5. Dezember 2007 vorgelegten Vorschlags einbezogen waren. Die sowohl auf multilateraler wie auch auf bilateraler Ebene geführten Konsultationen mit Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft in der EU erstreckten sich auf alle Bereiche der Auftragsvergabe im Bereich Verteidigung (Nachfrage, Angebot, Rechtsrahmen und Produkte).

1.2.   Einschränkung der Inanspruchnahme von Artikel 296

1.2.1.   Nach Überzeugung des Ausschusses (1) stellt die von der Kommission vorgeschlagene Lösung unter strikter Achtung der Vorrechte der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Verteidigung in innovativer Weise einerseits die Einhaltung der Bestimmungen von Artikel 296 des Vertrags (bezüglich des Bereichs Verteidigung) und Artikel 14 der geltenden Richtlinie über öffentliche Aufträge (bezüglich des Bereichs Sicherheit) sicher, indem den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt wird, Aufträge in diesen Bereichen zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen von den Vorschriften auszunehmen, und gewährleistet andererseits die Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH und seiner ausdrücklichen Forderung, die Freistellung von Verteidigungsaufträgen von den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auf Ausnahmefälle (2) zu beschränken.

1.2.2.   Ziel der vorgeschlagenen Richtlinie über die Beschaffung von Verteidigungsgütern ist eine Verringerung der Zahl der Fälle, in denen Mitgliedstaaten Artikel 296 in Anspruch nehmen, weil die bestehenden EU-Vorschriften für die Auftragsvergabe nicht als für die Besonderheiten von Waffen, Munition und Kriegsmaterial geeignet angesehen werden.

1.2.3.   Artikel 296 bleibt in Kraft, womit die Mitgliedstaaten sich nach wie vor darauf berufen können, wenn sie Aufträge für so sensibel bzw. geheim erachten, dass sogar die Bestimmungen der neuen Richtlinie nicht ausreichen, um ihre Sicherheitsinteressen zu schützen. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der neuen Richtlinie und Artikel 296.

1.2.4.   Im Interesse der Kohärenz zwischen dem gemeinschaftlichen Primärrecht (Vertrag) und Sekundärrecht (Richtlinie) müssen sich beide auf den gleichen Anwendungsbereich erstrecken. Anderenfalls würde das zu Rechtsunsicherheit führen.

1.3.   Das gleichzeitige Bestehen und die willkürliche Verwendung von zwei „Militärgüterlisten“ durch die öffentlichen Auftraggeber in den Mitgliedstaaten und die Industrie haben für Verwirrung gesorgt. Hier sollte umgehend Abhilfe geschaffen werden durch die Entscheidung für eine gemeinsame Liste, die dann für alle Aufträge und Geschäftsverfahren gilt. Eine optimale Lösung wäre die Annahme und Verwendung einer gemeinsamen Militärgüterliste für das gesamte Spektrum von Anwendungen, das von den beiden von der Kommission vorgeschla-genen neuen Richtlinien abgedeckt wird. Derzeit gibt es im Wesentlichen folgende zwei Optionen:

1.3.1.   Option 1: fortgesetzte Nutzung der „Liste vom 15. April 1958“ für diese Zwecke, vor allem aus Gründen der Kontinuität, da die Liste erfahrenen Nutzern offenbar vertraut und leicht zugänglich ist. Gleichzeitig ist allgemein bekannt, dass die derzeitige Fassung der Liste zu allgemein gehalten und zu breit angelegt ist; sie wurde seit ihrer Aufstellung vor 50 Jahren nie aktualisiert; sie umfasst nicht alle neuen Technologien, die erforderlich sind, um sehr reale und komplexe Bedrohungen bewältigen zu können.

1.3.2.   Option 2: Übergang zur Verwendung der „Gemeinsamen EU-Militärgüterliste“, die der Rat am 19. März 2007 angenommen und am 10. März 2008 aktualisiert hat, einschließlich der Güter, die unter den am 7. Juli 2000 vom Rat verabschiedeten „Verhaltenskodex der EU für Waffenausfuhren“ fallen. Dieser Kodex gilt auch im Zusammenhang mit der neuen Richtlinie über die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern.

1.4.   Artikel 296: für Sonderfälle weiter gültig (3)

1.4.1.   Der Ausschuss kann sich dem Vorgehen der Kommission, Artikel 14 der derzeit geltenden Vergaberichtlinie 18/2004 (geheime Aufträge) nicht in die neue Richtlinie aufzunehmen und stattdessen einen direkten Verweis auf die relevanten Artikel des Vertrags über öffentliche Aufträge im Bereich Sicherheit (insbesondere auf Artikel 30 und 296) einzufügen, nicht anschließen. Das kann bei den öffentlichen Auftraggebern Verwirrung darüber stiften, was als angemessen bzw. nicht angemessen gilt.

1.4.2.   Da die meisten Verträge zur Beschaffung von sensiblen Verteidigungs- und Sicherheitsgütern zumindest einige geheime oder vertrauliche Informationen enthalten, hat die Kommission beschlossen, besondere Bestimmungen über die Geheimhaltung von Informationen in die neue Richtlinie aufzunehmen. Alle „geheimen Aufträge“ und Aufträge, die „bestimmte Sicherheitsmaßnahmen“ erfordern, ohne nähere Bestimmung dieser Maßnahmen ausdrücklich freizustellen, würde den Anwendungsbereich der neuen Richtlinie möglicherweise drastisch einschränken und — schlimmer noch — den Vorschlag in seinem Wesen vollkommen aushöhlen.

1.4.3.   Der Ausschuss unterstützt einerseits die Kommission in ihrem zweistufigen Ansatz zur Lösung dieser sensiblen Frage:

geheime Aufträge sollten nicht automatisch von der Anwendung der neuen Richtlinie freigestellt werden, sondern

nur erforderlichenfalls von den Mitgliedstaaten ausgenommen werden können.

Der Ausschuss hält das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren daher für eine nicht unvernünftige Lösung für alle Beteiligten, empfiehlt jedoch anderseits auch die ergänzende Aufnahme geeigneter Elemente von Artikel 14 der allgemeinen Vergaberichtlinie in passender Form in die Richtlinie über die Beschaffung von Verteidigungsgütern.

1.5.   Ein Rechtsrahmen für die Vergabe öffentlicher Aufträge

1.5.1.   Nach Einschätzung des Ausschusses ist die neue Richtlinie aus folgenden Gründen bestens für die Besonderheiten von Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen (Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen) (4) in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit geeignet:

1.5.1.1.   Öffentliche Aufträge für Waffen, Munition und Rüstungsgüter sind vom Anwendungsbereich des im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) geschlossenen Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen ausgenommen.

1.5.1.2.   Es gibt in jedem Mitgliedstaat nur einen einzigen Auftraggeber, nämlich die Regierung (5).

1.5.1.3.   Hier besteht das Erfordernis einer langfristigen Versorgungssicherheit (6), die zu gewährleisten ist.

1.5.1.4.   Den Mitgliedstaaten muss ein hoher Grad an Freiheit bei der Gestaltung des Vergabeverfahrens eingeräumt werden.

1.5.2.   Im Hinblick auf die FuE schließt sich der Ausschuss der Auffassung an, dass die Marktmechanismen und öffentliche Ausschreibungen nicht immer realistische Möglichkeiten sind, da die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung der von den Streitkräften nachgefragten Systeme einen Teil dieser Arbeiten selbst ausführen und oft langfristige Beziehungen zu Forschungseinrichtungen und Technologieinstituten sowie zur Industrie vereinbaren.

Diese Beziehungen können sich in Form einer Entwicklungsspirale oder anderer Mechanismen gestalten, um Kontinuität und Wachstum im Entwicklungsprozess sicherzustellen.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der gegenwärtige Wortlaut des Richtlinienvorschlags die tatsächlichen Gegebenheiten nur unzureichend widerspiegelt, und befürchtet negative Auswirkungen für die Mitgliedstaaten sowie für die Industrie für den Fall, dass eine künstliche Trennung zwischen dem FuE-Prozess und dem Produktionsprozess durchgesetzt wird.

1.6.   Präferenz für europäische Produkte: eine Entscheidung der einzelnen Mitgliedstaaten

1.6.1.   Im Hinblick auf den Vorschlag, das Prinzip der Präferenz für europäische Produkte bzw. die Gegenseitigkeitsklausel zu vermeiden, ist der Ansatz der Kommission nach Ansicht des Ausschusses und unter Berücksichtigung folgender Aspekte für die Mitgliedstaaten annehmbar.

1.6.1.1.   In der Richtlinie wird geregelt, wie Aufträge für Verteidigungsgüter vergeben werden müssen, jedoch nicht, welche Verteidigungsgüter beschafft werden müssen. Diese Frage liegt im Ermessen der Kunden, das heißt der Mitgliedstaaten.

1.6.1.2.   Es liegt nach wie vor im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob dieser Bereich gemäß Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) für den Wettbewerb von Anbietern aus Drittländern geöffnet werden soll.

1.6.1.3.   Die öffentlichen Auftraggeber können weiterhin frei entscheiden, ob sie nur Unternehmen aus der EU oder auch Firmen aus Drittländern zur Abgabe eines Angebots auffordern.

1.6.2.   Der Ausschuss vertritt somit die Ansicht, dass die Nennung einer Präferenz für europäische Produkte nicht Protektionismus bedeutet, sondern eher ein notwendiger Schritt ist, um in der internationalen Zusammenarbeit im Bereich Verteidigungsindustrie und -technologie wieder Ausgewogenheit herzustellen, was insbesondere für die Zusammenarbeit mit den USA gilt.

1.7.   Handel mit Drittländern

1.7.1.   Im Hinblick auf den Handel von Verteidigungsgütern mit Drittländern ändert sich mit der neuen Richtlinie nichts an der derzeitigen Situation, was der Ausschuss für richtig erachtet.

1.7.2.   Dieser Bereich unterliegt weiterhin im Allgemeinen den WTO-Vorschriften und im Besonderen dem Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA).

1.8.   Schaffung eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter (EDEM)

1.8.1.   Nach Dafürhalten des Ausschusses stellt die neue Richtlinie aus folgenden Gründen einen wichtigen Schritt in Richtung Schaffung eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter (EDEM) dar, der ein erklärtes Ziel der EU ist.

1.8.1.1.   Die Einbeziehung von Verteidigungsgütern in den Binnenmarkt wird die Wettbewerbsfähigkeit des EDEM verbessern.

1.8.1.2.   Nach Auffassung des Ausschusses ist die Einführung EU-weit geltender transparenter und wettbewerbsorientierter Vorschriften für die Auftragsvergabe von entscheidender Bedeutung für die erfolgreiche Schaffung des gemeinsamen Marktes für Verteidigungsgüter (EDEM). Damit wird die Offenheit der innergemeinschaftlichen Märkte für Verteidigungsgüter im Interesse aller Beteiligten — Streitkräfte, Steuerzahler und Unternehmen — verbessert.

1.9.   Kompensationsgeschäfte  (7)

1.9.1.   Die Kommission hat es vermieden, konkrete und direkte Vorschläge für Kompensationsgeschäfte vorzulegen, da sie diese für unproduktive Mechanismen hält, welche den Markt verzerren. Doch auch die Kommission räumt ein, dass es in dieser Frage verschiedene Ansichten gibt.

1.9.2.   So haben die Mitgliedstaaten und die Industrie voneinander abweichende Erfahrungen mit diesem Instrument gemacht, das sie auch unterschiedlich bewerten. Die Europäische Verteidigungsagentur prüft derzeit die Möglichkeiten für den entsprechenden Umgang mit diesen Praktiken, damit Kompensationsgeschäfte, soweit es sie gibt, der Entwicklung der verteidi-gungstechnologischen und -industriellen Basis Europas (DTIB) zum Vorteil gereichen. Gleichzeitig wird anerkannt, dass Kompensationen in einem gut funktionierenden europäischen Markt für Verteidigungsgüter nicht mehr erforderlich sind.

2.   Vorschläge

2.1.   Der Ausschuss empfiehlt nachdrücklich, dass alle EU-Initiativen in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit auf höchster politischer Ebene (Europäischer Rat, Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und dem Lenkungsausschuss der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) in Minister-Formation (EDA-SBMF) beschlossen werden.

2.2.   Nach Auffassung des Ausschusses sollten die Gemeinschaftsinstitutionen ihre Unterstützung schwerpunktmäßig auf folgende Hauptziele der Verteidigungsindustrie ausrichten:

2.2.1.   Förderung der Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas auf dem Weltmarkt, um die frühzeitige Erkennung der tat-sächlichen industriellen und militärischen Hauptzielstellungen zu gewährleisten, und zwar sowohl für Großunternehmen als auch für KMU;

2.2.2.   Verbesserung der internationalen Sichtbarkeit der wichtigsten Programme dieses bedeutenden Industriezweigs;

2.2.3.   Förderung der derzeitigen und künftigen Investitionen zur Entwicklung innovativer Technologien;

2.2.4.   EU-weite Sicherung von Arbeitsplätzen in der Verteidigungsindustrie, denn die Bewahrung des Humankapitals, das heißt einer Arbeitnehmerschaft mit sektorspezifischer Ausbildung, ist eine der wichtigsten Bedingungen für ein nachhaltiges Wachstum des Sektors und für die Entwicklung und Implementierung modernster Technologien;

2.2.5.   Förderung des Sektors durch Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer, wofür das staatliche Eingreifen in die Geschäftstätigkeit der Unternehmen abgebaut werden muss;

2.2.6.   Unterstützung der Initiativen der Europäischen Verteidigungsagentur, die in der Lage sein muss, als Katalysator für die von einem oder mehreren Mitgliedstaaten unternommenen Pro-jekte zu wirken. Die EDA kann dazu beitragen, den Kreis der an den Programmen teilneh-menden Mitgliedstaaten zu erweitern, so zum Beispiel im Fall des künftigen europäischen schweren Transporthubschraubers, unbemannter Luftfahrzeuge (Drohnen oder UAV), digitaler taktischer Funksysteme usw.

2.3.   Der Ausschuss empfiehlt dem Europäischen Rat, dem Hohen Vertreter für die GASP und dem EDA-SBMF, die entsprechenden Erwägungen und die Auswahl für die Liste der Vertei-digungsgüter zu treffen, die von allen EU-Teilnehmern am europäischen Markt für Verteidigungsgüter und an der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas verwendet werden sollen, und die endgültige Entscheidung darüber zu veröffentlichen. Dabei besteht die Wahl zwischen folgenden Optionen:

2.3.1.   Weiterverwendung der Liste von 1958 vor allem aus Gründen der Kontinuität, auch wenn die Liste zu allgemein gehalten und zu breit angelegt ist und seit ihrer Aufstellung vor 50 Jahren nie aktualisiert wurde.

2.3.2.   Ersetzen der alten, immer noch verwendeten Liste durch die „Gemeinsame Militärgüterliste der EU“, die der Rat am 19. März 2007 angenommen und am 10. März 2008 aktualisiert hat, einschließlich der Güter, die unter den am 7. Juli 2000 vom Rat verabschiedeten „Verhaltenskodex der EU für Waffenausfuhren“ fallen, umbenannt in „gemeinsame EU-Militärgüterliste“. Der Verhaltenskodex wurde bereits im Zusammenhang mit der neuen Richtlinie über die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern aufgestellt.

2.3.2.1.   Der Ausschuss hält die Vereinigung der aktualisierten „1958er Liste“ für die unter die Ausnahmeregelung fallenden Güter und Technologien mit der „Gemeinsamen Militärgüterliste der EU“, wie sie im „Verhaltenskodex der EU für Waffenausfuhren“ definiert wird, für eine mögliche Lösung.

2.3.3.   Nach Ansicht des Ausschusses sollte die Europäische Verteidigungsagentur als wichtige Triebkraft dieses Sektors und als Forum für Diskussionen zwischen den Regierungen über die Zukunft des Verteidigungssektors, FuE im Bereich Verteidigung und den Ausbau der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas (DTIB) wirken.

2.3.4.   Zugleich anerkennt der Ausschuss die Zuständigkeit der Europäischen Kommission und ihre herausragende Rolle im Bereich des öffentliche Beschaffung und bei der Aktivierung und Stärkung der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas und vertritt die Ansicht, dass die Erfahrung der Europäischen Kommission auf diesem Gebiet bei den Bemühungen um Umstrukturierung und Entwicklung der Verteidigungsindustrie in den Mitgliedstaaten nützlich sein wird.

2.3.5.   Der Ausschuss anerkennt, dass bei der Gestaltung einer europäischen Verteidigungsgüterpolitik die Belange und Vorschläge der Rüstungsindustrie selbst Berücksichtigung finden müssen. Dessen ungeachtet sieht der Ausschuss in der Tätigkeit der EDA ein großes Potenzial für Verbesserungen, wenn Vertreter der Rüstungsindustrie und regierungsunabhängige Fach-leute offiziell und enger in die Arbeit in den einzelnen Direktionen der Agentur einbezogen werden. Diese Vertreter und Fachleute (Mitglieder der organisierten Zivilgesellschaft) sollten im Lenkungsausschuss der Agentur vertreten sein, wobei ihr Status, ihr Rede- und Stimmrecht und ähnliche Aspekte noch zu regeln wären.

2.3.6.   Im Hinblick auf die Anwendung des Verhaltenskodex für Verteidigungsaufträge vertritt der Ausschuss die Ansicht, dass allen EU-Mitgliedstaaten und europäischen NATO-Mitgliedern die Möglichkeit offenstehen muss, im Rahmen ihrer finanziellen, industriellen und technologischen Möglichkeiten an Kooperationsprogrammen teilzunehmen, und dass den Interessen kleinerer und mittlerer Staaten gebührend Rechnung zu tragen ist.

2.4.   Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die Kommission für die Zwecke der statistischen Bewertung und des korrekten Benchmarking regelmäßig Fortschrittsberichte über die Umsetzung der Richtlinie in den einzelnen Ländern sowie auf Gemeinschaftsebene vorlegen sollte.

2.5.   Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die vorgeschlagene Richtlinie auf den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ausgedehnt werden sollte.

3.   Allgemeine Informationen

3.1.   Derzeitige Lage

3.1.1.   Viele Mitgliedstaaten haben ausgiebig die Ausnahmeregelungen des Artikels 296 (8) EG-Vertrag und des Artikels 14 der Vergaberichtlinie (2004/18) in Anspruch genommen, um die öffentliche Beschaffung von Militär- und Sicherheitsgütern fast automatisch vom Gemeinschaftsrecht freizustellen. Das heißt, was eine Ausnahme sein sollte, ist in Wirklichkeit oft die Regel.

3.1.2.   Auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens gibt es keine wirklich geeigneten europäischen Rechtsvorschriften für die Vergabe sensibler öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit.

3.1.3.   Die Verwendung von nichtharmonisierten Normen behindert die Zusammenarbeit in den Bereichen FuE, Beschaffung und Produktionsprogramme.

3.1.4.   Nachfrageseitig haben die 27 einzelstaatlichen Kunden große Schwierigkeiten, eine Angleichung ihrer militärischen Anforderungen und die Bündelung ihrer Macht als Einkäufer in gemeinsamen Beschaffungsprojekten zu vereinbaren.

3.1.5.   Auf EU-Ebene umfasst der Rechtsrahmen 27 verschiedene nationale Regelwerke und Verfahren für alle relevanten Bereiche (Ausfuhr, Transfer, Beschaffung usw.), was sowohl für den Wettbewerb als auch für die Zusammenarbeit ein großes Hindernis darstellt und erhebliche Mehrkosten verursacht (9).

3.1.6.   Die Schaffung eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter ist ein entscheidender Faktor für die Förderung der Ziele der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

3.2.   Konvergenz der Bereiche Verteidigung und Sicherheit

3.2.1.   Der Ausschuss begrüßt die Initiative der Kommission, den Anwendungsbereich der neuen Richtlinie auf sensible nichtmilitärische Sicherheitsgüter auszudehnen, und stützt sich dabei auf folgende Erwägungen:

3.2.1.1.   Im heutigen geostrategischen Umfeld haben neue, asymmetrische und länderübergreifende Bedrohungen (10) dazu geführt, dass sich die Grenze zwischen äußerer und innerer, militärischer und nichtmilitärischer Sicherheit zunehmend verwischt, weshalb ein umfassendes Konzept als Antwort erforderlich ist.

3.2.1.2.   Streitkräfte und Sicherheitskräfte arbeiten zum Beispiel häufig eng zusammen und verwenden ähnliches Material, das auf der Grundlage der gleichen Technologien entwickelt und von den gleichen Unternehmen hergestellt wurde.

3.2.1.3.   Aufträge für nichtmilitärische Güter in bestimmten Bereichen, wie z. B. der Terrorismusbekämpfung, können ebenso sensibel sein wie Aufträge für militärische Güter, und ihre Vergabe kann das gleiche oder ein noch höheres Sicherheitsniveau erfordern.

3.2.1.4.   In Fällen, wo die Aufträge für Sicherheits- und Rüstungsgüter die gleichen Besonderheiten aufweisen, scheint es nur logisch, auch die gleichen Vergaberegeln zur Anwendung zu bringen.

3.2.2.   Der Ausschuss vertritt zudem die Auffassung, dass die Gleichbehandlung aller europäischen Einrichtungen mit Zuständigkeiten in den Bereichen Verteidigung, innere Sicherheit und nachrichtendienstliche Tätigkeit die optimale Lösung darstellt.

3.3.   Einführung innovativer Lösungen

3.3.1.   Um den einzigartigen Anforderungen dieses Bereichs gerecht zu werden, wurden mit der neuen Richtlinie drei wettbewerbliche Verfahren vorgeschlagen, die pragmatische Fortschritte ermöglichen:

Das Verhandlungsverfahren mit öffentlicher Vergabebekanntmachung (11) ist ohne Verpflichtung zur Begründung zulässig.

Das nichtoffene Verfahren  (12) und der wettbewerbliche Dialog können ebenfalls Anwendung finden (13).

Das offene Verfahren, bei dem die Auftragsspezifikationen allen interessierten Wirtschaftsteilnehmern übermittelt werden müssen, wurde jedoch aufgrund der Vertraulichkeit und Sicherheit der für diese Art der Vergabe notwendigen Informationen für nicht angemessen befunden.

3.3.1.1.   Die Richtlinie enthält besondere Bestimmungen über die Informationssicherheit (14) bei den Verfahren, womit sichergestellt wird, dass sensible Informationen vor nicht autorisiertem Zugriff geschützt sind.

3.3.1.2.   Durch die Aufnahme besonderer Klauseln über die Versorgungssicherheit in das Verfahren wird sichergestellt, dass die Streitkräfte rechtzeitig beliefert werden, was insbesondere für Krisensituation oder den Fall eines bewaffneten Konflikts gilt:

a)

In dem Verfahren ist eine gemeinsame Regelung angemessener Garantien vorgesehen, die von einem klaren Benchmarkingverfahren unterstützt wird.

b)

Der Ausschuss begrüßt die Entscheidung der Kommission, dass die neue Richtlinie nur für die Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit Gültigkeit erlangen wird, für die die derzeit geltende Vergaberichtlinie ungeeignet ist.

c)

Diese Aufträge betreffen die Beschaffung von militärischen Gütern (Waffen, Munition und Kriegsmaterial) und von Sicherheitsgütern, die besonders sensibel und von ihrer Art her Verteidigungsgütern ähnlich sind.

d)

Die Vergabe von Aufträgen für nichtsensible und nichtmilitärische Güter erfolgt weiterhin nach der geltenden Vergaberichtlinie (2004/18), selbst wenn diese Aufträge von öffentlichen Auftraggebern in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit vergeben werden.

3.4.   Rechtsgrundlagen für diesen Richtlinienvorschlag:

3.4.1.   das Beitragsprinzip: Verstößen und Zuwiderhandlungen, die aus dem Fehlen gemeinschaftlicher Bestimmungen zur Koordinierung der geltenden Vergabeverfahren erwachsen, muss ein Riegel vorgeschoben werden.

3.4.2.   Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Bei uneingeschränkter Einhaltung der Richtlinie wird jeder Mitgliedstaat bei der Umsetzung in einzelstaatliches Recht die Möglichkeit haben, den Besonderheiten und Charakteristika seiner sensiblen Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit Rechnung zu tragen.

3.5.   Wahl des Instruments

3.5.1.   Den Mitgliedstaaten steht es frei, bei der Umsetzung Rechtvorschriften zu erlassen, die für sämtliche öffentlichen Aufträge einschließlich sensibler Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit gelten.

3.5.2.   Das neue Instrument sollte ein hohes Maß an Flexibilität bieten, eine angemessene Transparenz gewährleisten und den Marktzugang für Anbieter und insbesondere KMU aus anderen Ländern verbessern.

3.5.3.   Für eine umfassende Wirksamkeit der Richtlinie bedarf es der Unterstützung im Bereich der Normung und einer geeigneten Regelung für den innergemeinschaftlichen Verkehr mit entsprechenden Gütern.

3.6.   KMU und europäische Verteidigungsindustrie

3.6.1.   Der Ausschuss betont, dass die kleineren und mittleren Anbieter von Verteidigungsgütern und -technologien eine wesentliche Rolle bei der praktischen Umsetzung des Verhaltenskodex für Verteidigungsaufträge spielen, da sie sowohl zur Forschung als auch zur Beschäftigung und Entwicklung der nationalen und europäischen Verteidigungsfähigkeit beitragen.

3.7.   Abschließende Frage

3.7.1.   Wie bei jeder Reform besteht auch hier die Gefahr, dass zwar alle grundsätzlich darin übereinstimmen, dass „etwas“ getan werden muss, jedoch niemand konkrete Maßnahmen ergreift oder Dokumente oder Vereinbarungen zur Förderung des Sektors unterzeichnet.

3.7.2.   Hauptfrage: Wie lange kann die verteidigungstechnologische und -industrielle Basis Europas noch Bestand haben, wenn die EU die als unvermeidbar angesehenen Reformen weiter aufschiebt?

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  In dieser Stellungnahme legt der Ausschuss seinen Standpunkt dar und stellt Folgendes fest: 1) Die Länder, die den wirtschaftlichen, industriellen und technologischen Kern der europäischen Verteidigungsfähigkeit bilden, befürworten die Beibehaltung der sicherheitsbegründeten Ausnahmebestimmung des Artikels 296 EG-Vertrag (EGV). 2) Die Inanspruchnahme von Artikel 296 wird durch die Rechtsprechung des EuGH eingeschränkt.

(2)  Die Vergabe öffentlicher Aufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit fällt derzeit unter die Bestimmungen der Richt-linie 2004/18/EG; davon ausgenommen sind die in den Artikeln 30, 45, 46, 55 und 296 des Vertrags geregelten Fälle. In seiner ständigen Rechtsprechung hat der Gerichtshof klargestellt, dass nur in außergewöhnlichen, genau festgelegten Fällen vom Gemeinschaftsrecht abgewichen werden darf, was auch für die in Artikel 296 EG-Vertrag vorgesehene Ausnahmeregelung gilt.

(3)  Laut Urteil des Europäischen Gerichtshofes gilt diese Ausnahmeregelung nur für „beschränkte außergewöhnliche Tatbestände“ und eignet sich „nicht für eine extensive Auslegung“.

(4)  Ein Auftrag gilt nur dann als öffentlicher Bauauftrag, wenn er speziell die Ausführung der Tätigkeiten zum Gegenstand hat, die unter die Abteilung 45 des „Gemeinsamen Vokabulars für öffentliche Aufträge“ (CPV) fallen.

(5)  Abgesehen von den unwesentlichen Mengen, die private Sicherheitsfirmen und lokale Gebietskörperschaften in Auftrag geben.

(6)  Versorgungssicherheit: Die besonderen Anforderungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Versorgungssicherheit bei sensiblen öffentlichen Aufträgen in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit rechtfertigen besondere Bestimmungen sowohl im Hinblick auf die vertraglichen Anforderungen als auch auf die Kriterien für die Auswahl der Bewerber.

(7)  Bei Kompensations- oder Offsetgeschäften handelt es sich um ein Verfahren, bei dem sich der ausländische Verkäufer von Rüstungsgütern bei einem Lieferwert, der über einem von der Regierung des Auftraggeberlandes festgelegten Höchstbetrag liegt, zu Gegenaufträgen an die Industrie des Auftraggeberlandes verpflichtet, die einen Mindestprozentsatz der Wertschöpfung des auftraggebenden Landes ausmachen. Kompensationsaufträge werden vom Verkäufer an Unternehmen des Auftraggeberlandes vergeben; sie müssen ein hohes technisches Niveau aufweisen und den Unternehmen vor Ort, die von diesen Kompensationsaufträgen profitieren, einen neuen oder zusätzlichen Geschäftsverkehr bringen. Der Verkäufer muss diese wirtschaftliche Verpflichtung innerhalb einer genau festgelegten und angemessenen Frist erfüllen oder andernfalls eine Vertragsstrafe zahlen. Die Kompensation gilt dann als erreicht, wenn die Aufträge von den durch die Kompensation begünstigten Unternehmen innerhalb der Frist in Rechnung gestellt wurden.

(8)  Artikel 296 EGV lautet: „(1) Die Vorschriften dieses Vertrages stehen folgenden Bestimmungen nicht entgegen: a) Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht; b) jeder Mitgliedstaat kann die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition oder Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen; diese Maßnahmen dürfen auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen. (2) Der Rat kann die von ihm am 15. April 1958 festgelegte Liste der Waren, auf die Absatz 1 Buchstabe b Anwendung findet, einstimmig auf Vorschlag der Kommission ändern.“

(9)  So beliefen sich z. B. die durch Einschränkungen der innergemeinschaftlichen Transfers verursachten Mehrkosten im Jahr 2003 auf 3,16 Mrd. EUR, Quelle: UNISYS, „Innergemeinschaftliche Transfers von Rüstungsgütern“, Europäische Kommission, Brüssel, 2005, S. 6.

(10)  Mitteilung der Europäischen Kommission „Auf dem Weg zu einer Verteidigungsgüterpolitik der Europäischen Union“, KOM(2003) 113 endg. vom 11.3.2003; EWSA-Stellungnahme ABl. C 10, S. 1 vom 10.1.2004, Berichterstatter: Herr WILKINSON.

(11)  Verfahren, bei denen der öffentliche Auftraggeber sich an Anbieter seiner Wahl wendet und die Vertragsinhalte mit ihnen aushandelt.

(12)  Verfahren, für die sich jeder Anbieter bewerben kann, wobei aber nur diejenigen ein Angebot unterbreiten können, die vom öffentlichen Auftraggeber dazu aufgefordert werden.

(13)  Der öffentliche Auftraggeber kann die Anzahl der Bewerber für die nichtoffenen Verfahren, Verhandlungsverfahren mit öffentlicher Vergabebekanntmachung und den wettbewerblichen Dialog begrenzen. Jedwede Einschränkung der Anzahl von zulässigen Bewerbern sollte auf der Grundlage der in der Bekanntmachung angegebenen objektiven Kriterien stattfinden.

(14)  Informationssicherheit: Der oftmals vertrauliche Charakter der Informationen, die bei sensiblen öffentlichen Aufträgen in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit erteilt werden, erfordert Schutzmaßnahmen sowohl 1) beim Zuschlagsverfahren selbst als auch 2) bei den Kriterien für die Auswahl der Bewerber und 3) den vertraglichen Anforderungen der öffentlichen Auftraggeber.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts - und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemein-same Vorschriften über Messgeräte sowie über Mess - und Prüfverfahren“ (Neufassung)

KOM(2008) 357 endg. — 2008/0123 (COD)

2009/C 100/19

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 8. September 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersu-chen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften über Messgeräte sowie über Mess- und Prüfverfahren“ (Neufassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 117 Ja-Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/120


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von energieverbrauchsrelevanten Produkten“

KOM(2008) 399 endg. — 2008/0151 (COD)

2009/C 100/20

Der Rat beschloss am 10. September 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von energieverbrauchsrelevanten Produkten“.

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 113 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/121


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe“, zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Anpassung der Gemeinsamen Agrarpolitik durch Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 320/2006, (EG) Nr. 1234/2007, (EG) Nr. 3/2008 und (EG) Nr. […]/2008“, und zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)“

KOM(2008) 306 endg. — 2008/0103+0104+0105 (CNS)

2009/C 100/21

Der Rat beschloss am 18. Juni 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 36 und 37 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe“

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Anpassung der Gemeinsamen Agrarpolitik durch Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 320/2006, (EG) Nr. 1234/2007, (EG) Nr. 3/2008 und (EG) Nr. […]/2008“ und

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr VAN OORSCHOT, Mitberichterstatter waren die Herren KALLIO und WILMS.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung vom 21. bis 23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 117 gegen 28 Stimmen bei 18 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Am 20. Mai 2008 veröffentlichte die Europäische Kommission Vorschläge zur Anpassung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die das möglichst reibungslose Funktionieren dieser Politik in der erweiterten Europäischen Union und in einem sich wandelnden internationalen Kontext gewährleisten sollen. Dieses Vorhaben wird als „Gesundheitscheck“ bezeichnet.

1.2   Nach Auffassung des EWSA muss in den Diskussionen im Zusammenhang mit dem Gesund-heitscheck die Vielfalt der Aufgaben, mit der sich die GAP konfrontiert sieht, besser darge-stellt werden (u. a. „Europäisches Agrarmodell“, Ernährungssicherheit als zentrale Frage). Deshalb hebt der EWSA die Notwendigkeit einer angemessenen, kurz- und langfristigen EU-Landwirtschaftspolitik hervor, die finanziell ausreichend ausgestattet sein muss. Dabei wird es vermutlich durchaus um Beträge im — mindestens — bisherigen Umfang gehen. Dem Bürger muss die Notwendigkeit der GAP und die Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen besser als bisher vermittelt werden, damit es nicht permanent eine Diskussion über die Finanzmittelausstattung gibt.

1.3   Der EWSA verweist auf seine frühere Stellungnahme zu der Zukunft der GAP, in der er festgestellt hatte, dass sich die Landwirte in einer schwierigen Anpassungsphase befinden. Nach Auffassung des EWSA sollte der Gesundheitscheck hauptsächlich einer einfacheren, verständlicheren Umsetzung dienen und im Hinblick auf die Multifunktionalität der Landwirtschaft Antworten auf die neuen Herausforderungen am Markt und in der Gesellschaft geben.

1.4   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass Zahlungen zur Finanzierung der vielfältigen Leistungen der Landwirte, die über den Markt nicht abgegolten werden, weiterhin notwendig sind. Nach Ansicht des Ausschusses werden jedoch auf historischen Produktionsmengen basierende Zahlungen immer schwieriger zu rechtfertigen sein. Es sollte den Mitgliedstaaten erlaubt werden, sich auf pauschalere Zahlungssätze hinzubewegen. Über diese Frage muss zuvor eine breite Debatte im Rahmen der GAP nach 2013 geführt werden. Dabei sollte den Mitgliedstaaten die Festlegung einer hinreichend langen Übergangszeit gestattet sein, um Betriebe nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Die Bestimmungen für die Auflagenbindung sollten einfacher gestaltet und doppelte Kontrollen vermieden werden.

1.5   Der EWSA stimmt einer weiteren Entkopplung der Zahlungen zu, um den Landwirten die „bäuerliche Handlungsfreiheit“ zu geben. Den Mitgliedstaaten sollte die Entkopplung nicht auferlegt werden, damit bestimmte Produktionszweige oder benachteiligte Gebiete erhalten werden, ohne dadurch Marktverzerrungen herbeizuführen. Der EWSA unterstützt die Ziele von „Artikel 68“, auch wenn dieser Artikel nicht die Lösung aller Probleme ist. In einigen Fällen ist eine größere Flexibilität notwendig. Die Mitgliedstaaten sollten vor der Umsetzung dieser Maßnahme die Auswirkungen der Umschichtung der Zahlungen an die Landwirte gründlich prüfen.

1.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass zuerst andere Anpassungen der gegenwärtigen Interventionsregelung als Ausschreibungen geprüft werden sollten. Er fordert zudem die Erarbeitung neuer Instrumente für ein nachhaltiges Sicherheitsnetz. Ferner schlägt der Ausschuss vor, den Mechanismus der Flächenstilllegung beizubehalten, jedoch den Prozentanteil der stillzulegenden Flächen im Einklang mit der Marktlage festzulegen.

1.7   Der EWSA fordert dazu auf, die möglichen zukünftigen Entwicklungen auf dem Markt für Milch und Milchprodukte und die Auswirkungen eingehender zu beurteilen, bevor endgültig der Beschluss gefasst wird, die Milchquotenregelung 2015 auslaufen zu lassen. Der EWSA ersucht die Kommission, die Maßnahmen, die man ins Auge fassen will, um die Milcherzeugung in strukturschwachen ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten, genauer zu beschreiben und deren Finanzauswirkungen und Finanzierungen darzustellen. Bevor eine solche Strategie nicht vorliegt, kann der EWSA der vorgesehenen Quotenerhöhung nicht zustimmen. Er plädiert für die Schaffung einer europäischen Struktur in der Milchwirtschaft, um das Angebot der Nachfrage anzupassen, die Vergütung der Erzeuger zu sichern und eine flächendeckende Viehhaltung im gesamten Unionsgebiet aufrechtzuerhalten. Dadurch könnte das Kräfteverhältnis zwischen Industrie, Erzeugern, Händlern und Verbrauchern wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.

1.8   Der EWSA teilt den Standpunkt der Europäischen Kommission bezüglich der neuen Herausforderungen in den Bereichen Klima, Wasser, erneuerbare Energien und Artenvielfalt, was eindeutig zusätzliche Finanzmittel in der zweiten Säule erfordert. Diese neuen Herausforderungen können nur durch Modulation finanziert werden, da die anderen Finanzmittel bis 2013 verplant sind und neue Finanztöpfe unrealistisch sind.

2.   Einleitung

2.1   Am 20. Mai 2008 veröffentlichte die Europäische Kommission Vorschläge für Verordnungen des Rates mit einer Reihe von Änderungen an der Gemeinsamen Agrarpolitik (KOM(2008) 306/4). Die Hauptziele dieses sog. „GAP-Gesundheitschecks“ sind es, die Umsetzung der GAP-Reform von 2003 zu beurteilen und diejenigen Anpassungen in den Reformprozess einzubeziehen, die für eine weitere Vereinfachung der GAP, das Erschließen neuer Marktchancen und die Bewältigung neuer Herausforderungen auf dem Markt und in der Gesellschaft als erforderlich angesehen werden.

2.2   Neben dem „Gesundheitscheck“ muss auch die Entwicklung der GAP nach 2013 diskutiert werden, um den neuen Herausforderungen für die Landwirtschaft, die Gesellschaft und die landwirtschaftliche Wertschöpfungskette zu begegnen.

3.   Die Welternährungssituation im Wandel

3.1   Dreißig Jahre lang war real ein Preisverfall bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu beobachten. 2007 stiegen die Preise für einige landwirtschaftliche Rohstoffe plötzlich sprunghaft an. Wichtige Gründe für diesen Preisanstieg waren das Anziehen der weltweiten Nachfrage, sehr niedrige Lagerbestände und wetterbedingt schlechte Ernten. Dies hatte eine Rückwir-kung auf die Nutztierhalter, die sich hohen Futterpreisen gegenübersahen. Allerdings beginnen die Preise für Landwirtschaftsprodukte in jüngster Zeit wieder nachzugeben. Vom Herbst 2007 bis April 2008 sind die Milchpreise um ca. 30 % und die Weizenpreise um ca. 20 % gesunken (1). Um bei diesen Beispielen zu bleiben: Dieser Umstand dürfte sich in Kombination mit den steigenden Kosten dahingehend auswirken, dass das Einkommen von Ackerbauern 2008 um 16 % bis 24 % sinkt. Das reale Preisniveau für landwirtschaftliche Grunderzeugnisse liegt immer noch unter demjenigen, das in den Ölkrisen von 1973 und 1979 zu verzeichnen war (2).

3.2   Die Ereignisse der letzten Monate lassen keinen Zweifel daran, dass sich die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse in einer Phase der Volatilität befinden. Dies ist weder im Interesse der Verbraucher, die höhere Preise für die Erzeugnisse zahlen müssen, noch im Interesse der Landwirte oder der nachgelagerten Unternehmen in der Nahrungsmittelkette, die in ständiger Sorge um ihre Investitionen leben müssen. Diese Situation sollte bei allen Überlegungen zur künftigen Agrarpolitik berücksichtigt werden, wenn am Ziel der Ernährungssicherheit festgehalten werden soll.

3.3   Angesichts der steigenden weltweiten Nahrungsmittelnachfrage wird davon ausgegangen, dass die Verbraucherpreise kurz- und mittelfristig nicht wieder auf das vormalige Niveau absinken werden, sondern dass mit einer größeren Volatilität der Erzeugerpreise zu rechnen ist.

3.4   Die Auswirkungen höherer Rohstoffpreise auf die Verbraucherpreise sind begrenzt. Dies hängt damit zusammen, dass die Kosten für landwirtschaftliche Rohstoffe anteilsmäßig gegenüber den Kosten für Energie und Arbeit sinken. So machen die Kosten für Weizen beispielsweise nur 4 % der Kosten eines Brotlaibs aus (3). Ferner ist der Anteil der Lebensmittelkosten an den gesamten Ausgaben eines Haushalts gering (ca. 14 % in der EU-27). Der EWSA ist der Ansicht, dass die Nahrungsmittelkette im Interesse der Landwirte und der Verbraucher rationalisiert werden muss (4).

3.5   Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) muss befähigt werden, die Nahrungsmittelversorgung besser zu steuern. Seitdem die Landwirtschaft in die Welthandelsorganisation einbezogen wurde, haben sich die Ungleichheiten zwischen den Landwirten noch weiter verschärft. Ein Umdenken ist nötig: Die Landwirte müssen sich weltweit im Rahmen eines Reflexionsgremiums der repräsentativsten und nicht zwangsläufig der vermögendsten Organisationen der nationalen Landwirtschaft organisieren können.

3.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass der GAP-Gesundheitscheck diesen Veränderungen der Welternährungssituation Rechnung tragen sollte. In dieser Hinsicht muss es den Landwirten auch weiterhin möglich sein, ihrer multifunktionellen Rolle im europäischen Agrarmodell nachzukommen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verweist auf seine erste Stellungnahme zu diesem Thema: „Health Check und Zukunft der GAP nach 2013“  (5). Darin stellt der EWSA fest, dass Landwirte und Unternehmen der Verarbeitungsindustrie gegenwärtig eine schwierige Anpassungsphase zu bewältigen haben. Es gibt eine große Bereitschaft, auf das veränderte Marktumfeld mit einem marktwirtschaftlichen Ansatz zu reagieren, vorausgesetzt, dass die im Reformprozess gegebenen Zusagen eingehalten werden und eine ausreichende Rechts- und Planungssicherheit gewährleistet wird. Nach Einschätzung des EWSA sollte es bei dem „Gesundheitscheck“ hauptsächlich darum gehen zu ermitteln, wo eine Anpassung bestehender Vorschriften notwendig ist, um

Vereinfachungen und Erleichterungen der Durchführung zu erreichen und

Hindernisse für eine zielorientierte Umsetzung bereits vereinbarter Reformmaßnahmen zu beseitigen.

Abgesehen von diesen Punkten erkennt der Ausschuss an, dass die EU vor neuen Herausforderungen steht, zu deren Bewältigung die Landwirte einen großen Beitrag leisten können, und dass die Lage auf dem Lebensmittelmarkt neue Antworten verlangt.

Die Schlüsselwörter des „Gesundheitschecks“ sollten jedenfalls Stabilität durch Organisation der Märkte, Vereinfachung und Anpassung sein.

4.2   Außerdem ist es wichtig, dass die im Zuge des „Gesundheitschecks“ durchgeführten Maßnahmen die weitere Entwicklung des europäischen Agrarmodells untermauern und die Landwirte in die Lage versetzen, ihrer multifunktionellen Rolle nachzukommen, um

den weltweit höchsten Standards für Lebensmittelsicherheit und -qualität sowie Umwelt- und Tierschutz zu genügen;

die Landschaft zu pflegen und Naturräume zu erhalten und

einen wesentlichen Beitrag zur Beschäftigungslage, zur Aufrechterhaltung der landwirtschaftlichen Erzeugung und zur Lebendigkeit des ländlichen Raumes in allen Regionen der EU zu leisten;

die Entvölkerung der ländlichen Gebiete und die Verbrachung landwirtschaftlicher Produktionsflächen zu vermeiden.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommissionsvorschläge im Vergleich zur jetzigen Situation beträchtliche Änderungen enthalten. Es ist unumgänglich, gründlich über diese Vorschläge nachzudenken.

5.   Maßnahmen im Rahmen des „Gesundheitschecks“

5.1   Betriebsprämienregelung

5.1.1   Die Europäische Kommission schlägt vor, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, ihr Betriebsprämienregelungsmodell anzupassen, indem sie sich schrittweise auf pauschalere Zahlungssätze je Anspruch hinbewegen, um die Betriebsprämienregelung wirksamer, effizienter und einfacher zu gestalten. Parallel dazu umfassen die Vorschläge eine Reihe von Vereinfachungsmaßnahmen bei der Anwendung der Betriebsprämienregelung.

5.1.2   Die Sorge in Europa um die Nachhaltigkeit wird immer größer. Es mangelt an Fortschritten bei der Berücksichtigung nicht handelsbezogener Anliegen in internationalen Abkommen. Diese Berücksichtigung ist allerdings ganz wesentlich, wenn man eine Linie vertreten will, die dem Wunsch der europäischen Bürger entspricht. Darüber hinaus gibt es immer weniger Kontrollen an den EU-Grenzen. Angesichts dessen ist der EWSA der Auffassung, dass es für die Sicherstellung des europäischen Agrarmodells wie auch für die Einkommenssicherung der Landwirte nach 2013 von grundlegender Bedeutung sein wird, die Landwirte über ein System von Direktzahlungen in die Lage zu versetzen, die Kosten einer nachhaltigen Produktion, die nicht vom Markt gedeckt werden, gedeckt zu bekommen. Dies muss ein klares Anliegen der GAP bleiben.

5.1.3   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass Ausgleichszahlungen zur Finanzierung der vielfältigen Leistungen der Landwirte, die über den Markt nicht abgegolten werden, weiterhin notwendig sein werden. Unterdessen wird die auf historischen Produktionsmengen basierende Höhe der Zahlungen immer schwieriger zu rechtfertigen sein. Mitgliedstaaten, die noch keine entsprechenden Schritte unternommen haben, sollten das Recht haben, die Verteilung ihrer nationalen Obergrenze im Zeitraum 2009—2013 in pauschalere Zahlungssätze umzuwandeln oder damit 2013 zu beginnen. Zuvor sollten die Mitgliedstaaten die Auswirkungen auf die Betriebseinkommen, die Anpassungsfähigkeit der Landwirte und die Notwendigkeit einer langfristigen Planungssicherheit sorgfältig prüfen. Sollte diese Herangehensweise gewählt werden, sollte den Mitgliedstaaten die Festlegung einer hinreichend langen Übergangszeit gestattet sein, um Betriebe, die unter anderen Rahmenbedingungen investiert haben, nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

5.1.4   Die in den meisten Mitgliedstaaten geltende Regelung für die einheitliche Flächenzahlung lässt sich zwar leicht verwalten, kann sich aber auch als übermäßig simplifizierend erweisen, wenn es um die sinnvolle Unterstützung intensive Landwirtschaft betreibender Landwirte (Obst und Gemüse, Tierzucht, Tabak usw.) im Vergleich zum Kulturpflanzensektor geht. Mittelfristig sollte z. B. im Rahmen der Betriebsprämienregelung eine ausgewogenere Lösung durch den Einsatz anderer bestehender Instrumente oder die Entwicklung neuer EU-weiter Instrumente angestrebt werden.

5.1.5   Alle Anbauflächen in den neuen Mitgliedstaaten, die zum Zeitpunkt der Zahlungsbeantragung gute landwirtschaftliche und umweltmäßige Bedingungen aufweisen, sollten förderfähig sein.

5.2   Auflagenbindung (Cross compliance)

5.2.1   Die Europäische Kommission möchte die Auflagenbindung vereinfachen und ihre Treffgenauigkeit verbessern. Die Kommission regt an, bestimmte Erfordernisse, die nicht die Verantwortung der Landwirte berühren, zurückzunehmen und schlägt die Einführung des neuen Kriteriums des guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustands (GLÖZ) vor.

5.2.2   Der EWSA unterstützt die Beibehaltung der Verknüpfung der einheitlichen Betriebsprämie mit der Einhaltung von EU-Standards in der Landwirtschaft im Rahmen der Auflagenbindung (Cross compliance). Der Ausschuss begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Vereinfachung der Auflagenbindung. Auf jeden Fall sollte die Auflagenbindung einfacher gestaltet werden, insbesondere, indem klarere Regeln geschaffen werden (Einführung einer Geringfügigkeitsklausel) und die Zahl der unterschiedlichen Inspektionen, denen der einzelne landwirtschaftliche Betrieb unterzogen wird, gesenkt wird. Doppelte Kontrollen, wie z. B. Betriebsprüfungen im Rahmen von Qualitätssicherungssystemen, sollten ebenso vermieden werden.

5.2.3   Die Landwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, der vielen Menschen überall in der EU Arbeit gibt. Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um die Zahl von Unfällen in der Landwirtschaft zu verringern und das Qualifikationsniveau der Beschäftigten zu heben. Nach Auffassung des EWSA sind bestimmte Aspekte der Arbeitssicherheit im Landwirt-schaftsbetrieb, wie Einweisungen in den Gebrauch von Maschinen, in Hygienevorschriften und in die sachgemäße Gefahrgutlagerung, sehr wichtig. Diese Aspekte müssen durch einzelstaatliche Sozialgesetze geregelt und könnten in den Anwendungsbereich der Auflagenbindung aufgenommen werden. Um den Landwirten Anreize zu bieten, empfiehlt der EWSA eine breitere Anwendbarkeit des Sozialfonds der EU im Bereich der Arbeitssicherheit und der Qualifikationen.

5.2.4   Mit Blick darauf, die Auflagenbindung effizienter zu machen und ihr einen direkteren Bezug zu den Tätigkeiten in einem landwirtschaftlichen Betrieb zu geben, vertritt der EWSA die Auffassung, dass eine der Grundanforderungen an die Betriebsführung, das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, nicht in der Verantwortung der betrieblichen Ebene liegt und folglich zurückzunehmen ist.

5.2.5   Der EWSA empfiehlt hinsichtlich der Erhaltung eines guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustands eine Folgenabschätzung, bevor das GLÖZ-Konzept um neue Elemente ergänzt wird. In dieser Analyse sollten die Folgen für die Landwirte ebenso untersucht werden wie der Verwaltungsaufwand. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Umweltnutzen von Flächenstilllegung, Pufferstreifen und Landschaftselementen erhalten bleiben muss, auch wenn man die obligatorische Stilllegung abschaffen will. Wenn man diese Sicherstellung über freiwillige Maßnahmen im Rahmen der ländlichen Entwicklung realisieren will, müssen entsprechende Anreize bestehen, die derzeit nicht vorhanden sind. Diese Maßnahmen müssen entsprechend honoriert werden.

5.2.6   Ein besonderer Ansatz sollte für die neuen Mitgliedstaaten gelten. Vor dem Hintergrund der schrittweisen Anwendung des Systems der Direktzahlungen sollte auch das System der Auflagenbindung nach und nach eingeführt werden. Sie sollten die Auflagenbindung in vollem Umfang anwenden, wenn sie bei der Regelung für die einheitliche Flächenzahlung (SAPS) 100 % erreichen.

5.3   Teilweise gekoppelte Beihilfen

5.3.1   Die Europäische Kommission glaubt, dass die Entkopplung die Landwirte in die Lage versetzt hat, besser und nachhaltiger auf die Signale des Markts zu reagieren. Bei der GAP-Reform von 2003 wurde beschlossen, den Mitgliedstaaten in einigen Sektoren in gewissem Umfang die Beibehaltung der gekoppelten Beihilfen zu erlauben. Weiterhin betont die Kommission, dass die Administrierung von zwei Systemen nicht zur Vereinfachung beigetragen habe. Die Kommission schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten gekoppelte Prämien für Mutterkühe, Schaf- und Ziegenfleisch beibehalten können.

5.3.2   Der EWSA steht einer weiteren Entkopplung in Mitgliedstaaten, die eine teilweise gekoppelte Unterstützung beibehalten, um eine stärkere Marktorientierung zu bewirken, skeptisch gegenüber. Dem Ausschuss ist bewusst, dass die Entkopplung in manchen Fällen zum Verschwinden bestimmter Erzeugungsarten und zur Einstellung der Produktion in bestimmten Gebieten führen kann, mit den damit verbundenen gravierenden Folgen für die Umwelt, die ländliche Wirtschaft und die Beschäftigung. Artikel 68 sollte genutzt werden, um solche Probleme anzugehen. Allerdings sollten die Mitgliedstaaten nicht zu einer Entkopplung verpflichtet werden. Die verbleibenden gekoppelten Beihilfen dürfen nicht zu Marktverzerrungen in den Mitgliedstaaten führen.

5.4   Besondere Stützung

5.4.1   Die Europäische Kommission schlägt vor, den (derzeitigen) Artikel 69 auf mehrere Zwecke auszudehnen, u. a. für den Ausgleich der Benachteilung von Landwirten in speziellen Sektoren in bestimmten Gebieten sowie für Zusatzzahlungen in Umstrukturierungsgebieten. Mitgliedstaaten, die die Betriebsprämienregelung anwenden, dürfen derzeit bis zu 10 % ihrer nationalen Stützungsobergrenzen für Maßnahmen im Zusammenhang mit Umweltschutz oder für die Verbesserung der Qualität und der Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte ver-wenden.

5.4.2   Die Kommission führt an, dass Änderungen bei den traditionellen Marktinstrumenten und der Übergang zu direkten Erzeugerbeihilfen eine Diskussion über verschiedene Arten des Risikomanagements ausgelöst haben, wobei sie das Preis- und das Produktionsrisiko als die beiden Hauptgründe für Einkommensschwankungen ansieht. Die Kommission schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollten, im Rahmen von Artikel 68 zu Ernteversicherungen und Fonds auf Gegenseitigkeit im Falle von Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten beizutragen.

5.4.3   Der EWSA unterstützt die in Artikel 68 genannten Ziele, auch wenn dieser Artikel nicht die Lösung aller Probleme ist, die auftreten können. Er kann einer größeren Flexibilität bei der Handhabung von Artikel 68 unter der Voraussetzung zustimmen, dass etwaige zusätzliche Mittel für die Stärkung der Stellung der Landwirte eingesetzt werden. Er ist des Weiteren der Auffassung, dass in genau festgelegten Fällen in einigen Mitgliedstaaten die Stützungsobergrenze höher als der gegenwärtige Gesamthöchstbetrag von 10 % der nationalen Obergrenze sein könnte. Der EWSA befürwortet die Vorschläge zu Ernteversicherungen und Fonds auf Gegenseitigkeit im Falle von Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten in der Erwägung, dass das Ziel der Schutz der Verbraucher und der Landwirte sein muss. Diese Maßnahmen dürfen bestehende Versicherungssysteme oder Gemeinschaftsmaßnahmen (Artikel 44 und Veterinär-fonds) nicht unterminieren. In Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Seuchenprävention schließt sich der EWSA dem Vorschlag der Kommission an und plädiert für eine Kofinanzierung durch die Mitgliedstaaten.

5.4.4   Nach Auffassung des EWSA könnte die Anwendung von Artikel 68 zu einer bedeutenden Umschichtung der Zahlungen an die Landwirte führen. Weiterhin befürchtet der EWSA, dass Artikel 68 nicht ausreicht, um der gesamten Problematik gerecht zu werden. Daher sollten die Mitgliedstaaten sorgfältig prüfen, welche Auswirkungen eine mögliche Anwendung von Artikel 68 auf die Landwirte hat. Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass die dem Agrarbudget früher zugewiesenen Beträge im Agrarsektor verbleiben sollten und für Artikel 68 verwendet werden könnten.

5.4.5   Der kombinierte Effekt der Modulation und der Unterstützung nach Artikel 68 auf die Betriebseinkommen sollte berücksichtigt werden. Die Umsetzung der Kommissionsvor-schläge könnte eine Kürzung der Direktzahlungen von mindestens 10 % + 13 %= 23 % bedeuten. Daher sollten die möglichen Auswirkungen nach Auffassung des EWSA sorgfältig geprüft werden.

5.5   Zahlungsbegrenzungen

5.5.1   Die Europäische Kommission hebt hervor, dass durch die Einführung der Betriebsprämienregelung die Verteilung der Zahlungen transparenter geworden sei. Die große Zahl von Landwirten, die Kleinbeträge erhalten, verursacht einen hohen Verwaltungsaufwand. Die Kommission regt an, dass die Mitgliedstaaten eine Mindestgrenze von 250 EUR oder eine Mindestgröße von 1 Hektar oder beides einführen. Zusätzlich spricht sie sich für eine progressive Modulation aus. Außerdem sollen die neuen Mitgliedstaaten ab 2012 die Modulation anwenden können.

5.5.2   Der Ausschuss akzeptiert grundsätzlich den Vorschlag der Europäischen Kommission, Mindestanforderungen an die Zahlungen festzulegen, um die Verwaltungskosten zu senken, wobei die Entscheidung über die Anwendung der Mindestanforderungen jedoch den Mitgliedstaaten überlassen bleibt.

5.5.3   Nach Auffassung des EWSA geht es in der Diskussion über eine progressive Modulation um die Frage, ob denjenigen Betrieben in der EU, die mehr als 100 000 EUR an Direktzahlungen pro Jahr bekommen, ein höherer Modulationssatz zuzumuten ist. Da große Beihilfeempfänger generell von Skaleneffekten profitieren, ist die maßvolle Progression gerechtfertigt, zumal die Betriebe ja die Möglichkeit haben, die neuen Maßnahmen der zweiten Säule zu nutzen und so GAP-Gelder wieder zu vereinnahmen.

5.6   Märkte

5.6.1   Die Kommission wirft die Frage auf, wie ein effizienter Interventionsmechanismus geschaffen werden kann, der zwar als Sicherheitsnetz funktioniert, dabei allerdings ohne bezu-schusste Ausfuhren auskommt. Die Kommission schlägt eine Vereinfachung der Bestimmungen für öffentliche Interventionen im Wege der Ausweitung des Ausschreibungsverfahrens vor. Für Hartweizen, Reis und Schweinefleisch schlägt die Kommission die Abschaffung der Interventionen vor.

5.6.2   Nach Auffassung des EWSA ist die EU durch die Schwächung der Binnenmarkt-Steuerungsinstrumente und den Abbau der Grenzkontrollen infolge der GAP-Reformen und der Welthandelsrunden seit 1992 viel stärker den Fluktuationen auf dem Weltmarkt ausgesetzt. Zugleich nehmen die Schwankungen auf dem Weltmarkt und damit auch die Risiken zu: Weltweit führt der Klimawandel zu stark schwankenden Ernteerträgen, und durch die weltumspannende Reiseaktivität steigt das Risiko der Krankheitsverbreitung. Die Landwirte müssen sich all diesen Herausforderungen stellen. In diesem Zusammenhang wäre es mit Blick auf eine Situation, in der ein unzureichendes Angebot einer anhaltenden Nachfrage gegenübersteht, riskant, sämtliche Regelungsmechanismen abzuschaffen.

5.6.3   Der EWSA ist der Auffassung, dass eines der wichtigsten Ziele der GAP — und hier insbesondere des ersten Pfeilers — sein muss, eine ausreichende, sichere und abwechslungsreiche Lebensmittelversorgung für die 500 Millionen Verbraucher der EU sicherzustellen. Geeignete Instrumente sind notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Auch wenn ein Ausschreibungsverfahren für eine bessere Marktausrichtung sorgen könnte, bedeutet es ein schlechteres Sicherheitsnetz für die Landwirte und kann zu mehr Unsicherheit am Markt führen. Daher schlägt der EWSA vor, dass zuerst andere Anpassungen der gegenwärtigen Interventionsregelung geprüft werden, z. B. eine kürzere Dauer der Intervention. Ausgehend von der Notwendigkeit, die Ernährungssicherheit der europäischen Bürger und gerechte Betriebseinkommen zu gewährleisten, fordert der EWSA die Erarbeitung neuer Instrumente für ein nachhaltiges Sicherheitsnetz.

5.6.4   Der EWSA schlägt der Kommission vor, europäische Marktsteuerungsstrukturen zu schaffen, mit deren Hilfe Angebot und Nachfrage in einem nachhaltigen Rahmen angepasst werden könnten, und die Verzahnung der Erzeuger im gesamten Unionsgebiet zu ermöglichen, um so den Erwartungen der Gesellschaft besser gerecht zu werden. Dadurch entsteht eine Neugewichtung der Marktkräfte, die es ermöglichen würde, die Erwartungen der Verbraucher besser zu erfüllen. Die Kommission sollte über diese Organisation wachen.

5.7   Flächenstilllegung

5.7.1   Die Kommission schlägt mit Blick auf die Marktlage vor, dass die Flächenstilllegung als Instrument der Angebotskontrolle auf Null gesetzt wird. Den Mitgliedstaaten werden Instrumente an die Hand gegeben, durch die der Umweltnutzen sichergestellt werden soll.

5.7.2   Die Flächenstilllegung ist ein Instrument der Angebotskontrolle, das einen zielführenden und geschmeidigen Einsatz zulässt. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass, auch wenn die Marktpreise zurzeit hoch sind, künftige plötzliche Marktschwächen nicht auszuschließen sind. Insofern hält er es für sinnig, den Mechanismus der Flächenstilllegung beizubehalten (6), jedoch sollte der Prozentanteil der stillzulegenden Flächen im Einklang mit der Marktlage festgelegt werden.

5.7.3   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der potenzielle Umweltnutzen der Flächenstilllegung erhalten bleiben muss, um die Akzeptanz der Landwirtschaft zu erhöhen. Über eine freiwil-lige Flächenstilllegung im Rahmen der ländlichen Entwicklung kann dies nur geschehen, wenn ausreichend Anreize vorhanden sind, was in der Vergangenheit nicht gewährleistet war.

5.8   Milchquoten

5.8.1   Die Milchquoten wurden 1984 als Antwort auf die Überproduktion eingeführt. Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die Beweggründe für ihre Einführung nun nicht mehr gelten. Angesichts der wachsenden Nachfrage nach Milch und Milchprodukten schlägt die Kommission eine Anhebung der Milchquote um 1 % pro Wirtschaftsjahr in den nächsten fünf Jahren vor. Diese Quotenanhebung soll ein reibungsloses Ende dieses Systems einleiten, das 2015 ausläuft. Die Europäische Kommission hat die sozialen Auswirkungen der Änderungen im Milchquotensystem analysiert. Das Auslaufen der Quote wird zu einer Umstrukturierung in der Milcherzeugerbranche führen, bei der vor allem kleinere Milcherzeuger dem Verdrän-gungswettbewerb ausgesetzt sein dürften, was für manche Region Folgen haben dürfte.

5.8.2   Da die Quotenregelung nach derzeitiger Rechtslage 2015 ausläuft, fordert der EWSA die Kommission auf, eingehender als bisher geschehen zu analysieren, wie Vorhersehbarkeit und regionale Ausgewogenheit in einem nachhaltigen Markt nach 2015 sichergestellt werden können. Milch ist ein gesundes Grundnahrungsmittel, und außerdem kommt den Milchbauern eine wichtige Rolle im Wirtschaftleben der ländlichen Räume zu. Insbesondere wird es wichtig sein, den Landwirten mit geeigneten Maßnahmen bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition zu helfen.

5.8.3   Der Milcherzeugung kommt in den strukturschwachen Gebieten der EU eine herausragende Bedeutung zu. Daher ersucht der Ausschuss die Kommission, Maßnahmen — darunter auch finanzielle Maßnahmen — ins Auge zu fassen, um die Milcherzeugung und eine lebensfähige Wirtschaft in diesen strukturschwachen ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission mit ihren Vorschlägen kein brauchbares Konzept vorgelegt hat. Artikel 68 ist ein nur bedingt geeignetes Instrument hierfür, mit dem die zu erwartenden hohen Folgekosten auch nicht annähernd abgedeckt werden können.

5.8.4   Der Ausschuss spricht sich, da kein wirkliches Anpassungskonzept vorliegt, zum jetzigen Zeitpunkt gegen Quotenanpassungen aus. Es ist erforderlich, dass die Quoten in Abhängigkeit von der Marktnachfrage und nicht willkürlich angepasst werden. Mit Blick auf die Zeit nach 2015 muss eine europäische Struktur in der Milchwirtschaft geschaffen werden, in der die Produktion dem Verbrauch angepasst und das Kräfteverhältnis unter den Gliedern des Netzes wiederhergestellt werden könnte. Auf diese Weise könnte die Milcherzeugung in den strukturschwächsten Gebieten aufrechterhalten werden.

5.9   Sonstige Stützungsregelungen

5.9.1   Die Kommission schlägt für die Sparten Eiweißpflanzen, Hanf, Hartweizen und Nüsse eine umgehende Entkopplung vor. Für Reis, Kartoffelstärke, Trockenfutter und Flachs befürwortet die Kommission eine Entkopplung mit einem zweijährigen Übergangszeitraum.

5.9.2   Ohne die Kopplung könnte es zu einer Einstellung der Produktion kommen, mit negativen Auswirkungen auf das regionale Wirtschaftsgefüge, die Umwelt und die Versorgung in der EU. Daher spricht sich der EWSA dafür aus, die Möglichkeit einer Verlagerung dieser Zahlungen in die Betriebsprämienregelung sorgfältig von Fall zu Fall zu prüfen; erforderlichenfalls sollten gekoppelte Beihilfen weitergeführt werden, um in strukturschwachen Gebieten das Einbrechen der Erzeugung zu vermeiden. Diese Sektoren benötigen eine angemessene Übergangszeit und Begleitmaßnahmen, um neue Möglichkeiten am Markt zu entwickeln.

5.9.3   Die Energiepflanzenprämie ist mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbunden. Angesichts der Ziele für die Mitverwendung von Biokraftstoffen, die der Rat vorgegeben hat, entfällt die Notwendigkeit weiterer Produktionsanreize. Die Mittel, die nicht länger für die Energiepflanzenprämie aufgewendet werden müssen, sollten für die Stärkung der Position der Landwirte eingesetzt werden.

5.10   Klimawandel

5.10.1   Die Kommission sieht bei den Fragen Klima und Energie dringenden Handlungsbedarf. Im März 2007 beschlossen die führenden Politiker der EU, die CO2-Emissionen bis 2020 um mindestens 20 % zu senken; sogar eine Senkung um 30 % wurde in Aussicht gestellt, sofern es zu einer Einigung auf globale Ziele kommt. Aus Sicht der Kommission kann die Landwirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Senkung der Treibhausgasemissionen leisten.

5.10.2   Die Landwirtschaft in der EU hat, wie der EWSA anerkennt, stärker als viele andere Wirtschaftszweige zur Drosselung der klimaschädlichen Emissionen beigetragen und muss dies auch weiterhin tun (7). Die Landwirtschaft ist gleichzeitig einer der Wirtschaftszweige, der am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist.

5.10.3   Immer dringlicher wird ein besseres Wissen um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft, und deshalb kommt der Forschung eine besonders große Bedeutung zu. Forschungen auf diesem Gebiet werden im Rahmen des Siebten Forschungsrahmenprogramms finanziert, müssten jedoch beschleunigt und verstärkt werden.

5.10.4   Es ist daher auch wichtig, die Anreize für Landwirte zu verbessern, sich auf den Klimawandel einzustellen und klimaneutrale Produktionssysteme einzusetzen. Der EWSA unterstützt in diesem Zusammenhang die exemplarische Liste von Vorhabensarten zur Bekämpfung des Klimawandels im Plan zur ländlichen Entwicklung.

5.11   Wasserwirtschaft

5.11.1   Die Ziele der EU in der Wasserpolitik sind in der Wasserrahmenrichtlinie niedergelegt. Die Kommission sieht für die Landwirtschaft eine Hauptrolle in der Wasserbewirtschaftung.

5.11.2   Ein vordringlicher Problemkomplex ist das Wasser - sowohl Wasserknappheit als auch Wasserqualität, Nässe und Überschwemmungen. Der EWSA unterstützt den Ansatz, dass ein Teil der Mittel aus der Modulation aufgewendet werden sollte, um im Rahmen der Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung in der zweiten Achse stärkere Anreize in Sachen Wasserwirtschaft zu geben. Nach Ansicht des Ausschusses sollten die Vorhaben einen direkten Bezug zur Landwirtschaft haben.

5.12   Erneuerbare Energien

5.12.1   Die führenden Politiker der EU einigten sich 2007 auf ein verbindliches 20 %-Ziel für die Nutzung erneuerbarer Energiequellen, einschließlich eines 10 %igen Anteils von Biokraftstoffen in Benzin und Diesel.

5.12.2   Der EWSA unterstützt die Liste exemplarischer Vorhabensarten im Bereich der erneuerbaren Energien.

5.12.3   Nach Auffassung des EWSA ist es außerordentlich wichtig, die Forschungsanstrengungen zu erhöhen, um die Erzeugungssysteme so zu optimieren, dass sich ein maximaler Nutzen der Bioenergie für die Senkung der CO2-Emissionen und die Energieeffizienz ergibt. Das Potenzial von Biokraftstoffen der zweiten Generation aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten muss weiter erforscht werden.

5.12.4   Die Landwirte könnten auf lokaler oder regionaler Ebene eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung nachhaltiger Bioenergie übernehmen (z. B. Kleinkraftwerke, die mit lokaler Biomasse befeuert werden) und dadurch einen Beitrag zur Erfüllung der Kyoto-Ziele leisten. In den Regeln für staatliche Beihilfen sollte bei diesen Projekten eine Ausnahme gemacht werden.

5.13   Biologische Vielfalt

5.13.1   Nach Auffassung der Kommission ist die Artenvielfalt in Europa zu einem großen Teil von der Land- und Forstwirtschaft abhängig, und die Anstrengungen zum Schutz der Artenvielfalt müssen verstärkt werden. Der Landwirtschaft kommt eine Schlüsselrolle für den Schutz der Artenvielfalt zu. Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, den Rückgang der Artenvielfalt bis 2010 zu stoppen.

5.13.2   In etlichen Mitgliedstaaten gibt es gute Beispiele für Projekte zur Verbesserung der Artenvielfalt. Der EWSA unterstützt die exemplarischen Arten von Vorhaben, die die Kommission nennt, um die Artenvielfalt zu verbessern, unter der Bedingung, dass diese Anreize den Landwirten direkt zugute kommen, da sie wesentlich für den Erhalt lebensfähiger ländlicher Gebiete mit wirtschaftlichem Potenzial und Beschäftigungsmöglichkeiten sind.

5.14   Stärkung des zweiten Pfeilers

5.14.1   Die Kommission sieht vor, diesen vier neuen Herausforderungen (Ziffer 5.10 bis 5.13) mit einem neuen Maßnahmenpaket zu begegnen, das im zweiten Pfeiler angesiedelt werden soll und dessen zusätzlich erforderliche Finanzmittel aus der Modulation stammen sollen. Die Kommission stellt fest, dass eine Anhebung der obligatorischen Modulation der einzige Weg sei, um zusätzliche Mittel für die ländliche Entwicklung zu erhalten, da alle anderen EU-Mittel bis 2013 gebunden sind. Die Kommission schlägt vor, die obligatorische Modulation bis 2012 in vier Schritten um 8 % zu erhöhen.

5.14.2   Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Ergebnisse der Verhandlungen über die finanzielle Vorausschau für 2007—2013 zu einer unangemessenen Finanzierung des zweiten Pfeilers geführt haben. Seiner Ansicht nach müssen die unterschiedlichen Funktionen der GAP erhalten bleiben. Jegliche weitere Modulation von Direktzahlungen des ersten Pfeilers muss diesem Erfordernis Rechnung tragen (8). Daher stimmt der EWSA der vorgeschlagenen Modulation nur zu, wenn sichergestellt wird, dass diese Mittel klar und eindeutig dafür bereitgestellt werden, den Landwirten zu helfen, diese neuen Herausforderungen zu bewältigen. Die Rolle der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Landwirtschaft in diesem Anpassungsprozess sollte anerkannt werden. Die Umsetzung im Wege der nationalen Pläne für die Entwicklung des ländlichen Raums muss für die Landwirte effizienter und zugänglicher gestaltet werden. Die nationale Kofinanzierung muss bereits vorab sichergestellt sein.

6.   Haushaltsauswirkungen der Vorschläge im Rahmen des Gesundheitschecks

6.1   Die Kommission weist darauf hin, dass die GAP über einen eingebauten Mechanismus zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin verfügt. Die meiste GAP-Stützung umfasst nunmehr feste Beträge, und die Marktaussichten haben sich bedeutend verbessert. Somit hat sich die Notwendigkeit einer Anwendung der Haushaltsdisziplin verringert. Die Kommission führt weiterhin aus, dass die Vorschläge für die Modulation haushaltsneutral seien, jedoch zu zusätzlichen Ausgaben auf der nationalen Ebene führen könnten. Die Kommission erwartet beinahe keine zusätzlichen Ausgaben für Marktmaßnahmen.

6.2   Der Gesamthaushalt der GAP ist von 0,6 % des EU-BIP in 1993 auf weniger als 0,4 % in 2007 geschrumpft. Die realen Haushaltsausgaben sind von 40 Milliarden EUR in 1995 auf rund 50 Milliarden in 2007 angestiegen (einschließlich ländliche Entwicklung), obwohl sich die Zahl der Mitgliedstaaten von 15 auf 27 fast verdoppelt hat.

6.3   Vor 15 Jahren gab die EU jährlich 10 Milliarden EUR für Exportbeihilfen aus. Für 2009 werden die Mittel dafür auf lediglich 350 Millionen EUR begrenzt (9). Die Europäische Kommission hat zugesagt, die Exportbeihilfen bis 2013 vollständig abzuschaffen, sofern die Handelspartner gleichartige Zusagen machen.

6.4   Nach Ansicht des EWSA handelt es sich bei der GAP um eine Kernerrungenschaft der Europäischen Union. Wie die Welternährungslage zeigt, wird die Landwirtschaftspolitik auch künftig überaus wichtig sein. Nach Ansicht des EWSA kommt den Landwirten nicht nur eine wesentliche Rolle bei der Nahrungsmittelversorgung zu, sondern ihre Rolle ist multifunktio-nell zu sehen.

7.   Langfristige Zielsetzungen für die GAP nach 2013/Finanzrahmen

7.1   Der EWSA befürwortet die Aufstellung klarer Ziele und Prioritäten für die GAP für die Zeit nach 2013, um so einen Beitrag zu den Debatten über die nächste finanzielle Vorausschau zu leisten.

7.2   In Anbetracht des prognostizierten weiteren Anwachsens der Weltbevölkerung auf 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050 und des steigenden Pro-Kopf-Verbrauchs lässt sich ein größerer Bedarf an Nahrungsmittelerzeugung absehen. Gleichzeitig werden die landwirtschaftlichen Nutzflächen weltweit durch Faktoren wie Erosion, Versalzung oder Verstädterung immer kleiner. Folglich kann der europäische Verbraucher die Ernährungssicherheit in der Zukunft keineswegs als gegeben betrachten. Die künftige GAP muss diese neuen Entwicklungen berücksichtigen.

7.3   Auf europäischer Ebene wünschen die Verbraucher gesunde und abwechslungsreiche Lebensmittel in ausreichenden Mengen, die auf nachhaltige Weise erzeugt werden. Einfuhren müssen den EU-Normen entsprechen, was derzeit nicht immer der Fall ist. Zugleich sorgen sich die europäischen Bürger um den Klimawandel und die Nachhaltigkeit. Die Landwirte in der EU können eine wichtige Rolle bei der Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen spielen.

7.4   Die Landwirte würden es bevorzugen, ihr Einkommen am Markt zu erwirtschaften. Die europäische Gesellschaft erwartet von ihnen jedoch auch eine Reihe von Dienstleistungen, die durch den Markt nicht vergütet werden. Auch in Zukunft wird es aus diesem Grund grundlegend bleiben, durch direkte Zahlungen Landwirte dafür zu honorieren, nachhaltige Produkti-onssysteme mit höchsten Standards einzusetzen und zusätzliche Dienstleistungen zu erbringen, sowie durch Zahlungen die ländliche Entwicklung zu fördern. Außerdem wird die GAP weiterhin ein grundlegendes Instrument zur Unterstützung der regionalen Wirtschaft sein.

7.5   Um die unter 3.3 genannten Ziele zu erreichen, sollte die GAP künftig mehr Wert legen auf:

die Sicherung der Versorgung mit hochwertiger und abwechslungsreicher Nahrung und erneuerbaren Energieträgern,

die Sicherung eines angemessenen Einkommens für die Landwirte,

die Sicherung einer nachhaltigen und konkurrenzfähigen Erzeugung in allen Gebieten der EU,

den Beitrag zu lebensfähigen ländlichen Gebieten mit Wirtschafts- und Beschäftigungsmöglichkeiten.

7.6   Langfristig gesehen, müssten nach Auffassung des EWSA die Ziele der GAP und die zu ihrer Erreichung eingesetzten Instrumente besser unter den Mitgliedstaaten angeglichen werden.

7.7   Der EWSA hebt die Notwendigkeit einer angemessenen kurz- und langfristigen EU-Landwirtschaftspolitik hervor, die finanziell ausreichend ausgestattet sein muss. Dabei wird es vermutlich durchaus um Beträge im — mindestens — bisherigen Umfang gehen. Es ist Aufgabe der Politik, dem Bürger die Notwendigkeit der GAP und die Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen besser als bisher zu vermitteln, damit es nicht permanent eine Diskussion über die Finanzmittelausstattung gibt.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Vorstellung des Vorschlags zum Gesundheitscheck bei der COMAGRI, 20. Mai 2008.

(2)  Europäische Kommission: What caused the present boom in agricultural prices?

(3)  Rede von Mariann FISCHER BOEL: Food, feed or fuel? Berlin, 18. Januar 2008.

(4)  Der EWSA setzt sich in seiner Sondierungsstellungnahme „Die EU und das weltweite Nahrungsmittelproblem“.

(5)  ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 60.

(6)  ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 63, Ziffer 5.7.1.

(7)  Studie der Europäischen Kommission: Climate Change: the challenges for agriculture (Dezember 2007).

(8)  Siehe Fußnote 5.

(9)  The Common Agricultural Policy: sorting the facts from the fiction. 20. Juni 2008.


ANHANG

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch jeweils mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt:

Ziffer 1.7

„Der EWSA fordert dazu auf, die Entwicklung auf dem Markt für Milch und Milchprodukte eingehender als bisher geschehen zu analysieren, da die Milchquotenregelung nach derzeitiger Rechtslage 2015 ausläuft. In Anbetracht der notwendigen Planungssicherheit spricht sich der EWSA für Quotenanpassungen aus, die den Erzeugern eine ‚weiche Landung‘ ermöglichen, sofern dadurch keine Marktstörungen hervorgerufen werden. Der EWSA ersucht die Kommission, Maßnahmen ins Auge zu fassen, um die Milcherzeugung in strukturschwachen ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten, und deren Finanzauswirkungen und Finanzierungen darzustellen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 66 Nein-Stimmen: 42 Enthaltungen: 41

Ziffer 1.8

„Der EWSA teilt den Standpunkt der Europäischen Kommission bezüglich der neuen Herausforderungen in den Bereichen Klima, Wasser, erneuerbare Energien und Artenvielfalt. Diese neuen Herausforderungen erfordern zusätzliche Finanzmittel durch Modulation und den Einsatz der Strukturfonds. Nach Dafürhalten des EWSA sollte die Verbesserung der Ernährungssicherheit als eine neue Herausforderung betrachtet werden.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 1.9

„Der EWSA stellt fest, dass die Meinungen über die Modulation weit auseinander gehen. Als Kompromiss schlägt er vor, dass der zusätzliche Modulationssatz zur Finanzierung der neuen Herausforderungen auf insgesamt 3 % beschränkt sein sollte; außerdem schlägt er eine Anhebung der Schwelle auf 7 500 EUR vor. Der EWSA ist kein Befürworter einer weiteren progressiven Modulation. Die zusätzlichen Mittel sollten spezifisch für die Unterstützung der Landwirte verwendet werden.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 5.5.3

„Nach Auffassung des EWSA geht es in der Diskussion über eine progressive Modulation um mehrere Aspekte. Durch die Progressivität werden die Betriebsprämien verwaltungsmäßig noch komplexer. Vielfach sind Landwirte mit großen wie mit kleinen Betrieben wichtige Arbeitgeber in ihrem Umland. Nach Einschätzung des EWSA sind die Gewinne der größten Zahlungsempfänger bereits jetzt von der Modulation am stärksten betroffen. Andererseits pro-fitieren große Beihilfeempfänger generell von Skaleneffekten. Daher wirkt sich die progressive Modulation entscheidend auf den Ausgleich der Wettbewerbsbedingungen landwirtschaftlicher Betriebe verschiedener Größe aus. Den Landwirten muss eine vorausschauende Planung möglich sein, und deshalb müssen sie sich auf Zusagen öffentlicher Stellen verlassen können. Aus diesen Gründen spricht sich der EWSA gegen eine progressive Modulation aus.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 5.7.3

„Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der potenzielle Umweltnutzen der Flächenstilllegung erhalten bleiben muss, um die Akzeptanz der Landwirtschaft zu erhöhen. Über eine freiwillige Flächenstilllegung im Rahmen der ländlichen Entwicklung kann dies nur geschehen, wenn ausreichend Anreize vorhanden sind und auch entsprechend honoriert werden. Aus Sicht des Ausschusses sollten Zahlungen im Rahmen der ländlichen Entwicklung an die Tätigkeiten der Landwirte geknüpft sein.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 5.8.3

„Der Milcherzeugung kommt in den strukturschwachen Gebieten der EU eine herausragende Bedeutung zu. Daher ersucht der Ausschuss die Kommission, Maßnahmen — darunter auch finanzielle Maßnahmen — ins Auge zu fassen, um die Milcherzeugung und eine lebensfähige Wirtschaft in diesen strukturschwachen ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten. Der EWSA ist der Ansicht, dass Artikel 68 ein nur bedingt geeignetes Instrument hierfür ist, mit dem die zu erwartenden hohen Folgekosten auch nicht annähernd abgedeckt werden können.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 66 Nein-Stimmen: 42 Enthaltungen: 41

Ziffer 5.8.4

„Nach Ansicht des EWSA sollte die Quote im Zeitraum 2009—2015 auf der Grundlage der Marktentwicklung angepasst werden. Die Milchbauern brauchen Planungssicherheit und einen reibungslosen Übergang. Der Ausschuss spricht sich daher für Quotenanpassungen aus, die den Erzeugern eine ‚weiche Landung‘ ermöglichen. Diese dürfen aber die Stabilität der Märkte nicht gefährden und sollten dem Schutzbedürfnis kleinerer Milchbauern und Produk-tionsgebiete Rechnung tragen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 66 Nein-Stimmen: 42 Enthaltungen: 41

Ziffer 5.14.1

„Die Kommission sieht vor, diesen vier neuen Herausforderungen (Ziffer 5.10 bis 5.13) mit einem neuen Maßnahmenpaket zu begegnen, das im zweiten Pfeiler angesiedelt werden soll und dessen zusätzlich erforderliche Finanzmittel aus der Modulation stammen sollen. Die Kommission stellt fest, dass eine Anhebung der obligatorischen Modulation der einzige Weg sei, um zusätzliche Mittel für die ländliche Entwicklung zu erhalten. Die Kommission schlägt vor, die obligatorische Modulation bis 2012 in vier Schritten um 8 % zu erhöhen.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 5.14.2

„Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Ergebnisse der Verhandlungen über die finanzielle Vorausschau für 2007—2013 zu einer unangemessenen Finanzierung des zweiten Pfeilers geführt haben. Seiner Ansicht nach müssen die unterschiedlichen Funktionen der GAP erhalten bleiben. Jegliche weitere Modulation von Direktzahlungen des ersten Pfeilers muss diesem Erfordernis Rechnung tragen (1). Daher kann der EWSA einer weiteren Modulation nur zustimmen, wenn sichergestellt wird, dass diese Mittel klar und eindeutig dafür bereitgestellt werden, den Landwirten zu helfen, diese neuen Herausforderungen zu bewältigen. Zusätzlich zu den vier von der Kommission benannten Herausforderungen schlägt der EWSA vor, angesichts der jüngsten Diskussionen um die Nahrungsmittelpreise die Herausforderung der Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit hinzuzunehmen. Die Rolle der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Landwirtschaft in diesem Anpassungsprozess sollte anerkannt werden. Die Umsetzung im Wege der nationalen Pläne für die Entwicklung des ländlichen Raums muss für die Landwirte effizienter und zugänglicher gestaltet werden. Die nationale Kofinanzierung muss bereits vorab sichergestellt sein.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 5.14.3

„Direktzahlungen sind überaus wichtig für die Werte, für die die Landwirtschaft in der Gesellschaft steht. Darüber hinaus brauchen die Landwirte Planungssicherheit. Andererseits sieht der EWSA auch die neuen, von der Europäischen Kommission genannten Herausforderungen. Der EWSA stellt fest, dass die Meinungen über die Modulation erheblich auseinanderklaffen. Als Kompromiss schlägt der Ausschuss einen Modulationssatz von insgesamt 8 % vor (gegenwärtig 5 % plus 3 × 1 %). Er empfiehlt, neben ländlicher Entwicklung auch den Einsatz anderer Finanzierungsquellen, wie z. B. der Strukturfonds, zu prüfen. Außerdem empfiehlt er eine Anhebung der Schwelle auf 7 500 EUR. Dies muss an die Stelle der freiwilligen Modulation treten. Die eventuellen negativen Auswirkungen der Modulation auf die Einkommen der Landwirte in Verbindung mit Artikel 68 müssen ebenfalls eingehend untersucht werden.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37

Ziffer 6.4

„Nach Ansicht des EWSA handelt es sich bei der GAP um eine Kernerrungenschaft der Europäischen Union. Wie die Welternährungslage zeigt, wird die Landwirtschaftspolitik auch künftig überaus wichtig sein. Nach Ansicht des EWSA kommt den Landwirten nicht nur eine wesentliche Rolle bei der Nahrungsmittelversorgung zu, sondern ihre Rolle ist multifunktionell zu sehen. Deshalb sollten Haushaltseinsparungen zur Stärkung der Position der Landwirte im Hinblick auf die Sicherung der Nachhaltigkeit eingesetzt werden.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 64 Nein-Stimmen: 58 Enthaltungen: 37


(1)  Siehe Fußnote 5.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/133


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte (Verordnung über tierische Nebenprodukte)“

KOM(2008) 345 endg. — 2008/0110 (COD)

2009/C 100/22

Der Rat beschloss am 7. Juli 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 152 Absatz 4 Buchstabe b des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte (Verordnung über tierische Nebenprodukte)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt-schutz nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr NIELSEN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21. — 23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 82 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Im Zusammenhang mit der Verwendung tierischer Nebenprodukte ist die Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit für die menschliche und tierische Gesundheit ein vordring-liches Anliegen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Kommissionsvorschlag, dem eine gründliche Vorarbeit und ausgewertete Erfahrungen zugrunde liegen. Eine Änderung der Kategorisierung sollte, wie vorgeschlagen, ausschließlich nach einer konkreten Risikobewertung durch maßgebliche wissenschaftliche Einrichtungen vorgenommen werden. Es erscheint zweckdienlich, Klarheit in Bezug auf weitere Bereiche der Rechtsetzung, wie etwa Abfall- und Umweltrecht, herzustellen.

1.2   Allerdings besteht ein gewisser Klärungsbedarf hinsichtlich der Definitionen in der Verordnung sowie im Zusammenhang mit der Genehmigung und Verwendung tierischer Nebenpro-dukte in Biogasanlagen. Außerdem sollte noch eine Reihe spezifischer Sachverhalte genauer formuliert und auch geprüft werden, ob die Verwendung von Protein aus Nebenprodukten von Schweinen und Geflügel als Fischfutter unter bestimmten Voraussetzungen vertretbar ist, sofern keine Risken für die Gesundheit von Mensch und Tier erkennbar sind.

2.   Hintergrund

2.1   Die Kommission wünscht eine stärker am Risiko ausgerichtete Klassifizierung und Kontrolle in der Verordnung über tierische Nebenprodukte (1) und eine bessere Abgrenzung gegenüber den Bestimmungen über Nahrungsmittel, Futtermittel, Abfälle, Kosmetika, Arzneimittel und Medizinprodukte. Der Kommission zufolge soll durch den Vorschlag auch die Verwaltungs-last für bestimmte Betriebe gemindert werden und die Verantwortung der Unternehmer gestärkt werden, insbesondere bei der Verwendung von Nebenprodukten außerhalb der Futtermittel- und Nahrungsmittelkette.

2.2   Nach wie vor gilt die Einteilung der Produkte in drei Kategorien. Material, das ein Risiko der Übertragung Transmissibler Spongiformer Enzephalopathien (TSE) aufweist, kommt auch weiterhin für Futtermittelzwecke nicht in Frage. Hingegen darf Material, von dem kein oder nur ein geringes Risiko ausgeht, verwertet werden — allerdings in Abhängigkeit von der Art des Materials und im Anschluss an eine Risikobewertung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die Europäische Arzneimittel-Agentur oder den Wissenschaftlichen Ausschuss „Konsumgüter“. Einige Produkte der Kategorie 2 werden dem Vorschlag gemäß umklassifiziert und der Kategorie 3 zugeordnet, sodass sie nun für gewisse Verfütterungszwecke in Betracht kommen. Sind Ausgangsmaterialen, Herstellungsverfahren und Verwendungszweck unbedenklich, dürfen tierische Nebenprodukte aller Kategorien künftig in der Praxis eingesetzt werden. Außerdem werden das Vergraben und die Verbrennung im Fall des Ausbruchs von Seuchen sowie in Situationen zugelassen, in denen die Bergung der Tierkadaver in der Praxis schwierig ist.

2.3   Für die Verbrennung tierischer Nebenprodukte gelten die Bestimmungen der Richtlinie 2000/76/EG (2). Jetzt wird jedoch vorgeschlagen, die Verwendung als Brennstoff unter Bedingungen zuzulassen, bei denen der Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier und die Einhaltung einschlägiger Umweltschutzvorschriften gewährleistet sind. Außerdem soll die Kohärenz mit dem Verbot der Ausfuhr von Abfällen (3) gewährleistet sein, und zwar auch in Bezug auf die Verwendung in Biogas- oder Kompostieranlagen in Drittländern außerhalb der OECD.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die Bestimmungen über die Verwendung tierischer Nebenprodukte sind umfassend und kompliziert, aber worauf es ankommt, ist, dass Rechtsetzung und Verwaltung optimal funktionieren und dass die EU auch auf diesem Gebiet weiterhin ein hohes Maß an Sicherheit für die Gesundheit von Mensch und Tier gewährleisten kann. Die Verbreitung von TSE und Tierseuchen kann gravierende wirtschaftliche und soziale Konsequenzen haben. Vom Grundsatz her kann der EWSA den risikobasierten Ansatz befürworten, bei dem Änderungen in der Kategorisierung auf der Grundlage konkreter Risikobewertungen durch die entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen vorgenommen werden; entsprechend zweckdienlich ist die Anwendung der HACCP-Grundsätze (4), vorausgesetzt, es erfolgt eine einheitliche Umsetzung und Anwendung in den Mitgliedstaaten.

3.2   Infolge der steigenden Nachfrage nach Protein für Fischfutter sollte in Verbindung mit der Überarbeitung der „TSE-Verordnung“ (5) erwogen werden, ob die Verwendung von Proteinen aus tierischen Nebenprodukten von Schweinen und Geflügel als Fischfutter nicht unter bestimmten Umständen vertretbar wäre, sofern keine Risiken für die Gesundheit von Mensch und Tier erkennbar sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Der Vorschlag sieht vor, dass tierische Nebenprodukte und ihre Folgeprodukte durch Verbrennung beseitigt werden bzw. als Brennstoff verwendet werden dürfen. Die Verwendung tierischer Nebenprodukte als Brennstoff wird im Vorschlag nicht als Abfallbeseitigung betrachtet, sondern soll unter Bedingungen stattfinden, die den Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier und die Einhaltung einschlägiger Umweltschutzvorschriften gewährleisten. Dabei sollte eine deutlichere Abgrenzung zwischen der Verordnung über tierische Nebenprodukte und den Abfall- und Umweltvorschriften vorgenommen und auch eine Klärung sowie nähere Definition der Begriffe in Artikel 3 der Verordnung und in der Abfallrichtlinie durchgeführt werden, um Auslegungsprobleme zu vermeiden.

4.2   Biogasanlagen, in denen tierische Nebenprodukte und ihre Folgeprodukte gemäß den Standardparametern verarbeitet werden, unterliegen den Bestimmungen über die Registrierung und Rückverfolgbarkeit, allerdings gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c nicht der Zulassungspflicht nach Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b. Bei der Ausarbeitung der Durchführungsbestimmungen sollten sie aber nur in dem erforderlichen Maße in den Geltungsbereich der Vorschriften über die Eigenkontrolle, die Aufteilung in „reine“ und „unreine“ Zonen usw. und das Erfordernis der Dokumentation des Empfangs, der Behandlung und der Weiterbeförderung von Rohmaterial einbezogen werden.

4.3   Weiterhin sollte über das geltende Erfordernis der einstündigen Hygienisierung von Kategorie-3-Material bei 70 °C hinaus die Zulassung abweichender Temperaturen und Verweildauern möglich sein und die Dokumentation der Einhaltung auf eine flexiblere Art und Weise als bisher gehandhabt werden können.

4.4   Der EWSA unterstützt voll und ganz die Verwendung der Glycerinfraktion aus der Biodieselproduktion — ungeachtet der Kategorie — für die Biogasproduktion. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass weder von der Biodieselproduktion noch von den dabei anfallenden Nebenprodukten aller Kategorien irgendwelche Risiken ausgehen, sofern die Herstellung im Einklang mit den geltenden Bestimmungen erfolgt (6).

4.5   Gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a entfällt die Zulassungspflicht für bestimmte Tätigkeiten, wenn eine Anlage oder ein Betrieb dafür gemäß anderen Rechtsvorschriften zugelassen wurde. Allerdings dürften beispielsweise Exportunternehmen mit Blick auf die tierärztlichen Kontrollen gut beraten sein, sich um eine Zulassung gemäß der Verordnung über Nebenprodukte zu bemühen.

4.6   Unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenerhaltung sollten Nebenprodukte von schlachttauglichen Tieren der Kategorie 3 zugeordnet werden (z. B. zu Boden gefallene Produkte, chro-nisch verändertes Material o. Ä.), vorausgesetzt, dass die Produkte keinen Kontakt mit Kategorie-2-Material hatten.

4.7   Es sollte eine Lösung gefunden werden, um Blutprodukte aus dem Geltungsbereich von Artikel 25 Absatz 1 Buchstabe c auszuschließen, um so ihre Verwendung in Düngemitteln zu erleichtern.

4.8   Gemäß Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe d können kleinere Mengen tierischer Nebenprodukte von den Bestimmungen über die Beseitigung ausgenommen werden. Nach Auffassung des EWSA ist bei einer solchen Vorgehensweise aufgrund der fehlenden Rückverfolgbarkeit die größtmögliche Vorsicht angezeigt.

4.9   Tierische Exkremente werden gemäß Artikel 12 als Kategorie-2-Material definiert und sind infolgedessen im Einklang mit den Bestimmungen in Artikel 20 zu beseitigen und zu verwenden. Hier sollte näher ausgeführt werden, dass tierische Exkremente, die für Energiezwecke — jedoch nicht für Biogasanlagen — verwendet werden, nicht als Abfall zu behandeln und somit in zugelassenen oder registrierten Anlagen zu verbrennen sind.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1774/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Oktober 2002 mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte.

(2)  Richtlinie 2000/76/EG vom 4. Dezember 2000 über die Verbrennung von Abfällen.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen.

(4)  HAACP steht für Hazard Analysis and Critical Control Points und umfasst die Risikoanalyse und kritische Kontrollpunkte.

(5)  Verordnung (EG) Nr. 999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 mit Vorschriften zur Verhütung, Kontrolle und Tilgung bestimmter Transmissibler Spongiformer Enzephalopathien.

(6)  Gutachten der EFSA vom 22. April 2004 sowie Verordnung (EG) Nr. 92/2005 der Kommission vom 19. Januar 2005 hinsichtlich der Maßnahmen zur Beseitigung oder Verwendung tierischer Nebenprodukte, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 2067/2005 der Kommission vom 16. Dezember 2005.


30.4.2009   

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C 100/135


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen (Neufassung)“

KOM(2008) 505 endg. — 2008/0165 (COD)

2009/C 100/23

Der Rat beschloss am 30. September 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 95 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen (Neufassung)“

Da der Ausschuss diesem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und sich bereits in seiner Stellungnahme vom 2. Dezember 1998 (1) zu dieser Thematik geäußert hat, beschloss er auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 119 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in der genannten Stellungnahme vertreten hat.

 

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen“, ABl. C 40 vom 15. Februar 1999, S. 34.


30.4.2009   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/136


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“

KOM(2008) 179 endg. — 2008/0069 (COD)

2009/C 100/24

Der Rat beschloss am 23. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 11. September 2008 an. Berichterstatterin war Frau HERCZOG.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 59 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt nachdrücklich den Vorschlag der Kommission, einen europäischen Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung (European Quality Assurance Reference Framework — im Folgenden „EQARF“ genannt) in der beruflichen Aus- und Weiterbildung einzurichten, da eine hochwertige Berufsbildung ein wesentlicher und zentraler Bestandteil der erneuerten Lissabon-Strategie (1) ist, mit der eine wissensbasierte Gesellschaft, soziale Eingliederung und sozialer Zusammenhalt, Mobilität, Beschäftigungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gefördert werden sollen.

1.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die tatsächliche Umsetzung eines EQARF dazu beitragen würde, die europäische Dimension der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu stärken und die Mobilität der Lernenden und der Arbeitnehmer zu verbessern und dass dadurch ebenfalls mehr Transparenz und gegenseitiges Vertrauen innerhalb und zwischen den einzelstaatlichen Berufsbildungssystemen geschaffen würde. Zudem würde ein solcher Bezugsrahmen die derzeitigen Beschäftigungsprobleme überwinden helfen, indem das Missverhältnis zwischen den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und den Qualifikationen der Arbeitskräfte angegangen wird.

1.3   Der Ausschuss hält den EQARF insofern für nützlich, als der Schwerpunkt vor allem auf der Verbesserung und Bewertung der „Resultate“ und „Ergebnisse“ der Berufsbildung in Bezug auf die drei zentralen politischen Prioritäten der EU liegt: Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, Gewährleistung einer besseren Anpassung des Berufsbildungsangebots an die Nachfrage und Förderung eines leichteren Zugangs zu lebenslangem Lernen (vor allem für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen).

1.3.1   Der EWSA ersucht die Kommission, den Schwerpunkt noch stärker auf die Endnutzer auszurichten — Lernende, Arbeitnehmer, Institutionen, Berufsbildungsanbieter wie auch Unter-nehmen. Besondere Aufmerksamkeit sollte denjenigen gewidmet werden, bei denen die Gefahr der Ausgrenzung vom Bildungsangebot und vom Arbeitsmarkt besteht (z. B. Schulabbrechern, jungen Menschen und älteren Arbeitnehmern, bei denen die Arbeitslosenquote hoch ist, Menschen mit sonderpädagogischen Erfordernissen, Menschen mit Migrationshintergrund usw.), sowie ihrer (Wieder-)Eingliederung in die Berufsbildung.

1.4   Nach Ansicht des EWSA sind die Errungenschaften, die in der Vergangenheit im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit zur Qualitätssicherung in der Berufsbildung erzielt wurden (2), eine geeignete Grundlage für die Fortsetzung der derzeitigen Bemühungen wie auch für Weiterentwicklungen. Ein ernsthaftes Engagement für den EQARF seitens des Europäischen Parlaments und des Rates wird erheblich dazu beitragen, dass eine Kultur der ständigen Qualitätsverbesserung so weit wie irgend möglich verbreitet wird (3). Dies kann auch die Umsetzung des EQARF auf nationaler Ebene befördern.

1.5   Der EWSA begrüßt das starke Engagement der Mitgliedstaaten für eine kontinuierliche Verbesserung der Qualität der Berufsbildungssysteme, das gegenwärtig im europäischen Netz für die Qualitätssicherung in der Berufsbildung (European Network on Quality Assurance in VET — ENQA-VET) zum Ausdruck kommt. Im Rahmen dieses Netzes, das 2005 errichtet wurde, um die Dauerhaftigkeit des Prozesses auf lange Sicht zu gewährleisten, hat während der letzten Jahre eine aktive und effiziente Zusammenarbeit zwischen 23 Ländern stattge-funden.

1.5.1   Die Kommission sollte prüfen, wie (in welchen Bereichen, mit welchen Konzepten und mit welchen konkreten Instrumenten) ENQA-VET, ergänzt durch nationale Bezugspunkte für die Qualitätssicherung (Quality Assurance National Reference Points — QANRP), noch effektiver und effizienter zur Förderung und Unterstützung der Umsetzung des EQARF in den Mitgliedstaaten beitragen könnte, einem Prozess, der bis 2010 oder möglicherweise noch länger andauern könnte.

1.6   Der EWSA hält es für entscheidend wichtig, dass eine Übereinstimmung zwischen dem EQARF und anderen auf gegenseitigem Vertrauen fußenden europäischen Initiativen wie dem Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (European Qualifications Framework — EQF) (4) und dem Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (European Credit System for VET — ECVET) (5) gewährleistet wird. Sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene sollten die einschlägigen Maßnahmen stärker harmonisiert und spezifische Querverbin-dungen zwischen diesen gemeinsamen europäischen Referenzinstrumenten aufgezeigt werden, um einen größeren wechselseitigen Nutzen zu erzielen, Synergien zu verstärken und die Voraussetzungen für eine europaweite Anerkennung und Übertragung von Qualifikationen zu schaffen.

1.7   Die berufliche Aus- und Weiterbildung ist ein öffentliches Gut, und eine qualifizierte Berufsbildung bedarf im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und der Gesellschaft insgesamt einer Kontrolle. Diese Kontrolle sollte von öffentlichen Stellen überwacht bzw. durchgeführt werden, deren Qualität ebenfalls gesichert sein sollte. Der EWSA ist der Auffassung, dass diesen - in den meisten Mitgliedstaaten von den Regierungen benannten - Stellen grundlegende Bedeutung zukommt, und empfiehlt der Kommission, deren Rolle zu stärken.

1.8   Der EWSA appelliert an alle Interessengruppen - Institutionen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Branchenverbände, Handelskammern, Fach- und Berufsorganisationen, Arbeitsagenturen, regionale Instanzen, sozialwirtschaftliche Organisationen usw. —, ihre besonderen Zuständigkeiten wahrzunehmen und zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele beizutragen. Eine von der Basis ausgehende Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung sollte in allen Arbeitsphasen forciert werden.

1.8.1   Der EWSA dringt auf eine aktivere Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft und macht die Kommission darauf aufmerksam, dass sie auf dem Gebiet der Qualitätssicherung in der Berufsbildung eng mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten sollte, um das System integrativer zu gestalten und auf den bestehenden Netzwerken und positiven Erfahrungen aufzubauen. Die erfolgreiche Einführung einer Qualitätskultur wird in vielen Ländern durch das Fehlen von Zusammenarbeit und Dialog behindert.

1.8.2   Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Sozialpartner als die wichtigsten Interessengruppen auf den Arbeitsmärkten eine bedeutende Rolle bei der Verwirklichung der vier Hauptziele in der Berufsbildung (Mobilität, Zugänglichkeit, Attraktivität und soziale Eingliederung) spielen und zudem auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene maßgeblich an der Festlegung und Kontrolle von Qualitätsstandards für die Berufsbildungssysteme beteiligt sein sollten. Es ist nur mit aktiver Beteiligung der Sozialpartner möglich, ein System zu schaffen, das an Veränderungen bei den Arbeitsmartkgegebenheiten angepasst werden kann, was eine Grundvoraussetzung für jede Maßnahme zur Verbesserung der Qualität der Berufsbildung ist.

2.   Einleitung

2.1   Angesichts der vielen unterschiedlichen und komplexen Berufsbildungssysteme und Qualitätskonzepte innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union bedarf es gemeinsamer Bezugspunkte, um im Sinne einer Stärkung des gegenseitigen Vertrauens für Transparenz, Kontinuität und Übertragbarkeit zwischen den zahlreichen Politikausrichtungen und praktischen Entwicklungen in Europa zu sorgen.

2.2   Nach einer langen Phase der Vorbereitung und Konsultation hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung vorgelegt.

2.3   Mit der Empfehlung wird der Zweck verfolgt, die Bemühungen der Mitgliedstaaten um eine kontinuierliche Verbesserung der Qualität ihrer Berufsbildungssysteme und -programme durch die Einführung eines gemeinsamen europäischen Referenzinstruments — eines Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung und Qualitätsbewertung (EQARF) — zu unterstützen.

2.4   Die Hauptfunktion des EQARF besteht darin, gemeinsame länderübergreifende Referenzen festzulegen, anhand deren die Mitgliedstaaten und die betroffenen Akteure die Bedarfsgerechtheit ihres Berufsbildungsangebots und die Effizienz ihrer Qualitätsmanagementverfahren in der Berufsbildung dokumentieren, weiterentwickeln, überwachen, evaluieren und verbessern können.

2.5   Der EWSA stützt sich bei seiner Einschätzung des Kommissionsvorschlags im Wesentlichen auf seine gesammelten Erkenntnisse und Erfahrungen (6).

3.   Bemerkungen des EWSA

3.1   Der EWSA stimmt mit der Kommission überein, dass gemeinsame Referenzkriterien für die Qualitätssicherung erforderlich sind, wenn in der europäischen Berufsbildungspolitik gemeinsame Ziele gesetzt und erreicht werden sollen.

3.2   Der EWSA begrüßt und betont die positiven Aspekte des Kommissionsvorschlags zum EQARF, namentlich: die freiwillige Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Nutzung des Be-zugsrahmens, dessen Anpassungsfähigkeit an die verschiedenen einzelstaatlichen Systeme im Einklang mit der nationalen Gesetzgebung und Praxis sowie die Notwendigkeit der Festlegung von Durchführungsbestimmungen auf einzelstaatlicher, regionaler und/oder lokaler Ebene.

3.3   Der EQARF baut auf dem gemeinsamen europäischen Rahmen für die Qualitätssicherung in der Berufsbildung (Common Quality Assurance Framework — CQAF) auf, der seinerseits auf bewährten Verfahren aus den Mitgliedstaaten beruht, und entwickelt diesen weiter. Der EWSA stellt erfreut fest, dass der EQARF gegenüber dem CQAF vereinfacht wurde; aufgrund der spezifischeren und klareren Qualitätskriterien und als Richtgrößen zu verstehenden Deskriptoren dürfte er für die Mitgliedstaaten erheblich leichter zu interpretieren, zu verstehen und anzuwenden sein.

3.4   Der EWSA ist der Auffassung, dass die in Anhang 1 der Empfehlung aufgeführten neuheitlichen und modernen Kriterien für die Qualitätssicherung und als Richtgrößen zu verstehenden Deskriptoren, die einvernehmlich entwickelt wurden, den EQARF zu einem wertvollen Instrument für eine kontinuierliche Verbesserung der Qualität der Berufsbildung auf europäischer und auf nationaler Ebene machen. Diese Qualitätskriterien und als Richtgrößen zu verstehenden Deskriptoren, die wesentliche Aspekte der Arbeit im Hinblick auf eine hoch-wertige Berufsbildung widerspiegeln, ermöglichen eine proaktive Planung, Umsetzung, Bewertung und Weiterentwicklung der Qualitätssicherungsmaßnahmen auf nationaler und institutioneller Ebene (d. h. auf Ebene der Berufsbildungsanbieter). Ferner wird es dadurch möglich, im Sinne einer Verbesserung der Transparenz und Kompatibilität der politischen Maßnahmen und Initiativen der einzelnen Mitgliedstaaten in diesem Bereich tätig zu werden.

3.5   Der EWSA halt es für besonders wichtig, dass die Kommission über verlässliche Daten verfügt, die auf einer objektiven Messung des Fortschritts beim Erreichen der vereinbarten Qualitätssicherungsziele beruhen und mit den drei (politischen) Hauptzielen in Einklang stehen (siehe Ziffer 1.3). Der EWSA begrüßt deshalb, dass in Anhang 2 der Empfehlung erste gemeinsame Indikatoren zur Messung und Evaluierung der Qualität der Berufsbildungssysteme auf einzelstaatlicher Ebene vorgeschlagen werden.

3.6   Indikatoren sind von zentraler Bedeutung für eine optimale Steuerung und die Qualität von Berufsbildungssystemen, da sie evidenzbasierte politische Entscheidungen unterstützen und einen grenzübergreifenden Leistungsvergleich erleichtern. Der EWSA möchte die Kommission gleichwohl daran erinnern, dass die Methoden zur Erhebung und Sammlung von Daten in Bezug auf die Indikatoren für den EQARF mitgliedstaatenübergreifend harmonisiert bzw. standardisiert werden sollten (einheitliche Verfahren für Definition, Interpretation und Berechnungen), damit die Daten zuverlässiger und besser vergleichbar sind.

3.7   Nach Auffassung des EWSA ist es besonders wichtig, die Akteure der Berufsbildung auf verschiedenen Ebenen dazu anzuregen, eine systematische Selbstbewertung durchzuführen (wenn möglich in Verbindung mit einer unabhängigen externen Evaluierung, z. B. im Rahmen der regelmäßig stattfindenden europäischen Peer-Reviews). Die Beschäftigung mit Bereichen, die im Rahmen einer Selbstbewertung ermittelt wurden, trägt zur Gewährleistung eines hochwertigen Bildungsangebot bei, mit dem den Erwartungen und Interessen der beteiligten Seiten (sowohl der Teilnehmer an den Maßnahmen als auch der Arbeitgeber) entsprochen werden kann. Die Selbstbewertung erbringt ein regelmäßiges Feedback über die Zufriedenheit der Partner mit dem Bildungsangebot und den Bildungsdiensten, über die Arbeitsmarkterfordernisse sowie über die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Arbeitnehmer im Wege von Berufsbildungsmaßnahmen erworben haben.

3.8   Ein besonderer Pluspunkt des EQARF ist, dass er zur Nutzung gemeinsamer Qualitätskriterien und als Richtgrößen zu verstehender Deskriptoren und Indikatoren anregt sowie Qualitätsverbesserungen auf der Grundlage regelmäßiger Selbstbewertungen — sowohl innerhalb der Aus- und Weiterbildungssysteme, als auch im Bereich der Anbieter von Berufsbildungsdiensten bzw. entsprechender Einrichtungen — fördert. Der EWSA möchte die beteiligten Parteien daran erinnern, dass eine Qualitätsverbesserung auf Systemebene in bestimmten Ländern nur erzielt werden kann, wenn der EQARF nicht nur in den Berufsbildungseinrichtungen, sondern auch auf Ebene der Berufsbildungssysteme (Steuerungsebene) eingeführt wird. Außerdem ermöglicht die Verwendung gemeinsamer Qualitäts-kriterien sowie als Richtgrößen zu verstehender Deskriptoren und Indikatoren einen EU-weiten Vergleich zwischen dem Berufsbildungsmanagement und der Praxis des Berufsbildungsangebots.

3.9   Der EWSA weist die Kommission darauf hin, dass der wichtigste Faktor für die Erreichung der gemeinsamen Ziele ein ernsthaftes Bemühen der Mitgliedstaaten um die Umsetzung und Anwendung des EQARF ist. Dieses Engagement sollte u. a. dadurch zum Ausdruck kommen, dass gemeinsame Grundprinzipien, Qualitätsanforderungen und als Richtgrößen zu verste-hende Deskriptoren in spezifische Ziele und praktische Initiativen umgesetzt und diese auch konsequent konkretisiert werden.

3.10   Der EWSA legt der Kommission nahe, den Einsatz des EQARF sowie seine kontinuierliche Verbesserung auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene zu fördern und zu unterstützen. Um die Nutzung des EQARF zu fördern und zu unterstützen, sollte die Kommission künftig Wege finden, einschlägige Programme zu finanzieren, und die derzeitigen und künftigen Partner im Qualitätsbereich zudem für Finanzierungsmöglichkeiten auf allen Ebenen sensibilisieren. Die Kommission sollte auch enger mit dem europäischen Netz für die Qualitätssicherung in der Berufsbildung zusammenarbeiten und es bei seiner Aufgabe unterstützen, die gemeinsamen Grundprinzipien, Qualitätskriterien und als Richtgrößen zu verstehenden Deskriptoren und Indikatoren kontinuierlich anzupassen und zu verbessern.

3.11   Der EWSA begrüßt, dass der Empfehlungsvorschlag eine entscheidende Qualitätsgarantie in Form einer regelmäßigen (dreijährlichen) Überprüfung sowie eine Bewertung hinsichtlich der Einführung des EQARF auf einzelstaatlicher Ebene vorsieht. Die jeweiligen Ergebnisse sollen zur anschließenden Überprüfung des Bezugsrahmens auf europäischer Ebene beitragen. Nach Ansicht des EWSA sollte bei den Evaluierungen der Schwerpunkt auf folgenden Aspekten liegen: konkrete Auswirkungen des EQARF auf die Qualität der Berufsbildung auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene, Erkennen von Bereichen, in denen Entwicklungen oder Verbesserungen zu verzeichnen sind, sowie Veränderungen bei der Umsetzung und Umfang dieser Veränderungen.

3.12   Der EWSA empfiehlt eine umfangreiche Informationsverbreitung und eine bessere Kommunikation in Sachen EQARF, um möglichst viele potenzielle Teilnehmer und Interessenträger zu erreichen. Ein Kommunikationsplan und eine entsprechende Strategie sollten konzipiert werden, um den Nutzen und die voraussichtlichen Ergebnisse der Anwendung des EQARF auf allen Ebenen — insbesondere für Anbieter der Berufsbildung (Berufsbildungseinrichtungen) — publik zu machen und zu verdeutlichen. Erforderlich sind Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, um eine wirksame Kommunikation zu gewährleisten, einerseits auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene und andererseits auf Ebene der Berufsbildungseinrichtungen. Zusammen mit der Kommission könnte ENQA-VET eine wichtige Rolle bei der Kommunikation auf europäischer Ebene spielen, wobei dies auf einzelstaatlicher Ebene durch nationale Bezugspunkte für die Qualitätssicherung sichergestellt werden könnte.

3.13   Im Einklang mit seiner Stellungnahme zu Ausbildung und Produktivität (7) bekräftigt der EWSA erneut, dass die verschiedenen Ebenen der Bildungs- und Ausbildungssysteme auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene mit Blick auf das lebenslange Lernen besser koordiniert werden müssen. Dies macht ebenfalls kohärente Ansätze der Qualitätssicherung und Qualitätsbewertung in verschiedenen Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung erforderlich.

3.14   Der EWSA ist zuversichtlich, dass Berufsbildung auf allen Ebenen als ein wesentlicher und integraler Bestandteil des lebenslangen Lernens entwickelt wird. Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass die Berufsbildung in alle vorhergehenden und nachfolgenden Bildungsebenen, d. h. insbesondere die allgemeine Bildung und die Hochschulbildung, eingebunden wird. Die unterschiedlichen Altersgruppen — Kinder jüngeren Alters eingeschlossen — sollten die für ihre Entwicklung unabdingbaren Möglichkeiten und Infrastrukturen erhalten und gemäß dem im Lebenszyklus erreichten Punkt bewertet werden.

3.14.1   Die Qualitätsbewertung sollte alle Bildungsformen und Bildungseinrichtungen von der frühen Kindheit an umfassen, da die frühkindliche Erziehung einen Einfluss auf die schulischen und beruflichen Leistungen im späteren Leben hat; sie sollte auch den Grundschulbereich einschließen, um zu gewährleisten, dass Schüler über die grundlegenden Kompetenzen verfügen, bevor sie eine weiterführende Schule besuchen. Die Bewertung der beruflichen Aus- und Weiterbildung ist weniger glaubhaft und wirksam, wenn nur die Zeit der Berufsbildung an sich berücksichtigt wird und schulische Leistungen ausgeklammert werden, die die Leistungen im späteren Leben und die berufliche Laufbahn beeinflussen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission die Verbindungen zwischen den verschiedenen Bildungsebenen ebenso berücksichtigen muss wie nicht bildungsspezifische Auswirkungen und Umstände sowie deren kombinierten Einfluss auf die Qualität der Berufsbildung.

3.14.2   Der EWSA betont, wie wichtig die Herstellung engerer Verbindungen zwischen der Qualitätssicherung und der Qualitätsbewertung in der Berufsbildung sowie allen an der Bildung beteiligten Bereichen ist, um auf diese Weise für eine bessere Kommunikation zu sorgen, das wechselseitige Vertrauen zu stärken und gemeinsame Perspektiven im Hinblick auf die Qualitätssicherung und damit zusammenhängende Entwicklungen zu finden. Der EWSA begrüßt, dass erste Schritte einer Zusammenarbeit mit dem Hochschulbereich auf dem Gebiet der Qualitätssicherung gemacht wurden und schlägt vor, diese Kooperationsmaßnahmen fortzusetzen und zu stärken. Auch die Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (EQF) erfordert kohärente Qualitätssicherungsansätze, insbesondere in der Berufs- und der Hochschulbildung, da die Förderung des lebenslangen Lernens ein übergreifendes Thema dieser beiden Bereiche ist.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Lissabon-Strategie (2000).

(2)  Schlussfolgerungen des Rates zur Qualitätssicherung in der Berufsbildung (28. Mai 2004).

In der Kopenhagener Erklärung (vom 30. November 2002) heißt es: „Förderung der Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung mit besonderem Schwerpunkt auf dem Austausch von Modellen und Methoden sowie auf gemeinsamen Qualitätskriterien und -grundsätzen für die berufliche Bildung.“

Kommuniqué von Maastricht (14. Dezember 2004); Kommuniqué von Helsinki (5. Dezember 2006).

(3)  Kommuniqué von Helsinki (5. Dezember 2006).

(4)  Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen.

(5)  Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET).

(6)  Siehe folgende Stellungnahmen des EWSA:

Stelllungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen“, Berichterstatter: Herr RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO (ABl. C 175 vom 27.7.2007),

Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, Berichterstatterin: Frau HERCZOG (ABl. C 195 vom 18.8.2006),

Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur transnationalen Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu Bildungs- und Ausbildungszwecken: Europäische Qualitätscharta für Mobilität“, Berichterstatter: Herr CZAJKOWSKI (ABl. C 88 vom 11.4.2006),

Stellungnahme zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates und des Europäischen Parlaments betreffend die verstärkte europäische Zusammenarbeit zur Qualitätssicherung in der Hochschulbildung“, Berichterstatter: Herr SOARES (ABl. C 255 vom 14.10.2005),

Stellungnahme zum Thema „Ausbildung und Produktivität“, Berichterstatter: Herr KORYFIDIS (ABl. C 120 vom 20.5.2005).

(7)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ausbildung und Produktivität“, Berichterstatter: Herr KORYFIDIS (ABl. C 120 vom 20.5.2005).


30.4.2009   

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Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET)“

KOM(2008) 180 endg. — 2008/0070 (COD)

2009/C 100/25

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 23. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET)“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 11. September 2008 an. Berichterstatterin war Frau LE NOUAIL-MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 109 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1   Dieser Vorschlag für eine Empfehlung zielt auf die Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Qualifikationssystems ab, mit dem die Übertragung, Anrechnung und Anerkennung von Qualifikationen erleichtert und so die Mobilität der Arbeitnehmer gefördert werden soll.

1.2   Die allgemeine und berufliche Bildung sind feste Bestandteile der Lissabon-Strategie, d. h. des europäischen Reformprogramms, das helfen soll, die Herausforderungen der Wissens-gesellschaft und der Wirtschaft zu bewältigen. Konkret ist der Erwerb von Kenntnissen, Kompetenzen und Know-how durch die Bürgerinnen und Bürger im Zuge der allgemeinen und beruflichen Bildung eine notwendige und unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen der Lissabon-Ziele auf dem Gebiet der Wettbewerbsfähigkeit, Entwicklung, Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts.

1.3   Es gab zwar hier Fortschritte zu verzeichnen, doch die grundlegenden Ziele wurden nicht erreicht, was insbesondere für die Bereiche lebenslanges Lernen und Mobilität der Arbeit-nehmer gilt, in denen es nach wie vor zahlreiche Hemmnisse gibt. Diese Defizite machen deutlich, dass Instrumente und Verfahren zur Zusammenarbeit entwickelt werden müssen, die die Beteiligung am lebenslangen Lernen und die Übertragbarkeit von Qualifikationen zwischen verschiedenen Staaten, Einrichtungen und Systemen erleichtern. Mehr Transparenz bei den Qualifikationen zu schaffen, ist ein unverzichtbarer Schritt für die Umsetzung einer solchen Strategie und im Hinblick auf die Entwicklung der Kenntnisse, Kompetenzen und des Know-how, die für die Arbeitnehmer und die Bürger in Europa sowie für alle Beteiligten (insbesondere Bildungseinrichtungen) notwendig sind.

1.4   ECVET (1) ist ein System für die Bürger, mit dem die grenzüberschreitende Anerkennung von Lernergebnissen der Berufsbildung im Rahmen des lebensbegleitenden Lernens gefördert werden soll. Das System baut auf den in Europa vorhandenen Verfahren und Systemen auf und stützt sich auf folgende Elemente:

eine Beschreibung der Qualifikationen in Form von Einheiten von Lernergebnissen (Kenntnissen, Know-how und Kompetenzen), die übertragen und kumuliert werden können;

die Entwicklung transparenter Verfahren zur Übertragung, Ansammlung und Anerkennung bzw. Anrechnung von Lernergebnissen;

die Bildung von Partnerschaften zwischen den Einrichtungen zur Schaffung eines der Übertragbarkeit zuträglichen Umfeldes und eines transnationalen Berufsbildungsraumes.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1   Aus der Folgenabschätzung geht hervor, dass das ECVET-System ein Instrument ist, das die Transparenz, Vergleichbarkeit, Übertragbarkeit und Kumulierbarkeit von Lernergebnissen verschiedener berufsbildender Systeme ermöglicht. Das System erfordert weder eine stärkere Aufgliederung der Qualifikationen noch die Harmonisierung der Abschlüsse oder der Bildungssysteme. Es stützt sich auf die bestehenden Instrumente zur Förderung der Mobilität (ECTS (2) und EQF (3)) und stärkt diese. Langfristig kann es einen Beitrag zur Reform der nationalen Bildungssysteme im Hinblick auf das Ziel des lebensbegleitenden Lernens leisten. In dieser Hinsicht ist ECVET eine Bereicherung auf dem Gebiet der Mobilität und des lebenslangen Lernens.

2.2   Nichtsdestotrotz sollten die im Bereich dieser Instrumente bestehenden Probleme nicht unterschätzt werden. Auch wenn der EQF darauf abzielt, nationale Bildungssysteme vergleichbar zu machen, müssen diese doch so gestaltet und aufgebaut sein, dass sie das gegenseitige Verstehen, Verständnis und Vertrauen der Partner in den anderen Ländern ermöglichen. Es ist Aufgabe der Kommission festzulegen, nach welchen Kriterien die Wirksamkeit, Transparenz, und Vergleichbarkeit sichergestellt und das gegenseitige Vertrauen zwischen den Partnern gefördert werden kann. Der EQF wurde zwar mit dem Ziel der Vergleichbarkeit und freiwilligen Übertragbarkeit von Qualifikationen auf europäischer, nationaler und sektoraler Ebene geschaffen, trotzdem sollte die Komplexität der bestehenden Systeme nicht verkannt werden. Daher gilt es, die Instrumente für eine stärkere Transparenz auszubauen und die notwendigen Etappen erfolgreich zu bewältigen, um das System der Abschlüsse und Qualifikationen im Jahr 2012 einführen zu können.

2.3   Hervorzuheben ist ferner, dass das ECVET-System nicht an die Stelle der Maßnahmen in anderen Politikbereichen der Europäischen Union tritt und insbesondere nicht die Richt-linie 2005/36/EG über Wanderarbeiter ersetzt. Andererseits stärkt das System jedoch nicht die erforderlichen Verknüpfungen zu anderen europäischen Programmen, in denen u. a. vorge-sehen ist, dass Maßnahmen zur Umsetzung von Reformen in den allgemeinen und beruflichen Bildungssystemen in den schwächsten Regionen der EU aus dem ESF finanziert werden, um die Erfordernisse der Wissensgesellschaft und insbesondere die Notwendigkeit einer lebenslangen Aus- und Weiterbildung stärker ins Bewusstsein der Bürger zu rücken; damit soll der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung verbessert werden.

2.4   Die Umsetzung des ECVET ist ein kontinuierlicher Prozess, der das dauerhafte Engagement aller Akteure sowie Synergien zwischen den Initiativen auf europäischer, nationaler und sektoraler Ebene erfordert. Leider sind im ECVET keine ausdrücklichen Bestimmungen zur Nutzung von Fortschritten bzw. Neuerungen (nachahmenswerten Praktiken) vorgesehen, die auch eine Dynamik bei den potenziellen Akteuren und Partnern im Hinblick auf die für 2012 vorgesehene Zwischenbewertung schaffen könnten.

2.5   Der Ausschuss nimmt zwar zur Kenntnis, dass die auf allen Ebenen und mit einer großen Zahl von öffentlichen und privaten Akteuren durchgeführten Konsultationen die Festlegung einer gemeinsamen Sprache ermöglicht haben, stellt jedoch fest, dass in den Vorschlägen, Mitteilungen, Empfehlungen, Folgenabschätzungen und Berichten, die von der Kommission bzw. in deren Auftrag erstellt wurden, regelmäßig eine große Zahl von Abkürzungen verwendet wird, was zu einem Mischmasch von Kürzeln führt, Verwirrung stiftet und nichts Gutes für das verfolgte Ziel verheißt. Eine Abkürzung, ein Kürzel, ein Akronym oder ein Slogan, die in einer Sprache einen Sinn ergeben, sagen möglicherweise in einer anderen Sprache gar nichts aus oder vermitteln sogar ein völlig negatives Bild. Dieser Gebrauch kann zudem dazu führen, dass der Beitritt neuer Bildungseinrichtungen zu dem System eingeschränkt wird und das System, das eigentlich die Übertragbarkeit zwischen den einzelstaatlichen berufsbildenden Systemen verbessern und diese nicht undurchsichtiger machen soll, die Zielgruppen nicht anspricht. Der Ausschuss empfiehlt zudem, dass bei diesen Bemühungen, die Systeme der beruflichen Bildung zu harmonisieren und mit dem lebenslangen Lernen in Einklang zu bringen, den sprachlichen Aspekten und den Anstrengungen der Kommission auf anderen Gebieten Rechnung getragen wird.

2.6   Die Kommission verfolgt das Ziel, dass „Auszubildende ihre Ausbildung viel leichter in verschiedenen Berufsbildungseinrichtungen und in unterschiedlichen Ländern absolvieren können, was zur Förderung der Mobilität der Lernenden in ganz Europa beiträgt. Dies ist umso bemerkenswerter, als es europaweit über 30 000 Einrichtungen der beruflichen Bildung gibt“ (4). Sie sollte jedoch dafür sorgen, dass dieses Ziel nicht auf Kosten der sprachlichen Vielfalt oder der von ihr angestrebten Qualität der Sprachausbildung erreicht wird.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Bei der Einführung von ECVET hat sich die Kommission für das Rechtsinstrument einer Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates auf der Rechtsgrundlage von Artikel 150 des Vertrages entschieden, wodurch der Rahmen gegeben ist, in dem die im ECVET vorgesehenen Prinzipien umgesetzt werden können, und zugleich ein auf Freiwilligkeit basierender Ansatz Anwendung findet. Diese Vorgehensweise stärkt den eingeleiteten Prozess der Konsultation, der eine eingehende Gegenüberstellung der von den verschiedenen Akteuren — u. a. den Sozialpartnern — vorgebrachten Ansichten ermöglicht hat.

3.2   Der Ansatz der Freiwilligkeit ist zwar auch mit Mängeln behaftet, gestattet jedoch eine stärkere Abstimmung zwischen der Kommission, den Sozialpartnern und den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die genaue Ermittlung der künftigen Probleme und insbesondere auf die Entwicklung der optimalen Neuerungen und möglichst geeigneten Lösungen. Dieser Prozess erlaubt die praxisorientierte und wirksamere Einführung des ECVET-Systems als tatsächlichen europäischen Mehrwert für die Bürger und Arbeitnehmer in Europa, wenn es um die Anerkennung von Kompetenzen und damit um die Förderung des lebenslangen Lernens und der Mobilität geht.

3.3   Das erklärte Ziel der Kommission, das ECVET-System zu bewerten, weiterzuentwickeln und kontinuierlich zu überprüfen bzw. anzupassen und die erreichten Fortschritte zu veröffent-lichen, stellt ihr Streben nach Kooperation unter Beweis. Es wäre wünschenswert, wenn die verschiedenen Akteure und insbesondere die Nutzer bzw. diejenigen, die deren Belange ver-treten, in diese Bewertung und die Erstellung des in der Empfehlung vorgesehenen Berichts umfassend eingebunden werden.

3.4   Das von der Kommission angestrebte Ziel, die transnationale Mobilität und den Zugang zum lebenslangen Lernen in der Berufsbildung zu unterstützen und zu fördern, muss sich auch in einer Bekräftigung von Prinzipien niederschlagen, die in der Empfehlung stillschweigend vorausgesetzt werden und die Stellung und Rolle der einzelnen Akteure betreffen:

Die Endnutzer sind die Auszubildenden, die ihre Lernergebnisse zum Erhalt eines anerkannten Abschlusses anerkennen lassen wollen.

Das Qualifikationssystem basiert auf der Anerkennung von Lernergebnissen in Form von Leistungspunkten zur Gewährleistung der Objektivität und des gleichberechtigten Zugangs und darf kein zusätzliches Hindernis oder Auswahlkriterium darstellen.

Die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens ist Voraussetzung für die Transparenz und Anerkennung von Qualifikationen.

Es sollten Netzwerke und Partnerschaften eingerichtet werden, die eigens auf das ECVET-System ausgerichtet sind, mit dem Ziel, neue Hilfsmittel und Verfahren für Lernverträge und die Übertragung von Leistungspunkten zu entwickeln.

Die Kommission sollte dafür sorgen, dass die geplanten Vorschriften eine gleichberechtigte Behandlung nicht nur der Auszubildenden, sondern auch der Bildungseinrichtungen ermöglichen. Untersuchungen jüngeren Datums (5) zeigen, dass die Bevölkerungsgruppe, die am stärksten von Programmen zum lebenslangen Lernen profitiert, unverändert die der bereits am stärksten Qualifizierten ist. Ein weiteres Ergebnis war, dass die Bevölkerungsgruppen mit der geringsten Qualifikation oder ohne Qualifikation am wenigsten von Programmen zum lebenslangen Lernen profitieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe, doch diese Schwierigkeit sollte bei diesem Qualifikationssystem vermieden werden, wobei die Kommission dafür sorgen muss, dass das System auch die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen hinsichtlich der Qualifikationen berücksichtigt.

So wurden zahlreiche Bildungseinrichtungen (Verbände und Vereinigungen), die sich vorwiegend um die am stärksten Benachteiligten kümmern und hier langjährige konkrete Erfahrungen sammeln konnten, in letzter Zeit in bestimmten Mitgliedstaaten als Anbieter vom Markt verdrängt, da kurzfristige Sparzwänge allzu oft zu Lasten der am wenigsten rentablen Bevölkerungsgruppen gingen. Diese Aufgaben müssen personell und finanziell aufgewertet werden, was insbesondere für die Bereiche Kultur, Sozialwirtschaft und Volksbildung gilt, über die diesen Bevölkerungsgruppen häufig der Einstieg in die Berufsbildung gelingt.

3.5   Im Hinblick auf das Ziel eines europäischen Qualifikationssystems durch Formen der verstärkten Zusammenarbeit werden gemeinsame Regeln ausgearbeitet. Das ist hinsichtlich der so genannten informellen Lernergebnisse eine besonders heikle Angelegenheit. Die festzulegenden Regeln sollten nach Kriterien ausgearbeitet und geprüft werden, die insbesondere das CEDEFOP in seinem Bericht (siehe Fußnote) vorschlägt, und zwar unter Konsultation von Einrichtungen, die solide und integrative Erfahrungen auf diesem Gebiet vorzuweisen haben (und deren Erfolge nicht auf der Zulassung oder Nichtzulassung zu formalen Ausbildungsgängen beruhen).

3.6   Die Kommission sollte ihre Mitteilung „Aktionsplan Erwachsenenbildung — Zum Lernen ist es nie zu spät“ (6) berücksichtigen, damit eine möglichst große Zahl von Menschen schneller in dieses System einbezogen werden kann; dabei sollte den Bevölkerungsgruppen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, die einer Einbeziehung am meisten bedürfen, also nicht nur gefährdeten oder benachteiligten Menschen, sondern denjenigen, die aus sozialen und menschlichen Gründen der Integration und des wirtschaftlichen und territorialen Zusammen-halts prioritäre Zielgruppen sein sollten (7).

3.7   Anhang 1 und 2 der hier behandelten Empfehlung beruhen auf den Empfehlungen des CEDEFOP (8) und bilden wichtige Elemente für eine erfolgreiche Einführung des ECVET-Systems, die zur Transparenz und Kohärenz beitragen und zugleich Prinzipien für eine Weiterentwicklung auf allen Ebenen festlegen. Diese Empfehlungen und Prinzipien sollten ausführlicher erklärt, unterstützt und stärker propagiert werden, um den Fortbestand und die Dauerhaftigkeit des Systems zu gewährleisten.

3.8   Im Zuge der Vorabkonsultation und Konsultation durch die Kommission wurde ein gemeinsames Verzeichnis und ein gemeinsames Definitionsfeld für pädagogische Begriffe festgelegt, was einen Fortschritt darstellt; dies darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Bildung nicht in den Bereich der kommerziellen Dienstleistungen fällt, sondern vielmehr ein Dienst der Grundversorgung für eine möglichst breite Öffentlichkeit bleiben muss, welcher durch öffentliche Investitionen und politische Kohärenz sowohl auf nationaler Ebene als auch in den WTO-Verhandlungen sicherzustellen ist, wenn die europäische Wettbewerbsfähigkeit in ihrem Wesen im weitesten Sinne (im allgemeinen Interesse) bewahrt werden soll.

3.9   Will man kohärent sein, dann müssen die Ziele menschenwürdige Arbeit und hochwertige Bildung zu Gunsten der Wettbewerbsfähigkeit Hand in Hand gehen; ein europäisches Qualifikationssystem muss nach wie vor in enger Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern auf allen Ebenen und den Betroffenen entwickelt werden, an die sich das System ja richtet und auf die es daher auszurichten ist. Die Ziele müssen für alle Nutzer des Systems klar und verständlich sein: Anerkennung der Lernergebnisse, Übertragbarkeit, geographische und berufliche Mobilität. In Bezug auf die Anbieter sind dies: Anerkennung und Zugang zu öffentlichen Finanzmitteln. Ein europäisches Qualifikationssystem kann die Beschäftigungsfähigkeit und die Mobilität verbessern, wenn es auf folgende Belange abstellt: Erhaltung der leistungsfähigsten Anbieter (Erfahrung; Zahl und Qualität der erfolgreichen Anerkennungen bzw. Anrechnungen; Anerkennung der Erfahrung der Anbieter (Verbände und Vereinigungen), die über praxiserprobte Verfahren verfügen; vorrangige Berücksichtigung und Wiedergewinnung des Vertrauens der Anbieter, die vom Markt verdrängt wurden (in den Bereichen Hilfe für Migranten, Unterstützung für Roma, Alphabetisierung von Erwachsenen, sprachliche Unterstützung usw.)).

3.10   Der Ausschuss weist darauf hin, dass die derzeit am stärksten von der Mobilität betroffene Gruppe von Beschäftigten die der entsandten Arbeitnehmer im Baugewerbe sind, gefolgt von den Beschäftigten im EDV- und Technologie-Dienstleistungsgewerbe, dem Tourismusgewerbe, dem Transportgewerbe u. a.

3.11   Da das ECVET-System insbesondere die berufliche Aus- und Weiterbildung und dort die Anerkennung und Anrechnung von formalen (Ausbildung) und nicht formalen Lernergebnissen (Berufserfahrung) zum Gegenstand hat, empfiehlt der Ausschuss, im Rahmen des Qualifikationssystems insbesondere das lebensbegleitende Lernen und die Anerkennung von Lernergebnissen entsandter Arbeitnehmer zu berücksichtigen (9).

3.12   In vier Jahren soll Bilanz gezogen werden, wobei dann unter der Führung der Kommission eine umfassende Verbreitung in den Mitgliedstaaten erfolgen sollte, um das System in den derzeit bestehenden und dann weiterentwickelten Systemen und in der Zivilgesellschaft zu verankern.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ECVET steht für „European Credits System for Vocational Education and Training“ (Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsbildung).

(2)  Europäisches System zur Anrechnung von Studienleistungen.

(3)  Europäischer Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen.

(4)  IP/08/558, Pressemitteilung der Kommission.

(5)  Lissabon-Ziele: Fortschritte im Bereich allgemeine und berufliche Bildung — Indikatoren und Benchmarks, SEK(2007) 1284. Umfrage des Verbandes NIACE zur Teilnahme von Erwachsenen an Bildungsprogrammen, „Counting the cost“, Januar 2008. NIACE (National Institute of Adult Continuing Education) ist der britische Verband der Anbieter von Fortbildungen.

(6)  Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Aktionsplan Erwachsenenbildung — Zum Lernen ist es nie zu spät“, Berichterstatterin: Frau HEINISCH (ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 89).

(7)  Stellungnahme des AdR vom 19.6.2008 zum „Aktionsplan Erwachsenenbildung — Zum Lernen ist es nie zu spät“, Berichterstatterin: Frau SHIELDS. Die Stellungnahme wurde auf der Plenartagung am 18./19.6.2008 verabschiedet.

(8)  Das 1975 per Verordnung (EWG) Nr. 337/75 errichtete Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) ist die Referenzeinrichtung der Europäischen Union für Berufsbildung. Bericht von Erwin SEYFRIED von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege — Forschungsstelle für Berufsbildung, Arbeitsmarkt und Evaluation (FHVR-FBAE), Berlin im Auftrag des CEDEFOP: „Panorama: Qualitätsindikatoren in der Berufsbildung“.

(9)  Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen — Vorteile und Potenziale bestmöglich nutzen und dabei den Schutz der Arbeitnehmer gewährleisten“, Berichterstatterin: Frau LE NOUAIL-MARLIÈRE (ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 95).


30.4.2009   

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C 100/144


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit“

KOM(2008) 111 endg. — 2006/0214 (COD)

2009/C 100/26

Der Rat beschloss am 4. Juni 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 11. September 2008 an. Alleinberichterstatter war Herr VERBOVEN.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 102 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1.   Der Ausschuss heißt den Vorschlag im Wesentlichen gut, appelliert an die Kommission, seine Vorbehalte zu berücksichtigen und den Wortlaut der Erwägungsgründe entsprechend zu ändern und plädiert dafür, dass Parlament und Rat den Vorschlag zügig annehmen (1).

2.   Begründung

2.1.   Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1.1.   Mit dem vorliegenden Vorschlag soll die Richtlinie 89/655/EWG des Rates vom 30. November 1989 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit kodifiziert werden. Die neue Richtlinie ersetzt die verschiedenen Rechtsakte, die Gegenstand der Kodifizierung sind (2); laut Kommission behält der Vorschlag den materiellen Inhalt der kodifizierten Rechtsakte vollständig bei und beschränkt sich darauf, sie in einem Rechtsakt zu vereinen, wobei nur insoweit formale Änderungen vorgenommen werden, als diese aufgrund der Kodifizierung selbst erforderlich sind.

2.2.   Bemerkungen

2.2.1.   Bei der Benutzung von Arbeitsmitteln am Arbeitsplatz ist die Einhaltung der Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz ein wichtiger Bestandteil der vorbeugenden Maßnahmen. Diese Vorschriften sind seit 1989 Gegenstand einer Mindestharmonisierung. Die Richtlinie vom 30. November 1989 wurde mehrfach geändert und erfasst mittlerweile eine größere Anzahl an Arbeitssituationen (im Wesentlichen die Arbeit an hoch gelegenen Arbeitsplätzen) und beinhaltet ein erweitertes Konzept des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz unter Berücksichti-gung ergonomischer Grundsätze. Durch die Verabschiedung der Richtlinie 2007/30/EG wurde die Methodik geändert, nach der die Mitgliedstaaten ihre nationalen Berichte über die Durch-führung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz verfassen. Die verschiedenen Änderungsfassungen können den Adressaten dieser Rechtsvorschriften Schwierigkeiten bereiten.

2.2.2.   Eine Kodifizierung sollte zu keiner materiellen inhaltlichen Änderung führen, weder was die Artikel der Richtlinien, noch was deren Anhänge und Erwägungsgründe betrifft. Die verschieden Arten von Bestimmungen einer Richtlinie stellen ein zusammenhängendes Ganzes dar und bedingen sich gegenseitig. Auch wenn die Erwägungsgründe für sich genommen keine verbindlichen Vorschriften sind, erleichtern sie doch die Interpretation der verbindlichen Vorschriften und liefern den Mitgliedstaaten auf diese Weise Kriterien für eine kohärente Umsetzung. Der Ausschuss ist nach Prüfung des Vorschlags der Auffassung, dass der vorliegende Text diesem Grundsatz in den kodifizierten Artikeln und Anhängen gerecht wird, er in den Erwägungsgründen jedoch von ihm abweicht:

Der Ausschuss stellt fest, dass die Erwägungsgründe (7), (8), (9), (10) und (11) der Richtlinie 2001/45/EWG sowie der Erwägungsgrund (9) der Richtlinie 89/655/EWG nicht in die kodifizierte Fassung aufgenommen wurden;

Insbesondere in den Erwägungsgründen (10) und (11) der Richtlinie 2001/45/EG wird auf die notwendige spezifische Unterweisung von Arbeitnehmern, die Arbeitsmittel an hoch gelegenen Arbeitsplätzen verwenden, hingewiesen. Der Ausschuss plädiert dafür, in den Erwägungsgründen des Kodifizierungsvorschlags eine solche Empfehlung nicht zu unter-lassen;

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass gemäß dem Beschluss 2003/C 218/01 des Rates vom 22. Juli 2003 der Beratende Ausschuss für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu dem Vorschlag gehört werden sollte. Entsprechend der bisherigen Praxis sollte eine solche Konsultation in den Erwägungsgründen der Richtlinie aufgeführt werden. Die seit Beginn der Kodifizierung verstrichene Zeit ist ein ausreichender Hinweis darauf, dass der Beratende Ausschuss ohne größere Probleme hätte konsultiert werden können.

2.2.3.   Vorbehaltlich dieser Bemerkungen stellt der Vorschlag nach dem Dafürhalten des Ausschusses eine zweckmäßige Verknüpfung der geltenden Rechtsvorschriften dar, macht sie verständlicher und wirft keine grundsätzlichen Probleme auf.

2.2.4.   Der Ausschuss heißt den Vorschlag im Wesentlichen gut, appelliert an die Kommission, seine Vorbehalte zu berücksichtigen und den Wortlaut der Erwägungsgründe entsprechend zu ändern und plädiert dafür, dass Parlament und Rat den Vorschlag zügig annehmen.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe auch die Stellungnahme des EWSA vom 15.2.2007 zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit (Zweite Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG)“ (kodifizierte Fassung), Berichterstatter: Herr VERBOVEN (ABl. C 97 vom 28. April 2007).

(2)  Richtlinie 89/655/EWG des Rates, Richtlinie 95/63/EG des Rates, Richtlinie 2001/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und Richtlinie 2007/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.


30.4.2009   

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C 100/146


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das allgemeine Verbrauchsteuersystem“

KOM(2008) 78 endg./3 — 2008/0051 (CNS)

2009/C 100/27

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 4. März 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozial-ausschuss gemäß Artikel 93 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das allgemeine Verbrauchsteuersystem“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe nahm ihre Stellungnahme am 2. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr BURANI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 107 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der EWSA begrüßt die Entscheidung der Kommission, die Basisrichtlinie für die Anwendung der Verbrauchssteuern 92/12/EWG vollständig durch einen neuen Text zu ersetzen, der die Einführung des Systems zur Kontrolle verbrauchssteuerpflichtiger Waren (EMCS — Excise Movement and Control System) berücksichtigt, für die eine neue Rechtsgrundlage geschaffen wird. Die Kommission ergreift die Gelegenheit, einige Änderungen vorzunehmen und Neuerungen einzuführen, die aufgrund der in den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und seitens der Akteure gesammelten Erfahrungen erforderlich wurden. Ferner wurden einige Verfahren vereinfacht. Im Allgemeinen geben die vorgeschlagenen Änderungen oder Neuerungen keinen Anlass für Einwände. Der EWSA möchte jedoch zu einigen Aspekten Denkanstöße für die anschließenden Diskussionen geben.

1.2.   Die Kommission gibt einen Zeitpunkt für das Inkrafttreten der Richtlinie an, der theoretisch auf den 1. Januar 2009 festgelegt wird. Sie ist sich aber der Tatsache bewusst, dass die Prüfung des Vorschlags mehr Zeit in Anspruch nehmen wird und schlägt außerdem vor, dass das EMCS-Verfahren in einer ersten Phase nur von bestimmten, bereits darauf eingestellten Mitgliedstaaten angewandt werden kann, wohingegen die anderen für eine gewisse Zeit weiterhin mit papiergestützten Verfahren arbeiten würden.

1.3.   Der EWSA ist zusammen mit anderen betroffenen Parteien der Auffassung, dass dieses Vorhaben kritisch ist: ein doppeltes Verfahren ist sowohl für die Verwaltungen wie auch für die Akteure umständlich und aufwendig. Indes würde die Alternative, das EMCS erst dann einzuführen, wenn alle Länder startklar sind, sowohl diejenigen Länder, in denen das System bereits einsatzbereit ist als auch die Akteure benachteiligen. Die Zwischenlösung, das System nur für Maßnahmen innerhalb der Mitgliedstaaten, die bereits das elektronische Verfahren anwenden können, ist nicht zufriedenstellend und könnte die Einführung von EMCS in Europa auf eine vielleicht ferne Zukunft verschieben. Das Papierverfahren würde dann von allen Mitgliedstaaten so lange für internationale Vorgänge verwendet werden, bis alle auf das elektronische Verfahren umstellen können.

1.4.   Der maßgebliche Teil des Kommissionsdokuments betrifft die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Aussetzung der Verbrauchsteuer. Der EWSA begrüßt die verschiedenen vorgeschlagenen Neuerungen vorbehaltlich einiger Präzisierungen und Vorschläge (siehe Ziffern 4.6 bis 4.9), die vor allem den nun präzisierten Begriff des „unwiederbringlichen Verlusts“ von Waren betreffen. In Bezug auf Fernverkäufe könnte die Formulierung in Artikel 34 (siehe Ziffer 4.9) zu rechtlichen Auslegungsproblemen darüber führen, in welchem Land die Steuer zu erheben ist.

1.5.   Der EWSA schlägt außerdem vor, in der neuen Richtlinie die mengen- und wertmäßigen Beschränkungen genau anzugeben, innerhalb derer Käufe in einem anderen Mitgliedstaat als von Privatpersonen getätigt anzusehen sind. Es besteht die Gefahr, dass die verschiedenen Verwaltungen die Vorschriften unterschiedlich auslegen und anwenden.

2.   Der Kommissionsvorschlag

2.1.   Die Richtlinie 92/12/EWG vom 25. Februar 1992 enthält Bestimmungen über verbrauchsteuerpflichtige Waren, die sich hauptsächlich auf papiergestützte Verfahren stützen. Mit der Entscheidung 1152/2003/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2003 wurde ein EDV-gestütztes System zur Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren eingeführt (EMCS — Excise Movement and Control System). Dabei werden die für die Akteure erforderlichen Verfahren vereinfacht und integrierte und wirksamere Kontrollen durch die Behörden ermöglicht. Die Einführung des EMCS macht die Anpassung der Be-stimmungen über die Beförderung von Waren unter Steueraussetzung erforderlich.

2.2.   Die Kommission ergreift die Gelegenheit, Richtlinie 92/12/EWG vollständig zu ersetzen. Es wird nicht nur die Einführung des EMCS berücksichtigt, für die eine Rechtsgrundlage geschaffen wird, sondern die gesamte vorausgegangene Richtlinie wird organisch verändert: der Text wird sprachlich überarbeitet, um neuen Rechtssetzungsnormen Rechnung zu tragen; er wird neu gefasst, um den logischen Aufbau zu verbessern und alle nicht mehr relevanten Bestimmungen zu streichen; neuen rechtlichen Begriffen soll Rechnung getragen werden; die Verbrauchsteuerverfahren sollen vereinfacht und modernisiert werden, ohne damit die Verbrauchsteuerkontrollen zu beeinträchtigen.

2.3.   Der neue Text enthält in Kapitel 5 auch die wesentlichen Bestandteile des Vorschlags KOM(2004) 227 endg. — die Beratung darüber wurde im Rat 2005 ausgesetzt — zur Änderung der Artikel 7 bis 10 der Basisrichtlinie in Bezug auf die innergemeinschaftliche Beförderung bereits vermarkteter Waren.

2.4.   Dem Vorschlag ging eine umfassende Anhörung der betroffenen Akteure voraus, die in Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe unter der Leitung des Verbrauchsteuerausschusses durchgeführt wurde. Dieses Vorgehen ist korrekt und dürfte eine unter technischen Gesichtspunkten nicht allzu konfliktbehaftete Untersuchung des Dokuments ermöglichen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Der EWSA beglückwünscht die Kommission zu ihrer Initiative, die — im Vergleich zum Ausgangsdokument — zu einem besser strukturierten, organischeren und der Vereinfachung der Verwaltungsverfahren entsprechenden Text führt. Ferner wird eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Akteure festgestellt, ohne dass dadurch die Kontrollen vernachlässigt würden, die vielmehr mit der Annahme der EMCS-Verfahren wirksamer werden dürften.

3.2.   Der wichtigste Teil der neuen Bestimmungen betrifft die Beförderung von Waren unter Steueraussetzung auf der Grundlage der EMCS-Verfahren. Gemäß Entscheidung 1152/2003/EG sollte das EMCS im April 2009 einsatzbereit sein. Wenn bezweifelt werden darf, dass dieses Datum von einigen Ländern eingehalten wird, ist praktisch davon auszugehen, dass das System nicht überall betriebsbereit sein wird. Ferner wird eine gemeinsame Probelaufzeit erforderlich sein, die mit einer engen Zusammenarbeit der nationalen Behörden einhergeht und folglich einer Harmonisierung der internen Verfahren bedarf. Dies ist ein unter verwaltungsspezifischen, technischen und operativen Aspekten besonders komplexes Problem. Die Kommission ist sich dessen bewusst: während sie vorschlägt, dass die Richtlinie am 1. April 2010 angewendet werden soll, wird vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten eine zusätzliche Übergangszeit beanspruchen können, während der die betreffenden Teile der ursprünglichen Richtlinie in Kraft bleiben sollen.

3.3.   Die Mitgliedstaaten sind bereits mit der Annahme des EMCS beschäftigt, wobei allerdings nicht gesagt ist, dass dies von allen auch gerne gemacht wird und es durchaus möglich ist, dass die vollständige Realisierung noch durch das eine oder andere Hindernis aufgehalten wird. Es ist mit Widerständen zu rechnen, für die technische Argumente vorgebracht werden mögen, die aber im Grunde von Überlegungen anderer Natur geleitet werden. Die Vorgänge um den Vorläufer des jetzigen Richtlinienvorschlags, KOM(2004) 227 endg. und vor allem um Ziffer 2.3 über die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr sprechen Bände: Nach schwierigen Verhandlungen wurde beschlossen, die Behandlung des Problems in Erwartung einer vollständigen Überarbeitung des Bereichs „auszusetzen“. Der nun zu prüfende Vorschlag ist aber im Wesentlichen mit dem vorherigen identisch.

3.4.   Die heikelsten Probleme sind politisch-wirtschaftlicher Natur. Jeder Mitgliedstaat erhebt für die verschiedenen Produkte andere Verbrauchsteuersätze, was zu dem allgemein bekannten Problem der grenzüberschreitenden Käufe aus Gründen des Preisvorteils führt. Die Grundsätze des Binnenmarkts sollten es den Bürgern ermöglichen, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch bei grenzüberschreitenden Käufen Preisunterschiede nutzen zu können. Diese Grundsätze werden allerdings in Frage gestellt, sobald steuerliche Aspekte berührt werden. Es liegt auf der Hand, dass die Mitgliedstaaten in der täglichen Realität diese Geschäfte nicht gerne sehen, wenn sie ihnen zum Nachteil gereichen, und sie ignorieren, wenn sie davon profitieren. Keine Art von verbrauchsteuerpflichtigen Produkten ist von dieser Problematik ausgeschlossen, wie die Diskussionen der letzten Zeit über Tabak, Alkohol und Kraftstoff (1) belegen, wobei Gründe der Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit, des Umweltschutzes und des Schadens für die Wirtschaft angeführt worden sind. Im Hintergrund aber stehen steuerliche Gründe — auch wenn dies nicht immer deutlich gesagt wird. Die unterschiedlichen Standpunkte sind also auf die von jedem Mitgliedstaat verfolgte Sozial-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik zurückzuführen, was auf Gemeinschaftsebene zu einem politischen Problem ersten Ranges führt.

3.5.   Der EWSA ist sich des heiklen Charakters der Materie und der Schwierigkeiten bewusst, denen die Mitgliedstaaten in den kommenden Verhandlungen begegnen können. Ein positiver Ausgang der Verhandlungen hängt von dem Grad der Flexibilität ab, der für gemeinsame Entscheidungen erforderlich sein wird. Jede Regierung muss ein Gleichgewicht finden zwischen Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Zugeständnisse in Bereich der Verbrauchsteuern an die anderen Partner. Anders ausgedrückt: Jedes Land wird einen Weg finden müssen, seine Ziele im Sozial- und Haushaltsbereich zu verfolgen und sie mit einem gemeinschaftlichen Verbrauchsteuersystem in Einklang zu bringen - und nicht anders herum.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   In diesem Kapitel untersucht der EWSA die wichtigsten, mit dem Kommissionsvorschlag eingeführten Neuerungen und Änderungen im Vergleich zur derzeitigen Regelung. Nicht strittige Punkte, die eine Rationalisierung des Textes beabsichtigen, dem gesunden Menschenverstand oder der natürlichen Weiterentwicklung der Thematik entsprechen, sollen nicht kommentiert werden.

4.2.   In Ziffer 3.2 wurde bereits angesprochen, dass mit der Annahme der Richtlinie die Vorläuferrichtlinie 92/12/EWG außer Kraft gesetzt wird. Die Beseitigung papiergestützter Verfahren wird allerdings nicht zeitgleich zum Inkrafttreten der neuen Richtlinie erfolgen: laut Richtlinienvorschlag sind während eines Übergangszeitraums auch Beförderungen mit papiergestützten Begleitdokumenten zulässig. Niemand kann die Dauer des Übergangszeitraums abschätzen: Sicher ist indes, dass das EMCS auf ernste Probleme stoßen könnte, solange es nicht von der Gesamtheit aller Mitgliedstaaten angewandt wird. Der EWSA möchte auf den Aufwand hinweisen, der den Akteuren — aber auch den Behörden der Mitgliedstaaten droht, die je nach Zielland gezwungen sind, mit elektronischen und mit papiergestützten Systemen gleichzeitig zu arbeiten.

4.2.1.   Die Alternative, das System erst dann in Betrieb zu nehmen, wenn es in allen Mitgliedstaaten eingerichtet ist, birgt zum einen die Gefahr, dass das Vorhaben auf eine vielleicht ferne Zu-kunft verschoben wird. Zum anderen werden alle Mitgliedstaaten, die das elektronische Verfahren bereits einsetzen können, gezwungen zu warten, bis alle anderen nachgezogen haben: eine unannehmbare Situation, die nicht nur all diejenigen, die sich rechtzeitig auf die neue Regelung eingestellt haben, sondern vor allem auch die Akteure benachteiligt.

4.2.2.   Der Ausschuss verweist auf die von einigen Sachverständigen empfohlene Alternative, die zwar auch keine optimale Lösung darstellt, aber einen annehmbaren Kompromiss ermöglicht: die Mitgliedstaaten, die sich bereits auf das elektronische Verfahren eingestellt haben, könnten dieses für interne Geschäfte einsetzen und das papiergestützte Verfahren für internationale Vorgänge verwenden. Das System würde somit auf nationaler Ebene erprobt werden, bevor es auf Gemeinschaftsebene zum Einsatz kommt, sobald alle Mitgliedstaaten startklar sind.

4.3.   In Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen sind keinerlei wesentliche Änderungen in Bezug auf die Richtlinie 92/12/EWG festzustellen: das Thema wird lediglich mittels kleinerer Ände-rungen, neuer Definitionen und Änderungen ohne große Tragweite neu eingeordnet.

4.4.   In Kapitel II: Entstehen der Verbrauchersteuer wird in der in Artikel 7 Absatz 4 eingeführten Änderung vorgesehen, dass der „unwiederbringliche Verlust“ verbrauchsteuerpflichtiger Waren, für die die Steuer ausgesetzt war, von der Besteuerung befreit wird. Mit dem Begriff „unwiederbringlicher Verlust“ wird ein Produkt bezeichnet, das unbeschadet des Grundes für den Verlust von niemandem mehr genutzt werden kann. Die tatsächliche Neuerung besteht darin, dass in der neuen Richtlinie nicht mehr verlangt wird, dass die Einwirkung „höherer Gewalt“ nachgewiesen werden muss. Der EWSA weist aber darauf hin, dass jeder Mitgliedstaat in dieser Frage eigene Vorschriften erlassen kann.

4.5.   In Kapitel III: Herstellung, Verarbeitung und Besitz wird nur eine wichtige Neuerung eingeführt: „Steuerlager“ können auch für Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, genehmigt werden. Wenngleich dies der Logik des Binnenmarkts entspricht, gab es in der Vergangenheit doch erhebliche Einschränkungen.

4.6.   Kapitel IV: Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Aussetzung der Verbrauchsteuer enthält folgende Neuerungen: Artikel 16 sieht vor, dass die Produkte nicht nur in Steuerlager verbracht werden können, sondern auch zu Privatpersonen oder Unternehmen („registrierte Empfänger“) und nach entsprechender Genehmigung auch als „Direktlieferung“ an einen Bestimmungsort, der vom registrierten Empfänger angegeben wurde. Der EWSA begrüßt diese Bestimmung und hofft, dass die Kontrollverfahren wirkungsvoll genug sein werden, um Missbrauch zu unterbinden. Es wäre gleichwohl begrüßenswert, die betreffenden Berufsprofile, die unter die Bestimmungen der Richtlinie fallen, genau zu definieren.

4.7.   Die folgenden Bestimmungen (Artikel 17 bis 19) beziehen sich auf die Sicherheiten zur Abdeckung der mit der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steuerausset-zung verbundenen Risiken und bedürfen keiner besonderen Bemerkungen. Von besonderer Bedeutung sind allerdings die in Abschnitt 2 (Artikel 20 bis 27) enthaltenen Bestimmungen, die sich mit der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung befassen. Nach Auffassung der Fachleute sollte die Annahme dieser Verfahren sorgfältig überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie wirksame, mit den Ressourcen der Behörden zu vereinbarende Kontrollen ermöglichen. Der EWSA verweist auf die Bestimmung in Artikel 20 Absatz 1, 2 und 3, denen zufolge die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nur dann als unter Steueraussetzung durchgeführt anzusehen ist, wenn sie mit einem elektronischen Verfahren erfolgt. Diese Bestimmung muss gemäß der Art des gewählten Verfahrens für den Übergang vom papiergestützten zum elektronischen Verfahren angepasst werden.

4.8.   Kapitel V betrifft die Beförderung und Besteuerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach der Freigabe für den Verbrauch und enthält keine grundlegend neuen Bestimmungen: Bekräftigt wird der Grundsatz der Besteuerung der Waren im Mitgliedstaat des Erwerbs, wenn sie von einer Privatperson erworben werden (Artikel 30) und im Mitgliedstaat des Verbrauchs, wenn sie zu gewerblichen Zwecken erworben wurden (Artikel 31). Die geltenden Vorschriften über die Bestimmung des Steuerschuldners und die im Verkehr befindlichen Waren werden bekräftigt.

4.9.   Von besonderer Bedeutung ist Artikel 34 über Fernverkäufe. In Abweichung von Artikel 30 wird verfügt, dass die Verbrauchsteuer bei von Privatpersonen erworbenen und mittelbar oder unmittelbar vom Verkäufer oder für diese versandten oder beförderten Waren im Mitgliedstaat der Bestimmung erhoben wird. Daraus lässt sich folgern, dass vom Käufer erworbene Waren, die von diesem an seinen Wohnort versandt werden, der Verbrauchsteuer im Mitgliedstaat des Erwerbs unterliegen.

4.9.1.   Der EWSA fragt sich, ob diese Vorschrift nicht zu einem Auslegungsproblem führt: Bei Fernverkäufen wird der Kauf am Wohnort des Verkäufers besiegelt, sobald die Bezahlung erfolgt. Der Käufer und Eigentümer der Waren ist deshalb befugt, jedweder Person (also auch dem Verkäufer) Anweisungen zum Versand der Waren in seinem Auftrag und für ihn zu erteilen. Unter juristischen Gesichtspunkten und entgegen dem Prinzip der Besteuerung am Ort des tatsächlichen Verbrauchs könnten die Waren also folglich immer als von einer Privatperson erworben und für diese versandt oder befördert angesehen werden, und folglich der Verbrauchsteuer im Mitgliedstaat des Erwerbs unterliegen, auch wenn der Versand oder die Beförderung vom Verkäufer veranlasst wurde.

4.10.   Der EWSA möchte auch auf eine Lücke in Artikel 34 hinweisen: Die mengen- und wertmäßigen Beschränkungen, innerhalb derer Käufe in einem anderen Mitgliedstaat als von Privatpersonen getätigt anzusehen sind, werden nicht präzisiert. Es sind genaue Angaben erforderlich, damit die Mitgliedstaaten auf dem Binnenmarkt nicht konträre Maßnahmen ergreifen. U. a. von diesen Aspekten ausgehend legt der EWSA der Kommission und den Mitgliedstaaten nahe, klarere und transparentere Vorschriften zu erlassen; dies würde das Leben der Bürger und der Unternehmen erleichtern.

4.11.   Die verbleibenden Bestimmungen in Kapitel VI (Verschiedenes) betreffen die Kennzeichnung; die geltenden Vorschriften für die Versorgung von Seeschiffen und Luftfahrzeugen werden beibehalten. Artikel 38 bezieht sich auf kleine Weinerzeuger (bis 1 000 hl Wein im Jahr), die in den Genuss vereinfachter Verfahren für die Erzeugung und den Besitz verbrauch-steuerpflichtiger Waren kommen.

4.12.   Kapitel VII (Schlussbestimmungen) enthält die Bekräftigung des bestehenden „Verbrauchsteuerausschusses“ sowie die entsprechenden Durchführungsbestimmungen: Richtli-nie 92/12/EWG sollte mit Wirkung ab einem bestimmten Zeitpunkt, der von der Kommission vorsichtig in den Raum gestellt wird (1. April 2009) aufgehoben werden. Das Gleiche gilt für die Übergangsfrist, (die rein hypothetisch am 31.12. 200... enden soll) und während der die Mitgliedstaaten auch nach den Bestimmungen der vorausgegangenen Richtlinie operieren können. Der EWSA ist ebenso wie andere Einrichtungen und Sachverständige der Auffassung, dass dies nur ungefähre Daten sind, die nach einer realistischen Einschätzung und insbesondere unter Berücksichtigung der praktischen Schwierigkeiten bei der vollständigen Realisierung von EMCS verlängert werden müssen.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe bspw. die folgenden jüngsten Richtlinienvorschläge:

 

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren, (KOM(2004) 227 endg. — 2004/0072 (CNS));

 

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG hinsichtlich der Anpassung der Sonderregelungen für die Besteuerung gewerblich genutzten Gasöls und der Koordinierung der Besteuerung von unverbleitem Benzin und Gasöl, (KOM(2007) 52 endg. — 2007/0023 (CNS));

 

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren (kodifizierte Fassung), (KOM(2007) 587 endg.).


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“ und dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates (EG) Nr. 1798/2003 zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“

KOM(2008) 147 endg. — 2008/0058 (CNS) 2008/0059 (CNS)

2009/C 100/28

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 3. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 93 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“ und

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates (EG) Nr. 1798/2003 zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr SALVATORE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 114 Stimmen gegen 1 Stimme bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen sowie den entsprechenden Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003.

1.2.   Die vorgeschlagenen Änderungen entsprechen den Anforderungen der Vereinfachung, der Wirksamkeit und der Effizienz und gewährleisten eine deutlichere Verbindung zwischen den Maßnahmen zum Bürokratieabbau und der Fähigkeit der Mitgliedstaaten, das Phänomen des innergemeinschaftlichen Betrugs zu bewältigen und zu bekämpfen.

2.   Einführung

2.1.   Der betreffende Richtlinienvorschlag und die angehängte Änderung der Verordnung waren Gegenstand einer langen Debatte in den Institutionen der Gemeinschaft. Sie zielen ausdrück-lich darauf ab, den Behörden wirksame und zwingende Instrumente an die Hand zu geben, um die betrügerischen Handlungen auszutilgen oder zumindest beträchtlich einzudämmen, die oftmals vorgenommen werden, um das reelle und ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes zu verfälschen.

2.2.   Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der unrechtmäßige Betrug auf gemeinschaftlicher Ebene in unterschiedlichen Formen und unter verschiedenen Umständen vorkommen kann: angefangen bei Straftaten wie betrügerischen Nachahmungen bei Alkohol und Tabak über Schmuggel und Betrug im Bereich der direkten Besteuerung bis hin zur am häufigsten vorkommenden Mehrwertsteuerhinterziehung.

2.3.   Insbesondere der letztgenannten Betrugsform wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar vor dem Hintergrund des Plans einer weitreichenden Überarbeitung des derzeitigen Systems für die Besteuerung des gemeinschaftlichen Handels, das — im Einklang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von nationalen Produkten und Waren aus anderen Mitgliedstaaten — auf dem Prinzip der Besteuerung im Bestimmungsland beruht, d. h. in dem Mitgliedstaat, in dem der Käufer zu Mehrwertsteuerzwecken identifiziert ist.

2.4.   Dieses Prinzip, das de facto übergangsweise den gemeinschaftlichen Handel regelt, hat zwar einerseits die Nichtbesteuerung der Lieferung innerhalb der Gemeinschaft und somit den freien Warenverkehr ermöglicht, andererseits aber den finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft beträchtlich geschadet. Man denke da nur an den Mechanismus im Zusammenhang mit dem gemeinschaftlichen „Karussell-Betrug“, der in der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss hinsichtlich der Notwendigkeit der Entwicklung einer koordinierten Strategie zur Verbesserung der Bekämpfung des Steuerbetruges (1) klar und ausführlich zusammengefasst und mit einer Definition versehen wurde: „Eine spezielle Betrugsart, der so genannte ‚Karussell-Betrug‘, macht sich in erster Linie die Kombination aus Warentransaktionen innerhalb eines Mitgliedstaates (mit Mehrwertsteuer-Ausweis) und innergemeinschaftlichen Warenbewegungen (ohne Mehrwertsteuerberechnung zwischen den Vertragsparteien) zu Nutze“.

2.5.   Der EWSA hat sich wiederholt mit diesem Thema beschäftigt (2) und nützliche Hinweise vorgebracht, die bei der Erarbeitung der vorliegenden Stellungnahme einer sorgfältigen Bewertung unterzogen wurden.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Auf die Notwendigkeit der Bewältigung eines bereits um sich greifenden Phänomens, das schätzungsweise zwischen 2 % und 2,5 % des BIP der EU ausmacht, wurde bereits hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird im „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“ und in der „Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“ der Bereitschaft Rechnung getragen, die bereits in einer vorhergehenden und ausführlichen Mitteilung der Kommission an den Rat zu einigen Kernfragen im Zusammenhang mit der Entwicklung einer MwSt-Betrugsbekämpfungsstrategie in der EU (3) bekräftigt wurde. Darin wurden die anzunehmenden Maßnahmen deutlich gemacht.

3.2.   Ein solcher Ansatz trat bereits im Rahmen der vorgenannten Mitteilung zu Tage, in der es heißt: „Auch wenn sich die Kommission dazu verpflichtet hat, eine Untersuchung möglicher Änderungen am MwSt-System abzuschließen, sieht sie keinen Widerspruch darin, gleichzeitig eine Debatte über sogenannte konventionelle Maßnahmen fortzusetzen. Die Steuerbehörden mit moderneren und wirksameren Waffen im Kampf gegen Steuerbetrug auszurüsten ist ein unter allen Umständen zu verfolgendes Ziel, unabhängig von den Entscheidungen, die zu weiterreichenden Maßnahmen getroffen werden.“

3.3.   Nachdem der Plan, weitreichende Änderungen am MwSt-System vorzunehmen und somit auch den MwSt-Mechanismus grundlegend zu ändern, mittelfristig zurückgestellt wurde, befürwortet der EWSA die Initiative des Rates, in Bezug auf die geltenden Vorschriften für das derzeitige MwSt-System Maßnahmen einzuführen, die zwar weniger ehrgeizig, aber dennoch effizient sind.

3.4.   Der EWSA befürwortet die vorgeschlagenen Änderungen. Er stellt fest, dass die punktuellen Änderungen an der MwSt-Richtlinie den Anforderungen der Vereinfachung und der Wirk-samkeit, die bereits während der Vorbereitungsarbeiten zum vorgenannten Vorschlag gefordert wurde, gerecht werden und darüber hinaus einen deutlicheren Zusammenhang herstellen zwischen den Maßnahmen zum Bürokratieabbau und der Fähigkeit der Mitgliedstaaten, dieses grenzüberschreitende Phänomen zu bewältigen und zu bekämpfen.

3.5.   Es sei insbesondere auf die Absicht verwiesen (wie der Begründung für den Richtlinienvorschlag zu entnehmen ist), den Zeitraum „zwischen dem Zeitpunkt, zu dem ein Umsatz erfolgt und dem Zeitpunkt, zu dem der Mitgliedstaat des Erwerbers informiert wird“ zu ändern; so zielt der Vorschlag darauf ab, den Zeitraum für die Meldung innergemeinschaftlicher Umsätze in den zusammenfassenden Meldungen auf einen Monat und die Frist für die Übermittlung dieser Informationen zwischen Mitgliedstaaten von drei Monaten auf einen Monat zu verkürzen. Damit wird rechtlich festgelegt, dass kein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand verursacht werden soll, was jedoch gleichzeitig mit der Fähigkeit zur schnelleren Feststellung der Risiken und einem besseren Risikomanagement vonseiten der Steuerbehörden der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des gemeinschaftlichen Steuerbetrugs einhergehen muss.

3.6.   Die weiteren Bestimmungen zur Änderung der Richt-linie 2006/112/EG des Rates zielen offensichtlich auf eine normative Klarheit, eine Vereinfachung des Aufwands und eine stärkere Inanspruchnahme des Grundsatzes der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden ab.

3.7.   Neben der häufigeren Übermittlung von Informationen gehen auch folgende Vorschläge in dieselbe Richtung: Zum einen sollen im Rahmen der für die Betrugsbekämpfung erforderli-chen Informationen auch Angaben über den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Leistungser-bringer, für die der Empfänger die Steuer schuldet, eingeholt werden. Zum anderen wird bestimmt, dass die Empfänger von Lieferungen oder Dienstleistungen, die Umsätze in Höhe von über 200 000 EUR bewirken, verpflichtet sind, ihre Mehrwert-steuererklärungen monatlich abzugeben, und dass die Vorschriften für den Steueranspruch bei Dienstleistungen harmonisiert werden, damit die entsprechenden Umsätze vom Erbringer und vom Auftraggeber der Dienstleistung im gleichen Zeitraum gemeldet werden.

3.8.   Nach Auffassung des Ausschusses ist in diesen Bestimmungen der Daseinszweck der Richtlinienänderung zusammengefasst, wobei ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen zusätzlicher Auflagen, den Gründen für die Senkung der Verwaltungskosten (wovon nur ein geringer Teil der Unternehmen betroffen wäre) und die Bereitstellung umfangreicherer Infor-mationen durch die Finanzbehörden hergestellt wird.

3.9.   Mit anderen Worten würde sich die häufigere Übermittlung von Handelsinformationen darin widerspiegeln, dass die Steuerbehörden weitaus mehr Informationen einholen können, was effizientere Kooperationsmechanismen nach sich ziehen würde.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Der Ausschuss begrüßt die Änderung von Artikel 250 Absatz 2, wonach die Unternehmen ihre Mehrwertsteuererklärungen auf elektronischem Wege übermitteln können. Dank einer solchen Bestimmung wird nicht nur die Fehlerquote bei der Übermittlung der Erklärung reduziert, sondern es werden auch die Kosten für die Unternehmen und die Verwaltungen gesenkt.

4.2.   Er begrüßt die Ausnahmeregelung für Unternehmen, die nur gelegentlich oder ausnahmsweise in den Anwendungsbereich der geänderten Bestimmungen fallen können.

4.3.   Der Ausschuss begrüßt die Neuerung in Artikel 251 Buchstabe f, in dem neben der Einholung von Mehrwertsteuererklärungen für gehandelte Waren der Erwerb von Dienstleistungen vorgesehen ist, um eine effizientere Bewertung der ausgetauschten Informationen zu ermöglichen und eine Steuerhinterziehung auch bei der Erbringung von Dienstleistungen zu vermeiden.

4.4.   Die Verkürzung des Veranlagungszeitraums auf einen Monat kann zwar nicht gerade als eine abschreckende Lösung betrachtet werden, stellt jedoch mit Sicherheit eine deutliche Verbesserung dar, die auf eine Abstimmung und Harmonisierung der Vorschriften für den Steueranspruch bei Dienstleistungen abzielt, damit die vom Erbringer und vom Auftraggeber gemeldeten Informationen miteinander angemessen verknüpft werden können.

4.5.   Eine Folge des aus der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung resultierenden Ansatzes ist die entsprechende Anpassung der Fristen für die Abgabe der zusammenfassenden Meldungen.

4.6.   Ebenso wichtig ist die folgende Bestimmung, die auch in diesem Fall die Übermittlung der Angaben auf elektronischem Wege ermöglicht.

4.7.   Als nützlich erachtet der Ausschuss die Forderung nach einer Tabelle, in der die innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie und die Richtlinie selbst gegenübergestellt werden. Diese Initiative zielt offensichtlich darauf ab, die umfangreichen und vielfältigen Informationen, die die Unternehmen den Steuerbehörden derzeit übermitteln — auch mit Blick auf die künftigen Änderungen — ausführlicher zu bewerten.

4.8.   Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Änderung der vorgenannten Richtlinie die erforderliche Anpassung der entsprechenden Verordnung nach sich ziehen muss.

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2006) 254 endg.

(2)  Stellungnahmen des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Neufassung)“, ABl. C 74 vom 23.3.2005, S. 21, und zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, an das Europäische Parlament und an den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss hinsichtlich der Notwendigkeit der Entwicklung einer koordinierten Strategie zur Verbesserung der Bekämpfung des Steuerbetruges“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 8.

(3)  KOM(2007) 758 endg.


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/153


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat“ (kodifizierte Fassung)

KOM(2008) 492 endg. — 2008/0158 (CNS)

2009/C 100/29

Der Rat der Europäischen Union beschloss am 25. September 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 94 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat“ (kodifizierte Fassung)

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags vollkommen zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 115 Ja-Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/154


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds in Bezug auf bestimmte einnahmenschaffende Projekte“

KOM(2008) 558/2 — 2008/0186 (AVC)

2009/C 100/30

Der Rat beschloss am 8. Oktober 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds in Bezug auf bestimmte einnahmenschaffende Projekte“

Angesichts der Dringlichkeit der Arbeiten beschloss der Ausschuss auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober), Herrn DASSIS zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 45 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt den Vorschlag der Kommission zur Änderung von Artikel 55 der Verordnung (EG) 1083/2006 zur Kenntnis und begrüßt die Reduzierung des Verwaltungsaufwands, den diese Änderung bedeutet.

1.2   Der EWSA befürwortet den Vorschlag.

2.   Begründung

2.1   Artikel 55 der Verordnung (EG) 1083/2006 des Rates mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds legt die Verwaltungsmodalitäten und die Bestimmungen für die finanzielle Beteiligung dieser Fonds an einnahmenschaffenden Projekten fest. In Artikel 55 wird ferner ein Schwellenwert in Höhe von 200 000 EUR festgelegt, über dem diese Bestimmungen anzuwenden sind.

2.2   Diese Bestimmungen sind für die vom Europäischen Sozialfonds kofinanzierten Projekte ungeeignet, der in der Regel immaterielle Maßnahmen fördert; auch bedeuten sie einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand für Kleinprojekte, die vom EFRE oder dem Kohäsionsfonds kofinanziert werden.

2.3   Nachdem die Frage des durch Artikel 55 entstehenden Verwaltungsaufwands nicht im Wege der Auslegung zu klären war, schlägt die Kommission nach informellen Beratungen mit den Mitgliedstaaten vor, Artikel 55 zu ändern, damit diese Bestimmungen künftig nur auf Projekte angewandt werden, die vom EFRE oder dem Kohäsionsfonds kofinanziert werden und deren Gesamtkosten über 1 Million EUR liegen. Nach Auffassung der Kommission wird diese technische Überarbeitung die Verwaltung dieser Projekte erheblich vereinfachen.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/155


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Stiftung für Berufsbildung“ (Neufassung)

KOM(2007) 443 endg. — 2007/0163 (COD)

2009/C 100/31

Der Rat beschloss am 17. September 2007, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 150 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Stiftung für Berufsbildung“ (Neufassung).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 118 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

 

Brüssel, den 22. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI